Die Schlangenkraft: Die Entfaltung schöpferischer Kräfte im Menschen [2 ed.]

Die Entfaltung schöpferischer Kräfte im Menschen Beschreibung und Untersuchung der sechs körperlichen Zentren in zwei We

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German Pages 378 Year 1975

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Die Schlangenkraft: Die Entfaltung schöpferischer Kräfte im Menschen [2 ed.]

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Arthur Avalon

Die Schlangen Kraft D ie Entfaltung SCHÖPFERISCHER KRÄFTE im M e n sc h e n

AVALON

DIE SCHLANGENKRAFT

Abb. I Die Lotoszentren im Menschen

ARTHUR

AVALON

Sir John W oodroffe

DIE SCHLANGENKRAFT D ie E n t f a l t u n g s c h ö p f e r i s c h e r K r ä f t e i m M e n s c h e n

Beschreibung und Untersuchung der sechs körper­ lichen Zentren in zwei Werken über Laya-Yoga, aus dem Sanskrit übersetzt, und mit Einführung und Kommentar

OTTO W I L H E L M B A R T H - V E R L A G

Der englische Titel des im Verlag Ganesh & Co., Madras, Ltd., in fünf Auflagen erschienenen Werkes lautet: THE SERPENT P O W E R being the SAT-CAK RA-N IRÜ PAN A AND PÄDU K Ä-PAN CAKA Die autorisierte Übersetzung besorgte Dr. Gerhard Laqua. Schutzumschlag H. Heinold.

Z w eite A uflage 1975 A lle Rechte der V erbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotom echanische W ied er­ gabe, Tonträger jeder A rt und auszugsweisen Nachdruck, sind Vorbehalten. © 1961 und 1975 by Scherz V erlag B ern M ünchen W ie n fü r O tto W ilh elm Barth V erlag

A U S D E M VORWORT ZUR E R S T E N A U F L A G E »Wir beten zu der mit Shiva vereinten Paradevatä, deren Substanz aus reinem Wonnenektar besteht . . . Zinnoberrot wie die taufrische Hibicusblüte und wie der Abendhimmel ist sie. Ihren Weg sich bahnend durch die Klangmasse, die dem Zusammenprall und dem Dahinrauschen beider Winde inmitten der Sushumnä entquoll, schwillt sie an zu ihrer strahlenden Wirksamkeit und gleißt in ihrem Glanz wie Zehnmillionen Blitze. Möge die hurtig zu Shiva emporsteigende Kundalini uns bei ihrer Wiederkehr die Frucht des Yoga schenken! Erwacht, ist sie für die Kaulas die Spenderin der F ü lle. . . und denen, die sie nur verehren, gilt sie als das Kalpa-Reptil für alle begehrten Dinge.«

Shäradä Tilaka, xxv, 70

Das vorliegende Werk beschreibt ausführlich die Schlangenkraft (kundali shakti) und erklärt den durch sie bewirkten Yoga, ein Thema, das im Tantra Shästra einen hervorragenden Platz einnimmt. Es enthält die Übersetzung zweier bisher unübersetzt gebliebener Sanskritwerke. Das erste Buch betitelt sich »Shatchakra-Nirüpana« ( » Beschreibung und Unter­ suchung der sechs körperlichen Zentren«), es hat den berühmten Tantriker Pürnänanda Svämi zum Verfasser; sein Leben werde ich weiter unten kurz skizzieren. Das Werk enthält das sechste Kapitel seines umfangreichen, bisher aber nicht ver­ öffentlichten ))Shritattvachintämani« über das tantrische Ritual. Es ist unter anderen auch von Shankara und Vishvanätha zum Gegenstand ihrer Kommentare gemacht worden; ich habe es bei der Zusammenstellung der vorliegenden Übersetzung mit herangezogen. Der hier aus dem Sanskrit übertragene Kommentar stammt von Kälicharana. Der zweite Text mit dem Titel »Pädukä-Panchaka (»Der Fünffältige Fußschemel des Guru«) befaßt sich mit einem der im größeren Werk beschriebenen Lotosse. Ihm ist eine Sanskritübersetzung eines Kommentars Kälicharana’s beigefügt. Zur Über­ setzung beider Werke habe ich meinerseits mit etlichen erläuternden Hinweisen bei­ getragen. Da die übersetzten Bücher in ihren Grundzügen wenig bekannt und dem Leser ziemlich unverständlich sein dürften, mußte ich der Übersetzung eine allgemeine Einführung vorausschicken, in der ich (im Bereiche der einem solchen Werk wie auch meiner Erkenntnis gesetzten Schranken) mich bemüht habe, diese Yogaform eingehend zu beschreiben und zu erklären. Außerdem habe ich einige Tafeln beigefügt, die nach den im ersten Sanskrittext über die Zentren gemachten Angaben gemalt und gedruckt worden sind. In der Einführung mehr zu bringen als einen allgemeinen und zusammenfassenden Bericht über die Grundbegriffe dieses Yoga und insbesondere dieser seiner speziellen Form ist mir leider unmöglich gewesen. Über Pürnänanda — den berühmten Tantrika Sädhaka aus Bengalen und Ver­ fasser des »Shatchakranirüpana« — haben die Nachfahren seines ältesten Sohnes

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den unten angegebenen Bericht zusammengestellt; zwei Nachkommen sind an dem Werk der Varendra Forschungsgesellschaft, Rajshahi, mitbeteiligt. Ich bin dem Direktor dieser Gesellschaft, Sj. Akshaya Kumära Maitra und dem Sekretär Sj. Rädhä Govinda Baisäk für die folgenden Einzelheiten zu großem Dank verpflichtet: Pürnänanda war ein Bahri Brähmana der Kashyapa Gotra, seine Vorfahren gehörten zum Dorf Pakrashi, das bis heute noch nicht identifiziert werden konnte. Sein siebenter Vorfahr Anantächärya soll von Baranagara im Distrikt Murshidabad nach Kaitali im Distrikt Mymensingh abgewandert sein. Seiner Familie entstammen zwei berühmte Täntrika Sädhakas: Sarvänanda und Pürnänanda. Die Nachfahren Sarvänandas wohnen in Mehar, die des Pürnänanda sind vorwiegend im Mymensingh-Distrikt ansässig. Über das weltliche Lehen Pürnänandas wissen wir recht wenig, nur daß er den Namen Jagadänanda trug und ein Manuskript des Vishnupuränam im Shäka-Jahr 1448 — a. D. 1526 — abschrieb. Dieses Manuskript besitzt jetzt einer seiner Nachfahren mit Namen Pandit Hari Kishore Bhattächärya von Kaitali, es ist in gutem Zustand noch erhalten. Pandit Satis Chandra Siddhäntabhüshana von der Varendra Forschungsgesellschaft hat es mir liebenswürdigerweise zur Einsicht­ nahme überlassen. Der Kolophon berichtet, daß Jagadänanda Sharma das Puräna im Shäka-Jahr 1448 geschrieben hätte. Als dieser Jagadänanda seine Dikshä (Initiation) von Brahmänanda empfangen hatte, nahm er den Namen Pürnänanda an und ging nach Kämarüpa (im Gebiet Assam) , wo er, wie man glaubt, die »Siddhi«, den Zustand der geistigen Vollendung, im Ashrama erlangt haben soll; dieser Flecken liegt etwa sieben Meilen vor der Stadt Gauhati (Assam ) und trägt noch heute den Namen Vashishthäshrama. Pürnänanda kehrte nicht mehr zurück, er führte das Leben eines Paramahamsa und kompilierte mehrere tantrische Werke, von denen uns das im Shäka-Jahr 1499 — a. D . 1577 — zusammengestellte Shritattvachintämani, das Shyämärahasya, das Shäktakrama, das Tattvänandatarangini und das Yogasära bekannt sind. Sein Kommentar über den Kälikakäraküta Hymnus ist weit bekannt. Das hier übersetzte Shatchakranirüpana ist jedoch kein selbständiges Werk, sondern stammt aus dem sechsten Patala des Shritattvachintämani. Nach einer von einem seiner Nachfahren überlieferten Familienstammrolle liegt dieser Täntrika Ächärya und Virächära Sädhaka Pürnä­ nanda von seinen gegenwärtigen Nachkommen etwa zehn Generationen zurück. Ranchi, 20. September 1918

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Arthur Avalon

EI NFÜHRUNG YON ARTHUR AVALON DIE SECHS Z E N T R E N UND DIE S C H L A N G E N K R A F T

DIE SECHS ZENTREN UND DIE SCHLANGENKRAFT

i.

EINLEITUNG

Die hier übersetzten zwei Sanskritwerke — das Shatchakranirüpana (»Beschrei­ bung der sechs Zentren oder Chakras«) und das Pädukä-Panchaka (»Der Fünffältige Fußschemel«) — befassen sich mit einer Spezialform des tantrischen Yoga und beschreiben den sogenannten Kundalini-Yoga oder die Bhütashuddhi, wie er in einigen Werken auch genannt wird. Diese Begriffe beziehen sich auf Kundalini-Shakti, die höchste Kraft im menschlichen Körper, eine Kraft, deren Er­ weckung zum Yoga führt; sie beziehen sich aber auch auf die bei diesem Ereignis eintretende Läuterung der Körperelemente (bhüta-shuddhi). Diese Yogaform wird durch einen fachtechnisch als »Shat-Chakra-Bheda« — die Durchdringung der sechs körperlichen Zentren, der sechs Regionen (chakra) oder Lotosse (padma) — bekannten Vorgang ausgelöst (den das Werk beschreibt), nämlich durch das Inkrafttreten der Kundalini-Shakti, die ich, um ihr einen englischen Namen zu geben, hier »Serpent Power« (»Schlangenkraft«) genannt habe1. Kundala heißt zusammengerollt. Diese Kraft repräsentiert die Göttin (devi) Kundalini und verkörpert das Zu­ sammengerollte; ihre Gestalt erinnert an eine an der Wirbelsäulenbasis im untersten Körperzentrum eingerollte Schlange, die so lange schlafend verharrt, bis sie vermittels der beschriebenen Methoden aus dem nach ihr benannten Y oga erweckt worden ist. Die Kundalini gilt als die göttliche Kosmische Energie im Körper (s. später). Die »Saptabhümi«, sie sieben Sphären (loka)2, sind, vulgär verstanden, eine für Uneingeweihte bestimmte (exoterische) Darstellung der inneren tantrischen Lehre über die sieben Zentren®. Der Yoga wird aus einem zweifachen Grunde tantrisch genannt. Man kann ihn in den auf die Zentren oder Chakras hinweisenden Yoga-Upanishaden wie auch in einigen Puränas erwähnt finden. Die Abhandlungen über Hatha-Yoga befassen sich ebenfalls mit diesem Thema. Ähnliche Begriffe finden wir sogar in anderen außerindischen Systemen, doch sind sie, zumindest in einigen Fällen, wahrschein­ lich indischen Ursprungs. So finden wir beispielsweise im »Risala-i-haq-numa« des Prinzen Muhammed Dara Shikoh4 eine Beschreibung der drei folgenden Zentren: »Mother of Brain«, das »Himmlische Herz« (dil-i-muddawar); das »Zedern-Herz« (dil-i-sanowbari); und dil-i-nilofari, das »Lilien-Herz«5. Weitere Belege kann man in den Werken der mohammedanischen Sufis finden. So hätten, heißt es6, einige sufische Bruderschaften (wrie die Naqshbandi) die Kuiidalinlmethode als Mittel und W eg zur Verwirklichung7 erdacht oder sie, besser gesagt, von indischen Yogis entlehnt8. Man hat mir erzählt, daß zwischen dem (asiatisch) indischen Shästra und der amerikanisch-indianischen heiligen Schrift der Mayas, dem sog.

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Popul Vuh®, Übereinstimmungen zu finden seien. Mein Gewährsmann hat mich wissen lassen, daß ihre »Luftröhre« die Sushumnä sei; daß ihre »zweifache Luft­ röhre« aus den Kanälen Idä und Pingalä bestehe; daß »Hurakan«, der Blitz, die Kundalini darstelle, und daß die Zentren mit geschnitzten tierischen Glyphen verziert seien. Ich habe erfahren, daß ähnliche Bezeichnungen in der Geheimlehre anderer Gemeinschaften üblich seien. Man könnte erwarten, daß Lehre und Praxis, sofern sie auf einer tatsächlichen Gründung beruhten, weit verbreitet seien. Speziell mit den Tantras oder Agamas verknüpft ist diese Yogaform insofern, weil diese heiligen Schriften in erster Linie sich ausführlich mit ihr befassen. Tatsächlich sind solche bis ins Detail beschriebene methodische Darstellungen der Praxis zum größten Teil in den Hathayoga-Werken und in den Tantras zu finden, die auch als Handbücher für den Hindu-Kult und für den Okkultismus gebräuchlich sind. Zum zweiten scheint mir der Y oga wegen der Einwirkung auf das unterste Zentrum charakteristisch für das tantrische System; seine Adepten kann man als die Hüter des auf Erfahrung beruhenden Wissens betrachten, eines Wissens, auf das sich die allgemeinen Richtlinien in den Büchern wahrscheinlich ausrichten. Das System ist von tantrischem Charakter auch in betreff der W ahl des Haupt­ sitzes für das Bewußtsein. Im Altertum haben manche Verfechter verschiedene Körperbestandteile als den Sitz für die »Seele« oder für das »Leben« angesehen, so zum Beispiel das B lu t10, das Herz und den Atem. Im allgemeinen hat man das Gehirn dafür nicht in Betracht gezogen. Das Vedische System postuliert das Herz als den Hauptsitz für das Bewußtsein — einen Überrest dieser Vorstellung be­ wahren wir noch in der Redensart »Nimm es zu Herzen«, »Lerne mit Herz«. Sädhaka, das sich als eine der fünf Pitta-Funktionen11 im Herzen lokalisiert, unterstützt indirekt das Zustandekommen der Erkenntnisfunktionen dadurch, daß es die rhythmischen Kontraktionen aufrechterhält, und man hat die Vermutung ausgesprochen12, ob diese Ansicht über die Herzkonstruktion es vielleicht gewesen sei, die indische Physiologen veranlaßte, das Herz als den Sitz für die Erkenntnis anzunehmen. Nach den Tantras aber sind die Hauptzentren für das Bewußtsein in den Chakras des Cerebrospinalsystems und im oberen Hirnanteil (sahasrära) zu suchen, was sie ja auch beschreiben, selbst wenn sie das Herz als den Sitz für den Jlvätmä, d. h. für den verkörperten Geist in seinem Aspekt als Lebensodem, Lebenshauch oder Präna13, bestimmen. Aus den erwähnten Gründen spricht nämlich der erste Vers des hier übersetzten »Shat-Chakra-Nirüpana«, daß man den Y oga »tantragemäß« (tantränusärena) erlernen sollte, d. h., wie sein Komm en­ tator Kälicharana meint, »daß man die Anweisungen der Tantras befolgen soll«. Unlängst ist dem Thema im abendländischen Schrifttum okkulter Richtung einige Aufmerksamkeit geschenkt worden. Hierbei haben, ganz allgemein ge­ sprochen, seine Verfasser und andere dokumentiert, was sie sich unter der Hindu­ lehre über den vorliegenden Tatbestand vorstellten, doch sie machten dabei beträchtliche Fehler. Diese Fehler bleiben auf die eben erwähnten Werke leider nicht beschränkt. So finden wir, nur um zwei treffende Beispiele dieser Art heraus­ zugreifen, in einem gut bekannten Sanskritwörterbuch14, daß die Chakras als »Kreise oder Vertiefungen (sic!) des Körpers für mystische oder chiromantische

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Zwecke« definiert und in fast jeder Einzelheit lagemäßig falsch angegeben werden. Das Mülädhära soll sich fälschlicherweise »oberhalb des Schambeins« befinden. Das Svädhishthäna ist auch nicht die Nabelgegend. Das Anähata bezeichnet nicht die Nasenwurzel, sondern ist das Spinalzentrum in der Herzgegend; das Vishuddha ist nicht »die Höhle zwischen den Stirnsinus«, sondern das Vegetativzentrum im Bereiche der Kehle. Das Äjüä ist nicht die Fontanelle oder die als »Brahmarandhra«15 bezeichnete Vereinigungsstelle der Koronalnaht mit der Sagittalnaht, sondern liegt dort, wo man das dritte Auge, das Jnänachakshu, annimmt. Andere Verfasser, die solche groben Schnitzer zwar nicht begehen, werden von kleineren Ungenauigkeiten auch nicht verschont. So spricht ein Autor, der, wie ich unter­ richtet bin, ein beträchtliches Wissen um okkulte Dinge hatte, von der Sushumnä als von einer »Kraft«, die man »nicht eher entfalten kann, bis Idä und Píngala ihr vorausgegangen sind«, die »unter den Begleitsymptomen eines heftigen Shocks die einzelnen Rückenmarksabschnitte passiert« und bei der Erweckung des Sakral­ plexus das Rückenmark entlangfließen und hirnwärts vorstoßen soll mit dem Ergebnis, daß der Novize »sich als körperlose Seele im schwarzen Abgrund eines leeren Raumes einsam kämpfend gegen unsagbare Furcht und Schrecken« erlebe. Er schreibt ferner, daß die Kundalini-»Strömung« Nädi genannt würde; daß die Sushumnä als Nerv zur Brahmarandhra hinzöge; daß es zahlenmäßig sieben Tattvas gäbe und andere falsche Dinge. Die Sushumnä ist keine »Kraft«16, sie fließt weder durch etwas hindurch noch stößt sie gegen etwas vor, sondern ist von den drei Nädis, die der Wirkkraft der erwachenden Devi — der sogenannten Kundalini oder kosmischen Kraft im Körper — den Durchgang gestatten, die randständige äußere N ädi; und die kosmische Kraft als solche ist natürlich keine Nädi, sondern passiert die innerste, die Chitrinl Nädi, die im zwölfblättrigen Lotos unter dem Sahasrära ihr Ende findet, an einer Stelle also aufhört, von der aus man schließlich den Aufstieg zur Brahmarandhra vollzieht. Es wäre ein leichtes, bei Schriftstellern, die das Thema behandelt haben, weitere Fehler heraus­ zustreichen. Es wird aber zweckdienlicher sein, wenn ich im Rahmen meines W issens um diese Dinge eine möglichst exakte Darstellung dieser Yogamethode zu bringen versuche. Ich möchte aber gleich hinzufügen, daß selbst einige moderne Schriftsteller Indiens dazu beigetragen haben, unrichtige Meinungen über die Cha­ kras aufkommen zu lassen, indem sie diese entweder nur von der materialistischen oder nur von der physiologischen Seite her beschrieben. So handeln heißt nicht nur die Sache schief darstellen, sondern sie auch preisgeben; denn die Physiologie weiß nichts von der Existenz der Chakras als solche — d. h. als Bewußtseins­ zentren —, weiß nichts von der Tätigkeit des »Sükshma Präna Väyu«, des subtilen Lebenshauchs, auch wenn sie sich mit dem stofflich-groben Körper, der ja mit ihnen in einem Bezug steht, eingehend beschäftigt. Wer sich also nur auf die Physiologie versteift, wird sich unbefriedigt sicher wieder von ihr abwenden. An dieser Stelle möchte ich den Bericht eines gut bekannten »theosophischen« Schriftstellers17 einschieben, der Betrachtungen darüber anstellt, was er unter »Kraftzentren« und »Schlangenfeuer« versteht, die er, wie er schreibt, persönlich erfahren hätte. Wenn der Verfasser auch das Y oga Shästra heranzieht, wird es einen Irrtum vielleicht ausschließen, wenn ich hier darauf hinweise, daß sein

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Bericht nicht den Anspruch erhebt, als eine Interpretation der Lehre indischer Yogis zu gelten (deren Kompetenz für ihren Yoga er allerdings ein wenig schmä­ lert), sondern als eigene Originalschilderung seiner persönlichen Erfahrung gelten will, einer Erfahrung, die er, wie er schreibt, selbst gehabt hätte, und zu deren Schilderung er, wie er sich ausdrückt, durch gewisse Stellen der indischen Lehre ermutigt worden sei. Diese Erfahrung scheint aus dem bewußten Erwecken des »Schlangenfeuers«18 zu bestehen, die nach seiner Annahme ihm das gezeigt hätte, wovon er uns berichten will19. Die Zentren oder Chakras des menschlichen Körpers werden als W irbel des »ätherischen« Urstoffs20 bezeichnet, über sie soll von der »Astral«21-Welt her und rechtwinklig zur Ebene der sich drehenden Scheibe die siebenfältige Logoskraft einströmen und »göttliches Leben« in den physischen Körper einbringen. Obwohl sämtliche sieben Kräfte auf alle Zentren einwirkten, sei in jedem einzelnen Zentrum eine der Kraftformen in besonderem Maße vorherrschend. Diese ein­ strömenden Kräfte, so behauptet er weiter, sollen auf der Oberfläche des »äthe­ rischen D ouble«22 rechtwinklig zu ihnen stehende Sekundärkräfte nach sich ziehen. Die am Eingang in den Ätherwirbel eintretende Hauptkraft soll gradlinig, doch rechtwinklig, wieder abstrahlen. Die Bündelzahl dieser Primärkraftstrahlung soll die Anzahl der »Blütenblätter«23 (wie die Hindus sie nennen), die der Lotos oder W irbel aufweise, mitbestimmen. Die den W irbel umschwingende Sekundärkraft erwecke, heißt es weiter, den Anschein von Blumenblättern oder »vielleicht besser gesagt, von Schüsselchen oder flachen Vasen aus wellenartig irisierendem Glas«. In dieser Weise — d. h. bei der Annahme eines für die einströmende Logoskraft verfügbaren Ätherwirbels — berichtet nun fortfahrend der Verfasser nicht nur über die in den Hindubüchern erwähnten »Lotosse«, sondern spricht auch über die Zahl der Blütenblätter, bestimmt für das Svädhishtäna-Zentrum einen sechs­ blättrigen Lotos an der Milz22 und korrigiert die Blumenblätterzahl des Kopflotos, die seiner Meinung nach nicht tausend — wie es die entsprechenden Yogabücher behaupten — »sondern genau 960« betrage24. Das den physischen Träger am Leben erhaltende »ätherische« Zentrum soll jeweils mit einem entsprechenden »astralen« vierdimensionalen Zentrum korrespondieren, zwischen ihnen befinde sich aber eine aus einer einzigen verdichteten Schicht physischer Atome gebildete enggewebte Scheide oder Hülle, die ein vorzeitiges Eröffnen der Kommunikation zwischen den Ebenen verhindere. Es gebe aber trotzdem, heißt es weiter, einen Weg, wie man diese Zentren in geeigneter Weise öffnen, d. h. entfalten könne, um von den höheren Ebenen mehr über diesen Kanal hindurchzuschleusen als gewöhn­ lich. Jedes einzelne dieser »astralen« Zentren hat ganz bestimmte Punktionen: am Nabel: ein einfaches schlichtes Einfühlungsvermögen; an der Milz: »bewußtes Wandern« im Astralkörper; am H erzen: »eine Fähigkeit, die Schwingungen anderer astraler Entitäten zu begreifen und mitzufühlen«; an der Kehle: die Fähigkeit, auf der Astralebene zu hören; zwischen den Augenbrauen: »das astrale Sehen«; an der »Scheitelspitze«: die Vollendung aller astraler Lebensfähigkeiten25. Deshalb sollen diese Zentren für den Astralkörper gewissermaßen die Funktionen von Sinnesorganen ausüben. Im ersten Zentrum »am Grunde der Wirbelsäule« hegt das aus sieben Schichten oder sieben Stärkegraden28 bestehende »Schlangenfeuer«,

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die Kundalini. Sie gilt als eine auf der physischen Ebene in ätherischen Urstoff manifest gewordene Energieform, sie ist eine der großen Weltkräfte, eine der Logoskräfte, von denen die Vitalität und die Elektrizität weitere Beispiele seien. Sie ist aber, heißt es weiter, nicht dasselbe wie Präna, der Lebensodem27. Die »feinstofflichen« Zentren sollen, wenn sie durch das »Schlangenfeuer« voll erweckt sind, angeblich jede beliebige, dem astralen Zentrum inhärente Eigenschaft in das mit ihm nun verbundene physische Bewußtsein hereinholen. Durch das »Schlangenfeuer« belebt, werden sie zu Verbindungspforten zwischen dem phy­ sischen und dem »astralen« Körper. Wann das astrale Erwachen dieser Zentren zum ersten Male eingetreten ist, sei dem physischen Bewußtsein unbekannt. Der Empfindungsleib kann jetzt aber »dazu gebracht werden, von allen diesen V or­ teilen zu profitieren, wenn man diesen Erweckungsprozeß an den ätherischen Zentren wiederholt«. Das erreicht man dadurch, daß mandas »Schlangenfeuer«, das auf der physischen Ebene im ätherischen Urstoff verborgen ist und im korre­ spondierenden ätherischen Zentrum — d.h. am Grunde der Wirbelsäule — schläft, willensmäßig erweckt28. Wenn man das vollzieht, belebt es die höheren Zentren mit dem Ergebnis, daß im physischen Bewußtsein die Kräfte zum Auftauchen kommen, die durch die Entfaltung der korrespondierenden Astralzentren erweckt worden sind. Kurz, man beginnt mit dem Leben auf der Astralebene, was durchaus ein Vorteil ist, weil man ja, wie es heißt, den Eintritt in die Himmelswelt erst am Ende des Lebens auf dieser Ebene erreichen kann29. So wird man beim zweiten Zentrum im physischen Körper »allerlei astraler Einflüsse gewahr, unbestimmt fühlend, daß manche von ihnen freundlich, manche wieder feindlich gesinnt sind, ohne im geringsten zu wissen, warum«. Beim dritten Zentrum ist man imstande, sich »teilweise an unbestimmte Astralwanderungen zu erinnern, mitunter mit einem halbbewußten Eingedenksein, mit beseligendem Behagen durch die Luft geflogen zu sein. Beim vierten Zentrum wird der Mensch der Freuden und Sorgen seiner Mitmenschen instinktiv gewahr, wobei er bisweilen ihre körperlichen Schmerzen und ihren Kummer in sich selbst hervorbringt. Beim Erwecken des fünften Zentrums hört er Stimmen, »die allerlei Beeinflussungen auf ihn ausüben«. Manchmal hört er Musik »oder auch andere, weniger angenehme Geräusche«30. Die volle Entfaltung führt zum Hellhöhren (clairaudience) auf der »Astral«-Ebene. Die Erweckung des sechsten Zentrums gewährt Erlebnisse, die im Anfang von alltäglich trivialem Charakter sind, wie »halbwahrgenommene Land­ schaften und Färb wölken«, die aber später in Clairvoyance übergehen. Hier soll es eine Vergrößerungskraft vermittels einer »ätherischen« flexiblen Röhre geben, einer Röhre, die an »die mikroskopische Schlange am Kopfputz der Pharaonen« erinnert. Die Macht, das Auge dieser »mikroskopischen Schlange« beherrschen resp. ausdehnen zu können, soll die in alten Büchern erwähnte Fähigkeit dar­ stellen, sich selbst nach seinem Willen groß oder klein machen zu können31. Wenn man die Hirnanhangdrüse zu tüchtiger Funktion anregt, wird sie eine Brücke zum astralen Vehikel, und wenn das Feuer das sechste Zentrum erreicht und es voll belebt, wird die Stimme des »Meisters« gehört (der in diesem Falle das höhere Selbst in seinen verschiedenen Stufengraden charakterisiert)32. Das Erwecken des siebenten Zentrums befähigt einen, den Körper bei vollem Bewußtsein zu ver­

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lassen. »Wenn das Feuer reihenfolgegemäß durch alle genannten Zentren in dieser Weise hindurchgegangen ist (was bei den verschiedenen Menschentypen variiert), entsteht das kontinuierliche Bewußtsein, das bis zu dem am Lebensende auf der Astralebene eintretenden Übergang in die Himmelswelt33 andauert«. Es findet sich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesem Bericht und der Lehre des Y oga Shästra, mit der der oben zitierte Verfasser, allgemein gesprochen, einige Bekanntschaft gemacht zu haben scheint, sie wird vielleicht auch einige Charakteristika seiner Darstellung beeinflußt haben. Da gibt es erstens sieben Zentren, die bis auf eine Ausnahme mit den von uns beschriebenen Chakras über­ einstimmen. Der Verfasser meint, es gäbe noch drei weitere niedere Zentren, aber die Konzentration auf sie sei voller Gefahr. Welcher Art diese sind, wird leider nicht angegeben. Meines Wissens gibt es kein tieferes Zentrum als das Mülädhära (was der Name »Wurzelzentrum« an sich schon andeutet), und das einzige Zentrum in seiner Nähe, das in dem oben erwähnten Bericht jedoch fehlt, ist das Apas Tattva-Zentrum, das Svädhishthäna. Als nächstes haben wir die Kraft, das »Schlangenfeuer«, das die Hindus »Kundalinl« nennen, sie findet sich im untersten Zentrum, im Mülädhära. Schließlich soll der erstrebte Effekt dieser willensmäßig (yogabala)34 eingeleiteten Krafterweckung darin gipfeln, das physische Bewußt­ sein durch die aufsteigenden Ebenen bis in die »Himmelswelt« zu erheben. Um den entsprechenden Hindu-Ausdruck zu gebrauchen, ist Ziel und Zweck der Shatchakra-Bheda: Yoga. Er ist die endgültige Einswerdung mit dem Höchsten selbst, dem Paramätmä; da sich der Körper aber, wenn auch noch unbewußt, schon in natürlichem Zustande in Y oga befindet — andernfalls wäre er nicht existent —, leuchtet es wohl ein, daß jeder bewußte Schritt nach oben »Yoga« ist, und man muß viele Stufen bewältigen, bis man die vollständige Erlösung, die »Kaivalya Mukti« erreicht hat. Diese (mukti) ist aber, wie noch manche ihr vorangehende Unterstufe, von der vom Verfasser erwähnten »Himmelswelt« weit entfernt. Yogis interessieren sich nicht für die »Himmelswelt«, sondern suchen sie zu überschreiten; andernfalls sind sie eben keine Yogis. W as nach dieser Theorie die sich mani­ festierende Kraft allem Anschein nach bewirkt, ist dies: sie steigert die geistigen und moralischen Fähigkeiten des Selbsthandelnden in dem Maße, wie diese bei dem Zeitpunkt ihrer Enthüllung bereits vorhanden waren. Wenn dem aber so ist, dann mag eine derartige Steigerung ebenso wenig erwünscht sein wie der ursprüng­ liche Zustand. Abgesehen davon, daß man über Kraft und Gesundheit verfügen muß, hat man Denken, Wille und Moral, die man ihrem Einfluß unterwerfen will, zuvor zu läutern und zu stärken, dann erst darf man sie dem intensivierenden Einfluß der erweckten Kraft überlassen. Überdies sind die Yogis der Meinung, wie ich es anderwärts hervorgehoben habe35, daß die Durchdringung des Brahmagranthi, des »Knotens«36, manchmal beträchtliches Leid, körperliches Unbehagen und sogar Krankheit mit sich bringen kann, was man wahrscheinlich als eine Folge der Konzentration auf ein Zentrum wie den Nabel (nabhipadma) anzusehen hat. Wenn ich mich in Hindu-Begriffen ausdrücken darf, muß der Sädhaka geeignet, muß er tauglich sein (adhikäri), eine Angelegenheit, die zu entscheiden nur sein Guru in der Lage ist, von dem allein er die wirksame Methode erlernen kann.

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Die vom Verfasser aufgezählten, gelegentlich wohl auftretenden Schwierigkeiten übertreffen jedoch die mir von den Indern selbst erwähnten Gefahren; auch scheinen mir die Inder im allgemeinen von der Angelegenheit des sogenannten »Phalluskultes«, den der Verfasser am Rande erwähnt, nichts zu wissen. Er spricht von (anscheinend abendländischen) Schulen für »Schwarzmagie«, wo man die Kundalini zum Zwecke der Stimulierung des Sexualzentrums mißbrauchen soll. Ein anderer Verfasser sagt37: »Der im Pseudo-Okkulten operierende armselige Stümper wird mit den Kindereien des Psychismus seinen gesunden Menschen­ verstand nur entwürdigen, wird dem schlechten Einfluß der Phantasmen zum Opfer fallen oder durch die schmutzigen Praktiken des Phalluskultes seine Seele vergiften — wie es Tausende irregeleiteter Menschen selbst heutzutage noch tun.« Stimmt’s ? Es ist durchaus möglich, daß eine perverse oder auch fehlgeleitete Konzentration auf sexuelle oder mit diesen verwandte Zentren den erwähnten Effekt erzielen kann. Man könnte es als eine Anspielung hierauf gelten lassen, wenn der Kommentator Lakshmidhara von den Uttara Kaulas meint, sie erweck­ ten die Kundalini im Mülädhära nur, um ihre Gier nach Weltgenuß zu stillen, sie versuchten nicht, sie zum höchsten Zentrum heraufzulocken, was ja eigentlich als das Ziel des nach überweltlicher Wonne trachtenden Y oga zu gelten habe. Auf sie gelte ein Sanskritwort: »Sie sind die wahren Prostituierten«. Niemals habe ich Inder von solchen Dingen reden hören, weil das wahrscheinlich zum Y oga im üblichen Sinne nicht gehört; und wegen der Zucht, die man von den YogaAspiranten von vornherein verlangt, wegen der Eigenart ihres Verfahrens und wegen des vorgefaßten Zieles kommt eine solche Möglichkeit auch gar nicht in Frage. Der Inder, der diese oder jene geistige Yogamethode betreibt, macht das gewöhnlich nicht aus Berechnung, nicht aus Interesse oder Neugier am Okkultis­ mus oder aus dem Wunsche heraus, »astrale« oder ähnliche Erfahrungen zu sam­ meln38. Seine Haltung in diesen wie in allen anderen Dingen ist im wesentlichen eine im festen Glauben an das Brahman verwurzelte (sthiranishthä) und von der Sehnsucht nach Einswerdung mit ihm erfüllte religiöse Einstellung, und das ist die Erlösung. Die Qualifikation für das Tantra (tantrashästrädhikära) wird im zweiten Kapitel des Gandharva Tantra folgendermaßen definiert: Der Aspirant muß verständig, einsichtsvoll sein (daksha), er muß die Sinne im Zaume halten können (jitendriya), muß sich der Verletzung aller Lebewesen ent­ halten (sarvahimsävinirmukta), muß jederzeit allen Gutes erweisen (sarvapränihite ratah) und muß keusch sein (shuchi); er muß an die Veden glauben (ästika), auf das Brahman sein Vertrauen setzen und seine Zuflucht zu ihm nehmen (brahmishthab, brahmavädi, brähmi, brahmaparäyana) und muß ein NichtDualist (dvaitahlna) sein. »Solch einer ist für diese Schrift kompetent, oder er ist eben kein Sädhaka« (So’smin shästre, dhikärl syät tadanyatra na sädhaka). Mit einer derartigen Einstellung ist es durchaus möglich, wie ein indischer Schriftsteller (im späteren Kapitel V II) hervorhebt, daß eine Konzentration auf die mit den Leidenschaften korrespondierenden niederen Zentren diese durchaus nicht anzufachen, sondern sie weit eher zu besänftigen vermag. Es ist andererseits gut möglich, daß eine

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anders ausgerichtete Haltung, Absicht oder Praxis ein entsprechend anderes Ergebnis zeitigen wird. Von einer Konzentration auf das Sexualzentrum zu reden, ist jedoch an sich schon abwegig, denn die Chakras liegen nicht im groben Körper, und man führt die Konzentration überdies auf das Subtilzentrum mit dem hier vorherrschenden Bewußtsein aus, auch wenn derartige Zentren eine letztliche Beziehung zur stofflich groben Funktion haben dürften. Zweifellos gibt es ohnehin eine Verwandtschaft und eine Relation zwischen den Shaktis (Wirkkräften) der geistigen und denen der sexuellen Zentren, und die Kraft der letzteren steigert, nach oben geleitet, in außerordentlichem Maße jede geistige und physische Funktion39. Wirklich, die »sieh-Konzentrierenden« wissen, wie man seine gesamte Energie auf das Willensobjekt sammelt, wie man alle solche Kräfte erst trainiert, dann gebraucht und keine von ihnen außer acht läßt. Die erfahrenen Anhänger dieser Methode geben jedoch, wie ich bereits erwähnt habe, unumwunden zu, daß sie mit gewissen Nachteilen oder gar Gefahren verknüpft sein kann, und halten sie darum, ausgenommen für den voll K om ­ petenten (adhikäri), für nicht empfehlenswert. Es finden sich anderseits zahlreiche wesentliche Unterschiede zwischen dem kurz zusammengefaßten Bericht und der Theorie, auf der die in diesem Werk beschriebene Yogaform sich aufbaut. Die in jenen Bericht übernommene Termino­ logie wie auch die Einteilung kann man als »theosophisch«40 bezeichnen; obgleich es den in dieser wie in der indischen Terminologie Vertrauten möglich sein kann, Punkte der Übereinstimmung zwischen beiden Systemen herauszufinden, kann man es durchaus nicht gelten lassen, daß selbst für diese Ausnahmefälle die Wortbedeutung für beide Systeme die gleiche Gültigkeit habe. Auch wenn die »theosophische« Lehre durch indisches Gedankengut wesentlich beeinflußt wurde, ist der Sinn, den sie den von ihr benutzten indischen Begriffen zueignet, nicht immer der gleiche, wie er ihnen von den Indern selbst gegeben wurde. Das ist zuweilen verwirrend und irreführend und bringt Ergebnisse, die die Schreiber dieser Schule hätten vermeiden können, wenn sie in allen Fällen ihre eigene Nomenklatur benutzt und ihre eigene Begriffsbestimmung beibehalten hätten41. Obgleich der Terminus »Ebenen« unserer bildmäßigen Gedankenkonzeption ad­ äquat ist und in diesem Sinne auch gebraucht werden kann, kommt die Einteilung in »Prinzipien« der Wahrheit doch wesentlich näher. Es ist nicht gerade leicht für mich, die indische und die theosophische Theorie über die menschlichen Grund­ sätze in völlige Übereinstimmung zu bringen. Man hat jedenfalls davon geschrie­ ben42, daß der physische Leib aus zwei Leibesbereichen bestehe: aus einem »dichten« und einem »ätherischen« Leib; diese stünden mit der Annamaya Kosha und der Pränamaya Kosha in Verbindung, und der »Astral«-Körper knüpfe an die kamische, d. i. die Begierdenseite der Manomayakosha, der Geisteshülle, an. Wenn man nun die behaupteten Beziehungen schlußfolgernd gelten lassen will, dann scheinen nach diesem Bericht die »ätherischen Zentren«, d. h. die Chakras, Energiezentren für die Präna-Väyu (Vitalkraft) zu sein. Die Lotosse sind das auch, sie sind die Zentren für das kosmische Bewußtsein. Kundalini ist die im Körper vorhandene statische Seinsform der Schöpfungskraft, sie gilt als Urquell für alle Energie einschließlich Präna. Nach der Theorie dieser Verfasserin ist

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die Kundalini eine dem Präna wesensfremde Wirkkraft, wobei man sieh unter dem Begriff »Präna« das Vitale, den Lebenshauch oder Lebensodem zu denken hat, d. h. ein Prinzip, das beim Eintritt in den Leib in den verschiedenen Lebens­ äußerungen — als untergeordnete Pränas — zum Ausdruck kommt, und von denen man die Einatmung (Inspiration) mit dem allgemein üblichen Namen der Kraft an sich (d. h. als »präna«) bezeichnet. In den Versen 10 und 11 heißt e i über die Kundalini: »Denn sie erhält am Leben alle Wesen (: jlva, jlvätmä) der W elt vermittels des Ein- und des Aushauchs.« Sie ist die Pränadevatä, und weil sie Srishti-Sthiti-Layätmikä ist (Kommentar zu Vv. 10, 11), enthält sie in sich alle Kraft. Sie ist in Wirklichkeit Shabdabrahman, das im Körper existente »Wort«. Die erörterte Theorie scheint aber von der Theorie der Yogis abzuweichen, wenn wir die Natur der Chakras und die Frage ihrer Belebung näher ins Auge fassen. Nach dem Bericht des englischen Verfassers sind alle Chakras W irbel im »äthe­ rischen Urstoff«, anscheinend von der gleichen Beschaffenheit wie die einströmende siebenfältige »Logos«-Kraft, sie sind auch dem gleichen äußeren Einfluß unter­ worfen wie diese und differieren untereinander nur insofern, daß in jedem ein­ zelnen Chakra die eine oder andere Form' der siebenfältigen Kraft überwiegt. Wenn nun, wie weiter bemerkt wurde, der Astralkörper mit der Manomayakosha korrespondiert, dann scheint nach diesem Bericht die Belebung der Chakras einer Erweckung der kamischen ( = Begierden-)Seite der Geisteshülle gleichzukommen. Nach der Hindu-Lehre sind diese Chakras untereinander verschiedene Zentren für das Bewußtsein, für die Vitalität und für die tattvische Energie. Jedes einzelne der fünf niederen Chakras gilt jeweils als Energiezentrum für ein grobstoffliches Tattva — d. h. ist Zentrum für diejenige Form tattvischer Wirkkraft oder Tanmätra, die »Mahäbhüta«, den sinnlich wahrnehmbaren Grundstoff manifestiert. Das sechste Chakra ist das Zentrum für das subtile Geistestattva, und das Sahasrära gilt überhaupt nicht mehr als ein Chakra. Auch zählt das Milzzentrum, wie gesagt, nicht zu den von uns hier beschriebenen sechs Chakras. Im indischen System korrespondiert die Gesamtzahl der Blütenblätter mit der Buchstabenzahl im Sanskritalphabet43, und die Blumenblätterzahl irgend eines Lotos ergibt sich aus der Anordnung der subtilen »Nerven«, bestimmt sich aus dem Arrangement der ihn rings umgebenden Nädls. Überdies erzeugen diese Blumenblätter subtile Klangeffekte und es sind ihrer — wie die Buchstaben im Sanskritalphabet — fünfzig an der Zahl. Dieses Sanskritwerk beschreibt außerdem noch gewisse Dinge, die man durch die jeweilige Kontemplation auf ein bestimmtes Chakra erlangen kann. Einiges dieses Erreichbaren ist von allgemeinem Charakter, z. B. langes Leben, Freisein von Begierde und Sünde, Beherrschung der Sinne, Erkenntnis, Redegabe und Ruhm. Etliche dieser, wie auch noch andere Fähigkeiten, ergeben sich aus der kombinierten Konzentration auf mehr als ein Chakra. Andere wieder sollen mit der Kontemplation auf ein einziges Zentrum in Zusammenhang stehen. Solche Aufzählungen scheinen nun nicht aus der Absicht heraus gemacht zu sein, das aus der Konzentration auf ein bestimmtes Zentrum sich ergebende spezifische oder auch allgemeine Ergebnis sorgfältigst zu registrieren, sondern sind eher als eine Art Anerkennung für den Fortschritt auf dem Gebiete der Selbstbeherrschung zu

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werten, sind stuti-väda; so heißt es im 21. Vers zum Beispiel, daß die Kontem ­ plation auf denNäbhi-Padma dem Y ogi die Macht einbringe, die W elt zu zerstören und zu erschaffen. Man sagt ferner, daß die Beherrschung der Zentren verschiedene Siddhis (über­ sinnliche Fähigkeiten) hinsichtlich der in den Zentren vorherrschenden Elemente hervorbringen könnte. Und das wird als Tatsache bezeugt44. Pandit Ananta Shästri schreibt45: »Unter den auf den Straßen oder in den Bazars sich drän­ gelnden Menschen kann man jeden Tag etlichen begegnen, die die höchste W onne­ sphäre zu erreichen sich redliche Mühe gegeben haben, aber auf dem Wege dahin den Illusionen der psychischen W elt zum Opfer fielen und über das eine oder andere der sechs Chakras nicht hinausgekommen sind. Sie stehen auf verschiedenen Vollendungsstufen, und man kann sie manchen Einfluß ausüben sehen, den man nicht einmal bei den besten Intellektuellen des alltäglichen Menschenschlages antrifft. Daß in Indien diese Schule der praktischen Psychologie jedesmals so gute Erfolge zeitigte, kommt offenbar von diesen in allen Landesteilen als lebendige Beispiele anzutreffenden Menschen (ganz zu schweigen von den zahllosen A b ­ handlungen über dieses Thema).« Nach der Ansicht des geistigen Y oga wird dem Erwecken der Schlangenkraft an sich kein allzu großer W ert beigemessen. Bevor man dasÄ jfiäChakra nicht durch­ drungen hat, hat man nach der Meinung des höheren Y ogi wirklich Bedeutendes noch nicht erreicht. Hier erst, heißt es, wird der Sädhaka, wenn er seinen Ätmä in eine reine Meditation auf diesen Lotos verwandelt hat, »zum Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der drei W elten«; und doch ist das, wie der Kommentator im 34. Vers hervorhebt, »höchstens nur Prashamsä-Väda oder Stutiväda, d. h. ein Kompliment, das in der Sanskritliteratur in seiner Echtheit ebensowenig vor­ kommt wie im alltäglichen Leben«. Wenn der Y ogi hiermit auch schon viel erreicht hat, das Ziel wie das Motiv seines harten Ringens, nämlich das Erlöschen der Wiedergeburt, das der Unterjochung des Chitta und seiner Konzentration auf das »Shivasthanam« (Wonnebehältnis) als Ergebnis nachfolgt, gewinnt er erst dann, wenn er die Tattvas auch dieses Zentrums (äjfiä) absorbiert und sich das voll­ kommene W issen46 um das Sahasrära erarbeitet hat. Man darf sich nicht ein­ bilden, daß, bloß weil man das Schlangenfeuer erweckt hat, man damit schon ein Y ogi geworden sei oder gar das Endziel des Yogapfades erreicht hätte. Es gibt noch weitere anschauungsmäßige Differenzen, die aufzufinden ich dem Leser gern überlasse, auf die ich aber nicht näher eingehe, weil ich mein Ziel darin erblicke, durch Vergleichen beider Darstellungen einen allgemeinen Gegensatz zwischen diesem modernen Rechenschaftsbericht und der Ansicht der indischen Schulen herauszustreichen. Ich möchte jedoch hinzufügen, daß sich die Unterschiede nicht nur auf Details beschränken. Die Ausdrucksweise im Denken ist so abweichend, daß ich das mit kurzen knappen W orten gar nicht sagen kann; das werden mir alle, die mit den Heiligen Schriften der Inder, mit ihrer Begriffswelt und ihrer Denkweise einigermaßen vertraut sind, schnell bestätigen können. Nach der indischen Denkweise ist man stets geneigt, alle Prozesse samt ihren Ergebnissen vom subjektiven Standpunkt aus darzustellen, wenn auch die gegenständliche objektive Ansicht für die Sädhana-Ziele nicht ignoriert wird. Die indische Theorie

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ist in hohem Grade philosophisch. Während so zum Beispiel der R t. R evd. Lead­ beater die magische Kraft je nach Belieben groß resp. klein zu werden (anima und mahimä siddhi) einer flexiblen Röhre, einer »mikroskopischen Schlange«, in der Stirngegend zuschreibt, meint der Hindu, daß alle Kräfte (siddhi) Attribute (aishvarya) des Höchsten Herrn Xshvara, Eigenschaften des schöpferischen B e­ wußtseins seien, und daß der Jlva, in dem Maße wie er diesem Bewußtsein47 näherkomme, an den innewohnenden höheren Kräften entsprechend seinem V oll­ kommenheitsgrade teilhabe. Das, was die Hauptcharakteristik in den indischen Systemen, was ihre wirkliche wahre Tiefgründigkeit ausmacht, ist der überragende und unumschränkte Einfluß, den man dem Bewußtsein und seinen Tiefengraden einräumt. Diese Bewußtseins­ zustände nämlich erschaffen, erhalten und zerstören die Welten. Brahma, Vishnu und Shiva sind nur Bezeichnungen für die Funktionen des in uns selbst wirkenden einen Universalbewußtseins. Und welche Hilfsmittel immer man auch anwenden mag, die Umwandlung der »niederen« Bewußtseinsstufen in die »höheren« Bewußt­ seinsstufen ergibt den Fortschritt und die Fruchtfülle im Y oga und gilt als die Ursache aller Yoga-Erfahrungen. In diesen Dingen müssen wir jedoch, wie anders­ wo auch, die Praxis wie die Erfahrung von der Theorie zu unterscheiden wissen. Man kann gleichartige Erfahrungen möglicherweise durch verschiedene Praxis­ arten sammeln, und eine Erfahrung kann tatsächlich eine wahre sein, auch wenn die zu ihrer Erklärung herangezogene Theorie falsch ist. Die folgenden Abschnitte werden dem Leser die Möglichkeit in die Hand geben, selbst einen Vergleich anzustellen. Was die Praxis anbelangt, kann die Kundalini, so habe ich mir sagen lassen, nur im Mülädhära und nur durch die hier angegebenen Methoden erweckt werden, obschon dieser Vorgang auch von ungefähr eintreten kann, wenn man rein zufällig die erforderlichen Posituren eingenommen und die Voraussetzungen hierzu erfüllt hat, anders aber nicht. So erzählt man sich die Geschichte eines Mannes, dessen Körper man so kalt wie einen Leichnam — dessen Kopfscheitel man aber (noch) etwas warm — angetroffen hätte. (Das ist der Samädhi-Zustand im Kundallyoga.) Man massierte ihn mit »Ghee« (geklärter Butter), worauf sein K opf allmählich wärmer wurde. Die Wärme ging nach unten auf den Hals über, und der ganze Körper erlangte in einem raschen Zug seine ursprüngliche Körperwärme zurück. Der Mann kam wieder zu Bewußtsein und erzählte nun den Vorgang seines Zu­ stands. Er berichtete, daß er nur mal so zum Spaß gerade dabei gewesen wäre, eine Yogipositur nachzuahmen, als ganz unerwartet »Schlaf« über ihn gekommen sei. Man vermutete, daß seine Atmung irgendwie behindert worden sei; und da er gerade die vorgeschriebene Positur eingenommen und die dafür günstigen Bedin­ gungen erfüllt hatte, hätte er ganz unabsichtlich die Kundalini erweckt, die nun zu ihrem Hirnzentrum aufgestiegen sei. Da er aber kein Y ogi war, konnte er sie auch nicht wieder zurückbringen. Das kann man überdies nur, wenn die »Nadls« (s. später) rein sind. Ich erzählte dem Pandit (der mir diese Geschichte gab und in dem Y oga geschult war, und dessen Bruder ihn praktizierte) den Fall eines meiner europäischen Freunde, der mit den hier beschriebenen Yogaprozessen eine Bekanntschaft zwar nicht gemacht, in übersetzten Sanskritwerken freilich einiges

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über die Kundall gelesen hatte und dessen ungeachtet nur durch meditative Ver­ fahren die Kundall erweckt zu haben glaubte. Rein faktisch wäre es für ihn als Europäer, so schrieb er mir, zwecklos, sich mit Einzelheiten des östlichen Yoga abzugeben. Trotzdem hätte er die »Nerven« Idä und Pingalä (siehe weiter unten) in einem zitternden Fluidum rosigen Lichts, resp. in einem bläulichen oder himmelblauen Lichtschimmer, und das »Zentralfeuer« als weißglühende Lichtgarbe wahrgenommen, die hirnwärts vorgestoßen und zu beiden Seiten des Kopfes wie eine fittichartige Flammengloriole aufgelodert sei. Er hätte beobachtet, wie das Feuer Zentrum für Zentrum mit einer so blitzartigen Geschwindigkeit weiter­ brannte, daß er von der Vision wenig zu sehen bekam ; im Körper der Mitmenschen hätte er außerdem Kräfteströmungen beobachten können. Den Strahlenglanz oder das Fluidum der Idä sah er mondhaft — d. h. in zartestem Himmelblau —, und die Pingalä sah er rot oder, genauer gesagt, in blaßrosiger Opaleszenz. Die Kundalini erschien ihm in der Vision wie ein spiralig gewundenes und intensiv goldweiß-gleißendes Feuer. Denkt man sich Zentren, Sushumnä, Idä und Pingalä durch den Caduceus des Merkur48 bildlich dargestellt, dann wäre der kleine Ball oben an der Stabspitze symbolisch das Sahasrära (die Zirbeldrüse)49, und die Schwingen wären (symbolisch) das zu beiden Seiten des Zentrums durch das Auflodern der Auren sich ausbreitende Feuer. Als er sich eines Nachts durch körperliche Be­ gierden unbehelligt und außergewöhnlich frei fühlte, merkte er, wie die Schlange sich entrollte und nach oben stieß; er fand sich in »eine Feuerlohe« gehüllt und fühlte — berichtsgemäß — »wie sich die Flammen wie Schwingen um meinen K opf herum ausbreiteten; ich vernahm ein musikartiges Geräusch, wie von Cymbeln, während etliche dieser Flammen sich wie Emanationen zu entfalten und wie zusammenschlagende Fittiche über meinem K opf zu treffen schienen. Ich fühlte eine Schaukelbewegung. Ich war richtiggehend erschrocken, weil die W irk­ kraft etwas zu sein schien, das mich verzehren könnte.« Mein Freund schrieb mir, daß er sein Gemüt auf das Erhabenste zu richten in der Erregung vergaß, und so ein »göttliches Abenteuer« verpaßte. Darum betrachte er vielleicht, wie er weiter ausführte, die Erweckung dieser K raft nicht gerade als eine sehr hohe Geisteserfahrung, resp. den von ihm erlebten anderen Bewußtseinszuständen als ebenbürtig. Die persönliche Erfahrung bewies ihm jedenfalls, daß es in den mit okkulter Physiologie sich befassenden indischen Büchern eine wirkliche Wissen­ schaft und eine echte Magie gab. Im Hinblick auf diese Erfahrung wußte der Pandit folgendes anzugeben: Wenn man den Atemstrom angehalten und sein Gemüt nach unten gerichtet hat, verspürt man Hitze. Es ist sogar möglich, die Kundalin! mit dem Geistesauge zu »sehen« und sie, ohne sie wirklich zu wecken und nach oben zu bringen, auf diese Weise zu erfahren, was man übrigens nur durch die beschriebenen Y oga­ methoden zu bewerkstelligen vermag. Die Kundalinl kann man dann im untersten Zentrum (mülädhära) als Licht erkennen. Der Geist (buddhi, das höhere Erkennt­ nisvermögen, s. später) war es nämlich, der ihrer gewahr wurde, doch weil der Experimentierende die Praktik nicht erlernt hatte, geriet er in Verwirrung. Es gibt einen einfachen Test, ob die Shakti tatsächlich erweckt ist oder nicht. Ist sie erweckt, dann fühlt man intensive Hitze an der betreffenden Stelle; und

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wenn sie ein bestimmtes Zentram wieder verläßt, wird der so verlassene Körper­ bezirk kalt und scheinbar leblos wie bei einem Leichnam. Das Vordringen nach oben können also Außenstehende auf seine Richtigkeit hin überprüfen. Wenn Shakti (die Kraft) den oberen Hirnpol (das sahasrära) erreicht hat, ist der ganze übrige Körper erkaltet und leichenhaft geworden; ausgenommen der K opfscheitel, wo man noch etwas Wärme tasten kann, weil hier nämlich die Stelle liegt, an der der statische und der kinetische Bewußtseinsaspekt miteinander verschmelzen. Es ist nicht Sinn und Zweck der vorliegenden Buchausgabe, das Wahre der Grundgedanken resp. das Nützliche der Methoden dieser Yogaform aufzuzeigen — eine Angelegenheit, die zu entscheiden ich jedem selbst überlasse —, sie soll vielmehr als Erstversuch, besonders natürlich den am Okkultismus und Mysti­ zismus Interessierten, eine vollere, genauere und vernünftigere Vorstellung über den Sachverhalt vermitteln. Ein Begreifen der in dem hier übersetzten Traktat verborgenen Dinge ist jeden­ falls erst dann möglich, wenn wir zuvor einige der diesem Werke zugrunde liegenden philosophischen und religiösen Doktrinen kurz zusammenfassen, und wenn der Verfasser beim Lesen ein Wissen um diese Dinge voraussetzen kann. Deshalb werden die folgenden Kapitel dieser Einführung sich vor allen Dingen mit den Begriffen Bewußtsein50 und Unterbewußtsein, mit den Begriffen Geist (mind), Stoff (matter) und Leben (life) näher befassen und ihre Verbindung mit dem verkörperten Geist (spirit), dem Jivätmä, beschreiben. Als nächstes betrach­ ten wir dann den kinetischen Geistaspekt, die Shakti; beschäftigen wir uns mit ihrer schöpferischen Ideenbildung und ihrer Manifestation im entfalteten Makro­ kosmos wie im menschüchen Körper, im Mikrokosmos (kshudra-brahmända), der ja in kleinem Maßstab eine Kopie der größeren W elt darstellt. W ie sagt doch das Vishvasära Tantra: »Was hier ist, ist auch anderswo. Was hier nicht ist, ist nirgends.« (Yad ihästi tat anyatra yannehästi na tat kvachit.) Im Anschluß an eine Betrachtung über das »Wort« und über die sprachlichen Buchstaben schließe ich ab mit der Involutionsmethode, dem Yoga. Diesen wird man erst dann begreifen können, wenn man den Stoff aus den vorhergehenden Kapiteln bewältigt hat. Man muß die Weltevolutionstheorie dargestellt bekommen, und man muß sie verstanden haben, das betrifft auch die praktischen Dinge, mit denen sich dieses Werk befaßt. Denn wenn man sich, wie der Kommentator im 39. Vers meint, mit Yogapraxis beschäftigt, dann gilt die Regel, daß die Dinge sich in das auflösen, woraus sie entstanden sind, und der hier beschriebene Yogaprozeß ist eine solche Auflösung (laya). Diese Rückkehr (in den Ursprung), diesen Einschmelzungs- oder Auflösungsprozeß (nivritti) im Yoga wird man nicht begreifen können, wenn man nicht den ihnen vorangehenden schöpferischen Prozeß (pravritti) verstanden hat. Ähnliche Erwägungen beziehen sich auch auf die hier mitgeteilten anderen Dinge. Deshalb wird eine kurze Analyse der Shäkta-Lehre über die Kraft wertvoll sein.

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Alles, was offenbar ist, ist Kraft (shakti) als Geist, als Leben und als Stoff. Der Kraft ist inbegriffen ein Krafthalter (shaktimän). Es gibt keinen Krafthalter ohne Kraft, es gibt auch keine Kraft ohne Krafthalter. Der Krafthalter ist Shiva. Die Kraft ist Shakti, die Große Weltmutter des Universums. Shiva ohne Shakti, Shakti ohne Shiva gibt es nicht. Sowie die beiden in sich selbst sind, sind sie eines. Sie sind jedes Sein, jeder Geist und jede Wonne. Diese drei Begriffe (satchit-änanda) hat man gewählt, um das letzthin Wirkliche zu bezeichnen, weil Dasein oder >Sein< als ein von den speziellen Seinsformen Abgetrenntes nicht denkbar ist. »Sein« wieder heißt: »bewußt sein«, und vollkommenes bewußtes Innesein ist schließlich >das Ganze Geist< (spirit) im Sinne des reinen Bewußtseins (chit, samvit), aus ihm und durch seine Kraft (shakti) gehen Seele und Stoff hervor. Der Geist53 ist einheitlich. Es gibt keine Grade, keine Unterschiede im Geist. Der im Menschen seiende Geist ist der in allem existierende eine Geist, und als Kultobjekt, als Anbetungsziel, ist er der weltwaltende Höchste Herr (Ishvara), der personale Gott. V on Seele und Stoff aber gibt es viele Abarten, gibt es viele Abstufungen und Qualitäten. Ätmä, Geist, als solcher ist das Ganze (pürna), ungeteilt (akhanda). Seele und Stoff sind Teile von diesem Ganzen. Sie sind das Nichtganze (apürna), sie sind der

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Teil (khanda). Geist ist unbegrenzt (aparichchhinna) und formlos (aröpa). Seele und Stoff dagegen sind begrenzt (parichchhinna) und geformt (rüpa). Ätmä ist unwandelbar und ruhend, ist inaktiv. Seine Kraft (shakti) ist tätig, sie wechselt und wandelt sich im Seelen- und Stoffsystem. Reines Bewußtsein ist »Chit« oder »Samvit«. Stoff als solcher, Materie als solche, ist unbewußt. Und nach dem Vedanta gilt sogar die Seele als unbewußt. Denn alles was nicht zum bewußten Ich zählt, ist unbewußtes Objekt. Das will nicht heißen, daß es in sich selbst unbewußt ist. Im Gegenteil: alles ist wesenhaft Bewußtheit, es ist nur deshalb unbewußt, weil es ein Objekt für das bewußte Selbst ist. Die Seele begrenzt nämlich das Bewußtsein, damit der Mensch begrenzte Erfahrung zu sammeln vermag. Eine Seele ohne bewußten Hintergrund existiert nicht, auch wenn das höchste erhabenste Bewußtsein unbeseelt ist (amanab). W o es keine Seele gibt (amanab), dort herrscht Unbegrenztheit. Das in dem einem Aspekt unwandelbar verharrende Bewußtsein alteriert in seinem anderen Aspekt als eine in Seele und Körper sich offenbarende Wirkkraft. Der Mensch ist also reine Bewußtheit (chit), die von ihrem Kraftprodukt — Seele und Stoff — getragen wird. In der Theologie ist dieses reine Bewußtsein Shiva und seine Kraft (shakti), die, sofern sie als formloses Selbst existiert, mit ihm verschmolzen ist; sie reprä­ sentiert die große DevI, die Mutter des Universums, und als die im menschlichen Körper wesende Lebenskraft hat sie ihren Wohnsitz im untersten Zentrum am Grunde der Wirbelsäule, während er, Shiva, in das höchste Hirnzentrum, in das Großhirn (sahasrära padma) gedacht wird. Der vollendete Y oga ist die im sädhaka-Körper vollzogene Ineinssetzung von Ihr und Ihm. Der vollendete Yoga ist Laya, die Einfaltung, die Zerlösung, er ist die Umkehrung der Srishti, die Umkehrung des Geistesinvolution in Seele und Stoff. Einige verehren nun vorwiegend die männliche, die rechte Seite der gemeinsam verschmolzenen männlich-weiblichen Figur (ardhanärlshvara). Andere wieder, die Shäktas, verehren mehr die linke Seite und nennen sie »Mutter«, denn sie ist die Große Mutter (magna mater), die Mahädevi, die das ihrem Mutterleib (yoni) entstammende Universum austrägt, gebiert und ernährt. Das ist so, weil sie — durch die aus den vorangegangenen Lebensläufen aufgehäuften Zielstrebig­ keiten (samskära) der W elt je nach Maß von Freud oder Leid das Vorhandensein erdenkend (srishtikalpanä)51 — den aktiven Bewußtseinsaspekt55 verkörpert. Sie als Mutter verehren, versteht sich von selbst. Denn das Mantra, in das alle Menschen als erstes eingeweiht werden, ist das W ort »Ma« (Mutter). Es ist ihr erstes und im allgemeinen auch ihr letztes Wort. Der Vater ist bloß eine Hilfe für die Mutter (sahakäri-mät’-a)56. Auch die ganze Fülle der fünf Elemente ent­ quillt dem aktiven Bewußtsein, stammt aus dqr Shakti und ist ihre Manifestation (pürna-vikäsha). Darum verehren die Menschen die W eltm utter57, denn niemand ist so zärtlich58 wie sie; darum begrüßen sie ihre gnädig lächelnde Schönheit als rosige Tripurasundari, die Quelle des Universums, begrüßen sie ihre Ehrfurcht einflößende Erhabenheit als »Käli«, die es wieder in sich zurückschlingt. Wir beschäftigen uns hier mit einem Yoga, der die Ineinssetzung der Mutter-VaterAspekte vergegenwärtigt und sich in einer Bewußtseinsschicht abspielt, die man als das Absolute bezeichnet.

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Im Veda heißt es: »Das alles (d. i. die vielfältige W elt) ist (der eine) Brahman« (sarvam khalvidam brahma)59. W ie das Vielgestaltige der Eine sein kann60, wird von den verschiedenen Schulen unterschiedlich vertreten. Die hier wiedergegebene Auslegung stammt aus den Shäkta Tantras oder Ägamas. Als erstes: Was ist das eine Wirkliche, das in so mannigfacher Form als Viel­ gestaltiges auftritt? Was ist die innere Natur Brahmans, wenn es als solches existiert (svarüpa) ? Die Antwort darauf lautet: Sat-Chit-Änanda, das heißt: seiend-geistig-selig. Bewußtsein, Empfinden als solches (chit, samvit) ist identisch mit Geist als solchem. Auch wenn die beiden Begriffe in der alltäglichen Erfahrung wesentlich miteinander verknüpft sind, weichen sie trotzdem voneinander ab oder erwecken den Anschein, voneinander verschieden zu sein. Auf Grund seiner Konstitution glaubt der Mensch hartnäckig an eine von ihm unabhängige objektive Existenz jenseits seiner Person. Und eine solche Objektivität herrscht solange, wie sein Bewußtsein, das ein verkörperter Geist (jivätmä) ist, von der Mäyä verschleiert oder eingeengt wird61. Auf der letzten Erfahrungsbasis aber, wie sie als Höchster Geist (paramätmä) erlebt wird, ist diese Abweichung verschwunden, denn hier herrschen, in homogener Substanz verschmolzen, der Erfahrende, die Erfahrung und das Erfahrene. Wenn wir dagegen vom Chit im Sinne des Empfindungsbewußt­ seins sprechen, müssen wir uns daran erinnern, daß das von uns Erkannte und Beobachtete als solches nur eine begrenzte und sich abwandelnde Chit-Manifestation verkörpert, also als der Hintergrund aller Erfahrung aufzufassen ist. Dieses »Seiend-Geistige« ist absolute Seligkeit (änanda), und man definiert es als das »Ruhen im Selbst« (svarüpa-vishränti). Seligkeit, Wonne ist es deshalb, weil es als grenzenloses Alles (pürna), nach nichts verlangend, in sich verharren kann. Dieses wonnevolle geistige Gewahrsein ist die nicht weiter verwandelbare Natur des einzig Wirklichen schlechthin, ist Svarüpa, die ureigene Erscheinungsweise des einzig Wirklichen; es ist sowohl das Ganze als Nicht-weiter-verwandelbarWirkliches wie der Teil als Verwandelbar-Wirkliches. Svarüpa ist der innere Wesenskern eines Dinges, so wie es als solches existiert, zum Unterschiede von dem, was es zu sein scheint. Höchstes Bewußtsein ist höchste Shiva-Shakti (parashiva-parashakti), es wandelt sich niemals, sondern bleibt den von seinem schöpferischen Shiva-Shakti-Aspekt bedingten ganzen Wechsel hindurch ewig dasselbe. Alles In-die-Erscheinung-treten ist zweifellos an Unbewußtheit gebunden. Die Seele ist offenbar kein reines, sondern ein begrenztes Bewußtsein. Das B e­ grenzende als solches muß entweder selbst so etwas wie ein Unbewußtes sein oder muß, wenn ein Bewußtes, den Anschein der Unbewußtheit62 erwecken können. In der Phänomenalwelt gibt es weder etwas absolut Bewußtes noch etwas absolut Unbewußtes. Bewußtheit und'Unbewußtheit sind untereinander stets vermischt. Einige Dinge scheinen jedenfalls mehr bewußt, andere Dinge scheinen mehr imbewußt zu sein. Das ist auf die Tatsache zurückzuführen, daß sich das Chit, das in allem, was immer es sei, stets vorhanden ist, als solches verschiedenartig und verschiedengradig offenbart. Der Grad dieser Manifestation bestimmt sich aus der Naturanlage und aus dem Entwicklungszustand von Seele und Leib, in die es (chit) eingeschlossen ist. Der Geist bleibt stets derselbe; Seele und Leib

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wechseln. Das Sich-offenbaren-Können des Bewußtseins ist je nach dem Auf­ stiegsgrad vom Mineralischen bis zum Menschen mehr oder weniger stark begrenzt. In der Mineralwelt offenbart sich das Chit als niedrigste, schwächste und auf äußere Reize reflektorisch antwortende Empfindungsform, offenbart sich das Chit als das physische Bewußtsein, das man im Abendlande als Spurengedächtnis bezeichnet. Das Empfindungsvermögen der Pflanzen ist schon besser entwickelt, auch wenn es, wie Chakrapäni im Bhänumat! meint, noch ein schlummerndes Bewußtsein ist. N och deutlicher zeigt es sich dann in denjenigen Mikroorganismen, die als Verbindungsglieder zwischen Pflanzen- und Tierwelt ein psychisches Leben eigener Art führen. In der Tierwelt wird das Bewußtsein dann zentralisierter und zusammengefaßter, und seine mächtigste Entfaltung erreicht es schließlich beim Menschen, der alle psychischen Funktionen w ie: Erkennungsvermögen, Perzeption, Fühlen und W ollen besitzt. Hinter allen diesen speziellen Empfindungsformen, hinter diesen wechselnden Bewußtseinsformen steht das formlose, wandellose eine Chit, wie es als solches (svarüpa) — d. h. als ein von seinen besonderen Mani­ festationsformen abgezweigtes Chit — existiert. Da das Chit alle diese Lehensstufen hindurch immer dasselbe bleibt, ist es als solches nicht wirklich entwickelt. Die scheinbare Entwicklung ist der Tatsache zu verdanken, daß es — bedingt durch Seele und Stoff — das eine Mal mehr, das andere Mal weniger stark verschleiert oder eingeengt wird. Diese Verschleierung oder Verhüllung wird hervorgerufen durch die Bewußtseinskraft (shakti), die welterschaffende Kraft. W odurch eigentlich wird mir das Bewußtsein verhüllt, wird es eingeengt, und wodurch wird mir Welterfahrung zuteil ? Die Antwort darauf lautet: durch die Kraft, durch die Shakti als Mäyä. Die Mäyä Shakti ist die Kraft, die das Ganze (pürna) in das Nicht-Ganze (apürna), das Unbegrenzte in das Begrenzte, das Formlose in das Formenhafte usw. schein­ bar umwandelt. Sie ist also eine Kraft, die zurechtstutzt, die verschleiert und die verneint. W as verneint? Das vollkommene Bewußtsein verneint. Ist nun Shakti als solche dasselbe wie Shiva, wie Chit, oder ist sie von Ihm verschieden ? Sie muß dasselbe sein, sonst könnte ja nicht alles der eine Brahman sein. Wenn sie aber dasselbe ist, dann muß sie auch Chit, Bewußtsein, sein. Darum gilt sie als »Sachchidänandamayi«63 und »ChidrüpinT«64. Und doch gibt es, wenigstens im Sichtbarwerden, einigen Unterschied. Das W ort »Shakti«, das von der Wortwurzel »Shak« = Kraft haben, fähig sein, ab­ stammt, bezeichnet »Kraft«. Da sie eins ist mit Shiva als dem Krafthalter (shaktimän), ist sie in dieser Energieform die Kraft Shivas, ist sie Bewußtseinskraft. Shiva als Kraftbesitzer (shaktimän) unterscheidet sich nicht von der Kraft als solcher. Die Bewußtseinskraft ist Bewußtsein in seinem aktiven Aspekt. Solange also Shiva wie Shakti Bewußtsein darstellen, gilt ersterer als der wandellose statische Aspekt des Bewußtseins, Shakti gilt als der emsige kinetische Aspekt desselben Bewußtseins. Die spezielle Kraft nun, die die dualistische W elt ins Dasein ruft, ist die Mäyä Shakti, sie zeigt sich als verhüllende (ävarana) Shakti wie als projizierende (vikshepa) Shakti. Das Bewußtsein verhüllt sich vor sich selbst und projiziert aus dem Arsenal seiner vorgängigen Erfahrungen (samskära) den Begriff, die Idee einer W elt, in der es leidet und genießt. Und so ist das

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Universum das schöpferische Gedankenbild (srishtikalpanä, wie man es nennt) des höchsten Weltendenkers (Ishvara). Mäyä ist diejenige Kraft, die die Dinge »abmißt«, d. h. formt und bezeichnet (miyate anayä iti mäyä). Sie ist das Unter­ scheidungsvermögen (bhedabuddhi), sie ist dasjenige Prinzip, das den Menschen die W elt mit all den darin enthaltenen Dingen und Individuen als ein von sich Unterschiedliches erkennen läßt, während doch im innersten Wesen er und sie das eine Selbst sind. Sie ist das Prinzip, das eine Zweiteilung, das eine Auf­ gabelung (Dichotomie) in dem verursacht, das sonst eine Einheitserfahrung wäre; ja sie ist überhaupt die Ursache für den aller phänomenalen Erfahrung inne­ wohnenden Dualismus. Als Wirkkraft verschleiert die Shakti das Bewußtsein, indem sie als bewußtes Sein sich selbst in verschiedenem Grade verneint. Vor der Manifestation des Universums herrschte nur unbegrenzte Sein-GeistWonne, d. h. Shiva-Shakti als Chit bzw. als Chidrüpini65. Das ist die Ganzheitserfahrung (pürna), in der, wie das Upanishad sagt, »das Selbst sich als Selbst erkennt und liebt«. Diese Liebe ist Wonne, sie ist das »Ruhen im Selbst«; denn — wie heißt es doch anderswo — »Die höchste Liebe ist W onne« (niratishayapremäspadatvam änandatvam). Sie verkörpert den Parashiva, den man nach dem Schema der sechsunddreißig Tattvas66 als Parasamvit bezeichnet. Dieser Monismus nimmt einen Doppelaspekt für das Einzelbewußtsein an: der eine ist der transzendente wechsellose Aspekt (parasamvit), der andere ist der schöpferische, der sich wandelnde Aspekt, den man auch das Shiva-ShaktiTattva nennt. Im Parasamvit sind »Ich« (aham) und »Dies« (idam), sind die Dinge insgesamt ununterscheidbar in die höchste Einheitserfahrung67 verschmolzen. Im Shiva-Shakti Tattva verneint die Shakti sich selbst als Erfahrungsobjekt, weil sie den negativen Aspekt des ersteren verkörpert und die Verneinung zur Funktion hat (nishedha-vyapära-rüpä-shakti), wobei sie, »den Blick vom andern abwendend« (ananyonmukhah ahampratyayalj), das Shiva-Bewußtsein als ein reines »Ich« zurückläßt. Das ist ein Zustand rein subjektiver Erleuchtung (prakäshamätra)68, der sich die Shakti — nun Vimarsha genannt69 — von neuem darbietet, jetzt aber mit einem Unterschied von »Ich« und »Dies«, einem »Dies«, das bislang in dem einen Selbst als Teil enthalten war. Bei diesem Zeitpunkt, dem eben beginnenden Einleitungsstadium des Dualismus, findet die erste Bewußt­ seinsumwandlung statt; .[¡an nennt das das Sadäshiva- oder Sadäkhyatattva; ihm folgt das zweite, das Ishvara Tattva, und diesem folgt das dritte, das Shuddhavidyä Tattva. Im ersten Falle liegt die Betonung auf dem »Dies«, im zweiten liegt sie auf dem »Ich« und im dritten gleichmäßig auf beides verteilt. Dann trennt die Mäyä das einheitliche Bewußtsein, so daß man das Objekt für etwas Anderes hält als das Selbst, und es schließlich in die Vielfalt der W eltobjekte aufgespalten findet. Auf dem Mantra-Gebiete des mit dem Mantra und seinem Ursprung sich befassenden Tantra Shästra kennt man diese aus der Shakti emanierenden beiden Tattvas vom Klanggebiete her als »Näda« und »Bindu«. Parashiva und Paräshakti sind regungslos (nihspanda) und klanglos (nihshabda). Näda ist der im Ideen denkenden kosmischen Bewußtsein zuerst aufkommende zarte singende Laut, er leitet über zum Klang-Brahman (shabdabrahman); und

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von diesem Klangbrahman stammen alle Ideen, stammt auch die diese Dinge bezeichnende Sprache (shabda), und kommen die durch sie bezeichneten Objekte (artha). Bindu heißt wörtlich »Punkt« und bezeichnet beim Buchstaben die Stelle (anusvära), wo im Sanskrit der Nasalhauch (o) liegt70. E r lokalisiert sich im chandrabindu Nasalhauch über Näda (o). Hinsichtlich der Mantra-Technik be­ zeichnet er dasjenige aktive Bewußtseinsstadium (das Shakti-Stadium), wo das »Ich«, der aufklärende erleuchtende Bewußtseinsaspekt sich mit dem gesamten »Dies«71 identifiziert. E r subjektiviert das »Dies« und verschmilzt dabei im Bewußtsein mit ihm zu einem »Punkt« (bindu). Wenn das Bewußtsein ein Objekt als von sich verschieden erkennt, erfährt es dieses Objekt in räumlicher Aus­ dehnung. W enn es aber das nämliche Objekt vollständig subjektiviert, erlebt es dieses als unausgedehnten Punkt. Das ist die Ganzheitserfahrung des GottErlebenden im Sinne des B indu72. Was geschieht mit dem Universum bei der Auflösung ? Die Shakti, die es pro­ jizierte, nimmt es wieder in sieh zurück. Es fällt in sich zusammen, es wird sozusagen zu einem mathematischen Punkt ohne Ausdehnung73. Dieser Punkt ist der Shivabindu, er zieht sich in das Shiva-Shaktitattva, seinen Ursprung, wieder zurück. Man denkt sich das etwa so, daß die Shakti rund um den Shiva­ bindu gewickelt ist, genau wie im menschlichen Körper, im Erdzentrum, im sogenannten Mülädhära-Chakra, eine Schlange sich rund um den selbsterzeugten Phallus (svayambhulinga) heftet. Diese eingerollte Shakti könnte man sich als eine mathematische Linie vorstellen, die, gleichfalls ohne jede Größenordnung, sich mit dem Punkt, um den sie gewickelt ist, allenthalben berührend, zusammen verdichtet hätte und darum auch ein und denselben Punkt darstellte. Der Doppel­ aspekt besitzt hier eine unteilbare Einheitlichkeit, die auch in den Tantras74 als Grammkörnchen (chanaka) symbolisch dargestellt wird, wo also zwei Keim e so dicht aneinanderliegen, daß sie wie ein von einer Außenhülle75 umgebener Einzel­ keim imponieren. Um auf den vorhin erwähnten Vergleich zurückzukommen: die rund um den Shiva gewickelte und mit ihm einen Punkt (bindu) bildende, zusammengerollte Shakti ist die sogenannte Kundalini Shakti. Diese Bezeichnung kommt von der Wortwurzel »kundala« = »Spirale« oder »Armspange«. Man nennt sie eine Zu­ sammengeringelte, weil man sie mit einer Schlange (bhujangl) vergleicht, die sich beim Ruhen und Schlummern bekanntlich zusammengerollt hat; weil das Wesen ihrer Kraft spiralig gewunden ist und sich als solches in den W elten auf folgende Weise offenbart: als Rotationsellipsoide oder »Eier Brahmas« (brahmända), als kreisförmige oder in Zyklen verlaufende Planetenbahnen und anderswie. So sprechen die Tantras von der aus dem Punkt heraus gleichmäßig sich entfaltenden Linie (rijurekhä), die, wenn sie die punktförmige Größenordnung verlassen hat, durch die Wirkkraft der spiraligen Mäyähülle — in der sie eine zweidimensionale Figur zu bilden versucht — umgebogen wird (vakrarekhä amkushäkärä) und, wieder auf sich zurückkommend, anschließend als eine geordnete Linie in die dreidimensionale Ebene aufsteigt, wobei sie, sich weiterentfaltend, die dreiseitige Figur, den Pyramidenkörper oder das sogenannte »Shringätaka«76 auf baut. Diese

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Kundalí Shakti ist, wenn sie als solche sich zu offenbaren anschickt, dasjenige, das als Universum ins Dasein tritt. Wenn man sagt, sie ist »zusammengerollt«, meint man, daß sie sich »in Ruhe« — d. h. in statisch-potentieller Energieform befindet. Die rund um den höchsten Shiva gewickelte Shakti heißt Mahäkundali (»die große aufgewickelte Kraft«), zum Unterschied von der im Einzelkörper befindlichen gleichen Kraft, der sogenannten Kundalin!77. Mit Hilfe dieser Kraft und durch diese Kraft wird nämlich dieser Y oga vollzogen. Wenn man ihn ver­ wirklicht, verschmilzt die individuelle Shakti (kundall) mit der großen kosmischen Shakti (mahä-kundall), und diese verschmilzt wieder mit Shiva, mit dem sie ja dem Wesen nach eine Einheitlichkeit bildet. Die Kundalin! gilt als ein Aspekt des ewigen Brahman (brahmarüpä sanätani) und ist attributlos wie attributhaft tnirgunä wie sagunä). In ihrem Nirgunä-Aspekt ist sie reine Geistigkeit als solche (ehaitanyarüpini) und Wonne als solche (änandarüpin!); und im Schöpfungs­ vorgang wird sie zur Brahmänandaprakäshini. Als Sagunä entfaltet sie vermöge ihrer Wirkkraft alle Kreatur (sarvabhütaprakäshini)78. Im Einzelkörper ist Kundalí Shakti die im Ruhezustand befindliche Kraft, ist sie der statische Pol, um den herum eine jede Seinsform als bewegliche Energieform kreist. Im Universum findet sich in und hinter jeder Tätigkeitsform stets ein statischer Hintergrund. Das einheitliche Bewußtsein hat sich aus Gründen der »Schöpfung« in einen statischen (shiva-) und einen kinetischen (shakti-) Aspekt polarisiert. Dieser Y oga nun ist die Aufhebung dieser Dualität, ist ihre Zurückführung in die Einheitlichkeit. Nach den W orten Herbert Spencers (s. seine »First Principles«) heißt es in den Heiligen Schriften Indiens, das Universum ist eine Entfaltung (srishti) des Gleichartigen (der mülaprakriti, dem »Urstoff der Weltentfaltung«) in das Ver­ schiedenartige (vikriti) und eine Zurücknahme des Verschiedenartigen in das Gleichartige (= p r a la y a , die Weltauflösung). So lösen sich Weltentfaltungs­ perioden und Weltauflösungsperioden wechselseitig ab, und nach einer Ruhepause beginnt wieder eine Manifestationsfolge. In diesem Sinne äußert sich auch Pro­ fessor H uxley in »Evolution and Ethics« (Entwicklung und Ethik) über die Manifestation kosmischer Energie (mäyä shakti), die alternierend, mal als Mög­ lichkeitsphase (pralaya), mal als Entwicklungsphase (srishti) auftreten soll. »Es kann so sein, wie Kant es vorschlägt«, schreibt er, »daß jede, in eine neue W elt sieh zu entfalten vorherbestimmte kosmische Magma ebensogut auch das vorher­ bestimmte Ende einer verschwundenen Vorgängerin sein kann.« Das bekräftigt auch das indische Shästra durch seine Lehrmeinung, daß es eine sogenannte erste Schöpfung an und für sich nicht gegeben hätte, und daß das gegenwärtig existie­ rende Universum nur ein Beispiel aus einer zwar schon verflossenen, aber noch im Gange befindlichen Weltserie darstelle. Während der Weltauflösung (pralaya) verankert sich das Potential, der Keim, für die Existenz des Universums als Mahäkundali in das geistige Sein, in das Bewußtsein, ist aber vom allgemeinen Bewußtseinsvolumen nicht zu unterscheiden. Die Mäyä — als die W elt — existiert potentiell als Mahäkundali, und diese Mahä­ kundali als solche ist wieder eines mit dem Bewußtsein, d. h. mit Shiva. Diese Mäyä enthält die kollektiven Samskära, die Väsanä — d. h. die in früher durch­

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lebten Lebensläufen aufgehäuften Mentaleindrücke und karmisch bedingten trieb­ mäßigen Zielstrebigkeiten; aus diesen Komponenten setzt die Mäyä sich faktisch zusammen. Sie bestimmen das Volumen der potentiellen Unwissenheit (avidyä), kraft der das Bewußtsein sich verschleiert. Sie entstanden aus der Gier nach welt­ lichem Genuß und bewirken ihrerseits wieder ein ebensolches Verlangen. Die W elten bestehen, weil sie alle insgesamt vorhanden sein wollen. Ein jedes Einzel­ wesen lebt, weil es sein Wille ist, weltliches Leben zu besitzen. Dieser Keim ist darum der kollektive Wille, ist der kosmische Wille zum manifestierten Leben, d. h. zum Leben in der Form und zum Leben in der Lust. Am Ende der Ruhe­ periode, nach der Auflösung also, reift dieser Keim im Bewußtsein heran. Das Bewußtsein hat demnach einen zweifachen Aspekt: seine Freiform (mukti), seinen formlos-unentfalteten Aspekt, in welchem es rein und unvermischt »geistig-selig« ist; und seinen Weltaspekt, seinen in die Formen entfalteten Aspekt, in welchem es in die W elt des Genusses (bhukti) auseinandertritt. Einer der Kardinalgrund­ sätze des Shäkta Tantra ist nun der, sich durch seine Sädhanä ( = Praxis) Be­ freiung (mukti) wie auch Genuß (bhukti)79 zu verschaffen. Letzteren erreicht man dadurch, daß man sich mit dem im Genüsse mit der Weltseele befindlichen Selbst identifiziert. Wenn dieser Same heranreift, soll Shiva seine Shakti auf­ bieten. Da er selber diese Shakti ist, kommt er als solcher in seinem ShivaShakti-Aspekt zum Vorschein (prasarati) und schmückt sich mit allen Formen des weltlichen Lebens. In dem vollkommenen, reinen formlosen geistigen Sein (Consciousness) keimt der Wunsch, sich in die Formenwelt zu ergießen, keimt der Wunsch nach Genuß des Erdachten und Gewordenen, keimt der Wunsch, das Geformte zu genießen. Der unermeßlichen bewegungslosen Oberfläche des reinen Bewußtseinsozeans (dem nishkala shiva) enttaucht eine räumlich ab­ gegrenzte Kräfteballung (stress), ohne dabei das reine geistige Sein irgendwie zu beeindrucken. Und so spielt sich eine Veränderung im Unveränderlichen und eine Beständigkeit im Veränderlichen ab. Shiva in seinem transzendenten Aspekt ändert sich nicht, Shiva (sakala) in seinem immanenten Aspekt als Shakti tut es aber. Sobald nun das Schöpfungsverlangen aufkommt, pulsiert »Näda«80, ein Wonneschauer durch die Shakti; sie nimmt Bindu-Form an, d. h. wird zum Ishvara Tattva, von dem sich alle W elten herleiten. Um diese W elten zu erschaffen, rollt die Kundall sich ab. Wenn nun das Karma heranreift, »verlangt« — nach den W orten des Nigama81 — »die Devi nach Schöpfung und hüllt sich in ihre eigene Mäyä«. Und wieder »wird die Devi, sich am Wonnerausch ihrer Vermählung mit dem Höchsten A kula82 ergötzend, zur Vikärinl«83 —, d. h. die Vikäras, die Tattvas für Seele und Stoff, die das Universum aufbauenden Tattvas, treten ins Dasein. Die Shästras haben sich mit den Schöpfungsstadien, d. h. mit den im begrenzten Bewußtsein als Bewegung (spanda), als Form oder als »Klang« (shabda) sich abspielenden Stufenübergängen, nicht nur vom subjektiven, sondern auch vom objektiven Standpunkt aus, eingehend befaßt. Die Shaivas wie die Shäktas akzeptieren übereinstimmend die sechsunddreißig Kategorien oder Tattvas, die Kaläs, die unmani Shaktis und die übrigen Shaktis in den Tattvas, das Shadadhvä, die Mantra-Begriffe »Näda«, »Bindu«, »Kämakalä« usw.84 Die Autoren der nörd-

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liehen Shaiva-Schule — einer Schule, zu der man ein bedeutendes Shästra, das Mälinlvijaya Tantra, rechnet — haben diese Tattvas mit außerordentlicher Tief­ gründigkeit beschrieben. Ich fasse hier aber nur die allgemeinen Schlußfolgerungen daraus kurz zusammen. In den Tantras teilen sich die sechsunddreißig Tattvas in drei Untergruppen a u f: in die sogenannten Ätmatattvas, in die Vidyätattvas und in die Shivatattvas. Die erste Gruppe erfaßt alle Tattvas zwischen dem niedersten PrithivI (dem »Erdigen«) und der Prakriti (Urmaterie), man bezeichnet sie als die unreinen Klassen (ashuddha ta ttva); die zweite Gruppe enthält die Mäyä, die Kanchukas (Panzer, Zwangsjacken)85 und den Purusha, man nennt sie die reinen-unreinen Klassen (shuddha-ashuddha tattva); die dritte Gruppe schließlich umfaßt die fünf höchsten Tattvas: die reinen Tattvas (shuddha tattva) vom Shiva Tattva (dem »reinen Bewußtseinslicht«) bis zur Shuddha-vidyä (der »reinen Bewußtheit«). W ie bereits erwähnt, ist der höchste wandellose Zustand (paräsamvit)86 ein Einheitserlebnis, in welchem »Ich« und »Dies« zu einer Einheit verschmolzen sind. Im kinetischen Aspekt, das heißt im Shakti-Aspekt, so wie er sich in den reinen Klassen darbietet, kennt die Erfahrung ein »Ich« und ein »Dies«, doch das letztere hält sie nicht für etwas »Ich«-Gegenübergestelltes, nicht für etwas außerhalb des »Ich« Seiendes, sondern betrachtet es als Teil eines Selbst, eines Selbst, das zwei Seiten hat: eine »Ich«-(aham-)Seite und eine »Dies«-(idam-)Seite. Die Betonung wechselt vom Beharren auf dem »Ich« zum Beharren auf dem »Dies« und geht dann als Vorbereitung auf die nun eintretende Zweiteilung (Dichotomie) im Bewußtsein über in die Kongruenz des Beharrens auf »Ich« und »Dies«. Die reinen-unreinen Klassen liegen zwischen den reinen und unreinen Klassen. Das charakteristisch Wesentliche für die durch die unreinen Klassen zustande gekommene Erfahrung ist der durch die Mäyä — und ihre Begrenzungen — ver­ ursachte Dualismus, er ist die Folge der Kanchukas-Wirkung. Hier erfährt man das »Dies« nun nicht mehr als Teil des Selbst, sondern erkennt es als etwas diesem Gegenüberstehendes, als etwas Außenbefindliches, erkennt es als außerhalb wahr­ genommenes Objekt. Jede einzelne Bewußtseinsform wurde so zu einer die andere Kategorie ausschließenden Phase. Die drei verschiedenen Zuständlichkeiten be­ schreibt man s o : ein in höchstem Maße verschmolzenes »Ich« und »Dies« — ein Zustand, wo diese beiden Erfahrungselemente als solche nicht entfaltet sind; eine zwischen der ersten und letzten Kategorie liegende, reine Erfahrungsform, in der sowohl »Ich« wie »Dies« als Teile eines Selbst erlebt werden; drittens eine Manifestationsstufe eigener Art, wo die vollständige Trennung von »Ich« und »Dies« eingetreten ist, wo dem Bewußtsein eines Erfahrenden ein anders als das Ich gestaltetes Außenobjekt gegenübertritt. Diese letzte Zuständlichkeit als solche ist wieder zweifach. Im ersten Falle erfährt der Purusha ein homogenes gleich­ artiges Universum, wenn es als Prakriti auch von ihm verschieden ist; im zweiten Falle hat sich die Prakriti in Krafteffekte (vikiiti) aufgespalten, aus denen sich die Seele, der Stoff und die die Weltgesamtheit bildenden zahlreichen Geschöpfe zusammensetzen. Als Prakriti entfaltet die Shakti zuerst Seele (buddhi, ahamkära und manas) und Sinnesorgane (indriya), dann entwickelt sie den in fünffältiger Form (»Äther«, »Luft«, »Feuer«, »Wasser«, »Erde«)87 auftretenden, sinnlich

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wahrnehmbaren Stoff (bhüta), der sich aus den übersinnlichen Kategorien der Sinnes-Elementarstoffe, aus den sogenannten Tanmatras, ableitet. W enn die Shakti in das letzte und gröbste Tattva (in das »Erdige«) — d. h. in den festen Stoff — übergegangen ist, bleibt für sie zu schaffen nichts mehr übrig. Dann hört ihr schöpferisches Wirken auf, d. h. sie ruht. Sie schlummert in ihrer letzten Emanation, im »Erd«-Prinzip. Sie hat sich wieder zusammen­ gerollt und schläft. Sie verkörpert dann die Kundal! Shakti und hat im mensch­ lichen Körper das Erdzentrum, das Mülädhära Chakra, als Wohnstatt. W ie sie auf der höchsten Stufe um den erhabensten Shiva gewunden, als Mahäkundali, verharrte, so windet sie sich hier im Mülädhära rund um den Svayambhu Linga. Dieses letzte Zentrum, dieses niedrigste Chakra und die vier Chakras darüber gelten als die Zentren für die fünf Aggregatformen des Stoffes. Das sechste Zentrum ist das Geisteszentrum. Schon vor dem Auftreten der Mäyä verwirklicht die Shakti das Bewußtsein und die Bewußtseinsvorgänge im siebenten Lotos (sahasrära padma) und in den zwischen diesem und dem sechsten Lotos (dem äjfiä-Geisteszentrum) befindlichen Zentren. Die Mantra-Entfaltung, die man kennen muß, wenn man den Text verstehen will, wird mit großer Klarheit im Shäradä Tilaka abgehandelt; es heißt dort, aus dem Sat-Chit-Ananda (dem »seiend-geistig-Seligen«) Sakala Shiva (dem shivatattva) entspringe die Shakti (das shakti-tattva); aus dieser gehe Näda (das sadäkhya tattva) hervor, und aus Näda entfalte sich Bindu (das Ishvara tattva)88, den man, um ihn vom nachfolgenden Bindu zu unterscheiden, den höchsten Bindu (para-bindu) nennt. Näda und Bindu sind, wie alles andere, Erscheinungsformen der Kraft, sind Shakti-Aspekte, ja sie sind sogar die von ihr auftretenden Zuständlichkeiten besonderer Art, die die angemessenen Voraussetzungen (upayogävasthä) für die »Schöpfung« liefern, sind die Bedingungen, die sie für die Schöpfung besonders geneigt machen (uchchhünävasthä). In diesenTattvas entfaltet sich der Keim der Entwicklungsfunktion (kriyä shakti) zu seiner vollständigen Manifesta­ tion. Die Tantras befassen sich, soweit sie Mantra Shästras sind, mit Shabda, dem »Klang«, einem später näher definierten Fachausdruck. Mantra ist offenbarte Shabda (Mitteilung). Näda, wörtlich ebenfalls »Klang«, gilt als der zuerst auf­ tretende Zwischen-Ursachenkörper des manifestierten Shabda. Der bereits be­ schriebene Bindu wird als Zustand des Buchstaben Ma vor der Manifestation definiert und besteht aus dem von der Mäyä — der Sarama Kundalinl — ver­ hüllten Shiva-Shakti-Tattva. E r umfaßt nicht nur die Leere (shünya) — d. h. denBrahman-Zustand (brahmapada) — im Hohlraum innerhalb des Bindukreises; er umfaßt auch die in ihm implizite vorhandenen Günas, da er sich ja mit der Shakti in unauflöslicher Union befindet — und die Shakti sich aus den Günas, den »Weltstoff«-Konstituenten, d. h. aus dem Quellmaterial aller Dinge, zu­ sammensetzt 89. Der Parabindu heißt auch Ghanävasthä, der dichte Zustand der Shakti. Er repräsentiert Chidghana, das verdichtete Bewußtsein, d. h. gilt als das mit der undifferenzierten Shakti (mit der chidrüpini) verbundene Chit, einem Chit, in welchem alle zu erschaffenden W elten und Lebewesen — voneinander freilich nicht zu unterscheiden — in einem Volumen (ghana) potentiell verharren. Und

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das ist der Parama Shiva, in ihm finden sich auch alle Devatäs. Dieser Bindu ist nämlich der weltwaltende Höchste Herr (Ishvara), der von einigen Pauränikas Mahävishnu, von anderen Brahmapurusha (das »unstofflich lebendige SeiendGöttliche«)90 genannt wird. Der Kommentator meint, es komme nicht darauf an, wie man ihn bezeichnet. E r ist der Höchste Herr (Ishvara), der insgeheim von allen Devas91 verehrt wird, und auf ihn richte man seine Aufmerksamkeit in den verschiedenen Chandrabindu-, Näda-, Bindu-, Shakti- und Shänta-Phasen des »Om«-Mantra und der anderen Bija-Mantras. Sein Aufenthaltsbereich liegt in der Satyaloka, eine im menschlichen Körper in der Fruchthülle des Tausendblättrigen Lotos (sahasrära), d. h. im höchsten Zerebralzentrum vorhandene Ebene. Das Shäradä92 berichtet dann, daß dieser Parabindu, dessen innerster Kern die höchste Shakti verkörpere, in drei Teile sich aufspalte, d. h. er erscheine unter einem dreifachen Aspekt. So ergeben sich drei Bindu, von denen man den ersten »Bindu«93 und die anderen »Näda« und »Bija« nennt. Bindu ist dem Wesen nach Shiva, Bija ist shaktihaft94. Näda ist Shiva-Shakti, d. h. charakterisiert deren gegenseitiges Verhältnis, derenWechselwirkung(mithahsamaväyah)95, Näda ist Y oga (dieUnion), wie es im Prayogasära heißt96. Der dreifältige Bindu (tribindu) ist erhaben (para), subtil (sükshma) und grob (sthüla)97. Näda bezeichnet die in der Schöpfung auf­ tretende Ineinssetzung dieser beiden. W ie der Text (in Vers 40) besagt, entsteht die schöpferische Ideenbildung (srishti-kalpanä) durch diese Aufspaltung in Shiva und Shakti. Der Kausalbindu ist vom Shakti-Aspekt aus gesehen die undiffe­ renzierte Shakti (abhedarüpä shakti) mit allen ihren Kräften (sarvashaktimaya); vom Prakriti-Aspekt aus gesehen ist er Trigünamayl Mülaprakriti (der mit den drei Günas ausgestattete Urstoff für die W eltentfaltung); vom Devatä-Aspekt aus gesehen ist er das unentfáltete Sein (avyakta); vom Devl-Aspekt aus ist er Shäntä. Die drei Bindu bezeichnen, einzeln gesehen, die funktionelle Tätigkeit der drei Kräfte: Wille (ichchhä), Erkenntnis (jfiäna) und Tat (kriyä), bezeichnen aber auch die drei Günas (rajas, sattva, tamas); bezeichnen desgleichen die Manifestation der drei Devls (vämä, jyeshtä, raudrl) und die aus ihnen emanie­ renden drei Devatäs (brahmä, vishnu, rudra)98. Im Prayogasära heißt es wie im Shäradä, Raudrl entspringe dem Bindu, Jyeshthä komme aus der Näda, und Vämä entstamme dem Bija. Aus diesen wieder kommen Rudra, Vishnu und Brahmä, die dem Wesen nach Jfiäna, Kriyä und Ichchhä = Mond, Sonne und Feuer verkörpern99. Die drei Bindu kennt man als Sonne (ravi), Mond (chandra) und Feuer (agni) — Ausdrücke, die in den hier übersetzten Werken dauernd wiederkehren. In der Sonne herrschen Feuer und Mond100. Man kennt diesen Begriff als Mishrabindu, der sich in dieser seiner Form als solcher vom Paramashiva nicht unter­ scheidet und das »Kämakalä« aufbaut101. Kämakalä ist das aus den drei Bindus gebildete Dreieck des göttlichen Wunsches —, es ist ihre Gesamtheit, ihr Kollektiv (samashtirüpä)102. Dieses Kämakalä gilt als die Wurzel (müla) aller Mantras. Der Mond (soma, chandra) ist der Shivabindu und ist weiß (sita bindu); das Feuer (agni) ist der Shaktibindu und ist rot (shona-bindu); die Sonne ist ein Gemisch aus den beiden. Feuer, Mond und Sonne sind Ichchhä-Shakti bzw. Jfiäna-Shakti und Kriyä-Shakti (Wille, Erkenntnis und Tat).

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Auf der stofflichen Ebene nimmt der w eiße Bindu< Samenform (shukra) an, und der >rote Bindu< wird zum Menstrualfluß (rajasphala, shonita). Der Mahäbindu ist die Zustandsform vor der Prakriti-Manifestation103. Alle drei Bindu — d. h. das Kämakalä — sind Shakti, auch wenn der eine Bindu mehr den ShivaAspekt, der andere Bindu mehr den Shakti-Aspekt betont. Dann und wann nennt man den Mishra Bindu auch Shakti Tattva, um das Supremat der Shakti hervor­ zuheben, zuweilen nennt man in Shiva Tattva, um den Kraftbesitzer (shaktimän) zu betonen. E r (bindu) ist in gepaarter Form angelegt (yämalarüpa). Shiva ohne Shakti, resp. Shakti ohne Shiva, gibt es nicht104. Sie voneinander trennen105 ist ebenso unmöglich, als wollte man dem regungslosen Ätherhimmel den in ihm sich bewegenden Windhauch nehmen. In dem einzig-einen Shiva-Shakti spielt sich eine Vermählung (maithuna) a b 106; ihr wonniges Entzücken ist Näda, aus dem der Mahäbindu geboren wird; dieser als solcher wird dreifältig (tribindu) und bildet das Kämakalä107. Im Shäradä-Tilaka heißt es, beim »Bersten«, d. h. beim Differenzieren des höchsten Bindu hätte es einen unmanifestierten »Klang« (shabda) gegeben108. Dieser unmanifestierte Shabda wird dann durch die Tat (kriyä shakti) zur Quelle der später beschriebenen manifestierten Shabda und A rtha109. Der Brahman ist in seinem als Shabdabrahman bezeichneten Aspekt einerseits der Ursprung für die Ideen und die Sprache (shabda), andererseits der Ursprung für die durch diese Ausdrucksmittel bezeichneten Dinge (artha), und verkörpert in diesem seinen Shabda-Aspekt nach abendländischem Sprachgebrauch den »Logos«110. Von diesem in den Prakriti-Zustand sich differenzierenden Bindu stammen die Tattvas für die Seele und den Stoff mit all ihrem Formenreichtum, stammen ferner die Tattva-Regenten (tattvesha) — d. h. die leitenden Intelligen­ zen der Tattvas —, stammt also Shambhu111, der über das Zentrum für die Geistesfähigkeiten, d. h. über das Äjüä Chakra regierende Devatä; stammen Sadäshiva, Isha, Rudra, Vishnu, Brahmä — das sind die Devatäs für die jeweiligen fünf Aggregatformen der Materie, einer Materie, die mit ihrer Ausdifferenzierung in Prithivi (in das »Erdige«) im Mülädhära-Zentrum — in welchem die schöpferisch wirkende Shakti mit Kamen Kundalini nach Beendigung ihres Wirkens wieder zur Ruhe kommt — ihren Abschluß gefunden hat. W ie das Atom beispielsweise außer seinem statischen Zentrum noch diesen Ruhepol umkreisende Wirkkräfte besitzt, so hat auch der Mensch in seinem Körper ein statisches Kraftzentrum (kendra), nämlich die im »Erd-chakra« existente Kupdalini, und außerdem noch ihren kinetischen Aspekt, in welchem sie als die Körperkräfte in Erscheinung tritt. Der ganze Körper ist als Shakti in unauf­ hörlicher Bewegung. Die Kundalini Shakti ist der unbewegte Kraftspeicher für alle diese Wirksamkeiten. W enn sie erweckt ist und sich nach oben begibt, zieht sie sich mit diesen in sich aufgenommenen beweglichen Shaktis zurück und vereinigt sich anschließend im Sahasrära-Lotos mit Shiva. Das nach oben gerichtete Ein­ schmelzungsverfahren (Evolution) ist die Umkehr der oben beschriebenen In ­ volution. Von Zeit zu Zeit werden nämlich die Welten für alle Lebewesen zunichte gemacht (laya). Der vollkommene Yogi löst sich das Universum für alle Zeiten auf. Y oga ist also Laya.

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Bevor ich nun zur Beschreibung der Chakras übergehe, muß ich in erster Linie die Körperkonstituenten — d. h. die als die erwähnten Tattvas offenbare und von der Prakriti (Urmaterie) bis zum PrithivI (dem »Erdigen«) hinunter sich erstreckende Wirkkraft — etwas genauer definieren. Denn die Chakras sind die Zentren dieser Tattvas. Zum zweiten muß ich die Lehre vom »Klang« (shabda) erklären, einem Begriff, der als die drei innerkörperlichen Klangstadien (parä, pashyanti und madhyamä) auftritt und schließlich als ausgesprochene Sprache (vaikharl) zum Ausdruck kommt. Das wird dem Leser den Einblick in den Sinn des Mantra, d. h. in das offenbar gewordene Shabda wesentlich erleichtern und wird ihm auch die »Garland of Letters«, d. h. die über die gesamten sechs Körperzentren sich ausbreitende »Buchstabengiilande« besser verständlich machen.

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ni. VERK ÖRPERTES

BEW USSTSEIN

(JlVÄTMÄ)

Betrachten wir das Bewußtsein als Doppelaspekt, dann zeigt es sich trans­ zendent (überschreitend) und immanent (innewohnend). Das transzendente Be­ wußtsein heißt Paramätmä. Das an Seele und Stoff gebundene Bewußtsein ist der Jivätmä. Im ersten Palle ist das Bewußtsein formlos, im zweiten Falle ist es an Formen gebunden. Die Form ist wieder ableitbar vom Bewußtsein als Kraft (shakti). Eine Daseinsform dieser Kraft ist Prakriti Shakti (die in der Urmaterie wirkende Kraft), sie ist das unmittelbare Quellmaterial für Seele und Stoff. Der korrespondierende statische Aspekt ist Purusha (der »Mensch-an-sich«), Man ver­ wendet diesen Ausdruck manchmal auch für den Erhabensten, z. B. in der Bezeichnung Brahmapurusha112. Hier aber versteht man darunter ein Zentrum für das begrenzte BewußtseinQJ. h. für das mit der Prakriti und ihren Edukten (Seele und Stoff) assoziierte — und dadurch begrenzte — Bewußtsein, i n volks­ üblichen Sinne versteht man unter Purusha wie unter Jlva ein mit Empfindung begabtes, mit einem Körper und mit Sinnesorganen behaftetes Lebewesen — d. h. organisches Leben113. Der Mensch ist ein Mikrokosmos (kshudrabrahmända)lu . Die W elt ist der Makrokosmos (brahmända). Zahllose W elten gibt es, und eine jede von ihnen wird von dem ihr zugehörigen Gebieter beherrscht, doch diese Gebieter als solche verehren nur eine einzige, eine gemeinsame Große Mutter, eine Mutter, mit deren Füße Staub sie ihre Häupter zeichnen. In allem ist inbegriffen alles, was sich auch sonst in jedem anderen findet. Das Universum enthält also nichts, was nicht auch im menschlichen Körper vorhanden wäre. Man braucht die Augen nicht himmelwärts zu richten, um Gott zu finden. Er ist drinnen, und man kennt Ihn als den »Herrscher im Innern« (antaryämin), als das »Innere Selbst« (antarätmä)lls. Alles andere ist seine Wirkkraft als Seele und Stoff. Alles was an Seele und Stoff im Universum vorhanden sein kann, findet sich in irgendeiner Form und irgend­ wie auch im menschlichen Körper. W ie sagt doch das schon erwähnte Vishvasära Tantra: »Was hier ist, ist auch dort. Was hier nicht ist, ist nirgends116.« Im Körper herrscht der alle Dinge durchdringende höchste Shiva-Shakti. Im Körper findet sich Prakriti Shakti mit allen ihren Produkten. Wahrhaftig, der Körper ist ein unermeßliches Kraftreservoir (Shakti-Speicher). Das Ziel des tantrischen Rituals besteht nun darin, diese mannigfachen Kraftformen in vollendeter Weise zu ent­ falten. Das ist das Werk, das ist die Aufgabe der Sädhanä. Die Tantras berichten, daß es ganz in der Macht des Menschen stehe, sich alle seine Wünsche zu erfüllen, wenn er nur den Willen darauf konzentriere. Und das muß nach ihrem Grundsatz auch so sein, denn seinem innersten Wesen nach ist der Mensch verbunden mit

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Sattva. Und der wahrhaft sattvische Mensch ist ein göttlicher Mensch, seine Gemütsart nennen die Tantras »Divyabhäva«125. Durch Sattva Guna verschafft der Siddha-Yogi sich den Übergang zum Sat — und das ist Chit oder reines Bewußt­ sein —, er wird dadurch identisch mit dem reinen Geist. Die Prakriti existiert in zwei Zustandsformen: in der einen ist sie (sofern man eine Kraftäußerung ins Auge faßt)126 bewegungslos. Die Gunas verharren hier in stabilem Gleichgewicht, sie sind im Äquilibrium und beeinflussen einander nicht. Eine Manifestation findet nicht statt. Das ist das Unentfaltete (avyakta), die Potentialität, das ist die Wirkmöglichkeit der Naturkraft (natura naturans)127. Zur gegebenen Zeit aber, wo — dank der Karmareifung — der Schöpfungstermin heranrückt, tritt eine rege Gunas-Tätigkeit (gunakshoba), tritt ein Initialzittern (spandana), tritt der aus dem Mantra Shästra bekannte »Kosmische Urlaut« (shabdabrahman) in Aktion. Dann beeinflussen die Gunas einander, und das aus den drei Gunas sich formende Universum tritt ins Dasein. Die in dieser Weise entfalteten Prakriti-Produkte heißen Vikära und Vikriti128. Vikriti ist manifest gewordene (vyakta) Prakriti (natura naturata). In der uferlos formlosen Prakriti zeigt sich eine als Formgebilde auftretende Kräfteballung oder Kräfteanspannung (stress). Wenn in der Auflösung diese Spannkraft wieder nach­ läßt, verschwinden die Formgebilde in der formlosen Prakriti, und diese fließt als manifestierte Kraft (shakti) in das Brahman-Bewußtsein wieder zurück. Diese Vikritis sind die von der Prakriti129, von der sogenannten Avidyä Shakti, her­ stammenden Tattvas, d. h., sie charakterisieren die verschiedenen Kategorien von Seele, Sinnesorganen und Stoff. Die Körper sind von dreierlei Beschaffenheit: sie sind kausal (käranasharira oder Parasharira, wie die Shaivas das nennen), sie sind subtil (sükshmasharlra) und grob (sthülasharira). Diese Körper, die den Ätmä eingebettet haben, haben sich aus der Prakriti Shakti entfaltet und setzen sich aus ihren mannigfachen Edukten zusammen. Sie bilden die Hülle, sie bilden den Schrein für den Geist (ätmä), der als Herr »in allen Wesen ist und alle Geschöpfe von Innen heraus lenkt«130. Der Leib des weltwaltenden Höchsten Herrn (Ishvara) besteht aus reiner Sattva Guna (shuddhasattvagunapradhana)131. Er verkörpert seine bzw. ihre GesamtPrakriti, verkörpert die Mäyä als die Creator-Creatrix aller Dinge. Der Jiva ist nach der Meinung des Kulärnava Tantra132 durch Fesseln (päsha) gebunden; der Sadäshiva aber ist frei davon133. Jener ist Pashu, dieser ist Pashupati, Gebieter über die Pashus (jivas). Das heißt, die Isbvari134 wird durch ihre eigene Mäyä nicht beeinflußt. Sie ist allsehend, allwissend, allmächtig. Damit herrscht Ishvara über die Mäyä. Der Jiva wird durch sie beherrscht. Von diesem Standpunkt aus betrachtet sind die Weltmutter und ihr Kind — der Jiva — also nicht dasselbe. Denn dieser ist ein dem Irrtum verfallenes, begrenztes Bewußtsein und wird beherrscht durch die Mäyä-Shakti, die die W elt von dem, was sie in ihrem innersten Wesen ist, scheinbar verschieden sein läßt. Der Jiva-Körper wird darum als individuelle Prakriti, als Avidyä, angesehen, in der unreine Sattva, Rajas und Tamas vorherrschen (malinasattvagunapradhäna). In der Allmutter aber sind alle Geschöpfe. Und so heißt die DevI im Trishat!135 »die aus dem einen und den

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dem Höchsten Herrn (Ishvara), verbunden mit der All-Mutter (Ishvarl), und je mehr er den Geist offenbar werden läßt, um so reichlicher fließen ihm dessen Kräfte zu. Zentrum und Wurzel für alle seine Kräfte ist für ihn, als Jlva, die Kundalinl Shakti. Das Zentrum aber, wo man das ruhende Bewußtsein realisiert, hegt im oberen Hirnpol und ist das Sahasrära; dort entweicht im Tode — sofern es sich um einen Yogi handelt — der Präna- Strom durch eine Spalte, die soge­ nannte Brahma-Randhra (siehe Abb. V III). Seele und Körper sind Kraftedukte der Prakriti. Da beide denselben Ursprung haben, ist ein jedes für sich, sei es nun Seele oder Stoff, eine »stoffliche« Angelegenheit, d. h. ist seinem Wesen nach K raft117 und begrenztes Werkzeug; mit Hilfe dieses Werkzeugs kann der Geist, kann das Bewußtsein seine Fähigkeiten entfalten und dadurch, obwohl selbst unbegrenzt, begrenzt erscheinen. Im Laterneninnern leuchtet das Licht qualitativ unverändert, den Außenstehenden aber bietet es durch das von ihm durch­ leuchtete Material einen veränderten Anblick. Prakriti indessen ist nicht die Materie in wissenschaftlichem Sinne. Diese ist nur ihr gröbstes Edukt und hat als solches keine Existenz von Dauer. Jene Prakriti aber ist die »stoffliche« Ursache schlechthin, ist der Urstoff für Seele, für Materie, und für das aus ihnen sich zusammensetzende ganze Universum. Sie ist der rätselhafte, der fruchtausreifende Mutterleib (yoni), der alles gebiert118. Was sie als solche ist, kann man nicht verwirklichen. Man erkennt sie nur an ihren Wirkungen119. Wenn auch die Mülaprakriti als die stoffliche Ursache für die aus ihr sich ableitende Welt gilt120, so ist die Prakriti Shakti, wenn sie in ihrem Sosein existiert (svarüpa), letzten Endes beschaffen wie alles andere; sie ist Bewußtsein, denn Bewußtsein als Kraft und statisches Bewußtsein sind ein und dasselbe121. Das Bewußtsein indessen übernimmt, wenn es in das Universum auseinandertritt,' die Rolle der Prakriti — d. h. erscheint als Schöpfungskraft. Die Prakriti setzt sich substanz­ mäßig aus den Gunas, aus den Modifikationen dieses Naturprinzips zusammen, nämlich aus Sattva, Rajas und Tamas122. Die Hauptfunktion der Shakti besteht darin, das Bewußtsein zu verschleiern oder einzuengen. Die Prakriti fungiert faktisch als begrenzendes Prinzip. Allem Anschein nach begrenzt sie das uferlos formlose Bewußtsein und bringt es in eine Form 123. So wirken alle Gunas. Die eine Guna weniger, die andere mehr. D io qualitativ höchste Guna ist die Sattva Guna; ihre Funktion besteht — im Ver­ hältnis zu den anderen Gurias — darin, das Bewußtsein zu enthüllen. Je stärker vorhanden, je kräftiger Sattva Guna ist, um so intensiver ist auch die Annäherung an den reinen Bewußtseinszustand. Dementsprechend besteht die Funktion der Tamas Guna darin, das Bewußtsein zu dämpfen oder zu verhüllen. Die Aufgabe der Rajas Guna ist das In-Aktion-Setzen, das In-Gang-Bringen — d. h., sie regt Tamas an, damit es Sattva dämpfe, bzw. 'v/ilkt auf Sattva, damit es Tamas unterdrücke124. Ziel und Absicht der Evolution besteht — wie bei aller Sädhanä — nun darin, die Sattva Guna zu entfalten. Die Guijas sind in allem stets gleichzeitig doch in unterschiedlicher Dominanz vorhanden. Je tiefer man auf der Stufenleiter der Natur heruntergeht, desto mehr nimmt Tamas Guna überhand, wie beispiels­ weise in der sogenannten »tierisch unvernünftigen Substanz«, die als durch und durch schwerfällig gilt. Aber je höher man hinaufgeht, desto einflußreicher wird

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vielen Buchstaben Gestaltete (ekänekäksharäkriti)«. Als Ekä ist sie Ajfiäna, ist sie das reine Sattva und ein Attribut (upädhi) Ishvaras; als Anekä ist sie Upädhi und Vehikel für den Jiva. Während Ishvara in der Einzahl vorkommt, gibt es — auf Grund der in unterschiedlichem Verhältnis zueinander auftretenden R ajas­ und Tamas-Komponenten — zahlreiche Jivas136, entsprechend dem Unterschiede im Wesen der individuellen Prakriti. Der Ätmä erscheint als Jiva in den ver­ schiedenen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Daseinsformen. Der erste Leib, der Kausalkörper, eines beliebigen Einzeljlva ist demzufolge diejenige Prakriti-Eorm (avidyä shakti), die den aus ihr sich entfaltenden subtilen wie auch groben Körper dieses Jiva kausal veranlaßt. Dieser Körper währt bis zur endgültigen Erlösung, bei der der Jivätmä in seinem Sosein zu existieren aufhört und zum Paramätmä, zum körperlosen Geist (videha-mukti), wird. In diesem Körper weilt der Jiva während seines traumlosen Schlafs (sushupti). Der zweite und dritte Leih sind die aus der Evolution des Ursachenkörpers hervor­ gegangenen Differenzierungen; aus dem Ursachenkörper kam zuerst der fein­ stoffliche Leib, und dieser erzeugte dann den stofflich-groben Leib. Der feinstoffliche Leib (Hauchkörper, subtle body), den man auch Linga Sharira oder Puryashtaka nennt, setzt sich aus den ersten Edukten (vikriti) des kausalen Prakriti-Körpers, nämlich aus der Seele (antahkarana), dem »inneren Werkzeug«, aus dem »äußeren Werkzeug« (hähyakarane), d. h. den Sinnesorganen (indriya), und aus den übersinnlichen Objekten (tanmätra, die xreinen Gegeben­ heiten < oder feinen Elementen) zusammen. Der dritte oder grobe Leib ist der »stoffliche« K örper; er ist das spezielle grobe Objekt für die aus den übersinnlichen Erkenntnissen137 abgeleiteten Sinnesorgane. Den Hauchkörper kann man, kurz gesagt, als den Mentalkörper (mental body) bezeichnen, so wie man sein Edukt als den groben Stoffkörper definiert. Die Seele, in ihrem Sosein durch sich selbst betrachtet, d. h. als ein vom Bewußtsein losgetrenntes Prinzip — ein realiter niemals durchführbarer Zustand —, ist eine unbewußte Wirkkraft, welche die Erfahrungs-Ganzheit, d. h. das Chit, in Details aufspaltet. Man nennt sie auch das »Wirken im Innern«, das »innere Werkzeug« (antahkarana), und man findet sie nur in der Einzahl, gibt ihr aber verschiedene Namen, um die Vielgestaltigkeit ihrer Funktionen anzudeuten138. So spricht das Sämkhya von Buddhi, Ahamkära und Manas (das höhere Erkenntnisvermögen, der »Ich«-Macher, der Verstand), Begriffe, zu denen der Vedänta noch Chitta (die Denksubstanz) hinzunimmt; sie sind verschiedene Aspekte oder Attribute (dharma) der Seele, je nachdem wie sie sich in den psychischen Prozessen, durch die der Jiva erkennt, fühlt und will, jeweils zu erkennen gibt. Man kann diese (Funktionen) evolutionistisch — d. h. nach der Stufenfolge, nach der dem Jiva die beschränkte Welterfahrung zuteil wird — betrachten; man kann sie aber auch vom Standpunkt der Schöpfung aus betrachten, wonach die Erfahrung greifbarer Sinnesobjekte eingesetzt hat. Nach der ersten Ansicht ist Buddhi oder Mahat Tattva der Zustand reiner psychischer Vorstellung; Bewußtsein des bloßen Daseins ohne die Vorstellung »Ich« (ahamkära) und un­ berührt durch die Eindrücke besonderer Sinnesobjekte (ohne manas und indriyas). Es ist also das unpersönliche Jiva-Bewußtsein.

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Ahamkära, der »Ich«-Macher, mit der Buddhi als Grundlage, gilt als das per­ sönliche Bewußtsein, das sich selbst als ein individuelles »Ich«, als den Erfahren­ den, erkennt. Nach der Schöpfungsordnung dagegen, sammelt der Jiva seine Erfahrungen zuerst auf imbestimmte, ahgemeine Weise, ohne des Selbst inne­ zuwerden, wie beispielsweise die Erfahrung, die man unmittelbar nach dem Schlaf beim Aufwachen erlebt. Er knüpft dann diese Erfahrung an das begrenzte Selbst und kommt zu der Erkenntnis: »Ich bin so-und-so«. Manas (das niedere sinnengebundene Denken) ist das auf einer solchen Erfah­ rung fußende Verlangen, und die Sinnesorgane (indriya) sind samt ihren Objekten die diesbezüghch zweckdienlichen Mittel, durch welche dieser Genuß, durch welche der Endzweck des ganzen Willens zum Leben zuteil wird. D och während in der Reihenfolge der Evolution die Buddhi als das oberste Prinzip gilt, kommt sie beim eigenthchen Wirken des Antabkarana, d. h. nach eingetretener Schöpfung, erst an letzter Stehe. Es wird darum zweckmäßiger sein, mit den Sinnesobjekten und den durch sie hervorgerufenen Eindrücken anzufangen. Der Erfahrende wird durch den Stoff auf fünferlei Weise beeindruckt, indem dieser in ihm das Hören, das Berührt­ werden und Fühlen139, die Farbe, die F orm 140 und das Sehen, das Schmecken und das Riechen141 empfindungsmäßig auslöst. Sinnliche Wahrnehmung existiert aber nur hinsichtlich spezieller Objekte und wird auch nur in ihren Reizunterschieden perzipiert. Andererseits bestehen aber noch allgemein bedingte Faktoren für die näheren Umstände der Sinnesperzeption. Daß ahgemeine Vorstellungen über speziehe Sinnesobjekte überhaupt Zustande­ kommen, beweise doch, so sagt m an142, ihre tatsächlich erfahrene Existenz in irgendwelchen Ich-Anteilen der Jiva-Natur; anderswie könnte doch das Ahgemeine, als eine über die Sinnesorgane vermittelte physische Tatsache, aus dem Speziehen nicht abgeleitet werden. Dieses Ahgemeine nennt man ein Tanmätra, es charak­ terisiert die »reine Dasheit«, die abstrahierte Beschaffenheit eines Objekts. So ist zum Beispiel das Tanmätra eines Klanges (shabdatanmätra) nicht etwa eine sinnlich wahrnehmbare Klangform bestimmter Art, sondern bezeichnet die »Das­ heit« dieses Klanges, d. h., ist der von jeghchen speziehen Variationen abstrahierte Klang an sich. Man hat die Tanmätras darum treffend die »feinstoffhchen W elt­ prinzipien der Sinnessonderheiten«143, d. h. die Grundelemente für die Sinnes­ perzeption genannt. Sie treten zwangsläufig ins Dasein, sobald die Sinnesorgane (indriya) ihre Wirkung entfalten; denn ein Sinnesorgan setzt zwangsläufig voraus, daß irgend etwas zum Wahrnehmungsobjekt werden könnte. Diese Sukshma Bhütas (subtüen Elemente), wie sie auch heißen, werden als solche gewöhnlich nicht wahrgenommen, denn sie sind übersinnlicher Herkunft (atlndriya). Ihre Existenz kann man nur unmittelbar über die grobstofflich-speziehen Objekte, deren übersinnliche Kategorien und deren Ursprung sie darstehen, wahr­ nehmen. Nur für Y ogis144 können sie zu Objekten unmittelbarer (pratyaksha) Wahrnehmung werden. Sie sind — wie die von ihnen sich ableitenden groben Sinnesobjekte — fünf an der Zahl: Klang (shabdatanmätra), Tasten und Fühlen145 (sparshatanmätra), Farbe und Form (rüpatanmätra), Geschmack (rasatanmätra) und Geruch (gandhatanmätra) — als Ahgemein-

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begriffe. Ein jedes von diesen entfaltet sieb jeweils aus dem ihm vorangehenden Prinzip146. Die durch Sinnesobjekte hervorgerufenen Sinnesempfindungen erfährt man über die Außenwerkzeuge (bähyakarana) des Körpergebieters, erfährt man über die Sinnesorgane (indriya); und diese Sinnesorgane sind die Eingangspforten für die vom Jiva begriffene Welterfahrung. Sie sind zehn an der Zahl, und man verteilt sie auf zwei Klassen: a) die fünf Erkenntnis-Sinne für die sinnliche Wahrnehmung oder Perzep­ tion (jüänendriya), dazu gehören: das Ohr (hören), die Haut (fühlen durch Berührung), das Auge (sehen), die Zunge (schmecken) und die Nase (riechen); b) die fünf Tat-Sinne (karmendriya); sie sind die rückwirkende Antwort, die das Selbst auf die sinnliche Wahrnehmung hin äußert. Zu ihnen gehören: der Mund, die Hände, die Beine, der Anus und die Genitalien; _ man bewirkt durch sie Sprechen, Greifen, Gehen, Ausscheidung und Zeugung; der Jiva bringt durch sie seine Wünsche zum Ausdruck. Diese Erkenntnis-Sinne resp. Tat-Sinne vermitteln die nach innen führenden (afferenten) bzw. die nach außen führenden (efferenten) Impulse. Indriya, das »Sinnesorgan«, ist aber nicht das physische Organ, sondern be­ zeichnet das Vermögen der sich dieses Organs als Instrument bedienenden handelnden Seele. Die nach außen gerichteten Sinnesorgane repräsentieren nur die gebräuchlichen Mittel, mit deren Hilfe man das Hören usw. auf der physischen Ebene funktionell zu vollziehen vermag. W eil sie aber nur Werkzeuge sind und ihr Leistungsvermögen aus der Seele schöpfen, vermag ein Y ogi durch die Seele allein alles zu bewerkstelligen, was man unter Zuhilfenahme dieser physischen Organe zustandebringt, ohne dabei Gebrauch von ihnen zu machen. Im Hinblick auf ihre physische Manifestation, nicht aber was sie als solche sind, kann man die klassifizierten Indriyas als das sensorische resp. motorische Nervensystem ansprechen. Und eben weil die Indriyas die physischen Organe — wie Ohr, Auge usw. — nicht sind, sondern die Fähigkeiten darstellen, mit deren Hilfe der Jiva erkennen resp. handeln will, behauptet der Yogi, er könne auch ohne ihre Mithilfe alles das ausführen, was man im allgemeinen durch sie verrichte. So kann eine hypnotisierte Versuchsperson auch dann noch Dinge erkennen, wenn die für den jeweiligen Zweck üblichen physisch-spezifischen Sinnesorgane abgeschaltet worden sind147. Die Tatsache, daß es eine Vielzahl unterschiedlicher Handlungen gibt, setzt zwangsläufig nicht die gleiche Indriya-Zahl voraus. Ein »Geh-Akt«, der (bei einem Krüppel beispielsweise) unter Zuhilfenahme der Hände ausgeführt wird, ist in Wirklichkeit als eine Indriya-Funktion der Füße (padendriya) anzusehen, auch wenn die H and148 dabei als Sitz für das Indriya des Handelns gilt. Mit Hilfe dieser Indriyas erkennt man die Dinge und ergreift dann die diesbezüglichen Maßnahmen. Die Indriyas allein sind aber als solche für diesen Zweck nicht ganz ausreichend. Erstens findet eine Wahrnehmung, sofern die Aufmerksamkeit

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(älochana) nicht mitmacht, überhaupt nicht statt. »Geistesabwesend«-sein heißt ja: nicht erkennen, was geschieht149. Aufmerksamkeit muß also mit den Sinnes­ organen Zusammenarbeiten, dann erst können diese dem Erfahrenden etwas verm itteln Das muß ich tun< (kartavyam etat m ayä)157.« »Muß ich tun« — be­ zieht sich hier nicht nur auf das äußerliche Handeln, sondern auch auf den Denkvorgang (mänasi kriyä), wie beispielsweise der Entschluß auf Grund der Begriffsbildung und der Wahrnehmung (»es ist so«) und der Beschlußfassung (»es muß getan werden«). Buddhi durchdringt jede beliebigen Inhalte, ausgenommen sich selbst. Sie ist das Haupt-Tattva, denn sie erstreckt sich über alle Sinneswerkzeuge (indriya), ist das Behältnis für alle Samskäras, für alle karmischen Zielstrebigkeiten, und ist nach der Sämkhya der Sitz für das Gedächtnis158. Sie ist das Denkprinzip, das Begriffe der Allgemeinvorstellungen formt, indem sie sich des Ahamkära, des Manas und der Indriyas instrumenten bedient. Bei den Sinnesfunktionen spielt Manas die Hauptrolle; in der Manas-Eunktion ist Ahamkära das W esent­ liche; und bei der Ahamkära-Funktion ist Buddhi das Wesentliche. Unter der Mitwirkung aller dieser betätigt sich die Buddhi, und durch das Zusammenwirken der Sinnesfunktionen bilden sich dann die Modifikationen in der Buddhi159. Die Buddhi ist nämlich die Basis für alle Erkenntnis, für alle Sinnesempfindung, für alle Entschlüsse, und sie überträgt die Dinge auf den Purusha, d. h. auf d is Bewußtsein. Und, so sagt man, ist die Buddhi mit ihrer Entscheidung, ihrem

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wesentlichen Charakteristikum, der Wagenlenker; Manas, mit dem Merkmal Samkalpa-Vikalpa, ist die Zügel; und die Sinnesorgane versinnbildlichen die Rosse. Der Jiva ist der Besitzende, der Genießende (bhoktä), d. h. ist der mit dem Körper, den Sinnesorganen, dem Manas und mit der Buddhi verknüpfte Ä tm ä160. In der Buddhi dominiert Sattvaguna; im Ahamkära dominiert Rajas; im Manas, in den Indriyas und ihren Objekten dominiert dagegen Tamas. Chitta161 ist seiner Wesenseigentümlichkeit nach eine Fähigkeit (vritti), durch die hauptsächlich der Geist sich all das ins Gedächtnis zurückruft (smaranam), das zuvor Anubhava oder Pratyaksha Jnäna, d. h. immittelbare Erkenntnis ge­ wesen ist. Dieses Smaranam existiert nur in dem Ausmaße tatsächlich vorhanden gewesener Anubhava. Denn Erinnerung ist — nicht mehr und nicht weniger — das Äquivalent des vorgängig Erkannten oder Erlebten162; Erinnern ist das Wiederwachrufen dieser Dinge. Chintä hingegen ist dasjenige Seelenvermögen, das den Gedankenstrom zum Verweilen veranlaßt, das über den durch die Smaranam (Erinnerung) in dieser Weise zurückgerufenen und durch die Buddhi geprüften und zugelassenen Begriff nachsinnt und seine Betrachtungen anstellt (chintä)163. Denn eine solche Meditation (dhyäna) führt man aus, wenn man sich an das früher Wahrgenommene und in der Vergangenheit Begriffene erinnert und dabei sein Gemüt darauf fixiert. Nach dem Vedanta entscheidet die Buddhi nur ein einziges Mal, und alles weitere Erinnern und Überdenken des so ausgewählten Betrachtungsstoffes erledigt die besondere Denkkategorie mit Namen Chitta. Das Sämkhya-System, das nach dem Grundsatz verfährt, Begriffsklassen einzusparen, hält Smaranam und Chintä für Buddhi-Funktionen164. Doch in den hier über­ setzten Werken und auch anderswo ist »Chitta« als vorherrschender Begriff für die wirkende Seele — d. h. als Synonym für den Antahkarana165 — ein allgemein geläufiger Ausdruck. Die Hauchkörper-Funktionen, kurz zusammengefaßt, sind diese: Die Sinnes­ objekte (bhüta — abgeleitet vom tanmätra) beeindrucken die Sinnesorgane (indriya), werden vom Manas erkannt, werden durch Ahamkara auf das Selbst bezogen und durch Buddhi determiniert. Die Buddhi ihrerseits wird durch das Bewußtseinslicht (chit), durch den Purusha nämlich, erleuchtet; alle Urprinzipien (tattva), bis herauf zu der Buddhi einschließlich, gelten als Modifikationen der anscheinend unbewußten Prakriti. So dienen alle Tattvas dem Selbstgenusse, dem Purusha. Man sollte sie nicht für Dinge halten, die ungebunden durch sich selbst existierten, sondern sollte sie als Geistesgaben (Ätmä-Begabungen) betrach­ ten. Sie wirken nicht eigenmächtig, dem blinden Walten überlassen, sondern charakterisieren eine dem Genießenden oder Erfahrenden (purusha) zur nutz­ baren Verfügung stehende organisierte Zielstrebigkeit. Der Hauchkörper umfaßt demnach die sogenannten »Siebzehn«: buddhi (ein­ schließlich ahamkära), Manas, die zehn Sinnesorgane (indriya) und die fünf Tanmätra. Präna, das Vitalprinzip oder der Lebensodem, wird im Sämkhya nicht ausdrücklich erwähnt, sondern als Modifikation des Antahkarana angesehen und als solche stillschweigend mitgerechnet. Die Mäyävädins setzen statt des Tanmätra den Präna als Fünftes ein166. Jiva, der »Leber«, lebt in seinem Subtil-Leib oder Mentalkörper nur dann, wenn

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er sich im Traumzustand (svapna) befindet. Die außenweltlichen Objekte (mahäbhüta) sind dann ausgeschaltet, und das Bewußtsein durchwandert die Ideenwelt. Der Hauchkörper, die Seele, ist so lange unvergänglich, bis die Erlösung ein­ getreten ist, d. h. bis der Jlvätmä als solcher — das scheinbar begrenzt geartete Bewußtsein — zu existieren aufhört und zum höchsten Bewußtsein oder Paramätmä, zum Nirguna Shiva (attributlosen Shiva) wird. Der Hauchkörper überlebt also die Auflösung des groben Stoffkörpers in der Weise, daß er aus diesem austritt (utkramana) und sich bis zur endgültigen Erlösung (mukti) »wiederverkör­ pert«167 (um einen deutschen Ausdruck zu gebrauchen). Der Lingasharira ist nicht allesdurchdringend (vibhu), denn dann wäre er ja unvergänglich (nitya) und könnte nicht handeln (kriyä). Er bewegt sich aber und geht (gati). Und weil er nicht Yibhu ist, muß er begrenzt (parichchhinna) und von atomarer Ausdehnung (anuparimäna) sein. Er ist indirekt auf Nahrung angewiesen. Denn wenn auch nur der Stoffkörper durch Nahrung am Leben erhalten wird (annamaya), so ist die Geistseele durch ihre Verknüpfung mit diesem Stoffkörper doch von ihm abhängig. Das im Hauchkörper vorhandene Gedächtnis trägt die Samskäras, die Früchte der vergangenen Taten. Dieser Hauchkörper ist die Ursache für den dritten oder groben Körper. Der ganze Evolutionsprozeß ist nur dem vorhandenen Lebens- und Genußtrieb zu verdanken; dieser Trieb ist die Folge der Väsanä, der Weltgier, und wird in den Samskäras, d. h. in den vom Ishvara gelenkten und dem Hauchkörper auf­ geprägten Eindrücken von Leben zu Leben weitergegeben. In seinem Greifennach-der-Welt wird das Selbst nicht nur mit den Geistesgaben des Hauchkörpers ausgestattet, sondern bekommt auch die entsprechenden groben Lustobjekte, die jenen Gaben als »Nahrung« dienen, hinzu. Und darum tritt der grobe Stoffkörper, der sogenannte Sthüla Sharira, als eine Projektion der Bewußtseinskraft(shakti) ins Dasein. Der Ausdruck »sharira« kommt von der Wortwurzel »shri« = verfallen, ver­ wesen ; denn der grobstoffliche Leib ist ja in jedem Augenblick einem molekularen Geborenwerden und Sterben unterworfen, bis er als Organismus sich, wenn er vom Präna, dem Lebensodem, verlassen wird, endgültig auflöst. Wenn die Seele (jlvätmä) sich vom Körper trennt, kümmert sie sich nicht weiter um ihn. So etwas wie eine Auferstehung des selben Leibes gibt es nicht. Er wird wieder zu Staub — und wenn der Jiva sich reinkarniert, vollzieht er das in einem neuen Körper, in einem Körper, der wie der letzte den Vollzug seines Karma in ent­ sprechender Weise zuläßt. Der Sthüla Sharira — mit seinen drei Doshas, sechs Koshas, sieben Dhätus, zehn Feuern usw.168 — ist der aus dem Gemisch der durch die Sinne wahrnehm­ baren fünfklassigen grobstofflichen Materie (mahäbhüta) sich zusammensetzende vergängliche Leib, er stirbt immer und löst sich beim Tode in seine Bestandteile auf1*9. Er ist der Nahrungskörper (annamaya kosha) der Vedalehre; man nennt 2m deshalb so, weil man ihn durch die Nahrung am Leben erhält, eine Nahrung, die sich in Chylus-(rasa) bzw. in Blut-, Fleisch-, Fett-, Knochen-, Mark- und iamenbestandteile umwandelt. Der Jiva lebt in diesem Körper, wenn er sich im Wachzustand (jägrat) befindet.

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Der physisch-grobstoffliche Leib des Menschen setzt sich nach abendländischem Wissen aus gewissen Ingredienzien zusammen, die hauptsächlich aus Wasser, Gelatine, Fett, phosphorsaurem Kalk, Albumen und Fibrin bestehen; von diesen macht das Wasser etwa zwei Drittel des Gesamtgewichts aus. Diese wesentlichen Bestandteile hauen sich aus einfacheren, nichtmetallischen und metallischen Elementen auf, von denen die wichtigsten Sauerstoff (bis zum Betrage von etwa 32), Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Kalzium und Phosphor sind. Um noch einmal einen Schritt zurückzugehen: wenn auch die von einigen noch verteidigte Ansicht über die Unzerstörbarkeit der Elemente und ihrer Atome weiterhin aufrechterhalten wird, um den Charakter einer »auf Erfahrung beruhenden Wahr­ heit« zu wahren, so laufen doch kürzlich vorgenommene und bekannt gewordene Experimente darauf hinaus, die aus alter Zeit stammende Hypothese einer ein­ zigen Ursubstanz wieder aufzugreifen, einer Ursubstanz, die der Ursprung für diese verschiedenen Stoff-Formen sein könnte, und bei der die bisher zwar ver­ spottete doch mögliche Umwandlung des einen Elementes in das andere durchaus besteht; eben weil ein jedes nur ein Beispiel der vielfältigen Offenbarung einer dahinterhegenden gleichen Einheitlichkeit ist. Wissenschaftliche Forschungen neueren Datums haben ergeben, daß diese Grundsubstanz »Materie« in wissenschaftlichem Sinne nicht sein kann — d. h. nicht etwas sein kann, das Masse, Gewicht und Trägheit besitzt. Man hat nach den heute gültigen Hypothesen entmaterialisiert und wieder in den ursprünglichen Zustand zurückverwandelt zu einem Etwas, das sich von der uns durch die Sinne bekannten »Materie« weitgehend unterscheidet. Diese letzte unzerlegbare Substanz hält man für Äther im Bewegungszustand. Die naturwissenschaftliche Hypothese scheint gegenwärtig etwa diese zu sein: Der letzte und einfachste physische Faktor, aus dem das Universum entstanden ist, ist der sogenannte sich in sich selbst bewegende »Äther«, ist eine Substanz, die man als »Stoff« in wissenschaft­ lichem Sinne nicht mehr ansprechen kann. Die Schwingungen dieser Substanz geben vom realistischen Standpunkt aus gesehen Anlaß zu der Vorstellung: »Materie«. Materie ist also, trotz ihres Formenreichtums, im Grunde genommen eine einzige Zustandsform. Ihr letzthinniger Urstoff ist nach der Endanalyse von einheitlicher Struktur, und die Mannigfaltigkeit der Stoffvarianten untereinander kommt nur von den verschiedenen Bewegungen dieses unzerlegbaren Partikelchens und seiner aus ihm abgeleiteten Derivate. Bei der Annahme einer solchen Einheits­ basis ist es durchaus möglich, daß die eine Stoff-Form in die andere übergehen kann. Die hier geschilderte indische Theorie stimmt mit den von uns angegebenen abendländischen Vermutungen dahingehend überein, daß dasjenige, was letztere als wissenschaftliche oder wägbare Materie bezeichnen, nicht permanent existiert, und besagt andererseits, daß es gewisse Bewegungen, gewisse Kräfte (zahlenmäßig fünf) gibt, die dichte Materie hervorbringen und doch letzten Endes auf Äther (äkäsha) zurückführbar sind. Doch Äkäsha und Äther in wissenschaftlichem Sinne sind nicht in jeder Hinsicht das Gleiche. Der letztere (der Äther) ist kein »Stoff« mehr, sondern ist ein nicht weiter aufteilbares Substantielles, ist eine Substanz, die schwingende Bewegungen ausführen kann und als Medium für die Licht-

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Übertragung gilt. Äkäsha dagegen ist eine der Hauptkräfte, die sich aus der Urkraft (prakriti-shakti) herleiten. Objektiv gesehen ist er ein Schwingen170 der Prakriti-Substanz, ein Vibrieren der substantiellen Prakriti, von der er eine Umformung darstellt; und diese Umformung ist dann für das Inkrafttreten der anderen Wirkkräfte bestimmt. Schließlich ist der Äkäsha kein endgültiges Prinzip, sondern leitet sich als solcher, einschließlich seiner charakteristischen Eigenart (guna), mit der er die Sinnesorgane beeindruckt, vom übersinnlichen Tanmätra ab; und dieses Tanmätra leitet sich als solches vom mentalen »Ich«-machenden Prinzip (ahamkära), vom persönlichen Bewußtsein ab, das vom überpersönlichen jlva-Bewußtsein (vom Buddhi) als solchem ausgeht und von der Wurzelkraft, von der Prakriti-Shakti, von der Ursache und Basis aller Formen »stofflicher« Kraft oder »stofflicher« Substanz gespeist wird. Im Hintergrund des »Stoffes« wie die Seele herrscht die Schöpfungskraft (shakti) des Höchsten, sie ist die Ursache des Universums und gilt als das Bewußtsein als solches. Der Stoff beeindruckt den Jiva auf fünferlei Art, indem er in ihm die E m p­ findung des Riechens, resp. Schmeckens, Sehens, Tastens und Fühlens und des Hörens aufkommen läßt. W ie ich bereits ausführte, sind die Tanrhätras übersinnlicher Herkunft, weil sie Qualitäten in abstraktem Sinne sind, und weil die Sinnesorgane ihre A b ­ wandlungen auch nur in ganz bestimmten Objekten perzipieren. Diese Sinnes­ sonderheiten werden von den übersinnlichen Kategorien, von den Universals, hervorgebracht. Das Shabda-Tanmätra und seine Kombinationen mit den übrigen Tanmätras produzieren die stofflich-groben Bhütas (mahäbhüta); diese sind als Dinge phy­ sischer Größenordnung für die Sinnesorgane erkennbar und nähern sich der sinn­ lich gesondert wahrnehmbaren «Materie« abendländischer Definition. Diese fünf Mahäbhütas sind: Äkäsha (Äther), Väyu (Luft), Tejas (Feuer), Apas (Wasser) und PrithivI (Erde). Sie entfalten sich aus derjenigen Tanmätra-Einheit, die im Hinblick auf den sinnlich wahrnehmbaren Stoff als Masse (tamas) in Erscheinu g tritt und sich durch das stufenweis fortschreitende Massenwachstum und Neu­ verteilen der Kraft und Energie (rajas) auflädt. Der Endeffekt ist, daß ein jedes Bhüta gröber ausfällt als das ihm vorausgehende, bis schließlich das »Erdige« erreicht ist. Diese fünf Bhütas haben aber keine Beziehung zu den sogenannten »Elementen«, sie sind in Wirklichkeit überhaupt keine Elemente, weil sie sich vom Tanmätra ableiten. Dynamisch gesehen und objektiv betrachtet sollen sie (aus dem Äkäsha hervorgehend) fünf verschiedene Bewegungsformen darstellen, in welche die Prakriti sich differenziert: 1. eine nach allen Seiten gerichtete, nicht-hinderliche und überallhin K raft­ linien ausstrahlende Bewegung, die man symbolisch als »Haare Shivas«171 darstellt, und die das Operationsfeld (äkäsha) für die anderen Wirkkräfte abgibt; 2. eine querverlaufende Bewegung172 und Ortsveränderung im Raum (väyu); 3. eine nach oben gerichtete Bewegung, welche die Expansion, die räum­ liche Ausdehnung (tejas), veranlaßt;

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4. eine verkürzende Bewegung, welche die Zusammenziehung (apas) bewirkt; 5. schließlich eine Bewegung, die Kohäsion (Flächenanziehung) veranlaßt, die also mit ihrer typischen Hemmwirkung das Gegenteil zu dem nicht hinderlichen Äther darstellt, einem Äther, in dem sie existiert und aus dem sie und die anderen Tattvas ihren Ursprung nehmen.

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Die erste Bewegungsform wird, entsprechend ihrer Klangqualität (shabda guna), mit dem Gehör wahrgenommen173; die zweite erkennt man durch Betasten und Befühlen an ihrem Widerstand174; die dritte erkennt man als Farbe vermittels des Sehens175; die vierte Bewegung erkennt man durch den Geschmack am Aroma; und die fünfte erkennt man durch den Geruchssinn am Wohlgeruch, einem Wohlgeruch, der dem Stofflichen nur soweit anhaftet, als dieser am festen Zustand teilhat176. Das harte, feste, hinderliche »Erdige« ist ein Prinzip, das man riechen, schmecken, sehen und betasten kann, das in einem Raume existiert, den man über das Gehör — d. h. durch Hören der in ihm enthaltenen Klänge — sinn­ lich erfassen kann. Das geschmeidige »Wasser« kann man schmecken, sehen und räumlich anfassen. Das »Feuer« kann man im Raume sehen und fühlen — d. h., man kann es als Wärme konstatieren. »Luft« ist das, was man als solche im Raume wahrnimmt. Und am gehörten Klang erkennt man die Anwesenheit von »Äther«. Wenn diese Bhütas sich mischen, bauen sie das stoffliche Weltgebäude auf. In ihm setzt sich also jedes Ding aus allen Bhütas zusammen; wir finden deshalb in den Tantras Form, Farbe und Ton miteinander in einen Bezug gebracht, eine Wahrheit von tiefer ritueller Bedeutung. So hat jeder Sprachlaut und jeder Musikalton ein ihm genau zukommendes Klangbild, man hat es jetzt durch das Phonoskop177 für das Auge sichtbar machen können. Der Schwerhörige könnte so unter Zuhilfenahme seines Auges Klänge oder Töne wahrnehmen, und der Blinde könnte durch das Optophon mit dem Ohre lesen. Das ebenerwähnte Shästra bestimmt für die Tattvas verschiedene Farben und Figuren (mandalas), um sie dadurch näher zu charakterisieren. So wird Äkäsha durch ein transparent-weißes rundes Diagramm dargestellt, in welchem sich nach einigen Beschreibungen »Tüpfelchen« (chhidra) oder Löcher finden. Sie sollen die vom Äkäsha hervorgebrachten Lücken andeuten, weil der allesdurchdringende Äkäsha sich zwischen den aus ihm hervorgegangenen einzelnen Tattvas hindurch­ schiebt. Väyu wird durch ein sechseckiges rauchgraues Diagramm gekennzeichnet178; Tejas durch eine rote Dreiecksfigur; Apas durch ein weißes halbmondförmiges Diagramm; Prithivi wird durch ein gelbes Viereck dargestellt, das ja als Flächen­ wiedergabe des Würfels die räumliche Vorstellung gut veranschaulicht. In ganz ähnlicher Weise wird auch jedem einzelnen Devatä ein Yantra oder Diagramm zugeordnet, das die jeweils sich entfaltende Prakriti-Form — d. h. die Personifikation dieser speziellen Bewußtheit — andeutungsweise verkörpern soll. Der stofflich grobe Leib verkörpert demnach ein zusammengesetztes Gemisch der vom Äkäsha (»Äther«) Tattva sich ableitenden Mahäbhütas. Die als Teile dieser Gemische auftretenden Bhütas und Tanmätras durchdringen den Körper, doch die einzelnen Bhütas sollen in ganz bestimmten Körperregionen

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jeweils besondere Kraftzentren zur Verfügung haben. So gelten das »Erdzentrum« und das »WasserZentrum« als die beiden untersten Zentren (chakra) im Körper­ rumpf. Das »Feuer«(chakra) beherrscht die zentrale Bauchregion, und »Luft« (chakra) resp. »Äther«(chakra) dominiert in den darüberliegenden Regionen am Herzen bzw. am Kehlkopf. Diese fünf Tanmätras, fünf Bhütas und die für ihre Wahrnehmung bestimmten zehn Sinnesfunktionen (indriyas) sind die bekannten, in den Körperrumpf-Zentren durch Y oga absorbierbaren zwanzig groben Tattvas. Die restlichen vier, nämlich die subtilen Geistes-Tattvas (buddhi, ahamkära, manas, prakriti) haben ihre speziellen Wirkungsbereiche im K opf. Überdies können die Bhütas sich auch in anderen Körperteilen des Organismus in typischer Weise entfalten. So entwickelt sich Pritiv! zu Knochen oder Muskel; Apas zu Urin und Speichel; Tejas zu Hunger und Durst; Väyu als Greifen und Gehen. Feuer ist vielgestaltig, und man ehrt sein großes Mysterium durch viele Bezeichnungen. So manifestiert sich Tejas als Licht wie als Wärme, denn das gleiche Objekt kann, wie Helmholtz sagt, die Sinnesorgane auf verschiedene Weise beeindrucken. Derselbe Sonnenstrahl heißt Licht, wenn er das Auge trifft, heißt Wärme, wenn er die Haut trifft. Agni offenbart sich im häuslichen Feuer wie im Nabelfeuer (manipüra-Feuer); offenbart sich als Kämägni (Begierdenfeuer) im MülädhäraZentrum; zeigt sich als Vadavä oder Meeresleuchten und in der Wirbelsäule als »Aufblitzen« der Sushumnä. Stoff findet sich also in folgenden fünf Aggregatzuständen: ätherisch179, luftig180, feurig181, flüssig182 und fest183. Als Prithivi gilt nicht nur das, was der Volksmund »Erde« nennt. Jede feste (pärthiva), riechbare Substanz befindet sich im Prithivi-Zustand. Jede in flüssigem (äpya) Zustand befindliche Substanz ist Apas-haft, doch alles, was hier noch Kohäsivwiderstand leistet, rechnet man noch zum Prithivi. Dieses bezeichnet deshalb die Kohäsivschwingung, bezeichnet die Ursache für die Körperdichtheit, eine Dichtheit, von der die gewöhnliche Erde ein grobes Gemisch darstellt. Jedes Stoffliche von atmosphärisch-luftiger Beschaffenheit (väyava) gilt als im Väyu-Zustand befindlich. Als ElementarEdukte der kosmischen Materie entfalten sich alle diese (Aggregatformen) in ein Universum ungemein subtiler Bewegung. Objektiv betrachtet, sind es die Tattvas, die in den Indriyas das Riechen, resp. Schmecken, Sehen, Fühlen und Hören her vorrufen. Der stofflich-grobe Leib ist demnach eine Verbindung aus diesem mahäbhütaGemisch, er ist im Grunde genommen ableitbar vom Äther (äkäsha), der sich als solcher in der angegebenen typischen Weise entfaltet hat. Der oben beschriebene stoffliche wie auch der subtile Körper wird durch den aus der aktiven Energieform (kriyä shakti) des Lingasharira herstammenden Präna belebt und als ein Organismus zusammengehalten. Präna, das Vitalprinzip oder der Lebensodem, ist das spezielle In-Verbindung-Treten des Ätmä mit einem ganz bestimmten Stoffsystem; durch dieses Verhältnis wird der Ätmä systematisch aufgebaut, gestärkt und gekräftigt und dadurch ein geeignetes Werkzeug für das Erfahrungensammeln184. Dieses spezielle In-Verbindung-Treten ist nichts anderes als der individuelle Präna im Körper des Einzelwesens. Der allesdurchdringende kosmische Präna dagegen ist nicht der Präna in diesem groben Sinne,

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sondern bezeichnet den Brahman als den Urheber des individuellen Präpa. Der individuelle Präna bleibt auf den von ihm belebten Einzelkörper beschränkt und gilt in allen atmenden Kreaturen (pränl) als eine Manifestation der schöpferischen und erhaltenden Brahmantätigkeit, einer Tätigkeit, die in den Einzelwesen in der Devi Kundalinl zum Ausdruck kommt. Alle Lebewesen, ob Devatäs, Menschen oder Tiere, leben nur solange, wie Präna im Körper vorhanden ist. Er ist alle Lebensdauer schlechthin185. Was Leben eigentlich ist, ist in Indien wie anderswo seit je das Thema heißumstrittener Debatten gewesen186. Die Materialisten der Lokäyata Schule betrachteten das Leben als Resultat chemischer Elementarverbindungen, etwa in der Weise, wie die berauschende Eigenschaft der geistigen Getränke aus der Gärung des nicht­ berauschenden Reis und der Melasse hervorgeht, oder dachten es sich als unter dem Einfluß gelinder Erwärmung entstandene Urzeugung. Das wird von der Sämkhya-Schule in Abrede gestellt. Wenn man auch den Präna und seine fünf­ fache Funktion Väyu nennt, so ist nach Ansicht dieser Schule das Leben weder ein Väyu im Sinne einer biomechanischen Wirkkraft, noch ist es ein aus dem Impuls eines solchen Väyu sich ergebender reiner geistloser Bewegungsmechanismus. Nach der Ansicht dieser Schule ist Präna, die Vitalität, der Lebensodem, die funktionelle Zusammenarbeit von Seele und Sinnesorganen insgesamt, sowohl den sensorischen (jfiänendriya) wie den motorischen (karmendriya), woraus dann die Körper­ bewegung resultiert. Gleichsam wie mehrere in einen Käfig gesperrte Vögel dieses Gefängnis in Bewegung setzen können, wenn sie sich selbst bewegen, so ver­ anlassen Geistseele und Sinnesfunktionen, solange sie noch an ihre diesbezüglichen Arbeitsleistungen gebunden sind, die Bewegungen des Körpers. Leben ist demnach eine Resultante aus verschiedenartigen, nebeneinander konkurrierenden W irk­ kräften unterschiedlicher Prinzipien oder Kräfte im Organismus. Auch die Vedäntisten stehen auf dem Standpunkt, daß der Präna weder Väyu noch seine Auswirkung ist, verneinen aber, daß er die reine Resultante aus den konkomitanten Wirkkräften des Organismus daistelle und halten ihn vielmehr für eine separate unabhängige Urkraft, halten ihn für eine vom Universalbewußtsein angenommene »physisch-stoffliche« Zustandsform. Leben ist darum ein den ganzen Organismus durchdringendes subtiles Prinzipium; es ist nicht grober Väyu, ist aber doch wohl eine subtile Erscheinungsform einer dem Anschein nach unbewußt wirkenden Kraft, da ja alles, was nicht Ätmä oder Purusha ist, nach dem Mäyäväda Vedänta und nach dem Sämkhya unbewußt oder nach abendländischem Sprachgebrauch »stofflich« (jada) genannt wird187. Der stofflich-grobe Außenleib * ist verschiedenartig (parichchhinna), er setzt sich aus ganz bestimmten und gut definierbaren Anteilen zusammen. Andererseits ist das im Innern des AnnamayaSelbst gelegene Präpamaya-Selbst ein homogenes ungeteiltes Ganzes (sädhärana), das den physischen Körper gänzlich durchdringt (sarvapinda-vyäpin). Es ist nicht wie Pinda, der mikrokosmische physische Körper, in unterschiedliche Körper­ regionen unterteilt (asädhärana). Im Gegensatz zu diesem hat es keine für gewisse Zwecke besonders entwickelte Organe mit spezifischer Funktion. Es ist eine in jedem Körperteil gegenwärtige homogene Einheitlichkeit (sädhärana), die den Körper als das innere Selbst beseelt. Der den Körper durchflutende V ä y u 188 ist

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die selbsterzeugte Manifestation, die subtile, unsichtbare und allesdurchdringende göttliche Kraft ewigen Lebens. Er hat seinen Namen von der Tatsache her, daß er das ganze Universum durchflutet. An sich unsichtbar, ist er aus seinen W ir­ kungen jedoch erkennbar. Denn er begrenzt, er bestimmt Geburt, Wachstum und Zerfall aller belebten Organismen und empfängt als solcher die Huldigung alles erschaffenden Seins. Als Lebensväyu ist er in jedem Augenblick im Gange, indem er als Nervenkraft in stetem Strom den Organismus durchfließt. Unter normalen Bedingungen unterhält er ein Gleichgewichtsverhältnis zwischen den verschiedenen Doshas189und Dhätus189, d. h. zwischen den Urprinzipien des Körpers. Der KörperVäyu verteilt sich je nach den unterschiedlichen Lokalisationen und Funktionen auf fünf Hauptabschnitte, wie das bei den sogenannten Pitta-190 und Kapha-190 Prinzipien der Fall ist. Der in seinem Körperaspekt als Präna (als Universalkraft des Lebensodems) bekannte Väyu teilt sich beim Eintritt in jedes einzelne Indi­ viduum in zehn Unterfunktionen (vritti) auf, von denen fünf wichtig sind. Die erste Funktion, das Atmen, trägt die gleiche Bezeichnung (präna) wie die Kraft* als Ganzes gesehen: es handelt sich hier um eine Funktion, bei der die atmo­ sphärische Luft nach Entzug der sie erfüllenden Lebenskraft aus dem Körper­ system wieder ausgeatmet w ird191. Auf der physischen Ebene manifestiert sich im Lebewesen der Präna als Atem durch den Einhauch (sa) die Shakti, und durch den Aushauch (ha) den Shiva. Die Atmung als solche ist ein Mantra, es ist das bekannte, nicht-rezitierte Mantra (ajapä-mantra), denn es vollzieht sich unwillkürlich192. Die göttliche Strömung ist die Bewegung Ha und Sa. Diese auf allen Lebens­ ebenen vorhandene Bewegung wird für die irdische Sphäre (bhürloka) durch die Sonne geschaffen und aufrechterhalten; denn der Sonnenatem ist die Ursache des menschlichen Atems mit seinen zentrifugal und zentripedal gerichteten Bewegun­ gen, er ist das im Menschen sich vollziehende Gegenstück des kosmischen Hamsah, des Shiva-Shakti-Tattva, das die Seele des Universums verkörpert. Die Sonne ist ja nicht nur Zentrum und Stütze des Sonnensystems193, sondern ist auc . die Quelle für alle verfügbare Energie, ist die Quelle für das gesamte physische Leben auf Erden. Den Sonnenschein begleitend, geht vom Himmelskörper eine gewaltige unsichtbare Strahlung aus — sie ist die Vorbedingung für alles pflanzliche und tierische Leben. Diese unsichtbaren Strahlen unterhalten nämlich nach Ansicht der Wissenschaft das Mysterium allen physischen Lebens. Die Sonne, die große Leuchte, ist der Leib der Sonnengottheit, ist die erhabene Manifestation der inneren Geistigen Sonne194. Apäna, der nach unten tendierende und dem Präna entgegengerichtete «Atem­ strom«, beherrscht die Ausscheidungsfunktionen; Samäna entfacht das Körper­ feuer und steuert die Verdauungsprozesse und die Assimilation; vyäna, der diffuse »Atem«, ist im Körper überall zugegen, bewirkt Teilung und Diffusion, verhindert die Körperauflösung und hält den Körper in allen seinen Teilen zusammen; und Udäna, der aufsteigende Väyu, ist der sogenannte »nach oben strömende Atem«. Präna findet sich im Herzen; Apäna im Anus; Samäna im Nabel; Udäna in der Kehle; und Vyäna durchdringt den ganzen K örper195. Die Bezeichnung »Nabel« usw. besagt allerdings nicht, daß der Väyu buchstäblich im Nabel als solchem,

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sondern in der so bezeichneten Körpersphäre — d. h. in der Bauchregion und in dem ihr zugehörigen Zentrum (manipüra chakra) — anzutreffen ist. Die fünf minderen Väyus heißen: Näga, Kürma, Krikara, Devadatta und Dhananjaya; sie äußern sich im Schluchzen, im öffn en und Schließen der Augen, in der Ver­ dauung196, im Gähnen und in jenem Väyu, »der selbst den Leichnam nicht ver­ läßt«. Wissenschaftlich könnte man die Präna-Funktionen etwa folgendermaßen defi­ nieren: Aneignung, Verwendung (präna); Ausstoßung (apäna); Assimilation, Ein­ verleibung (samäna); Verteilung der assimilierten Nahrung (vyäna); Sprach­ äußerung (udäna). Der Präna zeigt sich in den unwillkürlichen Reflexäußerungen des Organismus, während die Indriyas einen Aspekt seiner willkürlichen Tätigkeit zutage treten lassen. Wenn man den individualisierten Präna — also das Prinzip, das den tierischen Organismus während seines irdischen Daseins am Leben erhält — als ein un­ abhängig selbständiges Prinzip ins Auge faßt, dann kann man sagen, daß er sich als eine subtilere Wirkkraft erweist als der von ihm belebte irdische Stoff. Mit anderen W orten : die Weltorganismen werden nach dieser Theorie vom Ätmä ins Dasein gerufen durch den irdischen Präna, durch eine der Erscheinungsweisen derjenigen Urenergie, die sich als Shakti in der Abgrundtiefe des allesdurchdringenden Ätmä findet und auch von daher ihren Ursprung herleitet. Der Ätmä als solcher hat keine Entwicklungsstufen oder Zuständlichkeiten, doch im irdischen Sprachgebrauch spricht man davon. So erwähnt das Mändukya Upanishad197 die vier Brahman-Aspekte (päda). Chaitanya, das Körperbewußtsein, ist das dem — individuellen wie dem kol­ lektiven — stofflich-groben Körper, Hauchkörper und Ursachenkörper immanente Bewußtsein, es überschreitet sie. Ein und dasselbe Chit durchdringt und über­ schreitet alle Dinge, doch man gibt ihm verschiedene Namen, um seine im Jiva auftretenden unterschiedlichen Aspekte hervorzuheben. Und weil das Chit un­ veränderlich ist, hat es als solches keine Stufen; denn Gradunterschiede kann es nur in den Produkten der sich abwandelnden Prakriti-Shakti geben. Vom JivaAspekt aus gesehen existieren aber mehrere Entwicklungsphasen, die man, auch wenn sie durch dasselbe Chit beseelt werden, von dieser Seite aus betrachtet als Bewußtseinsstufen ansprechen kann198. In der manifestierten W elt erscheint das Bewußtsein in den folgenden drei Zuständlichkeiten (avasthä)199: als Wachzustand (jägrat), als Traumzustand (svapna) und als traumloser Schlaf (sushupti). Im Wachzustand wird der Jiva sich der Außendinge (bahihprajna) bewußt und genießt diese groben Objekte vermittels der Sinnesorgane (sthülabhuk) 20°. Man nennt den Jiva in diesem Zustand »Jägari«, d. i. einer, der sich mit dem groben Leib, dem sogenannten Vishva, befaßt. Hier befindet sich das Jiva-Bewußtsein im groben Leib. Im Traumzustand (svapna) wird der Jiva sich der Innenobjekte (antabprajna) bewußt, er genießt.hier das Subtile (praviviktabhuk) — d. h. er erfreut sich der­ jenigen Eindrücke, die sich durch die im Wachzustand wahrgenommenen Objekte dem Gedächtnis eingeprägt haben. Die Traumobjekte haben nur für den Träumer

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eine Außenwirklichkeit, während die Realität der im Wachzustand perzipierten Objekte für alle die gilt, die diesen Zustand innehaben. Der Geist hört auf, frische Eindrücke zu registrieren, er verarbeitet nur die zuvor im Wachzustände wahr­ genommenen. Jener erste Zustand (jägrat) ist der Zustand der Sinnes­ perzeption. Hier dagegen lebt das Ich in einer geistigen Ideenwelt, und das JivaBewußtsein verlagert sich in den Hauchkörper. Diese beiden Bewußtseinszustände sind Zuständhchkeiten der Duahtät, man erfährt in ihnen eine Vielheit201. Der dritte Zustand, der traumlose Schlaf (sushupti), wird als ein Zustand defi­ niert, der weder Wachen noch Träumen ist, in ihm werden die verschiedenen Erfahrungen der beiden vorhergehenden Zustände in eine einfache Erfahrung verschmolzen (eklbhüta), wie etwa das Allerlei des Tages, ohne daß es als solches erhscht, im Dunkel der Nacht verlorengeht. Das Bewußtsein ist hier weder objektiv (bahihprajna) noch subjektiv (antabprajna), es zeigt sich als ein homo­ genes undifferenziertes Bewußtsein ohne ein anderes Objekt als sich selbst (prajnänaghana). Im W achen ist das Jlva-Bewußtsein an die Geistseele und an die Sinnesorgane gebunden; im Traum sind die Sinneswahrnehmungen abgeschal­ tet; im traumlosen Schlaf hat sich auch die Geistseele zurückgezogen. Der Jiva, hier auch Präjna genannt, ist während dieser Zeitspanne in den Ursachenkörper — d. h. in die mit dem Bewußtsein untrennbar verknüpfte Prakriti — auf­ gegangen; er befindet sich hier im »Keimbewußtsein«, aus dem der subtile und grobe Leib ihren Ursprung nehmen. Dieser Zustand ist ein Wonnezustand. Der Jiva ist sich nichts bewußt202, und beim Erwachen wird er nur der Vorstellung inne: »Glücklich schlief ich; ich wußte von nichts«203. Es handelt sich demnach um einen Zustand, der die Empfindung des Nicht-Seins zum Objekt hat204. Während die beiden erstgenannten Zustände die groben resp. subtilen Objekte verkosten lassen, bringt dieser den Genuß der reinen Wonne (änandabhuk), d. h. klare Wonne ohne ein Objekt. Der Herr erfreut sich stets der reinen Wonne, in den beiden ersten Zuständen aber genießt er die Wonne über die Objekte. Hier genießt er die Subjekt- wie die objektlose Wonne als solche. In diesem Sinne nähert sich der Sushupti-Zustand dem Brahman-Bewußtsein. Aber er ist es nicht in seiner ganzen Reinheit, denn er ist wie die beiden anderen Zustände — die ersten zwei mit Vikriti, der letzte mit Prakriti — mit Unwissenheit (avidyä) verknüpft. Jenseits davon gibt es darum noch den »Vierten Stand« (turiya). Hier erwirbt man durch Samädhi-Yoga die reine unbefleckte Erfahrung, die sogenannte Shuddha-vidyä. Der im Sushupti-Zustand befindliche Jiva soll sich im Kausal­ körper (kärana), der im Turlya-Zustand befindliche Jiva soll sich im großen Kausalkörper (mahäkärana) aufhalten205. Jenseits davon, so sagen einige, gäbe es noch einen fünften Stand: »jenseits des Vierten« (turlyätlta), man gewinne ihn durch standhaftes Verharren im Vierten. Hier wird das Ishvarra Tattva erreicht. Es handelt sich um den Unmesha-Bewußtseinszustand206. von dem das Sadakhya Tattva das Nimesha ist206. Darüber hinausgehend »erreicht der Fleckenlose die höchste Gleichförmigkeit« und verschmilzt in den erhabenen Shiva. Die oben geschilderte Einteilung — in Vishva,-Tai jasa und Präjna — gilt im Hinblick auf den individuellen Jiva. Es gibt aber dann noch den kollektiven oder kosmischen Jiva, der sich aus der Summe der Einzeljlvas einer jeden besonderen

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Bewußtseinsebene zusammensetzt207. Im Makrokosmos nennt man diese KollektivJlvas208 »Vaishvänara« (die mit dem individuellen Vishva-Körper Korrespondie­ renden), »Hiranyagarbha« und »Süträtmä«209 (die mit dem individuellen TaijasaKörper Übereinstimmenden); und Ishvara ist die Bezeichnung für die Kollektiv­ form der als Präjna bezeichneten Jivas. Kosmisch gesehen sind sie die Bewußtseinhabenden Gottheiten der objektiven, resp. der subjektiven und kausalen Welten, hinter denen sich das erhabenste Bewußtsein verbirgt. Höchste Yoga-Erfahrung und endgültige Erlösung gewinnt man, wenn man über die ersten drei Bewußtseinszustände der täglich-gewohnten Erfahrung hinausgeht. Der Yogaprozeß ist ein Entwerden, ein Wiedereinfalten in den Urquell, das heißt, er ist die Umkehr der aus ihm entfalteten schöpferischen Entwicklung. Die Reihenfolge der Edukte ist diese: Buddhi Ahamkära, aus diesem Manas, Indriya und Tanmätra; und aus dem Letzteren das Bhüta. Als Sitz für den Urquell im menschlichen Körper gilt das Cerebrum, wo sich die hauptsächlichste Bewußt­ seinsentfaltung abspielt; den Sitz der Geistseele postuliert man zwischen die Augenbrauen, und die Orte für den physischen Stoff verlegt man in die fünf Zentren von der Kehle abwärts bis an die Basis des Rückgrats. Hier beginnt die Wiedereinfaltung, und die verschiedenen Stoffklassen werden der Reihe nach ineinander aufgeschmolzen, dann in die Seele aufgelöst, und die Seele schließlich in das Bewußtsein übernommen, so wie ich das weiter unten im Kapitel V be­ schrieben habe. Auf die Frage, ob der Mensch hier und jetzt den höchsten Wonnestand erreichen könne, lautet im Y oga die Antwort »Ja«.

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IV. B E W U SSTSE IN

ALS

K L A N G F O R M

(MANTRA)

In der Texteinleitung und im H aupttext begegnen uns die Begriffe Shabda, Varna und Mantra. Die Buchstaben (varna) des Alphabets sollen, wie das aus den Abb. I I -V I I hervorgeht, über die Lotosblätter sämtlicher Körperzentren ver­ teilt sein. In einem jeden Lotos gibt es außerdem noch ein Keim-Mantra (bija) für das Tattva des betreffenden Zentrums. Die Kundalini ist sowohl Licht (jyotirmayl) wie Mantra (mantramayi) 21°, und man benutzt das Mantra, um sie _ zu erwecken. Im indischen Shästra wird wohl kaum ein anderer Begriff so mißverstanden wie das Mantra. Der Begriff ist ein so gewichtiger Bestandteil im Tantra-Shästra, daß man dieses zuweilen auch als Mantra-Shästra betitelt. Orientalisten und andere übersetzen Mantra meist mit »Gebet«, »Verehrungsformel«, »mystische Laute« usw. Mag die Mantristik nun hinreichend begründet sein oder auch nicht, selbst im letzten Falle ist sie durchaus nicht die Albernheit, für die manche sie hinstellen möchten. Die so Denkenden dürften wohl mit den gebetsartigen Mantras, deren Sinn sie etwa noch begreifen, eine Ausnahme machen, denn mit dem Gebet sind sie ja vertraut. Aber selbst eine solche Würdigung beweist noch eine mangelhafte Einsicht. Ein Mantra hat nichts zwangsläufig Heiliges oder Andachtsvolles auf sich. Das Mantra ist eine unparteiisch für jeden Zweck brauch­ bare Wirkkraft (mantrashakti). Ein Mensch könnte durch Mantra verletzt oder gar umgebracht werden211; nach der Ansicht einiger soll durch das Mantra eine Art Union mit der physischen Shakti eintreten212; in der sogenannten Vedhadikshä — einer Initiation — gibt es durch das Mantra eine so gewaltige Kraftübertragung vom Guru auf den Schüler, daß dieser beim Kräfteeinbruch in Ohnmacht fallen soll213; durch Mantra könnte und — wenn ideale Voraussetzungen gegeben sind — sollte man das Homa-Feuer entzünden214; durch Mantra wird der Mensch erlöst usw. Kurz, Mantra ist eine K raft (shakti); eine K raft in Klangform. Die W ort­ wurzel »man« bedeutet »denken«. Die schöpferische Gedankenmacht erfährt im Abendlande gegenwärtig wieder eine zunehmende Beachtung. Gedankenlesen, Gedankenübertragung, hypnotische Suggestion, magischer Bann (mokshana) und Zauberschutz (grahana)215 sind bekannte Begriffe und werden, nicht immer mit gutem Erfolg, praktiziert. In Indien ist die Lehre uralt, und sie stützt sich auf Praktiken, die man schon in den Tantras finden kann, von denen man im allgemeinen aber etliche geheim hält, um sie vor Mißbrauch zu schützen216. Was man im Westen aber nicht begreift, das ist die Sonderform der Denkkunst, das Mantravidyä. W er mit der abendländischen Definition ähnlicher Begriffe vertraut ist, wird schneller begreifen

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können217, wenn ich sage, daß das Denken nach der hier beschriebenen indischen Lehre (wie die Seele, deren Tätigkeit es darstellt) eine Kraft, eine Shakti, ver­ körpert. Darum eben ist es so real wie die materiellen Außenobjekte. Denn beide sind ja projizierte Schöpfungsgedanken des Weltdenkers. Die Wortwurzel »man« = »denken« ist auch die Wurzel für das Sanskritwort »Mann« oder »Mensch«, bezeichnet also ein Wesen, das als das einzige in der ganzen Schöpfung im eigent­ lichen Sinne ein Denker ist. Mantra ist offenbarter Shabdabrahman. Was aber ist nun Shabda, der »Klang« ? Das Shäkta-Tantra Shästra folgt im Hinblick auf das Shabda hier der Mlmänsä-Lehre, freilich, um sie seiner Shaktilehre anzugleichen, mit den entsprechend notwendigen Abänderungen. Klang (shabda), als Eigenschaft (guija) dem Äther (äkäsha) zugehörig und vermittels des Hörens wahrgenommen, ist von zweifachem Charakter: in Buchstaben ausdrückbarer Klang (varnätmaka) und in Buchstaben nicht ausdrückbarer Klang oder Dhvani (dhvanyätmaka shabda)218. Diese letzte Klangform entsteht durch das Aneinanderstoßen zweier Dinge und ist hier unwichtig. Shabda, der Klang aber, der Anähata ist (ein auf den Herzlotos bezogener Ausdruck), ist wohl­ verstanden Brahman-Kiang und entsteht nicht durch das Zusammenschlagen zweier Dinge. Der in Buchstaben ausdrückbare Klang besteht aus Sätzen (väkya), W orten (pada) und Buchstaben (varna). Ein solcher Klang hat Sinn219. Der in Sprache manifestier bare Shabda soll ewig währen220. Von den Naiyäyikas wird das aber in Abrede gestellt; sie sind der Meinung, er sei vergänglich. Ein W ort wird ausgesprochen und ist vorbei. Das Mimämsä verneint diese Ansicht und sagt, man habe die Wahrnehmung des Buchstabenklanges vom Buchstabenklang als solchem zu unterscheiden221. Die Klangperzeption sei auf Dhvani zurückführbar, ein Dhvani, das beim Vorbeistreichen des Luftstroms an den Stimmorganen — nämlich an Kehlkopf, Gaumen und Zunge — als Luftschwingungen zustande­ käme. Ehe Dhvani eintreten kann, muß ein Ding erst gegen ein anderes anstoßen. Das reine Schlagen, das Schwingen an sich, macht noch nicht den in Buchstaben ausdrückbaren Shabda aus. Es manifestiert ihn nur. Die Lautbuchstaben ent­ stehen durch das Zusammenspiel der mit Luft in Berührung kommenden Stimm­ organe, und dieses Zusammenspiel ist der sinngemäß entsprechende Ausdruck für die Gemütsbewegung, für die Idee, die sich in dieser Weise als hörbarer Klang durch den Willen nach außenhin Ausdruck zu verschaffen sucht222. Diese Wahr­ nehmung eben ist das Vergängliche, denn Dhvani, das Vorstellungen in Sprache umsetzt, ist so beschaffen. Der in Buchstaben ausgedrückte Klang als solcher aber, der ist unvergänglich. Er entsteht ja nicht in dem Augenblick, wo er wahr­ genommen wird. Er wird nur durch Dhvani offenbar. Eine solche Offenbarung existiert vorher wie nachher, etwa wie ein durch die Mißhelligkeit eines Blitz­ strahls enthüllter d unkler Baum weder in diesem Zeitpunkt entsteht noch zu existieren aufhört, wenn er nach dem Verlöschen seines Offenbarers — des Blitzes nämlich — nicht mehr wahrgenommen werden kann. Die mit den Sprechorganen in Berührung kommende Luft enthüllt nun den Klang in Form der Alphabet­ buchstaben und deren Arrangement als W orte und Sätze. Die Buchstaben werden durch das Bestreben der zu sprechen wünschenden Person für das Hören hervor­ gerufen und dem Ohr anderer durch die Dhvani-Eunktion — des nicht in Buch­

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staben ausgedrückten Klanges — hörbar gemacht. Da dieser Klang nur ein Offen­ barer ist, ist der in Buchstaben ausgedrückte Klang etwas anderes als sein Offen­ barer. Bevor ich nun die verschiedenen Entwicklungsformen des Shabda dem Wesen nach beschreibe, muß ich erst die Perzeption nach der indischen Psychologie verständlich machen. Der Jiva ist in jedem Augenblick zahllosen und aus allen Richtungen des Universums flutenden Kraftströmungen ausgesetzt. Nur die­ jenigen, die durch sein Manas eliminiert werden und seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, kommen ihm zu Bewußtsein. Das Manas beachtet den einen oder anderen Sinneseindruck und übermittelt ihn dem Buddhi. Wenn nun der Geist ein Objekt (artha) angeboten bekommt und es gewahr wird, formt er sich zum Modell des beachteten Gegenstands. Man nennt das eine Geistesvritti (Denkfluxion), und sie zu unterdrücken gilt als Ziel des Yoga. Als Vritti ist die Seele somit ein Abbild des Außenobjekts. In soweit als sie noch ein solches Abbild ist, gilt sie ebensosehr als Objekt wie das äußerlich wahrgenommene Ding. Dieses — d. h. das physische Objekt — nennt man das grobe Objekt (sohüla artha), _ jenes, d. h. den Geisteseindruck, nennt man das subtile Objekt (sükshma artha). Neben dem Objekt gibt es freilich noch die es wahrnehmende Geistseele. Daraus folgt, daß die Seele zwei Aspekte hat: in dem einen Aspekt ist sie die Wahr­ nehmende, in dem anderen ist sie das unter der Gestalt des mentalen Abbilds (vritti) geistig Wahrgenommene, ist sie das Wahrgenommene, das bei der Schöp­ fung seiner Außenprojektion vorausgeht und nach der Schöpfung als sinnlich wahrnehmbarer Eindruck eines physisch-groben Objekts im Geiste erkannt wird. Der Geisteseindruck stimmt mit dem physischen Objekt genau überein, denn das physische Objekt ist ja faktisch nur eine Projektion der kosmischen Vorstellung und hat freilich die gleiche Realität wie der Geist; nicht mehr und nicht weniger. Darum ist der Geist sowohl Erkenner (grähaka) wie Erkanntes (grähya), Enthüller (prakäshaka) wie Enthülltes (prakäshya), Bezeichner (vächaka) wie Bezeichnetes (vächya). Wenn der Geist ein Objekt wahrnimmt, verwandelt er sich in die äußere Form dieses Objekts. So wird zum Beispiel der Geist, wenn er über die von ihm verehrte Gottnatur (Ishtadevatä) nachsinnt, durch die beharrliche Anhänglichkeit schließlich in das Ebenbild dieses Devatä abgewandelt. Dadurch, daß man in dieser Form dem Devatä die Besitznahme der Geistseele auf lange Zeit gestattet, wird diese so rein wie der Devatä. Das ist ein wesentliches Prinzip der tantrischen Sädhanä, der religiösen Praxis. Das wahrgenommene Objekt heißt Artha — ein Terminus, der sich von der Wurzel «ri« = erwerben, erkennen, genießen, ableitet. Artha ist das, was erkannt wird und demzufolge zum Genußobjekte wird. Als Artha — d. h. als der geformte Mentaleindruck — ist die Seele ein Spiegelbild des Außenobjekts, des groben Artha. Die innere subtile Mentalform entspricht genau dem Außenobjekt, dem Artha. Der erkennende Seelenaspekt heißt Shabda oder Näma (Name), und der Aspekt, in welchem sie zu ihrem eigenen Objekt, d. h. zum Erkannten, wird, heißt Artha oder Rüpa (Form). Das physische Außenobjekt, von dem das Eben­ genannte — im Individuum — ein Ebenbild darstellt, ist ein ebensolches Artha oder Rüpa, und die ausgesprochene Sprache ist Außen-Shabda. Subjekt und Objekt sind also vom Mantra-Aspekt aus gesehen Shabda und

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Artha-Begriffe, die dem vedantischen Näma und Rüpa, d. h. dem Begriff und dem objektivierten Begriff, entsprechen. W ie sagt doch der Vedanta: Die ganze Schöpfung ist Näma und Rüpa. Seele ist Wirkkraft (shakti), und ihre Funktion äußert sich im Unterscheiden und Feststellen (bhedasamsarga-vritti shakti). Der Körper ist kausal, subtil und grob, und so beschaffen ist auch der Shabda, von dem man folgende vier Eigenschaften (bhäva) unterscheidet: parä, pashyanti, madhyamä und vaikharl — Bezeichnungen, die im Abschnitt V dieser Einleitung näher erläutert werden. Parä-Klang herrscht, bevor der Mahäbindu sich in die wirkliche Manifestation differenziert. Er ist der im mülädhära-Körperzentrum vorhandene bewegungslose Kausalshabda in der Kundalini. Der Klangaspekt, in dem sich der Shabda mit einer ganz allgemeinen — d. h. nicht näher spezi­ fizierten — Bewegung (sämänya-spanda) eben zu regen beginnt, heißt Pashyanti, sein Wirkungsbereich erstreckt sich vom Mulädhära bis zum nächsthöheren Zentrum bis zum Manipüra Chakra. Er assoziiert sich hier mit dem Manas. Beide zusammen verkörpern den noch bewegungslosen und den zuerst sich regenden Ishvara-Aspekt des Shabda. Der Madhyamä-Klang ist mit Buddhi (Vernunft) verknüpft. Er repräsentiert den Hiranyagarbha Shabda (hiranyagarbharüpa), der sich vom Pashyanti bis zum Herzen hin erstreckt. Sowohl der Madhyamä-Klang, der also die vom Erkenntnis­ vermögen der Seelentätigkeit vollzogene innerliche »Namengebung« darstellt, wie auch sein Artha, sein subtiles Objekt (sükshma artha) gehören zum Mentalkörper oder Hauchkörper (sükshma oder linga sharira). Sinnesperzeption beruht auf Unterscheiden und Feststellen. Bei der Objektwahrnehmung ist der identifizie­ rende und unterscheidende Seelenanteil, also der erkennende Seelenaspekt, subtiles Shabda, und der die (mit dem Außending genau übereinstimmende) Objektform annehmende Seelenanteil ist subtiles Artha. Die Objektperzeption ergibt sich demnach aus der Simultanfunktion des Geistes in seinem zweifachen Aspekt als Shabda und als Artha, die beide in einem unauflöslichen Verhältnis als Erkenner (grähaka) und Erkanntes (grähya) zueinander stehen. Beide sind sie dem Hauch­ körper zugehörige Begriffe. In der Schöpfung erschien als erstes Madhyamä Shabda. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein Außen-Artha. Der kosmische Geist projizierte dann dieses innere Madhyamä Artha in die sinnliche Erfahrungs­ welt und bezeichnete es mit dem ausgesprochenen W ort (vaikharl shabda). Der letzte Begriff, das Vaikharl Shabda, ist die im Kehlkopf sich entwickelnde und durch den Mund hervorkommende ausgesprochene Sprache. Das ist das Virät Shabda. Vaikharl Shabda bezeichnet also die Sprache und ist der in Buchstaben ausgedrückte grobe Klang. Sein ihm entsprechendes Artha ist das durch die Sprache bezeichnete, physisch stofflich-grobe Objekt. Es gehört zum groben Körper (sthüla sharira). Madhyamä Shabda ist die in der Seele sich vollziehende Gemütsbewegung, ist die Ideenbildung in ihrem Erkenntnisaspekt — und Madhyamä Artha ist der vom stofflich-groben Objekt hervorgerufene Mentaleindruck. Der innere Denkvorgang in seinem Shabdärtha-Aspekt und sowohl von seinem erkennenden Aspekt (shabda) wie von seinem erkannten subtilen Objekt (artha) aus gesehen, gehört dem Hauch­ körper (sükshma sharira) an. Die Ursache dieser beiden ist die dem regungslosen

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Urgrund enttauchende und in Richtung spezieller Ideenbildung (pashyantl) ver­ laufende erste Allgemeinbewegung, ist Parashabda, die höchste Sprache. Zwei Erscheinungsformen der inneren, der verhüllten Sprache, nämlich die mit der Gemütsbewegung einhergehende kausale Sprachform und die subtile Sprachform, gehen also voraus und münden schließlich in die ausgesprochene Sprache. Die inneren W ortformen des ideenbildenden Denkvorgangs bedingen den subtilen Aspekt, und der ausgesprochene Klang bedingt den groben Aspekt des Mantra, eines Mantra, das das manifestierte Shabdabrahman darstellt. Das grobe Shabda, das man auch Vaikhari Shabda, die ausgesprochene Sprache, nennt, und das grobe Artha, nämlich das durch diese Sprache bezeichnete phy­ sische Ding, sind das durch die Initialtätigkeit des Shabdabrahman in die grobe sinnliche Wahrnehmungswelt hineinprojizierte subtile Shäbda bzw. subtile Artha. Darum bezeichnet das Shabda in der grobphysischen W elt die Sprache — das heißt, es besteht aus Sätzen, W orten und Buchstaben, die die Gedanken zum Ausdruck bringen und Mantra sind. In der Subtilwelt oder Mentalwelt ist Madhyamä Shabda der in seinem Aspekt als Erkenner «bezeichnende« Geist, und Madhyamä Artha ist der als Mentalobjekt erkannte Aspekt desselben Geistes. Man definiert es als den Außenbereich der Geistform. Es besteht also eine Ähnlich­ keit mit dem Traumzustande (svapna), so wie Parashabda dem kausalen traum­ losen Zustand (sushupti) und Vaikharl dem Wachzustände (jägrat) entsprechen. Das mentale Artha ist ein Samskära, d. h. ein dem Hauchkörper durch die vor­ gängige Erfahrung aufgeprägter Eindruck, den der Jiva sich ins Gedächtnis zurückruft, sobald er über die Welterfahrung wieder Klarheit gewinnt und sich auf die im kosmischen traumlosen (sushupti), die Auflösung (mahäpralaya) dar­ stellenden Zustande vorübergehend verlorengegangene Erfahrung wieder besinnt. W odurch wird eigentlich dieses Samskära erweckt ? Als Wirkung (kärya) muß es ja eine Ursache (kärana) haben. Diese Kärana ist Shabda, der Name (näma), der — sei er nun subtil, sei er grob — mit diesem besonderen Artha genau überein­ stimmt. Wenn man das W ort »ghata« ausspricht, ruft es im Geiste die Vorstellung eines bestimmten Objektes hervor — bewirkt es eine Erschütterung (Fluxion in der Denksubstanz) —, so wie es das Vorzeigen dieses Objektes tun würde. Im Hiranyagarbha-Zustand wirkte das Shabda als Samskära sich dahin aus, daß es geistige Bilder hervorrief. Die ganze W elt ist demzufolge Shabda und Artha, d. h. Name und Form (näma rüpa). Diese beiden Begriffe sind untrennbar m it­ einander verknüpft. Kein Shabda ohne Artha, kein Artha ohne Shabda. Das griechische W ort »Logos« bezeichnet gleichfalls das mit dem Denken verbundene W ort. Und so kommt eine doppelte Schöpfungsreihe zustande: Shabda und Artha, Ideen und Sprache einschließlich ihrer Objekte. Das Ausgesprochene als das Vernehmbare — die Shabda-Manifestation nach außen hin — kennzeichnet die Shabda-Schöpfung. Die Artha-Schöpfung setzt sich entweder aus den durch das mentale physische Sehvermögen wahrgenomme­ nen inneren oder äußeren Objekten zusammen. Vom kosmisch schöpferischen Standpunkt aus gesehen kommt der Geist an erster Stelle, aus ihm entfaltet sich dann die physische W elt je nach den zur Reife gelangenden Samskäras, die schließlich zum Dasein des speziell existierenden Universums geführt haben.

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Darum geht das mentale Artha dem physischen Artha zeitlich voraus, denn dieses ist von jenem eine Evolution in die stofflich-grobe Materie. Dieser Mentalzustand stimmt überein mit dem Traumzustand (svapna), wo der Mensch nur in der Ideenwelt lebt. Nach der Erschaffung, einer Erschaffung, die dem Wachzustände (jägrat) entspricht, erlebt das Individuum die bereits bestehende Übereinstimmung von Name und Objekt. Die geäußerte Sprache ist ein Offenbarwerden der inneren Namengebung, ist ein Offenbarwerden des Denkvermögens. Dieser Denkvorgang verläuft gleich­ artig bei den Menschen aller Rassen. Ob ein Engländer oder ein Inder an ein Objekt denkt, das Bild ist für beide das gleiche, mag es nun durch das Objekt selbst, oder vielleicht nur durch die Aussprache seines Namens hervorgerufen sein. Deshalb kann vielleicht ein Gedankenleser, wenn er sein Hirnzentrum mit dem Zentrum eines andern »in Rapport« bringt, die verborgene »Sprache«, d. h. die Gedanken des andern, auch wenn er die von ihm gesprochene Sprache nicht ver­ steht, erkennen. Während also der Denkvorgang bei allen Menschen gleichartig verläuft, ist seine Erscheinungsweise als Vaikharl Shabda unterschiedlich. Uber­ lieferungsgemäß gab es früher einmal eine Universalsprache. Dem biblischen Berichte nach war das so vor der babylonischen Sprachverwirrung. Das ist durchaus nicht so abwegig, wenn man bedenkt, daß die Differenz in der groben Sprache auf den im Laufe der Zeit eingetretenen Rassenunterschied zurückgeführt werden kann. Wenn die Sprechwerkzeuge bzw. die Bedingungen für das sprachlich enthüllbare Denken bei allen Menschen die gleichen gebheben wären, gäbe es auch mu1 eine einzige Sprache. Jetzt aber ist das nicht mehr so. Die rassischen Eigentümlichkeiten, die physische Beschaffenheit wie zum Beispiel der Zustand der Stimmorgane, das Klima, die ererbten Merkmale usw. differieren. Infolge­ dessen differiert auch die Sprache. Für jeden einzelnen Menschen aber, der eine bestimmte Sprache spricht, ist die ausgesprochene Bezeichnung eines beliebigen Dinges der grobe Ausdruck für seinen inneren Denkvorgang. Sie ruft diese Denk­ tätigkeit hervor, und sie beschreibt sie auch wieder. Sie formt die Vorstellung, und die Vorstellung zeigt sich im Bewußtsein als Mentalfunktion. Und dieser Prozeß kann so gesteigert werden, daß er schöpferisch wird. Das ist das MantraChaitanya. Wenn man also sagt, «Buchstaben« fänden sich in den sechs körperlichen Cha­ kras, wird man nun nach obiger Darstellung begreifen, daß man nicht anzunehmen hat, es sollte damit die alberne Behauptung aufgestellt werden, man könnte da wirkliche Buchstaben in geschriebener Form oder als aussprechbare und für das Ohr vernehmbare Klanggebilde antreffen. Die Buchstaben werden in diesem Sinne — d. h. als grobe Dinge — nur in Sprache und Schrift manifestiert. Soweit ist das klar. Diese Darlegung präzise zu formulieren, ist indessen äußerst schwierig. K ein anderes Thema bereitet faktisch solche Schwierigkeiten wie das MantraVidyä, ob man es mm ganz allgemein betrachtet, oder ob man es im Hinblick auf den vorhegenden Sachverhalt speziell ins Auge faßt. Erstens muß man be­ ständig auf der H ut sein, nicht in eine etwaige Falle zu geraten, d. h. die vor­ geschriebenen Realisierungsmethoden für Wirklichkeiten zu halten in dem Sinne, was man sonst darunter versteht. Jene sind konventionell, diese sind real. Die

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Schwierigkeiten in dieser Angelegenheit haben sich durch einige Abweichungen in den erläuternden Darstellungen noch vergrößert. So ist einigen Berichten zufolge Ganesha der Devatä für das Mülädhära. Nach dem hier übersetzten Text ist es Brahma. In ähnlicher Weise bezeichnet der vorliegende Text die Däkini im Müläd­ hära als die Devatä für die Asthi Dhätu (Knochensubstanz). W enn man die vor­ geschriebene Asana (Positur) eingenommen hätte, würden die Knochen um dieses Chakra herum angehäuft und mehr: von ihm, als dem hierfür spezifisch-zuständi­ gen Körperzentrum, würden sich die Knochensubstanzen schnell auf- und abbauen. Ein mir übergebener anderer Bericht bringt hier wieder die Devi Shäkini unter223. Es ist außerdem mit Schreibfehlern zu rechnen, und man kann sie nur durch einen Vergleich mehrerer Manuskripte ermitteln und berichtigen224. Um es noch einmal zu wiederholen, auf den Blütenblättern des Mülädhära Lotos sollen sich diese vier Buchstaben finden: va, sha, sha und sa. Und warum sollen sie dort sein? Man hat mir dazu mehrere Erklärungen gegeben. Da es gewisse Buchstaben gibt, die man jeder wahrnehmbaren Sto*form (bhüta) zuteilt, scheint das unverkennbar darauf hinzuweisen, daß man die Erd-Buchstaben (pärthiva varna) im Erdzentrum vorfinden wird. Eine nähere Untersuchung auf dieser Grundlage bringt aber keine Bestätigung dieser Vermutung. Als nächstes sollen die Buchstaben Farbtönungen tragen, und die Buchstaben einer bestimmten Farbe sollen den Lotossen der glei­ chen Farbe zugehören. Der Text stützt diese Theorie nicht. Man hat weiterhin gesagt, gewisse Buchstaben leiteten sich von gewissen Devatäs ab. Aber die Buch­ staben erzeugen ja erst die Devatäs, denn diese sind das Artha für die ShabdaForm des Mantra. Man hat mir weiter berichtet, die Buchstaben würden dem Platz ihrer Aussprache (uchchärana) zugeordnet. Aber dem könnte man entgegenhalten, daß das Mülädhära der gemeinsame Sprachquell (uchchäranasthäna) für alles sei225. Noch einmal, die auf den Blütenblättern befindlichen Buchstaben sollen Bijas oder Keimmantras für alle jene Wirkkräfte (kriyä) sein, welche sich mit dem Tattva des Zentrums verknüpfen, wobei jeder einzelne Buchstabe in seiner Vokal­ farbe Abänderungen erfährt226. Über alle Wesen in Prithivi Tattva (Erdtattva) soll man im Mülädhära meditieren. Hier finden wir darum (wie wir erwarten m öch­ ten) : die Gehwerkzeuge (pädendriya), die Gehfunktion (gamanakriyä), den Geruch (gandha), die Prithivl-Eigenschaft, den Geruchsinn (ghräna), die Nivritti K a lä 227 und Brahmä (den tattva-Begenten). W ir erfahren aber auch, daß die Buchstaben va, sha, sha und sa Ätmä und Bijas der vier Veden228, der vier Y ugas229, der vier Ozeane230 sein sollen, die man darum Chaturvarnätmaka — die im Selbst der vier Buchstaben Befindlichen — nennt. Es ist ja wahr, daß Parashabda, dessen W ohnbereich im Mülädhära liegt, die vier Veden enthält, und daß die vier Veden von ihm ausgehen. Denn der Veda im ursprünglichen Sinne ist die W elt als Idee im Geiste des schöpferischen Brahman, seine Teilstücke haben sich den Rishis (Se­ hern) enthüllt und werden in den vier Veden zum Ausdruck gebracht. Warum aber soll gerade »va« der Keim für den Rigveda, »sha« der Keim für den Jadschurveda usw. sein ? Die im Rudrayämala (X IV 73, X V 2, X V I I , 2) angegebene rituelle Erklärung lautet, daß das Blütenblatt »va« dem Brahmä (rajoguna) entspricht und Bija für den Rig ist; »sha« entspricht dem Vishnu (sattvaguna), und »sha«, das den Pundarlkätmä darstellt, soll das Bija für den Säma sein. »Sa« ist Bija des

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Atharva und auch Bija für die Shakti231. Diese vier finden sich im Parashabda im Mülädhära. Mir scheinen (soweit mich die Shästra-Studien bis jetzt geführt haben) die näheren Einzelheiten in den beschriebenen Zentren von zweierlei Art zu sein. Erstens gibt es da gewisse Tatsachen objektiver und allgemeiner Natur. So finden sich zum Beispiel gewisse Zentren (chakra) in der Wirbelsäule. Das unterste dieser Zentren beherbergt das Prinzip der Undurchdringlichkeit (prithivl tattva), und als Körperzentrum enthält es die statische Wirkkraft — d. h. die Potenzial­ energie — die sogenannte Kundalini Shakti. Als Lotos soll das Zentrum wegen der an dieser Stelle in bestimmter Weise sich gruppierenden und verteilenden YogaNerven (nädl)232 vier Blütenblätter tragen. Die Undurchdringlichkeit, die Festig­ keit wird am treffendsten durch einen Würfel angedeutet, der ja auch als Diagramm (yantra) dieses Zentrums ist. Der auf einem Elefanten reitende Devatä, das Bewußtsein dieses Zentrums, wird gleichfalls auf einem Tragtier, dessen große, schwere Kompaktheit das feste «Erdige« (prithivl) gut veranschaulicht, treffend dargestellt. Die zur Bildung von festem Stoff führenden Aufbaukräfte können durch den Y ogi als »gelb« erkannt werden. Es ist durchaus möglich, daß gewisse Körpersubstanzen (dhätu) und gewisse Vritti (Eigenschaften) mit bestimmten Chakras usw. in Zusammenhang stehen. Es gibt aber auch noch Details anderer Art, die womöglich bloß einen sym­ bolischen Charakter tragen, und dem Sädhaka nur zum Zwecke der Unterweisung und Meditation vorgesetzt werden233. Die Buchstaben, so wie wir sie kennen — d. h. als geäußerte Sprache — manifestieren sich nur, wenn sie den Kehlkopf verlassen. Als solche können sie also in den Chakras nicht vorhanden sein. Sie sollen aber doch dort sein. Sie finden sich da nicht in der groben, sondern in der subtilen und kausalen Form. Und diese Subtilform nennt man Mätrikä. Als solche Formen sind sie aber Shabda der Denkvorgänge und Shabda als Denkvorgänge, d. h. sie sind deren Ursache. Das Bewußtsein, das ja an sich (svarüpa) klanglos ist (nib shabda), nimmt in seiner erhabensten Form (para-shabda) eine ganz all­ gemein homogene Regung an (samänya-spanda), geht dann in eine differenzierte Form über (vishesha spanda) und kommt schließlich als deutlich artikulierte Sprachform zum Vorschein (spashtatara-spanda). Die im Innern sich abspielende W ortbildung hat somit in diesem Hervorkommen über die Lippen vermittels des Dhvani ihre Entsprechung nach außen hin. Und das ist gerade der Mantra-Weg, wenn man sagt, das Bewußtsein sei im Shakti-Aspekt im Gange, erscheine als Subjekt (shabda) und Objekt (artha) zuerst subtil in der Geistform und ihren durch die Samskäras hervorgebrachten Begriffsinhalten, hernach grob in der Sprachform, in einer Form also, welche die Ideen wie auch die physischen Objekte (artha) zum Ausdruck bringe, in jener Form, welche der schöpferisch kosmische Geist in die sinnliche Erfahrungswelt projiziere, damit es dem darin befindlichen einzelnen Praktiker zum Anlaß weiterer Eindrücke werde. In diesem Sinne sind die Buchstaben wirklich als verborgene Sprache, wirklich als Keim für die aus­ zusprechende Sprache in den Chakras existent; die Zuweisung bestimmter Buch­ staben an bestimmte Chakras ist eine Angelegenheit, die, wenn sie einen realen und nicht nur einen symbolischen Charakter tragen soll, eine solche Deutung

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erfahren muß, wie ich sie in meiner (Abhandlung) »Shakti und Shäkta« gegeben habe. In jedem Chakra gibt es außerdem noch ein Bljamantra (Keimmantra) für jedes darin befindliche Tattva. Es verkörpert den Tattva- Samen, denn das Tattva ent­ springt aus ihm und kehrt wieder in es zurück. Die Naturbezeichnung eines Dinges ergibt sich aus dem Eigengeräusch, das bei der Tätigkeit der sich bewegenden und dieses Ding zusammensetzenden Wirkkräfte entsteht. Wer mit schöpferischer Kraft den natürlichen Namen eines Dinges geistig und stimmlich ausspricht, ruft damit das diesen Namen tragende Ding ins Dasein, so wird gesagt. So ist »ram« das Bija (die Zauberkeimsilbe) für das Feuer im Manipüra Chakra. Dieses Mantra »ram« ist angeblich der grobe Klangausdruck (vaikhari shabda) für das subtil-feine Ge­ räusch, das durch die feuerbildenden Wirkkräfte Zustandekommen soll. Die gleiche Auslegung gilt auch für die Silbe »lam« im Mülädhära bzw. für die anderen Bijas in den übrigen Chakras. Die reine Aussprache234 der Silbe »ram« bzw. eines anderen Mantra ist indessen nichts als bloße Lippenbewegung. Wenn der Sädhaka aber das Mantra »erweckt«235 hat (prabuddha), d. h., wenn er Mantra-Chaitanya (das Mantra-Bewußtsein) erlangt hat, kann er das Mantra zur Wirkung kommen lassen. So verkörpert das Vaikhari Shabda im zitierten Fall durch sein Vehikel Dhvani eine Bewußtseinskraft, die den Mantrierenden zum Feuerbeherrscher werden läßt236. W ie das auch immer sei, in allen Fällen ist es das den ausgesprochenen Klang beseelende, schöpferische Denken, das jetzt in der menschlichen »Magie im Kleinen« ebenso wirksam wird wie es im Anfänge bei der »Großen magischen Ent­ faltung« des Weltschöpfers wirksam war. Sein Denken war summarisch das mit Schöpfungskraft begabte Kollektivdenken. Jeder Mensch ist Shiva und kann Shivas Kraft erreichen, wenn er nur geschickt genug ist, sich als solchen bewußt zu verwirklichen. Die Devatäs werden aus den verschiedensten Gründen angerufen. Mantra und Devatä sind ein und dasselbe. Ein Mantra-Devatä ist Shabda und Artha, wobei ersteres den Namen, letzteres den damit bezeichneten Devatä darstellt. Durch die mantra-Anwendung (japa) wird die Gegenwart des Devatä herbeigerufen. Japa, das Hersagen eines Mantra, ist vergleichsweise wie das Benehmen eines Mannes, der einen Schlafenden aufrüttelt, um ihn wach zu bekommen. Die beiden Lippen sind Shiva und Shakti. Ihr rhythmisches Bewegen ist der Koitus (maithuna) der beiden. Das daraus hervorgehende Shabda ist seinem Wesen nach Keim oder Bindu. Der auf diese Weise erzeugte Devatä ist sozusagen der »Sohn« des Sädhaka. Der hier in Erscheinung tretende Devatä ist nicht der höchste Devatä (denn dieser ist untätig), in allen Fällen ist er aber eine vom Sädhaka ins Leben gerufene und ihm Nutzen bringende Emanation237. Bei den Shiva-Anbetern erscheint ein Shivaknabe (bäla shiva), der dann durch die Nahrung, die sein Schöpfer, der Sädhaka, ihm eingibt, gekräftigt wird. Der Okkultist wird allen Symbolismus dieser Art dem Sinne nach so auslegen, daß der Devatä eine Bewußtseinsform des Sädhaka dar­ stellt und von ihm erweckt und gestärkt wird, damit er ihm Nutzen bringe. Sein Bewußtsein ist es, das zum Shivaknaben wird und das, wenn erstarkt, sich zur göttlichen Kraft als solchen in ihrer ganzen Fülle entfaltet. Alle Mantras finden sich im Körper als Bewußtseinsformen (vijnäna-rüpa). Wenn man das Mantra

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recht ausgiebig übt, belebt es die Samskära, und das Artha wird dem Geistesauge offenbar. Mantras sind also eine Samskära-Form der Jivas, und ihr Artha wird nur dem Bewußtsein erkennbar, das für seine Wahrnehmung geeignet ist. Das Wesentliche von all dem ist dies: Gedankenwelt verlebendigen und Willenskraft konzentrieren. Zu diesem Zweck braucht man aber eine Methode, nämlich ge­ sprochene W orte und — je nach dem erstrebten Ziel — eine Reihe bestimmter Praktiken. Auch das Mantravidyä (das den Sinn des Mantra erläutert) verpflichtet zu diesen Dingen. Der kausale Shabda-Zustand ist Shabdabrahma — das heißt Brahma als Ursache von Shabda und Artha. Bei der Differenzierung des höchsten Bindu ent­ wickelt sich durch das Überhandnehmen der Kriyä Shakti238 die nicht-offenbare (avyakta) Wirkkraft, Shabda — die Ursache für die offenbar gewordenen Shabda und Artha — und erhebt sich in Bindu-Form aus der Prakriti (Urmaterie). Avyakta Rava oder Avyakta Shabda (der unentfaltete Urlaut) ist das Klang­ prinzip an sich (näda-mätra), d. h. noch unmanifestierter und in Buchstabenform noch nicht differenzierter Klang, der infolge seiner schöpfungsfähigen Wirkkraft aber als die Ursache für das manifestierte Shabda und Artha gilt239. Das allesdurchdringende Shabda sieht man als das ungeteilte unmanifestierte Brahma an, seine Kernsubstanz ist Näda und Bindu, der unmittelbare Schöpfungsimpuls im Parashiva und die unmittelbare Ursache für das manifest gewordene Shabda und Artha240. Es ist das immerwährende anlagenlose Sphota241 (die »Wortseele«), das noch nicht in Shabda und Artha unterschieden ist, sondern die Urkraft darstellt, aus der die beiden ihre Existenz herleiten und erkannt werden. Das Shabdabrahma ist also der bewegende ideenbildende Aspekt des undifferenzierten höchsten B e­ wußtseins der Philosophie, ist das Saguna Brahma der Religion. Es ist Chit-Shakti, getragen durch die unentfaltete Prakriti-Shakti, d. h. ist der schöpferische Aspekt des einen Brahma, der transzendent und formlos (nirguna) wie immanent und geformt (saguna) auftritt242. W ie heißt es doch in der Hathayogapradlpikä:243 »Alles, was man als Klang hört, ist Shakti. Im absorbierten Zustand (laya) der Tattva (prakriti-Edukte) gibt es keine Formen mehr244. Solange die Vorstellung von Äther vorhanden ist, ist Klang noch hörbar. Der klanglose Zustand heißt Parabrahma oder paramätmä.«245 Das Shabdabrahman projiziert sich zum Schöpfungszwecke also in zwei Be­ wegungsfolgen, nämlich erstens in das Shabda (mit seinen Geistesfluxionen der Erkenntnis), das nach dem Passieren der Stimmorgane zum klar vernehmbaren Klange wird; zweitens in die durch das Shabda bezeichneten Artha-Bewegungen, die in der Gestalt aller Dinge als objektive W elt das geistige Fassungsvermögen ausmachen. Diese zwei Begriffe sind Emanationen aus der Bewußtsein-habenden Wirkkraft (shakti), nämlich aus dem »Wort« (vak oder »Logos«), und sind folgedessen wesentlich dasselbe. Darum herrscht zwischen den beiden eine beständige, permanente Beziehung. Und in eben diesem Sinne soll sich das Universum aus Buchstaben zusammensetzen. Das aus abgetrennten Menschenköpfen bestehende Halsband, das die wie eine drohende Sturmwolke aussehende unverhüllte246 W elt­ mutter, die Schwarze Käli, trägt, während sie auf der Leichenverbrennungsstätte mitten zwischen den Gebeinen verwesender Tier- und Vogelleichen auf dem blei­

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chen leichenähnlichen (shavarüpa) Shivakörper steht, dieses Halsband symbolisiert die fünfzig217 Buchstaben des Sanskritalphabets. Denn sie »metzelt nieder«, sie »mordet« und »vernichtet«, das heißt, nimmt beim Zeitpunkte der Großen Auf­ lösung (mahäpralaya) aller Dinge alles Ausgesprochene und alle seine Objekte wieder in sich zurück248. Shabdabrahman ist das Bewußtsein (chaitanya) in allen Kreaturen. Es nimmt die Kundali-Form an, es verharrt im Körper aller atmenden Geschöpfe (präni) und zeigt sich in Buchstabenform in Prosa und Vers219. Nach der Sexualsymbolik der Shäkta Tantras floß bei der umgekehrten Vermählung250 des Mahäkäla mit der Mahäkäli Same (bindu)251 aus, der sich im Prakriti-Mutterschoß entwickelte und als Kundall in Buchstabenform (akshara) zum Vorschein kam. Als Mahämatrikäsundari hat die Kundall einundfünfzig Ringe, die die Mätrikäs oder Subtilformen für die groben Buchstaben (varna) abgeben, und diese Varna gelten als die Vaikhari-Porm für das in den Zentren befindliche Shabda. Kundall mit einem Ring ist Bindu; mit zwei Ringen: Prakriti-Purusha; mit drei Ringen bezeichnet sie die drei Shaktis (ichchhä, jfiäna, Kriyä) und die drei Gunas (sattva, rajas, tamas); mit dreieinhalb Ringen wird sie dann mit Vikriti wirklich schöpferisch; mit vier Ringen ist sie die Devi Ekajatä usw. bis hinauf zur Shrlmätrikopattisundarl mit den einundfünfzig Ringen252. Im Körper befindet sich der unentfaltete Parashabda in der Kundali Shakti. Was zuerst daraus emaniert, findet sich im untersten Chakra und entfaltet sich als Pashyanti, resp. Madhyamä und Vaikhari Shabda durch die übrigen Chakras nach oben. Wenn die Shakti zum ersten Mal »erkennt«253, ist sie Parama K a la 251 in Muttergestalt (ambikärüpä), ist sie oberste Sprache (parä väk) und erhabenste Ruhe (parama shäntä). Sie »erkennt« das manifest gewordene Shabda von Pashyanti bis Vaikhari. Pashyanti255 ist der ShabdaZustand, wo Ichchhä Shakti (die Willenskraft) in Form eines Antriebs256 (amkushäkära) das Universum zu entfalten sich anschickt; er ist also noch Keimform (bija). Das ist die Shakti V äm ä257. Madhyamä väk, die Erkenntnis (jfiäna), stellt sich als gerade Linie (rijurekhä) dar und verkörpert die Jyesthä Shakti. Hier haben wir zum ersten Male eine Gestaltsannahme als Mätrikä (mätrikätvam upapannä), denn hier tritt eine spezielle Regung auf (vishesha-spanda). Die Kriyä Shakti befindet sich im Vaikhari-Zustand; sie repräsentiert die Devi Raudri, und ihre Gestalt ist dreieckig258, sie ist das Universum. So wie jene Shakti die Väsanä259-bildenden, subtilen Matrikä-Buchstaben erzeugt, so ist diese ebengenannte Shakti die für die großen Buchstaben der W orte und ihrer Objekte260 zuständige Shakti. Diese Buchstaben formen die Girlande der Weltmutter; sie gehen von ihr, das heißt von ihrer Erscheinungsweise als Kundalini Shakti, aus und werden in dem hier beschriebenen Kundalini Y oga durch sie wieder absorbiert.

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V. DIE

ZENTREN

(CHAKRA)

ODER

LOTOSSE

(PADMA)

In unseren Betrachtungen so weit gekommen, wollen wir uns jetzt den Chakras zuwenden, die wir, kurz gesagt, als die im Körper befindlichen und die leiblichen Hüllen aufbauenden subtilen Energiezentren der Shaktis — d. h. der Wirkkräfte der verschiedenen Tattvas oder Prinzipien — ansprechen können. Die fünf nie­ deren Chakras vom Mülädhära bis hinauf zum Vishuddha gelten als die Energie­ zentren für die Bhütas, d. h. sind die für die fünf Aggregatformen der wahrnehm­ baren Materie zuständigen Zentren. Das Ajfiä Chakra und noch weitere Chakras in der Gegend zwischen diesem und dem Sahasrära sind die für den Aufbau der Gei­ steshüllen verantwortlichen Tattva-Zentren, während das Sahasrära, der »Tau­ sendblättrige Lotos« am oberen Hirnpol, als die wonnevolle Wohnstatt der Parama Shiva-Shakti gilt und den Zustand reiner Bewußtheit verkörpert. Eine Beschreibung der Chakras verlangt erstens eine Darstellung der abend­ ländischen Anatomie und Physiologie des Zentralnervensystems wie des sym­ pathischen Nervensystems; verlangt zweitens eine Schilderung der tantrischen Lehrmeinung über das Nervensystem und die Chakras und erfordert schließlich drittens — soweit überhaupt möglich — eine vergleichende Gegenüberstellung beider Systeme auf anatomischem wie auf physiologischem Gebiete, während alles übrige im allgemeinen dem tantrischen Okkultismus zugerechnet werden kann. Die tantrische Theorie beschäftigt sich, was die Chakras und das Sahasrära anbetrifft, auf der physiologischen Seite — dem Bhogäyatana-Aspekt — mit dem Zentralnervensystem, das sich bekanntlich aus dem in der Schädelkapsel befind­ lichen Gehirn, dem Encephalon, und aus dem in der Wirbelsäule (merudanda) befindlichen Rückenmark zusammensetzt. Es ist erwähnenswert, daß man die Wirbelsäule als solche, entsprechend den hernach beschriebenen fünf Zentren (chakras), auch in fünf Regionen unterteilt; diese sind, von unten angefangen, die aus vier unvollkommenen Wirbeln bestehende und oft zu einem einzigen Knochen, dem sogenannten Steißbein, verschmolzene Steißbeingegend; die aus fünf Wirbeln sich zusammensetzende und zu einem Einzelknochen, dem Kreuzbein, vereinigte Sakralgegend; die aus fünf Wirbeln bestehende Lumbal- oder Lendengegend; die aus zwölf Wirbeln bestehende Dorsal- oder Rückengegend; und die aus sieben Wirbeln bestehende Cervikal- oder Halsgegend. Die in Segmente unterteilte Chorda zeigt also in ihren einzelnen Unterabschnitten verschiedene Charakteristika. Grob gesagt entsprechen sie den Regionen, die man dem beherrschenden Einfluß des Mülädhära, resp. Svädhishthana, Mapipüra, Anähata, Vishuddha (Zentrums oder Chakra, Lotos oder Padma) zuschreibt. Einunddreißig Spinalnerven und zwölf Hirnnerven verbinden das Zentralsystem mit der Peripherie; diese Nervenleitun-

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gen wirken teils afferent, teils efferent, d. h. sind teils sensorisch und ermöglichen eine Empfindung, resp. sind teils motorisch und ermöglichen einen Antriebsakt. Von den Hirnnerven entspringen die letzten sechs aus dem Rückenmarksbulbus (Medulla), die ersten sechs, ausgenommen der Riechnerv und die Sehnerven, kommen aus den genau vor dem Bulbus liegenden Hirnanteilen. Yogaschriftsteller und Tantraschulen benutzen für Nerven gern den Ausdruck »Nädl«. Wenn sie von »Shiräs« sprechen, meinen sie auch Hirnnerven, so sagt man; aber niemals verwenden sie diesen Ausdruck für Arterien, wie man das in der medizinischen Literatur zu tun pflegt261. Ich muß hier die Zwischenbemerkung einflechten, daß die »Yoga Nädis« nicht die stofflich-groben Nerven im üblichen Sinne sind, sondern als subtil-feine Richtungslinien die Stellen markieren, wo die Lebenskräfte ent­ langfließen. Die Rückenmarksnerven treten nach ihrem Abgang aus den Zwischen­ wirbellöchern in Kommunikation zu den mit Ganglien versehenen und zu beiden Seiten der Wirbelsäule entlanglaufenden Grenzstrang des Sympathikus. Der Rückenmarksstrang beginnt beim Menschen am oberen Atlasrand unterhalb des Kleinhirns — sich dort in den vierten Hirnventrikel entfaltend — passiert die Medulla, verläuft nach unten bis zum zweiten Lendenwirbel und verliert sich dann in einen allmählich dünner werdenden Faden, das Filum terminale. Ich habe erfahren, daß Dr. Cunningham durch mikroskopische Untersuchungen in dem bisher als faserigen Strang angesehenen Filum terminale die Existenz von hochempfindsamer »grauer Substanz« nachgewiesen hat. Das ist bedeutsam, denn es betrifft die Lageverhältnisse, die man dem Mülädhära und der Schlangenkraft zu­ gedacht hat. Das Filum setzt sich in unterschiedlicher Länge in den Rückenmarks­ kanal hinein fort und endigt dort blind. Der Strang liegt im Innern der knöchernen Umkleidung und besteht aus einer Mischung von »grauer« und »weißer« Hirn­ substanz, wobei die »graue« hier die zu innerst gelegene der beiden ist, beide Substanzen also das umgekehrte Lageverhältnis wie im Encephalon aufweisen. Der Strang ist in zwei, durch eine Kommissur überbrückte symmetrische Fas irhälften unterteilt. Im Zentrum der Kommissur liegt ein winziger K anal: der zen­ trale Spinalkanal, der im Innern die Brahmanädi enthält und ein Überrest jenes Hohlkanals sein soll, aus welchem sich Hirn und Rückenmark entfaltet haben262. Dieser Kanal enthält Cerebrospinalflüssigkeit. Die graue Substanz bildet, der Länge nach betrachtet, eine über die ganze Stranglänge sich hinziehende, aber der Breite nach nicht einheitliche Säule. In der Lenden- und in der Halsgegend finden sich charakteristische Strangverdickungen, die in der Hauptsache auf einen an diesen Stellen gelegenen größeren Anteil grauer Substanz zurückführbar sind. Den ganzen Strang hindurch ist die graue Substanz besonders reichlich an den Knotenpunkten der Rückenmarksnerven vertreten, so daß eine halsbandartige Anordnung sichtbar wird, die bei den niederen Wirbeltieren deutlicher in Erschei­ nung tritt und der Bauchganglienkette der Wirbellosen entspricht263. Die weiße Substanz besteht aus Nervenfaserzügen oder Nervenfasersäulen. Am oberen Atlas­ rande, d. h. oberhalb des ersten Halswirbels, geht der Rückenmarksstrang unter­ halb des Kleinhirns in die Medulla oblongata über. Der Zentralkanal entfaltet sich in den IV. Hirnventrikel. Das Kleinhirn hat sich aus der Hinterwand der hintersten der drei primären embryonalen Cerebrospinalschlauchbläschen ent­

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wickelt, wobei der IV. Ventrikel ein Überrest der ursprünglichen Höhlung ist. Darüber wölbt sich das Großhirn; zusammen mit den darunter befindlichenNervenanteilen bildet es den weitläufig vergrößerten und in hohem Maße modifizierten Oberteil der Cerebrospinalnervenachse. Das Rückenmark verbindet aber nicht bloß die Peripherie mit den Zentren der Sinneswahrnehmung und der Willensäußerung, sondern ist außerdem ein selbständiges Zentrum oder, besser gesagt, ein Zentren­ komplex. Es verfügt über eine ganze Reihe Zentren und steht, wenn auch in beträchtlichem Maße autonom, über assoziierte und längsverlaufende Rücken­ marksbahnen mit den höheren Zentren in Verbindung264. Alle Punktionen, die man in der Hauptsache den Rückenmarkszentren zuschreibt, gehören letzten Endes auch den Hirnzentren an. In ähnlicher Weise finden sich alle über die Lotosblätter verteilten »Buchstaben« im Sahasrära wieder. Die Zentren steuern nicht nur das koordinierte Zusammenspiel der willensmäßig geäußerten Muskelbewegungen, sondern wirken auch funktionell auf die (dem Willen nicht unterworfene) Gefäßinnervation, Sekretion und dgl., beeinflussen also auch Vorgänge, deren unmittelbare Zentren im Rückenmark liegen. Die Hirnzentren sollen diese Vorgänge aber nur in Verbindung mit dem Akte des Wollens, Fühlens und der Emotion funktionell beeinflussen; während die Rücken­ markszentren, mit dem untergeordneten Sympathikussystem zusammenarbeitend, den unbewußt ablaufenden Anpassungsmechanismus den jeweils wechselnden Außenreizbedingungen angleichen sollen, je nach dem Maße wie es die Fort­ existenz des Organismus erfordert. Die Medulla ihrerseits ist ebenfalls ein Ver­ bindungsweg zwischen höheren Zentren und Peripherie, ist aber auch ein selb­ ständiger Zentrenkomplex und regelt im System Funktionen von größter W ichtig­ keit. Es ist zu beachten, daß die Nervenfasern, die die vom Hirn zum Rückenmark abfließenden motorischen Impulse weiterleiten, auf ihrem W ege durch den Spinal­ bulbus (medulla) ziemlich unvermittelt von der einen Seite zur anderen herüber­ kreuzen, eine Tatsache, die in den Tantras bei der Beschreibung der Mukta Triveni erwähnt wird. Die Medulla steht mit dem Kleinhirn und den Hirnganglien über zahlreiche afferente und efferente Nervenbahnen in Verbindung. Über das Klein­ hirn wölbt sich das Großhirn, dessen Funktion man gewöhnlich mit der bewußten Willensäußerung, mit der Ideenbildung und der Veranlassung der willkürlichen Bewegung in Zusammenhang bringt. Der Terminus »Bewußtsein«, da ja die intro­ spektive Ich-Substanz der Psychologie charakterisiert, darf aber mit dem Bewußt­ seinsbegriff der physiologischen Funktion nicht verwechselt werden. Ein Bewußt­ seins-Organ als solches gibt es also nicht, einfach deshalb nicht, weil »Bewußtsein« kein organgebundener Begriff ist und mit dem physiologischen Energiebegriff, dessen innere introspektive Seite es darstellt, nichts zu tun h at265. Bewußtsein als solches ist der Ätmä. Sowohl Seele wie Körper, welchem man das Gehirn als Bestandteil zurechnet, sind verhüllte Bewußtseinsdarstellungen, und das Bewußt­ sein ist in bezug auf die Materie so verschleiert, daß es den Anschein der Unbewußt­ heit erweckt. Das lebende Gehirn besteht aus grobstoffiger, wahrnehmungsfähiger Substanz (mahäbhüta) und wird von Präna, dem Lebensodem, durchflutet. Sein Zellmaterial ist so ausgearbeitet, daß es den geeigneten Träger für das Bewußt­ seinsgepräge in Gestalt der menschlichen Seele (antabkarana) liefert. W eil das

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Bewußtsein kein Körperattribut ist, ist es auch nicht eine reine Hirnfunktion. Die Tatsache, daß das Gehirn Geistbewußtsein annehmen kann, resp. dieses im Erkrankungsfalle oder in der Zerrüttung einbüßt, beweist zwar, daß es für eine solche Bewußtseinsäußerung erforderlich ist, beweist aber nicht, daß das Bewußt­ sein attributhaft zum Hirn gehört oder diesem spezifisch eigen ist. Zu beiden Seiten der Wirbelsäule finden wir den sogenannten »Grenzstrang des Sympathikus« (idä und pingalä), eine durch Nervenfasern verbundene Ganglien­ kette, die sich durchgehend von der Schädelbasis bis zum Steißbein hin erstreckt. Sie steht mit dem Rückenmark in Kommunikation. Es ist beachtenswert, daß diese Nervenkette in der Thorax- und Lendengegend je ein Ganglion aufweist und mit jedem einzelnen Spinalnerven, d. h. außerordentlich regelmäßig, korrespon­ diert, obgleich in der Halsregion viele solche Korrespondenzen zu fehlen scheinen; es ist weiterhin beachtenswert, daß extra große Nervenbündel in der Herzgegend, in der Magengegend und zwischen den Lungen vorhanden sind, also in Regionen, die vom Anähata, resp. vom Manipüra und Vishuddha, d. h. von den drei oberen der hernach beschriebenen fünf Chakras beherrscht werden. Von der Sympathi­ kuskette verlaufen nach beiden Seiten Nervenfasern zu den im Bauch und im Thorax gelegenen Eingeweiden. Von diesen Nerven zweigen Fasern ab, die teils in die Rückenmarksnerven zurückgehen, teils in einige Hirnnerven übertreten; so gelangen sie mit den Rückenmarksnerven bzw. Hirnnerven bis an die Peripherie und verteilen sich über die Blutgefäße der Glieder, des Rumpfes und der übrigen Körperteile. Die Sympathikusfasern übermitteln in der Hauptsache Impulse, die für das Muskelgewebe der Eingeweide und für die Muskelschicht der Arteriolen in den verschiedenen Geweben von Belang sind. Durch die Reizimpulse des im Rückenmark gelegenen Vasomotorenzentrums wird nämlich auf dem Sympathi­ kuswege der Blutgefäßtonus gesteuert. Doch der Sympathikus bekommt die von ihm weitergeleiteten Impulse aus dem Zentralnervensystem; sie entstehen nicht in ihm selbst. Sie kommen über die Vorderwurzeln der Rückenmarksnerven aus dem Rückenmark und gehen über kurze Äste in die Sympathikuskette über. Das Sympathikussystem beeinflußt und steuert funktionell Blutzirkulation, Ver­ dauung und A tm ung266. Das Zentralnervensystem ist in seinem anatomischen Aufbau ungewöhnlich kompliziert,und die Prozesse, die in einem solchen Fasern-, Zellen- und Fibrillengewirr ablaufen, sind andererseits selbst heutzutage noch ziemlich unbekannt267. Und so ist uns bis heute in der Beschreibung der Physiologie des Zentralnervensystems kaum mehr gelungen, als die von dem einen zum anderen Systemteil fließenden Impulse auf ihrem Wege zu verfolgen, kaum mehr gelungen, als die physiologische Verknüpfung ihrem Wesen nach aus den anatomischen Ver­ hältnissen der untereinander und mit dem übrigen Körper verbundenen Leibes­ anteile mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit deduktiv zu erschließen268. Allgemein gesagt, wird es wohl (wie es heißt) Gründe geben für die Annahme, daß im Zentralsystem Nervenzentren vorhanden sind, die zu bestimmten sensorischen, sekretorischen oder motorischen Mechanismen in einem speziellen Bezüge stehen, und daß man sich für eine gegebene physiologische Funktion, Zentren — wie etwa das vorhin erwähnte spinale Genitalzentrum — in einem ganz bestimmten Rücken­ marksbereich zu denken hat. Der Subtilaspekt solcher Zentren als Ausdruck für

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das in den mannigfachen Formen der Maya Shakti sich darstellende Bewußtsein (chaitanya) wird hier eben als Chakra bezeichnet. Durch Zwischenleitungen sind diese Zentren mit den physisch-groben Organen für die Zeugung, Harnentleerung, Verdauung, Herztätigkeit und Atmung in eine Endbeziehung zum Mülädhära, resp. Svadhishthäna, Manipüra, Anähata und Vishuddha Chakra gebracht, genauso wie man auch in den höheren Zentren Nervenbahnen nachweisen konnte, die zu den verschiedenen perzeptiven, willentlichen und ideenbildenden Denkakten in einem speziellen, doch nicht ausschließlichen Bezugsverhältnis stehen. Im Anschluß an diesen kurzen Streifzug durch die Begriffswelt der modernen abendländischen Physiologie und Anatomie gehe ich jetzt zur Beschreibung der Chakras und Nädls (Nerven) über und will dann, so gut ich es kann, beide Lehr­ systeme gegenüberstellen. Die Leitkanäle für die pranische — das heißt vitale — Kraft sind die sogenannten Nädls oder »Nerven«, die im Körper zu Tausenden vermutet werden. »Wie ein Blatt des Ashvatthabaumes (ficus religiosa) von winzigen Fäserchen, so wird auch der Körper von Nädls durchzogen.«269 Nach Vers 2 soll »nädi« von der Wortwurzel »nad« = Bewegung, Antrieb, abstammen. Denn hier entlang fließt »präna«, der Lebenshauch oder Lebensodem. Das Bhütashuddhi Tantra erwähnt 72 000, das Prapanchasära Tantra 300 000 und die Shiva Samhitä 350 000 Nädis; von diesen ist aber, wie hoch immer ihre Gesamtmenge betragen mag, nur eine begrenzte Anzahl wichtig. Einige davon sind stofflig-grobe Nädis, zum Beispiel die der medizinischen Wissenschaft geläufigen physischen Nerven, Venen und Arterien. Doch nicht alle sind von derartig grobem und sichtbarem Gepräge. Sie existieren, wie alles andere, in Subtilform und sind unter der Bezeichnung »Yoganädis« bekannt. Man könnte sie am ehesten als subtile Leitkanäle (vivara) für die pra­ nische Energie, d. h. für den Lebensodem, bezeichnen. Die Nädls sind — wie eben gesagt — Präna-Kanäle. Durch sie fließt die solare und lunare Strömung. Könnte man sie erkennen, dann würde der Körper für unser Auge wie eine Seekarte aussehen, auf der die verschiedenen Ozeanströmungen graphisch dargestellt sind. Die Nädis sind die Pfade, auf denen die Pränashakti sich entlangbewegt. Als Lebens­ element gehören sie deshalb zur Lebenslehre und nicht zum medizinischen Shästra (vaidyashästra). Darum ist also die aus der physischen Läuterung des Körpers und seiner Nädis bestehende Sädhanä so überaus wichtig. Körperliche Reinheit ist erforderlich, will man die geistige Lauterkeit in ihrem weitumfassenden Hindu­ sinne erlangen. Die Läuterung der Nädis ist gewiß das Wichtigste auf den Anfangs­ stufen dieses Y oga; denn so erschwert der Aufstieg der Kundali Shakti bei ihrer Unreinheit ist, so erleichtert ist e i, wenn sie rein sind. Das gehört in den Aufgaben­ bereich des Pränäyäma (siehe weiter unten). Vierzehn dieser Nädis sind Hauptkanäle, und von diesen vierzehn sind Idä, Pingalä und Sushumnä die wichtigsten. Von diesen dreien wieder ist die Sushumnä die größte und allen anderen übergeordnet; die Yogakraft (yogabala) zwingt den Bräna-Strom durch die Sushumnä, läßt ihn die Chakras passieren und den Körper über die Brahmarandhra wieder verlassen. Die Sushumnä verläuft im Cerehrospinalachseninnern, innerhalb Merudanda (der Wirbelsäule), dort wo man den Zentralkanal postuliert, und erstreckt sich vom Wurzelplexus — dem tattvischen

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Zentrum mit Namen Mülädhära — bis zum zwölfblättrigen Lotos in der Frucht­ hülle des Sahasrära Padma, des »Tausendblättrigen Lotos«. Im Innern der feuer­ roten tamasischen Sushumnä läuft die strahlende rajasische Vajrä, die Vajrini Nädi, und innerhalb dieser die nektarspendende bleiche sattvische Chiträ, die Chitrinl. Das Innere dieser wird Brahmanädl genannt. Die erstgenannte soll feurig (vahnisvarüpä), die zweite soll sonnenhaft (süryasvarüpä) und die dritte soll mond­ haft (chandrasvarüpä) sein270. Diese drei sind der dreifältige ShabdabrahmanAspekt. Die Öffnung am (unteren) Ende der Chitrini Nädl wird die »Tür Brahmas« (brahmadvära) genannt, weil die Dev! Kundall beim Aufsteigen hier hindurch­ geht271. Längs dieser Nädl, dieser Kula Märga oder »Königlichen Straße«, führt man in dem weiter unten beschriebenen Yogaprozeß die Shakti Kundalini ent­ lang. Außerhalb dieser »Ader« liegen zwei Nädis: die blasse Idä, die Shashi (Mond), und die rote Pingalä, die Mihira (Sonne); sie stehen mit dem vom rechten zum linken Nasenloch — und umgekehrt — hinüberwechselnden Atemstrom in Zu­ sammenhang272. Die erste ist »feminin« (shaktirüpä), verkörpert den Nektar (amritavigrahä) und liegt links; die zweite ist »maskulin«, denn sie ist dem Wesen nach Rudra (raudrätmikä), und liegt rechts. Alle beide bezeichnen Käla, die »Zeit«; die Sushumnä aber verschlingt Käla. Denn auf diesem Pfade vollzieht man den Eintritt in die Zeitlosigkeit. Diese drei bezeichnet man auch als »Gangä« (idä), »Yamunä« (pingalä) und »SarasvatI« (sushumnä), das sind die Namen der drei heiligen Flüsse Indiens. Das Mülädhära ist der Ver einigungsort für diese drei »Flüsse« und heißt darum »Yuktatrivenl«. Aus dem Adhära-Lotos hervorgehend, wechseln sie, die Lotosse umfließend, von rechts nach links und von links nach rechts. Nach einer anderen Version verlaufen sie bogenförmig beiderseits der Wirbelsäule. Ein mir angefreundeter indischer Mediziner sagte mir, daß sich diese Darstellungen durchaus nicht widersprächen, sondern nur verschiedene Lagen dar­ stellten, je nachdem, ob man sich Idä und Pingalä innerhalb, oder ob man sie sich außerhalb der Wirbelsäule dächte. Wenn sie den als »Äjüä Chakra« bezeichneten Raum zwischen den Augenbrauen erreichen, münden sie in die Sushumnä ein, wobei sie den dreifach geflochtenen Knoten, den sogenannten MuktatrivenI, bilden. Die an dieser Stelle erneut zusammenfließenden drei »Ströme« — die aus diesem Grunde dem Äjüä Chakra den Namen »Muktatriven!« geben — fließen dann wieder getrennt weiter. Nach der Trennung geht die vom rechten Hoden kommende Nädl zum linken Nasenloch, die vom linken Testikel verläuft zum rechten Nasenloch. Man hat die Ansicht vertreten, daß der zwischen der erhitzen­ den »Sonne« und dem kühlenden »Mond« gemachte Unterschied der sei, wie er sich zwischen der positiven und negativen Phase desselben Gegenstandes finde, da ja in einer jeden Tätigkeitsform positive und negative Wirkkräfte vorhanden seien. Pingalä entspräche also nach dieser Auffassung dem subtilen Leitkanal für die positive Sonnenströmung, und Idä jenem für die negative Mondströmung. W ie wir gesehen haben, gibt es in der feurigen Sushumnä an der Stelle, wo die beiden Kraftströmungen Zusammentreffen, außerdem noch inwendige Sonnenund Mondnädls273. Sie alle sind nur mikrokosmische Beispiele für das überaus großartige System der kosmischen Materie, von der jeder einzelne Bestandteil

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sich aus den drei Gunas (trigunätmaka) und aus dem dreifältigen Bindu — d. h. aus Sonne, Mond und Feuer — zusammensetzt. Im Hinblick auf die Nervenstränge und Nervenfasern, auf die Hirnnerven und Rückenmarksnerven und in bezug auf die mit ihnen verbundenen sympathischen Nervenanteile sagt Dr. Brojendranath Seal: »Bei den Yogaschriftstellern sind alle Shiräs und Dhamanis, die nicht Träger des Lebensstromes, nicht Träger des Ver­ dauungssaftes, der Lymphe, des Chylus und des Blutes sind, und gehen vom Herzen über das Rückenmark zum Schädel. Diese Hirnnerven ent­ halten Nervenpaare für Kehlkopf und Zunge, Nervenpaare für das sprachliche Verstehen und für die Sprachäußerung, für das Heben und Senken der Augenlider, Nervenpaare für die Tränensekretion, für die Sinnesempfindungen der Sonder­ sinne usw., eine verworrene und geistlose Wiedergabe der Sushruta’schen Klassen­ einteilung. Die Numerierung der mit der Sympathikuskette und den Ganglien verknüpften Rückenmarksnerven ist dagegen ein entschiedener Fortschritt im Verhältnis zu den alten Anatom en274.« Er fährt dann fort: »Die Sushamnä ist der Zentralstrang in der Wirbelsäule (brahmadanda oder meru). Die beiden links und rechts verlaufenden sympathi­ schen Ganglienketten sind die erwähnte Idä resp. Píngala. Für die Sympathikus­ nerven ist der Solarplexus (näbhi chakra) die Hauptverbindung zur Sushumnä. Von den siebenhundert Nervenfasern des sympathischen Rückenmarkssystems (siehe das Sangitaratnäkara) sind die folgenden vierzehn am wichtigsten275: 1. Die Sushumnä im Zentralkanal des Rückenmarks. 2. Idä, die linke Sympathikuskette, die sich in Form eines gekrümmten Bogens von unterhalb des linken Nasenlochs bis zur Unken Niere erstreckt. 3. Pingalä, die entsprechende rechts verlaufende Kette. 4. Kuhü, der Schamnerv des Sakralplexus, linksseitig vom Rückenmark. 5. Gändhärl, auf der Rückseite der linken Sympathikuskette; man ver­ mutet, daß er vom linken Augenwinkel zum Unken Bein verläuft. Augenscheinüch nahm man an, daß einige Nerven aus dem Halsplexus das Rückenmark entlangUefen und mit dem großen Ischiasnerv aus dem Sakralplexus in Kommunikation träten. 6. Hastijihvä, auf der Vorderseite der Unken Sympathikuskette, verläuft unter der gleichen Annahme wie zuvor von unterhalb des Unken Augen­ winkels nach der Großzehe am Unken Fuß. Man glaubte, daß patho­ logische Tatbestände mit einer speziellen Nervenverbindung zwischen Augen und Zehen Zusammenhängen. 7. Sarasvati, zur Rechten der Sushumnä, verläuft zur Zunge (die Nn. hypoglossi des Halsplexus). 8. Püshä, auf der Rückseite der rechten Sympathikuskette, reicht vom rechten Augenwinkel bis zum Abdomen (ein Kettenverband von Hais­ und Lendennerven). 9. Payasvinl, zwischen Püshä und Sarasvati, ein zu den Ohren gehörender Unker Ast aus dem Halsplexus.

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10. Sañkhini, zwischen Gändhäri und Sarasvati, ein links gelegener Ohrenast aus dem Halsplexus. 11. Yashasvini, auf der Vorderseite der rechten Sympathikuskette, verläuft vom rechten Daumen zum linken Bein (der Radialisnerv des Armplexus, der sich über bestimmte Äste in den großen Ischiaticus fortsetzen soll). 12. Värunä, die Nerven des Kreuzbeinplexus zwischen Kuhü und Yashas­ vini, die sich über den unteren Rumpfteil und über die Gliedmaßen verteilen. 13. Vishvodarä, die Nerven des Lumbalplexus zwischen Kuhü und Hastijihvä, sie verteilen sich über den unteren Rumpfbereich und über die Gliedmaßen. 14. Alambushä, die Steißbeinnerven; sie kommen aus den Sakralwirbeln und enden in den Urogenitalorganen276.« Die Präna-erfüllten Tattvas verfügen über gewisse Sonderzentren für ihre im Körper sich auswirkende Praedominanz und ■Einflußmacht: es sind das die in diesem W erk beschriebenen Chakras (Zentren, Kreise, Regionen) oder Padmas (Lotosse). Im Innern der Meru, d. h. im Wirbelsäuleninnern, liegen die sogenannten sechs Chakras oder Padmas, die Hauptzentren für die tattvische Wirkkraft; sie sind die Wohnbereiche für die Shaktis, so wie das darüberliegende Sahasrära gleichsam als W ohnort Shivas gilt277. Diese Chakras heißen: Mülädhära, Svädhishthäna, Manipüra, Anähata, Vishuddha und Ä jü ä; sie sollen im physischen Körper in den Hauptnervenplexen und nervösen Funktionsorganen ihre grobe Entsprechung haben, angefangen mit dem, was man möglicherweise als Sakrococcygeal-Plexus anspricht bis hinauf zum »Raum zwischen den Augenbrauen«, den einige mit der Zirbeldrüse — dem Zentrum für das dritte oder geistige Auge —, andere mit dem Kleinhirn identifizieren. Die Chakras278 als solche sind, wie ich das später noch klarstellen werde, Bewußtseinszentren (chaitanya) in Form einer überaus subtilen Wirkkraft (shakti); die durch ihre physisch-groben Schwingungen aufgebauten und ihrem Einfluß unterworfenen groben Sphären dagegen, die mit ihnen hier und da und unrichtigerweise manchmal verwechselt werden, sollen die im Körperrumpf vorhandenen verschiedenen Plexen und die erwähnten niederen Hirnzentren sein, so sagt man. Im Körpergebiet unterhalb des Mülädhära gibt es sieben niedere W elten — Pätäla und die übrigen — nebst ihren alles im Universum aufrechterhaltenden Shaktis. Das erste Zentrum, das Mülädhära Chakra — das so bezeichnet wird, weil es die Sushumpä-Wurzel darstellt, an der die Kundall ruht279 — liegt am Vereinigungs­ punkt des Kanda (dem Ursprung aller Nädls) mit der Sushumnä Nädl mitten zwischen Genitalien und Anus. Es ist sozusagen das Körperzentrum für den Menschen280. Diese Darstellung will aber, ähnlich wie die auf die übrigen Lotosse bezogenen weiteren Darstellungen, damit nicht besagen, daß das eigentliche Chakra im Bereich des beschriebenen stofflich-greifbaren Körpers anzutreffen ist, sondern soll zum Ausdruck bringen, daß dieses Chakra das Subtilzentrum für jene grobe Körpersphäre darstellt und in der als Körperachse betrachteten Wirbelsäule vorhanden ist. Der Leser muß sich bei den Chakras-Beschrei-

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bungen, um nicht ein schiefes Bild zu bekommen, stets an diesen Hinweis erinnern. Dieser karmesinrote Mülädhära L otos281, dessen Vritti (Denkfluxionen) sich bekanntlich aus den vier Wonneformen Paramänanda, Sahajänanda, Yogänanda und Viränanda zusammensetzen282, wird als vierblättrig beschrieben. Auf diesen vier Blütenblättern finden wir die goldenen Buchstaben Vam (%), Sham (If), Sham (^T), Sam (H )283. Jeder in der Vaikhari-Form auftretende Buchstabe ist eine grobe Manifestation des inneren subtilen Shabda. Man hat die Buchstaben als Symbole auf die Blüten­ blätter gesetzt, und jeder einzelne Buchstabe charakterisiert ein Mantra und als solches e'nen Devatä. Die Blütenblätter eines bestimmten Zentrums bilden eine durch das Vädl-Arrangement zustandegekommene gewisse Konfiguration und symbolisieren als solche die im lebendigen Körper durch den Pränaväyu mani­ festierte Pränashakti. W enn dieser Väyu erlischt, hört ihre Manifestation wieder auf. Jeder Buchstabe repräsentiert also für das betreffende Chakra einen speziellen Shabda oder eine spezielle Shakti und einen Devatä des Umkreises (ävarana) des Hauptdevatä nebst seiner Shakti. Als Shakti sind sieKundall-Manifestationen und bilden in ihrer Gesamtheit ihren Mantrakörper, denn die Kundall ist Licht (jyotirmayi) wie Mantra (mantramayi). Das Ebengenannte ist der grobe oder Sthüla-Aspekt dessen, von dem man das Japa ausführt. Das Zuvorgenannte ist dagegen der Sükshma, der subtile Aspekt, zu dem der Y oga hinführt. Ihre aus­ drückliche Erwähnung und Billigung kennzeichnen die Differenzierung im Körper des Gesamtshabda. Dieser Lotos ist das Zentrum für das gelbe PrithivI, für das »Erde «-Tattva, und hat ein viereckiges Mandala. Das Bija oder Keimmantra für dieses Tattva lautet »Lam« (W)284. In diesem Zentrum herrscht Prithivi-Tattva, seine »Erdkeim «-Zaubersilbe (bija) heißt »La« (^T); mit dem Bindu darüber — d. h. mit dem in diesem Zentrum vor­ herrschenden Brahman-Bewußtsein, also als »Lam« (% ) — soll diese Silbe den durch die Kräfteschwingungen dieses Zentrums zustandekommenden Subtilklang in grober Klangform (vaikhari) zum Ausdruck bringen. In analoger Weise hierzu gehört das subtile Tejastattva mit seinem Bija »Ram« (Z) zum Manipüra Chakra, und das als »vaishvänara« bekannte grobe Feuer findet sich im physischen Bauch, der ja vom Subtilzentrum aus beherrscht wird. Dieses Bija verkörpert in MantraW ortform das in diesem Zentrum vorherrschende Tattva einschließlich seiner wesentlichen Wirkkraft. Nacn der in diesem Werk durchweg geläufigen Symbolik soll das Bija auf dem Elefanten Airävata reiten, der hier seinen zugewiesenen Platz hat. Dieser Elefant soll, wie die in den übrigen Chakras figürlich gebrauchten anderen Tiere, die charakteristische Eigenschaft des hier vorherrschenden Tattva symbolhaft zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne veranschaulicht der Elefant die Kraft, die Festigkeit und Kompaktheit des »Erde«-Tattva. Die Tiere sind außerdem noch die jeweiligen Tragtiere (vähana) für die dort befindlichen Devatäs. So beherbergt dieses Chakra auch das Keimmantra (bija) für Indra, dessen Tragtier bekanntlich der Elefant Airävata ist. Der Devatä dieses Zentrums ist

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dem Texte nach der schöpferische Brahma, seine Shakti ist Sävitr!285. W ir finden hier noch die als Däkinl bekannte Shakti286, die, wie die in den übrigen Zentren vorhandenen anderen Shaktis (läkini usw.), als die Shakti für die dem jeweils entsprechenden Zentrum zugeteilte körperliche Substanz (dhätu) angesehen w ird287. W ir finden hier weiter das »weibliche« Dreieck, die namentlich als »traipura« bekannte Yoni, das Shaktipitha, in welches das nach Form und Farbe einem jungen Blatt ähnelnde und als »svayambhu« bekannte »männliche« Shivalingam eingeführt ist; sie sollen, wie alle übrigen Devis und Devas, Mäyä-shakti und ChitChakti versinnbildlichen, sollen die in den bezüglichen Sonderzentren sich mani­ festierenden Brahman-Aspekte darstellen (Vv. 4-14). Vier Lingams gibt es: Svayambhu, Bäna, Itara und Para. Nach dem Yoginihridaya Tantra (Kap. I ) 288 heißen sie so, weil sie zum Chit (zum stofflos-lebendig Geistigen) überleiten. Sie sind Pithas (Sitze), die Kämarüpa und das übrige, weil sie das Chit widerspiegeln (chitsphurattädhäratvät). Sie sind Vrittis (Denkfluxionen) des Manas, resp. des Ahamkära, Buddhi und Chitta. Den ersten drei werden gewisse Farben resp. Formen zugedacht: rot, golden und weiß, resp. dreieckig und kreisförmig; außer­ dem gewisse Buchstaben: die sechzehn Vokale, die Konsonanten K a bis Ta (weich) und Tha bis Sa. Das Para-Lingam aber ist formlos, farblos und buchstabenlos, es verkörpert die Gesamtheit (samashti) aller Buchstaben als Wonne. Im Jlva ist das Traipura das Gegenstück zur Kämakalä im Sahasrära. Die blitzhell aufgleißende und in der Höhle dieses Lotos wie eine Kette strahlender Lichter funkelnde Devi KundalinJ, die als Weltblufferin289 alle atmenden Geschöpfe am Leben erhält, liegt schlummernd dreieinhalbmal290 um das Lingam gewickelt und verdeckt mit ihrem K op f Brahmadvära, die »Tür Brahmas«291. Das Svädhishthäna Chakra ist — wenn man nach oben weitergeht — der zweite Lotos und hat, wie der Kommentar meint, seinen Namen von Sva, dem Param Lingam292. Es ist ein in das Spinalzentrum eingeordneter, zinnoberroter sechsblättriger Lotos, der die Sphäre an der Genitalwurzel beeinflußt. Seine Blütenblätter tragen die gleichen Buchstaben: Bam (fl), Bham (if), Mam (fl), Yam (fl), Ram (Z ) und Lam (fl). Das diesem Chakra zugeordnete Tattva ist »Wasser« (ap), die bekannte weiße Varuna-Region. Das tattvische Mandala zeigt die Form eines Halbmondes293 (ardhendurüpalasitam). Die »Wasserkeim«-Zaubersilbe (varunabija) lautet »Vam«. Diese Varunabija reitet auf einem weißen Makara (einem elefantennasigen Meeres­ ungeheuer)294, es hält eine Schlinge in der Hand. Hari (Vishnu) und die wild aussehende, grimmige Shakti, die zähnefletschende Räkini, sind hier zugegen (Vv. 14-18). Darüber, am Zentrum für den Nabelbereich, liegt der Lotos Manipüra (näbhipadma); nach dem Gautamiya Tantra hat er diesen Namen, weil er wegen des dort vorhandenen feurigen Tejas wie eine Gemme (mani) strahlt295. Es handelt sich um einen zehnblättrigen Lotos mit den Buchstaben: Dam (%), Dham (Á), Nam (fl), Tarn (fl), Tham (fl), Dam (^ ), Dham (fl), Nam (fl), Pam (fl), Pham (fli).

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Hier liegt die dreieckige Sphäre für das Tejas Tattva. Das Dreieck trägt drei Svastikas. Die rote »Feuerkeim«-Zaubersilbe »Ram« reitet auf einem W idder, dem Tragtier des Feuergottes Agni. W ir finden hier den bejahrten, rotfarbenen und mit weißer Asche eingeriebenen Rudra neben seiner Shakti Läkini, die als die Devatä für dieses Verdauungszentrum »auf tierische Nahrung versessen« und »sich die Brüste mit dem aus dem Munde triefenden Blut und Fett rot färben« soll. Läkini und die übrigen speziellen Shaktis der hier erwähnten Zentren verkörpern die Shaktis des Y ogi selbst, d. h. sind die Shaktis für das jedem einzelnen Körper­ zentrum speziell zugeordnete Dhätu; die Konzentration auf solch ein Zentrum kann die Stillung der Gelüste dieser Devatä erwirken. Die Shaktis in den höher­ rangigen Zentren sind keine Fleischverzehrer. Unter dem Einfluß dieser drei Zentren entfaltet sich der grobe Virät, d. h. der im Wachzustand befindliche Körper (Vv. 19-21). Als das über dem Nabellotos (näbhipadma) befindliche nächsthöhere Zentrum gilt das in der Herzgegend gelegene Anähata; es ist rot wie eine Bandhükablüte und seinen Namen hat es davon, weil die Munis (Weisen) hier den »nicht aus dem Zusammenprall zweier Dinge zustandekommenden Klang« (anähata shabda), d. h. den Shabdabrahman-»Klang« hören, der an dieser Stelle als Lebenspuls vorbeikommt. Denn hier weilt der Purusha (jlvätmä). Diesen Lotos hat man von dem eine Stufe tiefer sich darstellenden achtblättrigen Herzlotos, in welchem man in geistiger Andacht über die persönliche Schutzgottheit (Ishtadevatä) nach­ sinnend verharrt, streng zu unterscheiden (siehe A bb. V). Hier steht der Baum, der alle Wünsche erfüllt (kalpataru), und der juwelengeschmückte Altar (manipltha) steht darunter. W ie sagt doch das im Pränatoshini zitierte Vishvasära Tantra: »Shabdabrahman soll der Deva Sadäshiva sein. Diese Shabda (zuverlässige Mitteilung) soll im Anähata-Chakra auftreten. Das Anähata ist das große Chakra im Herzen aller Wesen. Omkära soll dort mit den drei Guijas vergesellschaftet sein.«296 Das Mahäsvachchhanda Tantra besagt:297 »Die Großen verkünden, daß sich Dein wonnevoller Leib, O Königin, im Anähata manifestiert und von den Gesegneten durch die einwärts gerichtete Innenschau im Geiste erkannt wird, so daß ihnen die Haare zu Berge stehen und die Augen vor Freude tränen.« Es handelt sich um einen zwölf blättrigen Lotos mit den zinnoberroten Buchstaben: Kam (%), Kham (% ), Garn (a‘r ) , Gham (^T), Ngam (%), Cham (^ ), Chham (W), Jam (%), Jham (ÍJ), Nyam (%), Tam (Z), Tham (%). Er gilt als Zentrum für das Väyu Tattva. Nach Vers 22 ist die Väyu-Region sechseckig (d. h. wird durch zwei ineinander verkehrt stehende Dreiecke dar­ gestellt) und zeigt wegen der sie umgebenden Dampfmassen eine rauchgraue Färbung298. Ihre »Windkeim«-Zaubersilbe (bija) »Yam« reitet auf einer als scheu und flüchtig bekannten, schwarzen Antilope, die auch als das Reittier (vähana) für die »Luftgottheit« (väyu) mit ihrem typischen Bewegungsvermögen gilt. Hier finden wir Isha, den obersten Regenten der ersten drei Chakras; die mit Menschen­ knochen bekränzte Shakti Käkinl, »deren Herz vom Nektartrunk besänftigt wird«; finden wir außerdem die durch ein umgekehrtes Dreieck (trikona) mit dem

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darin steckenden goldenen Bäna-Lingam symbolisch dargestellte und »von einer plötzlich aufkommenden Begierde erfaßte« (kämodgamollasita) Shakti, finden wir schließlich Hamsa, den Jlvätmä, als Licht, gleichsam wie »die an einem wind­ stillen Ort unbewegt leuchtende Flamme einer Lampe« (VV. 22-27). Der Ätmä wird in dieser Weise definiert, weil er wie die vom W inde nicht berührte Flamme in seinem Sosein für die Regungen dieser W elt als unerreichbar gilt299. Der siebzehnte Vers im Änanda-Laharl besagt, daß Vashini mit den übrigen Devatäs in den zwei ebenerwähnten Chakras zu verehren sei. Vashini und die übrigen sind acht an der Zahl300: 1. Vashini, 5. Arunä,

2. Kämeshvarl, 6. Jayinl,

3. Modinl, 7. Sarveshvarl,

4. Vimalä, 8. Kali oder Kaulinl.

Sie sind die jeweils regierenden Gottheiten über die acht folgenden Buchstaben­ gruppen : 1. VI bis VC: 16 Buchstaben,

2. cf bis

3. ^ bis W :

5. cf bis « f: 5 Buchstaben,

4. ~Z bis 7Ü: 5 Buchstaben, 6. tf bis TT: 5 Buchstaben,

7. VI bis ^ :

8. VT bis ^

5 Buchstaben, 4 Buchstaben,

: 5 Buchstaben,

oder 35: 5 Buchstaben.

Die im 17. Änanda-Laharl-Vers erwähnten anderen Wesenheiten sind die fo l­ genden zwölf Yoginls: 1. Vidyäyoginl, 5. Dlpikä, 9. Medhä,

2. Rechikä, 6. Jfiänä, 10. Vyomarüpä,

3. Mochikä, 7. Apyäyanl, 11. Siddhirüpä,

4. Amritä, 8. Vyäpinl, 12. Lakshmlyoginl.

Diese zwanzig Gottheiten (acht Vashinls und zwölf Yoginls) soll man im Manipüra und im Anähata-Zentrum verehren. Im Hinblick hierauf zitiert der Kommentator aus dem Taittirlyäranyaka einen Vers, der diese Gottheiten näher beschreibt und ihre betreffende Farbe, ihre Orte usw. schildert. Zuständig für die Einflußsphäre am Halsansatz (kantha-müla) ist das im Spinal­ zentrum liegende Vishuddha Chakra oder Bhäratlsthäna301, mit seinen sechzehn neblig-purpurnen Blütenblättern; auf ihnen finden sich folgende sechzehn Vokale mit dem Bindu darüber: Am (VT), Äm (V IT ), Im (t;), Im (^), Um (%), Üm 03»), Rim (% ), Rim ( % ) , Lrim (% ), Lrlm (^ ), Em (TT), Aim (t?), Om (vff), Aum (Vit) sowie die beiden Hauchlaute Am (VT) und Ah (VT.'). Nach dem Devibhägavata (VII/35) hat das Chakra seinen Namen davon, weil hier der Jlva beim Erblicken des Hamsa geläutert (vishuddha) wird. Hier liegt das Zentrum für das weiße kreisförmige Äkäsha, das Äthertattva, mit seiner »Ätherkeim«-Zaubersilbe (bija) »Ham«. Äkäsha ist weiß und reitet auf einem weißen Elefanten. Sein Mandala ist kreisförmig302. Hier findet sich der Sadäshiva in seiner Androgynform, als Arddhanärlshvara Murti, in der die eine Körperhälfte

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weiß, die andre golden ist. Hier findet sich weiter die weiße Shakti Shäkini, die Lichtgestaltige (jyotihsvarüpä). Hier liegt auch die Mondsphäre »Eingang zur großen Befreiung«. Denn an dieser Stelle »sieht der Jfiäni die drei Zeitformen« (trikäladarshi). Da alle Dinge im Ätmä existent sind, hat der Jnäni, der den Ätmä verwirklicht hat, diese Dinge erkannt (Vv. 28-31). Über dem Vishuddha, an der Gaumenwurzel, hegt ein Nebenchakra namens Lalanä, es wird in einigen Tantras auch Kalä Chakra genannt, doch in den hier übersetzten Werken nicht weiter erwähnt. Es ist ein roter Lotos mit zwölf Blüten­ blättern, der folgende Vritti oder Charaktereigenschaften auf weist: Shraddhä (Glaube), Santosha (Zufriedenheit), Aparädha (Erkennen des Irrtums), Dama (Selbstbeherrschung), Mäna (Angst, Verdruß)303, Sneha (Zuneigung)304, Shuddhatä (Reinheit), Arati (Weltablösung), Sambhrama (Bewegung)305, Urmi (Ver­ langen)306 (siehe weiter unten). Bevor ich obige Beschreibung zusammenfasse, möchte ich an dieser Stelle den Hinweis des Kommentators Kälicharana erwähnen, das Prinzip dieses Yoga bestehe darin, das Gröbere in das Subtilere überzuführen (sthulänäm sükshme layab). Das Gröbere im Körper kommt rangmäßig unter dem Subtileren. Die im Mülädhära und noch darunter vorhandenen oder mit ihm sich verknüpfenden Stoff­ dinge sind diese: 1. PrithivI Tanmätra (das unvermischt-feine »erdige« Element); 2. PrithivI Mahäbhüta (das stofflich-greifbare »erdige« Element); 3. die Nasenlöcher mit dem Geruchssinn, der niedrigsten Sinnesperzeption für die Umwelterfahrung (jfiänendriya); er gilt auch als das Konstituens (guna, das Attribut) für das PrithivI Tanmätra; 4. die Eüße, als die gröbsten Vertreter für die »Tatsinne« (karmendriya), »die PrithivI (das Erdige) als Stütze haben.« Die Nasenlöcher rangieren hier als gröbster Jfiänendriya, weil sie ein Sinnes­ organ enthalten, das die Geruchsqualität (guna) des gröbsten Tanmätra (gandha) wahrnimmt, eines Tanmätra, von dem sich die PrithivI Sthüla Bhüta herleitet. So stehen also die Jfiänendriyas über ihre Gunas (spezifische Konstituenten) mit den Tanmätras in Beziehung und sind als Sinnesorgane für ihre Wahrnehmung geeignet. In bezug auf die Tatsinne (karmendriya) scheint aber zwischen ihnen und den Tanmätras keine solche Beziehung zu gelten. In der Reihenfolge der successiven Einfaltung, der Laya, rangieren die Füße in gleicher Rangordnung wie das Erdige, die Hände wie das Wasser, der Anus wie das Feuer, der Penis wie die Luft und der Mund wie der Äther; sicher nicht deshalb, weil es eine direkte Beziehung zwischen Erde und Füße, zwischen Wasser und Hände, zwischen Feuer und Anus gäbe, sondern deshalb, weil diese Organe sich in einer ähnlichen Stufenfolge sich verfeinernder Subtilheit staffeln wie Erde, Wasser, Feuer und so fort. Die Hände denkt man sich also als subtilere Werkzeuge denn die Füße; den Anus307 als subtileres Agens als die Hände; den Penis als subtileres Agens als den Anus; und den Mund als subtileren Vermittler als den Penis. Das ist auch die Reihen­ folge, in der diese Werkzeuge am Körper zu hegen kommen, denn wenn man die

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Arme in ihre natürliche vertikale Lage bringt, kommen die Hände an zweiter Stelle und finden ihren Platz zwischen fiüße und Anus. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß hier die Tantras dem Sämkhya folgen und den Schöpfungs­ plan so darlegen, wie er sich in den Puränas findet, wonach also die Jnänendriyas, die Karmendriyas und Tanmätras verschiedenen Aspekten des dreifältigen Ahamkära entspringen sollen. Nach dem Vedänta stehen im erschaffenen Jiva Sinnes­ organe und Tanmätras in einem Wechselbezug, denn die Sinnesfunktionen ver­ knüpfen sich mit den Tanmätras; die Reihenfolge der Sinnesorgane differiert in diesem Palle aber von der im vorhegenden Werk angegebenen. Denn nach dem vedantischen Schema steht das Erdprinzip mit dem Geruchssinn und mit dem Penis in Beziehung; das Wasser hat eine Beziehung zum Geschmackssinn und zum Anus; das Feuer zum Gesichtssinn und zu den Füßen; die Luft zum Berüh­ rungssinn und zu den H änden; und der Äther zum Gehörssinn und zum Mund. Eine anscheinend erfundene aber gleichfalls angegebene Erklärung anderer Art ist diese: Die Füße verknüpfen sich mit dem Erdigen, weil dieses allein Stütz­ fähigkeit besitzt und weil die Füße auf ihm ruhen. »Wasser« assozüert man mit den Händen, weil man beim Wassertrinken die Hände benutzt. Das W ort päni = Hand leitet sich von der W ort Wurzel pä = trinken ab (piyate anena iti päni). »Feuer« bringt man mit dem Anus in gedankliche Verbindung, weil das Gegessene durch Hitze im Magendarmtrakt zerstört und sein Rückstand per anum entleert wird — ein Vorgang, der den Körper wieder reinigt. »Luft« wird dem Penis zu­ geordnet, weil der Jivätmä bei der Zeugung sich als Präriaväyu durch den Penis auss.ößt. Und darum sagt das Shruti: »Der Ätmä als solcher wird im Sohne wiedergeboren« (ätmä vai jäyate putrab). »Äther« assozüert man mit dem Mund, weü der Mund den Klang erzeugt, und der Klang das Guna (Konstituens) des Äthers (äkäsha) darsteüt. Bislang haben wir uns mit den verhältnismäßig groben Tattvas beschäftigt. Nach dem vorhegenden Werk sind die zwanzig (4 mal 5) gröberen Tattvas in folgender Weise miteinander verknüpft (siehe Tabelle): aufgelöst im Zentrum

die gröberen Tattvas

1. M ülädhära.................

gandka tanmätra (Geruch); prithivi tattva (Erde); jüänendriya

2. Svädhishthäna.........

rasa tanmätra (Geschmack); ap tattva (Wasser); jfiänendriya Schmeckens; karmendriya der Hände. rüpa tanmätra (Gesicht); tejas tattva (Feuer); jüänendriya Sehens; karmendriya des Anus. sparsha tanmätra (Gefühl); väyu tattva (Luft); jüänendriya Fastens; karmendriya des Fenis. shabda tanmätra (Gehör); äkäsha tattva (Äther); jüänendriya Hörens; karmendriya des Mundes.

des Kiechens3'“ ; karmeadnya der Füße. 3. M anipüra................... 4. A nähata..................... 5. Vishuddha.................

des des des des

Man wird bemerkt haben, daß mit jedem einzelnen Element je ein Empfindungs­ organ (jüänendriya) und je ein Tatorgan (karmendriya) korrespondiert. Im II. Kapitel des Prapanchasära Tantra heißt es: »Äther ist in den Ohren, Luft ist in der Haut, Feuer ist im Auge, Wasser ist in der Zunge, und das Erdige findet sich in den Nasenlöchern.«

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Möglicherweise hat man die Karmendriyas deshalb so arrangiert, weil die Tattvas der sie aufnehmenden jeweiligen Zentren — wie oben ersichtlich — von ähnlich gestaffelten groben resp. feinen Gradabstufungen sind. W ie ich später bemerkt habe, geht jede Tattva-Klasse, angefangen bei dem niedrigsten und gröbsten Zentrum, dem Mülädhära, in die nächsthöhere Rangordnung über. Soviel über die Tattvas der »stofflichen« Seite der Schöpfung. Als nächstes kommen wir nun zum letzten, d. h. zum Äjüä Chakra, in welchem wir die subtilen Geistestattvas und subtilen Prakrititattvas vorfinden. Das Chakra hat seinen Namen davon, weil man hier von oben den Befehl oder Auftrag (äjfiä) des Guru empfängt. Es ist ein zwischen den Augenbrauen befindlicher zwei­ blättriger weißer Lotos mit den weißen Buchstaben Ham (Y) und Ksham (%). Damit erschöpfen sich die fünfzig Buchstaben. W ir haben gesehen, daß die sechs Chakras insgesamt fünfzig Blütenblätter und fünfzig Buchstaben aufweisen. In der Samenhülle finden wir das große Mantra »Om«. Jeder Lotos trägt zwei oder auch vier Blütenblätter mehr als der ihm unmittelbar unterstellte, und die Blütenblätterzahl des Yishuddha Chakra zum Beispiel ist die Summe der vor­ hergehenden Zahlenunterschiede. Hier finden wir den Paramashiva in der HamsaForm (hamsa-rüpa), Siddhakäli, die weiße Häkini Shakti, »trunken vom Ambrosia­ trank«, das mit der Spitze nach unten gekehrte Dreieck, die Y oni (trikona), mit dem in sie eingeführten und blitzhell leuchtenden Itara Lingam. Wir haben also jeweils eines der drei Lingams im Mülädhära, resp. im Anähata und im Äjüä Chakra; denn an diesen drei »Knoten« (brahmagranthis) hier ist die Widerstands­ kraft der Mäyä Shakti besonders stark ausgeprägt. Hier ist auch die Stelle, wo die mit Feuer, resp. mit Sonne oder Mond verknüpften drei Tattva-Gruppen zu­ sammenfließen309. Wenn man vom »Türenöffnen« spricht, meint man damit den Durchgang durch diese Granthis. Dieses Äjüä ist der Lokalisationsort für die subtilen Tattvas »Mahat« und »Prakriti«. Ersteres besteht aus Antahkarana (dem »inneren Werkzeug«) einschließlich seiner Gunas — d. h. aus Buddhi, Chitta, Ahamkära und dessen Produkt Manas (sasamkalpavikalpaka). Im allgemeinen sagt man einfach, Manas ist das Tattva des Äjfiä Chakra. Da es aber das Geist­ zentrum ist, umfaßt es alle obengenannten Geistaspekte einschließlich Prakriti, aus der sie sich ja herleiten, umfaßt es außerdem noch den Ätmä in der PranavaForm (Om) als seinem Bija. Hier leuchtet der Ätmä (antarätmä) strahlend wie eine Flamme. Das Licht dieser Sphäre macht alles zwischen Müla und Brahmarandhra Liegende sichtbar. Durch die Kontemplation auf diesen Lotos gewinnt der Yogi weitere übernatürliche Kräfte (siddhi) und wird ein Advaitächäravädl (Monist). Im Hinblick auf diesen Padma gibt der Text (S. N., Vers 36) ent­ sprechende Anweisungen, wie man vermittels der Yonimudrä die Weltablösung vollziehen kann. An dieser Stelle verwahrt nämlich der Y ogi in seiner Sterbestunde den Präna und geht dann in den höchsten uranfänglichen Deva, in den Puräna (uralten) Purusha über, »der vor den drei Welten schon existierte und durch den Vedanta bekannt ist«. Derselbe Vers beschreibt dann auch die Methode (pränäropanaprakära). Vom letztgenannten Zentrum aus entwickelt man sich aus der kausalen Prakriti den Hauchkörper, der, individuell gesehen, als Taijasa, kollektiv gesehen (d. h. als Ishvara-Aspekt) als Hiranyagarbha bekannt ist. Diesen Terminus

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bezieht man auf die Manifestation des Paramätmä im Antabkarana; im Präna entfaltet ist es der Süträtmä; und wenn er sich ohne nähere Differenzierung durch diese beiden Träger manifestiert, bezeichnet man ihn als Antaryämin. Die Chakras sind die Körperzentren für die ganze Fülle manifest gewordener Differenziertheit, die Zentren für den aus dem Ursachenkörper emanierenden Hauchkörper resp. für den aus diesem emanierenden groben Stoffkörper auf den ihnen jeweils zukommenden drei Bewußtseinsebenen im traumlos-tiefem Schlum­ mer, resp. im Schlaf und im Wachzustand. Über dem Äjfiä Chakra (Vv. 32-39) liegen die in den hier übersetzten Texten nicht näher erwähnten beiden unwichtigen Chakras: das Manas Chakra und das Soma Chakra. Das Manas Chakra ist ein sechsblättriger L otos; auf seine Blütenblätter lokali­ siert man (d. h. denkt sich seine Blütenblätter als Sitz für) die Empfindungen des Hörens, Berührens, Sehens, Riechens und Schmeckens, ferner die zentral aus­ gelösten Wahrnehmungen im Traum und in der Halluzination. Über diesem wieder liegt das Soma Chakra, ein sechzehnblättriger Lotos mit gewissen, später noch genauer definierten Vrittis310. In dieser Sphäre finden wir »das Haus ohne Stütze« (nirälambapuri), »wo die Yogins den strahlenden Ishvara erblicken«, finden wir die sieben Ursachenkörper (Vers 39), Zwischenaspekte der Ädyä Shakti, finden wir ferner den weißen zwölf­ blättrigen Lotos dicht bei der Sahasrära-Fruchthülle (Vv. 32-39) — d. i. der zwölfblättrige Lotos mit dem A-Ka-Tha-Dreieck, das den juwelengeschmückten Altar (manipltha) auf der im Nektarozean schwimmenden Edelsteininsel (manidvipa) umrandet311 — mit dem Bindu darüber und der Näda darunter; finden wir schließlich das Kämakalä-Dreieck und den Guru aller, den Paramashiva. Über diesem wieder liegen in der Fruchthülle das Süryamandala und das Chandra­ mandala sowie der vom sechzehnten und siebzehnten Strahlenfinger des Mond­ kreises umgebene Para-Bindu. Im Chandramandala liegt ein Dreieck. Über dem Mond finden wir den Mahäväyu, dann kommt die Brahmarandhra mit der Mahäshamkhini. Der zwölfblättrige Lotos und das mit ihm Verknüpfte sind das spezielle Thema des hier übersetzten kleinen Büchleins »Pädukäpanchaka Stotra«, das neben dem Lobgesang Shivas auf den »Fünffältigen Fußschemel« noch den Kommentar des Shri Källcharana enthält. Die »Fußschemel« werden ganz unterschiedlich eingeteilt. Nach der ersten Klassifizierung sind ihre Bestandteile: 1. der weiße zwölf blättrige Lotos in der Samenhülle des Sahasrära-Lotos. Hier hegt 2. das auf der Spitze stehende Dreieck, die als »A-Ka-Tha« bezeichnete Wohnstätte der Shakti; 3. die Altarstätte (manipitha) mit Näda und Bindu zu beiden Seiten. Der »weiß wie ein Silberberg« leuchtende Ewige Guru soll als ein auf dem Juwelenaltar (manipltha) thronendes Wesen betrachtet werden. 4. Der vierte Pädukä ist der unter dem Antarätmä befindliche Hamsa; und 5. das Dreieck auf Pitha, dem Göttersitz.

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Die Unterschiede zwischen dieser und der zweiten Klassifizierung werden in den Anmerkungen zum 7. Vers des Pädukä des näheren erläutert. Letztere Ein­ teilung zählt die Bestandteile wie folgt a u f: 1. 2. 3. 4. 5.

der zwölf blättrige L otos; das Dreieck mit Namen A -K a-Tha; Näda-Bindu; das Manipitha-Mandala; und der das dreiseitige Kämakalä zusammensetzende Hamsa. Dieses Dreieck, das höchste Tattva, bildet sich aus den drei Bindus, die der Text Chandra (Mond)-Bindu, Sürya(Sonne)-Bindu und Vahni(Feuer)-Bindu nennt; man kennt sie auch unter dem Namen Prakäsha-Bindu, Vimarsha-Bindu312 und Mishra-Bindu.

Der als das dreieckige Kämakalä bekannte Hamsa, die Verkörperung der Purusha-Prakriti, baut sich in dieser Weise auf. Der erste Bindu ist der an der Dreiecksspitze Hegende Bindu »Hamkära«, die beiden anderen Bindus heißen »Visarga« oder »Sa« und sind Prakriti. Dieses Kämakalä ist die Müla (Wurzel) für das Mantra. In den Tantras wird durch dieses Kämakalä — die Wohnstätte (abalälayam) der Shakti — der Shabdabrahman mit seinem dreifältigen Aspekt und seiner dreifäl­ tigen Energieform sinnbildüch dargestellt. Es ist das erhabenste Dreieck und steht — wie alle Yonipithas — verkehrt. Ich möchte hier erwähnen, daß man die Shakti wegen ihrer dreifältigen Manifestation als Wille, Tat und Erkenntnis (ichchhä, kriyä und jnäna) durch ein Dreieck versinnbildhcht. Es gibt ja auch auf der materiellen Ebene beim Vorhandensein dreier Kräfte keine andere Mögüchkeit, diese drei in ein gegenseitiges Bezugsverhältnis zu bringen, als in Form eines Dreiecks, in welchem sie, sind sie einzeln genommen auch voneinander getrennt und verschieden, doch aufeinander Bezug haben und den Teil eines Gan­ zen bilden. An den Dreiecksecken haben wir (an der Basis) zwei Bindus und an der Spitze einen einzelnen Bindu. Es sind das der Feuerbindu (vahnibindu), der Mondbindu (chandrabindu) und der Sonnenbindu (süryabindu)313. Aus diesen Bindus emanieren drei Shaktis, sie werden durch die die Bindus verbindenden Linien angedeutet und bilden auf diese Weise ein Dreieck. Diese Linien sind die ShaktiVämä-Linie, die Shakti-Jyeshthä-Linie und die Shakti-RaudrI-Linie. Diese Shak­ tis repräsentieren Wille (ichchhä), Tat (kriyä) und Erkenntnis (jftäna). Mit ihnen sind Brahmä, Vishnu und Rudra jeweils mit Rajasguna bzw. mit Sattvaguna und mit Tamasguna verbunden. Die aus den drei Bindus, dem Hamsa, emanierenden DreiecksUnien setzen sich aus den achtundvierzig Alphabetbuchstaben zusammen. Die sechzehn mit A be­ ginnenden Vokale bilden die eine Linie; die sechzehn mit K a beginnenden K on ­ sonanten bilden die zweite Linie; und die mit Tha beginnenden, nachfolgenden sechzehn Buchstaben bilden die dritte Linie. Darum heißt das Dreieck auch »A-Ka-Tha «-Dreieck. In den Innenwinkeln des Dreiecks finden wir die restHchen drei Buchstaben: Ha, Lla und Ksha. Das Yämala äußert sich über dieses Behältnis

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wie folgt: »Ich spreche jetzt über die Kämakalä« — und es heißt dann weiter: »Sie ist die Ewige, sie besteht aus den drei Bindus, aus den drei Shaktis und aus den drei Formen (trimürti).« Das Brihat-Shri-krama sagt an der Stelle, wo es sich mit der Kämakalä befaßt: »Vom Bindu (d. h. vom Parabindu) ausgehend, hat sie Buchstabenform an­ genommen (varnävayavarüpinl).« Das Käll Ürdhvämnäya sagt: »Der dreifältige Bindu (tribindu) ist das erhabenste Tattva und verkörpert in sich Brahmä, Vishnu und Shiva314.« Das aus den Buchstaben sich zusammensetzende Dreieck ist aus dem Bindu hervorgegangen. Diese Buchstaben nennt man die Mätrikä Varna. Sie bilden den Leib der Kulakundalini315, den Shabdabrahman, denn sie sind in ihrem VaikhariZustand verschiedene Manifestationsformen des uranfänglichen unmanifestierten »Klanges« (avyaktanäda). Sie erscheinen bei der Selbstaufspaltung des Parabindu als manifestierter Shabda; denn diese Selbstzerspaltung charakterisiert das Auftreten der diffe­ renzierten Prakriti. Der Kommentar zum Pädukäpanchaka besagt (in Vers 3), der Bindu sei die Parashakti als solche, seine Varianten nenne man Bindu, Näda und Bija oder Sonne, Mond und Feuer; Bindu, die Sonne, sei rot; Näda, der Mond, sei weiß316. Sie bilden die Chinmaya kosha, die Bewußtseinshülle resp. die Änandamayakosha, die Wonnehülle (Pädukäpanchaka, Vers 3). Die die Dreiecksbasis formenden zwei Bindus sind der Visarga (ibid. Vers 4). Im Ägamakalpadruma heißt es: »Hamkära ist Bindu oder Purusha, und Visarga ist San, die Prakriti. Der Hamsa ist also die Verschmelzung des männlichen Prinzips mit dem weiblichen, der Kosmos ist der Hamsab.« Die dreiseitige Kämakalä bildet sich demnach aus dem Hamsah (ibid.). Hamsa-Pitha setzt sich aus Mantras zusammen (ibid. Vers 6). Da dieses Thema so überaus wichtig ist, möchte ich den im vorliegenden Werk übersetzten Belegen noch einige weitere Quellen anfügen. In seinem Kommentar über den 124. Vers aus dem Lalitä — in welchem die Devi als in der KämakaläForm (kämakalärüpä) befindlich angesprochen wird — sagt Bhäskararäya: »Drei Bindus gibt es und das Härdhakalä317. Von diesen Bindus heißt der erste >KämaKämäKäla< (die Zeit), und die 360 Tage (Strah­ len) ergeben ein Jahr. Der Veda sagt: >Das Jahr als solches ist eine Dorm Gottes, der Zeitgott, der Weltschöpfer, erschuf zuerst Marlchi (die Lichtstrahlen) usw., die Munis, die Weltbeschützer. Alles ist auf Befehl der Parameshvarl ins Dasein getretene« »Dindima wieder hat eine ganz andere Auffassung von diesem Vers. Er deutet ihn in dem Sinne, daß der Verfasser, nachdem er Antaryäga (die innere Anbetung) bereits beschrieben hätte, hier die Verehrung der Ävarana Devatäs — d. h. der jedem einzelnen Chakra oder Zentrum innewohnenden Gottheiten — vorschlüge, ohne deren Versöhnung oder Zustimmung das Hindurchleiten der Kundalini durch diese Chakras für den Operierenden praktisch unmöglich sei. Er zählt alle 360 Gottheiten auf und beschreibt die Art und Weise, wie man eine jede von ihnen zu verehren hat.« »Es gibt noch andere Ausleger, die die 360 Strahlen esoterisch auffassen und sie außer mit den 360 Jahrestagen noch mit dem menschlichen Körper in einen Zusammenhang bringen. Jeder Kommentator beruft sich, um seine Auffassungen zu stützen, auf das I. Kapitel im Taittariyäranyaka. Das Taittariyäranyaka scheint also für den Mystiker noch sehr viel geistig zu verarbeitendes esoterisches Gedankengut zu enthalten. Das erste Kapitel des erwähnten Äranyaka wird zur Lobpreisung der Sonne zelebriert. Seine Überschrift lautet >ÄrunamManovahä Nädi< (den Bewußtseinsträger) mit der Cerebrospinalachse und ihren Verästelungen undvergleicht das Gebilde mit einem umgekehrten Flaschenkürbis und seinem tausend­ fach sich aufzweigenden und nach untenhängenden Stamm. Die Sushumnä, der Zentralkanal im Rückenmark, repräsentiert den >Kürbisstiel< (oder einen Einzel­ ast). Die Yogaschriftsteller (einschließlich der Verfasser der verschiedenen tantrischen Lehrsysteme) verwenden den Ausdruck aber nicht ganz einheitlich. Nach ihrer Auffassung ist die >Manovahä Nädi< der an der Hirnbasis verlaufende Ver­ bindungskanal zwischen Jlva (Seele) und Manas Chakra (Sensorium). Die sen­ sorischen Nervenströme werden zwar in den afferenten Nervenbahnen der spe­ zifischen Sinnesorgane an die sensorischen Ganglien herangetragen. Das allein genügt aber nicht, um sie über die unterscheidende Bewußtseinsschwelle steigen zu lassen. Erst muß ein Kontakt zwischen dem (im Sahasrära Chakra, d. h. im übergeordneten Großhirn befindlichen) Jiva und den im Sensorium perzipierten sensorischen Nervenströmungen Zustandekommen, und das vollzieht sich über die >Manovahä Nädisvapnavahä näd!Ajfiävahä Nädi< die Gedankenbefehle der Seele vom Sahasrära (dem über­ geordneten Großhirn) zum Äjfiä Chakra (dem motorischen Funktionssystem an der Hirnbasis), Befehle, die dann von dort aus auf den efferenten Nervenbahnen entlang zu den verschiedenen Peripherieteilen heruntergeleitet werden. Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, daß man manchmal ganz allgemein die sensorisch­ spezifischen Nerven mit der Manovahä Nädi zusammen als müänavahä Nädi< — wörtlich: >Weg für die auf unmittelbarer Vorstellung basierende Erkenntnis< — bezeichnet. Soweit bestehen also keine Schwierigkeiten. Die >Manovahä Nädi< und die >Ajfiävahä Nädi< verknüpfen das an der Hirnbasis gelegene sensorisch­ motorische Funktionssystem (manas chakra und äjfiä chakra) mit dem höchsten (und charakteristischen) Sitz der Seele (jiva) im übergeordneten Großhirn (sahas­ rära), wobei man sich die eine als W eg für den Antransport sensorischer Impulse, die andere als W eg für den Abtransport motorischer Impulse vorzustellen hat. Willensleistungen aber sind bewußte Vorstellungen (äjfiä, prayatna), und darum muß die >Manovahä Nädi< mit der >Ajfiävahä< kooperieren, damit das bewußte Wissen um die Leistung Zustandekommen kann. Aufmerksamkeit, die als eine typische Manas-Funktion die Sinnesvorstellungen des Manas über die unter­ scheidende Bewußtseinsschwelle steigen läßt, verlangt aber eine Leistung (pra­ yatna) von seiten der Seele (ätmä, jiva), verlangt eine Anstrengung, die uns auf dem Wege über die Manovahä Nädi bewußt wird. W ie aber soll man nun den Leistungsvorgang in den motorischen Nerven erläutern? Shankara Mishra, der Verfasser der Upaskära über die >Kanädas SütrasAjüävahä< (willkürlich motorisch) oder >Pränavahä< (unwillkürlich motorisch) — wäre demnach an taktile und diesem betreffenden Nerven untermischte Fasern (wäre also an Nerven für die innerkörperliche Empfindung) gebunden. So umfasse die durch den A uto­ matismus der Pränas bewirkte Assimilation von Speise und Trank ein von einem nicht näher definierbaren organischen Bewußtsein getragenes (automatisches) Bestreben (prayatna), das auf die Tatsache zurückzuführen sei, daß winzigfeine Fäserchen des inneren Tastsinnes (eben die pränavahä nädis) dem Mechanismus der selbsttätig wirkenden Nerven untermengt seien.« Bis zu einem gewissen Grade haben die hier angegebenen Lokalisationen als hypothetisch zu gelten. Es muß Ansichtssache bleiben, ob zum Beispiel das Hals­ zentrum mit dem Carotisplexus, mit dem Luftröhrenplexus, mit dem Speiseröhren­ plexus oder gar mit allen dreien korrespondiert; ob das Nabelzentrum mit dem Oberbauchplexus, mit dem Solarplexus oder mit dem Lumbalplexus, das Äjüä mit dem Schädelhöhlenplexus, mit der Zirbeldrüse, mit der Hypophyse oder mit dem Kleinhirn usw. in Verbindung steht. Denn allem gegenteilig Bekannten zum Trotz mag jedes einzelne Zentrum über mehr als eine solche Verbindung verfügen. Alles was man mit ziemlicher Sicherheit sagen kann ist dies, daß die vier Zentren oberhalb des Mülädhära — dem Sitz der vorherrschenden Energie — mit der Genitalabsonderung, mit der Verdauung, mit Kreislauf und Atmung funktionell gekoppelt sind, und daß die beiden höheren Zentren (äjüä und sahasrära) ver­ schiedene Hirnfunktionsformen charakterisieren, die schließlich in die Gemüts­ ruhe, in die große Stille reiner Bewußtheit auslaufen. Die hinsichtlich einiger dieser Dinge vorherrschende Unklarheit liegt im Text als solchem begründet, und die Mannigfaltigkeit der hier diskutierten Thematik könnte man in ihrer Meinungs­ verschiedenheit als Ausdruck persönlicher Textausdeutung auffassen, wie man das allenthalben in den Tantras und anderen Shästras finden kann. In den oben zitierten Berichten finden sich aber auch Darstellungen, die ich, wenn ich sie mir näher ansehe, mißbilligen muß, auch wenn ich sie nicht selten gelten lasse. Es heißt da beispielsweise, das »Ädhära Chakra« ist der KreuzbeinSteißbeinplexus, das »Svädhishthäna« ist der Sakralplexus usw. Dieses W erk — abgesehen von anderen — beschreibt jedoch klipp und klar, daß die Chakras in der Sushumnä liegen. Vers 1 spricht von den »Lotossen im Innern der Meru« (Wirbelsäule); und da die Sushumnä diese (d. h. Lotosse) trägt, muß sie ja notwendigerweise auch im Meru-Innern hegen. Dies sei denen zur Antwort gegeben, die auf Grund einer Textstelle im Tantrachüdämani irrtümlicherweise annehmen, die Sushumnä hege außerhalb der Meru. Desgleichen widerlegt der Kommentator den Irrtum derer, die in Anlehnung an das Nigamatattvasära der Ansicht sind, nicht nur die Sushumnä, sondern auch Idä und Pingalä befänden sich im Meru-Innern. Vers 2 besagt, die Chitrini, die die Lotosse gleichsam wie aufgereihte Edelsteine trägt und wie ein hauchfeiner Spinnenfaden alle im Rückgradsinnern befindlichen Lotosse durchdringt, hegt innerhalb der Vajrä (die als solche wieder innerhalb der Sushumnä verläuft). An der gleichen Stehe bekämpft

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der Verfasser die auf das Kalpa Sütra sich stützende Ansicht, daß die Lotosse im Chitrini-Innern zu finden seien. Diese Lotosse befinden sich (nämlich) in der Sushumnä; weil aber die Chitrini innerhalb dieser Nädi verlaufe, durchdringe sie jene, enthalte sie aber nicht. Einige Verwirrung verursacht die Schilderung in Vers 51, die Lotosse fänden sich in oder auf der Brahmanädl. Damit ist jedoch gemeint, daß sie dieser Nädi angehörten, denn sie liegen ja in der Sushumnä, deren Zentralkanal die Brahmanädl ist. Der Kommentator Vishvanätha sagt mit einem Zitat aus dem Mäyä-Tantra, daß alle sechs Lotosse an der Chitrini Nädi befestigt seien (chitrinl-grathitam). Aus all dem geht jedenfalls eine Schlußfolgerung eindeutig hervor: die Lotosse liegen im Innern der Wirbelsäule in der Sushumnä und nicht in den diese um­ gebenden Nervengeflechten. Im Wirbelsäuleninnern finden sie sich als überaus subtile Vitalzentren der Pränashakti, als Bewußtseinszentren. In diesem Zu­ sammenhang möchte ich noch einen Artikelauszug über »Physical Errors of Hinduism« (Naturwissenschaftliche Irrtümer im Hinduismus)381 erwähnt haben, den ich dem Werke von Professor Sarkar entnehme: »Es müßte allerdings unsere Leser in Erstaunen setzen wenn sie erfahren, daß die Hindus, die nicht einmal einen toten Körper anfassen, geschweige denn zer­ gliedern, überhaupt ein anatomisches Wissen besitzen sollten . . . Die Tantras sind es, die uns in bezug auf den menschlichen Körper mit einigen ungewöhnlichen Informationen versorgen . . . Von allen noch vorhandenen Hindu- Shastras liegen aber die Tantras im tiefsten Dunkel . . . Die tantrische Theorie, auf die der unter dem Namen gut bekannte Y oga sich stützt, vermutet die Existenz von sogenannten Chakras oder Padmas, sechs mächtige Innenorgane, die alle eine besondere Ähnlichkeit mit jener berühmten Blüte, dem Lotos, zeigen. Sie informieren sich übereinander und sind durch drei imaginäre Ketten — die Symbole für Ganges, Yamunä und Saraswati — miteinander verbunden . . . Die Hindus halten mit einer derartigen Halsstarrigkeit an diesen irrigen Vorstellungen fest, daß, selbst wenn ihnen an Hand einer vorgenommenen Sektion die Nicht­ existenz der imaginären Chakras im menschlichen Körper nachgewiesen würde, sie lieber zu manchen, dem gesunden Menschenverstand spottenden Ausreden greifen, als den von ihren eigenen Augen gelieferten Beweis anerkennen würden. Mit einer beispiellosen Unverschämtheit behaupten sie, diese Padmas existierten nur so lange, wie der Mensch lebe, vergingen aber in dem Augenblick, wo er stürbe382.« Das ist indessen ganz korrekt, denn bewußte und lebensnotwendige Zentren können nicht in einem Körper weiterexistieren, wenn der von ihnen zusammengehaltene Organismus vergeht. In Wirklichkeit könnte man die gegen­ teilige Schlußfolgerung weit eher als eine >unverschämte< Dummheit bezeichnen383. Der Verfasser, von dem dieses Zitat stammt, schreibt dann in dem Werke weiter, die Tantriker müßten trotzdem, auch wenn man diese Chakras auf befriedigende Weise nicht habe identifizieren können, die Kenntnis hierüber durch Obduktion erhalten haben. Er müsse hierbei auf die physischen Körperregionen hinweisen, die auf der stofflich-groben Ebene mit den einzelnen Chakras korrespondierten und von ihnen beherrscht würden, wobei diese im Rückenmark gelegenen Chakras als subtile, vitale und bewußte Zentren für alle außer für das Sehvermögen eines

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Y ogin 384 unsichtbar seien und vorhanden wären, wenn der Körper lebe, aber verschwänden, wenn die dem Lingasharira zukommende Vitabtät (präna) der Körper verlasse. Es ist deshalb meines Erachtens ein Fehler, die Chakras mit den erwähnten physischen Geflechten zu identifizieren. Diese sind dem groben Stoffkörper zu­ gehörige Gebilde, wogegen jene — die Chakras — als überaus subtile Vitalzentren für die verschiedenen tattvischen Wirkkräfte zu gelten haben. In gewissem Grade könnte man die dem Auge als Nervengeflechte und Ganglien erkennbaren stofflich­ groben Körpergebilde mit diesen subtilen Zentren in einen Zusammenhang bringen. Verknüpfen und In-Beziehung-Bringen resp. gleichsetzen sind aber zwei grund­ verschiedene Dinge. Das indische Denken und sein in der Sanskritsprache zum Ausdruck kommendes Gepräge haben eine selten scharfsinnige und inhaltsreiche Eigenart, die einem die Möglichkeit an die Hand gibt, viele Begriffe zu erklären, für die es im Englischen — außer einer Umschreibung — nichts Gleichwertiges gibt. Vermöge der aus dem Ätmä stammenden Kraft (shakti), vermöge des Be­ wußtseins, ist nämlich der Körper überhaupt vorhanden. Der Gesamtpräna hält den Leib als eine persönliche menschliche Wesenheit zusammen, genauso wie er die den Leib aufbauenden verschiedenen Urprinzipien und Elemente (tattva) kraftmäßig stützt und hält. Diese Tattvas verfügen, auch wenn sie den Körper durchdringen, über verschiedene spezielle Wirkungsbereiche. W ie man aus anderen Gründen annehmen darf, liegen diese Wirkungsbereiche längs der Achse und sind SükshmaRüpa, d .h . Subtilformen dessen, das sich in grober Form (sthüla rüpa) im physischen Körper ausprägt und sich als solche ringsherum verdichtet hat. Sie bilden die jeweiligen Manifestationen der Pränashakti, der Vitalkraft. Mit anderen W orten: die Subtilzentren oder Chakras beleben von einem objektiven Standpunkt aus die in den verschiedenen regionären Wirbelsäulenabschnitten gelegenen grobstoffig-körperlichen Funktionssysteme und beherrschen damit die in diesen Körpersphären liegenden diesbezüglichen Ganglien, Geflechte, Nerven, Arterien und Organe. Nur so, wenn überhaupt, nämlich in dem Sinne grobstoffiger äußerer Repräsentanten für die Spinalzentren, könnten wir also die Geflechte usw. mit den in Yogabüchern besprochenen Chakras in Zusammenhang bringen. Nur in diesem Sinne könnte man das vom Subtilzentrum bis zur Peripherie hin sich erstreckende ganze Funktionssystem einschließlich seiner korrespondierenden Körperelemente als das (vermutete) Chakra ansehen. Da das Grobe mit dem Subtilen in dieser Weise korrespondiert, wird die mentale Krafteinwirkung auf das eine auch das andere beeinflussen. Bestimmte Kräfte haben sich nun in diesen Chakras aufgehäuft; deshalb und in bezug auf ihre Funktion betrachtet man die Chakras als getrennte und voneinander unabhängige Zentren. Auf diese Weise erhalten wir die sechs Subtilzentren im Strang mit ihren gröberen Verdichtungen im Stranginnern als solchem, mit ihren noch gröberen Hüllen in dem von den sympathischen Nerven »Idä« und »Pingalä« und den anderen Nädls durchzogenen Gebiet. Außerhalb von all diesem und außerhalb der grobstofflich zusammen­ gesetzten Körperelemente modellieren sich die Lebensorgane — ihr vitales Inner­ stes aber ist und bleibt das subtile Chakra, das sie belebt und beherrscht. Nach der tantrischen Lehrauffassung darf man die subtilen Aspekte der sechs Zentren,

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fS V

während man seine Aufmerksamkeit dem stofflich-greifbaren physiologischen Körperaspekt zuwendet, nicht außer acht lassen. W ie ich das vorher schon erklärt habe, und wie es der Kommentar zum 35. Vers im Anandalaharl erläutert, gibt es sechs Devas: Shambhu, Sadäshiva, Ishvara, Rudra, Vishnu und Brahma. Sie haben ihren Wohnsitz in den folgenden sechs Lokas oder Regionen: Maharloka, Tapoloka, Janaloka, Svarloka, Bhuvarloka und Bhörloka (Erde). Diese Gott­ heiten repräsentieren nämlich die das Shatchakra jeweils beherrschende Bewußt­ seinsform. Mit anderen W orten: Bewußtsein (chit), als das letzthinnige erfahrende Prinzip, erfüllt und gründet alle Existenz. Jede einzelne Körperzelle besitzt ein ihr zukommendes Bewußtsein eigener Art. Die von den Zellen aufgebauten, ver­ schiedenen körperlichen Organgebilde haben aber nicht nur ein spezielles Zellbe­ wußtsein, sondern verfügen auch noch über ein Bewußtsein des betreffenden Organ­ teils, das von dem bloßen Bewußtseinskollektiv seiner Zell-Einheiten grundver­ schieden ist. In diesem Sinne also mag es ein in den Bauch lokalisierbares Bewußt­ sein geben. Und das Bewußtsein einer solchen Körperzone ist dann eben ihr Devatä, d. h. der Chit-Aspekt, der sich mit dieser Region verknüpft und sie beseelt. Schließlich hat der Organismus, als Ganzes gesehen, sein Bewußtsein, und das ist der persönliche »Jlva«. Dann gibt es noch die Subtilform, d.h . den Körper dieser Devatäs, in der Gestalt des Geistes —das ist die übersinnliche >Substanz< (tanmätra); gibt es weiter die sinnlich wahrnehmbare >SubstanzKlangLuft< (pränaväyu) zuerst auftreten. Diese — von einer zu sprechen wünschenden Person — in schwingende Bewegung versetzte >Luft< manifestiert den allesdurchdringenden Shabdabrahman395.« Wenn der Shabdabrahman in seinem eigenen Wirkungsbereich (d. h. in der im Mülädhära befindlichen Kundall als solcher) regungslos verharrt (nishpanda), findet er sich in der Kärana Bindu-Form, man nennt ihn dann Parä Shakti, die Parä-Sprachform. Wenn der durch die gleiche »Luft« manifestierte selbe Shabdabrahman auf den Nabelbereich übergeht, sich dort mit Manas verbindet und dadurch, ganz allgemein, die für den manifestierten Karya Bindu typische Schwingungsform annimmt (sämänyaspanda), bezeichnet man ihn als die Pashyanti-Sprache396. Pashyanti, die man als Jnänätmaka und Bindvätmaka ( = dem Wesen nach chit und bindu) beschreibt, reicht vom Mülädhära bis zum Nabel oder — nach einigen Berichten — bis zum Svädhishthäna. Und weiter: den durch die gleiche »Luft« manifestierten selben Shabdabrahman nennt man, wenn er bis zum Herzen vordringt und dort, mit Buddhi verschmolzen, die für die manifestierte Näda besonders typische Klangform (visheshaspanda) annimmt, die Madhyamä-Sprache397. Das ist der Hiranyagarbha-Klang, er reicht von der Pashyanti-Sphäre bis zum Herzen. Und weiter398 bezeichnet man den ebenerwähnten und durch die gleiche »Luft« manifestierten Shabdabrahman, wenn er, mundwärts fortschreitend, im Kehlkopf usw. sich entfaltet hat und, deutlich ausgesprochen, für fremde Ohren hörbar geworden ist — wobei er die für das manifestierte Bija charakteristische und ganz deutlich artikulierte Klangschwingung annimmt (spashtatara) — als VaikharlSprache399. Das ist der sogenannte Virät-Aspekt des Klanges, weil er »heraus­ kommt«. Dieses Thema wird durch das Ächärya in folgender Weise erläutert: »Jener im Mülädhära zuerst aufkommende Klang heißt Parä; der auf ihn fol­ gende heißt Pashyanti; wenn er anschließend dann bis zum Herzen vordringt und sich dort mit Buddhi vereinigt hat, nennt man ihn Madhyamä.« Diese Bezeichnung leitet man von der Tatsache ab, daß sie »in der Mitte verharrt«. Sie ist weder Pashyanti noch dringt sie als Vaikharl mit vollentfalteter Aussprache nach außen. Sie hegt in der Mitte zwischen beiden. Die vollständige Manifestation, wenn ein Mensch also rufen will, heißt Vaikharl. Hinsichtlich dieser Eigenheit entsteht der artikulierte Klang durch die L u ft400. Auch das Nityä Tantra besagt: »Die Parä-Form kommt, durch >Luft< erzeugt, im Mülädhära auf; die empor­ steigende und im Svädhishthäna manifest gewordene gleiche >Luft< erlangt den

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Pashyanti-Zustand401. Die langsam nach oben weitersteigende, im Änähata sich manifestierende und mit Vernunft (buddhi) gepaarte gleiche >Luft< heißt Madhyamä. Weiter aufsteigend zeigt sie sich im Vishuddha und erscheint, die Kehle verlassend, als Vaikhari402.« W ie sagt doch das Yogakundall Upanishad403: »Diese in der Parä-Form aufkeimende Väk (Sprechfähigkeit) treibt Blätter her­ aus in Pashyanti, bringt Knospen hervor in Madhyamä und erblüht im Vaikhari. Durch die Umkehr obiger Reihenfolge wird der Klang wieder absorbiert. Wer den großen Sprachgott (väk) — das undifferenzierte erleuchtende Selbst — realisiert, wird von keinem W ort mehr berührt, sei es auch was es will.« Und obgleich es vier Sprachformen gibt, glauben die sinnlich-groben Menschen (manushyäh sthüladrishab)404, die Sprache bestünde nur aus der Vaikharl-Form405, weil sie die ersten drei (parä usw.) sinnlich nicht erfassen, genauso wie sie den stofflich-groben Leib, aus Unkenntnis seiner subtileren Bauelemente, irrtümlicher­ weise für das Selbst halten. Das Shruti sagt: »Deshalb denken sich die Menschen, es gäbe nur das (Ausgesprochene), was aber unvollkommen ist« — d. h. unvollkommen insofern, weil sie die ersten drei Grade nicht beherrschen406. Das Shruti sagt dann weiter407: »Viererlei sind die Sprach­ formen — jene weisen Brähmanas kennen sie: drei sind verborgen und regungslos; die Menschen sprechen die vierte.« Im Süta Samhitä heißt es ebenfalls: »Aus Apada (dem regungslosen Brahman) wird Pada (kommen die vier Sprachformen), und aus Pada kann Apada werden. Wer Pada408 von Apada zu unterscheiden weiß, der erkennt den wirklichen Brahman (d. h., er wird selbst zum Brahman)409.« Die Schlußfolgerungen aus Shruti (der heiligen Offenbarung) und Smriti (der Tradition) sind also die, daß das im menschlichen Körper vorhandene »Dies« (Tat) vier verschiedene Stufengrade (parä usw.) aufweist. Aber selbst in der Parä-Form bezeichnet das W ort »Tat« nur den Avyakta mit den drei Gunas, nur die Ursache für den Parä und nicht den über dem Avyakta stehenden absoluten Brahman. Das in den metaphysischen Sprüchen uns begegnende W ort »Tat« bezeichnet den Shabdabrahman, charakterisiert also den mit der Erschaffung, Erhaltung und Zerstörung des Universums beschäftigten Ishvara. Dasselbe W ort bezeichnet aber auch indirekt (lakshanayä) den unbedingten oder höchsten Brahman, der ja attri­ butlos ist. Das Verhältnis dieser beiden Brahmans zueinander ist das der Gleich­ heit (tädätmya). So ist also die Dev! (oder shakti) die ganz und gar einheitliche Bewußtsein-Wonne (chidekarasarüpinl) — d. h., man kann sie nie und nimmer vom Chit trennen. Das Verhältnis der beiden Brahmans zueinander ist deshalb möglich, weil die beiden ja ein und dasselbe sind. Auch wenn sie (attributhaft) unterschiedlich erscheinen, sind sie dennoch zugleich eines. Der zitierte Kommentator stellt dann die Frage: W ie kann der Ausdruck »Tat« in derVaikhari-Form überhaupt den Brahman bezeichnen? — und erwidert dar­ auf, daß er das nur indirekt tue. Denn der Klang in seiner physisch-sprachlichen Erscheinungsform (vaikhari) bezeichne nur die physische Brahmanform (den Virät) oder sei mit ihr identifizierbar, beziehe sich aber nicht auf den reinen Höchsten Brahman. Das nun Folgende soll die in diesem und vorigem Kapitel erwähnten Begriffe

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kurz zusammenfassen. Als erstes haben wir das Nirguna Brahman, es repräsentiert dem schöpferischen Aspekt nach den Saguna Shabdabrahman, nimmt ParahinduForm an und wird dann dreifältig (tribindu); es wird zur Vier, die sich sinngemäß in den oben erwähnten vier Sprachformen, vier Klangformen oder Zustandsformen (bhäva) darstellt. Der kausale (karana) oder Höchste Bindu (parabindu) ist unmanifestierte (avyakta) undifferenzierte Shiva-Shakti, ihre Wirkkräfte sind noch nicht auf­ gespalten, stehen aber im Begriff, sich aus dem bis dahin noch undifferenzierten Zustand der Mülaprakriti (Urstoff der Weltentfaltung) zu entfalten. Das ist der Zustand der höchsten Sprachform (parä väk), das ist die Seinsform des Höchsten Wortes, des Logos, sein im individuellen Körper angewiesener Wohnbereich liegt im Mülädhära Chakra. Soweit ist das klar. Es treten aber noch etliche Schwierig­ keiten auf, wenn man die Berichte über die bei der Differenzierung des großen Bindu (mahäbindu) sich manifestierende dreifältige Kraft koordinieren will. Das ist zum Teil auch darauf zurückzuführen, daß man die Verse, aus denen die be­ treffenden Berichte stammen, nicht immer in der Reihenfolge der W orte (shabdakrama), sondern manchmal auch nach der wirklichen Ordnung, nach der tat­ sächlichen Reihenfolge, lesen muß, was immer es auch sei (yathäsambhavam)410. Dann finden sich zweifellos noch etliche Abweichungen in den Kommentaren. Abgesehen von Namen und technischen Einzelheiten ist aber das Wesentliche des Stoffes einfach und steht in Einklang mit den anderen Systemen. Als erstes haben wir den unmanifestierten Punkt (bindu), und im Hinblick auf dieses Symbol meint St. Clemens von Alexandrien411, wenn man von einem K ör­ per die Eigenschaften — nämlich Höhe, Breite und Länge — abstrahiere, sei das Übrigbleibende ein Punkt, der eine Lage habe; und wenn man von diesem die Lage auch noch abstrahiere412, dann hätte man den Zustand der uranfänglichen Ein­ heitlichkeit. Es existiert ein einheitlicher Geist, er zeigt sich dreifältig als Trinität manifestierter Kraft (shakti). Und wenn sich diese Einheitlichkeit (shiva-shakti) offenbart, wird sie zweifaltig — nämlich Shiva und Shakti — , das Verhältnis (näda) dieser beiden zueinander (tayor mithab samaväyah) ergibt die so vielen Religionen gemeinsame dreifältige Trinität. Im Einheitlichen regt sich als erstes der große Wille (ichchhä), dann die Erkenntnis, die Weisheit (jfiäna), nach der der Wille handeln will, und schließlich kommt die Tat (kriyä). So ist auch die Reihenfolge der Shaktis im Ishvara. Nach dem pauranischen Bericht ist Brahmä im Anbeginn der Schöpfung tätig. Dann entstehen in seinem Geist die Samskäras. Es entspringt der Wille zu erschaffen (ichchhä shakti); dann kommt Ihm die Erkenntnis (jüäna shakti), was zu erschaffen Er im Begriff ist; und schließlich folgt die Schöpfungstat (kriyä). Im Jiva-Falle ist die Reihenfolge diese: Jüäna, Ichchhä, Kriyä. Denn er betrachtet, er weiß zuerst etwas. Unterrichtet durch eine solche Erkenntnis, will er, und dann handelt er. Die drei Kräfte sind, auch wenn man sie ursprünglich als voneinander getrennt ansieht und so von ihnen spricht, dennoch untrennbare und unteilbare Aspekte des Einen. W o immer die eine ist, dort ist auch die andere, die Menschen aber denken sich eine jede getrennt von der anderen und glauben, sie würden gesondert — d. h. in die Zeit gesondert offenbart — hervorkommen.

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Nach der einen Nomenklatur wird der höchste Bindu dreifältig, d. h. er wird zu Bindu (kärya), Bija und Näda. Wenn Shiva sich auch niemals von Shakti, und Shakti sich niemals von Shiva trennt, so kann doch eine Manifestation über­ wiegend das eine oder auch das andere bedeuten. So sagt man, Bindu sei dem Wesen nach Shiva (shivätmaka), Bija dagegen sei der Natur nach Shakti (shaktyätmaka), und Näda sei ein Gemisch der beiden (tayor mithah samaväyah). Sie heißen auch Mahäbindu (parabindu), Sitabindu (weißer Bindu), Shonabindu (roter Bindu) und Mishrabindu (gemischter Bindu). Sie sind erhaben (para), subtil (sükshma) und grob (sthüla). Es gibt dann noch eine andere Nomenklatur, und zwar diese: Sonne, Feuer und Mond. Es besteht kein Zweifel darüber, daß Bija = Mond ist, daß aus dem Bija die Shakti Vämä, und aus letzterer der Brahma hervorgeht, die ja beide dem Wesen nach Mond und Willenskraft (ichchhä shakti) verkörpern413. In der Ausdrucksweise der Prakritigunas ist die Ichchhä Shakti als Rajasgunä anzusehen, denn sie drängt Sattva, die Geistesklarheit, zur Selbst­ entfaltung. Das aber ist der PashyantI Shabda, dessen Wirkungsebene im Svädhishthäna Chakra liegt. Aus Näda entspringen ganz analog dazu Jyeshthä Shakti und Vishnu; aus Bindu kommen RaudrI und Rudra, die den Madhyamä Shabda resp. den Vaikharl Shabda darstellen; ihre bezüglichen Wohnbereiche liegen im Anähata und im Vishuddha Chakra. Gemäß einem Bericht414 ist Bindu = »Feuer« und Kriyä Shakti (Tat), Näda ist = »Sonne« und Jfiäna Shakti, und in der Ausdrucksweise der Gunas hat man sie als Tamas resp. Sattvas anzusehen415. Räghavabhatta meint jedoch in seinem Kommentar über das Shäradä: Kriyä, die Tat, ist Sonne, weil sie wie jene Himmelsleuchte alle Dinge sichtbar macht; Jiläna ist Feuer, weil das Wissen die gesamte Schöpfung aufbrennt. Wenn der Jlva durch die Jiläna sich selbst als den Brahman erkennt, hört er mit seinem Handeln auf, damit er kein Karma aufhäufe, und gewinnt dadurch die Befreiung (moksha). Mögücherweise bezieht sich dies auf den Jlva, weil das erstere die Ishvaraschöpfung darstellt. Im Yoginlhridaya Tantra heißt es, Vämä Shakti und Ichchhä Shakti befänden sich im Pashyantl-Körper; Jfiäna und Jyeshthä würden Madhyamä genannt; Kriyä Shakti sei RaudrI; und die Vaikharl hätte die Gestalt des Universums angenommen 416. Die Entfaltung der Bhävas gibt das ShäradäTilaka417folgendermaßen an: Der alles durchdringende Shabdabrahman, die Kundall, emaniert als erstes die Shakti; dann folgen:Dhvani,Näda,Nirodhikä,ArdhenduundBindu. Die Shakti ist Chit + Sattva (paramäkäshävasthä); Dhvani ist Chit + Sattva + Rajas (aksharävasthä); Näda ist Chit + Sattva + Rajas + Tamas (avyaktävasthä); Nirodhikä ist das Gleiche mit, sehr viel Tamas (tamahprächuryät); Ardhendu ist das Gleiche mit sehr viel Sattva; und Bindu ist die Kombination der beiden. Dieser Bindu hat verschiedene B e­ zeichnungen wie Parä usw., je nach dem betreffenden Zentrum — Mülädhära und die übrigen — wo er gerade auftritt. In dieser Weise verschafft uns die als Ichchhä, Jfiäna und Kriyä auftretende und als Bewußtseinsform (tejorüpä) wie aus Gunas bestehende (gunätmikä) Kundall die »Girlande der Buchstaben« (varnamälä). Die vier Bhävas haben wir schon besprochen; sie gehören zur Näda, die als solche eine der folgenden neun Devimanifestationen verkörpert.

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Pandit Ananta Shästri sagt unter Bezugnahme auf Lakshmidharas Kommentar über den 34. Vers aus dem Änandalaharl418: »Bhagavat! ist das im Text zur Bezeichnung der Devi übliche W ort. Wer Bhaga besitzt, ist ein >Bhagavati< (weiblich). Bhaga bezeichnet: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

das Wissen um die Schöpfung; das Wissen um die Zerstörung des Kosmos; das Wissen um den Ursprung der Lebewesen; das Wissen um das Ende der Lebewesen; die wirkliche Erkenntnis, die göttliche Wahrheit; das Wissen um Avidyä, die Unwissenheit.

Wer alle sechs Punkte kennt, ist des Ehrentitels >Bhagavän< würdig. Außerdem: Bha = 9. >Bhagavati< bezieht sich auch auf das neuneckige Yantra (Diagramm), das man in der Chandrakalävidyä verwendet.« »Nach den Ägamas hat die Devi neun Manifestationen. Diese sind: 1. Die Käla-Gruppe — währt vom Augenzwinkern bis zur Pralaya-Zeit. Sonne und Mond sind in diese Gruppe eingerechnet. Die Zeit. 2. Die Kula-Gruppe — besteht aus den Dingen, die Form und Farbe haben. Die Form. 3. Die Näma-Gruppe — besteht aus den Dingen, die einen Namen haben. Der Name. 4. Die Jfiäna-Gruppe — Verstandeskraft. Man teilt sie in zwei Abschnitte: Savikalpa (gemischt und dem Wechsel unterworfen) und Nirvikalpa (rein und unveränderlich). D es Chit. 5. Die Chitta-Gruppe — besteht aus a) Ahamkära (der Ich-Macher, die Ich-Bezogenheit), b) Chitta, c) Buddhi, d) Manas, e) Unmanas. Die Seele. 6. Die Näda-Gruppe — besteht a) aus Räga (Verlangen)419, b) aus Ichchhä (verstärktes oder entfaltetes Verlangen)419, c) aus Kriti (der in die Tat umgesetzten Form, die Aktivform des Verlangens) und d) aus Prayatna (dem unternommenen Versuch, das begehrte Objekt zu bekommen). Diese wieder korrespondieren der Reihe nach: aa) mit Para (der vom Mülädhära ausgehenden ersten Klangform), bb) mit Pashyanti (der zweiten Klangform), cc) mit Madhyamä (der dritten Form) und dd) mit Vaikharl (der aus dem Munde hervorkommenden vierten Klang­ form). Der Klang. 7. Die Bindu-Gruppe — besteht aus den sechs Chakras vom Mülädhära bis zum Äjüä. Der Seelengrund, Der geistige Keim*20. 8. Die Kalä-Gruppe — besteht aus den im Mülädhära bis zum Äjiiä be­ findlichen Buchstaben. Die Schlüsselzeichen421. 9. Die Jiva-Gruppe — besteht aus den in der Knechtschaft des Stoffes gefangen gehaltenen Seelen.«

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»Die vier wesentlichen Urheber der Näda, die vorherrschenden Gottheiten oder Tattvas sind: Mäyä, Shuddhavidyä, Mahesha und Sadäshiva. Der Kommentator befaßt sich ausführlich mit diesem Thema und zitiert Auszüge aus okkulten Werken. Das Folgende ist die Übersetzung einiger Zeilen aus dem Nämakälavidyä422, einem Werk über Phonetik. Es wird den Leser interessieren: Parä ist Ekä (ohne Zweiheit); sein Gegenstück ist das Nächste (pashyanti); Madhyamä teilt man in zwei Kategorien: in die grobe Form und in die Subtilform; die grobe Form setzt sich aus den neun Buchstabengruppen zusammen; die Subtilform ist der Klang, der die neun Buchstaben(klassen) voneinander unterscheidet . . . das Eine ist die Ursache, das Andere ist die W irkung; und so gibt es keinen materiellen Unterschied zwischen dem Klang und seinen groben Erscheinungsweisen.« »Kommentar zu >EkäParäRaum zwischen den Augenbrauen< hat man das Äjfiä Chakra zu verstehen. W enn man den Präna nach hier hinlenkt, strömt er durch die Brahmarandhra ab, und der Jlva verschmilzt mit dem Purusha.« Der berühmte Hymnus »Änandalahari« (Wave of Bliss), den man dem Shankara zuschreibt, beschäftigt sich mit diesem Y oga (shatchakrabheda); das dreizehnte Kapitel aus dem Shankaravij aya des Vidyäranya erwähnt die sechs Lotosse und auch die Frucht, die man durch die in jedem einzelnen Chakra voll­ zogene Verehrung des betreffenden Devatä gewinnen kann633. Pandit R. Ananta Shästri sagt634: »Manch berühmter Mann hat die Kundalinl erfolgreich bis zum Sahasrära geleitet und ihre Ineinssetzung mit Sat und Chit vollendet. Unter ihnen steht an erster Stelle der edle und weitberühmte Shankarächärya, der demütige Schüler eines Jüngers Gaudapädächärya’s, des Verfassers des gutbekannten >Subhagodaya< (52 Slokas). Nachdem Shri Shankarächärya sich mit den in diesem Werk ent­ haltenen Grundlagen ausgiebig vertraut gemacht hatte, empfing er eine Spezial­ ausbildung, die sich auf der persönlichen Erfahrung seines Guru aufbaute. Und indem er höchstpersönlich seine eigene Erfahrung mit der seines Meisters vorteil­ haft verband, verfaßte er sein aus 100 Slokas bestehende berühmte Werk über das Mantra Shästra; die ersten 41 Slokas bilden das >Änanda-Lahari< und die restlichen das ; das letztere apostrophiert die Devi als ein von K opf bis Fuß überaus schöngestaltetes Wesen.«

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»Das >Änanda-LaharI< kann man inhaltlich als die Quintessenz des Samayächära bezeichnen. Das Werk ist schon deshalb um so kostbarer, weil der Verfasser es aus seiner persönlichen Erfahrung heraus lehrt. Umfangreiche Kommentare hat man beinahe über jede einzelne Textsilbe geschrieben. Der dem Werk beigelegte W ert kann aus der nachfolgenden Theorie hinreichend ermessen werden. Einige vertreten sogar die Ansicht, Shiva sei der eigentliche wahre Verfasser des >ÄnandaLahariÄnanda-LaharI< nur ein textliches Ergänzungswerk des Subhagodaya, eines Werkes des Gaudapäda, dem Lehr­ meister des Guru unseres Verfassers. Dieses Werk liefert uns nur die oben erwähn­ ten Kernpunkte ohne irgendwelche näher erläuternde Bildbeigaben usw.« »Von allen Kommentaren über das >Änanda-Lahari< scheint derjenige des Lakshmidhara der zeitlich jüngste zu sein; trotzdem ist er der volkstümlichste, und das mit gutem Grund. Andere Kommentare verfechten nämlich diesen oder jenen Standpunkt der verschiedenen Philosophenschulen; doch Lakshmidhara vergleicht kritisch einige Meinungen anderer und registriert sie Seite an Seite mit seiner eigenen. Sein Kommentar ist also der am tiefsten durchdachte. Er hält zu keiner Partei638; seine Ansichten sind umfassend und großzügig. Alle Philosophen­ schulen sind in seinen Anmerkungen vertreten. Lakshmidhara hat auch noch viele andere Werke über das Mantra Shästra kommentiert und steht infolgedessen in sehr hohem Ansehen. Und so sind seine Kommentare über das >Änanda-LaharI< wie über das ebenso wertvoll wie die Kommentare des Säyana über die Vedas.« »Lakshmidhara scheint ein Bewohner Südindiens gewesen zu sein; die von ihm beschriebenen Sitten und Gebräuche weisen alle auf diese Schlußfolgerung hin; die von ihm angeführten Erläuterungen haben stets den Beigeschmack des Südens, und selbst heutzutage befolgt man seine Ansichten im Süden mehr als im Norden. E r hat auch einen vollendeten Kommentar über Gaudapäda’s Subhagodaya ge­ schrieben. Die diesbezüglichen Hinweise im Kommentar zu diesem Werk, wie die vom Kommentator hier und da eingeschobene Abbitte betreffs der Wiederholung dessen, was er bei früherer Gelegenheit schon gesagt hätte, lassen darauf schließen,

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daß er sich den Kommentar über das Originalwerk zur Lebensaufgabe gemacht hatte.« »Achyutänanda’s Kommentare sind in bengalischer Sprache, und in Bengalen befolgt man sie als maßgeblich selbst bis auf den heutigen Tag637. An verschiede­ nen Stellen befolgt man also verschiedene Kommentare, aber nur einige wenige haben eine zunehmende allgemeine Wertschätzung erfahren.« »Nur drei oder vier Werke gibt es, die den Prayoga (Anwendung) behandeln; sie alle sind mir zugänglich gewesen. Hier habe ich mich nur an eines von ihnen gehalten, weil es das hervorragendste und bedeutendste ist. Es stammt von einer ehrwürdigen Familie in Conjeeveram. Es umfaßt 100 Slokas. Die in den Slokas enthaltenen Yantras (Zeichnungen) für die Mantras, die verschiedenen Sitz­ haltungen des Beters und ähnliche Vorschriften sind hier bis ins einzelnste präsentiert und verständlich dargestellt.« »Zwischen jedem Sloka und seinem Bljäkshara638 scheint so etwas wie eine mystische Verbindung zu existieren. Derartiges ist aber verstandesmäßig weder faßbar, noch hat ein Prayoga K artä639 sich näher darüber ausgelassen.« »Das Folgende ist eine Zusammenstellung der über das >Änanda-Lahari< ge­ schriebenen Kommentare; einige davon umfassen auch das >Saundarya-LaharIManoramäVishnupakshlManjubhüshanI< von Krishnächärya, dem Sohne des Vallabhächärya — gegen 1700 Slokas. Er erwähnt in der Einleitung, daß Shri Shankarächärya, wenn er an den Ufern des Ganges meditierte, die Brahmashakti, die sogenannte Kundalini, verherrlicht hätte. Er gibt den Sinn dieses Werkes im ersten Sloka an: >Unaufhörlich preisen will ich Kundalini, die, zart wie ein Lotosstaubfaden, zahllose W elten hervorbringt; die an der Wurzel des Baumes wohnt (mülädhära), wo man sie erwecken und (zum Sahasrära) emporleiten soll.< Dieses Werk ist in der Präsidentschaft Bengalen volkstümlich. 6. Noch ein Kommentar mit Namen >Saubhägyavardhana< von Kaivalayäsharma. Die Adyar Bibliothek hat eine Abschrift davon. Er ist in Indien überall verbreitet, und man kann von ihm an den verschiedensten Orten soviel Manuskripte haben wie man will. Er enthält an die 2000 Granthas. 7. Von Keshavabhatta. 8. Das >Tattvadipikä< von Gangahari; ein auf das Tantrashästra sich stützender kleiner Kommentar. 9. Von Gangädhara. 10. Von Gopiramanatarkapravachana — an die 1400 Granthas. Scheint neuer Herkunft zu sein. 11. Gaurikäntasärvabhaumabhattächärya — gegen 1300 Granthas. Neueren Datums. 12. Von Jagadisha. 13. Von Jagannätha Panchänana. 14. Von Narasimha — 1500 Granthas. Die wesentlichste Besonderheit dieses Kommentars hegt wohl darin, daß er den Text auf zweierlei Weise rechtfertigt, indem er jede Sloka auf die Devi und zugleich auf Vishnu anwendbar macht. Wenn auch einige Kommentatoren manchen Ver­ sen einen unterschiedlichen Sinn beigelegt haben, so beziehen sie sie doch alle ausschließlich auf die verschiedenen Aspekte der Devi und nicht auf diejenigen der verschiedenen Devatäs. 15. Das >Bhävärthadipa< von Brahmänanda640 — an die 1700 Granthas. 16. Von Mallabhatta. 17. Von Mahädevavidyävägisha. 18. Von

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Mädhavavaidya (Deccan Universitätsbibliothek). 19. Von Rämachandra — an die 3000 Granthas (Deccan Universitätsbibliothek). 20. Von Rämänandatlrtha. 21. Von Lakshmldhara; er ist den Lesern gut bekannt und braucht keine Stellung­ nahme. Kürzlich hat ihn die Mysore-Regierung in vorzüglichem Deva Nägaradruck neu herausgebracht. 22. Von Vishvambhara. 23. Von Shrlkanthabhatta. 24. Von Räma Süri. 25. Von Dindima (Adyar Bibliothek). 26. Von Rämachandra Misra — an die 1000 Granthas (Deccan Universitätsbibliothek). 27. Von Achyutänanda (in Bengalischrift gedruckt). 28. Sadäshiva (Orientalische Staatsbibliothek Madras). 29. Ein unbenannter anderer Kommentar (Orientalische Staatsbibliothek Madras). 30. Von Shrlrangadäsa. 31. V on Govinda Tarkavägisha Bhattächärya — 600 Granthas. Er scheint für jeden Vers auch das entsprechende Yantra anzu­ geben. Er sagt außerdem, Gott Mahädeva habe sich, in der besonderen Absicht, das Wissen über das Shrividyä zu verkünden, als Shankarächärya inkarniert. 32. Das Sudhävidyotini, vom Sohne Pravarasenas. Dieser Kommentator be­ hauptet, sein Vater Pravarasena, ein Prinz der Dramidas, hätte diesen berühmten Hymnus verfaßt. Er erzählt uns eine sehr seltsame Geschichte, die mit der Geburt Pravarasenas in Zusammenhang steht. Da Pravarasena zu einer ungünstigen Stunde zur W elt kam, setzte ihn sein Vater Dramida nach Rücksprache mit seinem klugen Minister Suka in den W ald aus, weil er (der Vater) fürchtete, daß er sein Königreich verberen könnte . . . Das Kind pries die Devi mit diesem Hymnus, und die darob erfreute Devi ernährte es und nahm sich seiner im Walde an. Die Geschichte endet mit der Erzählung, daß der Knabe in das Land seines Vaters zurückkehrte und König wurde. Auf seinen Befehl hin schrieb nun dessen Sohn, der gegenwärtige Kommentator, das Sudhävidyotini, nachdem er in dieses mystische Shästra, in das Shrividyä, gänzbch eingeweiht worden war. Die Dar­ stellung erscheint indessen ziembch exzentrisch. Ich erhielt dieses Manuskript unter großen Schwierigkeiten aus Südmalabar. Es gibt einen Einbhck in den esoterischen Sinn der >Änanda-LahariErzähle uns doch etwas über das Närasimha643-Chakra< —, worauf dieser erwiderte: >Sechs Närasimha Chakras gibt es. Das erste hat wie das zweite vier Speichen; das dritte hat fünf; das vierte sechs, das fünfte hat sieben und das sechste hat acht Speichen. Das sind die sechs Närasimha Chakras. Und nun die Namen (das, wonach ihr fragt). Sie lauten: Ächakra644, Suchakra645, Mahächakra646, Sakalaloka-Rakshana-Chakra647, Dyuchakra648, Asuräntaka-Chakra649. Das sind ihre entsprechenden Namen [1].« »Und jetzt, was versteht man unter den drei Kreisen (balaya) ? Es sind das der innere, der mittlere und der äußere Wirkungskreis650. Der erste ist das B ija651; der zweite ist das Närasimha-Gäyatri652 ; der dritte und äußere ist das Mantra. Was ist der innere Kreis ? Sechs gibt es (denn jedes einzelne Chakra hat einen); es sind dies das Närasimhablja, resp. das Mahäläkshmya-, das Särasvata-, das Kämadeva-, das Pranava-, das Krodhadaivata-Blja653. Das sind die sechs inneren Kreise der sechs Närasimha Chakras [2].« »Und was ist nun der mittlere Kreis ? Es gibt deren sechs. Zu einem jeden gehört Närasimhäya bzw. Vidmahe, Vajranakhäya, Dhlmahi, Tannah, SimhaPrachodayät654. Das sind also die sechs mittleren Kreise der sechs Närasimha Chakras. Was aber sind die sechs Außenkreise? Der erste ist Änandätmä, das Ächakra; der zweite ist Priyätmä, das Suchakra; der dritte ist Jyotirätmä, das Mahächakra; der vierte istMäyätmä,das Sakala-Loka-Rakshana-Chakra; der fünfte ist Yogätmä, das Dyuchakra; und der sechste ist Samäptätmä, das Asuräntaka Chakra. Das sind die sechs Außenkreise der sechs Närasimha Chakras655 [3].« »Und wo soll man sie unter bringen656 ? Das erste soll im Herzen seinen Platz haben657; das zweite im K o p f658 ; das dritte lokalisiert man in die Gegend der Scheitellocke659 (shikhäyäm); das vierte über den ganzen K örper660; das fünfte in allen Augen661 (sarveshu netreshu); und das sechste in allen (Körper-)Regionen662 (sarveshu desheshu) [4].« »Wer die Nyäsa dieser Närasimha Chakras an zwei Gliedern übt, erwirbt die Kunstfertigkeit, das Wissen im Anushtubb663, erwirbt sich das Wohlwollen der Nrisimha-Gottheit, erlangt Erfolg auf allen Gebieten und unter allen Wesen und erreicht (am Ende) die endgültige Erlösung (kaivalya, die Vereinigung mit dem Absoluten Sein). Darum soll man diese Nyäsa üben. Diese Nyäsa läutert. Durch sie wird man vollkommen in der Anbetung, wird man gottesfürchtig und erfreut Närasimha. Wenn man sie dagegen vernachlässigt, erlangt man weder Nrisimhas Gunst, noch entwickelt man Kraft, Verehrung oder Gottesfurcht [5].« »Wer das liest, wird erfahren in allen Veden, erlangt die Fähigkeit, bei allen Opfern als Priester zu amtieren, wird wie einer, der an allen Wallfahrtsorten gebadet hat, entwickelt sich zum Adepten in allen Mantras und wird rein — innen wie außen. Er wird zum Vernichter aller Räkshasas, Bhütas, Pishächas, Shäkinls, Pretas und Vetälas664. Er befreit sich von jeder Furcht; deshalb soll man in Anwesenheit eines Ungläubigen nicht davon sprechen665 [6].« Trotz allgemeiner Annahme ist dieser Yoga manch neuzeitlicher Kritik nicht entgangen. Die in Anführungsstriche gesetzte Textstelle gibt uns im folgenden eine von einem englisch erzogenen667 Guru gebilligte Zusammenfassung davon666.

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Ich verdanke sie einem seiner Schüler. Durch die Überlassung des Sanskrittextes der hier übersetzten Werke wurde sie wieder ans Tageslicht geholt. »Zum Y oga als einem W eg zur Erlösung kommt man, wenn man die Pforten der Jfiäna (Erkenntnis) und des Karma (Handelns) betritt. Zweifelsohne ist Y oga = Wonne, denn er realisiert das Einswerden des Jlvätmä mit dem die Wonne (änanda) darstellenden Brahman. Es gibt verschiedene Wonneformen. Da haben wir zum Beispiel die physische Wonne, sei es die grobe oder die subtile, je nach­ dem, wie sie gerade ausfallen mag. Es ist ein Fehler, anzunehmen, daß eine Y oga­ methode, nur weil sie Wonne verschafft, deshalb auch die endgültige Erlösung garantiere. Wenn wir befreit werden wollen, müssen wir uns schon eine ganz bestimmte Wonne, nämlich die Brahmanwonne, zu verschaffen suchen. Vor einigen Jahrhunderten enthüllte jedoch eine Schar Atheisten (d. h. die Buddhisten) die Doktrin von der Leere (>ShünyavädaNirväna Mukti< verschloß sie beide Pforten, die bislang den Zugang zur endgültigen Erlösung gewährten. Heute sind diese Pforten durch drei V or­ hängeschlösser gesichert. Das erste ist die Lehre, daß man durch den Glauben zu Krishna gelangen könne —, aber wo man argumentiert, wo man Schlußfolgerungen zieht (tarka), ist er weit weg. Das zweite ist der Irrtum der Brahmos, die nach abendländischer Manier glauben, man könne den formlosen unveränderlichen Brah­ man damit beeindrucken, daß man in der Kirche die Augen schließt und immer wieder aufsagt, er sei der barmherzige liebende Vater, der sich nur mit unserem Wohlergehen zu beschäftigen habe, die glauben, er finde einen Gefallen daran, wenn man ihm schmeichelt, denn Verehrung (upäsanä) ist Schmeichelei. Das dritte (Vorhängeschloß) ist die Meinung derer, die alle religiösen Handlungen für puren Aberglauben halten; die nur ihren eigenen Vorteil als das einzig Richtige gelten lassen und Freude daran finden, anderen Sand in die Augen zu streuen, um sich danach das Lob der auf diese Weise Geblendeten zu sichern. Um die Veden in der Kali-Zeitperiode zum Verschwinden zu bringen, manifestierte sich Vishnu als Atheist Buddha und verkündete verschiedene unrichtige Lehrmeinungen, wie die der Arhatas. Rudra wurde durch die frevelhafte Sünde der Zerstörung des Hauptes Brahmas tief erschüttert. Dann aber begann er zu tanzen und emanierte aus seinem Leibe eine Menge Uchchhishta (niedrige, bösartig gesinnte) Rudras, die niemals gute Taten vollbringen. Vishnu und Shiva fragten einander: >Könnten wir für diese Menschen nicht etwas Gutes tun ?< Ihre Partialmanifestationen ver­ breiteten dann den Veden widersprechende Shästras, verbreiteten Ansichten, die zur atheistischen Tendenz ihrer Gesinnung paßten und ihnen so von ungefähr zu den höheren Dingen verhelfen sollten. Gott macht die Gottlosen mit solcherlei Schriften zum Narren. Jetzt müssen wir jedenfalls zwischen Shästras und Shästras einen Unterschied machen. Und wenn es auf Sanskrit heißt: >Shiva spricht< (Shiva uvächa), dann dürfen wir nicht alles akzeptieren, was hinter einer solchen A n­ kündigung folgt. Alles was dem Veda und der Smirti (heiligen Überlieferung) widerspricht, muß man verwerfen. Von den Feinden der Veden668, für die man solche Shästras ersonnen hatte, wurden einige zu Vaishnavas, andere zu Shaivas.« Eine dieser heiligen Schriften ist das Tantra mit der sogenannten »ShatchakraSädhana«, einem materialistischen Yogasystem; sie ist nichts als eine Gaunerei,

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eine List von seiten der berufsmäßigen Gurus, die nicht gezögert haben, auch gefälschte Schriften in Umlauf zu setzen. Schon die Erwähnung des tantrischen Shästra treibt einem die Schamröte ins Gesicht. Die »Shatchakra Sädhana« ist nur ein Hindernis für den geistigen Fortschritt. Die Wonne, die man durch das Hinaufführen der Kundall zum Sahasrära erlangen soll, wird nicht abgestritten, denn sie wird ja versichert von denjenigen, die sagen, sie hätten sie erfahren. Aber diese Wonne (änanda) ist nur eine vorübergehende physische Wonne höherer Art und geht mit dem Körper verloren — sie ist nicht die Wonne, die uns das Brahman und die endgültige Erlösung einbringt. Moksha gewinnt man nicht dadurch, daß man in das Sahasrära eintritt, sondern dadurch, daß man es verläßt, indem man nämlich die Brahmarandhra durchstößt und körperlos wird669. »Der Tantriker versucht dagegen im Körper zu verbleiben und will auf billige Art die Erlösung gewinnen, genauso wie die Brahmos und die Anhänger der Ärya Samäja um einen billigen Preis zu Brahmajüänins (Brahmanerkenner) geworden sind. Auch der Nektar ist billig bei den Tantrikern. Aber was billig ist, ist immer wertlos, und das zeigt sich besonders, wenn man einen Nutzen aus seinen Be­ mühungen ziehen will. >Trotzdem werden alle Menschen angelockt, wenn sie vom Chatchakra hören.< Viele sind im tantrischen Glauben so verfangen, daß sie in seinen Shästras nichts Verkehrtes oder Unrichtiges mehr finden können. Und der Hindu ist heutzutage von seinen tantrischen Gurus derart in einen Irrgarten gelockt worden, daß er nicht mehr weiß, was er eigentlich will. Jahrhundertelang hat man ihn an das tantrische Dharma670 gewöhnt, seine Augen sind daher nicht mehr geschult genug, um klar zu erkennen, daß das für einen Hindu wahrhaftig ebensowenig akzeptabel ist wie für einen Muselmann. Wirklich, diese Leute (für die der Guru diese nützlichen Bemerkungen macht) sind voll Mlechchhatä671, obgleich man nach all dem zugeben muß, daß es für solch eine Kreatur wie ein Mlechchhatä immerhin schon einigen Fortschritt bedeutet, selbst der tantrischen Doktrin anzuhangen. Denn so schlecht wie diese auch ist, ist sie doch noch besser als gar nichts. Wie gesagt, die Gurus foppen sie nur mit dem faulen Zauber über das Chatchakra. Wie eine Meute gegenwärtiger Marktschreier erbieten sie sich, ihre sogenannten >Lotosse< allen denen zu zeigen, die sich ihnen anschließen wollen. Man schickt Männer aus, damit sie Leute sammeln und einem Dikshäguru (Ini­ tiator) zuführen. In diesem Punkte verhalten sich die Tantriker wie die für die Teegärten arbeitenden Kuh-Anwerber672. Die Tantriker behaupten, es gäbe da wirklich >Lotossedie jederzeit alle zur Besichtigung bereit sind674.< Und dann, wie irdisch das ahes ist! Sie reden von einem Parashiva über Shiva, als ob es mehr als einen Brahman gäbe675. Und dann soll der Nektar lackfarben sein. Gut, wenn es sich so verhält, dann wäre er ja ein stofflich greifbares (sthüla), sinnlich wahrnehmbares Etwas; und da ihn dann auch ein Doktor ausquetschen könnte, brauchte man keinen Guru mehr dazu676. Mit einem W ort, das tantrische Shatchakra ist nichts anderes als >ein Bonbon in der Hand eines Kindesc Einem eigensinnigen Kind gibt man Zuckerwerk, um es ruhigzuhalten: Wenn das Kind aber verständig genug geworden ist und schließlich erkennt, daß man ihm

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die Süßigkeit nur zum Zwecke der Ablenkung gegeben hat, wirft es sie fort und findet damit den Schlüssel zu den verschlossenen Yogapforten, den Schlüssel zu Karma und Jfiäna. Dieser Yogaprozeß wurde vor Jahrhunderten aus der Hindu­ welt ausgestoßen, verworfen. Es sind beinahe 2500 Jahre her, daß Shankara677 den Atheismus ausrottete und auch den Shatchakra-Yoga vernichtete678. Shan­ kara zeigte damals die Wertlosigkeit der Tantras. Heutzutage versuchen sie nun abermals in die Hinduweit einzudringen, und man muß sie wieder unschädlich machen.« Der Schreiber des hier zusammengefaßten Berichts versäumte leider zu be­ merken — oder war er vielleicht nicht im Bilde —, daß die Chakras bereits in den Upanishads erwähnt werden; er bemühte sich um die Darstellung der Tatsache, daß sie auch in den Puränas beschrieben seien und daß die puranischen Chakras mit den Veden in Einklang stünden, während die tantrischen Chakras es nicht wären. Zugegeben, wir finden im Shiva Puräna eine Beschreibung der sechs Zen­ tren ; man sagt aber, daß dort ihre wirkliche Existenz weder versichert noch daß irgend etwas von einer mit ihnen in Zusammenhang stehenden Sädhanä erwähnt würde. Man hätte sie sich, so heißt es, nur der Verehrung wegen im Geiste vor­ zustellen. Im äußeren Kult verehrt man die Devas und Devls in ähnlichen Lotossen. Tatsächlich kehren die Puränas nach dieser Ansicht das, was äußerlicher Kult ist, in einen innerlichen Kult um. Wenn man nun nach dem Puräna einen inneren Lotos verehrt, darf man nicht annehmen, daß es da irgend etwas dieser Art gebe. Man verehrt nur ein Phantasieprodukt, obgleich es doch seltsam an­ mutet, wenn ich bemerken darf, daß diese Erdichtung dem Verehrer gewisse Vorteile einbringen soll und daß der Verehrer — diesem Kritiker zufolge — bei dem Chakra anfangen soll, das zu verehren er imstande ist. Es leuchtet nicht ein, wieso eine solche Kompetenzfrage überhaupt auftaucht, wenn man sich jedes Chakra nur einbildet. Es erregt unsere Aufmerksamkeit, daß das Linga Puräna nichts vom Erwecken der Kundalü, nichts vom Durchdringen der sechs Zentren, vom Nektartrinken usw. erwähnt. Das Puräna sagt nur: »Meditiere über Shiva und über die Devi in den verschiedenen Lotossen.« Es gibt aber trotzdem, wie behauptet wird, einen grundlegenden Unterschied zwischen beiden Systemen. »In der puranischen Chakra-Beschreibung ist alles klar definiert; in der tan­ trischen ist dagegen alles rätselhaft und geheimnisvoll, und wenn es nicht so wäre, wie könnten sonst die Gurus ihren Beruf ohne diese absichtliche Verschleierung auf unredliche Art weiterführen ?« Die Buddhisten mögen die von diesem Kritiker geäußerte Einschätzung ihres Shünyaväda ablehnen, wie auch die Tantriker seine Darstellung über den Ursprung ihres Shästra anfechten werden. Der Historiker aber wird sicher die Behauptung anzweifeln, Shankara679 hätte das Tantra abgeschafft. Denn nach dem Shankaravijaya bestand sein Wirken nicht darin, irgendeine zu seinen Lebzeiten vorhandene Sekte aufzuheben oder gar zu vernichten, sondern darin, Einheitsbande neu zu knüpfen und zu festigen, und alle zu veranlassen, durch ihre verschiedenen Methoden hindurch dennoch einem gemeinsamen Ideal zu folgen. So soll, wenn auch Krakacha in seinen Gott aufgenommen worden ist, die von ihm vertretene extreme tantrische Sekte der Käpälikas — unter ihrem Führer Vatukanätha viel166

leicht in abgewandelter Form — mit Shankaras Genehmigung Weiterbeständen haben. Die Brahmos, Äryasamäja, Vaishnavas und Shaivas werden die abfälligen Äußerungen dieses Kritikers, soweit sie davon betroffen werden, vermutlich übel­ nehmen. Ich befasse mich hier aber nicht mit diesen religiösen Zwiespältigkeiten, sondern möchte mich in Antwort auf den vorliegenden Sachverhalt auf folgende Hinweise beschränken: Die Kritik enthält trotz ihrer »liebevollen« Härte gegen die Formen der vom Schreiber mißgebilligten Lehrmeinung doch einige wohlbegründete Feststellungen. Ich für meine Person habe hier kein Interesse daran, die Wirklichkeit resp. den W ert dieser Yogamethode zu eruieren; die Erprobung dieser strittigen Punkte ist auch nur dem tatsächlichen Experiment und der eigentlichen Erfahrung zugäng­ lich. Vom lehrmäßigen wie vom historischen Standpunkt aus ließe sich allerdings einiges darauf erwidern. Es stimmt schon, daß die mit Karma verbundene Jüäna einen W eg darstellt, um zur Moksha zu gelangen. Diese zwei, wie auch Bhakti (die liebende Gottesergebenheit), die je nach ihrer Entfaltung680 mal etwas vom Charakter des ersten, mal etwas vom Wesen der zweiten an sich haben kann, sind alle in den acht Yogaprozessen enthalten. Damit umfassen sie auch Tapas — eine Form des Karm ayoga681 — und Dhyäna, einen Vorgang im Jüänayoga. W ie ich bereits ausgeführt habe, enthält der »achtgliedrige« Y oga (ashtängayoga) Hathaprozesse, unter anderem Äsana und Pränäyäma. W as Hathayogis bislang bewirkt haben, ist die Entfaltung der physischen Lebensprozesse, der Hatha-Prozesse, ist die Entwicklung der äußeren Erscheinung. Die wahre wirkliche Einsicht der Hathavidyä gibt zu, daß sie nur ein Hilfsmittel für die Jnäna bedeutet und daß man über die Jüäna zur Moksha (endgültigen Befreiung) kommt. Es ist ebenso augenfällig wahr, daß nicht alle und jede Wonne eine »Moksha« ist. Eine gewisse A rt Änanda (Wonne, leidloses Glück) kann man sich ja auch durch Getränk oder Rauschdrogen verschaffen, und niemand wird auf die Idee verfallen, daß das die befreiende W onne sein soll. In ähnlicher Weise mögen Hathayoga-Prozesse ver­ schiedene Formen grober, manchmal auch subtiler W onnen herbeiführen, die man aber deswegen nicht als die Wonne ansprechen kann. Es hieße jedoch das hier beschriebene System mißverstehen, wenn man es als ganz und gar materialistisch bezeichnet. Es hat, wie andere Yogaformen auch, eine materielle Seite — einen Hatha-Aspekt —, da ja der Mensch grobstofflich, subtil und geistig beschaffen ist; es hat aber auch einen Jüäna-Aspekt. In allem Y oga gibt es geistige Übungen. Und weil der Jiva nicht nur materiell, sondern auch spirituell beschaffen ist, braucht er in beiden Aspekten Disziplin und Fortschritt. Die Kupdall erweckt man durch Mantra, das ja eine Bewußtseinsform (chaitanya) darstellt. »Wer mit seinem Wesen in das Brahman getaucht ist«, erweckt die DevI Kundall durch das Mantra »Hümkära« (V. 50). Die Dev! als solche ist Shuddha Sattva (reine lichte Geistesklarheit)682 (V. 51). »Der in Samädhi gänzlich versunkene und zu den Lotosfüßen seines Guru der Andacht sich hingebende erfahrene und vortreffliche Y ogi soll die Kundali mit dem Jiva zusammen in den reinen Lotos — in die Stätte der Erlösung, in die W ohnstatt Parashivas, ihres Herrn — hineinführen und darüber nachsinnen, daß sie als Chaitanyarüpä Bhagavat! (d. h. als die Devi, deren substantielles Sein

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aus Bewußtsein als solchem besteht) alle Wünsche erfüllt; und während er die Kulakundali weiterleitet, soll er alle Dinge in sie aufgehen lassen.« Man meditiere über jedes Zentrum, in dem sie sich gerade aufhält. Im AjüäZentrum kann Manas nur dann mit Kundall verschmelzen und in sie aufgehen, wenn es mit der Jftänäshakti, die sie selbst ist, eins geworden ist — denn sie ver­ körpert alle Shaktis. Laya Y oga ist also eine Kombination von Karma und Jfiäna. Ersteres erreicht Moksha (endgültige Befreiung) mittelbar, letztere erreicht sie unmittelbar. Im Äjüä ist Manas und Om — der Sädhaka meditiere darüber in innerer Schau (Vers 33). Der Sädhaka muß sein Selbst (ätmä) in eine Meditation über diesen Lotos umwandeln (Vers 34). Sein Ätmä wird dann zur Dhyäna, zur übersinnlich inneren Schau der Silbe »Om«, und »Om« ist das inwendige Ätmä aller, deren Buddhi (höheres Erkenntnisvermögen) fleckenlos geworden ist. So verwirklicht er, daß er und Brahman eines sind; daß das Brahman allein das Wirkliche (sat), und daß alles andere das Unwirkliche (asat) ist. So wird er zum Advaitavädl, wird schließlich zu einem, der die Identität von individuellem Selbst und universellem Selbst verwirklicht (ibid.). Durch wiederholtes geistiges Üben (abhyäsa) bringt man hier den Denkprozeß (chetas) zum Stillstand, zur A u f­ lösung, ein Verfahren, das als solches einen Gemütsprozeß für sich darstellt (Vers 36). Denn durch die Meditation über das Mantra realisiert der Y ogi die Ineinssetzung von Präna und Manas und verschließt damit das »ohne Stütze schwebende Haus«. Mit anderen W orten : Er entbindet Manas, das niedere Erkennt­ nisvermögen, von allem Kontakt mit der objektiven Umwelt (V. 36) und gewannt damit den Unmani-Avasthä. Hier herrscht Paramashiva. Der Tantriker nimmt nicht an, daß es mehrere Shivas im Sinne mehrerer unterschiedlicher Gottheiten gebe. Brahma ist in der Einzahl. Rudra, Shiva, Paramashiva usw. sind nur Bezeichnungen für verschiedene Manifestationsformen des Einen Absoluten (ohne Zweiten). Und wenn man sagt, dieser oder jener Devatä befinde sich in diesem oder jenem Chakra, so will man damit sagen, daß das eine oder andere Zentrum eine Wirkstätte der Brahmantätigkeit darstellt und daß diese Funktion in ihrer Daiva-Erscheinungsform als Devatä bekannt ist. In dem Maße wie diese wirkenden Kräfte variieren, variieren auch die Devatäs. Der Hamsab des Sahasrära enthält in sich alle Devatäs (Vers 44). Hier im Äjüä bringt nämlich der Yogin in der Sterbestunde den Präna unter und geht dann hinüber in den höchsten Purusha, »der vor den drei Welten schon war und durch den Vedänta bekannt ist« (Vers 38). Es ist klar, daß dieser Vorgang, wie andere Vorgänge auch, von Hatha-Prozessen begleitet wird. Aber sie sind mit Meditation verknüpft. Diese Meditation ver­ einheitlicht Kundalinl und Jivätmä mit Bindu, dem »Tropfen«, der Shiva und Shakti verkörpert (shivashaktimaya), und der Y ogi wird nach einer solchen Union — wenn er die Brahmarandhra durchdringt — in seiner Sterbestunde vom Körper endgültig erlöst und mit Brahman vereint (ibid.). Der oberhalb des Äjüä und unterhalb des Sahasrära befindliche untergeordnete Ursachenkörper (käranäväntara sharira) ist nur in der Meditation erkennbar (Vers 39), und zwar nur dann, wenn die Vervollkommnung in der Yogapraxis erreicht worden ist. Vers 40 bezieht sich auf den Samädhi Yoga. Zum Sahasrära übergehend, heißt es dann: »Gut verborgen und nur unter

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großen Anstrengungen erreichbar ist die subtile (shünya), sie ist die Hauptquelle für die Endgültige Erlösung« (Vers 42). Im Paramashiva finden sich zwei Wonneformen vereint (Vers 42): Rasa oder Paramänanda-Rasa (das ist die Moksha-Wonne) und Virasa (die Wonne, die bei der Shiva-Shakti-Union auf­ kommt). Aus dieser letztgenannten Union entfaltet sich nämlich das Universum, aus ihr kommt der die kleinere W elt (kshudrabrahmända) — d. i. der Körper — überflutende Nektar. Der Asket (yati) reinen Gemüts ist in dem Wissen bewandert, wie die Ineinssetzung von Jivätmä und Paramätmä vonstatten geht (Vers 43). Denn er ist »der vortrefflichste Mensch, der sein Gemüt in der Gewalt hat (niyataniya-chitta) — das heißt, der die innerseelischen Fähigkeiten (antahkarana) auf das Sahasrära konzentriert und dieses erfahren hat —, er ist von Wiedergeburt befreit« und gewinnt damit Moksha, die endgültige Erlösung (Vers 43). Er wird ein »Jlvanmukta«, ein zu Lebzeiten Erlöster, und verharrt im Körper nur noch so lange, bis das Karma, dessen Ausreifung schon begonnen hat, gänzlich aus­ geschöpft ist — wie beispielsweise ein sich drehendes Rad, wenn der bewegende Anlaß ausbleibt, noch eine kleine Weile weiterläuft. Die Bhagavati Nirväna-Kalä gewährt göttliche befreiende Erkenntnis — das heißt Tattvajüäna (Erkennen-deswahren-Soseins), gewährt das Wissen um das Brahman (Vers 47). In ihr herrscht Nityänanda (ewige Wonne), herrscht »reines Bewußtsein als solches« (Vers 49), es ist »nur für Yogis durch reine Jüäna erreichbar« (ibid.). Und eben diese Jüäna sichert die endgültige Erlösung (ib.). Im Mäyä Tantra heißt es: »Die im Yoga Bewanderten sagen, der Y oga sei die Ineinssetzung von Jiva und Ätmä (im Samädhi). Nach der Erfahrung anderer ist er das Erkennen (Jüäna) der Einheit­ lichkeit von Shiva und Ätmä. Die Ägamavädis meinen, das Erkennen (jüäna) der Shakti sei Yoga. Andere kluge Männer behaupten, das Wissen (jüäna) um den Puräna Purusha sei Y oga; und wieder andere — nämlich die Prakritivädls — erklären, das Wissen um die Shiva-Shakti-Union sei Yoga« (Vers 57). »Bei man­ chen Sädhakas bewirkt die Devi, wemi sie über die Einheitlichkeit von Shiva und Ätmä im Bindu meditieren, die Erlösung, indem sie die Kundalini in den Parabindu aufgehen läßt. In einem anderen Fall erreicht sie das durch einen ähnlichen Vorgang und durch Meditation (chintana) über die Shakti. Manchmal verwirklicht der Sädhaka das durch Gedankenkonzentration auf den Paramapurusha, manch­ mal wieder dadurch, daß er über die Shiva-Shakti-Union seine Betrachtungen anstellt« (ibid.). Tatsächlich, wer einen bestimmten Devatä verehrt, soll sich dabei vergegenwärtigen, daß er mit seinem Verehrungsobjekt verschmilzt. In der Pranava-Verehrung beispielsweise verwirklicht der Verehrer seine Identität mit dem Omkära. In anderen Verehrungsformen realisiert er seine Identität mit Kundalini, der Schlange, die sich durch die von den verschiedenen Verehrern jeweils verschieden verehrten mannigfachen Mantras verkörpert. Um es kurz zu sagen: die Jüäna setzt sich aus Kriyäjüäna und Svarüpajüäna zusammen. Letztere ist die unmittelbare geistige Erfahrung. Erstere besteht aus den zu dieser Erfahrung führenden meditativen Prozessen. Das hier ist die Kriyäjüäna, und wenn die Kundalini in Shiva aufgeht, gewährt sie die Jüäna (svarüpa), denn diese ist nicht nur ihre, sondern auch seine Natur (svarüpa).

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Nach der Union mit, Shiva begibt die Kundalini sich wieder auf den Rückweg. Nachdem man sie wiederholte Male683 ihm zugeführt hat, unternimmt sie eine Reise, von der es — wenn der Y ogi will — kein Zurück mehr gibt. Dann ist der Sädhaka »Jivanmukta«, »bei Lebzeiten erlöst«. Er verbleibt im Körper nur noch solange, bis er — nach der Ausschöpfung des aktiven Karma — die Körperlosigkeit (videha), die Kaivalya Mukti (höchste Erlösung), erreichen kann. »Der ehrwürdige Gotteslehrer — d. i. Shankarächärya — preist in seinem berühmten Änandalahari ihre Rückkehr auf folgende Weise (Vers 53): Layakrama< ( = Einschmelzung der Tattvas), ihr Wiederkommen ist >Srishtikrama< (== Wiedererschaffung der Tattvas). Nach Vers 54 wird ein Yogi, der Yama, Niyama usw. (d. h. die übrigen Ashtängayoga-Prozesse einschließlich der Dhyäna mit ihremAusgang in Samädhi), praktiziert und dadurch Gewalt über das Gemüt erwirbt, niemals mehr wieder­ geboren. Durch die ständige Vergegenwärtigung des Brahman erfreut, lebt er in Frieden.« Ob die oben angegebene Methode wirksam ist, ob sie erstrebenswert ist oder nicht, müßte bei gründlicher Kenntnisnahme des Textes eigentlich einleuchten, denn dieser Text veranschaulicht ja, daß der vom Verfasser durch Belege hin­ reichend bestätigte und die endgültige Erlösung einleitende Y oga nicht eine stoff­ liche Angelegenheit allein ist, sondern die Erweckung der W irkkraft (jivashakti) des Weltbewußtseins (jagachchaitanya) darstellt, einer Kraft, die den Menschen erst zu dem macht, was er ist. Und so erhebt mit Recht der Y ogi einen Anspruch darauf, sich die Befreiungswonne dadurch zu sichern, daß er sich den Zugang zu ihr durch die Pforten des Karmayoga und des Jnänayoga verschafft. Ein Brahmo-Schriftsteller884, der dem Tantra so wenig gewogen ist, daß er den Unterschied zwischen ihm und dem Veda »als so groß wie zwischen Unterwelt (pätäla) und Himmel (svarga)« bezeichnet885, bestreitet zwar nicht die Leistungs­ fähigkeit der tantrischen Shatchakra Sädhanä, kontrastiert sie aber gegen die vedische Gäyatri Sädhanä in einem Bericht über die beiden Methoden; diesen Bericht will ich hier in Anführungsstrichen kurz zusammenfassen. »Die Chakras (deren Existenz wir nicht abstreiten wollen) finden wir dort, wo sich Nerven und Muskeln vereinigen686. Das Äjriä ist der Ort für den Oberbefehl. Dieser manifestiert sich in der Buddhi-Funktion. Wenn nun der Sädhaka dem Befehl Folge leistet, läutert er Disposition (bhäva) und Sprache. Die Sprache entfaltet sich in der Kehle, in der Vishuddha-Region. Das nächsttiefere Chakra heißt Anähata, es steht in Beziehung zu dem im Herzen aus sich selbst ent­ stehenden Näda. Der im Anähata auftretende Väyu ist die Pränashakti. Ist man frei von Sünde, kann man hier den Ätmä gewahr werden. A n dieser Stelle ver­ gegenwärtigt sich der Y ogi >Ich bin ErVierten Stand< jenseits Wachen, Traumschlaf, traumlos tiefem Schlaf).« »In alten Zeiten begann man mit der Sädhanä am Mülädhära Chakra; das heißt, diejenigen, die keine Sädhakas des Gäyatri-Mantra waren, begannen von unter her am tiefsten Zentrum. Das geschah aus gutem Grund: Man lernte dabei die Zügelung der Sinnesorgane (indriya). Ohne eine Sinneskontrolle dieser Art kann man die Reinheit der Naturanlage (bhäva) nicht gewinnen. Denn wenn man sich eine solche Lauterkeit nicht aneignet, kann der Geist (chitta) seinen Platz im Herzen nicht finden; und wenn Chitta nicht im Herzen ist, kann auch die Union mit dem Parätmä nicht eintreten. Das erste was ein Sädhaka also zu tun hat, wäre die Sinne zügeln. Wer das ohne die Ausrichtung des Gemüts auf Gott (Ishvara)688 auszuführen versuchte, hatte viele schwierige und mühevolle Prak- _ tiken (wie die weiter unten erwähnten Mudras, Bandhas usw.) durchzumachen, Praktiken, die zur Beherrschung der Indriyas und zur Unterjochung der GuriasFunktion unbedingt erforderlich waren. Alles das ist in der GäyatrI-Sädhanä (gäyatrl-Methode) nicht erforderlich. Es ist ja wahr, daß man die sinnlichen Regungen der drei unteren Zentren (chakras) im Zaume halten muß; es sind das die Wollust (lobha) im Mülädhära, das Verlangen, die Gier (käma) im Svädhishthäna an der Genitalwurzel und der Zorn (krodha) am Nabel. Das sind die drei wichtigsten Leidenschaften, durch die man seine Sinne erregt, sie sind die Hauptpforten zur Hölle. Der Weg, wie man die Kontrolle zustande bringt, besteht darin, das in diesen Chakras befindliche Chitta (die konturerfüllte Denksubstanz, das Gemüt) auf Sattä (die Existenz) des Paramätmä auszurichten. Man soll das Chitta auf jedes einzelne der drei untersten Zentren lenken und es im Zaume halten, dann beherrscht man damit auch gleichzeitig die Leidenschaften, die in diesen Zentren ihre bezüglichen Orte haben. Jedesmal, wenn die Sinnesorgane (indriya) aus der Kontrolle abschweifen, fixiert man also Chitta (das Gemüt) auf den in dem betreffenden Chakra befindlichen Paramätmä.« [Das Obige heißt mit anderen W orten : Wenn beispielsweise Zorn beherrscht werden soll, lenkt man seine Gedanken auf die Nabelgegend und meditiert in diesem Zentrum über die Existenz des Höchsten (paramätmä), nicht nur über den außerhalb und innerhalb des Körpers befindlichen, sondern auch in jenem be­ sonderen Teil verkörperten Höchsten; denn dieser Teil ist seine Manifestation. Man erreicht damit, daß man die hitzige Natur dieses Zentrums beschwichtigt; denn seine Funktion ist dem Zustande des Ätmä, der es beseelt, angepaßt, und Körper wie Geist erlangen den Ätmä-Frieden, wenn man das Selbst auf diesen konzentriert689.] »Sobald man die Sinne in die Gewalt bekommen hat, beginnt man mit der GäyatrI-Sädhanä nicht am untersten, sondern am obersten der sechs Zentren — d. h. am Äjüä zwischen den Augenbrauen. Es ist nicht erforderlich, die Chakras durch mühsame und gefahrvolle Kleinarbeit von unten her zu durchdringen690. Im höchsten Zentrum fixiert man das Denken auf den Höchsten Herrn (Ishvara).

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Der dort befindliche Äther (äkäsha) ist der Substanz und dem Wesen (sattä) nach der höchste Ätmä. Dort und in den beiden darunterhegenden Zentren (vishuddha und anähata) wird einem der Genuß mit Ishvara zuteil. Die Union zwischen Jiva und Prakriti heißt in den Upanishaden >HonigSüßigkeit< (madhu). Durch die Sädhanä auf das Äjüä-Zentrum (chakra) gewinnt man die Lauterkeit des Wesens (bhävashuddhi), und nachdem man diese Bhäva erreicht hat, folgt die Sauberkeit in der Sprache hinterher. Hier erfährt man den Yoga mit dem all­ wissenden höchsten Devatä. Wer sich von allen störenden naturbedingten Hemm­ nissen des Körpers wie des Gemüts freigemacht hat, erreicht den >Zustand jenseits der Gunas< (gunätlta), der dem Höchsten Brahman eignet.« W ir möchten diese beiden Kritiken mit der wahren — am Anfang in der For­ mulierung etwas abgeänderten — indischen Redensart beschheßen: »Über die Religion (dharma) eines andern zu debattieren, ist das Zeichen für eine beschränkte Gesinnung. 0 Gott! 0 großer Magier! Einerlei in welchem Glauben, in welchem Fühlen man Dich anruft, es erfreut Dich doch.« W ie groß immer der Unterschied hinsichtlich der Formen resp. der Methoden — sei es in der Upäsanä, sei es im Y oga — gewesen ist oder künftighin sein mag, alle indischen Verehrer alten Schlages suchen dessenungeachtet ein gemeinsames Ziel in der Vereinheitlichung mit dem Bewußtseinslicht, einem Licht, das jenseits der Sonne-, Mond- und Feuerregion liegt. Man wird jetzt wohl die Frage stellen wollen: Auf welchen Grundsätzen beruht denn im wesentlichen die oben beschriebene Yogapraxis ? Wie kommt cs, daß die Erweckung der Kundalinl Shakti und ihre Union mit Shiva — wie man das ver­ sichert — einen Zustand ekstatischer Union (samädhi) und geistiger Erfahrung heraufzuführen vermag ? Derjenige Leser, der die in den voraufgegangenen Kapi­ teln geschilderten Hauptprinzipien begriffen hat, dürfte die hier gegebene Antwort, falls er sie noch nicht erraten hat, schnell gewahr werden. Als erstes haben wir, wie der vorangehende Buchabschnitt andeutete, zwei Yogarichtungen zu unterscheiden: den Dhyäna- oder Bhävanäyoga und den Kundalinl-Yoga — das Thema dieses Buches —, zwischen den beiden besteht ein großer Unterschied. Nach jener Yogaklasse erreicht man Ekstase (samädhi) durch meditativ vollzogene Verstandesprozesse (kriyä jüäna) und dergleichen, im Vor­ bereitungsstadium manchmal noch unter Zuhilfenahme unterstützender Proze­ duren aus dem Mantra- oder Hathayoga691 (aber anderer als der beim Erwecken der Kundalinl Shakti gebräuchlichen) sowie durch W eltablösung; diese, die zweite Yogaklasse — obgleich auch hier Verstandesprozesse nicht außer acht gelassen werden — umfaßt denjenigen Yoga, in welchem die erschaffende und erhaltende Shakti des ganzen Körpers als Kundalinl tatsächlich und wirklich mit dem G ott­ bewußtsein verschmilzt und damit dem Y ogi eine Frucht einbringt, die der Jüänayogl als solcher unmittelbar zu erreichen vermag. Der Y ogi veranlaßt hier nur ihre Anknüpfung an ihn, an ihren Gebieter, und genießt dann durch sie die Verschmelzungswonne. Obgleich er sie erweckt, gewährt sie die Jüäna, denn sie selbst ist diese. Der Dhyänayogi erreicht an Bekanntwerden mit dem höchsten Stand nur denjenigen Grad, den seine eigenen Meditationskräfte ihm verschaffen können, er kennt nicht den Verschmelzungsgenuß mit Shiva in seiner funda-

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mentalsten und durch seine wesentlichste Körperkraft. Diese beiden Yogaformen unterscheiden sich also nicht nur hinsichtlich der Methodik, sondern auch im Hinblick auf das Endergebnis. Der nach Laya (Zerlösung) strebende Hathayogl betrachtet seinen Y oga und dessen Frucht als das Höchste. Der Jnänayogi denkt ähnliches über seinen Yoga. Und in Wirklichkeit sieht man im allgemeinen den Räja-Yoga als die höchste Yogaform an. Die Kundalini steht in einem so hohen Ansehen, daß viele sie zu erfahren suchen. Nachdem ich die Theorie dieses Y oga gründlich studiert hatte, hat man mich des öfteren gefragt, »ob man auch ohne sie vorankommen« könne. Das Shästra antwortet darauf: »Es hängt ab von deinen Kräften und von dem, wonach du strebst.« Wenn du die Kundalini-Shakti zu erwecken wünschest, um durch sie die Yerschmelzungswonnen in der ShivaShakti-Union auszukosten, was dir deine Fähigkeiten auf eine andere Weise nicht gewähren können, oder wenn du die damit verbundenen magischen Kräfte (siddhi)692 erfahren möchtest, kannst du dieses Ziel selbstverständlich nur durch die hier beschriebene Yogaform erreichen. Wenn ein Y ogi aber nach der end- _ gültigen Erlösung trachtet und imstande ist, diese ohne die Kundalini zu erreichen, dann ist ein solcher Yoga nicht erforderlich, denn man kann ja auch die Erlösung durch reinen Jfiäna-Yoga vermittels der Losschälung von der W elt zur Ruhe kommen lassen und Vernichtigung des Gemüts ganz ohne einen Bezug auf die körperliche Zentralkraft erreichen. Wirklich, die vollkommene Erlösung (nirvikalpa samädhi) kann man nur in dieser Form, nämlich durch Räja-Yoga, gewinnen, und der Kundalini Y oga ist eine Einleitungsmethode hierzu693. Samädhi kann man auch auf dem W ege über die Andacht (bhakti) und die Erkenntnis erreichen. Die höchste Hingabe (parabhakti) ist von der Erkenntnis tatsächlich nicht zu unter­ scheiden. Beide sind sie Verwirklichung. Ein Dhyänayogi soll seinen Leib nicht vernachlässigen und dessen eingedenk sein, daß er sich aus Geist wie aus Stoff zusammensetzt und das eine auf das andere angewiesen ist. Vernachlässigung oder reine Kasteiung des Leibes erzeugt weit eher eine verdorbene Phantasie als wirkliche geistige Erfahrung. Der Dhyänayogi befaßt sich mit dem Körper aber nicht in dem Maße wie der Hathayogl. Es ist trotz Körperschwäche und mangel­ hafter Gesundheit, ja trotz Krankheit und Kurzlebigkeit durchaus möglich, ein erfolgreicher Dhyäna-Yogl zu sein. Sein Körper, nicht er selbst, bestimmt, wann er zu sterben hat. Er kann nicht willkürlich aus freiem Ermessen sterben. Die Ekstase, die er »Erlösung bei lebendigem Leibe« (jivanmukti) nennt, ist (so habe ich mir sagen lassen) ihrem Wesen nach nicht die wirkliche Erlösung. Er kann noch von einem leidenden Körper abhängig sein, dem er erst im Tode entrinnt, bei einem Zeitpunkt also, wo er endgültig frei wird. Seine Ekstase ist im wesent­ lichen eine Meditation, die, durch Stillegung der Denkfluxion (chittavritti) und Weltablösung eingeleitet, in die Leere (bhävanäsamädhi) übergeht — ein Gemüts­ akt, bei dem eine Erweckung der körperlichen Zentralkraft nicht eintritt. Durch seine Anstrengung694 wird die Geistseele, die als ein Edukt der Kundalini als Prakriti Shakti aufzufassen ist, einschließlich ihren weltlichen Wünschen beruhigt, so daß der durch die geistige Tätigkeit hervorgerufene Schleier vom Bewußtsein zurückgenommen wird. Im Laya-Y oga dagegen bringt die Kundalini selbst, wenn sie vom Y ogi erweckt wird, diese Erleuchtung für ihn

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zustande (denn eine solche Erweckung ist ja sein ganzes Handeln und seine Pflicht). Warum soll man sich eigentlich, so könnte man fragen, mit dem Körper und seiner Zentralkraft herumplagen, wenn man sich dabei so außergewöhnlichen Gefahren und verwickelnden Schwierigkeiten aussetzt ? Die Antwort darauf haben wir bereits gegeben: versicherte Gewißheit und leichter herbeigeführte Verwirk­ lichung durch die vermittelnde Tätigkeit dieser Wirkkraft, die ja das Wissen als solches ist (jüänarüpä shakti); mittelbar erworbene Wunderkräfte (siddhi); indirekter wie auch endgültiger Genuß. Diese Antwort möchte ich aber auf zweckmäßige Weise ableiten, weil sie auf einem Grundprinzip des Shäkta Tantra beruht. Das Shäkta Tantra vertritt die Ansicht, daß es nicht nur Genuß695 (bhukti) in dieser W elt und der nächsten, sondern auch Erlösung (mukti) von allen Welten gewähren könne. Dieser Anspruch beruht auf einem tiefen wahren Grund­ gedanken696. Wenn die letzthinnige Wirklichkeit aus zwei Aspekten besteht, näm­ lich aus dem stillbeschaulichen Genuß des von aller Form befreiten Selbst und aus dem aktiven Objektgenuß — mit anderen W orten: aus reinem »Geist« und aus stoffbefangenem »Geist« —.dann verlangt eine vollständige Ineinssetzung mit der Wirklichkeit eine solche Einheitlichkeit in diesen ihren beiden Aspekten. Sie muß nicht nur »hier« (iha), sondern auch »da« (amutra) erfahren werden. Und wenn man die Doktrin, die da lehrt: »der Mensch soll sich beide Welten nach Kräften zunutze machen«, recht begreift und richtig anwendet, ist an ihr etwas Wahres dran697. Eine wirkliche Unvereinbarkeit zwischen den beiden gibt es nicht, vorausgesetzt, daß man mit dem Universalgesetz der Manifestation in Überein­ stimmung handelt. Es gilt als Irrlehre, daß man im künftigen Leben Glück nur dann erfahren könne, wenn man es hier zu suchen vernachlässigt oder wenn man hier absichtlich nach Leiden und Kasteiung trachtet. Derselbe Shiva zeigt sich das eine Mal in der höchsten Wonneerfahrung, das andere Mal in Menschengestalt mit einem an Freud und Leid abwechslungsreichen Leben. Das Glück hier wie die Erlösungswonne hier wie drüben kann man erreichen, wenn man die Gleichheit dieser Shivas in jeder menschlichen Handlung verwirklicht. Man wird das dadurch erreichen, daß man jede menschliche Obliegenheit ohne Ausnahme zu einem religiösen Weiheakt und Verehrungsakt (yajna) macht. Nach dem alten vedischen Ritual hat man den Genuß von Speise und Trank durch ein zeremoniell voll- zogenes Opfer eingeleitet und durch ein Ritual begleitet. Der daraus entspringende Genuß war dann die Frucht aus der Opferhandlung und ein Geschenk der Götter. Auf einer höheren Daseinsstufe im Leben des Sädhaka weiht es der Sädhaka dem Einen, von dem alle Gaben stammen und von dem die Devatäs untergeordnete begrenzte Formen sind. Dieses Opfern erfordert aber wieder einen Dualismus, von dem die höchste monistische (advaita = ohne ein Zweites neben sich) Sädhanä des Shäkta-Tantra frei ist. Hier werden Einzelleben und Weltleben als einheitlich erfahren. Und in eben diesem Sinne handelt der tantrische Sädhaka — sei’s beim Essen oder Trinken698, sei’s beim Verrichten irgendeiner anderen der natürlichen Körperfunktionen — wenn er spricht und daran glaubt: »Shivo’ham« (»Ich bin Shiva«), »Bhairavo’ham« (»Ich bin Bhairava«)6" , »Sä’ham« (»Ich bin sie«) 700. Es

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geht hier nicht um das getrennte, in dieser Weise handelnde und genießende Individuum. Shiva ist es, der das in ihm und durch ihn tut. Ein solcher Mensch erkennt, wie man so schön gesagt h at701, daß sein Leben mit all seinem Kräfte­ spiel nicht als ein von ihm getrenntes Etwas anzusehen ist, das man um seiner selbst willen und zum eigenen Vorteil egoistisch verfolgen muß — als ob der Lebensgenuß etwas wäre, das man durch seine eigene bloße Kraft und um es gesondert auszukosten, dem Leben einfach entreißen könnte; nein, er betrachtet das Leben samt allen seinen Wirkkräften als einen Teil der in der menschlichen Ge­ stalt sich manifestierenden und in ihr zur Auswirkung kommenden göttlichen Hand­ lung in der Natur (shakti). Er realisiert im pulsierenden Schlag seines Herzens den hindurchklopfenden Rhythmus des allumfassenden Lebens, denn der Pulsschlag ist ja das typische Merkmal für dieses Leben. Die dringlichen Körperbedürfnisse vernachlässigen, sie gar ableugnen und für etwas Ungöttliches hinstellen, hieße jenes größere Leben, von dem das andere nur ein Teil ausmacht, geringschätzig achten und verneinen, hieße die große Lehrmeinung über die Einheitlichkeit von allem, die große Doktrin über die letzthinnige Gleichheit von Stoff und Geist für falsch erklären. Von einer solchen Warte aus gesehen nehmen selbst die physisch niedrigsten Bedürfnisse einen kosmisch ausgerichteten Sinn an. Der Körper ist Shakti. Seine Bedürfnisse sind die Bedürfnisse der Shakti; und wenn der Mensch genießt, ist es wieder Shakti, die durch ihn genießt. In allem, was er sieht und tut, schaut und handelt die Weltmutter. Seine Augen und Hände sind die ihrigen. Der ganze Körper mit allen Funktionen ist ihre Manifestation. Sic als solche voll entfalten, heißt diese ihre bestimmte Manifestation, heißt sich selbst vervoll­ kommnen. Wenn ein Mensch nach Selbstbemeisterung trachtet, erstrebt er das auf allen Ebenen, auf der physischen, mentalen und spirituellen; diese Ebenen kann man auch nicht voneinander trennen, denn sie stehen alle in einem Wechsel­ bezug, sie sind nur verschiedene Aspekte für das alles durchdringende eine Bewußt­ sein. W er ist göttlicher zu nennen, der, der Körper oder Seele vernachlässigt und verachtet, damit er damit einige eingebildete Geistesüberlegenheit gewinnen könnte — oder der, der beide als Modelle des von ihnen bekleideten einen Geistes mit Recht hochschätzt ? Die Verwirklichung erreicht man in der Tat viel schneller und gesetzmäßiger, wenn man den in aller Existenz waltenden Geist einschließlich der Wirkkräfte — und als solche — unterscheidet, als wenn man diese Kräfte flieht und sie entweder als ungeistig oder gar als trügerisch ansieht und sie als Hindernisse auf dem W eg verwirft702. Gedanklich unrichtig erfaßt, könnten sie allerdings zu Hindernissen werden und den moralischen Abstieg bedingen — im anderen Falle werden sie aber zu Werkzeugen für die Vollendung; und was für Möglichkeiten sonst stehen uns noch zur Verfügung ? W ie heißt es doch im Kulärnava Tantra: »Was die Menschen zu Fall bringt, das erhebt sie auch wieder.« Wenn man die Handlungen im richtigen Gefühl und in der rechten Geistes­ haltung (bhäva) ausführt, gewähren sie Weltglück (bhukti); und die wiederholte und anhaltende Bhäva ruft schließlich jene göttliche Erfahrung (tattvajfiäva,

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Einsicht in das wahre Sosein), ruft die Erlösung hervor. Wenn man in allen Dingen die Weltmutter erkennt, hat man sie endlich so verwirklicht, wie sie hinter allen diesen Dingen lebt und webt. Im weltlichen Leben kommen diese allgemeinen Grundbegriffe vor dem Eintritt in den eigentlichen Yogapfad weit häufiger zur Anwendung. In dem hier beschrie­ benen Y oga verwendet man indessen die gleichen Prinzipien insofern, als man durch diesen Y oga »Bhukti« (Weltglück) wie »Mukti« (Erlösung) zu erlangen trachtet. Gewöhnlich sagt man zwar, wo es Y oga gehe, dort gebe es keinen Bhoga ( Genuß); aber nach der Kaula-Lehre ist Yoga = Bhoga, und Bhoga ist = Y oga — und die W elt als solche wird zum Schauplatz, zum Ort der Erlösung (»yogo bhogäyate, mokshäyate samsärab«) 703. Im Kundalinl Y oga kann man in jedem Zentrum Genuß (bhoga) erfahren und magische Effekte (siddhi) erzielen, man muß nur die Zentralkraft dorthin richten; und durch fortgesetztes »Hinaufpraktizieren« erwirbt man sich schließlich den Befreiungsgenuß. Durch die niederen Hathayoga-Verfahren erwirbt man einen physisch voll­ kommenen Körper, der einem seinerseits wieder ein durchaus geeignetes Instru­ ment für die seelischen Kraftäußerungen an die Hand gibt. Ein allmählich voll­ kommen werdender Geist nähert sich andererseits immer mehr dem reinen B e­ wußtsein als solchem und geht im Samädhi-Zustand in dieses über. Aus diesem Grunde ist es für den Hathayog! erstrebenswert, einen gestählten und gesunden Körper zu besitzen — einen Körper, der von Leiden frei und darum langlebig ist. Als Meister über den Körper wird er auch zum Meister über Leben und Tod. Seine prächtige Körperkonstitution strotzt von jugendlicher Vitalität. Er lebt solange er leben will, solange er an der Eormwelt seine Ereude findet. Sein Tod ist der »Tod nach freiem Beheben«, und wenn er die überaus eindrucksvolle große Geste der Selbstauflösung vollzieht704, scheidet er bewunderungswürdig aus dem Leben. Nun, man kann es ruhig sagen, auch die echten Hathayogls werden krank und sterben. Vor allen Dingen ist die reine Disziplin eine schwierige und gefahrvolle Angelegenheit, und man soll sie nur unter der Anleitung eines erfahrenen Guru betreiben. W ie sagt doch die Goraksha Samhitä: Eine ohne Beistand ausgeführte und erfolglose Praxis kann nicht nur zu Krankheit, sondern auch zu Tode führen. Wer den Todesgott besiegen möchte, setzt sich bei einem eventuellen Mißerfolg der Gefahr aus, durch ihn sehr viel schneller erledigt zu werden. Alle, die sich an diesen Y oga heranmachen, haben — oder erfahren — natürlich nicht in gleichem Maße Erfolg. Wer versagt, setzt sich nicht nur den Gebrechen der Alltagsmenschen, sondern dazu jenen anderen Gefahren aus, wie sie im Gefolge von ungeschickt betriebenen oder für den Betreffenden ungeeigneten Praktiken aufzutreten pfle­ gen. Jene wieder, die wirklich Erfolg haben, haben ihn in verschiedenem Maße. Der eine kann sein Leben bis zum biblischen Alter von 84 Jahren, andere können es bis auf 100 Jahre verlängern, und wieder andere können sogar noch älter werden. Theoretisch wenigstens gehen die darin Vollkommenen (siddha) von dieser Daseinsebene, wann sie wollen. Nicht alle haben die gleiche Qualifikation, verfügen über die gleichen günstigen Umstände: sei es aus einem Mangel an Willen, sei es wegen unzureichender Körperkraft oder aus einem anderen Grund.

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Nicht alle mögen gewillt oder imstande sein, die für den Erfolg notwendigen strengen und harten Regeln einzuhalten. Im allgemeinen bietet auch das moderne Leben nicht mehr die Möglichkeiten für eine so vollendete Körperkultur. Alle Menschen könnten sich ein solches Leben auch gar nicht wünschen, oder könnten auf den Gedanken kommen, daß sein Erwerb der inbegriffenen Mühe wegen sich nicht lohnte. Andere wieder wünschen vielleicht den Körper so schnell wie möglich loszuwerden. Darum heißt e s : Erlösung gewinnen ist leichter als Unsterblichkeit. Erstere könne man durch Selbstlosigkeit, Weltablösung, moralische und geistige Zucht erwerben. Den Tod überwinden ist aber sehr viel schwerer als das; denn jene Befähigungen und Leistungen allein werden nicht viel nützen. Wer wirklich so überwindet, hält das Leben in der einen, und die Erlösung — wenn er ein erfolgreicher Y ogi (siddha) ist — in der anderen Hand. Er hat Weltgenuß und Erlösung. Er ist Kaiser, ist Herr der W elt und hat den jenseits aller Welten herrschenden Wonnezustand erreicht. Und darum beansprucht der Hathayogi, daß jede Sädhanä dem Hathayoga unterzuordnen ist. Wenn der Hathayogl die Kundalini erweckt, gelangt er in den Besitz ver­ schiedener okkulter Kräfte (siddhi) und hat seine Freude daran. In jedem Zentrum, in das er die Kundalini einführt, erlebt er jeweils eine ganz bestimmte Wonne (änanda) und gewinnt dabei spezielle Wunderkräfte (siddhi). Empfindet er ihnen gegenüber Vairägya — d. i. Widerwillen (oder Gleichmut, der nichts mehr be­ gehrt) —, dann leitet er die Schlangenkraft zum Shiva seines Zerebralzentrums weiter und kommt in den Genuß der Höchsten W onne, die ihrem W esen nach Erlösungswonne ist und als manifestierter Dauerzustand die auf der Trennung von Geist und Körper beruhende Erlösung an sich darstellt. »Wie eine Lichtkette« — einem blitzartigen Aufleuchten vergleichbar — »erstrahlt sie« in seinem Körperinnern; sie ist das »innere Weib«, von dem hier die R ede ist: »Was brauche ich denn äußerlich ein W eib ? In meinem Innern habe ich ein inwendiges W eib.« Der Yira (»heroische«)705 Sädhaka, der sich als Verkörperung Shivas erkennt (shivo’ham), vereinigt sich auf der physischen Existenzebene mit dem W eib als einer Shakti-Verkörperung706. Der Divya (»göttliche«) Sädhaka dagegen, der Yogi, verschmilzt in seinem Innern seine eigenen weiblichen und männlichen Prinzipien, sie werden zum »Herz Gottes« (hridayam parameshitub)707, sie sind Shakti, resp. ihr Gottesbewußtsein, Shiva. Ihre Union ist der sogenannte »Mystische Koitus« (maithuna) der Tantras708. W ir haben also zwei Erscheinungsweisen der Union (sämarasya)709 zu unterscheiden: die erste Form ist die stofflich-grobe (sthüla) Form, ist die Union der physischen Verkörperungen des Höchsten Bewußtseins; die zweite Form ist die subtile (sükshma) Form, ist die Union des im Bewußtsein als solchem auftretenden stummen stillen Prinzips mit dem aktiven Prinzip. Diese letzte Union aber ist die Erlösung. Und was ist schließlich, philosophisch gesehen, der hier beschriebene Vorgang dem Wesen nach ? Kurz Umrissen, polarisiert sich die Wirkkraft (shakti) in zwei Energieformen: in die statische oder potenzielle Form und in die als Präna auftretende und als Körperkräfte sich auswirkende dynamische Form. Das Walten einer jeden Kraft geschieht stets aus einem statischen Rückhalt heraus. Im menschlichen Körper findet sich dieses statische Zentrum als zentrale Schlangen­

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kraft im Mülädhära (der Wurzelstütze). Diese K raft imponiert als die statische Stütze (ädhära) für den gesamten Körper einschließlich allen seinen ihn durch­ flutenden pranischen Kräften. Dieses Kraftzentrum (kendra) ist eine grobstoffige Erscheinungsform des Chit, des Bewußtseins, d. h. an sich (svarüpa) ist es Bewußt­ sein, doch in seinem Sichtbarwerden nach außen ist es jene Kraft, die als die höchste Kraftform eben seine Manifestation darstellt. Genauso wie das höchste ruhende Bewußtsein sich von seiner emsig waltenden Kraftform (shakti) — mit der es im Grunde seines Wesens identisch ist — unterscheidet, so besitzt auch das als Kraft (shakti) sich manifestierende Bewußtsein einen als potenzielle Energie und als kinetische Energie sich darstellenden Doppelaspekt. Nach dem Advaita Vedanta kann es eine Zerspaltung der Wirklichkeit faktisch gar nicht geben. Für das vollkommene Auge eines Siddha ist der Werdeprozeß ein Hinstreben (adhyäsa) zum letzten Wirklichen710. Für das Auge eines Sädhaka aber — das heißt für den Siddhi-Aspiranten (Anwärter für die vollendete Vollkommenheit) —, für einen Geist also, der sich mühsam durch die niederen Existenzebenen empor­ ringen muß und sich noch hier und da mit ihnen zu identifizieren hat, für den hat das Werden die Tendenz des Zum-Vorschein-Kommens, und das Sichtbarwerden ist erst für ihn real. Das Shäkta Tantra ist eine Wiedergabe der vedantischen Wahrheit von diesem praktischen Standpunkt aus und schildert den Weltprozeß als eine im Bewußtsein als solchem sich abspielende Polarisation. Diese im Körper und als Körper existierende Polarität wird durch Y oga ausgelöscht, vernichtet, weil der Y oga das aus der Aufrechterhaltung dieser beiden Pole resultierende Gleichgewicht des körperlichen Bewußtseins aufhebt. Im menschlichen Körper wird der — durch die höchste Kraft dargestellte — potenzielle Energiepol funktionell angeregt, worauf die in Bewegung geratenen Wirkkräfte (die dynamische Shakti) — durch ersteren unterstützt — von ihm abgezogen werden; der so entstandene D y­ namismus711 begibt sich nun in seiner Gesamtheit nach oben, um mit dem ruhenden stillen Bewußtsein im höchsten Lotos zu verschmelzen712. Diesen Gedankengang hat mein Freund und Mitarbeiter, Professor Pramathanätha Mukhyopädhyäya, so überaus klar dargestellt, daß ich seinen Bericht713, weil ich ihn nicht übertreffen kann, hier an Stelle einer von mir stammenden Weiterschilderung zitieren m öchte: »Wenn Sie meinen, daß die Kundall Shakti die uranfängliche Shakti im Ruhe­ zustand sei, so läßt mich das an eine Analogie (und es ist vielleicht noch mehr als das) in der modernen Wissenschaft denken. Man kann die kosmische Energie ihrem physischen Aspekt nach entweder als statisch oder als dynamisch ansehen, wobei erstere einen Gleichgewichtszustand, letztere einen Bewegungszustand, das heißt, einen Zustand des Wechsels der bezüglichen Verhaltensweisen, charakterisiert. So sollte man ein scheinbar in Ruhe verharrendes stoffliches Ding (es gibt keine absolute Ruhe außerhalb des Reinen Bewußtseins oder Chit) als eine in Gleichgewicht sich befindende Energieform (shakti) ansehen, deren ver­ schiedene Kraftkomponenten einander in Schach halten (oder wie die Mathe­ matiker sagen: deren algebraische Kräftesumme = Null ist). Natürlich ist gege­ benenfalls das Gleichgewicht eher relativ als absolut. W ichtig zu beachten ist dabei die in zwei Energieformen sich polarisierende Shakti — sie polarisiert sich in eine statische und in eine dynamische Form.«

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»In den Geweben eines lebenden Körpers polarisiert sich die wirkende Energie (einerlei welcher Natur diese auch sei, ob wir hier eine besondere >Lebenskraft< annehmen oder nicht) ebenfalls in zwei ganz ähnlichen Form en: in die anabolische und in die katabolische Form. Die eine hat die Tendenz, die Gewebe abzubauen, und die andere ist bestrebt, sie zu erhalten. Die tatsächliche Gewebsbeschaffenheit ergibt sich als Resultante aus diesen beiden gleichzeitig vorhandenen und miteinander konkurrierenden Wirksamkeiten.« »Im Denken wie in der Erfahrung ist diese Polarisation, ist diese Polarität der Betrachtung zugänglich. In meinen Schriften714 habe ich diese Polarität zwischen reinem Chit und der in ihm sich entfaltenden Energie stets hervorgehoben: Es existiert eine Wirkkraft, eine Shakti, die den Geist durch eine unendliche Formenund Übergangsreihe zur Entfaltung bringt, und man erlebt alle diese Formen und Übergänge als im reinen und unbegrenzten Bewußtseinsäther (chidäkäsha) auftauchenden Gebilde. Schon diese kurze Betrachtungsweise zeigt uns die uranfängliche Shakti in den gleichen zwei polaren Formen wie zuvor — das heißt: statisch und dynamisch —, doch hier ist die Polarität in höchstem Maße grund­ legend und grenzt bereits an Absolutheit.« »Zuletzt wollen wir für einen Augenblick das Atom der modernen Wissenschaft betrachten. Das chemische Atom hat aufgehört ein Atom (ein nicht weiter auf­ teilbares Stoffteilchen) zu sein. Wir haben stattdessen die Elektronentheorie. Nach dieser ist das sogenannte Atom ein Miniaturkosmos, der unserem eigenen Sonnensystem stark ähnelt. Im Zentrum dieses Atomsystems existiert eine posi­ tive elektrische Ladung, die von einer negativ geladenen Wolke, den sogenannten Elektronen — wie die Sonne von Myriaden Planeten und kleineren Himmels­ körpern — umkreist werden soll. Positive und negative Ladungen halten ein­ ander in Schach, so daß das Atom als ein Gebilde von ins Gleichgewicht gebrachter Energiezustände imponiert und darum gewöhnlich nicht auseinanderfällt; doch die Möglichkeit besteht, daß es zerfallen und seine äquilibrierten Energievorräte in Freiheit setzen kann, wie es das vermutlich bei der Entstehung der Radium­ emanationen geschehen läßt. Was stellen wir hier fest ? W ir sehen die gleiche Polarität der Shakti in einen statischen und einen dynamischen Partner: die positive Ladung finden wir im Ruhezustand im Kern zusammengeballt, die negativen Ladungen bewegen sich rund um dieses Zentrum: eine vielleicht in höchstem Maße überzeugende Analogie, ja eine Demonstration der kosmischen Tatbestände. Diesen Gedankengang könnte man auch auf andere Wissenschafts­ gebiete und Philosophiezweige ausdehnen, ich möchte aber, so gut es geht, auf nähere Einzelheiten verzichten. Bis jetzt können wir, denke ich, folgende wichtige Schlußfolgerung daraus ziehen: >Die im Universum sich offenbarende Shakti spaltet sich in zwei polare Aspekte — in einen statischen und in einen dynamischen Aspekt —, und das besagt, daß man sie nie in dynamischer Form erhalten kann, ohne sie gleichzeitig in ihrer korrespondierenden statischen Form zu bekommen, gleichsam wie die Pole bei einem Magneten. Zu einem beliebigen Kraftfeld müssen wir uns nach diesem kosmischen Prinzip gegebenenfalls einen obligatorischen statischen Hintergrund denken: die Shakti im Ruhezustand — sie hat sich >zusammengerolltNishkriya< (funktionslos) ist. Abgesondert und jenseits vom Bewußtsein kann es zur selben Zeit nur N icht­ existentes geben — keine Kraft, keine Shakti —, darum steht die göttliche Weltmutter auf der Brust des göttlichen Vaters. Die Mutter als solche repräsen­ tiert alle Wirksamkeit und ist Gunamayl (in ihrem Prakriti-Aspekt setzt sie sich aus den Gunas zusammen). Ihre Blöße deutet an, daß sie, die alles enthält, von nichts umkleidet werden kann; ihre Schwärze deutet an, daß sie unergründlich, rätselhaft, Aväng-Mänasagocharä (unausdenkbar und unaussprechbar) ist. Das ist selbstverständlich keine Zweiteilung der Wirklichkeit (das liegt nur an der Unvollkommenheit der sonst ganz korrekten Sänkhya-Doktrin über purusha und prakriti), sondern charakterisiert nur die für uns erfahrbare Polarisation eines unteilbaren Tatbestandes, der die uranfängliche (ädyä) Shakti als solche zum Ausdruck bringt. Daher auch ist Chit = Shakti. Shiva ist Shakti, und Shakti ist Shiva, wie die Tantras sagen. Sie ist sowohl Gunäshraya (Stütze für die Gunas) wie Gunamaya (substanzmäßig aus Gunas bestehend); sie ist Nirguna (eigenschaftslos) wie Sagupa (Eigenschaften besitzend), wie eine gut bekannte Chandi-Stelle lautet.« »Ihre gedankenreiche Anspielung715 läßt mir das Wesen der Kundalini Shakti ziemlich klar werden. Sie haben sicherlich recht, wenn Sie sagen, die kosmische Shakti ist >Samashti< (Gesamtkraft), während die in den Körpern existente Kundalini nur als >Vyashti< (persönliche Shakti) aufzufassen ist; die letztere ist eine Veranschaulichung, eine Nachbildung en miniature, ist ein mikrokosmisches Modell der Gesamtshakti. Dann sollte man eigentlich das Gesetzmäßige, Prin­ zipielle, der ganzen — nämlich der makrokosmischen — Shakti in der Kundalini wiederfinden. Dieses Gesetzmäßige haben wir als Polarisationsgesetz zwischen den statisch-dynamischen und potenziell-kinetischen Aspekten bereits kennengelernt. Im lebendigen Körper muß es demnach auch eine solche Polarisation geben. Nun, die im Mülädhära dreieinhalbmal zusammengerollte Kundalini ist der unumgäng­ lich notwendige, unerschöpfliche und statische Rückhalt für die im ganzen Körper sich auswirkende, die Lebensprozesse vorantreibende und die Umwandlungen bewirkende dynamische Shakti. Man könnte also gleichsam den Körper mit einem zweipoligen Magneten vergleichen. Das Mülädhära gilt, auf den übrigen Körper bezogen, als statischer Pol, und der Körper gilt als dynamischer P ol; der Körper setzt dieses Kräftespiel zwangsläufig voraus und findet eine solche statische Stütze — daher vielleicht716 die Bezeichnung >MülädhäraDie Shakti kann man nicht im geringsten erschöpfen, das sieht nur so aus.< Genauer gesagt, stößt die Kundall, wenn man sie durch Y oga intensiv bearbeitet, eine Emanation oder eine Ejektion in das Ebenbild ihres eigenen Selbst aus (ähnlich dem ätherischen Double< der Theosophen und Spiritualisten719), und diese Ejektion durchdringt dann die verschiedenen Zentren und verschmilzt — wie Sie hervorheben — im höchsten siebenten Zentrum mit der Mahäkundali Shivas. Während also dieser ätherische Double< — diese >Selbstausstoßung< — der im Mülädhära zusammen­ gerollten Kraft die Sushumnä hinaufgleitet, rührt sich die eingerollte Kraft als solche überhaupt nicht von ihrem Platz und braucht es auch nicht. Sie verhält sich wie ein von einer überladenen720 elektromagnetischen Maschine abgegebener Funke; besser gesagt: sie verhält sich wie die Radiumemanationen, die die im Radium aufgespeicherte Atomenergie nicht wesentlich verringern. Dieses letzt­ genannte Beispiel ist vielleicht die exakteste physikalische Parallele für die Verständlichmachung des Sachverhalts. Eine gut bekannte Stelle in der Upanishad drückt das so aus: >Das Ganze (pürna) wird vom Ganzen subtrahiert, doch übrig bleibt das Ganze.pürnaerweckt< der Y ogi einfach nur die Shakti, niemals aber >erschafft< er sie. Beiläufig bemerkt, verliert die den Körper entfaltende Keimzelle, nach Ansicht der modernen Biologie, auf keiner Stufe des so verwickelten Prozesses ihren Charakter als Keim ­ zelle. Die ursprüngliche Keimzelle spaltet sich in zwei Tochterzellen: die eine Hälfte entwickelt sich allmählich zu einer Pflanze oder einem Tier — das ist die somatische Zelle; die andere Hälfte verharrt praktisch unverändert im Körper eingeschlossen und wird im Fortpflanzungsprozeß auf die Nachkommenschaft übertragen — das ist das Keimplasma. Dieses Keimplasma existiert ununter­ brochen die ganze Fortpflanzungsreihe hindurch. Das ist die Weismawwsche Lehre von der >KeimbahnkontinuitätTat< (>DiesAham< (>IchApperzeptionSelbstdas< — wie unser Gäyatri (Mantra) sagt — >alles Wirken und Walten des Buddhi aufrechterhält und vorantreibt.< Diese Tatsache wird durch das Käll-Mürti symbolisch dargestellt: aber nicht nur als ein bloßes Symbol.« »2. Meine Bemerkungen über das im Mülädhära eintretende Erwachen der Schlangenkraft, resp. die Hinweise auf das Aufsteigen, sind in ihrer Art vielleicht fast ein Paradoxon. Obgleich die zusammengerollte K raft erwacht, sich entrollt und aufsteigt, rührt sie sich in Wirklichkeit nie von ihrem Platz; nur eine Art ätherischer DoubleAusstoßungEjekt< macht sich los und wird durch das Zentrensystem hinaufgetrieben. Nun, dieser ätherische Double, dieses Ejekt, ist — in klare W orte ausgedrückt — das dynamische Äquivalent für die an der Müla (Wurzel) konzentrierte statische Kraft. Jedesmal wenn das Mülädhära sich durch den Pränäyäma des Bijamantra oder durch geeignete Mittel anderer Art wie eine elektromagnetische Maschine überlädt (ist die Kundall Shakti an der Müla auch grenzenlos und unerschöpflich, so ist doch das Fassungsvermögen eines Organismus, der als gegebenes und begrenztes Behältnis ihre statische Daseins­ form zu tragen hat, räumlich begrenzt — deshalb kann es zu Überladung kommen), wird ein dynamisches, das heißt wirksames Äquivalent von der statischen Kraft — vielleicht durch ein dem Induktionsgesetz ähnliches Naturgesetz — freigegeben, wobei aber die statische K raft als solche sich weder erschöpft noch viel weniger ihre statische Existenzform aufgibt. Es kommt nicht vor, daß die statische Energie an der Müla sich gänzlich in dynamische Energie verwandelt — mit anderen W orten: daß die zusammengerollte Kundalini die Müla verläßt und damit gleich­ sam einen leeren Platz zurückläßt: das kann nicht eintreten, denn wäre das der Fall, dann müßte das im Körper sich auswirkende gesamte dynamische Kräfte­ spiel aus Ermangelung seines statischen Rückhalts augenblicklich erlöschen. Die zusammengerollte Kraft bleibt weiter zusammengerollt, bleibt statisch — und doch kommt zweifellos etwas aus der Müla: das dynamische Äquivalent. Dieses Paradoxon ließe sich vielleicht auf zweierlei Weise erklären: a) Eine Erklärung habe ich in meinem Hauptbrief schon angedeutet. Die poten­ zielle Kundall Shakti transformiert sich teilweise in die kinetische Erscheinungs­ form , wird hierbei aber nicht erschöpft, da sie als Shakti, auch wenn sie dem Müla-Zentrum anvertraut ist, eine unendliche Große darstellt: ihr potenzieller Vorrat bleibt für immer unaufgebraucht. Ich erwähnte aus der Upanishad eine Textstelle über das Püma. In unserem Fall ist das dynamische Äquivalent eine teilweise Umwandlung der einen Energieform in die andere. In dem (hier be­ schriebenen) Laya-Yoga ist das so die Regel. Wenn aber das imbegrenzte Poten­

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zielle zum unbegrenzten Kinetischen würde — das heißt, wenn die zusammen­ gerollte Müla-Kraft sich sozusagen gänzlich abwickelte — hätten wir zwangs­ läufig die Auflösung der drei Körper (sthüla, linga und kärana — des groben, subtilen und kausalen Körpers), hätten wir als Ergebnis >VidehamuktiPltvä pltvä punab pltvä< usw.721. b) Die andere Erklärung wird durch das Induktionsgesetz verständlich. Nehmen Sie eine elektromagnetische Maschine722; bringen Sie einen geeigneten Stoff in die Nähe, dann wird sie in diesem Medium einen äquivalenten, aber entgegen­ gesetzt gearteten Elektromagnetismus722 induzieren, ohne dabei ihren eigenen Energievorrat zu verringern. In einer Kraftleitung zum Beispiel fließt ein Energie­ strom zu einem Kraftverbraucher, die Quelle erleidet hier einen Verlust, und der Verbraucher erhält das, was erstere einbüßt; der Gewinn ist hier dem Verlust gleich. Doch bei der Induktion ist das anders. Da verliert die Quelle nichts, und die induzierte K raft ist der induzierenden Kraft dem Wesen nach äquivalent, doch entgegengesetzt. So wird beispielsweise eine positive Ladung in einem be­ nachbarten Objekt eine äquivalente negative Ladung induzieren. Dürfen wir nun demzufolge annehmen, daß das Mülädhära, wenn es überladen wird, im benach­ barten Zentrum (ich meine das Svädhhishthäna) ein dynamisches (kein statisches) Äquivalent induziert? 723 Ist es wirklich das, was man als das Erwachen der Schlangenkraft bezeichnet ? Die Erklärung ist vielleicht, wie ich anzunehmen geneigt bin, gar nicht so exzentrisch.« In Erwiderung auf diesen so überaus interessanten und aufschlußreichen Bericht schrieb ich meinem Freund die Andeutung, ich hätte einige Schwierigkeit damit, wie ich seine Schilderung billigen solle, daß die Kundalini Shakti sich in Wirklich­ keit nicht abwickle und aufsteige und nur eine Emanation des Ebenbildes ihres eigenen Selbst nach oben projiziere. Die Schwierigkeit, die ich empfand, war diese: erstens versichern die Yogabücher — denen man in dieser Hinsicht vollen Glauben schenken darf — einstimmig, daß die Kundalini als solche tatsächlich aufsteigt. Das erhärtete sich außerdem noch durch einige Auskünfte, die ich nach Eingang des genannten Briefes bei einem mit dem Shästra724 gut vertrauten tantrischen Pandit einholte. Da der Körper des Yogi, wenn das Bewußtsein ihn verlassen hat, trotzdem weiterlebt — wenn auch in untätiger leichenähnlicher Verfassung —, fragte ich ihn, wodurch eigentlich der Körper am Leben bleibe, wenn die Kundalini ihre zentrale Wohnstätte aufgebe ? Seine Antwort lautete, daß ihn der Nektar, der sich aus der im Sahasrära stattfindenden Shiva-ShaktiUnion ergösse, am Leben erhielte. Dieser Nektar sei eine aus ihrer Union hervor­ gehende Kraftausstoßung. Wenn die Kundalini als solche nun nicht nach oben gehe, sondern nur einen von ihr emanierten Funken aufsteigen lasse, wie (so fragte er nun wieder) kommt es dann, daß der Körper kalt und leichenähnlich wird ? Wäre das auch der Fall, wenn die Kraft im Zentrum verbhebe und nur ein dyna­

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misches Äquivalent aus sich emanierte ? Zweitens gab es da in der von meinem Freund entwickelten Theorie noch andere Schwierigkeiten, die man vielleicht aber auf den schwer verständlichen Sinn der Darstellung — daß das Mülädhära sich von der großen Kraft gänzlich entleerte — zurückführen könnte. Ich vertrat den Standpunkt, daß die Kundall das statische Zentrum für den Gesamtkörper als vollbewußter Organismus sei, und daß jeder Körperbezirk einschließlich der ihn konstituierenden Zellen über ein statisches Zentrum eigener Zugehörigkeit ver­ fügen müsse, ein Zentrum, das diesen Bezirk einschließlich seiner Zellen funktions­ tüchtig zu erhalten habe; und daß das aus einer Anhäufung von Stoffpartikelchen bestehende leibliche Leben (von dem nun das führende organische Bewußtsein als Ganzes abstrahiert würde) durch den Nektar erhalten bliebe, der von der im Sahasrära sich abspielenden Verschmelzung zwischen Shiva und Kundalini Shakti herabflute. Professor P. Mukhyopädhyäya schrieb mir in Erwiderung darauf folgendes: »So wie ich mir den Fall denke, bringt das Mülädhära zweifellos etwas hervor — ein dynamisches Äquivalent, ein wirksames Doublesine qua non< für sämtliche Funktionen des dreifachen (groben, sub­ tilen und kausalen) Körpers. Sie ist gleichsam der Puffer, der Sockel, gegen den ein jedes Kräftewaltcn des Jiva (verkörperten Bewußtseins) — gewissermaßen wie ein Schiffsgeschütz oder ein anderes schweres Geschütz gegen seinen Sockel oder seine Unterlage — zurückwirken oder gegenprallen muß. Während so die dyna­ mische, das heißt die abgcrollte Shakti die Achse hinaufsteigt, verbleibt die statische, das heißt die zusammengerollte Shakti an ihrem Platz an der Müla und verharrt dort als reine dynamische Aufstiegsmöglichkeit. Die aufsteigende Kraft ist ganz einfach das dynamische Duplikat der statischen Basis. Und wenn man sagt, die Kundalini verlasse ihren Platz und steige auf, so meint man damit, daß sie als Kundalini zu existieren aufhört und dynamisch wird. Die aufsteigende K raft ist also eine abgewickclte Energieform, Kundalinl-Kraft ist sie nicht mehr; sic ist der dynamische Ausdruck für die Kundalinl-Kraft. Soweit kann alles stimmen. Die Frage aber ist die: W ird die Müla entleert und aller Kraft (ins­ besondere aller zusammengerollten Kraft) beraubt, wenn sich dieses dynamische Ebenbild von ihr ablöst und die Achse hinaufsteigt ? Bildet sich das dynamische Gepräge ganz auf Kosten der statischen Basis ? Muß letztere auf hören, damit das erstere beginnen kann ?« »Hier muß ich — denke ich — verneinen. In diesem Falle handelt es sich um eine Kraft, die nicht nur hinausgeht, sondern auch zurückbleibt: als dynamische Form geht sie, als statische Form bleibt sie; im vorliegenden Fall ist die Kundali in dem einen ihrer Aspekte (oder Pole) abgewickelt, in dem andern bleibt sie aber weiterhin zusammengerollt. Ein Paradoxon vielleicht, doch — wie die meisten Paradoxe — wahrscheinlich ein wahres.« »Und wird durch diese Auslegung irgendeine Quelle der Heiligen Schrift — vor der ich, nebenbei bemerkt, die größte Hochachtung habe — wirklich in Frage

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gestellt ? In den zwei vorangehenden Mitteilungen habe ich das Wesen des dyna­ mischen Äquivalents wie auch sein Verhältnis zum statischen Hintergrund bereits angedeutet, so daß ich mich des näheren darüber nicht weiter auszulassen brauche. Ich habe in jeder Beziehung den Standpunkt vertreten, daß das als Sitz für die statische (i. e. zusammengerollte) Kraftform angesehene Mülädhära im Hinblick auf eine solche Kraft nie und nimmer gänzlich entleert werden könne, aus­ genommen unter den besonderen Umständen der >Videhamukti< (leiblosen E r­ lösung), bei der sich der dreifache Körper (der grobe, subtile und kausale) auflösen muß. Auch denke ich, daß man den von Ihnen vertretenen Standpunkt mit dieser Themaauslegung in Einklang bringen kann. Die Kundalini Shakti ist der statische Lebensaspekt des organisierten Körpers als Ganzes, wie Sie ganz richtig sagen. Das Verhältnis des individuellen Zellenlebens zum Leben des Gesamt­ organismus wird in der Wissenschaft nicht klar genug Umrissen. Ist das gewöhnliche allgemeine Leben bloß eine mechanische Resultante aus den Leben der Einzel­ zellen oder sind die Lebensformen der Einzelzellen nur detaillierte Manifestationen des allgemeinen Lebens ? Mit anderen W orten : ist das allgemeine Leben die Ur­ sache und sind die Zell-Leben die Wirkungen, oder ist das vice versa ? Die Wissen­ schaft hat diesen Streitpunkt noch nicht klar entschieden. Als Unterzeichner der Shaktiväda (Shakti-Doktrin) neige ich jedoch dazu, dem allgemeinen Leben den Vorzug zu geben; schon in der Keimzelle wird das allgemeine Leben in die Sub­ stanz weitergegeben, und die ganze Entfaltung des Jivadeha (Jivakörper) ist nichts anderes als die detaillierte Durchführung dessen, was nach dem AdrishtaPrinzip (karma-Prinzip) in die Lebenssubstanz bereits hineingelegt wurde. Dessen­ ungeachtet hin ich durchaus geneigt, den Einzelzellen ein halb-unabhängiges Leben cinzuräumcn. >Halb< darum, weil sie in beträchtlichem Maße vom Leben des Gesamtsystems unterhalten werden müssen. Nutzen resp. Schaden für das Leben des Ganzen hat einen rückwirkenden Einfluß auf die Beschaffenheit der Körperzellen, auf den Tod des Gesamtlebens folgt der Zelltod usw.« Nun, wir finden natürlich in jeder Einzelzelle eine statisch-dynamische P o­ larität; in gleicher Weise hat auch der Gesamtorganismus diese Polarität, diese Wechselwirkung. Im Gesamtorganismus wirkt die zusammengerollte Kraft im Mülädhära als statischer Pol, als statisches Korrelat; das dynamische Korrelat dagegen äußert sich in den auswirkenden Kraftformen (den fünf Pränas oder »Lebenshauchen«) als: Präna, Apäna, Samäna, Udäna und Vyäna — sie treiben die verschiedenen Körperfunktionen faktisch voran. Im alltäglichen Sinne ist diese dynamische Kraft über den ganzen Körper gleichmäßig verteilt, wobei sie nicht nur die größeren Gewebe, sondern auch die mikroskopisch kleinen Zellen mit Lebenskraft erfüllt. Und weiter, die im Kundalini Yoga resp. in der Shatchakrabheda auftretende Devitalisation des Körpers (wie Sie das nennen) ist — so wage ich anzunehmen — nicht auf eine Entleerung, eine Wegnahme statischer Energie aus dem Mülädhära, sondern auf eine Konzentrierung, eine Bündelung der gewöhnlich über den ganzen Körper verstreuten dynamischen Energie zurück­ zuführen, so daß das gegen den statischen Rückhalt, das heißt gegen die Kundalini Shakti angesetzte dynamische Äquivalent nichts anderes ist als der verstreute fünffältige und nun wieder heimgeholte Präna, den man — von den anderen

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Körpergeweben abgezogen und — jetzt in eine längs der Achse verlaufende Linie konzentriert hat. Im Alltagsleben ist also das dynamische Äquivalent als Präna über alle Gewebe diffus verteilt; im Yoga dagegen wird es längs der Achse zu­ sammengezogen, wobei das statische Äquivalent — die Kundalinl Shakti — in beiden Fällen weiterexistiert. Auf diese Weise wird nämlich auch die Polarität, die Korrelation, aufrechterhalten: im ersten Falle zwischen der Shakti im Mülädhära und dem verstreuten Präpa; im letzten Falle zwischen der Shakti an der Müla und dem längs der Achse gebündelten Präna. Das wird vielleicht auch die im Kundalinl Y oga auftretende und von Ihnen erwähnte Kälte, die vermehrte Untätigkeit, Gefühlslosigkeit usw. des übrigen Körpers hinreichend erklären. Im Yoga ist diese Zurücknahme, diese Bündelung des Präna zumeist unvollkommen; darum kann der Körper durch den Residualpräna und die Zellenleben — wenn auch träge und leichenähnlich — am Leben erhalten werden. Im Falle einer voll­ ständigen Präpa-Rücknahme, einer kompletten Präna-Bündelung in einen Punkt, würden die Körperzellen absterben und der Körper zerfallen. »Wenn man im Kundalinl Y oga andererseits die aufgerollte Kraft vollständig und gänzlich abrollen (i. e. dynamisieren) würde, gäbe es eher einen über den ganzen Körper verteilten Vitalüberschuß als einen Mangel; nichts würde von der bereits vorhandenen Körperdynamik abgezogen, im Gegenteil, sie würde auf Kosten der statischen, nunmehr kinetisch gewordenen Kraft aus der Müla um einen respektablen Betrag vergrößert, ginge die Achse hinauf und würde in die benachbarten Körpergewebe einströmen.« »Hieraus m öchte ich mir die Schlußfolgerung erlauben, daß die statische Kraft an der Achsenbasis ein über den Körper als diffus verstreuter Präna auftretendes dynamisches Äquivalent induziere oder produziere, das sich nun längs der Achse ansammle und bündle, ohne daß sich die statische Kraft als solche dabei erschöpfe oder ihren statischen Zustand preisgäbe. Die Entwicklungsphasen könnte man folgendermaßen kurz zusammenfassen: 1. Um damit zu beginnen: es existiert eine zusammengerollte Kraft an der Achsenbasis, ihr lebensnotwendiges Korrelat — der dynamische Präna — findet sich in den fünf Lebenshauchen über den ganzen Körper verteilt. 2. Im Kundalinl Y oga läßt man einen Teilbetrag des bereits verfügbaren dynamischen Präpa in geeigneter Weise an der Achsenbasis zur Wirkung kommen, wodurch die Basis — und besonders der dieses Zentrum repräsentierende vier­ blättrige Padma (Lotos) — übersättigt wird und seinerseits nun auf die gesamte diffus verstreute Körperdynamik (die >UnterAufsteigen der Schlange< spricht. a) Die in dieser Weise wirkende, zusammengerollte Kraft hat ihr allgemeines Gleichgewicht, hat ihre statische Verhaltensweise nicht preisgegeben. b) Der modus operandi dieser Rückwirkung ist schwer zu definieren, wahr­ scheinlich ist er aber (wie ich das in meinen früheren Mitteilungen zu verstehen gegeben habe) entweder

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aa) eine Teilumwandlung der imbegrenzten zusammengerollten Kraft in eine Art Influenzkraft, die den verstreuten Präna auf eine ihr gemaßte Weise zu sammeln und in eine ihm zukommende Resultantenlinie längs der Achse zu bün­ deln vermag oder besteht; bb) aus einer der elektromagnetischen Wirkung analogen Induktionswirkung, durch welche die (Unter-)Pränas gesammelt und gebündelt werden. In diesem Falle ist eine Umwandlung der statischen Energie nicht erforderlich. Für das Verständnis des modus operandi werden wir wohl eine von diesen beiden Möglich­ keiten zu wählen haben oder sie vielmehr gleichordnen müssen. Der diffuse Präna ist — mathematisch ausgedrückt — eine skalare Größe (die einen Umfang aber keine Richtung h at); der gebündelte Präpa ist eine Vektorengröße (die nicht nur einen Umfang, sondern auch eine bestimmte Richtung hat).« »Nehmen wir zum Schluß an, wir erlebten mit einem >Divyachakshu< (dem Auge eines Sehers) den Vorgang im Kupdalini Yoga. D a erhebt sich — gleichsam wie ein verdichteter Blitz (tadit) — etwas im Mülädhära und steigt, an Schwung­ kraft mehr und mehr gewinnend, von Chakra zu Chakra aufwärts, bis es seine Vollendung im Paramashivasthäna (Wohnbereich des Höchsten Shiva) erreicht. Aber schau nur zurück, und du wirst erkennen, daß sich da unten an der Müla die dreieinhalbmal um den Svayambhu Linga gewickelte Kulakundalinl immer noch befindet. Sie ist gegangen und ist dennoch vorhanden — sie ist geblieben und kommt doch wieder zu sich selbst zurück. W ird diese Vision durch die Heiligen Schriften nicht bezeugt und durch die Erfahrung des Yogin nicht bestätigt?« Wenn man von Einzelheiten absieht, scheint das Prinzip im wesentlichen darin zu bestehen, daß die Kuridalini Shakti, sobald man sie als solche (oder wie mein Freund es vorschlägt: ihre Ausstoßung, ihr Ejekt) »erweckt« hat, als statische — das heißt als die das Weltbewußtsein aufrechterhaltende — Rraftform zu existieren aufhört (wobei der Begriffsinhalt »Weltbewußtsein« nur solange wie sie »schläft« beizubehalten wäre) und von dem anderen statischen Zentrum im Tausendblättrigen Lotos (sahasrära), wenn erst einmal in Bewegung gesetzt, angezogen wird; dieser Vorgang veranschaulicht ihre Ineinssetzung mit dem Shivabewußtsein, veranschaulicht das Bewußtsein in der Ekstase jenseits von Name und Form. »Schläft« die Kundalini, dann ist der Mensch sich dieser W elt bewußt. »Erwacht« sie, dann schläft er, das heißt, er verliert alle Weltbewußtheit und tritt in den Ursachenkörper ein. Im Y oga geht er in das formlose Bewußtsein auf. Ohne diesen Punkt noch weiter zu erörtern, möchte ich nur noch hinzufügen, daß die diesen Yoga praktisch Ausübenden behaupten, er sei weit höher als irgend­ ein anderer725; und der durch ihn erlangte Samädhi (Ekstasezustand) sei voll­ kommener. Der von ihnen angegebene Grund ist folgender: im Dhyänayoga tritt die Ekstase durch Weltablösung und geistige Konzentration ein und führt zum Erlöschen der Denkfluxion (vritti), führt mit anderen W orten zum Aufsteigen des durch die Begrenzungen der Seele nicht mehr beengten Reinen Bewußtseins724. Der Tiefengrad dieser vom Sädhaka vollzogenen Bewußtseinsentschleierung hängt von dessen meditativen Fähigkeiten (jüänashakti) und vom Ausmaß seiner W elt­ ablösung ab.

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Auf der anderen Seite dagegen erzielt die (alle Shaktis und deshalb auch die Jhänashakti als solche verkörpernde) Kundalini, wenn sie vom Yogi erweckt worden ist, die volle Jnäna für ihn. Zweitens gibt es im Samädhi des Dhyänayoga kein Erwecken und natürlich auch keine Union der Kundalini Shakti mit der obligaten Wonne und dem Erwerb spezieller übernatürlicher Kräfte (siddhi). Nebenbei erwähnt kennen wir im Kundalini Y oga außer dem durch die Medi­ tation erreichbaren Samädhi auch noch einen durch die Jiva-Zentralkraft herbei­ geführten Samädhi, durch eine Wirkkraft, die nicht nur einen Zuwachs an Körper­ kräften, sondern auch einen solchen an Geisteskräften einbringt. Man sagt, daß die in diesem Sinne vollzogene Union vollendeter sei als die durch geistige Methoden allein dargestellte. Obgleich man in beiden Fällen das körperliche Bewußtsein verlöre, würde im Kundalini Yoga nicht nur die Seele, sondern auch der Körper, soweit er durch die Zentralkraft (oder vielleicht durch ihr Ejekt) repräsentiert wird, mit Shiva wirklich vereint. Diese Verschmelzung bewirkt einen Genuß (bhukti), der dem Dhyänayogl nicht zuteil wird. Der Divya Y ogi empfindet wie der Vira Sädhaka beseligende Wonne (bhukti), doch die des ersteren ist bei weitem heftiger, weil sie als die Wonne an sich erlebt wird. Die vom Vira Sädhaka erlebte Wonne ist im Gegensatz dazu nur eine auf der phy­ sischen Ebene sich widerspiegelnde Wonne, ist nur ein Heraufquellen der wahren echten Wonne durch die abschwächenden Hüllen und Fesseln des Stoffes. Noch einmal: auch wenn man sagt, beide gewinnen Erlösung (mukti), so ver­ wendet man diesen Ausdruck in der Vira Sädhanä nur in bildhaftem Sinne und bezeichnet damit eine Wonne, die auf der physischen Ebene die engste Annäherung an jene Mukti andeuten soll und ein »Bhäva«, ein flüchtiges Gefühl der ShivaShakti-Union erahnen läßt, die aber in der höheren Y oga Sädhanä zur eigentlichen Erlösung des Y ogi heranreift. Er hat in vollstem und sprichwörtlichstem Sinne Weltglück (bhukti) wie endgültige Erlösung (mukti). Daher auch der Anspruch auf die Bezeichnung »Kaiser aller Yogas«. W ie dem auch sei, ich verlasse nun das Thema in der Hoffnung, andere möchten die von mir hier begonnene Untersuchung fortsetzen. Das und auch noch manches andere aus dem Tantra Shästra scheint mir — einerlei seines inneren Gehalts — einer näheren Prüfung wert, einer Prüfung, die es bis jetzt noch nicht erfahren hat. A. A.

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DER T E X T Übersetzung aus dem Sanskrit

D IE BESCH R E IB U N G D E R SECHS ZE N T R E N (Shatchakra-nirüpana)

D E R FÜ NFFÄLTIGE FUSSSCHEMEL (Paduka-panchaka)

\

BESCHREIBUNG DER SECHS ZENTREN Shatchakra Nirüpana

EINLE1TUNGS VERS

Atha tantränusärena Sat Cakradi kramodvatah. Ucyate parainänanda-nirväha-prathamänkurah.

Ich spreche jetzt über den ersten aufkeimenden Schößling (der Yogapflanze), über das Auf­ kommen der vollständigen Brahmanverwirklichung, wie man es tantragemäß vermittels der sechs Chakras usw. nach der ihnen eigengesetzlichen Reihenfolge herbeiführen kann. KOMMENTAR »Nur wer durch Mahä-Yoga den Reichtum1 der sechs Lotosse2 erfahren hat, ist imstande, die in ihrem Innern waltenden Urkräfte3 zu erklären. Ohne die Gnadenerweise des Guru* ist weder der vortrefflichste Weise noch der (an Erfahrung) Älteste in der Lage, die auf die sechs Lotosse mit ihrer erhabenen Fülle an Sha, Sa und H a5 bezogenen inneren Zusammen­ hänge im Prinzip verständlich zu machen.« Nun, beseelt vom Wunsch, der in den Sumpf von Elend und Trübsal versunkenen W elt Rettung zu bringen, hat der sehr barmherzige Pürnänanda Svämi diese mühevolle Aufgabe auf sich genommen. Das macht er, um Sädhakas6 heranzubilden; um die zur endgültigen Erlösung führende Tattvajüäna7 zu verkünden; das macht er auch darum, weil er schließlich das Aufgehen der Kundalini8 in den sechs Chakras9 beschreiben wollte. »Jetzt« (atha). — Der Sinn dieser Partikel ist klar, sie soll den Zusammenhang dieses Buches mit dem vom Verfasser unter dem Titel »Shritattva-Chintämani« herausgegebenen Werke aufzeigen, dessen fünf erste Kapitel die vorbereitenden Riten und Praktiken zum Shat-Chakranirüpana10 beschreiben, ln diesem Buch spricht er vom ersten Schößling der Brahman-Verwirklichung. Paramänanda (Höchste Wonne) bezeichnet den Brahman, der, wie das Shruti sagt, »ohne Anfang und ohne Ende (nityam), Einsicht durch Weisheit (vijnänam) und Wonne (änandam)« ist. » Tantragemäß« (tantränusärena) — i. e., die Tantrazeugnisse11 soll man sich zur Richt­ schnur nehmen. »Der erste aufkeimende Schößling« (prathamänkura) — i. e., die zur Brahman-Verwirk­ lichung führenden Anfangsstufen. Man veranlaßt eine solche Verwirklichung durch das Wissen um die sechs Chakras, die Nädis12 usw., d. h. durch die tantrische Yoga Sädhanä. » Vollständige Verwirklichung« (nirväha). — Der Sanskritausdruck besagt »Vollendung«; er bezeichnet hier die Vollendung unmittelbarer, auf Erfahrung beruhender BrahmanV erwirklichung13. »Wie man es vermittels der sechs Chakras und der übrigen Dinge herbeiführen kann« (shatchakrädl-kramodgata) — i. e., man erreicht11 das durch die Meditation über die sechs Chakras: Mülädhära, Svädhishthäna, Manipüra, Anähata, Vishuddha, Äjüä und über die anderen Dinge15: die Nädis16, Lingas17, die fünf Elemente18, Shiva, Shakti usw., so wie sie jeweils in der ihnen entsprechenden Reihenfolge mit den sechs Chakras in Beziehung stehen. Die Reihenfolge (krama) ist diese: zuerst erfolgt die Meditation über sie, dann kommt das Erwecken der Kundalini und ihr Durchgang zum Brahmalotos, anschließend ihre Rück­ kehr von da; die Shiva-Shakti-Union und so weiter und so fort.

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Die »Reihenfolge« (krama), durch die man das erreicht, ist gleichbedeutend mit der Y oga­ praxis. Im wesentlichen sagt der Verfasser: »Ich spreche über den Anfangsschritt (ankura) in der Praxis; er ist der erste Anlaß zur unmittelbaren oder auf Erfahrung beruhenden BrahmanVerwirklichung18; diese Verwirklichung läßt sich durch das in den Tantras niedergelegte Wissen um die sechs Chakras herbeiführen.«

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VERS 1

Merorbahyapradeíe saái mihirasire savyadakse nisanne Madhye nädi susumnätritaya-gunamayi Candrasüryagnirüpä. Dhattüra-smera-puspagrathita-tamavapuh Icandamadhyacchirahstä Vajräkhyä medhradeiä cchirasi parigatä madyamessyä jvalanti.

Räumlich außerhalb der Meru20 liegen, rechts- und Unlcsläufig angeordnet, die beiden Shiräs31; Shashi22 und Mihira23. Die substanzialiter aus der dreifältigen Ouna2i bestehende Nädi Sushumnä verläuft in der Mitte. Dem Ausdruck nach ist sie Mond, Sonne und Feuer23; ihr System — einer Reihe aufblühender Dhüstürabliiten26 vergleichbar — erstreckt sich von der Kanda21-Mitte bis zum Kopf, und die in ihrem Innern verlaufende leuchtende Vajrä reicht vom Medhra29 bis zum ~ Kopf. KOMMENTAR Nun, ein Yoga, wie wir ihn besprechen wollen, kann ohne ein Wissen um die sechs Chakras und Nädis überhaupt nicht zustandegebracht werden; darum beschreibt der Verfasser in diesem Vers und den beiden folgenden die entsprechenden Nädis.

»Räumlich außerhalb« (vähya-pradeshe) die beiden Nädis Shashi und Mihira (shashimihira-shire = die beiden Nädis oder Shiräs Shashi und Mihira). Shashi = Chandra (Mond); Mihira = Sürya (Sonne). Diese, ihrem Wesen nach Mond bzw. Sonne29 charakterisierenden zwei Nädis sind die Nädis Idä und Píngala. »Merm. — Es ist die Meru-Danda, das Rückgrat, die Wirbelsäule, sie erstreckt sich von der Müla (Wurzel), d. h. vom Mülädhära bis zum Hals. Ich werde das später noch erklären. »Rechts- und linksläufig angeordnete (savya-dakshe nishanne). »Diese beiden Nädis«. — »Die Idä verläuft links und die Píngala verläuft rechts neben der Meru« heißt es im Bhüta-shuddhi Tantra. Das Sammohana Tantra30 sagt über ihre Sonnenund Mondhaftigkeit folgendes aus: »Die Idä Nädi zur Linken ist blaß und von mondhafter Beschaffenheit31 (chandra-svarüpini). Sie ist Shakti-Rüpä DevI32 und wahrhaftige Verkörperung des Nektars (amritavigrahä). Rechts verläuft die maskuline Piügalä, sie ist sonnenartig. Als die große DevI ist sie Rudrätmikä33 und leuchtet so rot wie die Staubfäden der Granatapfelblüte.« Diese beiden Nädis streben von der Müla (i. e. mülädhära) einzeln nach oben und gehen, wenn sie das Äjüä Chakra erreicht haben, in die Nasenlöcher über. Das Yämala sagt: »Rechts und links (von der Meru) liegen Idä und Pingalä. Diese zwei Glückverheißenden streben geradewegs nach oben und gehen, von links nach rechts und von rechts nach links hinüber­ wechselnd und auf diese Weise alle Lotosse umspülend, in die Nasenlöcher über.« Die obige Textstelle zeigt die zweifache und unterschiedliche Lage der beiden Nädis. Von links nach rechts und von rechts nach links hinüberwechselnd steigen sie nach oben, bilden, um die Lotosse (padma) verlaufend, ein Geflecht und münden in die Nasenlöcher ein. Anderswo beschreibt man sie als bogenförmig angeordnet: »Wisse, daß die beiden Nälds Idä und Piügalä bogenförmig gestaltet sind.« Desgleichen31: »Die mit der linken Skrotalhälfte verbundene (nädi) vereinigt sich mit der Sushumnä und bleibt, nahe am rechten Schultergelenk und dicht am Herzen vorbeiziehend, wie ein Bogen gekrümmt, und wenn sie das linke Schultergelenk passiert hat, geht sie zur Nase über. In analoger Weise geht die von der rechten Skrotalhälfte kommende (nädi) auf das linke Nasenloch über.« Diese von der linken bzw. rechten Skrotalhälfte herkommenden zwei Nädis bilden, wenn sie den Raum zwischen den Augenbrauen erreichen, mit der Sushumnä einen dreifach geflochtenen Knoten (trivenl) und gehen dann in die Nasenlöcher über. Man beschreibt sie auch auf diese Weise: »In der Idä ist die Devi Yamunä, in der Pin-

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galä ist Sarasvati, und in der Sushumnä wohnt Gangä35. Sie bilden ein an der DhvajaWurzel37 vereinigtes dreifaches Geflecht36 und trennen sich an den Augenbrauen wieder voneinander; deshalb spricht man vom Triveni-Yoga, und wenn man hier eintaueht38, trägt das vielfältige Frucht.« »Die substanzialiter aus der dreifältigen Guna bestehende . . . « (tritaya-guna-mayl). — Das hier gebrauchte W ort kann in seiner Zusammensetzung auf verschiedene Weise interpretiert werden. Faßt man Guna dem Sinne nach als »Nerv« auf, würde die Textstelle lauten: die »aus drei Nervensträngen« — nämlich Sushumnä, Vajrä und Chitrini39 — »Bestehende«. Diese drei bilden eine Einheit, für sich genommen sind sie aber unterschiedlich. Wenn man Guna als »Eigenschaft« betrachtet, wäre der Sinn: »attributhaft mit Sattva, Rajas und Tamas erfüllt.« In diesem Falle wäre das Wesentliche der Chitrini: Sattva (sattvagunamayi), der Vajrä: Rajas und der Sushumnä: Tamas. »Verläuft in der Mitten (madhye) — i. e., in der Mitte oder innerhalb der Meru. »Sie liegt innerhalb der Meru und reicht von der Müla bis zur Brahmarandhra-Gegend10« usw. Das Tripura-Sara;Samuchchaya sagt: »Sie befindet sich in der Danda-Höhle und reicht vom K opf bis zum Ädhära« (i. e. mülädhära) und so weiter. Einige vertreten die Ansicht, daß die Sushumnä außerhalb der Meru gelegen sei und stützen sich offenbar auf folgende Stelle im Tantrachüdämani: »O Shiva, zur Linken der Meru läuft die Nädl Idä, der Mondnektar, und zur Rechten die somienhafte Pingalä. Außerhalb davön (tad-vähye)41 und zwischen beiden (tayor madhye) hegt die feurig glühende Sushumnä.« Das ist aber nur die persönliche Ansicht dieser Menschen. Unser Verfasser spricht (im folgenden Vers) von den innerhalb der Meru liegenden Lotossen; und weil die Sushumnä diese Lotosse trägt, muß sie notwendigerweise auch innerhalb der Meru hegen. »Dem Ausdruck nach ist sie Mond, Sonne und Feuern (chandra-süryägni-rüpä). — Chitrini ist blaß und Ausdruck des Mondes; Vajrini42 ist sonnenhaft und hat daher den Staubfäden­ glanz der Granatapfelblüte; Sushumnä ist feurigglühend, deshalb ist sie rot. Das Bhütashuddhi Tantra bekräftigt diese drei Darstellungen bei der Beschreibung der Sushumnä. Die Sushumnä ist die äußerste, und die Chitrini ist die innerste (nädi). »In ihrem Innern hegt in einer Höhe von zwei Fingerbreiten die Vajrä, und in dieser wieder hegt die Chitrini; darum ist die Sushumnä >trigunäFürchte-dich-nichtGebärdeSvädhishthäna(Charakter) Fehler Ahamkära und so weitere (ahamkära-doshädi). — Darin sind die sechs üblen Neigungen einbegriffen: Kama (Begierde), Krodha (Zorn) usw. Diese sechs234 sind die sechs Feinde des Menschen, sie werden durch die Kontemplation auf den Svädhishthäna Lotos ausgelöscht. Die Kontemplation auf ihn vernichtet auch die Finsternis der Mäyä und die Moha236, und man erreicht das Licht der Erkenntnis (jüäna). Das Übrige ist klar.

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Abb. I l l Svädhisthäna-Chakra

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ZUSAMMENFASSUNG DER VERSE 14-18 Das Svädhishthäna Chakra ist scharlachfarbig und hat sechs Blütenblätter. Auf den sechs Blättern stehen die sechs Buchstaben: Ba, Bha, Ma, Ya, Ra und La mit dem Bindu darüber. Sie haben eine aufblitzende Farbwirkung. In der Fruchthülle dieses Lotos finden wir die Wasserregion in der Gestalt eines achtblättrigen Lotos mit einem Halbmond im Zentrum. Diese Sphäre ist weiß. In dieser weißen Sphäre ist das Varuna Bija »Vam«, es reitet auf einem Makara, es hat eine Schlinge in der Hand. Im Schoße des letzteren (i. e., im Hohlraum des Bindu) befindet sich der auf dem Garuda reitende Vishnu. Er hat vier Hände und trägt die Shankha (Muschelschale), den Chakra (Diskus), das Gadä (Zepter) und den Padma (Lotos). Er ist gelbgewandet, trägt einen langen Kranz (vanamälä) um den Hals, hat als Erkennungszeichen die Shrivatsa (Schmachtlocke) und auf der Brust die Gemme Kaustubha und ist von jugendlichem Aussehen. Auf einem in der Fruchthülle befindlichen roten Lotos sitzt die Shakti Räkinl. Sie ist shyäma-varnä236, und in den vier Händen hält sie den Shüla (Speer oder Dreizack), den A bja (Lotos), die Damaru (Handtrommel) und die Tanka (Streitaxt). Dreiäugig ist sie, hat wild vorspringende Fangzähne237 und bietet einen entsetzlichen Anblick. Sie mag gern weißen Reis238, und ein Blutstreif rinnt ihr aus dem Nasenloch.

(Hier endet der zweite Abschnitt)

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VERS 19 Tasyordhve näbhimüle daéadalálasite pürnameghapralcäie nilämbhojaprakäiairupahitajafhare f,ädipäntaih sacandraih DhyäyedvaUvänarasyärunamihirasamaih mandalam tat trikonam tadbähye svastikävyaistribhirabhilasitam tatra vahneh svdbijam.

Über diesem 239 und an der Nabelwurzel befindet sich der strahlende zehnblättrige Lotos 210 von der Farbe schwerbeladener Regenwolken. In seinem Innern sind die Buchstaben Da bis Pha mit dem Nöda und Bindu darüber, sie haben das Kolorit des blauen Lotos. Dort meditiere über die dreieckig geformte und wie die aufgehende Sonne leuchtende Feuerregion. A n ihrem Außen­ rand sind drei Svastika-Zeichen angebracht241, und im Innern liegt das Vahni Bija selbst™2. KOMMENTAR In diesem Vers und in den beiden folgenden Versen wird das Manipüra Chakra beschrieben. »Der strahlende zehnblättrige Lotos« (dashadala-lasite)243 — i. e., der wegen seiner zehn Blütenblätter leuchtende Lotos. » Von der Farbe schwerbeladener Regenwolken« (pürnamegha-prakäshe) — i. e., von tiefdunkler Nuance. »In seinem Innern sind die Buchstaben« usw. (nüämbhoja-prakäshair upahita-jathare dädiphäntaih sachandraih). Die zehn Buchstaben von Da (Cerebrallaut, Zungenspitzenbuchstabe) bis Pha mit dem darübergelagerten Bindu haben die Farbe des blauen Lotos, und ein jeder von ihnen befindet sich auf je einem der zehn Blätter. Die Buchstaben lauten: Da, Dha, Na, Ta, Tha, Da, Dha, Na, Pa, Pha. Unter dem Ausdruck »sachandraih«, eine nähere Bestimmung für die Varnaih, ist zu verstehen, daß die Buchstaben Bindu und Nada bei sich führen, denn diese zwei gehören zusammen. »W ie die aufgehende Sonne« (aruna-mihira-samam) — i. e., wie die frühe Morgensonne. »Svastika-Zeichem™1. Diese drei Zeichen oder Symbole befinden sich an den drei Seiten des Dreiecks. Räghava-Bhatta sagt245: »Ein Svastikazeichen wird durch die Kreuzung zweier nach vier verschiedenen Richtungen verlaufender gerader Linien dargestellt.« In dieser Eeuerregion liegt »Ram«, die »Feuerkeim«-Zaubersilbe (bija).

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VERS 20 Dhyäyenmesädhirüdham navatapananibham vedabäliujjvalängam tatkrode rudramürtirnivasati satatam suddhasindürarägah Bhasmäliptängabhüsäbharanasitavapurvrddhürüpi trinetro lokänämistadätäbhayalasitakarah srstisamhärakari.

Meditiere über Ihn, den auf einem Widder reitenden und uñe die auf gehende Sonne leuchtenden vierarmigen Feuergott. In seinem Schoß wohnt stets und immerdar der ganz zinnoberrote Rudra. Er (Rudra) ist weiß von der Asche, mit der er sich eingerieben hat; er ist dreiäugig, von ehr­ würdigem Aussehen, und mit den Händen macht er die gnadenschenkende und die Fürchte-dichnicht-Geste216. Er gilt als der Zerstörer der Schöpfung. KOMMENTAR Anderenorts lautet die Vahni-Dhyäna so: »Auf einem Widder reitend, einen RudräkshaRosenkranz in der einen und die Shakti247 in der anderen Hand.« Da in den übrigen Händen keine Waffen zu finden sind, kann man daraus folgern, daß er mit den restlichen zwei Händen den gnadengewährenden und den furchtvertreibenden Gestus ausführt; in dieser Pose wird er nämlich in seinen anderen Dhyänas dargestellt. Rudra soll man sich hier auf einem Stier reitend in der Meditation vorstellen. »Er ist w e i ß eingerieben« (bhasmäliptänga-bhüshäbharanasita-vapuh). — Die Asche, mit der sein Körper eingerieben ist, und die von ihm getragenen Ornamente lassen ihn weiß erscheinen (obgleich er rot ist).

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VERS 21

Aträste läkinl sä sakalaéubhakañ vedabähüjjvalängl iyämä pitämbarädyairvividhaviracanälamkrtä mattacittä Dhyätvaitannäbhipadmam prdbhavati nitarärh samhrtau pälane vä vänl tasyänanäbje nivasati satatam jnänasamdohalakßmih

Hier wohnt Läkinl, die Wohltäterin für alles. Vierarmig ist sie, hat einen strahlenden Körper, ist tiefdunkel249 (an Körperfarbe), gelbgewandet, mit den verschiedensten Ornamenten verziert und vom Trinken des Ambrosia2ii in gehobener Stimmung. Wenn man über diesen250 Nabellotosisl seine Betrachtungen anstellt, erwirbt man die Fähigkeit (die Welt) zu zerstören und zu erschaffen. Väni252 weilt stets mit allem Erkenntnisreichtum in seinem Antlitzlotos. KOM M ENTAR

»Mit den verschiedensten Ornamenten verzierte (vividha-virachanälamkritä). — Sie ist mit in herrlichen Mustern verschiedener Art arrangierten Edelsteinen und Perlen verziert. Cf. die Läkini-Dhyäna anderswo: »Man lasse den vortrefflichen Verehrer über die blau­ farbige, dreigesichtige und (in jedem Gesicht) dreiäugige, wild aussehende und mit vor­ stehenden Eangzähnen behaftete DevI Läkinl seine Betrachtungen anstellen253. In der rechten Hand hält sie den Donnerkeil und das Shakti254, und mit der linken macht sie den Eürchte-dieh-nicht-Gestus und die gnadengewährende Gebärde255. Sie befindet sich in der Fruchthülle des zehnblättrigen Nabellotos. Sie ist versessen auf Fleisch (mämsäshi) 256, und ihre Brust ist rot von dem, aus ihrem Mund abtriefenden Blut und Fett.« Der Nabellotos heißt Mani-püra. Das Gautamlya Tantra sagt257: »Dieser Lotos heißt Manipüra, weil er wie eine Gemme strahlt258.«

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ZUSAMMENFASSUNG DER VERSE 19-21 Der Näbhi-padma (Nabellotos) ist regenwolkenfarbig und hat zehn Blütenblätter; auf jedem einzelnen Blatt befindet sich je einer der zehn Buchstaben; Da, Dha, Na, Ta, Tha, Da, Dha, Na, Pa, Pha von blauglitzernder Farbe mit dem Bindu darüber. In der Frucht­ hülle dieses Lotos herrscht die rote Feuerregion; sie ist in typisch dreieckiger Form, und an der Außenseite trägt sie die drei Svastika Symbole. Im Dreiecksinnern liegt die »Feuerkeim«Zaubersilbe (bija) »Ram«. Er (das Feuerbija als personifizierter Feuergott) ist rotfarbig und reitet auf einem Widder, er hat vier Arme und hält mit den Händen den Vajra (Donnerkeil) und das Shakti-Schwert und macht den Vara- und den Abhaya-Gestus269. Im Schoße des Vahni Bija finden wir den auf einem Stier reitenden rotfarbigen Rudra, der wegen der auf seinem Körper verriebenen Asche weiß erscheint. Er ist eine ehrwürdige Erscheinung. In der Fruchthülle dieses Lotos sitzt die Shakti Läkinl auf einem roten Lotos. Sie ist von blauer Farbe, sie hat drei Gesichter mit je drei Augen, hat vier Arme, hält in den Händen den Vajra und das Shakti-Schwert und macht den furchtvertreibenden und den gnadengewährenden Gestus. Sie hat grimmig hervorstehende Fangzähne und ißt gern Reis mit Erbsenbrei, der mit Fleisch gekocht und mit Blut untermischt ist260.

(Hier endet der dritte Abschnitt)

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Abb. IV Manipüraka-Chakra

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VERS 22

Tasyordhve hrdi pankajarh sulalitam bandhükakäntyujjvalarh kädyairdvädcdavarnaTcairupahitam sindürarägänvitaih Nämnänähatasamjfiukarh suratarum väcchätiriktapradam väyormandalamatra dhümasadráam satkonaiobhänvitarh

Darüber, im Herzen, in der leuchtenden Farbe der Bandhüka Blüte2*1, liegt der bezaubernde Lotos262 mit den zwölf zinnoberroten Buchstaben, angefangen mit dem Ka. Bekannt unter dem Namen Anähata, ist er m e der himmlische Wunschbaum 2*3, er gewährt sogar mehr als (der Flehende) begehrt. Hier ist die vollendet schöne sechseckige2*1 Väyu-Region, sie erinnert in etwa an farbigen Rauch. KOMMENTAR In den nun folgenden sechs Versen wird der Anähata Lotos beschrieben. Dieser Lotos soll im Herzen betrachtet werden; das Verbum Dhyäyet ist so zu verstehen. Auf den Blütenblättem stehen die mit K a beginnenden zwölf Buchstaben, d. h., die Buch­ staben K a bis Tha. »Bekannt unter dem Namen Anähata« (nämnä’nähata-samjnakam). — »Die Munis nennen ihn so, weil sie hier den Klang des Shabdabrahman vernehmen, einen Shabda oder Ton, der ohne Zusammenschlagen zweier Dinge zustande kommt®65.« Der »Wunschbaum«2** ist der Himmelsbaum, der alle Wünsche gewährt; er ist wie der Kalpataru, darum gibt er mehr, als man verlangt. » Väyu-Region« (väyor mandalam). — In der Fruchthülle dieses Lotos liegt das VäyuMandala.

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VERS 23 Tanmadhye pavanäksararh ca madhurarh dhümävalidhüsaram dhyayetpäriicatustayena lasitarh krsnädhirüdham pararn Tanmadhye karunänidhänamama larh harhsäbhamiiabhidham. pänibhyämabhayarh vararh ca vidadhallokatrayänämapi

Meditiere in seinem Innern über das liebliche und vortreffliche Pavana B ija 267, es ist grau wie eine Rauchwolke26S, es hat vier Arme und reitet auf einer schwarzen Antilope. Und (meditiere) weiter in seinem Innern über die »Wohnstätte der Göttlichen Barmherzigkeit« 269, über den hell wie die Sonne 270leuchtenden makellosen Gebieter, der mit beiden Händen 2,1den gnadenschenkenden Gestus macht und die Furcht aus den drei Welten vertreibt. KOM M ENTAR In diesem Vers spricht der Verfasser über das im Anähata Chakra vorhandene Väyu Bija. »Pavana B ija « (pavanäkshara) — i. e., das Bija »Yam«. »Grau wie eine Rauchwolke« (dhümävali-dhüsara). — Es hat eine leichtgraue Rauchfarbe, weil es von Dampfmassen umgeben ist. »Eine schwarze Antilope«, berühmt wegen ihrer Schnelligkeit, ist das Vähana (Tragtier, Fahrzeug) des Väyu. Väyu trägt den »Ankusha«272, seine Waffe, in der gleichen Weise wie Varuna seine »Päsha«273. Als nächstes spricht er von dem im Väyu Bija anwesenden Isha. Überall heißt es, Shiva hätte drei Augen274, darum hat Isha ebenfalls drei Augen. Anderenorts ist gesagt worden: »Meditiere über ihn, er trüge einen mit Juwelen verzierten Halsschmuck und eine Edelsteinkette um den Hals, Glöckchen an den Zehen und sei in seidene Gewänder gehüllt.« In ähnlicher Weise heißt es über ihn: »Der Schöne war voll des lieblichen Strahlenglanzes von zehnmillionen Monden, und es leuchtete der zarte Schimmer seines geflochtenen Haares.« Man soll sich deshalb Isha in ein seidenes Gewand gekleidet vorstellen usw.

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VERS 24

Aträste khalu käkinl navataditpltä trineträ Subhä sarvälamkaranänvitä hitakarl sarhyagjanänärh mudä Hastaih päiakapähdobhanavarän sambibhrati cäbhayam mattä pürnasudhärasärdrahrdayä kankälamälädharä

Hier wohnt Käkinl, in ihrer grellgelben Farbe gleicht sie in etwa einem frischen Blitz271, erheitert ist sie und Gutes verheißend; sie hat drei Augen und ist die Wohltäterin aller. Schmuck jeglicher Art trägt sie, und mit den vier Händen hält sie Schlinge und Trinkschale und macht das Zeichen der Gnadenausleilung und den furchtvertreibenden Gestus. Ihr Gemüt ist vom Nektar­ trinken besänftigt. KOMMENTAR In diesem Vers spricht der Verfasser über die anwesende Shakti Käkini. »Erheitert ist sie«276 (mattä) — d. h., sie ist nicht in alltäglicher, sondern in glücklicher, angenehm erregter Stimmung. ))Vom Nektartrinken« usw. (pürna sudhä-rasärdrahridayä). — Ihr Herz ist vom Nektar­ trinken zu Gunsterweisungen gerührt; dem Sinne nach kann es auch so übersetzt werden: Ihr Herz ist erquickt durch die Höchste Wonne, die aus dem Trinken des vom Sahasrära herab tropfenden vortrefflichen Nektar entspringt. Ihr Herz entfaltet sich in die höchste Wonne. In das Fell einer schwarzen Antilope gekleidet soll man sich die Käkini im Geiste vorstellen. Man vergleiche folgende Käkini-Dhyäna, in der sic so beschrieben wird: »Wenn du deine Mantrapraxis von Erfolg gekrönt wünschest, dann meditiere über die immer anwesende277 mondgesichtige Shakti Käkinl, sic trüge ein mit allerlei Ornamenten verziertes schwarzes Antilopenfell278.«

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VERS 25

Etannirajakarnikäntaralasacchaktistrikonäbhidhä vidyutkotisamänakomalavapuh säste tadantargatah Banäkhyah éivalingakospi kanakäkärängarägojjvalo maulau süksrmvibhedayunmaniriva prolläsalak§mydlayah

Die Shakti, deren zarter Körper gleichsam wie Zehnmillionen Blitze leuchtet, repräsentiert sich in der Fruchthülle dieses Lotos in Gestalt eines Dreiecks (trilcona). Im Dreiecksinnern finden wir den unter dem Namen Väna bekannten Shivalinga. Dieser Linga hucktet wie Gold und trägt an seiner Spitze eine winzige Öffnung wie eine Gemme. Er gilt als die schimmernde Wohnstatt Lakshmis. KOMMENTAR In dieser Shloka wird das in der Fruchthülle dieses Lotos befindliche Trikona-Dreieck beschrieben. »Shakti in Dreiecksgestalt« (trikonäbhidhä shaktih). — Darunter haben wir zu verstehen, daß die Dreiecksspitze nach unten zeigt279. Dieses Trikona steht, wie es anderswo heißt, unter dem Väyu Bija. »In seinem Schoß ist Isha. Unter ihm, im Trikonainnern, ist der Väna-Linga.« »An seiner Spitze« usw. (maulau sükshma-vibheda-yung manih). — Das ist eine Beschrei­ bung des Väna-Linga. Die Öffnung ist der kleine Raum im Bindu-Innern, wobei sich der Bindu innerhalb des auf dem Lingakopf befindlichen Halbmondes findet. Woanders finden wir diese Beschreibung: »Der mit güldenen Geschmeiden verzierte Väna-Linga im Dreiecksinnern — der Deva mit dem Halbmond auf dem K op f; in der Mitte liegt ein vortrefflicher roter Lotos.« Der in diesem Zitat erwähnte rote Lotos befindet sich unter der Fruchthülle des Herzlotos; er hat den Blütenkopf nach oben gerichtet und trägt acht Blütcnblätter. In diesem Lotos soll man die innerlich zu vollziehende Anbetung (mänasapüjä) vornehmen280. Vergleiche folgendes: »Im Innern ist der rote achtblättrige Lotos. Dort steht auch der Kalpa-Baum und der Thron des Ishta-Deva unter einem schönen Zelt (ehandrätapa), umgeben von bliitonund früchtcüberladenen und von süß zwitschernden Vögeln bewohnten Bäumen. Hier meditiere über den Ishta-Deva nach den Vorschriften des Verehrungsrituals281.« »Winzige Öffnung wie«. — Er spricht hier vom Bindu, der die Väna Linga-Spitze bildet. Dieser Linga282 hat eine winzige Öffnung wie ein Edelstein (den man der Auffädel ung wegen durchbohrt hat). Damit ist gemeint, daß der Bindu in der Shiya Linga-Spitze liegt. »Die schimmernde Wohnstatt Lakshmis«283. — Darunter hat man die durch einen plötzlich aufkommenden Begierdendrang ausgelöste prachtvolle Schönheit des Lingams zu verstehen284.

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VERS 26

Dhyayedyo hrdi pañkajam suratarum éarvasya pithälayarh devasyänila-Mna-dipa-kalikä-harhsena sam-éobhitam Bhänormandala-manditäntara-lasat kmjalka-iobhädharam väcämihara Iévarospi jagatärh raksavinäie kgamah

Wer über diesen Herzlotos seine Betrachtungen anstellt, wird (gleichsam) zum Sprachgott, und (wie) Ishvara ist er imstande, die Welten zu beschirmen und zu zerstören. Dieser Lotos gleicht dem himmlischen Wunschbaum265, der Wohnstatt und dem Throne 8harvas2m. Er wird verschönert durch den Hamsas287, den man gewissermaßen mit dem unbewegt brennenden Flammen­ kegel einer an einem windstillen Ort aufgestellten Lampe vergleichen kann266. Bezaubernd schön sind die von der Sonnenregion beleuchteten, die Fruchthülle umgebenden und verzierenden Staub­ fäden. KOMMENTAR Tn diesem und im folgenden Vers spricht er über den aus der Meditation über den Herzlotos entspringenden Nutzen. » Wer über diesen Herzlotos seine Betrachtungen anstellt, wird gleichsam zum Sprachgott« — i. e. Brihaspati, der Guru des Devas — und kann wie Ishvara, der Schöpfer, die Welten beschützen und zerstören. Kurz, er wird zum Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welten. Er spricht über den in der Eruohthülle dieses Lotos anwesenden Jivätmä, den Hamsa289. Der Jivätmä steigert die Schönheit dieses Lotos gleichsam wie die unbewegliche Flamme einer an einem windstillen Ort stehenden Lampe (anilahina-dipa-kalikä-hamsena samshobhitam). Der Hamsa ist der Jivätmä. Er spricht außerdem über das in der Fruchthülle dieses Lotos vorhandene Sürya-Mandala.

»Bezaubernd schön sind die von der Sonnenregion beleuchteten, die Fruchthülle umgebenden und verzierenden Staubfäden« (bhänormandala-manditäntara-lasat kinjalka-shobhädharam). — Der von Sonnenstrahlen tingierte und die Fruchthülle umgebende Staubfädenkranz ver­ schönert ihn. Die Sonnenstrahlen verzieren die Staubfäden und nicht den Raum in der Fruchthülle. Die Staubfäden der übrigen Lotosse werden nicht in so hohem Maße betroffen, es ist nur ein charakteristisches Merkmal für diesen Lotos. Unter dem Ausdruck »das Sürya (bhänu) Mandala« hat der Leser zu verstehen, daß nicht nur ein paar, sondern alle Staub­ fäden in der Fruchthülle von Sonnenstrahlen verschönert werden. Die Väyu-Region erstreckt sich über die ganze Fruchthülle. Darüber liegt die SüryaRegion; über diese Dinge, das Väyu Bija, das Trikona usw. soll man seine Betrachtungen anstellen. Das ist ganz folgerichtig. In der im Geiste zu vollziehenden Verehrung lautet das Mantra »Mam — Gruß an die Feuerregion mit ihren zehn Kaläs«290 usw. Aus den Texten und Mantras wie dieses kann man ersehen, daß die Sphären Vahni (Feuer), Arka (Sonne) und Chandra (Mond) übereinander angeordnet sind. »Ishvara« — i. e., Creator, der Schöpfergott. »Imstande, die Welt zu beschirmen und zu zerstören« (rakshävinäshe kshamah) — i. e., er erhält und zerstört. Diese drei Attribute sollen die Vorstellung erwecken, daß er der Kraft inne wird, die das Universum erschafft, erhält und zerstört291.

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VERS 27

Yoglso bhavati priyätpriyatamah käntäkulasyäniiam jñdnléospi krti jitendriyagano dhyänävadhänakgamah Gadyaih padyapadädibhisca satatam kavyämbudhärävaho laksmiranganado.ivatah parapure éaktah prevesturh k?anät.

Als Rangerster unter den Yogis ist er immer wieder zärtlicher als der Liebste den Frauen gegenüber292, er ist in höchstem Maße weise und von edlem Tatendrange erfüllt. Die Sinne hat er vollständig in seiner Gewalt. In äußerster Konzentration ist seine Geistseele mit Betrachtungen über das Brahman ganz in Anspruch genommen. Seine inspirierte Sprache fließt wie ein Strom (klaren) Wassers. Er gleicht dem Devatä, dem Geliebten der Lakshmi™, und durch einen Willens­ akt kann er in den Körper eines andern übertreten294. KOM M ENTAR »Zärtlicher als der Liebste denFrauen gegenüber« (priyät priyatamah käntäkulasya) — i. e., weil er darin erfahren ist, sie zu ergötzen295. »Die Sinne hat er vollständig in seiner Gewalt« (jitendriyaganah) — i. e., man soll ihn zu jenen rechnen, die ihre Sinne vollständig unterjocht haben. » . . . seine Geistseele . . . Brahman« (dhyänävadhäna-kshamah). — Dhyäna ist BrahmaChintana, und Avadhäna heißt ständige und intensive Gedankenkonzentration. Der Y ogi vermag beides. »Seine inspirierte Sprache fließt wie ein Strom (klaren) Wassers« (kävyämbudhärä-vaha). — Die aus seinem Munde fließende Sprache wird mit einem ununterbrochenen Wasserstrom verglichen. »Er gleicht dem Devatä, dem Geliebten der Lakshmi« (lakshml-ranggana-daivatah). — Er wird wie der Deva, der Geliebte der Lakshmi. Lakshmi, die Glücksdevi, ist die Gattin Vishnus. Dieses zusammengesetzte Wort kann man noch anders übersetzen. Es kann auch heißen: Derjenige, der alles Glück (lakshmi) und alles gute Geschick (ranggana) dieser Welt genossen hat und nun den Pfad der endgültigen Erlösung wandelt. Also ist gesagt worden: »Nachdem er die Freuden dieser Welt, so gut er konnte, ausgekostet hat, geht er am Ende in die Stätte der endgültigen Erlösung208.« » Körper eines andern« (para-pura). — Er ist imstande, durch einen Willensakt in die feindliche Festung oder Zitadelle (durga) einzudringen, auch wenn sie bewacht und ihr Zugang erschwert ist. Und er erlangt die Macht, mit deren Hilfe er sich unsichtbar machen und durch die Luft fliegen kann, und andere ähnliche Kräfte. Es kann auch heißen »Körper eines Mitmenschen«297.

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ZUSAMMENFASSUNG DER VERSE 22-27 Der Herzlotos hat die Farbe der Bandhüka-Blüte298, auf seinen zwölf Blütenblättem stehen die scharlachroten Buchstaben K a bis Tha mit dem Bindu darüber. In seiner Fracht­ hülle liegt das hexagonale299 rauchfarbige Väyu-Mandala und über diesem das Sürya-Mandala mit dem von Innen heraus wie Zehnmillionen Blitze gleißenden Trikona. Darüber reitet auf einer schwarzen Antilope das rauchfarbige Väyu Bija, es ist vierarmig und trägt den Stachel­ stock (ankusha). Im Schoß (des väyu bija) sitzt der dreiäugige Isha. W ie der Hamsa (hamsäbha) hat er zwei Arme zum gnadenspendenden und furchtvertreibenden Gestus erhoben. In der Fruchthülle dieses Lotos finden wir die Shakti Käkinl, sie sitzt auf einem roten Lotos. Sie hat vier Arme und trägt die Schlinge (päsha), die Trinkschale (kapäla) und macht den gnadengewährenden (vara) und den Fürchte-dich-nicht-Gestus (abhaya). Sie ist von goldenem Farbton, gelbgewandet, trägt allerlei Juwelensohmuck und einen Knochenkranz. Ihr Gemüt ist vom Nektar besänftigt. In der Trikona-Mitte ist Shiva in der Erscheinungsform eines Väna-Linga mit dem zunehmenden Mond und dem Bindu auf der Spitze. Er ist goldfarbig. Von einem plötzlich aufkommenden Begierdendrang ergriffen sieht er prächtig aus300. Unter ihm befindet sich der Jlvätma, er ist dasselbe wie der Hamsa. Er ähnelt dem gleichförmigen Flammenkonus einer Lampe301. Unter der Fruchthülle dieses Lotos finden wir den acht­ blättrigen roten Lotos, er hat den Bliitenkopf nach oben gedreht. In diesem (roten) Lotos steht der Kalpa Baum und der von einem Sonnenzelt überdachte und mit Fahnen usw. verzierte, juwelengeschmiickte Altar, er gilt als die Stätte für die innerlich zu vollziehende Anbetung302.

(Hier endet der vierte Abschnitt)

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VERS 28 UND VERS 29

Visuddhäkhyaim lcanthe sarasijamamalam dhümadhümrävabhäsam svaraih sarvaih ¿onairdalaparilasitairdipitam diptabuddheh Samaste pürnenduprathitatmnanabhomandalaih vrttarüpam himacchäyänogopari lasitatanoh ¿uklavarnämbarasya Bhujaih páéabhityañkuéavarálasitaih ¿obhitängasya tasya manorañke nityam nivasati girijäbhinnadeho himäbhah Trinetrah pancäsyo lalitadaéabhujo vyäghracarmärhbaradhyah sasäpürvo devah áiva iti ca samäkhyänasiddhah prasiddhah

An der Kehle finden wir das sogenannte Vishuddha, einen rauchig-purpurfarbenen reinen Lotos. Alle auf seinen (sechzehn) Blütenblättern karminfarbig erstrahlenden (sechzehn) Vokale werden deutlich sichtbar demjenigen, der im Geiste (buddhi) innerlich erleuchtet ist. In der Fruchthülle dieses Lotos finden wir die kreisförmige und dem Vollmond ähnelnde weiße ÄtherRegion303. Auf einem schneeweißen Elephanten reitet das weiße Bija3M Arribara303. Von seinen vier Armen halten zwei die. Schlinge306 und den Stachelstockml, und mit den restlichen zwei macht er den gnadengewährenden und den furchtvertreibenden Gestus303. Sie ergänzen seine Schönheit. In seinem. Schoß309 weilt stets der dreiäugige, fünfgesichtige, mit zehn schönen Armen versehene und mit einem Tigerfell bekleidete, große schneeweiße Deva. Sein Körper ist verschmolzen mit dem Körper der Girijä310, und man kennt ihn unter dem Namen Sads,-Shiva311. KOMMENTAR Mit diesen Versen beginnend wird nun das Vishuddha Chakra in vier Versen beschrieben. »Weil der Jiva durch den Anblick des Hamsa die Reinheit erlangt, heißt dieser Padma (Lotos) Vishuddha (rein) — der Ätherische, Große und Vortreffliche.« »In der Schlundregion liegt der Lotos mit Namen Vishuddha«. — Rein (amala, ohne Un­ lauterkeit) ist er, weil er Tejo-M aya312 (substanzialiter aus tejas) und darum frei von Unrein­ heit ist. »Alle Vokale« (svaraih sarvaih) — i. e., alle Vokale, angefangen mit A-kära und endend mit Visarga — insgesamt sechzehn. »Auf den Blütenblättern erstrahlenden « (dala-parilasitaih). — Da es zahlenmäßig sechzehn Vokale gibt, wird die Blütenblätterzahl, die dieser Lotos aufweist, implizite auch mit sechzehn angegeben. Anderswo ist das klar zum Ausdruck gebracht: »Über ihm (ist anähata, der sechzehn­ blättrige Lotos in purpur-rauchiger Farbe; seine Kelchblätter) tragen die sechzehn roten Vokale mit dem Bindu darüber. Er hat goldgelbe Staubfäden und ist mit dem VyomaMandala geschmückt313.« »Deutlich sichtbar« (dipitam). — Diese Buchstaben sind sozusagen für den sehend gewordenen Geist (dipta-buddhi) angezündet worden. »Der im Geiste (buddhi) innerlich erleuchtet ist« bezieht sich auf denjenigen, der sein Buddhi (höheres Erkenntnisvermögen, Verstand) auf Grund von beständiger Yogapraxis von der Unlauterkeit irdischen Strebens befreit hat. »Die kreisförmige und dem Vollmond ähnelnde weiße Äther-Region« (pürnendu-prathitatama-nabhomandalam vrittarüpam). — Die Äther-Region ist kreisförmig (vrittarüpa), ihr Abgerundetsein erinnert an die Scheibe des Vollmonds, sie ist auch so weiß wie der Mond. Das Shäradä sagt: »Die Weisen wissen, daß die Mandalas an dem Glanze ihrer bezüglichen Elemente teilhaben314.« Die Mandalas zeigen jeweils die Farbe ihrer Devatäs und ihrer Elemente: Äther ist weiß, deshalb ist sein Slandala auch weiß.

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Abb. V Anähata-Chakra

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»In der Fruchthülle dieses Lotos finden wir die kreisförmige Äther-Region« (nabho-mandalam vritta-rüpam). — Im Schoße dieser weißen Ambara (Äthersphäre) weilt stets der SadäShiva, von dem der zweite dieser Verse berichtet. »A u f einem schneeweißen Elephanten reitet« (hima-chchhäyänägopari lasita-tanu). — Das qualifiziert die Ambara. Naga bezeichnet hier einen Elephanten und nicht eine Schlange. Das Bhütashuddhi sagt eindeutig: »In seinem Innern finden wir das weiße Vyom a B ija auf einem schneeweißen Elephanten.« W örtlich: »Sein Körper erscheint strahlend auf einem Elephanten«, weil er darauf reitet. »Das Ambara Bija« (tasya manoh). — Tasya manoh heißt wörtlich »sein Mantra«, es ist die »Ätherkeim«-Zaubersilbe (bija) »Ham«316. »Seine vier Arme (ihrer zwei) halten die Päsha (Fangschlinge), den Ankusha (Stachelstock) und ( die restlichen zwei) machen den gnadengewährenden und den furchtvertreibenden Gestus, sie vervollständigen seine Schönheit« (bhujaih päshäbhityankusha-vara-lasitaih shobhitämgasya). — Der Sinn ist, kurz gesagt, der, daß er mit den Händen die Päsha und den Ankusha trägt und den Eürchte-dich-nicht-Gestus sowie die gnadenschenkende Gebärde macht. »Im Schoße seines Bija« (tasya manor anke). — Er zeigt sich hier in seiner Bijaform — unter der Gestalt der Silbe »Ham«, dem Äkäsha-Bija. Hieraus ist zu ersehen, daß das Äther-Bija in der Fruchthülle dieses Lotos auftritt, und man soll, wie hier beschrieben, seine Betrach­ tungen darüber anstellen.

»Der schneeweiße Deva; sein Körper ist verschmolzen (oder unzertrennlich) mit dem Körper der Giri-jä« (girijäbhinna-deha). — Darunter versteht man den Arddhanärishvara316. Der Deva Arddhanärishvara ist links goldfarbig und rechts schneeweiß. Er weilt im Schoße des Nabhobija. Als »der weißgewandete Deva Sadä-Shiva« wird er beschrieben. »Und weil seine Körperhälfte unzertrennlich mit der Körperhälfte der Girijä verschmolzen ist, ist er sowohl silbern wie golden.« Man sagt ihm auch nach, er »besitze den nach unten gerichteten Mond­ finger (kalä), aus dem beständig Nektar tropfe317.« Im Hinblick auf das Vishuddha Chakra sagt das Nirväna-Tantra318: »Im Yantra319-Innern ist der Stier, und über ihm ein Löwensitz (simhäsana). Auf diesem sitzt die ewige Gauri, zu ihrer Rechten der Sadä-Shiva. Fünf Gesichter hat er und drei Augen in jedem Gesicht: Sein Körper ist mit Asche eingerieben, und er sieht aus wie ein Berg aus Silber. Der Deva trägt ein Tigerfell, und Schlangenknäuel verzieren ihn.« Die Ewige Gauri (sadä gauri) ist hier die Körperhälfte Shivas. Die gleiche Textstelle erwähnt sic als »Gauri, die Mutter des Universums, die andere Körperhälfte Shivas.« »Mit zehn schönen Armen« (lalita-dasha-bhuja). — Der Verfasser hat hier nichts davon gesagt, welche Waffen der Deva in den Händen trägt. In einer Dhyäna anderenorts heißt es, er trüge in den Händen Shüla (Dreizack), Tanka (Streitaxt), Kripäna (Schwert), Vajra (Donnerkeil), Dahana (Feuer), Nägendra (Schlangenkönig), Ghantä (Glöckchen), Änkusha (Stachelstock), Päsha (Fangschlinge) und mache den Fürchte-dich-nicht-Gestus (abhltikara)320. Wenn man also seine Betrachtungen über ihn anstellt, soll man sich ihn mit den zehn Armen diese Utensilien und wesentlichen Bestandteile tragend und diesen Gestus ausführend im Geiste vorstellen. Groß (prasiddha, wörtlich: bekannt) heißt hier: gut bekannt für seine Größe. Das übrige ist leicht verständlich.

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VERS 30

Sudhäsindhoh ¿uddhä nivasati lcamale sälcini pitavasträ éaram cäparh paéam srnimapi dadhati hastapadmaiécaturbhih Sudhdméoh sampurnam éaéaparirahitam mandalam Icarnilcäyäm mahämokgadväram ériyamabhimataéUasya éuddhendriyasya.

Reiner als der Nektar-Ozean ist die in diesem Lotos weilende Shakti Shäkini. Sie ist gelhgewandet und trägt in den vier Lotoshänden Bogen, Pfeil, Fangschlinge und Stachelstock. Die ganze Mondsphäre, ohne die Hasenspur321, erfüllt die Fruchthülle dieses Lotos. Diese (Region) ist der Zugang zur endgültigen Erlösung für denjenigen, der den Yogareichtum begehrt, der seine Sinne geläutert und beherrschen gelernt hat. KOMMENTAR Hier spricht der Verfasser über die in der Fruchthülle des Vishuddha Lotos weilende Shäkini. »Reiner als der Nektar-Ozeane (sudhäsindhoh322 shuddhä). — Der Nektarozean ist un­ befleckt und kühl und macht unsterblich. Shäkini, der Form nach Licht als solches (jyotihsvarüpä), ist fleckenlos weiß und ohne Wärme. In folgender Shäkini Dhyäna wird sie des näheren beschrieben: »Lasse den vortrefflichen Sädhaka im Halslotos seine Betrachtungen über die DevI Shäkini vornehmen. Sie ist Licht als solches (jyotih-svarüpä); ein jedes ihrer fünf schönen Antlitze leuchtet mit je drei Augen. Mit ihren Lotoshänden trägt sie Fangschlinge, Stachelstock, Buchsymbol und macht die Jnänamudrä323. Den ganzen Pashu324-Haufen macht sie verrückt (oder verwirrt) und wohnt im K nochen325. Sie ist versessen auf Milchnahrung, und vom genossenen Nektar ist sie in gehobener Stimmung.« In der obigen Dhyäna meint der Ausdruck »Sie ist Licht als solches«, daß sie weiß ist, denn Weiße, Fleckenlosigkeit, ist das Kennzeichen des Lichts. Die beiden Dhyänas differieren hinsichtlich der von der DevI in den Händen getragenen Waffen. Das ist nach dem vom Sädhaka beabsichtigten Zweck jeweils ganz unterschiedlich326. Die DevI befindet sich in der Lunarregion (chandramandala) im Fruchthülleninnern. Das Prema-Yoga Taramginl sagt: »Hier wohnt die Shakti Shäkini in der glückverheißenden Mondregion.« »In diesem Lotos« (kamale) — i. e., in der Fruohthülle des Vishuddha Chakra. »In dieser Fruchthülle liegt die fleckenlose Mondregion ohne die Hasenspur« (shasha-parirahita) vermittelt den gleichen Sinn. Die Flecken in der Mondscheibe heißen »die Hasenspur«, »die Tupfen auf dem Mond«. Sie wird mit dem fleckenlosen Mond verglichen. »Der Zugang zur endgültigen Erlösung« (mahä-moksha-dvära). — Das ist ein Attribut des Mandala, der Mondsphäre, und soll das Mandala lobend hervorheben. Es ist die Eintritts­ pforte zur endgültigen Erlösung, zur Nirvänamukti, für die, die neben anderen Praktiken ihre Sinne geläutert und unterjocht haben; wenn sie auf dem Yogapfade ihre Betrachtungen darüber anstellen, gewinnen sie die Erlösung (mukti). »Der den Yogareichtum begehrte (shriyamabhimata-shilasya). — Shrl bezeichnet den Y oga­ reichtum, die Yogafülle. Wer aus ganzem Herzen die Yogafülle ersehnt, findet hier die Eintrittspforte zur endgültigen Erlösung. Das erklärt zurGgenüge den Sinn des Shuddhendriya, der seine Sinne geläutert und beherrscht hat. In der Fruchthülle dieses Lotos finden wir das Nabho-Mandala (die Ätherregion): im Innern des letzteren ist das Dreieck (trikona); im Dreiecksinnem liegt das Chandra-Mandala; und in seinem Innern ist das Nabhoblja327; und so fort. Cf.: »Denke an den Vollmond im Dreieck im Fruchthülleninnern; überdenke dort das auf einem Elephanten reitende schneeweiße Äkäsha und sein weißes Gewand. D ort herrscht der Deva Sadä-Shiva.« »Sein weißes Gewand« qualifiziert das Äkäsha.

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VERS 31

Iha sthäne ciltarh niravadhi vinidhäyätmasarhpürnayogah karvirvägmi jfiäni sa bhamti nitarärh s&dhakah ¿äntacetäh Trikälänäm daréi sakalahitalcaro rogaáokapramuktaéciramjivi jivi niravadhivipadäm dhvamsahamsaprákáéah.

Wer das vollständige Wissen um den Ätmä (das Brahman) erlangt hat, wird kraft seiner ständigenGeistes-(chitta-)Konzentration auf diesen Lotos ein berühmter Weiser32S, wird beredsam und klug und erfreut sich eines ununterbrochenen Geistesfriedens329. Er sieht die drei Zeit­ perioden33°, wird zum Wohltäter aller, wird von Krankheit und Sorge frei, wird langlebig und wie der Hamsa zum Zerstörer endloser Gefahren. KOMMENTAR In diesem Vers spricht er über den Vorteil, den man der Meditation über das Vishuddha Chakra abgewinnen kann. »Wer erlangt hate usw. (atma-sampürna-yoga)331. — Wer sein Wissen um das Ätman ver­ vollständigt hat durch die Verwirklichung der Tatsache, daß cs allesdurchdringend ist. Ätman = Brahman. Nach einer anderen Lesart (ätta-sampürna-yoga) wäre der Sinn: »Wer die Vollendung im Yoga erlangt hat.« Also hat der verehrungswürdige Lehrer gesagt332: »Wer das voll­ ständige Wissen um den Ätmä erlangt hat, ruht wie die stillen Wasser der Tiefe.« Der Sädhaka, der sein Chitta auf diesen Lotos fixiert und dadurch zum vollständigen Wissen um das Brahman gelangt, wird ein Wissender (jüäni — i. e., er wird der Erkenntnisfülle aller Shästras inne, ohne darin unterrichtet worden zu sein). Sein Chitta wird friedlich; er wird »barmherzig gegen alles, ohne einen Dank dafür zu erwarten. Er ist beharrlich, edel, standhaft, bescheiden, mutig, versöhnlich, selbstbeherrseht, rein usw., er ist frei von Habgier, Bosheit und Stolz333.« »Er sieht die drei Zeitperiodene (tri-käla-darshi) — i. e., durch das im Yoga erworbene Wissen sieht er alles Vergangene, Gegenwärtige und Zukünftige. Das heißt, so sagen einige, daß der Y ogi das Selbst (ätmä) erfahren hätte, und weil alle Erkenntnisobjekte darin ent­ halten seien, würden sie ihm offenbar. »Von Krankheit und Sorge frei« (rogashokapramuktah)334 - i. e., weil er in seinem Mantra die Siddhi erreicht hat, befreit er sich von Krankheiten, wird langlebig und empfindet keinen Kummer, denn er hat sich aus den Eesseln der Mäyä erlöst. »Wie der Hamsa zum Zerstörer endloser Gefahren« (niravadhi-vipadämdhvamsahamsaprakäshah). — Aus guten und schlechten Taten erwachsen verschiedene Gefahren (vipat). Der Sädhaka wird gleichsam zum Hamsa, der als der Antarätmä im Bereiche der Sahasrärafruchthülle335 weilt, denn er kann alle solche Gefahren zunichte machen und im Enderfolg das Tor zur endgültigen Erlösung (moksha) öffnen. Der Hamsa ist die Erscheinungsform des Antarätmä. Das übrige ist klar.

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ZUSAMMENFASSUNG ÜBER DAS VISHUDDHA CHAKRA An der Kehlbasis336 liegt das Vishuddha Chakra mit sechzehn rauchig-purpurnen Blütenblättem. Es hat rötliche Staubfäden, und auf den Blättern finden wir die sechzehn roten Vokale mit dem Bindu darüber. In seiner Fruchthülle liegt die kreisrunde weiße ÄtherRegion (nabho-mandala). Im Innern ist das Chandra-Mandala, und darüber liegt das Bija »Ham«. Dieses Bija ist weiß in W eiß337 gekleidet, es reitet auf einem Elephanten und hat vier Arme. Mit den vier Händen hält es die Päsha (Fangschlinge), den Ankusha (Stachel­ stock) und macht die Varamudrä und die Abhaya-Mudrä. In seinem Schoß ist der SadäShiva, er sitzt auf einem erhabenen Löwenthron, der auf dem Rücken eines Stieres befestigt ist. Er zeigt sich in seiner Arddhanärlshvara-Erscheinungsform, in der die eine Körperhälfte schneefarbig, die andere golden ist. Er hat fünf Gesichter und zehn Arme, und in den Händen hält er Shüla (den Dreizack), Tamka (die Streitaxt), Khadga (das Opferschwert), Vajra (den Donnerkeil), Dahana338, Nägendra (die große Schlange), Chanta (das Glöckchen), Ankusha (den Stachelstock), Päsha (die Fangschlinge) und macht die Abhaya-Mudrä. Er trägt ein Tigerfell, sein ganzer Körper ist mit Asche eingericbcn, und er hat ein Schlangenknäuel um den Hals. Der aus dem abwärts gerichteten Mondfinger tropfende Nektar benetzt ihm die Stirn. Im Fruchthülleninnern finden wir in der Mondregion, auf Knochen sitzend, die weiße vierarmige, fünfgesichtigc und dreiäugige Shakti Shäkinl, sie ist gelbgewandet und trägt in den Händen Bogen, Pfeil, Fangschlinge und Stachelstook.

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Abb. V I Visuddha-Chakra

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VERS 31 A 338

1ha sthäne cittam niravadhi nidhäyättapavano yadi kruddho yogi calayati samastam tribhuvanam Na ca brahmä visy.ur na ca hariharo naiva khamanistadlyarh sämarthyam éamayitumalam n&pi ganapah.

Ein Yogi, der seinen Geist ununterbrochen auf diesen Lotos fixiert und seinen Atem durch Kumbhaka340 bezwungen hat, wäre in seinem Zorn341 imstande, alle drei Welten in Bewegung zu setzen. Weder Brahmä noch Vishnu, weder Hari-Hara34,3 noch Sürya3i3 noch Ganapa341 könnte seine Macht bezähmen (könnte ihm understehen). KOMMENTAR

»Seinen Atem durch Kumbhaka bezumngen« (ätta-pavana). — Wörtlich heißt das: Wer die Luft einbehalten hat, was man durch Kumbhaka zuwege bringt. ¡>Hari-HaraSürya« (kha-mani). — Dieses W ort bezeichnet den Himmelsjuwel, Sürya.

(Hier endet der fünfte Abschnitt)

VERS 32

Äjnänämämbujam taddhimakarasadréarh dhyänadhämaprakäiam haksabhyäm vai kaläbhyäm parilasitavapurnetrapatrarh suéubhram Tanmadhye häkini sä éaéisamadhavalá vaktrasatkam dadhänä vidyärh mudrärn kapälam damarujapavatim bibhrati ¿uddhacittä.

Der Lotos mit Namen Äjnä3i5 ähnelt dem Mond (so vollendet weiß ist er). A uf seinen zwei Blütenblättern stehen die Buchstaben Ha und Ksha, auch sie sind weiß und steigern seine Pracht. Er leuchtet in der Glorie der Dhyäna316. In seinem Innern befindet sich die Shakti Häkinl, ihre sechs Antlitze ähneln sechs Monden. Sie hat sechs Arme, in dem einen hält sie ein Buch311; zwei weitere hat sie erhoben und macht den Fürchte-dich-nicht- und den gnadengewährenden Gestus, und mit den übrigen hält sie einen Menschenschädel, eine kleine Handtrommel348 und einen Rosenkranz31°. Ihr Geist ist unbefleckt (shuddha-chittä). KOM M ENTAR In den nun folgenden sieben Versen beschreibt der Verfasser das Äjüä-Chakra zwischen den Augenbrauen. »Der Lotos mit_Namen Äjüä« (äjüä-näma). — »Der Äjüä des Guru wird hier mitgeteilt, darum heißt er Ajöä.« Hier zwischen den Augenbrauen finden wir Äjnä (den Befehl), der von oben empfangen wird, darum heißt er Äjüä. Dieser gut bekannte Lotos liegt hier350. Dieser Lotos liegt zwischen den Augenbrauen, wie das Folgende zeigt: »Wenn die Kundall nach dem Eintritt in Kehle und Gaumen ihren W eg nach oben fortsetzt, erreicht sie den weißen und glückverheißenden Lotos zwischen den Augenbrauen. Dieser hat zwei Blüten­ blätter, auf denen die Buchstaben Ha und Ksha stehen, er ist der Ort für das Denken (manas).« Das Folgende sind Beschreibungen des L otos:

»Wie der Mond so vollendet weiße (hima-kara-sadrisham). — Dieser Vergleich mit dem Chandra (himakara) kann auch andeuten, daß dieser Lotos kühl wie die Mondstrahlen erscheint (der Mond gilt als Behältnis für den Amrita oder Nektar, dessen charakteristische Eigenschaft die Kühle ist) und auch so vollendet weiß ist. Im »Ishvara-Kärtikeya-Samväda«351 ist gesagt worden: »Das Äjüä Chakra befindet sich darüber; es ist weiß und hat zwei Blütenblätter; die buntgefleckten Buchstaben Ha und Ksha steigern gleichfalls seine Schönheit. Er ist der Sitz für das Denken (manas).« »Zwei Blütenblätter« (netra-patra). — Die Blumenblätter des Lotos. »Auch die Buchstaben Ha und Ksha sind weiße (ha-kshäbhyäm kaläbhyäm parilasitavapuh su-shubhram). — Diese beiden Buchstaben sind von Natur aus schon weiß, und weil sie auf weißen Blumenblättern stehen, lassen sie deren Weiß durch diesen Überschuß an Weiß noch reizvoller erscheinen352. Die Buchstaben heißen Kaläs, weil sie Bijas der Kaläs sind353. »Er leuchtet in der Glorie der Dhyäna« (dhyäna-dhäma-prakäsham) — d. h., sein Körper erstrahlt wie die Glorie der Dhyäna Shakti. »Häkini«. — Dann spricht er über die hier anwesende Shakti Häkini. Das ihrem Namen beigefügte Fürwort Sa (sie) soll hervorheben, daß es sich um die gutbekannte Häkini handelt. »Der Fürchte-dich-nicht- und der gnadengewährende Gestus« (mudrä). — Dieses W ort gilt für beide Mudräs. Eigentlich sollte sie sechs Waffen in den Händen tragen, denn sie besitzt sechs Hände. Einige lesen Vidyä und Mudrä als ein W ort, Vidyä-Mudrä, übersetzen es im Sinne von Vyäkhyämudrä — der das Lernen oder. Wissen ausdrückende Gestus — und sprechen ihr nur vier Arme zu. Je mehr Manuskripte, um so mehr Auffassungen. Verschiedene

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Handschriften lesen sie als zwei getrennte Worte. Der kluge Leser soll sich selbst das Urteil bilden. In einer Dhyäna anderenorts wird sie folgendermaßen beschrieben: »Meditiere über sie, über die göttliche Häkini. Sie wohnt im Knochenmark354 und ist weiß. In den Händen hält sie die Damaru, den Rudräksha-Rosenkranz, den Menschensehädel, das Vidyä (Buchsymhol) und macht die Mudrä (den gnadengewährenden und den furchtvertreibenden Gestus). Sie mag gern die mit Turminl gekochte Speise und ist vom Ambrosiatrinken in angenehm erregter Stimmung. Würdevoll sitzt sie auf einem weißen Lotos und ist verzückten Sinnes durch den aus dem Großen Ozean gewonnenen Trunk des Königs der Devas.« Der Rest ist klar.

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VERS 33

Etatpadmäntaräle nivasati ca manah süksmarüparh prasiddham yonau tatkarnikäyämitarasivapadam lingacihnaprakäsam Vidyunmaläviläsam paramahdapadarh brahrnasütraprabodham vedänämädibijarh sthiratarahrdayaécintyettatkramena.

Im Innern dieses Lotos weilt der subtile Geist (manas). Er ist gut bekannt. In der in der Fruchthülle gelegenen Yoni steckt der Shiva in seiner Phallusform, der sogenannte Itara 335. Er leuchtet hier wie eine Kettenfolge aufflammender Blitze. Auch das erste Bija der Feden-356, die Wohnung der überaus vortrefflichen Shakti, ist hier, durch seinen Glanz läßt es die BrahmaSütra357 sichtbar werden. Der Sädhaka soll der (vorgeschriebenen) Anordnung gemäß mit beharr­ lichem Geist über diese Dinge nachsinnen. KOMMENTAR Er spricht über das in diesem Lotos vorhandene Manas. »Subtil« (sükshma-rüpa). — Das Manas liegt jenseits des Sinneshorizonts; wenn das stimmt, könnte man fragen: »Welches ist der Beweis für seine Existenz?« Die Antwort lautet: Es ist hinlänglich bekannt oder wird allgemein angenommen (prasiddha) und wurde als eine sich verwirklicht habende Angelegenheit vom Anädipurusha her von einer Generation auf die andere der Nachwelt überliefert — darum ist es hinlänglich bekannt. Daneben beweisen die Shästras, daß dieses Manas auswählt und verwirft358. Hier liegt die Wirkstätte des Manas. Oberhalb des ersten Bija der Veden tritt das Manas in Erscheinung, wie sich das aus dem zu Besprechenden gleich zeigen wird. » Phallusform« (linga-chihna-prakäsham). — Er spricht dann von dem in der Y oni im Eruchthülleninnem befindlichen Shivalinga359. Der dort vorhandene Itara-Shiva repräsentiert sich in seiner phallischen Gestalt und steckt im Yoni-Innern. Im Dreiecksinnern in der Fruchthülle weilt der Itara-Shivapada360 — i. e., der unter dem Namen Itara bekannte Shiva. Dieser Linga erscheint in der Phallusform und ist weiß. Wie heißt es doch im Bhüta-Shuddhi Tantra: »In seinem Innern ist der Linga Itara, kristallklar und mit drei Angen.« Dieser Linga ähnelt dem fortlaufenden Streifen einer Blitzkette (vidyun-mäläviläsam). » Das erste Bija der Veden« (vedänäm ädibljam). — Dann spricht er über das in der Frucht­ hülle dieses Lotos vorhandene Pranava361. In der Fruchthülle gibt es auch das erste Bija — i. e., das Pranava361. »Die Wohnung der überaus vortrefflichen Shakti« (paramakulapada). — Kula = Shakti, sie hat hier dreieckige Form. Parama heißt in höchstem Maße vortrefflich, weil sie an einen Blitz und ähnlich leuchtende Dinge erinnert; pada bezeichnet den Ort — i. e., der dreieckige Raum. Darum liegt dieses von uns wahrgenommene Bija — das Pranava nämlich — im Dreiecksinnern. Das geht aus folgendem Text klar hervor: »Im Fruchthülleninnern und im Dreieck untergebracht zeigt sich der Ätmä in der Pranavaform, darüber, wie die Flamme einer Lampe, liegt der bezaubernde Näda und der Bindu, der Makära362, über ihnen liegt die Wohnstätte des Manas.« Nun, wenn der Paramakulapada363 das Behältnis (ädhära) für das Pranava darstellen und deshalb vom Pranava unzertrennlich sein soll, wie kommt es, daß er im folgenden Passus von den erwähnten sechzehn Ädhäras gesondert aufgeführt wird? Denn es heißt: »Die für den Y ogi schwer erreichbaren sechzehn Ädhäras sind: Mülädhära, Svädhishthäna, Manipüra, Anähata, Vishuddha, Äjüä Chakra, Bindu, Kaläpada, Nibhodhikä, Arddhendu, Näda, Nädänta, Unmanl, Vishnuvaktra, Dhruvamandala364 und Shiva.« Die Antwort darauf lautet, daß der zweite Kaläpada nicht der aus dem Äjüä-Chakra ist, Bondern sich im leeren Raum oberhalb des Mahänäda findet, worüber wir später noch sprechen

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werden. Das wird erst klar, wenn wir uns mit dem Thema Mahänäda näher beschäftigen. »Es läßt die Brahma-Sütra sichtbar werden« (brahma-sütraprabodha). — Brahma-Sütra = Chitrinl-Nadl. Diese Nädi wird durch den Pranava-Glanz erkennbar. Der Vers 2 hat diese Nädl mit »Sie erstrahlt vom Glanze des Pranava« beschrieben. Der Sädhaka soll mit gleich­ förmigem Gemüt über alle diese — viz., Hakim, Manas, Itara Linga und Pranava — in der vorgeschriebenen Reihenfolge meditieren. Diese Aufstellung differiert jedoch gegenüber der vom Verfasser im Text angegebenen Reihenfolge. Die Anordnung der W orte nach ihrer Wichtigkeit ist freilich ihrer Position im Text vorzuziehen. Der hier angegebenen Reihenfolge sollte man den Vorrang lassen. So kommt also zuerst Häkinl in der Fruchthülle; im Dreieck über ihr der Itara Linga; im Dreieck über ihm das Pranava; und als letztes von allen, über dem Pranava selbst, kommt das Manas. So soll man seine Betrachtungen anstellen.

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VERS 34 Dhy&nätmä sädhakendro bhavati parapure Mghragäml munindrah sarvajñah sarvadarái sakáláhitakarah sarvaAästrärthavetta Advaitäcäravädi vilasati paramápürvasiddhipraéiddho dirghäyuh sospi harta tribhuvanabhavane samhrtau pälane ca.

Der vortreffliche Sädhaka, dessen Ätmä aus nichts anderem als aus einer M editation über diesen Lotos besteht, ist imstande, nach Belieben den Körper eines andern?^ unverzüglich zu betreten, er wird zum Vortrefflichsten unter den M unis, er wird allwissend und allsehend. Er wird zum Wohltäter aller und. ist in allen Shästras bewandert. Er verwirklicht die Einswerdung mit dem Brahman und erwirbt sich außergewöhnliche und unbekannte K räfte 366. Reich an Ruhm und langlebig wird er immer wieder zum Schöpfer, Zerstörer und Erhalter der drei Welten. KOM M ENTAR In diesem Vers spricht er über den Nutzen, den man durch die Dhyäna auf diesen Lotos gewinnen kann. » Vortrefflichste unter den M unise (munlndra). — Muni ist einer, der die Dhyäna und den Y oga367 und andere ungewöhnliche Fertigkeiten vollendet beherrscht. Das Suffix »Indra« kennzeichnet einen König oder Häuptling, und man setzt cs an Namen, um eine Vollkommen­ heit auszudrücken. »In allen Shästras bewandert« (sarva-shästrärthavettä). — Ein solcher hat in den Shästras und in der theologischen Erkenntnis große Fortschritte gemacht, darum wird er allsehend (sarva-darshi) — i. e., er ist imstande, die Dinge von allen Punkten aus zu betrachten, weil er der Weisheit und der Erkenntnis inne geworden ist, die mit den Shästras, mit den Sitten und Gewohnheiten in Einklang steht. »Er verwirklichte usw. (advaitächära-vädl). — Aus den Shruti-Sprüchen wie diesen: »Die Welten sind Sein Päda (d. i. Amshas)«; »Alles Existierende ist das Brahman368«; und: »Ich bin der Deva, und kein anderer; Ich bin das wahre Brahman, und mit der Betrübnis habe ich nichts zu schaffen369« weiß er, daß dieses Universum und alle materielle Existenz das Brahman verkörpert. Er weiß, das Brahman allein ist das Wirkliche (Sat), alles andere ist das Nichtwirkliche (Asat), sie alle leuchten durch das Brahmanlicht370. W er durch eine solche Erkenntnis die Identität des individuellen Geistes mit dem Höchsten Geist371 (jivätmä und paramätmä) zu verwirklichen imstande ist und das verkündet, der ist ein Advaitavädl. »Außergewöhnliche und unbekannte K räfte« (paramäpürva-siddhi) — d. h., Geisteserhöhung bewirkende und ganz besondere Kräfte. »Reich an Ruhme (prasiddha) — i. e., berühmt wegen seiner Überlegenheit. »W ird er immer wiedere usw. (so’pi kartä tribhuvana-bhavane samhritau pälane cha). — Das ist Prashamsä-Väda372; es kann auch heißen, daß ein solcher Sädhaka bei seiner Körper­ auflösung in den Allerhöchsten absorbiert und dadurch zur Quelle der Schöpfung, Erhaltung und Zerstörung wird.

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VERS 35 TadantaJcakressminnivasati satatam ¿uddlmbuddhyantarätmä pradipäbhajyotih prayavaviracanärüpavaryaprakäSah Tadürdhve candrärdhastadupari vilasadbindurüpi makärastadürdhve nädossau baladhavalasudhädhärasamtänahäsi.

Im Innern des in diesem Chakra vorhandenen Breiecks ist die das Pranava bildende Buchstabenkombination373 stets vorhanden. Es ist der als der innere Ätmä bezeichnete reine Qeist (buddhi), in seinem Strahlenglanz ähnelt er einer Flamme. Darüber liegt der (zunehmende) Halbmond, und über diesem finden wir das in seiner Binduform erstrahlende M a-kära 371. Über diesem liegt der Nöda, er ist so rein weiß wie Balaräma375und verbreitet diffuses M ondlickt376. KOMMENTAR Der Verfasser möchte jetzt über das im Äjnä Chakra vorhandene Pranava sprechen und sagt, daß in diesem Chakra — und zwar im Innern des bereits besprochenen Dreiecks — die Buchstabenkombination A und U stets vorhanden sei, nach den Sandhi-Regeln ergäbe sich hieraus der dreizehnte Vokal O. Diese Buchstabenkombination ist Suddha-Buddhyantarätmä — i. e., der als reine Verstandeskraft (buddhi) sich manifestierende innerste Geist. Es könnte die Frage auftauchen, ob das der dreizehnte Vokal (0 ) sei. Um dem vorzubeugen, qualifiziert es der Verfasser, indem er sagt: »Darüber liegt der Halbmond usw.« Wenn man das 0 durch Halbmond (näda) und Bindu ergänzt, entsteht das Pranava. Als nächstes gibt er seine Attribute an : »In seinem Strahlenglanz ähnelt er einer Flammen (pradlpäbhajyotih). — Wie kann aber dieser dreizehnte Vokal aus sich selbst Suddha-Buddhyantarätmä sein ? Er sagt deshalb: »Darüber liegt der zunehmende Halbmond« (tadürdhve chandrärdhah). »Und über diesem wieder finden wir das in seiner Binduform erstrahlende M a-kära« (tad-upari vilasabdindu-rüpi Ma-kärah). — Auf diese Weise wird veranschaulicht, daß man durch das Hinzusetzen des zunehmenden Mondes zu dem über dem dreizehnten Vokal schwebenden Bindu376 das Pranava vervollständigt. »Über diesem liegt der Näda« (tadürdhve nädo’ sau) — i. e., über dem Pranava schwebt der Aväntara (letzte oder zweite) Näda, der sozusagen Baladeva und Mond an Blässe heraus­ fordert (baladhavala-sudhädhära-santäna-häsi). Damit will er zum Ausdruck bringen, daß er äußerst weiß ist und Baladeva wie Mondstrahlen an Weiße übertrifft377. Einige lesen Tadädye Nädosau (statt tadürdhve nädo’sau) und übersetzen es mit »unter dem Bindu-Rüpi Ma-Kära ist der Näda«. Aber das ist unkorrekt. Der Text lautet: »Über diesem wieder finden wir das in seiner Binduform erstrahlende Ma-Kära« — und da liegt der Näda darunter; und weil das so ist, ist die Wiederholung unnütz, der Näda befinde sich darunter. Dieser Näda liegt übrigens jenseits des einen Bestandteil des Pranava bildenden Näda und gehört anteilsmäßig zu dem über dem Pranava liegenden und sich differenzierenden (bhidyamäna) Parabindu. Wenn man aber darauf besteht, daß bei der Beschreibung des speziellen Pranava (vishishta-pranava) eine Festlegung von Details notwendig sei, und wenn man fragt: »Warum sagen Sie, ein zweiter Näda sei unpassend?« — dann mag die Lesart »Tadädye nädo6sau« gebilligt werden. So gelesen, müßte man es auf folgende Weise über­ setzen: »Dieser unter dem Bindu-Rüpi-Ma-Kära sich zeigende Näda ist Bala-DhavalaSudhädhära-Santäna-Häsi (v. ante), und auch der zuerst besprochene Näda wird so be­ schrieben. Eine solche Wiederholung ist frei vom Vorwurf gegen die Glaubwürdigkeit des Grundsatzes »Das Große ist keinen Einschränkungen unterworfen«.

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VERS 36

1ha sthäne Une susukhasadane cetasi puram nirdlambäm bctdhvä paramaguruseväsuviditäm Taddbhy&säd yogi pavanasuhrdäm paiyati Jcanän tatastanmadhyäntah pravilasitarüpänapi sadä.

Wenn der Yogi das ohne Stütze schwebende Haus verschließt378, das zu wissen der ParamaGuru ihn durch Unterweisung gelehrt hat, und wenn er durch wiederholtes Üben die Chetos379 in diesen Ort, in diese Wohnung ununterbrochener Wonne, hat aufgehen lassen, erkennt er in der Mitte (des Dreiecks) und im Raume darüber deutlich leuchtende Feuerfunken. KOM M ENTAR Nach der Beschreibung des Pranava spricht er jetzt über die Prana va-Union (mit den Chetas), i. e. der Pranavayoga. Der Y ogi soll das Haus verschließen (puram baddhvä) — i. e., er soll durch einen geistigen A kt das innere Haus abschließen; oder, mit anderen Worten, die Yoni-Mudrä380 vorschriftsgemäß ausführen und das innere Haus auf diese Weise wirksam verschließen. Die Benutzung des Ausdrucks Pur zeigt uns, daß die Yoni-Mudrä gemeint ist. Wenn er dann durch wieder­ holtes Üben (abhyäsa) oder durch die Meditation über das Pranava seine Chetas in diesen Ort (äjüächakra) aufgeschmolzen hat (lina), sieht er im Innern des Dreiecks, das das Pranava beherbergt, und im Baume darüber Feuerfunken381 (pavana-suhridäm kanän) oder, deutlicher gesagt, feuerfunkenähnliehe Lichtfunken enttauchen vor seinem geistigen Gesichtsfeld dem Dreieck, auf dem das Pranava ruht. Durch Yoni-Mudrä wird das innere Selbst (antah-pur) im Zaume gehalten und von der Außenwelt, von der stofflichen Sinnessphäre, abgelöst. Manas (das niedere Erkenntnisvermögen) kann nicht geläutert und gleichförmig werden, wenn man es nicht gänzlich von der stofflichen Sphäre abtrennt. Darum soll man das Gemüt (manas) durch Yoni-Mudrä vollständig absondern. Yoni-Mudrä, die das Manas von der Außenwelt ablöst, wird folgendermaßen definiert: »Setze die linke Ferse gegen den Anus, die rechte Ferse auf den linken Fuß und halte Körper, Hals und K op f in eine gerade Linie gestreckt. Ziehe dann durch die rabenschnabelartig382 geformten Lippen die Luft ein und fülle damit den Leib. Als nächstes383 verschließe luftdicht die Ohrenlöcher mit den Daumen, die Augenhöhlen mit den Zeigefingern, die Nasenlöcher mit den Mittelfingern und den Mund mit den übrigen Fingern. Halte die L u ft384 im Innern zurück und meditiere beherrschten Sinnes über das Mantra, damit verwirklichst du die Einheitlichkeit (ekatvam) von Präna und Manas385. Das ist der bei den Yogis in hohem Ansehen stehende Yoga.« Eine solche Stetigkeit im Gemüt bewirkt man durch Atemeinschränkung unter Zuhilfe­ nahme der Mudrä, wie es im Shruti heißt. »Unter dem Einfluß des Hamsa386 bewegt sich der Geist über die verschiedenen Objekte unstet hin und her; wenn man den Hamsa zurück­ hält, wird der Geist im Zaume gehalten.«

»Das Haus verschließt« (puram baddhvä). — Das kann aber auch die Khechari-Mudrä387 bezeichnen. Denn auch sie erzeugt Stetigkeit im Gemüt. W ie heißt es doch: »Die Khechari-Mudrä wird von allen Siddhas gepriesen, weil das Chitta durch diese (mudrä) das Brahman (K ha)388 durchstreift, so wie der Ton des gesprochenen W ortes389 den Äther (Kha) durcheilt.« Das Chitta ist Khechara390, wenn es, vom Manas getrennt und bar aller Verhaftung an alle Weltdinge, unmanl391 wird.

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W ie heißt es doch392: »Der Y ogi ist mit Unmanl verwachsen; ohne Unmani gibt es keinen Y ogi.« Nirälambä ist das, was keine Stütze hat — es tritt ein, wenn die Verknüpfung des Geistes an die Welt gelöst worden ist. »Das zu wissen der Parama-Ouru ihn durch Unterweisung gelehrt hate (parama-guru-seväsuviditäm). — Parama heißt vorzüglich in dem Sinne, daß er in der über eine ununterbrochene Kette geistiger Lehrer (gurus) (durch Unterweisungen) überlieferten Yogapraxis Unübertrefflichkeit erworben hätte, eine Praxis, die also nicht aus dem Buchwissen stammt393. »Indem er dem Guru diente. — Ein solches Wissen erhält man vom Guru, wenn man ihn durch persönliche Dienstleistungen (sevä) zufriedenstellt. C f.: »Man kann es vom Guru durch Unterweisungen erhalten, nicht aber durch Zehnmillionen Shästras.« »Die Wohnung ununterbrochener Wonne« (su-sukha-sadana) — i. e., hier ist die Stätte, wo man sich eines durch nichts gestörten Glückes erfreut. Dieses W ort qualifiziert den Ort (iha-sthäne — i. e .: äjüä chakra). »Deutlich leuchtende Feuerfunken« (pavana-suhridäm pravilasitarüpän kanän). — Diese Feuerfunken leuchten ganz deutlich. Anderswo wird klar erwähnt, daß das Pranava von Lichtfunken umgeben sei: »Darüber befindet sich der wie das Pranava gestaltete, glückverheißende und ringsum von Liehtfunken umgebene flammenähnliche Ätmä.«

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VE ES 37

Jvaladdipäkäram tadanu ca navinärkabahulaprakäsam jyotirvä gaganadharanimadhyamilitam Iha sthäne säksäd bhavati bhagavüñ pürnavibhavosvyayah säksi vahneh éaéimihirayormandala iva.

Er sieht dann auch das Licht™1, das in Gestalt einer lodernden Flamme erscheint. Es strahlt wie die klar leuchtende. Morgensonne und erglüht zwischen Himmel und Erde396. Denn hier offenbart sich der Bhagavän in der Fülle seiner Machi™6. Er kennt keinen Verfall, er ist Augen­ zeuge für alles und ist hier so wie er in der Feuer-, Mond- und Sonnenregion397 auftritt. KOMMENTAR Yogis wie diese sehen außer Lichtfunken auch noch andere Visionen. Nach dem Erschauen der Feuerfunken sehen sie das Licht. »Dann« (tadanu) — d. h. nach dem Funkensehen, von dem im vorigen Shloka die Rede war. Er beschreibt dann dieses Licht (jyotih). »Erglüht zwischen Himmel und Erde« (gagana-dharanl-madhyamilita). — Dieses zusammen­ gesetzte Adjektiv qualifiziert jyotih, das Licht. Gagana (Himmel) ist der Himmel oder leere Raum über der Shankhinl Nädi (siehe Vers 40, später); Dharani (Erde) ist das Dharä-Mandala im Mülädhära. Dieses Licht erstreckt sich also vom Mülädhära bis zum Sahasrära398. Als nächstes spricht er über den im Äjüä-Chakra anwesenden Parama Shiva. »Denn hier« (iha sthäne) — d. h., im Äjüä-Chakra; Parama Shiva ist hier genauso zugegen wie im Sahasrära. Bhagavän = Parama Shiva. »Offenbart sich« (säkshäd bhavati) — i. e., er ist hier398. »In der Fülle seiner Macht« (pürna-vibhava). — Dieses den Bhagavän näher beschreibende, zusammengesetzte W ort kann man auf verschiedene Weise übersetzen. Pürna-Vibhava kann man also folgendermaßen verschieden übersetzen: a) Pürna kann bedeuten: vollständig in sich selbst, und Vibhava: unbegrenzte Kräfte, beispielsweise die Schöpfungskraft usw. In diesem Falle würde das W ort heißen: »Einer, der solche Kräfte in sich besitzt, der der absolute Schöpfer, Zerstörer und Erhalter des Universums ist.« b) Vibhava wieder kann bedeuten: »Die verschieden abgestufte und unbegrenzte Schöp­ fung«; und pürna: »Überallhin sich ausbreitend«. In diesem Sinne wäre Pürna-Vibhava: »Er, aus dem diese überallhin sich ausbreitende und endlose (gewaltige) Schöpfung hervor­ gegangen ist.« C f.: »Aus dem alle diese entsprangen, in dem sie nach ihrer Erschaffung weiter­ leben, zu dem sie ihre Zuflucht nehmen, in den sie sich versenken« (Shruti)400. c) Vibhava kann außerdem heißen: »Allgegenwart«, und Pürna: » Überallhin sich ver­ breitend«. Es würde dann heißen: »Er, der in seiner Allgegenwart alle Dinge durchdringt.« d) Pürna401 kann schließlich noch jemandes Eigenschaft bezeichnen, der in seinem Begehren vom Endergebnis nicht beeindruckt und von keinem Objekt gefesselt wird. Pürna-Vibhava würde dann einen bezeichnen, der diese Fähigkeit besitzt. Alle Dinge sind vergänglich, ausgenommen der Ätmä. Die Allgegenwart der ätherischen Sphäre (äkäsha) usw. hat keine bleibende Existenz. Das Nirvana Tantra (Kap. IX ) spricht ausführlich über den im Äjüä-Chakra gegenwärtigen Parama Shiva. »Über diesem Lotos (i. e., Vishuddha) liegt der Jnäna Lotos, er ist sehr schwer zu erreichen; er ist die VollmondSphäre402 und hat zwei Blütenblätter.«

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Und weiter: »In seinem Innern, in der Hamsah-Form, liegt das Bija des Shambhu«; und weiter: »So beschaffen ist der Hamsah in der Mani-Dvipa403, und in seinem Schoß ist der Parama Shiva mit der Siddha K ali401 zur Linken. Sie ist das wahre Selbst ewiger Wonne.« Lap (Schoß, Zipfel) bezeichnet den Baum im Innern der Bindus, die das Yisarga am Ende des Hamsah405 bilden. So heißt es bei der Beschreibung des Sahasrära: »Dort gibt es die beiden Bindus, die den unzerstörbaren Visarga406 bilden. Im Innenraum ist der Parama Shiva.« Wie es sich im Sahasrära verhält, so zeigt er sich auch hier407. Darunter haben wir zu verstehen, daß sich diese zwei — Shiva und Shakti — hier als Buchstabe Ma (ma-kärätmä) in der Parabinduform in Union (bandhana) befinden und von der Mäyä umgeben sind (ächchädana)40S. »Als die Ewige verharrt sie hier (äjnä chakra) unter der Gestalt eines Grammkömchens409 und erschafft Wesen (bhütäni).« Da der Parama Shiva unter der Gestalt eines Grammkömchens auch hier weilt, erschafft auch er, nach der Utkalädimata410. »So wie er in der Feuer-, Mond- und Sonnenregion auftritH (vahneh shashimihirayor mandalamiva). — Wie man gut weiß, ist der Bhagavän in diesen Regionen anwesend, hier ist Er es genauso. Oder der Verfasser könnte meinen, daß Er auch hier unter der Gestalt eines Grammkömchens zugegen sei, so wie Er im Sahasrära in der Feuer-, Mond- und Sonnen­ region aufträte. Das Arka-, Indu- und Agni-Mandala im Sahasrära werden wir später be­ schreiben. In der Pltha-Püjä soll man die Püjä (rituelle Zeremonie) des Paramätmä und des Jhänätmä auf dem Sonnenmandala (Arka), Mondmandala (Indu) und Feuermandala (Agni) aufbauen. Unter Paramätmä ist Parama-Shiva, unter Jhänätmä ist Jhäna-Shakti zu verstehen. Über den Bindu soll man so wie über das Grammkörnchen meditieren, das aus dem unzertrennlichen Paar411 — nämlich aus Shiva und Shakti — besteht.

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VIíIlS 38

Iha sthäne vipnoratulaparamämodamadhure samäropya pränam pramuditamanäh pränanidhane Pararn nityam devam purusamajamädyam trijagatäm puränarh yogindrah praviéati ca vedäntaviditam.

Hier ist die unvergleichliche und ergötzliche Wohnstatt Vishnus. Freudig plaziert der vor­ treffliche Yogi in der Todesstunde den Lebensatem (präna) an diese Stelle412 und versenkt sich (nach dem Tode) in den Allerhöchsten, Ewigen, Ungeborenen, Uranfänglichen Deva, in den Purusha, der vor den drei Welten schon war und durch das Vedanta bekannt ist. KOM M ENTAR Er spricht jetzt über den Vorteil, der zu gewinnen ist, wenn man den Präna durch Yoga im Äjfiä-Chakra zu Ende gehen läßt. Dieser Vers besagt: Freudig (pramudita-manäh) plaziert der vortreffliche Y ogi (yoglndra) in der Todesstunde (präna-nidhane) den Präna (pränam samäropya) in die Wohnstatt Vishnus im Äjfiä-Chakra (iha sthäne Vishnoh — i. e., in der Wohnung Bhagaväns im bereits beschriebenen Bindu), stirbt dann und tritt in den Höchsten Purusha über. »In der Todesstunden (präna-nidhane) — i. c., wenn er die Annäherung des Todes fühlt. »Freudig« (pramudita-manäh) — mit geistigem Frohlocken in der Vorfreude über die beseligende Einswerdung mit dem Atmä (ätmänandena hrishta-chittah). )>Vishnun = Bhagavän = Parama Shiva (siehe die vorige Shloka). »An diese Stellen (iha sthäne) — i. e., in den Bindu im oben besprochenen Äjfiä Chakra. »Plaziert den Präna an diese Stelle« (iha sthäne pränam samäropya) — i. e., er lokalisiert ihn auf den bereits besprochenen Bindu. Er beschreibt den Purusha als ewig. »Der Ewigen (nityam). — Der Unzerstörbare (vinäsharahitam). »Der Ungeborene« (aja). »Der Uranfänglichen (puräna). — Er ist der als Puräna-Purusha413 bekannte Uranfängliche Große Eine. »Deva«7 Er, dessen lustvolles Spiel aus Weltentfaltung, Dasein und Vernichtung besteht. »Der vor den drei Welten schon warn (tri-jagatäm ädyam )414. — Hieraus ergibt sich die Folgerung, daß Er, weil Er allem vorausging, die Causa für alles ist. »Durch das Vedanta bekannt« (vedänta-vidita)416. — Die Vedäntas sind heilige Texte, die sich mit der Erforschung des Brahman befassen. Durch die Kenntnis (jfiäna) dieser wird Er erkannt. Wie man den Präna an den Ort Vishnus lokalisieren soll (pränäropana-prakära), wird im nachfolgenden beschrieben: Wissend, daß die rechte Zeit für die Äbscheidung des Präna nahe bevorsteht, und froh darüber, daß er sich anschickt in das Brahman aufzugehen, nimmt der Y ogi die Yogäsana ein und hemmt seinen Atemstrom durch Kumhhaka. Dann führt er den im Herzen wohnenden Jivätmä zum Mülädhära und erweckt durch Analkontraktion416 und nachfolgende weitere Prozesse, vorschriftsgemäß, die Kundalinl. Darauf meditiert er über den blitzartigen wonnevollen Näda (zart summenden Ton), den fadenähnlichen, der substanzialiter aus der Kundall besteht (kundalini-maya). Dann löst er den Hamsa, d. h. den Paramätmä in Pränaform417, in den Näda auf und führt ihn nach den Vorschriften der Chakra-Bheda (Durchdringung der Zentren) mit dem Jiva zusammen durch die verschiedenen Chakras bis zum Äjfiä Chakra. Dort läßt er die verschiedenen Elemente vom Groben bis zum Subtilen, angefangen mit Prithivi, allesamt in die Kundalini aufgehen. Als letztes ver­ einheitlicht er sie und den Jivätmä mit dem Bindu, der substanzmäßig aus Shiva und Shakti besteht (shiva-shakti-maya); hat er das vollbracht, durchdringt er die Brahmarandhra, verläßt den Körper und verschmilzt in das Brahman.

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ZUSAMMENFASSUNG ÜBER DAS ÄJNÄ CHAKRA, VERS 32-38 Das Äjfiä-Chakra hat zwei Blütenblätter und ist weiß. A uf den beiden Blättern stehen die weißen418 Buchstaben Ha und Ksha. Die das Chakra regierende Shakti, Häkin!, befindet sich in der Fruchthülle. Sie ist weiß, hat sechs Gesichter mit je drei Augen, hat sechs Arme und sitzt auf einem weißen Lotos. Die Hände entfaltet sie in die Varamudrä und in die Abhayamudrä419, hält einen Rudräksha-Rosenkranz, einen Menschensohädel, eine kleine Handtrommel und ein Buch. Über ihr, im Innern eines Trikona, ist der blitzartige ItaraLinga, und über diesem wieder, in einem weiteren Trikona, finden wir den inneren Ätmä (antarätmä), er glänzt wie eine Flamme. Zu seinen vier Seiten sieht man in die Luft ent­ schwebende Feuerfunken, sie umgeben ein Licht, das durch seinen eigenen Glanz alles zwischen Müla und Brahma-Randhra sichtbar werden läßt. Über diesem wieder steht das Manas, und über dem Manas, in der Mondsphäre, befindet sich der Hamsah, der in seinem Innern den Parama Shiva mit seiner Shakti beherbergt.

(Hier endet der sechste Abschnitt) [Vishvanätha420 gibt im Kommentar zum Shatchakra unter diesem_Vers eine dem Svachchhandasangraha entnommene Beschreibung der Gegend jenseits des Äjnä, das heißt jenseits des Samashti, des kollektiven oder kosmischen Äjfiä: »Im Bindu-Innem gibt es in einer Ausdehnung von hundertmillionen Yojanas421 einen leeren Raum, der m it einer Lichtfülle von zehnmiUionen Sonnen erhellt wird. Hier herrscht der Gebieter des Zustandes >ÜberShänti-hinaus< (shäntya-titeshvara), er hat fünf K öpfe und zehn Arme und erstrahlt wie ein Haufen auflodcrndcr Blitze. Ihm zur Linken ist die Shäntyatitä-Manonmam. Sie ist von Nivritti, Pratishthä, Vidyä und ShäntI umgeben422. Eine jede von diesen ist mit einem Mond geschmückt, hat fünf K öpfe und zehn Arme. Das ist das Bindu Tattva. Über dem Bindu ist der Ardhachandra mit seinen Kaläs: Jyotsnä, JyotsnävatI, Känti, Suprabhä, Vimalä. Über dem Ardhachandra befindet sich das Nibodhikä mit seinen Kalas: BandhatI, Bodhinl, Bodhä, Jnänabodhä, Tamopabä. Über dem Nibodhikä liegt der Näda und seine fünf Kaläs: Indhikä, Rechikä, Ürdhvagä, Träsä und Parama. Auf dem Lotos über diesem Letzten thront Ishvara, er hat eine Ausdehnung von hundertmillionen Yojanas und strahlt wie zehntausend Monde. Er ist fünfköpfig und hat in jedem K opf drei Augen. Er hat filzig verflochtenes Haar und hält den Dreizack (shüla). Er ist der bis nach oben reichende Eine (ürdhvagämi), und in seiner Umarmung (utsanga) ruht die Kalä Urdhvagämini.«]

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Abb. V II Ájñá-Chakra

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VERS 39

Layasthänarh väyostadupari ca mahänädarüparh éivárdham . siräkärarh Säntam varadamdbhayam ¿uddhabuddhipralcädam Yadä yogi paéyed gurumraranayugñmbhojasevásuéilastadä väcäm siddhih karakamalatale tasya bhüyät sadaiva.

Wenn die zu den Lotosfüßen seines Guru verrichteten Taten des Yogi in jeder Hinsicht gut sind, wird er über ihm (i. e. Äjfiä Chakra) die Erscheinungsform des Mahänäda erblicken und wird in seinem Handlotos die Sprach-Siidhi423 für immer innehaben. Mahänäda, der Ort der Väyu-Auflösung424 ist der halbe Shiva, und seine Form ähnelt einem P flü g t , er ist still, gewährt Gnaden, verbannt Furcht und macht den reinen Intellekt (buddhi, das höhere Erkenntnis- ~ vermögen) 126 offenbar. KOMMENTAR Er will jetzt den über dem Äjfiä Chakra und unter dem Sahasrära liegenden Zwischen­ ursachenkörper (käranä-väntara-sharira)427 beschreiben und sagt: Wenn die zu den Lotos­ füßen seines Guru verrichteten Taten durch den Dienst in jeder Hinsicht zufriedenstellend ausfallen — d. h., wenn er sich durch eine intensive Geisteskonzentration in der Yogatechnik besonders auszeichnet — sieht er über ihm (über dem Äjfiä Chakra) das Ebenbild des Mahä­ näda und wird vollendet redegewandt (vak-siddha). »In jeder Hinsicht gute Tätern (sushlla). — Die durch energische und ungeteilte A uf­ merksamkeit bewundernswert geleistete rechte Lust und Liebe zur Yogatechnik. Dieses Ziel erreicht man, wenn man dem Guru dient. Der Verfasser beschreibt dann näher den Näda und sagt, er sei der Ort für die VäyuAuflösung (väyor laya-sthänam). Die Regel lautet: »Die Dinge lösen sich in ihren Ursprung auf«. Auch der Väyu löst sich in den Näda auf, obgleich wir in der Bhüta-Shuddhi und in anderen Praktiken gesehen haben, daß der Väyu sich in das Sparsha-Tattva428, und dieses sich in den Vyom a429 auflöst. Hören wir hierzu das Zeugnis der Offenbarung (Shruti): »Prithivi, der Besitzer der Rasa (rasa-vatl; rasa = Essenz) entsprang dem I-kära430. Aus Ka-kära430, die Rasa (Saft, Essenz) ist, kamen die Wasser und die Tlrthas431; aus Repha (Ra-kära)430 entstand das VahniTattva432; aus Näda430 kam V äyu433, die alles Leben durchdringt (sarva-pränamaya). Aus dem Bindu430 kam der leere Raum 434, der, aller Dinge bar, das Klangbehältnis darstellt. Und aus allen diesen436 kamen die fünfundzwanzig Tattvas, sie sind Guna-Maya. Dieses ganze Universum (vishva) ist das Welt-Ei Brahmäs, es wird von Kälikä durchdrungen.« Zu dem Zeitpunkt, wo sich die Buchstaben des Käll-Mantra436 in das Subtile auflösen, soll man sich deshalb im Geiste lebhaft vorstellen, wie der Väyu in den Näda absorbiert wird. »Der halbe Shiva« (shivärdha). — Der Sinn ist der, daß sich der Shiva hier in der ArddhaNärishvara-Porm zeigt. Die eine Hälfte ist Shakti, ist Näda. »Ähnelt einem Pflugs (siräkära). — Das W ort Sirä wird hier mit einem kurzen i, im AmaraKosha (Wörterbuch) mit einem langen i geschrieben; es handelt sich aber zweifellos um das gleiche W ort, denn es beginnt mit einem dentalen s. C f.: »Darüber steht der Mahänäda, er ist pflugähnlich und glänzend« (Ishvara-kärtikeyasamväda)437. Wenn man den Text »Shiväkära« statt »Siräkära« liest, würde das heißen, daß der Näda Shiva-Shaktimaya ist438. Cf. das Prayoga-Sära: »Die nach dem Sitz zur endgültigen Erlösung439 tendierende Shakti heißt männlich (pumrüpä, d. i. bindu), wenn sie sich, durch den Näda belebt, Shiva zu-

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wendet140 (shivonmukhí).« Darum hat auch Räghava-Bhatta gesagt: »Näda und Bindu sind die Bedingungen, unter denen sie erschafft411.« Anderswo heißt es: »Sie ist ewig442 wirklich als Chit (chinmäträ)443: wenn sic dem Lichte nahesteht, hat sie den Wunsch, sich zu wandeln, sie verdichtet sieh (ghanl-bhüya) und wird Bindu.« Und so lauten die Worte des ehrwürdigen (shrimat) Ächärya444: »Näda verdichtet sich und wird der Bindu.« Und wenn man nun dies alles in Erwägung zieht, ist die Schlußfolgerung die, daß die Shakti sich als Näda-Bindu manifestiert, gleichsam wie das Gold in den aus Gold gemachten Ohrringen445. Näda und Bindu sind wieder eines — das ist die Schlußfolgerung.

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VERS 40

Tadürdhve ¿ankhinyä nivasati éikhare éünyadeée prakäsam visargädhah padmam daéaáatadalam pürnacandratiéubhram Adhovaktram lcäntam tarunaravikalákdntikiñjalkapuñjam Í akärädyairvarnaih, pravilasitavapuh kevalänandarüpam.

Über allen diesen, im leeren Raumiia, in welchem die Shankhini Nädi verläuft, und unter der Visarga, liegt der Tausendblättrige Lotos447. Dieser Lotos, strahlend und heller als der Voll­ mond, hat den Blütenkopf nach unten hängen. Er wirkt zauberhaft. Seine Staubfädenbüschel sind mit der Farbe der aufgehenden Sonne getüncht. Sein Blütenleib erstrahlt in den mit A beginnenden Buchstaben, er gilt als die absolute Won?ieua. KOM M ENTAR Ächärya macht es den Sädhakas, die den Samädhi-Yoga praktizieren wollen, zur Pflicht, »sie sollen mit jeder Betrachtung und Anstrengung zuvor erst alle Dinge der Reihe nach vom Groben bis zum Subtilen in den Chidätmä449 aufgehen lassen«. Man soll vorher über alle groben wie subtilen Dinge, die die Schöpfung bewirken, seine Betrachtungen anstellen. Da ihre Kenntnis notwendig ist, werden sie hier im einzelnen beschrieben. Die fünf groben Elemente — PrithivI usw.450 —, die über die fünf Chakras Mülädhära bis Vishuddha verteilt sind, haben wir schon besprochen. Im Bhümandala451 im Mülädhära haben wir noch folgende Dinge: die Büße, den Geruchssinn und das Gandha-Tattva452, denn hier ist ihre Stätte. Im Jala-Mandala453 befinden sich analog dazu: die Hände, der Geschmackssinn und das Rasa-Tattva454. Im Vahni-Mandala455 sind: der Anus, der Gesichtssinn und das RüpaTattva456. Im Väyu-Mandala457 sind: der Penis, der Berührungssinn und das SparshaTattva458. Im Nabho-Mandala459 sind: das Sprechen, der Gehörssinn und das ShabdaTattva460. Diese ergeben zusammen fünfzehn Tattvas. Wenn wir diese fünfzehn zu PrithivI usw. zuaddieren, erhalten wir die zwanzig groben Tattvas. Als nächstes gehen wir zu den Subtilformen über. Das subtile Manas im Äjüä Chakra ist schon besprochen worden. Weitere (Subtilformcn) hat das Kankälamälinl Tantra (Kap. II) erwähnt, wo es sieh mit dem Ajüä-Chakra näher befaßt: »Hier leuchtet ständig das durch die anwesende Shakti-Häkinl verschönerte vortreffliche Manas. Es strahlt, und seine Zierde sind Buddhi461, Prakriti462 und Ahankära463.« Aus dem oben Gesagten wird uns klar, daß die drei Subtilformen — Buddhi, Prakriti und Ahankära — an diesen Ort gebunden sind. W ir müssen jedoch wissen, daß Ahankära (der Ich-Macher) nicht nach der im obigen Zitat erwähnten Reihenfolge einzuordnen ist. W ir haben gesehen, daß vom Mülädhära an aufwärts das Erzeugnis unter dem Erzeuger zu liegen kom m t; das was man auflöst liegt unter dem, worin man es auflöst, und wir wissen auch, daß Shäbdakrama stärker als Päthakrama464 ist. W ir müssen uns daran erinnern, daß der Vyoma in den Ahankära aufzulösen ist, deshalb steht dieser höher als der Vyoma. C f.: »In den Ahankära soll man Vyoma einschließlich Klang, und in den Mahat wieder soll man den Ahankära aufgehen lassen.« Da der Ahankära als Auflösungsstätte gilt, kommt er über dem Vyoma an erster Stelle, über ihm folgen Buddhi und Prakriti. Das Shäradä-Tilaka (I. 17, 18) bezeichnet sie bezüglich ihres Verwandschaftsverhältnisses als Janya (Effekt, Erzeugtes) und Janake (Ursache, Erzeuger). »Aus dem unmanifestierten (avyakta) Müla-Bhüta-Paravastu485 im Vikrita (Stadium) entsprang das Mahat-Tattva465, das aus den Gunas und dem Antahkarana besteht. Aus diesem (mahat-tattva) kam der

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Ahankära, der nach seiner Ursprungsquelle von dreierlei Art ist466.« Unter Vikriti — das »verwandeln« bedeutet — ist hier eine Spiegelung oder ein Bild (prativimba)467 das Paravastu zu verstehen, und als eine solche Spiegelung ist es Vikriti; weil es aber die Prakriti des Mahat-Tattva usw. verkörpert, nennt man es auch Prakriti468. C f.: »Prakriti ist die Parama (Höchste) Shakti, Vikriti ist das Produkt daraus469.« W ir haben vorher auch gezeigt, daß die Prakriti des Para Brahman nur eine andere Erscheinungsform von Ihm ist (prativimbasvarüpini). Nach dem Shäradä-Tilaka ist das Mahat-Tattva das gleiche wie Buddhi470. Ishäna-Shiva spricht: »Die von der Shakti entfaltete objektive Prakriti471 ist, wenn sie sich mit Sattva-Guna assoziiert hat, Buddhi-Tattva. Und diese Buddhi wird in der Sankhya (Lehre) als Mahat bezeichnet.« Das Mahat-Tattva besteht aus den Gunas und dem Antah-Karana. Die Gunas sind: Sattva, Rajas und Tamas. Das Shäradä-Tilaka sagt: »Antahkarana (das Innenwerkzeug) ist Manas, Buddhi, Ahan-Kära und Chitta des Ä tm ä472. Sie alle sind in den Terminus MahatTattva zusammengefaßt.« Nun könnte eine Frage auf tauchen, nämlich die: »Wenn das Manas im Mahat-Tattva enthalten sein soll, was hat dann das in Vers 33 Gesagte zu bedeuten, wo dem Manas eine unabhängige Existenz zugesprochen wird?« — Die Antwort darauf lautet, daß jenes Manas ein Ahankära-Produkt darstellt; und Räghava-Bhatta zitiert einen Text folgenden Inhalts: »Sofern das andere Manas das eine ist, welches auswählt und verwirft (sa-sankalpa-vikalpaka)473, gilt es bekanntlich als ein Tejas-Produkt474.« So kommt es, daß, während Manas und andere Tattvas im Äjüä Chakra in ihrer bestimmten Reihenfolge stehen, der Ahankära und andere als über diesen eingeordnet bekannt sein sollten. Im Ajüä Chakra sind Häkint, Itara-Linga, Pranava, Manas, Ahankära, Buddhi und Prakriti übereinander folgend unter­ gebracht. Da dem früher erwähnten Chandra-Mandala kehr bestimmter Ort zugewiesen ist, soll man es als über diesen allen untergebracht annehmen. Wenn man die Frage stellt: »Warum liegt es nicht unter diesen allen?« — dann gilt als Antwort das im Sammohana Tantra Gesagte: »Der Mond (indu) ist in der Stirn, und über ihm befindet sich Bodhini selbst.« Daraus würde hervorgehen, daß Indu und Bodhini ohne etwas Dazwischenliegendes über dem Äjüä Chakra übereinandergelagert sind. Bodhini liegt über allen übrigen. Das Sammohana Tantra spricht von der über dem Ajña-Chakra angelegten Causa (käranarüpa): »Indu (der Mond, hier: Bindu) hegt in der Stirnregion, und über ihm kommt Bodhini selbst. Über der Bodhini leuchtet der dem (zunehmenden) Halbmond ähnelnde vortreffliche Näda; über diesem glänzt der pflugähnliche Mahänada; darüber kommt die Kalä mit Namen Änji, die Geliebte der Yogis. Über dieser letzten folgt der Unman!476 (Zustand), und wenn man diesen erreicht hat, kehrt man nicht mehr zurück.« Im obigen Passus bezieht sich bei den Worten »über ihm kommt Bodhini« das »ihm« auf den Scheitellotos oder das Ajüä Chakra. Das Bhüta-Shuddhi Tantra erwähnt den unter der Bodhini gelegenen Bindu: »Die über dem Vindu und unter der Mäträrdhä befindliche DevI ist der Näda, über diesem wieder folgt der Mahänäda, er gilt als Ort für die Väyu-Auflösung.« Mäträrdhä ist die Mäträrdhä Shakti476. Der folgende Passus aus der Brihat-Tri-Vikrama-Sainhitä bestätigt, daß die Ardhamäträ die Shakti bezeichnet: »Strahlend wie die aufgehende Sonne ist Akshara, der Bindumat (Bindu selbst); darüber ist die mit dem Gändhäraräga477 assoziierte Ardha-Mäträ.« Da die beiden obigen Zitate auf die gleiche Sache hinauslaufen, müssen wir annehmen, daß Ardha-Mäträ und Bodhini identisch sind. Bindu, Bodhini und Näda sind nur verschiedene Aspekte der Bindu-Maya-Para-Shakti. Das Shäradä-Tilaka sagt: »Aus dem Sakala Parameshvara478, der Sat, Chit und Änanda (>seiend-geistig-seligSein-Geist-SeligkeitManas-heit< (manastva) des Manas erlischt, hinübergleitet, kommt man in den sogenannten Unmani, ihn zu erreichen ist die sehr geheimgehaltene Lehre aller Tantras484.« Der Unmani-Zustand ist dasjenige Tattva, das die Auflösung der vom Manas eingegebenen Anhänglichkeit an Weltobjekte kennzeichnet. Unmani wieder ist von zweifacher Art: (1) Nirväna-Kalä-Rüpä, das auch im Sahasrära lokalisiert ist486; (2) Varnävali-Rüpä, das gleichfalls in dieser Region liegt. Cf. das KankälaMälini: »In der Sahasrärafruchthiille finden wir im Mondkreisinnern die neigungslose sieb­ zehnte K alä486. Ihr Name ist Unmani, sie durchtrennt das Band der Weltverhaftung.« Cf. ebenfalls: »Durch geistiges (innerliches) Aufsagen des Mälä-Varna (Buchstaben­ rosenkranz) kommt man in den Unmani, er ist der Gewährer der endgültigen Erlösung.« Mälä-Varna = Varnävali-Rüpa. Die Bhüta-Shuddhi erwähnt den unter dem Unmani_gelegenen Samani. »Als nächstes kommt die Vyäpikä Shakti (diffuse Kraft), die man als Ä nji kennt. Samani487 ist darüber, und Unmani steht über allen.« Dieser (samani) ist außerdem ein Zwischenaspekt (aväntararüpa) der Parashakti. Wir kommen nun zu folgendem: Über dem Äjüä-Chakra liegt der zweité Bindu — er ist Shiva (shiva-svarüpa). Über dem Bindu kommt, einer Ardha-Mäträ ähnlich, die Shakti Bodhini; als nächstes folgt der Näda, er ist die Shiva-Shakti-Union und ähnelt einem (zunehmenden) Halbmond; als nächstes kommt (über diesem) der Mahänäda, er ist pflugähnlich; über dem Mahänäda befindet sich die Vyäpikä-Shakti, der Eorm nach eine krumme Linie (änji); über dieser letzteren liegt der Samani, und der höchste von allen diesen ist der Unmani. So lautet die Reihenfolge, in der die sieben Kausalformen (kärana-rüpa) festgelegt sind. Auf weitere Einzelheiten einzugehen erübrigt sich. W ir wollen dann im Text fortfahren. Er will das Sahasrära beschreiben und spricht davon in zehn weiteren Versen. »Über allen diesen« (tadürdhve). — Über allen Dingen, die er zuvor beschrieben oder besprochen hat. »Über dem Gipfel der Shankhim-Nädi« — worüber dem Schüler ein Einblick gewährt worden ist. »Leerer Raums (shünya-desha) — d. i. der Ort, wo es keine Nädis mehr gibt; daraus können wir folgern, daß er über der Stelle liegen muß, w o die Sushumnä endet. » Unter der Visarga liegt der Tausendblättrige Lotos«. — Der Sinn der Shloka ist dieser: Die Visarga liegt im Oberteil der Brahmarandhra. Cf.: »(Versenke dich) in jene Öffnung auf der immer wonnevollen und fleckenlosen Visarga.« Es gibt noch weitere ähnliche Textstellen. »Sein Blütenleib erstrahlt in« usw. (lalätädyaih varnaih pravilasitavapuh). — Das W ort Lalätä steht an stelle des ersten Vokals A. Darunter haben wir zu verstehen, daß beim Auf­ zählen der Alphabetbuchstaben das zweite Lakära (L) auszulassen ist. Beim Aufzählen der fünfzig Buchstaben wird das zweite Lakära488 stets weggelassen. Wenn man den Text, wie es einige tun, als »Lakärädyaili Varnaih« liest, muß man beim Buchstabenaufzählen das Ksha-Kära auslassen. Man könnte die einundfünfzig Buchstaben auf die Sahasrärablätter sonst nicht unterbringen489. Zwanzigmal wiederholt ergeben die einundfünfzig Buchstaben die Zahl 1020, und neunzehnmal wiederholt: 969. Lassen wir Ksha-Kära aus, dann haben wir diese Schwierigkeit beseitigt. »Lakärädyaih« heißt nicht, daß die Buchstaben in der Viloma (Reihenfolge)490 zu lesen seien. Das Kankäla-Mälini zeigt im folgenden Passus ganz genau, daß man sie in der Anuloma491 lesen soll: »Der große Sahasrära Lotos ist weiß und läßt den K opf nach unten hängen; ihn verzieren die leuchtenden Buchstaben, die mit A-Kära (A) beginnen und mit dem letzten Buchstaben vor Ksha-Kära (K?ha) aufhören.« Hier wird deutlich erklärt, daß der Buchstabe Ksha ausgelassen ist.

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Akärädi-Ksha-Käräntaih: dieses zusammengesetzte Ksha-Käränta würde, wenn es durch die Bahu Vrlhi-Samäsa492 gebildet wird, besagen, daß bei der Berechnung Kshakäi-a aus­ zulassen ist. Über die Buchstabenfarbe wird nichts gesagt, und weil die Mätrikä (Buchstaben) weiß sind, soll man sie auf den Sahasrärablättern auch als weiß annehmen. Diese Buchstaben gehen rechts-links-läufig493 um das Sahasrära. Einige lesen »Pravilasita-Tanuh« statt »Pravilasita-Vapuh« und sagen, weil das W ort »Padma« seinem grammatischen Geschlecht nach (väpumsi padmam) abwechselnd maskulin würde, wäre auch das W ort »Tanu«, das ein W ort im maskulinen Geschlecht qualifiziere, selbst maskulin. Das kann nicht sein. Das Verb Nivasati ( = ist, wohnt) hat im Nominativ Padmam, und weü es mit dem Bindu (m) aufhört, steht es im Neutrum und nicht im Masku­ linum. In diesem Falle würde es nämlich mit einem Visarga (i. e., h) geendet haben, und sein Adjektiv »Tanu« würde ebenfalls mit einem Yisarga enden. Das W ort Tanu (wenn ihre Lesart akzeptiert würde) stünde im Neutrum; deshalb kann es nicht mit einem Bindu enden. Und wenn der Bindu fehlt, dann wird das Silbenmaß defektiv. Darum lautet die korrekte Lesart: Pravilasita-Vapuh. Der Rest ist klar.

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VERS 41

Samaste tasyäntah áaéaparirahitah áuddhasampürnacandrah sphurajjyotsnäjälah paramarasacayasnigdhasamtänahäsi. Trikonam tasyäntah, sphurati ca satatarh vidyudäkärarüpam tadantahsunyarh tatsakala-suragamiih sevitarh cätiguptam.

Im (Sahasrära) Innern ist der Vollmond ohne die Hasenspur494, strahlend me am klaren Himmel. In verschwenderischer Fülle verbreitet er sein Strahlenlicht und ist feucht und kühl wie Nektar. Im Innern (des Chandra-Mandala) befindet sich das unaufhörlich blitzartig leuch­ tende Dreieck4S5, und in diesem wieder strahlt die Große Leere496, die insgeheim von allen 8urasw~ verehrt wird. KOMMENTAR Hier bespricht er das in der Sahasrärafruchthülle vorhandene Chandra-Mandala. »Strahlend wie am klaren Himmel« (shuddha) — wie man ihn am wolkenlosen Himmel sieht (nirmalo-daya-vishishta). »Ist feucht und kühl« usw. (parama-rasa-chaya-snigdha-santäna-häsi). — Snigdha, das frisch, feucht, bedeutet, charakterisiert hier die Feuchtigkeit des Nektars. Parama-Rasa (amrita) ist ohne Wärme. Dieses zusammengesetzte W ort will also besagen: sein Strahlen­ licht wirkt kühl und feucht und ruft ein Gefühl heiterer Freude hervor. Das Kankäla-Mälinl erwähnt den im oberen Teil des Raumes unter dem Chandra-Mandala anwesenden Antarätmä usw. Bei der Behandlung des Sahasrära sagt es: »In der Fruchthülle, o Deveshi, ist der Antarätmä. Darüber befindet sich der Guru. Süryamandala und Chandra­ mandala sind auch hier. Über diesem kommt der Mahä-Väyu, dann folgt die Brahma-Randhra. In dieser Öffnung (randhra) ist der Visarga, das ewig wonnevolle Brahman. Über diesem letzten (tadürdhve) kommt die DevI Shankbinl, sie erschafft, erhält und zerstört.« »Im Innern des Chandra-Mandala leuchtet unaufhörlich blitzartig das Dreieck« (trikonam tasyäntah vidyudäkärarüpam). — Das heißt, dort stellt das leuchtende Dreieck. »In diesem strahlt die Große Leere« (tadantah shünyam sphurati). — Das, was wie eine Leere im Innern ist, der Körper des Parabindu (parabindusharlram). Im Dreiecksinnem leuchtet der vortreffliche Bindu (shünya) oder: im Dreiecksinnem leuchtet der Shünya, der vortreffliche Bindu. Cf. das Todala Tantra, 6. Ulläsa: »Das höchste Licht ist formlos (niräkära), und der Bindu ist unvergänglich. Bindu bezeichnet die Leere (shünya) und umfaßt auch die Gunas498.« »Insgeheim verehrt« (sevitam chätiguptam). — Die Regel lautet: »Essen (ähära), Stuhlgang (nirhära), Geschlechtsverkehr (vihära) und Yoga sollen von dem, der sich im Dharma aus­ kennt, insgeheim vorgenommen werden.« Deshalb dienen ihm oder verehren ihn die Suras (devas) insgeheim.

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Abb. V III Sahasrära-Chakra

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VERS 42 Suguptam tadyatnddatiéayaparamamoda-samtánardáeh param kandam süksmam sakaldáaéikalasuddharüpaprakdáaih Iha sthäne devah paramaiivasamäkhyänasiddhah prasiddhah svarüpi sarvätmä rasavirasanutozgüänamohändhahaihsah.

Gut verborgen und nur mit großer Anstrengung zu erreichen ist der subtile Bindu (shü nya), er gilt als die Hauptwurzel der endgültigen Erlösung, er manifestiert die reine Nirväna-Kalä mit der Am ä-Kaläiei. H ier herrscht der Deva, den alle als Parama-Shiva kennen. E r ist das Brahman und der Ätm ä aller Lebewesen. In Ihm sind verschmolzen Rasa und auch Virasam , und Er ist die Sonne, die das Dunkel der Unwissenheit501und des Irrtum s502vernichtet. KOMMENTAR Der Sinn ist: der leere Raum (shünya) ist sehr verborgen und subtil, weil er, wie ich das später noch beschreiben werde, an Größe dem zehnmillionsten Teil einer Haarspitze gleich­ kommt. Er ist nur durch eine sehr mühevolle, langandauemde und beständige Ausübung der Dhyäna und ähnlicher Praktiken zu erreichen. Er offenbart die Reinheit der sechzehnten Mond-Kalä zugleich mit der Nirvana Kalä — d. h., durch Meditation (dhyäna) verwirklicht er (prakäsham bhavati) die Leere (antah-shünya) zugleich mit der Amä Kalä und der Nirvana Kalä im Dreiecksinnern. Er ist der Urquell für die gesamte erhabene Wonne, für die endgültige Erlösung. Einige jedoch lesen »Sakaia-Shashi-Kalä-Shuddha-Rüpa-Prakäsham« als »quali­ fiziert die große Leere im Dreiecksinnern«, übersetzen »Sakala« dem Sinne nach als »mit allen sechzehn Kaläs« und sagen, der Parabindu offenbare den Mond mit diesen Kaläs. Das erfordert einige Überlegung. Wenn gesagt wäre, das Trikona (Dreieck) befinde sich im Vollmondinnern, dann wäre seine Wiederholung überflüssig. Überdies erfuhren wir im vorigen Vers »von den Suras verehrt«. Der Terminus »Verehrung, Huldigung« einem leeren Raum gegenüber wäre unangebracht. Das Verehrungsobjekt ist der Bindu im Dreiecksinnern. Und wenn gesagt worden wäre, die Leere sei wegen des dort anwesenden Para Bindu zu verehren, dann handelte es sich wegen des hier vorhandenen Para Bindu nicht mehr um einen leeren Raum. »Gut verborgen« (suguptam) — weil er nicht größer als der zehnmillionste Teil einer Haarspitze ist. »M it großer Anstrengung« (yatnät) — d. h., durch eine lange fortdauernde Meditations­ praxis (dhyäna) usw. »Hauplwurzel« (param kandam)603. — Im allgemeinen heißt para: erhaben, vorzüglich; hier heißt es: die erste, hauptsächlichste. Kanda = Müla. »Erlösung« usw. (atishaya-paramämodasantäna-räshi). — Der zusammengesetzte Ausdruck heißt wörtlich: der ununterbrochene Zusammenhang der Gesamtmasse großer und erhabenster Wonne — das ist die endgültige Erlösung (moksha). »Er manifestiert usw. die Amäkalä« (sakala-shashi-kalä-shuddha-rüpa-prakäsham). — Dieser Wortkomplex muß folgendermaßen zerlegt werden: Sakala = mit der Kalä: Kalä bezeichnet hier die Nirväna Kalä. In dem Worte ShashiKalä bezeichnet Kalä die Amäkalä, die sechzehnte Mond-Kalä oder den sechzehnten Mond­ finger. Shuddha = rein; der Glanz wird durch nichts getrübt. Der Sinn ist der, daß der Parabindu, obgleich er subtil und sonst unwahrnehmhar ist, durch Meditation (dhyäna) mit der Amäkalä und Nirvänakalä zusammen im Trikona gesehen wird. Wenn man statt Sugup­ tam Sugopyam liest, dann würde es durch Yatnät näher bestimmt. Einige lesen Sakala-Shashi-Kalä-Shuddha-Rüpa-Prakäsham als nähere Bestimmung für den Shünya aus dem vorigen Vers und sagen, Shünya bedeute »leerer Raum«, das aber wäre sinnwidrig604.

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Als nächstes spricht er über den in der Sahasrära-Fruchthülle anwesenden Parama-Shiva. »Paramashiva«605 (paramashiva-samäkhyäna-siddha). — Er, den man unter dem Namen Parama Shiva kennt. »Das Brahmam (kharüpi)506. — Kha = Ätmä, der Geist. »Der Ätmä aller Lebewesen« (sarvätmä). — Sarva = alle (Wesen). Er ist der Jlvätmä, doch in Wirklichkeit gibt es keinen Unterschied zwischen Jivätmä und Paramätmä. Der Ätmä ist der Jiva. Das Adhyätma Rämäyana sagt: »Der Jivätmä ist nur eine andere Bezeich­ nung (paryäya) für den Paramätmä. Und wenn der Schüler durch die Belehrungen im Äohärya und in den Shästras ihre Gleichheit erkannt hat, besitzt er die Mülavidyä in bezug auf Jivätmä und Paramätmä.« Auch das Shruti identifiziert, wenn es sagt »Das bist Du« — Tat tvam asi507 —, das tvam (Du) mit dem Tat (das). »Basa und Virosa« (rasa-virasamita). — Rasa ist Paramänanda-Rasa — d. h., die Erfahrung der Höchsten W onne508. Virasa ist die Wonne, die bei der Shiva-Shakti-Union aufkommt. Er ist beides. Oder Rasa könnte die natürliche Verhaftung an Weltgenuß, und Virasa die Loslösung hiervon bedeuten. Der Sinn wäre dann: In Ihm ist die Höchste Wonne, sie ent­ springt aus seiner Losschälung vom Weltgenuß509. »Die Sonne« = Hamsa. W ie gleichsam die Sonne Finsternis zerteilt, so vertreibt Er Un­ wissenheit (ajnäna) und Irrtum (moha).

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VERS 43

Sudhädhäräsäram niravadhi vimuncannatitaräm yateh, svätmajnänam diéati bhagavän nirmalamateh. Samaste sarveéah sakalasukhasarhtänalahari pariväko harhsah parama iti nämnä paricitah.

Einen unaufhörlichen und verschwenderischen Strom nektarähnlicher Substanz ausgießend510 belehrt der Bhagavän611 den Yati512 reinen Gemüts in dem Wissen, wie man die Gleichheit von Jivätmä und Paramätmä vervjirklicht. Er durchdringt alle Dinge als ihr Herr, er ist immer der fließende und sich ausbreitende Wonnestrom aller Art, und man kennt ihn unter dem Namen Hamsah Parama (parama-hamsah). KOMMENTAR

»Unaufhörlich und verschwenderisch« (niravadhi atitaräm). »Einen Strom nektarähnlicher Substanz ausgießende (sudhä-dhäräsäram vimunchan). — Das zusammengesetzte W ort kann auf viererlei Art gebildet und gedeutet werden: 1. Einen Strom nektarähnlicher Substanz ausgießend. 2. Ädhära (das Behältnis) für Sudhä (den Nektar) ist das Sudhädära, damit ist der Mond gemeint; Äsära ist das daraus Fließende: ein Strom. Nun, das aus dem Mond Fließende ist Nektar, er ist silbern; deshalb bezeichnet das ganze W ort »Die silbernen Mondstrahlen«. Dieses Adjektiv weist darauf hin, daß das näher bestimmte Hauptwort rein oder durch­ scheinend wie der Mond ist. Ausgießend, verbreitend = vimunchan. 3. Äsära wieder kann heißen: »das Ausgesprochene«, das »Wort«. Sudhädhära = Behälter für Süßigkeit, er ist eine Eigenschaft des Nektars; deshalb bezeichnet Sudhädhäräsäram = das nektarglciche oder ambrosische Wort. Der Wortsinn von Niravadhi wäre dann »zu allen Zeiten«, und Atitaram wäre »mächtig im Zerstören des Dunkels von Unwissenheit oder Irrtum«. Vimunchan müßte dann »hervorbringend« heißen. 4. Sudhä wieder kann den »Nektar der Gnade« bezeichnen, und Sära ist die »Substanz«, d. h., die Substanz des Brahma-Mantra; Dhärä ist ein Strom (eine stete Wiederholung) des barmherzigen Wortes, das den Wesenskern des Brahma-Mantra enthält. » Belehrt den Yati« usw. (bhagavän nirmala-mater yateh svätmajüänam dishati). »Yati«. — Einer, der mit gespannter Aufmerksamkeit im Geiste beim Devatä seiner Verehrung verharrt. » Wissen, wie man usw. . . . Paramätmä« (svätma-jüäna): Svam = Jivätmä und Ätm ä = Paramätmä; Jüäna513 ist das, wodurch man erkennt — nämlich, das Täraka-Brahma-Mantra, das zu einem Erkennen des Paramätmä führt und damit dem Verehrer hilft, die Gleichheit von Jivätmä und Paramätmä zu verwirklichen. Dishati = Upadishati (er belehrt). Die näher bestimmenden obigen Ausdrücke besagen also, daß das qualifizierte Hauptwort der Guru ist, da die Anweisungen bezüglich des Täraka-Brahma-Mantra von ihm ausgehen. So be­ stimmt es auch den «Parama-Shiva« im vorigen Vers näher, denn Er ist der Guru. Cf. die Guru-Tattva-Nirüpana im Lalitä-Rahasya. Nach der Beschreibung des Guru als dem »gutbekannten und unübertrefflichen Purusha, der sich in den Genuß mit dem Selbst immer gern vertieft514 (ätmä-ratipriya)«, sagt es im weiteren: »Seine Geliebte ist die durch den Brahma-Vartma (Brahmanpfad) mühsam erreich­ bare Glanzvolle. Der Parama Brahman ist nur die Ausstrahlung Ihrer Lotosfüße.« Der obige Passus bringt zum Ausdruck, daß die erhabene Schönheit Ihrer Lotosfüße den Herzlotos Parama Shivas — d. i. der Para Brahman, überdeckt. Der Standort für die Füße der strahlenden (tejo-rüpa) Geliebten (Shakti) des Guru ist die Brust des Guru615 und nicht

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die irgendeines andern Purusha. Deshalb sind Parama Shiva und Guru ein und dieselbe Person. Auch das Nirvana Tantra sagt610: »Im Kopflotos ist Mahädeva — der Parama Guru: in den drei Welten gibt es niemanden, o DeveshI, der die Verehrung so verdient wie Er. 0 Devi, meditiere über seine Gestalt617, sie enthält alle vier Gurus618.« Dieser Parama Shiva befindet sich außerhalb des in der Fruchthülle gelegenen Dreiecks und über dem Hamsah, über diesen sprechen wir weiter unten. Das Kamkäla-Mälinl Tantra619 sagt: »In der Fruchthülle dieses Lotos, 0 DeveshI, ist der Antarätmä, und über ihm ist der Guru. Das Sonnenmandala und das Mondmandala sind auch hier.« Und nachdem es dann die verschiedenen vorhandenen Dinge der Reihe nach bis zur Mahä-Shamkhinl besprochen hat, fährt es fort: »Darunter, o DeveshI, ist Trikona (das Dreieck), es liegt im Mondmandala; und nachdem man dort über die unvergängliche Kalä meditiert hat, soll man in seinem Innern über die siebzehnte Kalä, die sogenannte Nirvana Kalä (nachsinnen), sie ähnelt einem zunehmenden Halbmond« (kutilä)620. Der obige Passus spricht von der im Dreiecksinnern im Chandra Mandala anwesenden Amä Kalä usw. Folglich ist der Guru unter ihnen und über dem Antarätmä. Wenn nun gefragt wird, das Kamkäla-Mälinl hat doch den Guru über den Antarätmä gesetzt, wie kommt es, daß man den Guru dann über den Hamsah setzt ? — wäre die Antwort darauf: Antarätmä und Hamsah sind ein und dasselbe. Cf. die Guru-Dhyäna im Kamkäla-Mälinl621: »Meditiere über deinen auf dem vortrefflichen Antarätmä zwischen Näda und Bindu untergebrachten und auf einem leuchtenden Thron (simhäsana) sitzenden Guru« usw. Desgleichen anderswo: »Meditiere über deinen auf dem Hamsapltha (d. i. mantramaya) sitzenden Guru, er ist das Ebenbild Shivas Selbst.« Ver­ gleiche auch das Annadä-Kalpa Tantra622: »Meditiere über deinen Guru im weißen Tausend­ blättrigen Lotos im K op f; er ist der Parama Shiva Und sitzt auf dem Hamsa zwischen den Staubfäden.« Bei einer sorgfältigen Betrachtung obiger Quellen wird die Identität von Hamsa und Antarätmä offenbar. Unter dem Ausdruck »sein eigener Guru, der der Parama Shiva ist« hat man zu verstehen, daß Parama Shiva selbst der Guru ist. Der folgende, auf das Sahasrära bezogene Passus zeigt, daß der Parama Shiva sich im Dreieck befindet: »Im (Sahasrära) Innern oder dicht dabei liegt das blitzartig leuchtende Dreieck, und im Dreiecksinnern finden wir die beiden Bindus, die den unvergänglichen Visarga bilden. D ort im leeren Raum ist der Parama Shiva.« Diese einander widerstreitenden Ansichten führen zu dem Schluß, daß der Guru sich im Dreiecksinnern in der Fruchthülle des nach oben gedrehten zwölfblättrigen Lotos befinden muß, der unter der Sahasrärafruchthülle liegt und mit dem Sahasrära un­ trennbar verbunden ist. Das ist im Pädukä-Panchaka-Stotra623 klargestellt worden. Aus diesen Textstellen kann man nicht folgern, daß der Guru sich im Dreiecksinnern in der Sahasrärafruchthülle befinde. Der dreiseitige Hamsa findet sich unterhalb des Mitteldreiecks; andernfalls würde das mit der Glaubwürdigkeit des Kamkäla-Mälinl-Tantra in Widerspruch stehen. »Er durchdringt alle Dinge als ihr Herrn (samaste sarveshah) — d. h., in dieser Fruchthülle weilt Er, der Herr des Alls. Wenn man nun sagt, Parama Shiva sei dort, so wird damit zum Ausdruck gebracht, daß Ishvara (der Höchste Herr) sich dort befindet; warum dann diese Wiederholung? Diesem Handeln liegt ein bestimmter Zweck zugrunde, wie die folgenden näherbestimmenden Darstellungen es zeigen werden. Sarvesha (der Höchste Herr des Alls) ist der Hamsa — i. e., Er ist das Mantra »Ham-Sah«. Cf. das Prapancha-Sära: »Die mit dem Namen Tattva Bezeichnete ist Chinmäträ624: wenn sie durch die Lichtnähe zum Schaffen wollen angeregt wird626, verdichtet sie sich (ghanlbhüya) und nimmt Binduform an. Allmählich teilt sie sich dann in zwei: der eine Teil zur Rechten ist der Bindu, der zur Linken ist der Visarga. Der rechte wird als männlich, der linke als weiblich unterschieden. Ham ist der Bindu, Sah ist der Visarga; Bindu ist Purusha, und Visarga ist Prakriti; Hamsah ist die Vereinigung von Prakriti und Purusha, er erfüllt das Universum.« Das Mahäkäll Tantra (Patala I) äußert sich klar über das Thema: »Im leeren Raum 628 im Chandra-Mandala627, das, mit einem himmlischen Zugang geschmückt, im Sahasrärainnem liegt, findet man die Buchstaben Ham und Sah, über diese und über ihn, der rein wie ein Bergkristall und in reinweiße Seidengewänder gekleidet ist (stelle man seine Betrach­ tungen an) usw.«. Hier werden die Buchstaben Ham und Sah ausdrücklich erwähnt. Oder wenn Hamsa und Parama als Hamsa und als Parama getrennt zu lesen wären, dann wäre der Sinn »Er, der als Hamsa und als Parama erkannt wird«. Der Verfasser selbst

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spricht im neunundvierzigsten Vers von ihm als dem Hamsa. Doch wenn die beiden Worte zusammen gelesen werden sollen, wäre der Sinn: »Er, der unter dem Namen Parama-Hamsa bekannt ist«, wobei das W ort »Antah« weggefallen ist, weil jenes W ort durch eine Ausnahme­ regel des Karmadhäraya Samäsa zustandegekommen ist. Cf. das Ägama-Kalpa-Druma: »Er heißt Parama-Hamsah und erfüllt alles Bewegliche und Unbewegliche.« »Er ist der immer fließende« usw. (sakala-sukha-santäna-lahari-pariväha) — d. h., in ihm offenbart sich auf jede mögliche Weise unvergängliche und allmählich anschwellende Glück­ seligkeit aller A rt; mit anderen W orten: Er ist gleichsam eine unendliche Glückskette. Es ist früher bereits erwähnt worden, daß dieser Hamsa sich unter dem Parama Shiva befindet.

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VERS 44 Sivaathänam éaivah paramapurusam vaisnavaganä lapantlti präyo hariharapadam kecidäpare. Pabarn devyä devicaranayugalärhbhojarasikä munindrä apyanye prakrtipurusasthänamamalam.

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Die Shaivas nennen ihn die Wohnung Shivas323; die Vaishnavas nennen ihn Parama Purusha 529; andere wieder bezeichnen ihn als den Ort des Hari-Harai30. Diejenigen, die mit leidenschaftlichem Eifer nach den Lotosfüßen der Devi s31 trachten, nennen ihn den vorzüglichen Aufenthalt der D evi3 und andere große Weise (munis) bezeichnen ihn als die reine Stätte des Prakriti-Purusha 532. KOMMENTAR Als Hamsa, der alle Devatäs (sarvadevatämaya) und alles in dieser Fruchthülle befindliche Andere in sich faßt, gilt er für alle Verehrerklassen — beispielsweise für die Shaivas, Shäktas u. a. — als die Stätte für den persönlich verehrten Devatä. »Die Shaivas« — d. h. die Shiva-Anbeter — nennen ihn den Ort Shivas. »Die Vaishnavas533 nennen ihn Parama Purusha« — i. e., die Stätte Parama Purushas oder Vishnus. »Andere wieder« (kcchid apare) — i. e., andere, nämlich die Hari-Hara-Verehrer oder, mit anderen Worten, diejenigen, die den mit Shiva vereinigten Vishnu, und nicht den Shiva allein oder den Vishnu allein, verehren, bezeichnen ihn als den Ort des Hari-Hara534. Sie nennen ihn weder den Ort Haris (Vishnus) noch den Ort Shivas (Haras), sondern halten ihn für die Stätte ihrer verschmolzenen Selbste. »Andere große W eise635« (munindrä apyanye). — Hiermit meint der Verfasser die Verehrer des »Hamsah« Mantra, diese bezeichnen ihn als die reine Stätte des Prakriti-Purusha. Hamsali ist die Verschmelzung von Prakriti und Purusha536, deshalb gilt er als der Ort für Prakriti und Purusha. Da dieser Lotos als die Wohnstatt für den Para Bindu angesehen wird, in welchem alle Devatäs existieren, bezeichnet ihn jeder Verehrer, wie aus dem oben Gesagten hervorgeht, als den Ort für den von ihm persönlich verehrten Devatä.

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VERS 45 Idarh sthänam jñdtva niyatanijacitto naravaro na bhüyät sarhsäre punarapi na baddhastribhuvane. Samagrä ¿aktih syänniya mamanasastasya krtinah sadä kartum hartum khagatirapi väni suvimalä.

Jener höchst vortreffliche Mann, der sein Gemüt637 beherrscht und diesen Ort erfahren hat, wird in die Wandelwelt63* nicht mehr wiedergeboren, weil es in den drei Welten nichts mehr gibt, was ihn fesseln könnte. Da er sein Chitta unterworfen und sein Ziel erreicht hat, besitzt er die vollkommene Gewalt, alles zu tun, was er will und alles das zu verhindern, was sich seinem Willen widerselzt. E r bewegt sich nur auf den Brahman zu633. Seine Rede, sei sie in Prosa, sei sie in Vers, ist immer rein und wohlklingend. KOM M ENTAR In diesem Vers äußert er sich, über den Vorteil einer vollständigen Kenntnis des Sahasrära. Was er uns hiermit begreiflich machen will, ist, daß wir ein Wissen um diesen Ort als Ganzes wie im einzelnen erstreben sollen. »Der sein Gemüt beherrscht hat« (niyata-nija-chitta) — i. e., wer die inneren Geisteskräfte gezügelt und auf diese Stehe konzentriert hat. Ein solcher befreit sich vom Samsära oder wird, mit anderen Worten, aus der Knechtschaft erlöst, weil es nichts mehr gibt, was ihn in diesen Welten binden oder fesseln kann. Unter Knechtschaft haben wir die mayischen Fesseln von Tugend (punya) und Sünde (päpa) zu verstehen. Der Bhägavata spricht: »Wenn das Handeln, das aus der Gunaswirkung entspringt, dem Selbst beigemessen wird, dann ist eine solche (falsche) Zuerkennung Knechtschaft, Samsära und Sklaverei.« Cf. auch die Bhagavad-Gitä: »Ö Kuntl-Sohn, der Mensch ist gebunden durch die Tat, die seiner eigenen Natur (sva-bhäva) entspringt540.« Diesen K örper bewohnen mit dem Vorsatz, Sünde und Tugend (päpa und punya) zu erfahren, ist Leibeigenschaft. Im Himmel ergötzt man sich an der (Frucht der) Punya, in der Unterwelt (pätäla) erleidet man Qualen, und auf Erden ist man beidem, Päpa und Punya, ausgesetzt. Für den Tattva-Jnänl (Erkenner des wahren Soseins) gibt es weder Punya noch Päpa, denn sie sind die Urheber der Knechtschaft; sein von Lohn (punya) und Schuld (päpa) angehäuftes (sanchita) Karma ist also erloschen. Folglich hat er keine Ver­ pflichtung mehr, weder im Himmel (svarga), noch auf Erden (martya), noch in der Unterwelt (pätäla), er ist in Wahrheit nicht mehr verkörpert541. Ein solcher weilt auf Erden nur noch so lange, bis er das Angefangene vollendet hat. Er ist erlöst bei lebendigem Leib (jivanmukta) und gewinnt beim leiblichen Tod die endgültige Erlösung. Das Kulämava Tantra sagt: »Diejenigen, die den Brahman im Herzen tragen, können sich durch die Darbietung von hundert Roßopfern weder einen Vorteil erwerben noch durch die Tötung von hundert Brähmanas ein Verschulden zuziehen.« Die Gitä (III/18) sagt gleich­ falls: »Für ihn gibt es nichts in dieser Welt, das getan oder nicht getan werden müßte. Für einen solchen gibt es keine Verkettung an ein Sein642.« Das Shruti544 äußert sich über die Vernichtung aufgehäufter (sanchita) Punya und Päpa folgendermaßen: »Wenn sich das Manas, das bald auswählt und bald verwirft, in das >Dies< aufgelöst hat; wenn Päpa und Punya vernichtigt (wörtlich: verbrannt) sind, ist Sadäshiva — d. i. Shakti und Ätmä (cf. Hamsah, ante) — Shänta646.« Cf. die Bhagavad-Gitä: »Und so zerstört das Erkenntnisfeuer alle Handlungen546.« » Vollkommene Gewalt« (samagrä shaktih) — d. h., eine Kraft, die ihn befähigt, alles zu tun. Mit Kraft, Shakti, ist das Vermögen gemeint, alles zu tun, was er tun m öchte647, alles Böse zu verhindern, durch die Luft zu fliegen648 und sich den Besitz großer Fähigkeiten in sprachlicher und dichterischer Ausdruckskunst zu verschaffen.

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VERS 46 Aträste ¿iéusüryasodarakald candrasya sä sodaii éuddkd nirajasükgmatantvJatadhäbhägailcarüpä parä. Vidyutkotisamänakomalatanürvidyotitädhomukhi 1nityänandapararhparätivigalat-piyü?adhärädharä.

Hier herrscht die vortreffliche (höchste) sechzehnte Mond-Kalä. Sie ist rein, und (ihre Farbe) erinnert an die frühe Morgensonne. Sie ist so fein wie der hundertste Teil einer Lotosstengelfaser. Sie strahlt549wie Zehnmillionen aufleuchtender Blitze und ist dennoch mild, sie ist nach unten gerichtet. Der Brahman ist ihre Quelle, und in verschwenderischer Fülle ergießt sie den ununter­ brochenen Nektarstrom 650 (oder: sie ist das Behältnis fü r den Strom des köstlichen Nektars, der bei der beseligenden Vereinigung von Para und Parä ausfließt) 551. KOM M ENTAR Vers 41 und Vers 42 besprechen die Gegenwart der Amä-Kalä, der Nirväna-Kalä und des Para Bindu im Dreiecksinnern in der Sahasrärafruchthülle. Jetzt will er sie nach ihren besonderen Wesensmerkmalen beschreiben und spricht in diesem Vers über die wesentlichen Charakteristika der Amä-Kalä. i>Vortreffliche oder höchste« (parä) — d. h., sie ist Chit Shakti. In der Prabhäsa-Khanda finden wir folgenden Passus: »Die vortreffliche Mäyä, die den Körper aller, die einen Körper haben, am Leben erhält.« Das ist ein Attribut der Amä. »Die sechzehnte Mond-Kalä« (chandrasya shodashi). — Darunter ist zu verstehen, daß er von der Amä-Kalä spricht652. »Reine (shuddha) — d. h., makellos. »Sie erinnerte usw. (shishu-sürya-sodara-kalä). — Damit wird die R öte dieser Kalä be­ zeichnet. »Fein wie der hundertste Teil einer Lotosstengelfasere (niraja-sükshma-tantu-shatadhäbhägaika-rüpä). — So dünn wie der hundertste Teil der Faser in einem der Länge nach gespaltenen Lotosstengel. »Der Brahman ist ihre Quellee (nityänanda-paramparä). — Nityänanda = Pürnänanda = Brahman. »Ergießte usw. (ativigalat-plyüsha-dhärä-dharä). — Wenn man die beiden letzten W ort­ komplexe folgendermaßen als einen langen Wortkomplex liest: Pürnänanda-paramparätivigalat-piyüsha-dharä-dharä —, dann wäre sein Sinn so, wie ich ihn am Versende einge­ klammert wiedergegeben habe. Änanda wäre dann die Vereinigungswonne, und Param-Parä bezeichnete dann Shiva und Shakti. Para = Bindurüpa, Shiva. Parä = Prakriti, Shakti. Änanda ist die aus der Vereinigung der beiden aufkommende selige Lust; aus einer solchen Union fließt der Nektar, der die Amä-Kalä zum Behältnis hat.

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VERS 47 Nirvdndkhyakalä para paratarä säste tadantargatä keiägrasya sahasradhä vibhajitasyaikdméarüpd satt. Bhutänämadhidaivatarh bhagavati nityaprabodhodayd candrdrdhdngasamdnabhanguravail sarvärkatulyaprabhd.

Im Innern (der Amd-Kald) befindet sich die Nirvdwi-Kald, sie ist noch vortrefflicher als die Vortreffliche. Sie ist so subtil wie der tausendste Teil einer Haarspitze und hat die Form des zunehmenden Mondes. Sie ist die immer bestehende Bhagavati, sie ist die Devatd, die alle Wesen durchdringt. Sie gewährt göttliche Erkenntnis und strahlt so hell wie clas Licht aller gleichzeitig leuchtenden Sonnen. KOMMENTAR In diesem Vers wird die Nirväna-Kalä beschrieben. »Im Innern« (tadantargatä) — d. i., im Schoß553 der Amä-Kalä untergebracht. Die Kalä ist bereits beschrieben worden554 als die »unter dem Namen Nirväna-Kalä bekannte und in der Amä gelegene zunehmende siebzehnte Kalä.« » Vortrefflicher als die Vortreffliehe« (parä paratarä). — Die Amä-Kalä ist vortrefflich; doch diese ist vortrefflicher als die Amä. Wenn man statt »Parä Paratarä« »Parätparatarä« akzeptiert, wäre der Sinn: sie ist die vortrefflichste. »Sie ist so subtil uñe . . . Haarspitze« (keshägrasya sahasradhä vibhajitasyai-kämsha-rüpä). An Ausdehnung ist sie gleichsam so groß wie der tausendste Teil einer Haarspitze, so äußerst fein ist sie. »Hat die Form des zunehmenden Mondes« (chandrärdhänga-samäna-bhanguravati) — wie die Amä-Kalä ist sie halbmondförmig. »Die Devatd, die alle Wesen durchdringt« (bhütänäm adhidaivatam). — Adhidaivatam = Härdda-Chaitanyam555, und diese Kalä ist die Härdda-Chaitanya-Svarüpä aller Wesen. »Sie gewährt göttliche Erkenntnis« (nitya-prabodhodayä) — d. h., sie gewährt Tattva- Jnäna (Einsicht in das wahre Sosein) oder das Wissen um das Brahman. »Und strahlt so hell« usw. (sarvärka-tulya-prabhä). — Zw ölf Sonnen gibt es (dvädashäditya). »Wenn alle zwölf Sonnen leuchten« — so hell ist ihr Glanz. Dieses Adjektiv besagt auch, daß sie rot ist.

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VERS 48

Etasyä madhyadeée vilasati paramäpürvanirvänaSaktih kotyädityaprakädä tribhuvanajanani kotibhägaikarüpä. KeSägrasyätisüksmä niravadhi vigalatpremadhärädharä sä sarvesarh jivabhütä munimanasi mudä tattvabodham vahanti.

In ihrem Mittelraum (d. h., in der Mitte der Nirväna-Kalä) leuchtet die Höchste und TJranfängliche Nirväna Shakti666 sie leuchtet wie Zehnmillionen Sonnen und gilt als die Mutter der drei Wellen. Sie ist äußerst subtil, gleichsam wie der zehnmillionste Teil einer Haarspitze. Sie enthält in ihrem Innern den ununterbrochen fließenden Freudenstrom557 und ist das Leben aller Wesen. Das Wissen um die Wahrheit (tattva) 658 gießt sie huldvoll in die Herzen der Weisen. KOM M ENTAR Er spricht jetzt über den Para-Bindu. »Ihrem « (ctasyäh) — d. h., der Nirväna-Kalä. »Mitten (madhya-deshe). — Im Schoßinnern659. »Die Höchste und Uranfängliche Nirväna Shakti« (paramäpürva nirväna-shaktih = paramä apürva-nirväna-shaktih). — Parama560 — d. i. der Höchste Brahman als Shakti. Apürvä heißt, vor ihr war nichts, als sie am Schöpfungsbeginn zum Vorschein kam. »Leuchtet« (vilasati parama)561 — heißt, sie weilt leuchtend. »Mutter der drei Wetten« (tri-bhuvana-janani) heißt, sie ist der Ursprung für das Universum, das Svarga, Martya, Pätäla und dergleichen in sich fa ß t562.

»Sie ist äußerst subtil, gleichsam wie der zehnmillionste Teil einer Haarspitze« (keshägrasya koti-bhägaikarüpä6tisukshmä). — W eil sie so fein wie ein Zehnmillionstel Haarspitze ist, ist sic äußerst subtil. »Sie enthält in ihrem Innern den ununterbrochen fließenden Freudenstrom» (niravadhivigalati-prema-dhärä-dharä). — Prema bezeichnet die durch die Glücksempfindung hervor­ gerufene Weichherzigkeit; d. h., sie enthält in sich den unaufhörlich fließenden Strom des köstlichen Nektars, der der beseligenden Einswerdung von Shiva und Shakti entquillt. »Ist das Leben aller Wesen« (sarveshäm jiva-bhütä) — d. h., das belebte Sein ist nur ein Teil von ihr. C f.: »O DevI, wie Peuerfunken aus einer Flamme herausspringen, so fließt gleichsam der Parabindu (als Jiva) aus ihr (der Nirväna Shakti) und wird wissend563, wenn er die Erde berührt664.« Unter »ihr« hat man die im Parabindu vorhandene Shakti zu verstehen, denn der Parabindu ist sowohl Shiva wie Shakti; aus ihr emaniert der Jiva. Die Nirväna Shakti befindet sich unter der Nirväna-Kalä und über der Nibodhikä665, die Nibodhikä ist Näda-Rüpä666. Cf.: »Im Innern der Nirväna (kalä) eingebettet ist die feurige (vahnirüpä) Nibodhikä, sie ist der unmanifestierte Näda567; darüber liegt die höchste NirvänaShakti, sie ist die Ursache für alles und besitzt einen Glanz wie Zehnmillionen Sonnen. Denn in ihr herrscht Brahman668, der imveränderliche Shiva669; an dieser Stelle vergnügt sich die Kundali Shakti mit dem Paramätmä.« Nibodhikä, eine Entwicklungsstufe des Avyakta-Näda (avyakta-nädätmikä), ist feuer­ ähnlich. Räghava-Bhatta sagt: »Von Näda gibt es drei Zustandsformen. Wenn Tamo-Guna vorherrscht, ist er nur unmanifestierter Klang (avyakta-näda)670 von Dhvani-Charakter; wenn mehr Rajo-Guna dominiert, ergibt sich ein Klang, bei dem eine gewisse Buchstaben­ formierung einsetzt571; wenn Sattva-Guna überwiegt, nimmt Näda die Binduform an572.« Daher sind Näda, beziehungsweise Bindu und Nibodhikä Sonne, Mond und Feuer573, und ihre jeweiligen Wirksamkeiten sind Jfiäna, Ichchhä und Kriyä. Jnäna wieder ist Feuer, Ichchhä

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ist Mond, und Kriyä ist Sonne. So heißt es im Shäradä. Deshalb soll der Kluge, weil gesagt wurde, die Nirvana-Shakti befinde sich über der feurigen (vahnirüpä) Nibodhikä, die Schluß­ folgerung daraus ziehen, daß die Nirväna-Shakti über dem Sonnen-, dem Mond- und dem Feuermandala plaziert ist. Im Kulämava Tantra ist das klar zum Ausdruck gekommen in der Para-Brahmadhyäna, die da beginnt: »Der Bindu-Rüpa Para Brahma im Sahasrära« — und endet: »Geschmückt durch die drei Mandalas im Dreiecksinnern in der Prachthülle.« Unter den drei Mandalas haben wir das Sonnen-, Mond- und Feuermandala zu verstehen. Wir werden zeigen, daß die Nirväna-Shakti in Para-Bindu-Gestalt (para-bindu-rüpä) auftritt.

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VERS 49 Tasyá madhyäntaräle éivapadamamalarfi éaévatam yogigamyaih nityänandäbhidhänam sakalasukhamayarh éuddhabodhasvarüpam. Kecidbrahmabhidhánam padamiti sudhiyo vaisnavam tallapanti keciddharhsäkhyametatkimapi sukrtino moksamätma-prabodham.

I n ihrem Innern liegt die immerwährende Stätte, genannt die Wohnung Shivasiu , von Mäyä unberührt, ist sie nur fü r Yogis erreichbar, und man kennt sie unter dem Namen Nityänanda. Angefüllt von Wonne jeder Form hlb, ist sie das Reine Wissen als solches67S. Einige nennen das das Brahman; andere nennen das den Hamsa. Weise Männer schildern sie als die Wohnstatt Vishnus,und Rechtschaffene6’’’’ verherrlichen sie als die unaussprechliche Stätte des Wissens um den Ätmä oder als den Ort der Endgültigen Erlösung. KOM M ENTAR Er spricht über Para-Brahma-Sthäna (die Stätte des Para Brahma) in der Leere im Innern der Nirvana-Shakti. »In ihrem Innern« (tasyäh madhyäntaräle) — i. e., im Innern der in ihrer Param Bindu Form auftretenden Nirväna578 Shakti, d. i. der leere Raum im Binduinnem. »Wohnung Shivase (shivapadam). — Das ist der Ort Brahmans. »Von M äyä unberührte (amalam) — heißt, frei von der Unreinheit der Mäyä. »Genannte — i. e., diejenigen, die das Tattva erkennen, nennen sie so. »Nur fü r Yogis erreichbare (yogi-gamyam). — Wegen ihrer äußersten Feinheit liegt sie jenseits der Reichweite von W ort und Verstand und ist für Yogis nur durch reine Jüäna erreichbar679. »Einige nennen dase — i. e., die Vedantisten (vaidäntikas) nennen sie so. »Unaussprechliche« (kimapi) — heißt, die staunenerregende. »Stätte des Wissens um den Ätmä« (ätmä-prabodham). — Der Ort, w o der Ätmä erlebt oder verwirklicht wird. »Endgültige Erlösung« (moksha) heißt, wo man von der einen rings umgebenden Mäyä befreit ist. Folgende Anmerkung wird jetzt zweckdienlich sein: Der aus Prakriti und Purusha be­ stehende Parabindu ist von Mäyä umgeben680 und liegt im Dreiecksinnem in der Fruchthülle des Tausendblättrigen Lotos. So ist gesagt w orden: »In der Satya-Loka herrscht die formlose und glanzvolle Eine; sie hat sich mit Mäyä umgeben und ist (beschaffen) wie ein Grammköm chen; ohne Hände, ohne Füße und dergleichen. Sie ist Mond, Sonne und Feuer. Wenn sie die Mäyähülle (bandhana) abstreift (utsrijya), wird sie doppelaspektig (dvidhä bhitvä) und Unmukhl681, und bei der Teilung oder Aufspaltung in Shiva und Shakti682 entsteht dann die schöpferische Begriffsbildung583.« Das W ort »Satya-Loka« im obigen Passus bezeichnet das Sahasrära. Cf. auch: »Der attributlose Bindu ist zweifellos der Urgrund für die (Erlangung der) Siddhis. Einige sagen, der makellose (niranjana) allumfassende (mahäpürna) und mit der uranfänglichen Shakti grammkömchcnförmig684 vereinigte eine Deva sei der Brahmä, bei anderen wieder heißt er Vishnu; wieder andere nennen ihn den Deva Rudra.« Der lichtvolle leere Raum im Innern der Nirväna Shakti (d. i. der Außenkreis des Para­ bindu) ist, laut Verfasser, die Wohnung Brahmans (brahmapada), er ist winziger als der zehnmillionste Teil einer Haarspitze. C f.: »In ihrem Innern686 liegt der Parabindu, seine

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Natur ist: erschaffen, erhalten und zerstören. Der Innenraum ist Shiva selbst, und Bindu688 ist Parama-Kundall.« Außerdem: »Die Peripherie (vritta) bildet die Kundalinl-Shakti, sie besitzt die drei Gunas. Der Innenraum, o geliebte Maheshäni, ist Shiva sowohl wie Shakti687.« Dieser Bindu ist, laut Ansicht einiger, Ishvara, die Causa von allem'. Einige Pauränikas nennen ihn MahäVishnu; andere nennen ihn Brahma Purusha. C f.: »Es war weder Tag noch Nacht, weder Firmament noch Erde, weder Dunkelheit noch irgendein Licht ringsum; es herrschte das Dies, der Brahma-Mann888, unwahrnehmbar für das Gehör und für die mit Pradhäna vereinigten anderen Erfahrungsquellen689.« Das Shäradä sagt690: »Der ewige Shiva soll Nirguna (eigenschaftslos) wie Saguna (mit Attributen ausgestattet) erkannt werden. Nirguna ist Er, wenn (man Ihn) von den PrakritiWirkungen entbunden (betrachtet), ist Er aber Sakala (mit Prakriti assoziiert), dann ist Er Saguna691.« Das zeigt, daß der Bindu Saguna Brahman ist. Man sollte wissen, daß Saguna Brahman in Wirklichkeit nur in der Einzahl auftritt, auch wenn Er je nach menschlicher Mentalität mit verschiedenen Namen bedacht wird. In weitere Einzelheiten sich zu ergehen erübrigt sich.

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ZUSAMMENFASSUNG DER VERSE 41-49 Über (dem Ende) der Sushumnä Nädl liegt der Tausend blättrige Lotos; er ist weiß und hat den K opf nach unten hängen; seine Staubfäden sind rot. Die fünfzig ebenfalls weißen Alphabetbuchstaben von A bis La gehen auf seinen tausend Blütenblättem zwanzigmal rundherum. Auf seiner Fruchthülle ist der Hamsah, über ihm kommt der Guru, der ParamaShiva selbst. Über dem Guru stehen das Sürya- und das Chandramandala, und über diesen folgt der Mahäväyu. Über dem Mahäväyu kommt die Brahmarandhra, und über dieser die Mahäshankhini. Im Mondmandala liegt das blitzähnliche Dreieck, in seinem Innern finden wir die sechzehnte Mond-Kalä692, sie ist so dünn wie ein Hundertstel Lotosfaser, ist rotfarbig und hält die Mündung nach unten. Im Schoße dieser Kalä ist die Nirväna Kalä eingebettet, fein wie ein Tausendstel Haarspitze ist sie gleichfalls rot und hält die Mündung nach unten. Unter der Nirväna Kalä herrscht das sogenannte Nibodhikä-Feuer, es ist eine Erscheinungs­ form des Avyaktanäda593. Über ihm (nibodhikä) und im Innern der Nirväna-Kalä ist Para Bindu, er ist Shiva sowohl wie Shakti. Die Shakti dieses Para Bindu ist die Nirväna Shakti, sie ist Licht (tejas), lebt in Hamsahgestalt (hamsarüpä) und ist so fein wie ein Zehnmillionstel Haarspitze. Dieser Hamsah ist Jiva. Im Bindu-Innern liegt der leere Raum (shünya), er ist Brahmapada (die Brahmanstätte). Nach der im fünften Kapitel des Ägama-Kalpa-Druma und in anderen Werken vertretenen Ansicht liegt in der Sahasrärafruchthülle das Dreieck A-K a-Tha594. Seine drei Ecken bilden die drei Bindus: der untere Bindu an der Dreiecksspitze, der Ha-KäraS95, ist männlich (Purusha); die an den übrigen Ecken liegenden beiden Bindus bilden den Visarga in der Sa-Form596 und kennzeichnen die Prakriti. Der Purusha und Prakriti darstellende Hamsah zeigt sich also in der Anordnung von drei Bindus. In seiner Mitte ist die Amäkalä, in ihrem Schoß befindet sich die Nirväna-Shakti, und der leere Raum im Innern der Nirväna-Shakti ist Parabrahman. Man hat gesagt: »Im Mond-Mandala im weißen Tausendblättrigcn Lotos leuchtet blitzartig das mit Ha-La-Ksha597 vereinigte Dreieck A-Ka-Tha. In seinem Innern liegt der unübertreffliche (para) Bindu (shünya) unterhalb des Visarga. In dieser Gegend findet sich die nach unten gerichtete sechzehnte Kalä in der Farbe der aufgehenden Sonne, sie hat die Form des zunehmenden Mondes und ergießt einen Nektar­ strom, in ihr ruht die Parä Shakti, sie verbreitet ein Licht wie zehnmillioncn Sonnen. Sie ist so fein wie ein Tausendstel Lotosfaser und repräsentiert Chidätmikä598. In ihrem Innern liegt Bindu, der Niranjana Purusha, er ist jenseits von Verstand und Sprache und ist Sachchidänanda, und der Visarga (der auch hier liegt) ist Prakriti. Hamsa, der Pum 599 sowohl wie Prakriti ist, leuchtet durch seinen eigenen Glanz.« Diejenigen, die diese Ansicht teilen, setzen Sa-Kära über den Bindu und plazieren den Guru über Visarga600 und Bindu, die zusammen den Hamsah bilden. Das kann aber nicht stimmen. Das Nirväna Tantra erwähnt, daß der Guru die Para Bindurüpa-Shakti verehre, daß er dicht bei Ihr sei und sich im Anbetungsakte ihr gegenüber befinde. Der Anbetende soll stets eine Ebene niedriger als das Anbetungsobjekt, soll vor ihm und doch nicht etwa eine Ebene höher und hinter ihm sitzen. Cf. das Nirväna601: »Meditiere über die im Satyaloka-Innern im Chintämänigriha602 be­ findliche Niranjana Devi, wie sie auf dem juwelengeschmückten Thron, auf dem Löwenstuhl (simhäsana), sitzt, und über deinen Guru, wie er in ihrer Nähe weilt und sie anbetet.« Überdies spricht das Mahäkali Tantra ausdrücklich davon, daß der Guru über den beiden Buchstaben Ham und Sah603 zugegen sei. Wenn irgendwelche Texte von den hier angenom­ menen abweichen oder sie ergänzen sollten, dann soll man sie verständigerweise als auf die verschiedenen Methoden und Ansichten bezogen auffassen.

(Hier endet der siebente Abschnitt)

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VERS 50 Hümkärenaiva devim yamaniyamasambhyäsalilah suéílo jñdtva ¿rinäthavakträt-kramamiti ca mahämoksavartmaprakäsam. Brahmadvärasya madhye viracavati sa täm ¿vddhdbuddhisvabhävo Bhitvä talliñgarüpaih pavanadahanayoräkramenaiva guptarh.

Wer seine physische Natur durch Yama-, Niyamapraxis usw.mi geläutert hat, lernt aus dem Munde seines Guru das Verfahren, das ihm den Pfad zur Enthüllung der endgültigen Erlösung zugänglich macht. Wenn er dann sein ganzes Sein in das Brahman versenkt hat, erweckt er durch Hüm-Kära die Devi, durchdringt das Lingazentrum, dessen Mündung geschlossen und deshalb unsichtbar ist, und bringt sie vermittels der ( in ihm inwendigen) Luft und des Feuers in das Innere der Brahmadvära^. KOMMENTAR Nachdem er die mit dem Sahasrära endenden Chakras beschrieben hat, will er jetzt von der Kundalinl-Union sprechen und verweist einleitend auf das Verfahren, mit dem man die Kundalinl erweckt606. Der in diesem Vers zum Ausdruck kommende Gedanke ist, daß der im Y oga erfolgreich Praktizierende von seinem Guru das Verfahren erlernt, wie man das Herz ( = den Brust­ kasten) zusammenzieht, wie man vermittels der Luft- und der Beuerkraft die Kundalinl erweckt und so weiter607; und nachdem er das aus dem Munde seines Guru erfahren hat, erweckt er die Kundalinl dadurch, daß er sie mit Luft und Feuer angreift und das Kürchcha »Hum« ausspricht; und wenn er die Svayambhu Linga-Öffnung durch dringt, leitet er die Kundalim in die Brahmadvära hinein oder bringt sie, mit anderen Worten, in das Innere der Nädi-Chitrini-Öffnung. »Wer seine (physische) Natur geläutert hat« (sushila) — i. e., wer Yama usw. regelmäßig ausübt und sich geschult hat. »Durch Yama-, Niyamapraxis« usw. (yama-niyama-samabliyäsa-shila). — Ich muß die Bemerkung vorausschicken, daß man die Vervollkommnung in den einleitenden Y oga­ übungen608 durch die Yama- und Niyamapraxis allein nicht erreicht. Der Sädhaka muß außerdem Neigungen wie Begierde, Zorn und dergleichen, die dem Y oga zuwiderlaufen, gewohnheitsmäßig vernichten und dafür andere, beispielsweise die Kontrolle der inneren Atmosphäre, die Standhaftigkeit im Gemüt usw., die in der Yogapraxis nützlich sind, kul­ tivieren. Deswegen hat der Verfasser in Vers 54 den Ausdruck »Yamädyaih« in den Plural gesetzt. Yamapraxis und dergleichen ist jedoch nur für diejenigen erforderlich, die sich ihr Gemüt durch Begierde und andere böse Neigungen beunruhigen lassen. Wenn ein Mensch aber auf Grund seines in einer früheren Geburt erworbenen Verdienstes und gütigen Schicksals und durch seine Naturanlage von Zorn, Wollust und anderen Leidenschaften frei ist, ist er ohne die einleitenden Praktiken für den wirklichen Yoga geeignet. Das ist eine Angelegenheit, die sich wohl von selbst versteht. »Aus dem Munde seines Guru« (shri-nätha-vakträt). — Das Verfahren kann ohne Unter­ weisungen von seiten des Guru nicht erlernt werden. Deshalb heißt es: »Es kann nur vom Guru erlernt werden, nicht aber aus Zehnmillionen Shästras.« » Verfahrene (krama). — Stufenweg, Instruktion. »Das ihm den Pfad zur Enthüllung der endgültigen Erlösung zugänglich macht« (mahämoksha-vartma-prakäsha). — Damit ist der »Vorgang« gemeint, durch den man den Eingang in den Nädl Chitrini-Kanal aufschließt. Der »Erlösungspfad» (moksha-vartma) ist der Weg durch den Kanal innerhalb der Chitrini. Seine »Enthüllung« (prakäsha) vollzieht man, wenn man sich dort den W eg hindurchbahnt.

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»Er« (sah) — i. e., wer sich durch den Erfolg in seinen Yogaübungen ausgezeichnet hat. »Sein ganzes Sein in das Brahman versenkt hat« (shuddha-buddhi-svabhäva)609. — ShuddhaBuddhi bezeichnet das Brahman und den, dessen Svabhäva (eigenes Sein) in Ihm ist. Dieses zusammengesetzte W ort kann auch heißen: »Wer sein Wesen (bhäva) durch Lauterkeit der Gesinnung (shuddha-buddhi) in den Geist (sva = Ätmä) eingetaucht hat.« »Erweckt durch Hüm-Kära die Devin, (hüm-kärenaiva devlm). — Das Ägama-Kalpa-Druma sagt: »Wenn du dann stillschweigend, in Gedanken, Hamsa rezitiert hast, kontrahiere sanft den Anus610.« Daraus folgt also, daß man beim Hochtreiben der Kundalini das Hamsa-Mantra aussprechen soll. Dieses befolgend, sagt der Verfasser des Lalitä-Rahasya, man soll beim Vorrücken der Kundalini das Mantra »Hüm Hamsah« zur Anwendung bringen. D och aus der Tatsache heraus, daß der bestimmte Körperbezirk nach der Hamsa-Mantra-Rezitation zu kontrahieren sei, scheint die Absicht hier die zu sein, den Jivätmä, der in Gestalt einer Lampenflamme gedacht wird, durch die Rezitation des Hamsa Mantra vom Herzen zum Mülädhära zu verlagern und ihn dann mit der Kundalini zusammen in Bewegung zu setzen. An einer späteren Stelle heißt es im Ägama-Kalpa-Druma: »Die Shakti mit dem Ämtä aus der Brahmä-Wohnung611 erhebend und immerzu erhebend, soll der vortreffliche Sädhaka (usw.).« Das zeigt, daß sie mit dem Ätmä oder Jivätmä zusammen weggeführt werden soll. Das Käll-Kulämrita: »Nachdem er durch das Hamsa-Mantra den Jiva vom Herzen zum Müla-Lotos612 geführt und durch Hüm-Kära die Paradevatä Kundalini erweckt hat.« Das Kankälamälini sagt: »O Tochter des Bergkönigs, wenn der Sädhaka durch das Pranava den Jivätmä herausgezogen hat, lasse ihn unter Zuhilfenahme des Mantra >So’ham< Präna und Gandha613 einschließlich Kundalini in Bewegung setzen und die D evi veranlassen, in das Svädhishthäna einzutreten.« Der Weise soll aus obigen Texten herauslesen, daß er entweder durch das Pranava oder vermittels des Hamsa Mantra den Jivätmä aus dem Herzen herauszuführen und die Kundalini anschließend durch das Kürchcha-Bija allein zu erwecken hat. »Dessen Mündung geschlossen« usw. (guptam). — Dieses W ort kann entweder als ein den Linga näher bestimmtes Adjektiv übersetzt werden und würde dann »unmanifestiert, weil seine Mündung noch geschlossen614« bedeuten oder kann als Adverb zu »bringt sie« aufgefaßt werden und hieße dann »unwahmehmbar«. Im Ägama-Kalpa-Druma, Panchamashäkhä, wird das Verfahren, wie man die Kundalini erweckt, im einzelnen folgendermaßen beschrieben: »Nachdem man die Padmäsana-Positur eingenommen hat, soll man beide Hände in den Schoß legen. Wenn man dann innerlich, in Gedanken, das Hamsa-Mantra rezitiert hat, soll man den Anus gelinde zusammenziehen. Dann soll man die Luft zu wiederholten Malen auf dem gleichen Wege615 in die Höhe treiben und nach der Erhöhung das Chakra durchdringen lassen. Ich spreche jetzt über den Vorgang. Im Mülädhära-Lotos liegt ein sehr schönes Dreieck. In seinem Innern befindet sich der wie zehnmillionen aufgehende Sonnen (strahlende) Käma616; über ihm (käma) und den Svayambhu-Linga umwindend, finden wir die Kundalini Shakti.« Man vergleiche auch: »Auf­ gereizt durch das Kämägni und beeinflußt durch die Einwirkung des Kürchcha-Mantra wird sie vom Verlangen naeh dem Para-Hamsa ergriffen617.« Das Bhüta-Shuddhi618 sagt ebenfalls: » 0 Shivä, der Sädhaka soll, den Atemstrom ein­ behaltend619, seinen Brustkasten (wörtlich: Herz) zusammenziehen, soll die Kehlbasis und andere Körperteile unter Kontrolle halten620 und dann, mit einer schlüsselartigen Bewegung (kunchikä)621 die Tür plötzlich öffnend (das Begierdenfeuer), o Parameshvarl, unter Zuhilfe­ nahme von Luft (pavana) zum Auf lodern bringen.« »Dann soll er die auf dem Linga im Mülädhära schlummernde und nun durch die Feuerhitze aufgescheuchte Schlange622 im Linga an der Yonimündung erwecken und sie durch die Glut (ihrer Begierde) gewaltsam nach oben treiben623.« »Lenke die Luft nach den Kumbhaka-Regeln (Zurückhalten des Atems) und nach der vom Guru gezeigten Methode in die Nädi hinein. Lasse den in dieser Weise beherrschten Jiva durch den verborgenen Schlitz gehen und bewirke, daß durch den aufwärts strömenden Hauch alle Lotosse ihre Blütenköpfe nach oben drehen. Wenn der Weise sie gänzlich erweckt hat, soll er sie zu der Bhänu (Sonne) am Merugipfel (i. e. das Sahasrära) hinführen.« Nun achte genau auf das einer sorgfältigen Betrachtung der obigen Texte624 unterzogene Verfahren: Der Y ogi soll die geeignete Positur einnehmen, soll beide Hände mit den Hand­ flächen nach oben in den Schoß legen und sein Gemüt (chitta) durch Khecharl-Mudrä gleich­ förmig werden lassen. Als nächstes soll er sein Körperinneres mit Luft anfüllen, sie durch Kumbhaka626 zurückhalten und das Herz626 zusammenziehen. Hierdurch wird der nach oben

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tendierende Atcmstrom am Entweichen verhindert. Wenn er dann fühlt, daß die in seinem Innern vom Bauche bis zur Kehle reichende Luft durch die Kanäle in den Nadls nach unten tendiert, soll er den Anus kontrahieren und die nach unten gerichtete Luft (apäna, Abwind) hemmen; nachdem er dann anschließend die Luft wieder nach oben gedrückt hat, soll er dem Kama627 im Dreiecksinnem in der Fruchthülle des Mülädhära-Lotos eine Kichtungsänderung von links nach rechts geben (vämävartena); durch dieses Verfahren wird das dort vorhandene Käma-Feuer entzündet, das die Kundalini erhitzt (aufreizt). Dann soll er die Svayambhu Linga-Mündung durchbohren und die nach Vereinigung628 mit dem ParamaShiva Verlangende vermittels des >>HümElemente< und besitzt die drei Gunas. Die vier Veden sind seine vier Äste. Er ist mit unverwelkbaren schönen gelben, weißen, schwarzen, roten, grünen und buntscheckigen Blüten überladen. Hast du über den Kalpa-Baum in dieser Weise deine Betrachtungen angestellt, meditiere anschließend über den darunterstehenden juwelengeschmückten Altar. O Schöne, auf ihm steht ein mit kost­ barem Tuch und mit Mandärablüten verschiedenster Art verziertes und von vielerlei Wohl-

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gerüohen durchduftetes prachtvolles Ruhelager. Dort weilt ständig der Mahädeva. Meditiere über Sadäshiva, dem reinsten Kristall gleichend, ist er mit Edelsteinen aller Art verziert, langarmig660 und von bezaubernder Schönheit. Immer ist er gnädig und lächelt. An den Ohren trägt er Ohrringe, und um den Hals eine Edelsteinkette. Ein um den Hals gelegtes Blumen­ gewinde aus tausend Lotosblüten ziert seinen Körper. A cht Arme hat er und drei Augen wie Lotosblätter. An beiden Füßen trägt er funkelnden Zehenschmuck, und sein Körper ist Shabda-Brahma (shabda-brahma-maya). O Lotosäugige! In dieser Weise meditiere über seinen groben Körper (sthüla-vapuh). Er ist der stille, der leichenähnliche660 Deva im Lotosinnern, bar aller Handlung.« Desgleichen: »Meditiere über die den Svayambhu Linga umwindende Devi-Kundalinl* Führe die D ev! vermittels des Hamsa-Mantra zum Sahasrära, 0 Parameshvari, wo der große Deva-Sadäshiva sich aufhält. Und dann bringe die vor Verlangen bebende schöne Kundalini dort unter. Die Kundalini, 0 Geliebte, erwacht und küßt den Lotosmund Shivas, der über den Wohlgeruch ihres lotosgleichen Mundes angenehm erfreut ist; und dann, 0 Deveshi, genießt sie den Sadäshiva eine sehr kleine Weile nur, und unmittelbar darauf, O Devi, 0 Parameshvari, beginnt der Nektar zu fließen. Dieser ihrer Union entströmende Nektar ist lackfarben661. Mit diesem Nektar, O Deveshi, soll die Para Devatä662 gesättigt werden. Nachdem der Weise auch die Devatäs in den Sechs Chakras mit dem ambrosischen Strom gesättigt hat, soll er sie auf demselben Pfad in das Mülädhära wieder zurückbringen. In diesem Vorgang des Gehens und Wiederkommens soll man das Gemüt dort663 aufgehen lassen. Wer diesen Yoga, O Parvati, tagtäglich übt, wird von Verfall und Tod befreit und aus der Knechtschaft dieser W elt erlöst.« Weitere ähnliche Verfahren soll man in anderen Tantras aufmerksam nachlesen.

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VERS 52 Nitvä täm kvlakwndalim layavaáájjivena särdharh sudhir mokse dhämani ¿uddhapadmasadane áaive pare svämini. Dhyäyedisfaphalapradäm bhagavatim caitanyarüpäm parärh yoglndro gurupädapadmayugalälambi samädhau yatah.

Zu den Lotosfüßen seines Guru der Andacht gänzlich hingegeben, soll der in Ekstase664 ver­ tiefte, weise und vortreffliche Yogi die Kvla-Kundali mit dem Jiva zusammen in die Erlösungs­ stätte im Innern des reinen Lotos zum Parashiva, ihrem Gebieter, einführen und soll darüber nachsinnen, wie sie als die Chaitanyarupä-Bhagavati665 alle Wünsche erfüllt. Wenn er die Kula-Kundalini in dieser Weise entlangführt, soU er alle Dinge in sie aufgehen lassen. KOM M ENTAR Nachdem er den Dhyäna-Yoga der Kundalinl besprochen hat, beschreibt er jetzt den Kundalinl-Samädhiyoga. Das Wesentliche dieses Verses ist, daß der auf das Eintreten des Samädhizustands eifrig bedachte, erfahrene (sudhl) und vortreffliche Y ogi (yogindra) der von ihm Erweckten vor allem den W eg zeigen soll, und daß sie, den Jiva mit sich nehmend, anschließend die Brahmadvära erreicht, wobei sie bei ihrem Durchgang alle Dinge in sich absorbiert. Wenn sie als die Ishtadevatä und Spenderin aller guten Früchte zu ihrem Gebieter hinaufgeführt und mit ihm, dem Para Bindu, vereinheitlicht worden ist, soll man über sie als die Allerhöchste (Para, i. e., Para Bindu, parambindusvarüpäm) seine Betrachtungen anstellen. Wenn man sie zu ihrem Gebieter Shiva, zum Para-Bindu, geführt und mit ihm vereinheitlicht hat, soll man sie als die die gute Frucht gewährende Ishtadevatä betrachten. Dort (im Sahasrära) soll er den Para-Bindu in den im leeren Raum im Binduinnem befind­ lichen Chidätma666 auflösen und über sie (kundalinl) als Shuddhachaitanya-Rüpä667 nach­ sinnen. Die Gleichheit von Jiva und Ätmä verwirklicht er in der Weise, daß er sich innerlich bewußt wird »Ich bin Er« (so’ham ); und wenn er Chitta (die Denksuhstanz) aufgelöst hat, bleibt er wegen seines vollkommenen und allesdurchdringenden Wissens unbewegt. Der hochgeehrte Lehrer (Shrimat Ächärya)668 hat gesagt: »Der Erfahrene soll den Kärana668 Ma-Kära in den Chidätma auflösen und verwirklichen: >Ich bin Chidätmä, ich bin ewig, rein (shuddha), erleuchtet (buddha), erlöst (mukta); ich bin D AS, das Einzig-Eine (sat), ohne ein Zweites neben sich (advaya); ich bin Höchste Wonne, in ihr ist alle Wonne und Väsudevas wahres Selbst, ich bin — Om*70.< Und nachdem er verwirklicht hat, daß das Gemüt (chitta) der Unterscheider ist, absorbiert er es in sein Zeugnis*71. Lasse dir das Gemüt (chitta), wenn es in den Chidätmä vertieft ist, durch nichts ablenken. Lasse ihn (den Sädhaka) in der Erleuchtung Fülle ruhen wie in einem abgrundtiefen regungslosen Ozean.« »Ma-Kära«672: gilt für diejenigen, die Sädhakas des Pranava sind. Mit Kärana ist hier der Para-Bindu gemeint. Mit »Ich bin Väsudeva« (väsudevo’ ham) wird auf die Vaishnavas angespielt (vide ante W . 44, 49). W ir sehen also, der Verehrer eines bestimmten Devatä soll sich lebhaft vergegenwärtigen, daß die Kundalinl mit seinem Verehrungsobjekt verschmilzt. In der Pranava-Verehrung verwirklicht beispielsweise der Verehrer seine Identität m it dem Om-Kära; in anderen Verehrungsformen verwirklicht er seine Gleichheit mit der Kundalinl, die durch alle Mantras der verschiedenen Verehrer jeweils verkörpert wird. Das Tanträntara sagt: »Den K önig unter den Yogis erfüllt Brahma-Wonne, wenn er sein Gemüt zum Aufenthalt der Großen Leere macht, die im Sonnen-, Mond- und Feuerlicht angelegt ist*73.« »Die Kundali mit dem Jiva zusammen einführem (jivena särddham nitvä). — Man soll den einer spitz zulaufenden Lichtflamme ähnelnden Jlvätmä, d. h. den Hamsa, von seinem

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Ruheplatz im Herzen zum Mülädhära befördern und ihn dann mit der Kundalinl zusammen fortführen. »Erlösungsstätte« (moksha dhämani). — Das qualifiziert den Reinen Lotos (shuddhapadma)674. Hier erreicht man die endgültige Erlösung. »Zu den Lotosfüßen seines Guru der Andacht gänzlich hingegebena (guru-päda-padmayugalälambl). — Eine Qualifikation für Yogindra (den vortrefflichen Yogi). Der Verfasser ist der Ansicht, daß man Siddhi nur durch die Belehrungen von seiten des Guru erlangen könne. Deshalb soll der Sädhaka zu seinen Füßen Zuflucht nehmen. »In Ekstase vertieft« (samädhau yatah). — Das Kulärnava-Tantra (ix, 9) definiert Samädhi folgendermaßen: »Samädhi ist diejenige Kontemplationsstufe676, auf der es weder ein >Hier< noch ein >Nicht-Hier< g ib t; hier herrscht Erleuchtung und Stille wie im Ozean, hier ist die Leere als solche676.« Desgleichen anderswo: »Die Munis erklären, Samädhi sei die beständige Verwirklichung der Gleichheit von Jlvätmä und Paramätmä, und stelle eines der Acht Glieder (anga) im Yoga dar677.« Patañjali definiert (1 ,2 ): »Yoga ist die Unterdrückung der Fluxionen (oder Funktionen) der Denksubstanz (Chitta) (yogashchittavrittinirodhah).« » Vertiefte (yatah) — i. e., wer das mit ungeteilter Aufmerksamkeit beständig übt. »Wenn er die Kula-Kundalini entlangführt, soll er alle Dinge in sie auf gehen lassen« (layavashät-nltvä)676. — Nachstehend wird der Absorptionsvorgang erläutert: »O DeveshI, als nächstes soll er über das im Dreieck vorhandene Lam-Kära679 nachsinnen; daselbst soll er auch über den Brahma und dann über den Käma-Deva kontemplieren. Wenn er dann mit dem Aussprechen des Pranava den Jiva darin fixiert hat, lasse ihn das nach Stillung ihrer Leidenschaft680 verlangende Weih zur Stätte ihres Gatten681 hinführen, O Königin der Deväs. O große Königin, O Geliebte meines Lebens, lasse ihn über Ghräna (prithivl) nachdenken und über die anbetungswürdige Shakti-Däkinl seine Betrachtungen anstellen. O Tochter des Berges, O Königin der Ganas682, O Mutter, diese alle soll er in Prithivl überführen.« Desgleichen: »Dann, O große Königin, soll der Sädhaka das gepriesene Prithivl in das Gandha aufgehen lassen und anschließend, O Tochter des Bergkönigs, den Jlvätmä ver­ mittels des Pranava (mantra) (vom Herzen) abziehen und Präna683, Gandha684 und Kundalinl unter Zuhilfenahme des Mantra >So’ham< in das Svädhishthänä übertreten lassen.« Und desgleichen: »In der (Svädhishthänä) Fruchthülle soll man über Varuna und Hari685 nachsinnen. Und nach der Meditation über Räkinl686, 0 du Schöne, soll man alle diese und Gandha (den Geruch) in Rasa (den Geschmack) aufgehen lassen und Jlvätmä, Kundalinl und Rasa in das Manipüra verlagern.« Und weiter: »0 du Schönhüftige887 (sushroni), in seiner688 Fruchthülle soll der Sädhaka über Feuer und auch über Rudra, den Zerstörer von allem, seine Betrachtungen anstellen, wie er der schön aussehenden Shakti Läkinl Gesellschaft leistet. Und lasse ihn, 0 Shiva, als nächstes über das strahlende Sehvermögen meditieren und alle diese samt Rasa (Ge­ schmack) in Rüpa (das Sehen) absorbieren und darauf Jlvätmä, Kundalinl und Rüpa in das Anähata überführen.« Und weiter: »Lasse ihn in seiner689 Fruchthülle über den in der Jlva-Region wohnenden Väyu wie auch über das durch den anwesenden Bäna-Linga verschönerte Yoni-Mandala medi­ tieren. Hier soll er außerdem über den mit der Käkinl vereinigten Väyu (Windgott)690 und über den Tastsinn (tvagindriya oder sparsha) nachsinnen, er soll hier dann, 0 du Läuternde, Jiva, Kundalinl und Rüpa in Sparsha (das Tastvermögen) übergehen lassen und anschließend Jiva, Kundalini und Sparsha in das Vishuddha unterbringen.« Und weiter: »Lasse ihn in seiner691 Fruchthülle über die Äthersphäre692 wie über den mit der Shäkinl vergesellschafteten Shiva seine Betrachtungen anstellen, und wenn er dann Sprache (väk) und Gehör (shrotra) in den Äther verlegt hat, lasse ihn, 0 Tochter des Berges, alle diese samt Sparsha in Shabda (den Klang) überführen und Jiva, Kundalinl und Shabda in das Äjüä Chakra unterbringen.« Obige Textstellen stammen aus dem Kankälamälinl Tantra. »Dreieck« im obigen Text ist das Dreieck im Mülädhära, von wo aus man beginnt. Lam-Kära soll beim Meditieren in das Dreiecksinnere gedacht werden. Den Jiva unter der Verwendung des Pranava fortführen ist eine unterschiedliche Technik. » Visarga-Näshakämini«: Unter Visarga versteht man die durch einen Begierden-(käma-) Zuwachs verursachte Gefühlsunruhe. Das zusammengesetzte W ort bezeichnet sinngemäß: sie strebt nach Befriedigung ihres Verlangens (käma). Das Mitführen des Jiva vermittels

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des Hamsa-Mantra heißt nach der Lehre einiger, ihn in die »Stätte ihres Gemahls« (patyau pade) mitnehmen: das ist Bindu, der Shiva im Tausendblättrigen Lotos. Der Sädhaka soll sie hierherbringen. Das Bija-Lam, der Brahma, der Kämadeva, die Däkinl-Shakti und der Geruchssinn (ghränendriya) — sie alle sind in PrithivI, und PrithivI ist in das Gandhatattva zu ab­ sorbieren. Jivätmä, Kundalinl und Gandha-Tattva werden durch das Pranava nach oben gezogen und vermittels des »So’ham« Mantra in das Svädhishthäna überführt. So hat man den Yorgang richtig durchzuführen. Nachdem man Jiva, Kundalinl und Shabda-Tattva in das Ajüä-Chakra hineingeführt hat, soll man das Shabdatattva in den dort befindlichen Ahamkära, den Ahamkära in das Mahat-Tattva, das Mahat-Tattva in die Sükshma-Prakriti, die auch Hiranya-Garbha heißt, und die Prakriti wieder in den Para-Bindu aufgehen lassen. Das Mantra-Tantra-Prakäsha sagt: »Lasse Vyom a (den Äther) in den Ahamkära, diesen mit Shabda zusammen in den Mahat und den Mahat wieder in die unmanifestierte (avyakta) höchste (para) Ursache (kärana) aller Shaktis aufgehen. Lasse den Sädhaka aufmerksam darüber nachsinnen, daß alle mit PrithivI beginnenden Dinge in den Vishnu693, in den aus Sat, Chit und Änanda bestehenden Urgrund, gänzlich aufgehen.« Das heißt: Man soll den aus allen Shaktis (sarvashakti) bestehenden Mahat in die unter dem Namen Hiranyagarbha bekannte Sükshma-Prakriti (subtile Urmaterie), und die Prakriti in den Para, in den unter der Gestalt des Parabindu auftretenden Urgrund, aufgehen lassen. In diesem Zusammenhang hat der Ächärya die Regel aufgestellt, daß das Grobe in das Subtile aufzulösen sei694. C f.: »Das Grobe soll in das Subtile, und alles soll in den Chidätmä aufgehen, das soll man aufmerksam erwägen und behutsam üben.« Die Absorption aller Dinge, angefangen mit PrithivI und endend mit Anähata695, vollzieht sich in der vorerwähnten Art und Weise; weil das so ist, löst man die Füße, den Geruchssinn (ghränendriya) und alles zum PrithivI Gehörige in die PrithivI-Stätte auf, weil sie dem PrithivI anhaften. Ähnlich lasse man die Hände, den Geschmackssinn (rasanendriya) und alles zum Wasser Gehörige in die Wasserregion sich auflösen. In die Feuerregion (vahnisthäna) läßt man auf­ gehen: den Anus, den Gesichtssinn (chakshu-rindriya) und alles zum Feuer Gehörige. In die Luftregion (väyu-sthäna) werden aufgelöst: die Genitalien, der Tastsinn (tvagindriya) und alles zum Väyu Gehörige. In die Äkäshastätte werden aufgelöst: der Sprachsinn (väk), der Gehörssinn (shrotrcndriya) und alles zum Äkäsha (Äther) Gehörige. Im Äjüä Chakra vollzieht sich die Einschmelzung von Ahamkära, Mahat, SükshmaPrakriti usw., wobei sich ein jedes in seine eigene unmittelbare Ursache auflöst. Deshalb sollen die Alphabetbuchstaben in der umgekehrten Reihenfolge (viloma), mit Ksha-Kära beginnend und m it A-Kära endend, zur Auflösung kommen. Mit »alle Dinge« ist gemeint, daß die oben als Ursachenkörper (kärana-sharlra) angegebenen »Bindu«, »Bodhinl« usw. in umgekehrter Reihenfolge (vilomena) in die Uranfängliche Ursache (ädikärana) — in den Para-Bindu — aufzulösen sind. So bleibt der Brahman allein übrig. Der Vorgang wird folgendermaßen beschrieben: »Nachdem der Sädhaka seine Entscheidung getroffen hat (sankalpa), soll er die Alphabetbuchstaben in dieser Weise in die NyäsaSthäna696 zur Auflösung bringen697. Ksha löst er in La, und La in Ha auf; Ha wieder löst er in Sa, und Sa in Sha auf — so geht das weiter, bis A erreicht ist. Das soll er sehr sorgfältig ausführen.« Desgleichen698: »Löse beide Buchstaben in den Bindu und den Bindu in Kalä auf. Löse Kalä in Näda, Näda in Nädänta699, diesen in Unmanl und Unmanl in Vishnuvaktra700; der Vishnuvaktra soll in den Guruvaktra701 aufgelöst werden. Dann soll der vortreffliche Sädhaka sich vergegenwärtigen, daß alle Buchstaben sich im Parama-Shiva auflösen.« Mit Vishnuvaktra ist der Pum-Bindu gemeint. »Der Süryabindu wird das Antlitz genannt, darunter sind Mond und Feuer.« »Bindu, sagt man, ist der Mann, und Visarga ist Prakriti702.« Diese Belege deuten alle dasselbe an und laufen darauf hinaus, zu bestätigen, daß der »Mund Vishnus« (vishnu-vaktra) es ist, w o die Auflösung statthaben soll. Auch Keshavächärya703 führt mit dem folgenden Ausspruch zur gleichen Schlußfolgerung: »Führe sie (unmanl) in das Männliche, in den Bindu, über; führe den Bindu in den Parätmä, den Parätmä in das Kälatattva, dieses in die Shakti und die Shakti in den Chidätmä über, denn dieser ist das Höchste (kevala), das Stille (shänta) und das Strahlende.« Ein jedes löst sich, wie wir gesehen haben, in seine eigene unmittelbare Ursache aufNädänta geht also in die Vyäpikä-Shakti, die Vyäpikä-Shakti in den Unmanl, der Unmanl

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in den Samani701 und der Samanl in den Vishnuvaktra über. Und wenn die Buchstaben in dieser Weise aufgelöst worden sind, hat man alle sechs Chakras aufgelöst, weil ihre Lotos­ blätter aus Buchstaben bestehen705. Im Vishvasära Tantra heißt es: »Die Lotosblütenblätter sind die mit A beginnenden Alphabetbuchstaben706.« Das Sammohana Tantra707 beschreibt die Auflösung708 der Lotosse und Blumenblätter in dieser W eise: »Löse die auf den Blumenblättern stehenden Buchstaben von Y a bis Sa in den Brahmä auf709, und lasse den Brahmä in den mit dem Namen Svädhishthäna bezeiehneten sechsblättrigen Lotos aufgehen, der die Buchstaben Ba bis La ent­ hält. Mache das so wie es der Guru vorschreibt.« Und so weiter. Am Schluß heißt es: »Der Erfahrene soll es (vishuddha) dann in den zweiblättrigen (Lotos) auflösen, der die beiden Buchstaben Ha und Ksha enthält, soll die in diesem Lotos befindlichen beiden Buchstaben in den Bindu und den Bindu in die Kalä aufgehen lassen710.« W ir sehen also, daß die vier Buchstaben im Mülädhära in diesem aufzulösen sind, und daß das Mülädhära im Svädhishthäna aufgelöst wird. Wenn man in dieser Weise weitermacht bis man das Äjnä Chakra erreioht hat, löst man schließlich auch die hier befindlichen Buch­ staben Ha und Ksha an dieser Stelle auf. Dann geht der Lotos selbst in den Bindu, der Bindu in die Bodhinl über, und alles wird — wie bereits gezeigt —, in dieser Weise fortfahrend, in den Para Bindu aufgeschmolzen. Wenn das Äjüä Chakra verschwindet, ist alles in seiner Eruchthülle Enthaltene — Häkinl, Itara-Linga, Pranava — ohne Stütze und kann nicht weiterexistieren, deshalb werden nach der Auflösung in die Prakriti auch diese in den Para Bindu aufgeschmolzcn.

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VERS 53 Läksäbham paramämrtam paraSivätpitvä punah kundali nityänandamahodayät kulapathänmüle viéetsundari. Taddivyämrtadhärayä sthiramatih samtarpayeddaivatam yogi yogaparamparäviditayä brahmändabhändasthitam.

Die schöne Kundali trinkt den aus dem Para Shiva ausfließenden köstlichen roten711 Nektar, begibt sich dann von da, ux> die Ewige und Transzendente Wonne 712 in all ihrer Herrlichkeit leuchtet, auf den Heimweg, den Kula-Pfad 713 entlang, und betritt wieder das Mülädhära. Wenn der Yogi die Gleichförmigkeit im Gemüt erreicht hat, verrichtet er mit diesem im BrahmändaGefäßn i befindlichen Strom himmlischen Nektars Opfergaben (tarpana) an den Ishta-Devatä und an die Devatäs in den sechs Zentren ( chakra) , an die Däkini und die übrigen, gemäß der Kenntnis, die er aus der Tradition der Gurus übernommen hat. KOMMENTAR Er spricht jetzt darüber, was man zu tun habe, wenn man den beschriebenen Yoga in allen seinen Abarten recht verstanden hat. Der Sinn dieses Verses ist der: die schöne Kundall trinkt den aus dem Para Shiva ausfließenden köstlichen Nektar, und wenn sie sich von der Stätte der Ewigen und Transzendenten Wonne wieder erhebt, wandert sie den Kula-Pfad entlang und betritt wieder das Mülädhära. Nachdem der Y ogi die erwähnten Gedankengänge verschiedener Art verstanden hat (tat-tad-dhyänänantaram), soll er über die untrennbare Union715 von Shiva und Shakti nachdenken und mit dem aus der Wonne einer solchen Union mit dem Para Shiva ausfließenden köstlichen Nektar Opfergaben (tarpana) an die Kundalini verrichten. »Kula-Pfad « (kula-patha). — Der Brahmanpfad, der Kanal in der Chitrini. Die Kundali trinkt den Nektar, der ihr als Tarpana dargereicht wird. Der folgende Beleg: »Nachdem er ihre Verschmelzung veranlaßt und sie hat trinken lassen« usw. besagt also, daß sie zum Trinken veranlaßt wird. Der Nektar ist wie rote Lackfarbe. » Von da wo die Ewige und Transzendente Wonne leuchtet« (nityänanda-mahodayät) — d. h., sie kehrt zurück von der Stätte, wo die ewige und transzendente Wonne genossen wird — i. e., wo man den Brahman gänzlich verwirklicht. »Betritt wieder das Mülädhära« (müle vishet). — Man hat sie auf dem gleichen Wege, den man sie nach oben geführt hat, wieder zurückzubringen. So wie sie die verschiedenen Lingas und Chakras reihenfolgegemäß (chakra-bheda-kramena) passierte, als sie nach oben ging, so verhält sie sich, wenn sie zum Mülädhära zurückkehrt. Der Ehrwürdige Große Lehrer sagt: »Kuharini716, alle Dinge besprühst Du mit dem Nektar­ strom, der von den Spitzen Deiner beiden Eüße sich ergießt; und während D u zu Deiner eigenen Stätte zurückkehrst, belebst Du und machst Du sichtbar alle Dinge, die zuvor unsichtbar waren, und wenn Du Deine Wohnstatt erreichst, rollst Du schlangengleich Dich wieder zusammen und setzt Deinen Schlaf fort717.« »Während Du zurückkehrst, belebst Du und machst Du sichtbar.« Das beschreibt die Rückkehr der Kundall an ihren eigenen Platz. Während ihrer Rückkehr gießt sie Rasa718 (den Lebenssaft) in die verschiedenen Dinge, die sie bei ihrem Aufgang vorher in sich absorbiert hatte, und durch die Rasa-Eingießung macht sie sie alle wieder sichtbar und manifest. Ihr Durchgang war Layakrama719, ihre Rückkehr ist Srishti-Krama720. Deshalb hat man gesagt: »Kundali, die Königin der Suräs722, ist W onne721, sie kehrt auf dem gleichen Pfad zum Ädhära723 Lotos zurück. «Das Bhüta-Shuddhi-Prakarana hat folgendes: »Lasse die Tattvas Prithivi usw. der Reihe nach, wie auch den Jiva und die Kundalini, vom Paramätmä zurückgeführt und ein jedes an seinen betreffenden Ort wieder

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eingesetzt -werden.« Sie wird dann besonders beschrieben: »Anfangs leuchtet sie, wenn sie geht, und ambrosisch724 ist sie, wenn sie wiederkommt.« »Strom himmlischen Nektars« (divyämritadhärä). — Das ist der köstliche Nektar, der, wie schon gesagt, in der Vereinigung725 von Shiva und Shakti seinen Ursprung nimmt und in einem Strom von der Brahmarandhra zum Mülädhära herunterfließt. Aus diesem Grunde sagt der Verfasser in Vers 3: »Die in ihrem Munde leuchtende Brahmadvära ist der Eingang zu der mit Ambrosia benetzten Stätte.« »Gemäß der Kenntnis, die er aus der Tradition der Gurus übernommen hat« (yoga-paramparäviditayä). — Das qualifiziert den Nektarstrom. Das bedeutet, man erwirbt das Wissen aus den Unterweisungen (in der Yogatechnik), die über eine lange Kette einander nachfolgender Gurus traditionsmäßig überliefert wurden. »Im Brahmända-Gefäß befindlich« (brahmändabhända-sthitam). — Das qualifiziert Annita (den Nektar)726. Das Gefäß, die Stütze (bhända), in dem Brahmända (das Universum ruht) ist die Kundalinl. Kundalini ist die Bhända, weil sie der Urquell (yoni) von allem ist. Unter Daivatam727 versteht man den Ishtadevatä, die Däkinl und die übrigen in den Sechs Chakras. Man hat gesagt: » 0 Deveshl. Mit diesem Nektar soll man der Paradevatä eine Opfergabe (tarpana) darbringen, und wenn man den Devatas in den Sechs Chakras Tarpana dargereicht hat, . . . « und so weiter.

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VERS 54

Jñátvaitatkramamuttamam, yatamanä yogi yamädyair-yutah iridiksägurupädapadmayugalämodapravähodayät. Samsäre na hi janyate na hi kadä sarnksiyate samlcsaye nityänandaparamparäpramuditah éántáh satämagranih.

Wenn der Yogi nach der Yama-, Niyamapraxis «sw .728 diese vortreffliche Methode von den beiden Lotosfüßen des glückverheißenden Dikshä-Guru123, die ihm eine Quelle ununterbrochener Freude werden, erlernt hat, und wenn er sein Gemüt (manas) beherrscht hat, wird er in diese Welt ( samsära) nicht mehr wiedergeboren. Für ihn gibt es keinen Tod, auch nicht beim Zeitpunkt der Endauflösung73°. Erfreut durch die ständige Vergegenwärtigung dessen, das die Quelle der Ewigen Seligkeit'’31 ist, ist er von Frieden ganz erfüllt und wird einer der ersten unter allen Yogis132. KOM M ENTAR Er spricht hier über den Vorteil, den man aus der Kenntnis der methodischen Yogapraxis gewinnen kann.

»Von den Lotosfüßen seines glückverheißenden Dikshä-Guru, die ihm zur Quelle ununter­ brochener Freude werden« (shri-dlkshä-guru-päda-padma-yugalämoda-pravähodayät). — Amoda heißt Freude oder Wonne; Praväha bezeichnet einen ununterbrochenen, fortlaufenden Zusammenhang. Amoda-Praväha ist demnach Nityänanda, die »Ewige Wonne«. Eine solche Wonne kommt von den Lotosfüßen des Guru, sie führen auch zu einer Kenntnis der Y oga­ praxis. Der Dikshä-Guru wird hier erwähnt, weil er als erster einweiht und ihm auch der Vorrang gebührt. In seiner Abwesenheit kann man aber auch zu anderen Gurus seine Zuflucht nehmen. Darum ist gesagt worden: »Wie eine nach Honig emsig suchende Biene von Blüte zu Blüte fliegt, so geht wahrlich der nach Erkenntnis (jüäna) dürstende Schüler von einem Guru zum andern733.«

»Erfreut durch die ständige Vergegenwärtigung dessen, das die Quelle der Ewigen Seligkeit ist« (nityänanda-paramparä-pramudita) — d. i. derjenige, der mit dem Strom Ewiger Wonne verbunden ist. »Der erste unter den Gutem (satäm agranl) — i. e., man zählt ihn zu den ersten unter den guten, d. h. den Yogis.

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VERS 55

Yozdhite niái samdhyayorathe divä yogi svabhävasthito moksajnänanidänametadamalam áuddharh ca guptam pararh. ÉrimaccTirigurupddapadmayugalálanibi yatäntarmanästasyavaiyarnabhipfaclaivatapade ceto narinjtyate.

Wenn der zu den Lotosfüßen seines Guru in andachtsvoller Hingabe (sitzende) Yogi dieses Werk, das die höchste Quelle fü r das Wissen um die endgültige Erlösung, ¿las fehlerlos, rein und äußerst geheim ist, ungestörten Gemüts und mit konzentriertem Geist liest, tanzt sein Geist (chilta)rii ganz gewiß zu den Füßen seines Ishta-Devatä. KOMMENTAR Er spricht hier über den Vorteil, den man aus dem Studium der auf die Sechs Chakras bezogenen Verse gewinnen kann. »Ungestörten Gemüts« (svabhäva-sth itab) — i. e., ganz vertieft in sein eigenes wahres geistiges Sein. »M it konzentriertem Geiste (yatäntarmanäh) — i. e., wer sein Gemüt durch Yogapraxis gleichförmig gemacht und auf den inneren Geist (antarätmä) konzentriert hat. Das übrige ist klar. Hiermit endet der Achte Unterabschnitt der Erläuterung der Verse über die »Beschreibung der Sechs Chakras«, sie bilden einen Teil des von Shri-Pürnänandayati gedichteten Shritattvachintämanl.

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DER FÜNFFÄLTIGE FUSS-SCHEMEL735 Pädulcä- Panchaka

EINLEITÜNGSVERS 736

Ich meditiere im Tausendblättrigen Lotos iiber den Guru, der wie die kühlen Vollmondstrahlen glänzt und mit den Lotoshänden den gnadengewährenden und den furchtvertreibenden Gestus macht. Sein Gewand, sein Blumengehänge und seine Wohlgerüche sind stets frisch und rein. Sein Mienenspiel ist gütig-wohlwollend. Er befindet sich im K opf im Hamsa. Er ist der Hamsa selbst.

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VERS 1 Brahmarandhra-sarasiruhodare nityalagnamavadätamadbhutam K unda Uvivarakändarwnditam. dvädaiärnasarasiruham bhaje.

Ich verehre den wundervollen zwölfbuchstabigenn l Weißen Lotos im Schoßinnern (udare) der Lotosfruchthülle, er ist mit ihr untrennbar verbunden, in ihm verläuft die Brahmarandhra, und er ist mit dem Kundali-Kanal73a geschmückt. KOM M ENTAR Der von Ihm, dem Fünfgesichtigen739, erdichtete Hymnus Pädukä-Panchaka tilgt alle Schuld740. Källcharana offenbart seine Schönheit durch seine Tikä mit Namen Amalä (die Makellose). Sadäshiva, der Befreier der drei Welten, möchte gern über den Gurudhyäna-Yoga741 in Form einer Hymne (stotra) sprechen und beschreibt als erstes den Ort des Guru. Das Verbum bhaje lautet in der ersten Person Singular »atmanepada«, und es betont, daß Shiva selbst anbetet oder verehrt. Er sagt: »Ich bete an, ich verehre.« Mit dieser Aussage will er die Notwendigkeit hervorheben, daß alle Verehrer (Upäsakas) der von ihm enthüllten Mantras diesen wundervollen zwölfblättrigen Lotos verehren sollen. Er zeigt auf diese Weise die Notwendigkeit seiner Anbetung. Der Sinn dieses Versés ist, kurz gesagt, dieser: Ich verehre den innerhalb der Sahasrärafruchthülle liegenden zwölfblättrigen Lotos. » Wundervoll« (adbhuta). — Er erregt unser Erstaunen, weil er vom Glanz (tejas) Brahman3 durchdrungen ist, und aus anderen Gründen.

»Zwölfbuch,stabige Lotos« (dvädashäma-saraslruha) — i. e., der zwölf Buchstaben enthaltende Lotos. Die zwölf Buchstaben sind nach Ansicht der Tantragelehrten diejenigen zwölf Buch­ staben, die das Gurumantra zusammensetzen; sie lauten: Sa, Ha, Kha, Phrem, Ha, Sa, Ksha, Ma, La, Va, Ra, Vam. Einige sagen, mit Dvädashärna sei der zwölfte Vokal, nämlich das Väg-Bhava-Bija742, gemeint. Aber das kann nicht stimmen. Denn wenn das so wäre, dann wäre der hier angezogene Beleg tautologisch: »(Meditiere über) deinen Guru, d. i. Shiva, er befinde sich auf dem substanzlich aus Mantra (mantramaya) bestehenden strahlenden Hamsa-Pitha, der in der Fruchthülle des zwölfbuchstabigen Lotos, in der Fruchthülle nahe bei der Mondsphäre743 liegt und mit den im A-Ka-Tha-Dreiecksinnem befindlichen Buch­ staben Ha, La und Ksha verziert ist. Der Lotos mit den zwölf Buchstaben liegt in der (Sahasrära) Fruchthülle.« Obige Textstelle spricht vom Mantramayapitha. Die Mantrasubstanz dieses Pitha ist das Gurumantra in Gestalt des Väg-Bhava-Bija744. Das wäre also eine Wiederholung des gleichen Mantra746. »Dvädashärna« setzt sich nach der Bahuvrihi-Samäsa zusammen — und bezeichnet dasjenige, das dvädasha (zwölf) Arnas (Buchstaben) hat. Dieser Lotos hat demnach zwölf Blumenblätter, auf denen die zwölf Buchstaben stehen. Es stimmt, daß die Buchstaben hier nicht näher bestimmt sind und daß nichts näheres darüber ausgesagt wird, wo sie stehen; aber die Gurugitä748 sagt: »Die Buchstaben Ham und Sa umgeben (d. h. als Blumenblätter) den Lotos«, und in diesem soll man über den Guru Betrachtungen anstellen. Das führt uns zu der Schlußfolgerung, daß die Buchstaben Ham und Sa sechsmal zu wiederholen wären und auf diese Weise zwölf ergäben, und damit wird die Blütenblätterzahl genau zwölf, denn jedes Blatt trägt nur einen Buchstaben. Das ist ein passendes Betrachtungsobjekt für den Weisen.

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»Untrennbar'von« (nitya-lagnam). — Das heißt, er ist mit dem Sahasrära derart verbunden, daß das eine ohne das andere nicht gedacht werden kann. »Der von der Fruchthülle untrennbar und im Fruchthüllenschoß des Lotos liegt, der die Brahma­ randhra beherbergt« (brahmarandhra-sarasiruhodara). — Das Sahasrära, der Tausendblättrige Lotos, ist es, in welchem die Brahmarandhra verläuft; in seinem Schoß, sozusagen in seinem Innern (tanmadhye), das heißt, in seinem Fruchthülleninnern (tat-karnikäyäm). Bei der Beschreibung 'des Tausendblättrigen Lotos äußert sich das Kankäla-Mälinl über den Ort der Brahmarandhra in folgender W eise: »In seiner Prachthülle (Sahasrära), o DeveshI, ist der Antarätmä, und darüber ist der Guru; über ihm befinden sich das Sürya Mandala, das Chandra Mandala und der Mahäväyu, und darüber liegt die Brahmarandhra.« Einige sagen, mit Udara (Schoß, Inneres) sei das Dreieeksinnere in der Fruchthülle gemeint. Das stimmt nicht. Das W ort Udara bezeichnet hier das »Innere« oder »Zentrum«. Das Lotos­ innere enthält zwar seine Fruchthülle, aber der Text meint nicht das Dreieeksinnere in der Fruchthülle, denn das Dreieck wird hier gar nicht erwähnt. Das Shyämä-Saparyä zitiert ausdrücklich: »Der Lotos mit den zwölf Blütenblättern (oder Buchstaben) liegt im Fruchthülleninnern des Weißen Lotos mit den tausend Blättern, dieser hat den Blütenkopf nach unten hängen, seine Staubfäden haben die Farbe der aufgehenden Sonne, und er ist mit allen Alphabetbuehstaben geschmückt.« Hier ist »im Fruchthülleninnem« klar und deutlich angegeben. »M it dem Kandtdi-Kanal geschmückt« (kundali-vivara-kändamanditam). — In diesem Vivara (Kanal) begibt sich die Kundalim zu Shiva im Sahasrära. Die Chitrinl enthält in ihrem Innern diesen Durchgang, diesen Kanal. Die Chitrinl ist sozusagen das Rohr (der Stengel), durch das der Durchgang verläuft, die Chitrinl schmückt diesen Lotos und wird durch ihn geschmückt. Wie ein Lotos auf seinem Stengel ruht, so ruht der zwölfblättrige Lotos auf der Chitrinl und wird durch seinen Stiel verschönert.

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VE US 2 Tasya kandalitakarnikäpu(e klptarekhamakathädirekhayä. KonalaksitahalaksamandaUbhävalaksyamabalälayarh bhaje.

Ich verehre die Wohnung der Shakti an der Stelle wo die beiden Fruchthüllen Zusammen­ kommen. Sie setzt sich zusammen aus den Linien 747 A , K a und Tha; die Buchstaben Ha, La und Ksha, die j e in einer Ecke zu sehen sind, geben ihm den Charakter eines Mandala7**. KOMMENTAR Man soll Betrachtungen darüber anstellen, daß der Guru sich im A-Ka-Tha-Dreieck im Fruchthülleninnem des obenerwähnten Lotos befinde. Nun möchte er das Dreieck beschreiben, damit man sich von ihm eine hinreichende Vorstellung machen kann. »Die Wohnung der Shakti« (abalälayam). — Abalä bezeichnet die Shakti. Hier ist sie die der Gestalt nach dreieckige Kämakalä; Vämä, Jyeshthä und Raudrl, die drei Shaktis, sind die Dreieckslinien. Diese drei Linien oder Shaktis emanieren aus den drei Bindus749. Kämakalä ist die Wohnstätte der Shakti. Das Yämala spricht davon, daß Kämakalä mit dieser Stätte identisch sei. Der Passus beginnt: »Ich spreche jetzt über Kämakalä« — und fortfahrend heißt es750: »Sie ist die drei Bindus. Sie ist die drei Shaktis. Sie ist die dreifältige Manifestation. Sie ist immerwährend.« Mit anderen Worten, die Kämakalä setzt sich aus den drei erwähnten Shaktis zusammen (trishaktirüpä). Als nächstes spricht er über die Attribute der Abalälaya (Shaktiwohnung). »Die Stelle wo die beiden Fruchthüllen zusammenkommem (kandalita-karnikäpute). — Dem üblichen Sinne nach bezeichnet Kandala einen Streit, in welchem man den andern mit Worten angreift. Hier ist seine Bedeutung nur die, daß die Fruchthülle des einen (des zwölfblättrigen Lotos) in der des andern (des Sahasrära) mit inbegriffen ist. Stelle, Ort (puta) — i. e. die Stelle, wo das Dreieck sich »aus den Linien A , K a und Tha zusammensetzt« (klipta-rekham akathädirekhayä). — Die sechzehn mit A beginnenden Vokale bilden die Vämä-Linie, die sechzehn mit K a beginnenden Buchstaben bilden die JyeshthäLinie, und die sechzehn mit Tha beginnenden Buchstaben bilden die Raudri-Linie. Die Wohnung der Shakti setzt sich aus diesen drei Linien zusammen. Das Brihat Shrfkrama, sich mit der Kämakalä befassend, sagt: »Aus dem Bindu als der keimenden Wurzel (ankura) hervorgehend, hat sie die Buchstabenform angenommen761.« »Die Buchstaben Ha, La und Ksha, die in seinen Ecken zu sehen sind, geben ihm den Charakter eines Mandala« (kona-lakshita-ha-la-ksha-mandali-bhäva-lakshyam). — In den Ecken — d. h., in den Innenwinkeln des zuvor erwähnten Dreiecks. Die drei Ecken des Dreiecks liegen an der Spitze752, zur Rechten und zur Linken. Die dort sichtbaren Buchstaben Ha, La und Ksha geben der Stätte den Charakter eines Mandala. Man kann sich ohne ein Wissen um Einzelheiten eine angemessene Vorstellung (dhyäna) von diesem Dreieck nicht machen, darum werden weitere Schriftquellen herangezogen. Dieses Dreieck soll man sich so zeichnen, daß man es, müßte man es umschreiten, stets zur Linken liegen hat. Das Shäktänanda-Tarangini sagt: »Zeichne das A-Ka-Tha-Dreieck so, daß es beim Um­ schreiten von außen stets zu deiner Linken liegt763.« Das Kali Ürdhvämnäya: »Der Tri-Bindu764 ist das Höchste Tattva und verkörpert in sich Brahmä, Vishnu und Shiva (brahmavishnushivätmakam). Das aus den Buchstaben gebildete Dreieck ist aus dem Bindu hervorgegangen.« Desgleichen: »Die Buchstaben A bis

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Visarga bilden die Brahmä-Linie, sie ist die Prajäpati-Linie; die Buchstaben K a bis Ta bilden die allerhöchste (parätparä) Vishnu-Linie. Die Buchstaben Tha bis Sa bilden die Shiva Linie. Die drei Linien emanieren aus den drei Bindus.« Das Tantra-Jivana: »Die Linien Rajas, Sattva und Tamas umgeben das Yoni-Mandala.« Desgleichen: »Oben liegt die Sattva-Linie; die Rajas-Linie verläuft links, und die TamasLinie verläuft rechts755.« Bei sorgfältiger Betrachtung der obigen Schriftquellen kommt man zu der zwingenden Schlußfolgerung, daß die Buchstaben A-Ka-Tha in der oben angegebenen Richtung ver­ laufen. Das Svatantra Tantra sagt: »Die Linien A-Ka-Tha umgeben die Buchstaben Ha, La und Ksha.« Es setzt also die Buchstaben Ha, La und Ksha in das Dreiecksinnere. Es erübrigt sich, die Angelegenheit noch weiter zu diskutieren.

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VERS 3 Tatpute patutaditkadärimaspardhamänamanipätalaprabham. Cintayämi hrdi Cinmayam vapur-

nädabindu^lmnip^harnayAalam. In meinem Herzen meditiere ich über den juwelengeschmückten Altar (manipitha), über Näda und Bindu, die im Innern des oben besprochenen Dreiecks liegen. Der m attrof^ schimmernde Farbglanz der in diesen Altar eingelegten Gemmen beschämt selbst die Feuerpracht des auf­ flammenden Blitzes. Seine Substanz ist Chit. KOMMENTAR Die Stätte des Guru befindet sich auf dem Juwelenaltar im Dreiecksinnem. Er beschreibt deshalb den mit Juwelen geschmückten Altar (manipitha). »In meinem Herzen« (hridi) — i. e., im Gemüt (manasi). »Uber den juwelengeschmückten Altar, über Näda und Bindu« (näda-bindu-manipithamandalam). — Das zusammengesetzte W ort kann auf zweierlei Weise gebildet werden: Manipithamandalam zusammen mit Näda und Bindu (näda-bindubhyäm saha) oder Näda, Bindu und Manipithamandalam — i. e., alle diese drei. Einige interpretieren das in dem Sinne, daß das Mandala Manipitha aus Näda und Bindu zusammengesetzt sei. Das kann aber nicht sein. Näda ist weiß, und Bindu ist rot; und der mattrote Glanz, mit dem der Manipitha sogar die Pracht des aufflammenden Blitzes in den Schatten stellt, ist weder rot noch weiß. Das Shäradätilaka sagt: »Dieser Bindu ist Shiva und Shakti757, er teilt sich in drei ver­ schiedene Teñe; seine Teilstücke heißen Bindu, Näda und Bija.« Wenn das sinngemäß so interpretiert wird wie es sein soll, daß nämlich Bindu = I’ araShaktimaya, Bija = Eener, Näda = Mond und Bindu = Sonne wären, dann wäre Näda, als der Mond, weiß, und Bindu, als die Sonne, wäre rot. Auch Pürnänanda spricht758 davon, daß der Näda so weiß wie der Baladcva sei usw. Das Brihat Shrikrama sagt gleichfalls: »Dort war der unzerstörbare Bindu, leuchtend (rot) wie die aufgehende Sonne.« Und weü der eine weiß und der andere rot ist, können sie niemals die mattrote Gemme sein. Die von uns wiedergegebene Ansicht ist demnach korrekt. Die Lösung ist die, daß Näda unten, Bindu oben, und Manipitha zwischen den beiden liegt — so soll man seine Betrachtungen anstellen. Das hat das Kankäla-Mälini Tantra in der Guru-Dhyäna klar zum Ausdruck gebracht: »Meditiere über den vortrefflichen Antarätmä759 im (Bereiche des) Tausendblättrigen Lotos, meditiere über ihm (antarätmä) über den funkelnden Thron760 zwischen Näda und Bindu und (meditiere) über den auf diesem Thron sitzenden und weiß wie ein SUberberg (schimmernden) ewigen Guru.« »Der mattrot schimmernde Farbglanz der in diesen Altar eingelegten Gemmen beschämt selbst die Feuerpracht des Blitzes« (patu-tadit-kadärima-sparddhamäna-manipätalaprabham). — Das qualifiziert das Manipltha-Mandalam. »Patu«-sein heißt imstande sein, seine Arbeit recht zu verrichten. Nun, ein Blitz muß prunken um seiner selbst willen. Hier ist die Vorstellung die, daß der mattrote Schimmer der in den Pitha eingelegten Gemmen die ununterbrochene Lichtfülle des rötlich-gelb (píngala) aufflammenden Blitzes in den Schatten stellt. Um einen mattroten Earbton handelt es sich insofern, weü der Manipitha über und über mit Edel­ steinen besät ist. »Seine Substanz ist Chita (chimnayam vapuh). — Der Chinmaya- oder Jüänamayakörper. Die Kernsubstanz von Näda, Bindu und Manipitha ist Chinmaya oder Jüänamaya761. Andere übersetzen das in diesem Sinne: »Ich meditiere über den Chinmayakörper des zwölften Vokals762, über das Sarasvati-Bija, d. i. das Gurumantra.« Aber das ist falsch. Der Guru ist weiß, darum ist sein Bija ebenfalls weiß; seinem Bija einen mattroten Glanz attribuieren wäre unangemessen.

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VERS 4 Urdhvamasya hutabhukéikhálrayam tadviläsaparibrmhanäspadarh. VUvaghasmaramahoccidotkatam vyämrsämi yugamädihamsayoh.

M it gespannter Aufmerksamkeit betrachte ich die mit der Feuerlinie beginnenden drei Linien über ihm ( dem Manipitha ) , betrachte ich die Feuerpracht des Manipitha, die durch den Glanz jener Linien noch gesteigert wird. Ich betrachte auch den uranfänglichen Hamsa133, das all­ mächtige Große Licht, das das Universum verschlingt133. KOMMENTAR Auf dem Hamsapltha im Dreiecksinnern auf dem Manipitha, zwischen Näda und Bindu, liegt die Guru-Stätte. Er möchte jetzt Hamsa und Dreieck heschreihen, damit man sich von diesen beiden eine klare Vorstellung machen kann. Der Sinn dieses Verses ist, kurz gesagt, der: Ich betrachte den uranfänglichen Hamsa766, ich betrachte über der Manipitha-Stätte die mit der Feuerlinie beginnenden drei Linien, und betrachte auch die Strahlenpracht des Manipitha selbst, wie er durch das Licht der drei Feuerlinien und durch anderes erhellt wird. D ie Verbalform »Ich betrachte« tritt in diesem Vers nur einmal auf, regiert aber drei Akkusativobjekte. »Mit gespannter Aufmerksamkeit betrachte ich« (vyämrishämi). — Das heißt, ich denke ungestörten Sinnes, wobei ich alle Vorstellungsobjekte ausschalte, die sich in meine Gedanken­ gänge störend einmischen könnten. »Über ihm« (ürdhvam asya) — d. h., über dem Manipitha. »Die mit der Feuerlinie beginnenden drei Linien« (hutabhukshikhä-trayam). — Dieses zusammengesetzte W ort ist nach der bekannten Shäka-Pärthiva-Regel konstruiert, nach welcher das W ort »Ädi«, das zwischen zwei Wörter zu liegen kommt, ausgelassen wird. Ädi heißt »und anderes«. Die Feuerlinie766, die sogenannte Vämä-Linie, emaniert aus dem Vahni Bindu im Süden und geht nach der Nordostecke; die Mondlinie emaniert aus dem Chandra Bindu in der Nordostecke und geht nach der Nordwestecke; als die Jyeshthä-Linie. Die Sonnenlinie emaniert aus dem Sürya Bindu in der Nordwestecke und verläuft zum Vahni Bindu: das ist die RaudrI-Linie. Das sich aus den die drei Bindus verknüpfenden drei Linien zusammensetzende Dreieck ist Kamakalä (kämakalärüpam). Das Brihat-Shrlkrama sagt: »Die aus Buchstaben Gestaltete hat sich in den Bindu zu­ sammengerollt und kommt als ein aus dem Süden sich entfaltender Same daraus hervor. Von dort767 geht sie nach der Ishäna-Ecke (NO). Die sich so Bewegende ist die Shakti-Vämä. Das ist Chitkalä-Parä und die Feuerlinie. Die in dieser Weise zur Ishäna-Ecke gewanderte Shakti geht dann gradlinig weiter (d. h. nach NW ). Diese Linie ist die Jyeshthä-Linie. Das ist, o Parameshvarl, Tripurä, die Unumschränkte Gebieterin. Sich wieder nach links768 wendend, kehrt sie zum Ursprungsort zurück. Nun ist sie die RaudrI, und aus ihrer Ver­ schmelzung mit Ichchhä und Näda bildet sie das Shrimgäta769.« Die Mäheshvarl-Samhitä sagt: »Sürya, Chandra und Vahni sind die drei Bindus. Brahma, Vishnu und Shambhu sind die drei Linien.« Das Prema-Yoga-Taranginl führt bei der Sahasrära-Beschreibung eine Textstelle an, die hier zitiert sei, und die klar zeigt, daß der Ort des Guru im Innern dieses Dreiecks liegt. »In seinem Innern liegt das vortreffliche blitzartige Dreieck. Im Dreiecksinnern befinden sich zwei unzerstörbare Bindus in der Visarga-Form. In deren Innern, in der Leere, ist der unter dem Namen Parama bekannte Shiva770.« Shankarächärya hat das in seinem Änandalaharl ebenfalls klar zum Ausdruck gebracht. Auch der Verfasser des Lalitä-Rahasya spricht

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davon, daß der Guru auf dem Visarga sitze. Der Visarga repräsentiert die beiden Bindus Chandra und Sürya in den oberen Ecken des (nach unten gekehrten) Dreiecks. »Den uranfänglichen Hamsa« (ädihamsayor yugam). — Wörtlich übersetzt heißt das die Verschmelzung771 des uranfänglichen Ham und Sah. Mit Ädi (der erste) ist der ParamaHamsa mit einbegriffen, man kennt ihn auch als Antarätmä; darin nicht enthalten ist der Jlvätmä, der einer Lampenflamme ähnelt. Der Hamsa hier ist die Verbindung von Prakriti und Purusha. Im Ägama-Kalpadruma-Panchashäkhä heißt es: »Hamkära ist Bindu, und Visarga ist Sah. Bindu ist Purusha, und Visarga ist Prakriti. Hamsa ist die Einswerdung von Pum (dem männlichen Prinzip) und Prakriti (dem weiblichen Prinzip). Die Welt wird von diesem Hamsa durchdrungen.« Einige übersetzen »asya ürdhvam« mit »über dem Manipitha« und sind der Ansicht, der Vers laute: »Ich betrachte die Union der beiden, die den uranfänglichen Hamsa über dem Manipitha zusammensetzen.« Das ist falsch. Das Kankälamälinl erwähnt, daß der Manipitha über dem Hamsa und zwischen Näda und Bindu liege. W ie können diese also unter dem Hamsa liegen ? Das ist unmöglich. Das zeigt auch die Unmöglichkeit der von einigen ver­ tretenen Lesart »huta-bhuk-shikhä-sakham«772 statt »huta-bhuk-shikhä-trayam«. Wenn diese Lesart akzeptiert würde, hätten die W orte ürdhvam asya (über ihm) keinen Sinn. Die Inter­ pretation »Ich betrachte die Union der . . . « , wie ich sie oben angegeben habe, möchte indessen in folgendem Sinne verstanden werden. Wir haben gesehen, daß nach dem Kankäla-Mälini der Hamsa sich unter dem zwischen Näda und Bindu befindlichen Manipitha findet. Die erwähnte Auslegung steht in großem Widerspruch zu der Ansicht des Kankälamälinl. Wenn man aber huta-bhuk-shikhä-trayam als nähere Bestimmung für den HamSa übersetzt, dann kann man die Schwierigkeit beseitigen. Der Sinn wäre dann: »Unter dem Manipitha ist der Hamsa, und über ihm liegt das durch den Hamsa gebildete Dreieck Kämakalä773.« »Das allmächtige Große Licht, das das Universum verschlingt« (vishva-ghasmara-makochchidotkatam). — »Bhaksh« und »Ghas« bezeichnen das gleiche. Das Wurzelwort »ghas« heißt »verschlingen«, und die Stammwörter »chid«, »hläd« und »dip« heißen alle »leuchten«. Das Große Licht (mahochchit) ist der Verschlinger (ghasmara) des Universums: Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß es allmächtig (utkata) ist. Utkata heißt wörtlich »sehr hoch«, »sehr erhaben«, hier heißt es »sehr mächtig«.

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VERS 5

Tatra näthacaranä ravindayoh kunkumäsavaparimarandayoh. DvandvamindumakarandaSitalam mänasam smarati mangaläspadam.

Dort versenkt sich der Geist in die die Füße des Guru darstellenden beiden Lotosse, deren rubinfarbener Nektar der Honig ist. Diese beiden Füße sind kühl wie der Mondnektar, sie gelten als die Stätte aller Glückverheißung. KOMMENTAR Nach der Beschreibung des Ortes, wo man über die beiden Lotosfüße des Guru seine Betrachtungen anzustellen hat, spricht er jetzt in diesem und im nächsten Vers über ihre Einswerdung (mit dem Sädhaka) vermittels Meditation (dhyäna). »Dort« (tatra) — i. e., im Dreieck auf dem Manipitha. Der Sinn dieses Verses ist, kurz gesagt, der: »Dort, im Dreiecksinnem auf dem Manipitha, betrachtet der Geist aufmerksam die Lotosfüße des Guru.« »Deren rubinfarbener Nektar der Honig ist« (kunkumäsavaparimarandayoh). — Das quali­ fiziert »die Lotosse«. Kunkuma heißt rot, die Lackfarbe. Der lackfarbene köstliche Nektar ist der Honig der Lotosfüße des Guru. Einige lesen »jhari« statt »pari«; der Sinn wäre dann: »von denen der rubinfarbene Nektar wie Honig fließt«. »Kühl uñe der Mondnektar« (indu-makarandashitalam) — i. e., sie sind kühl wie die nektar­ gleichen Mondstrahlen. Wie clie Mondstrahlen der Hitze entgegenwirken, so überwindet die zu des Gurus Eüßen vollzogene Andachtsübung Kummer und Leid. »Stätte aller Glücksverheißung« (mangaläspadam). — Es ist der Ort, wo man alles Gewünschte bekommt. Der Sinn ist, daß einem durch andächtige Konzentration auf die Füße des Guru jeder Erfolg zuteil wird.

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VERS 6

Ni§aktamapipádukdniyamitüghakólahalam sphuratkisalayärunarh nakhasamullasaccandrakam. Parämrtasarovaroditasarojasadrociparh bhajämi éirasi sthitarh gurupadäravinddvayam.

Ich huldige in meinem Kopf denbeiden Lotosfüßen des Quru. Der mit Juwelen verzierte Fuß­ schemel, auf dem sie ruhen, tilgt alle Sünde. Rot sind sie wie junges Laubwerk. Ihre Nägel ähneln dem in der Fülle seiner Pracht leuchtenden Mond. Ihnen eignet der vollendet schöne Olanz der in einem Lotossee wachsenden Lotosse. KOM M ENTAR Er sagt hier: »loh huldige den beiden Lotosfüßen des Guru, die in meinem K opf auf dem bereits beschriebenen Fußschemel ruhen.« Unter Huldigung ist hier Meditation zu verstehen.

»Der mit Juwelen verzierte Fußschemel, auf dem sie ruhen, tilgt alle Sünde« (nishaktamanipädukä-niyamitagha-kolähalam). — Das heißt, durch die andächtige Verehrung des seinen Füßen als Ruheplatz dienenden und mit Juwelen verzierten. Fußschemels wird der ganze Sündenhaufen ausgelöscht. Oder man kann es auch so übersetzen: »Der mit Gemmen übersäte Fußschemel — das ist das den Fußschemel darstellende Manipitha-Mandala — löscht den ganzen Sündenhaufen. Wenn man seine Betrachtungen darüber anstellt, wie die Füße des Guru auf diesem Schemel ruhen, werden alle Sünden ausgelöscht.« Oder man kann es so übersetzen: »Die fünf Fußschemel, die mit den Gemmen (mit denen die chintämani-gleichen Füße des Guru gemeint sind) untrennbar verbunden sind, zerstören deii ganzen Sünden­ haufen.« Wenn man zuerst den fünffältigen Fußschemel und hernach die darauf ruhenden Füße des Guru betrachtet, wird die Sünde ausgelöscht. Weil die Meditation über den fünffaltigen Fußschemel die Sündentilgung bewirkt, ist sie die eine solche Wegnahme zustande bringende Ursache. »Sie sind wie junges Laubwerk« (sphurat-kisalayärunam). — Das heißt, die Füße des Guru haben den rötlichen Farbton frisch geöffneter Blätter. Die frisch aufgegangenen Blätter des Mango- und Kendukabaumes774 haben einen rötlichen Farbton, mit ihnen werden sie ver­ glichen. »Ihre Nägel ähneln dem in der Fülle seiner Pracht leuchtenden Mond« (nakhasamullasachchandrakam) — i. e., die Zehennägel erglänzen gleichsam wie ebensoviele schön leuchtende Monde. »Ihnen eignet der vollendet schöne Olanz der in einem Nektarsee wachsenden Lotosse« (parämrita-sarovarodita-saroja-sadrochisham). — Das heißt, sie haben den reinen Glanz der in einem Nektarsee wachsenden Lotosse. Er will sagen, daß der köstliche Nektar von den Lotosfüßen des Guru ständig herabtropfe. Pürnänanda hat im Shat-Chakra-Nirüpanam Vers 43 das gleiche gesagt. Der köstliche Nektar ist der See, auf dem die Füße wie Lotosse aussehen. Man hat gesagt, der Platz des Guru sei zwischen den Fruchthüllen der vorerwähnten zwei Lotosse. Nun könnte aber eine Frage auftauchen, nämlich die, ob er sich in der Frucht­ hülle des darunterliegenden zwölfblättrigen Lotos oder in der des darüberliegenden Sahasrära befinde. Um diese Frage zu lösen, zitieren wir folgende Schriftbelege: Brihat Shrikrama: »Dann meditiere man über den Lotos, der mit seinem nach unten geneigten Blütenkopf über allen steht und auf die Shakti des Guru im anderen Lotos Nektar herabfließen läßt.« Yämala: »Der Tausendblättrige Lotos ist wie ein Baldachin776; er steht über allen und tröpfelt roten Nektar herab.«

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Gurugltä: »In deinem eigenen Guru meditiere im Lotos, der auf seinen Blättern die Buch­ staben Ham und Sah trägt, über den höchsten Guru, er habe zwei Arme und sei von allen Ursachen776 des Universums umgeben. Obgleich er sich in verschiedenen Abstufungen in allem manifestiert, ist er ohne das Universum und darüber hinaus. Über seinen Willen gibt es keine Schranken777. Aus ihm fließt das Licht der endgültigen Erlösung. Er ist die sichtbare Verkörperung der Buchstaben des Wortes778 Guru.« Das Shyämä-Saparyä zitiert folgendes: »Der nach unten geneigte Sahasrära Lotos im K opf ist weiß. Seine Staubfäden zeigen die Farbe der aufgehenden Sonne; auf seinen Blütenblättem stehen alle Alphabetbuchstaben. In der Sahasrärafruchthülle ist das ChandraMandala, und unter der Fruchthülle liegt der strahlende Lotos mit den zwölf Blättern, er enthält das mit den Buchstaben Ha, La und Ksha versehene A-Ka-Tha-Dreieck. Meditiere dort über deinen Guru, über Shiva, wie er auf dem aus Mantras zusammengesetzten HamsaPltha sitzt.« Obige Textstellen und ähnliche andere weisen darauf hin, daß der Platz des Guru in der Fruchthülle des zwölf blättrigen Lotos liegt. Das Kankäla-Mälini sagt: »Meditiere über den vollendeten Antarätmä im Tausendblättrigen Lotos779, über den zwischen Näda und Bindu liegenden leuchtenden Thron und (meditiere) ununterbrochen über deinen (auf dem Thron sitzenden) eigenen Guru, er gleicht einem Silber­ berg« usw. Das Yämala sagt780: »(Meditiere über deinen Guru) im Tausendblättrigen Lotos. Seine kühle Schönheit gleicht der des Vollmonds, und seine Lotoshände hat er erhoben, um Gnaden zu gewähren und Furcht zu vertreiben.« Im Purashcharana-Rasolläsa (Kap. V III) steht folgender D ialog: »Shri Mahädeva sprach: >Dort in der'Fruchthülle des wundervollen imvergänglichen Lotos mit den Tausend Blütenblättern meditiere stets über deinen eigenen Guru.< Shri Pärvat! sagte: >Der Blütenkopf des Tausendblättrigen Großen Lotos, o Herr, ist immer nach unten geneigt; sage mir nur, O Deva, wie kann dann der Guru ständig dort wohnen ?< Shri Mahädeva sprach: >Gut hast D ü gefragt, O Geliebte. Höre, was ich Dir sage. Der große Sahasrära-Lotos hat tausend Blätter, er ist die Stätte Sadäshivas und ist voll ewiger Wonne. Er ist mit allerlei köstlichem Wohlgeruch angefüllt und gilt als Ort für die spontane W onne781. Der K opf dieses Lotos hängt stets nach unten, die Fruchthülle aber zeigt stets nach oben782, und mit Kundalinl verschmolzen, bildet er immer die Form eines Dreiecks. So Du am Morgen aufwachst, meditiere im weißen Lotos mit den tausend Blättern über deinen Guru; der K opf dieses großen Lotos hängt nach unten und ist mit allen Alphabetbuchstaben verziert. In seinem Innern liegt das unter dem Namen A-K a-Tha bekannte Dreieck, es ist mit den Buchstaben Ha, La und Ksha verziert. Mit lächelndem Antlitz sitzt er auf dem HamsaPitha783, der in der Gegend des Chandra Mandala im Innern (des Sahasrära) liegt.< Shri D ev! sagte: >0 Herr, wie kann der Guru denn dort stehen, wenn der Blütenkopf nach unten hängt ?< Shri Dakshinämürti sprach: >Das Chandra Mandala in der Fruchthülle des Tausend­ blättrigen Lotos ist nach oben gekehrt; dort ist der Hamsa, und dort ist der Ort des Guru.Shuka Samhitä«, eine der fünf Samhitäs der Samaya Gruppe.« 605 Svämi Dayänanda; Räja-Yoga, herausgegeben von Shri Bhärata Dharma Mahämandala, Benares. 606 Ibid., 19,20. 607 Mridu (aussetzend, unbestimmt und schwach); Madhyama (mittelmäßig); Adhimätra (hochgradig — wo sogar Weltgenuß als Qual empfunden w ird); Para (höchstgradig — wo der Geist den weltlichen Objekten vollständig entzogen, unter keinen Umständen durch sie gefesselt werden kann). 608 Ibid., 5. 609 In ähnlicher Weise unterscheidet man sieben Bhümikäs, sieben Karma-Ebenen: Vividishä oder Shubhechchhä, Vichäranä, Tanumänasä, Sattäpatti, Asamsakti, Padärthäbhävini, Turyagä — sowie sieben kultische Anbetungsebenen (upäsanä bhümikä), nämlich fol­ gende: Nämapara, Rüpapara, Vibhütipara, Shaktipara, Gunapara, Bhävapara, Svarüpapara. 610 Seite 207, ante. 611 Dayänanda Swami, Räja-Yoga, 19. 612 Das Gesamtvolumen der Karma-Samskäras im Keim-(blja-)stadium. V II. Die theoretischen Grundlagen dieses Y oga 613 Es gibt davon noch eine ganze Reihe. Einige, mir von Mahämahopädhyäya Adityaräma Bhattächärya freundlicherweise überlassene Belege kamen für die Einregistrierung in die Erstauflage zu spät, ich habe sie den nachfolgenden beigefügt. 614 Siehe Taranga I des Mantramahodadhi: Devärchä-Yogatäpräptyai BhütashuddhimSamächaret. 615 Betreffs einiger Hinweise aus den älteren Upanishaden siehe einen Artikel von Prof. Rhys Davids im J.R.A.S. (Januar 1899), S. 71: »Die Seelentheorie in den Upanishaden«. Cf. gleichfalls den I. Band meiner »Principles o f Tantra«, w o ich mich u. a. auf die Prashna Upanishad III/6, 7 berufe. 616 »Anécdota Oxoniensia«, p. 236 (herausgegeben von Arthur Berriedale Keith). 617 Upanishadäm Samuchchayah: Änandäshrama Serie, Band X X I X , p. 593. 618 Das Tantra erhebt, wie jedes andere indische Shästra, Anspruch darauf, aus dem Veda zu stammen. 619 Dieser Lotos wird im allgemeinen mit dem Anähata verwechselt. Das Ebengenannte ist ein Chakra in der Wirbelsäule; der achtblättrige Lotos liegt in der Herzregion (hrid) im Körper. 620 W örtlich: »das Ergreifen von Dingen«. Die Übersetzung dieser Vritti — wie die einiger anderer — stellt einen Versuch dar. Es ist nicht einfach, in jedem Falle den genauen Sinn zu treffen oder ein englisches Äquivalent zu finden. 621 Änandäshrama Serie, Band X X I X , p. 325. 622 Man wird bemerkt haben, daß hier die beiden niederen tamasischen Zentren nicht erwähnt werden. 623 Ibid., p. 262. 624 Op. eit., 43. Die Amritabindu Upanishad befaßt sich auf S. 71 ganz allgemein mit Yoga. 625 Ibid., Band X X I X , p. 145. 626 Änandäshrama Ausgabe, Band X X X , p. 61. 627 Band X X I X , gleiche Ausgabe, p. 345; siehe pp. 441, 450, 451, 458, 460. 628 Gleiche Ausgabe, Band X X I X , pag. 477. 629 Ibid., p. 483; und was den Durchgang der Kundalinl durch die Brahmadvära anbelangt, siehe p. 485.

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630 Änandäshrama Ausgabe, Band X X I X , pag. 620. 631 Diese Yoga-Upanishaden sind kürzlich als Teilausgabe der »Dreißig Kleinere Upanishaden« von K . Näräyanasvämi Aiyar übersetzt worden (Theosophrsche Gesellschaft Madras, 1914). 632 Siehe X X X V . Kapitel im I. Band meiner »Tantrik Texts«. 633 Vgl. auch Änandagirl: Shankaravijaya sowie Mädhava: Shankaravijaya (Kapitel X I ; siehe ferner ib. die Stellen, die das Shrichakra erwähnen). 634 Änandalahaii, 14. Ich habe diesen Hymnus unter dem Titel »Wave of Bliss« übersetzt. 635 So sollen die Verse 13,18 und 19 den Madana-Prayoga behandeln — d. h., sie beschreiben die Nutzanwendung des Mantra für das dritte Purushärtha, für Käma (die Begierdenseite). 636 Er scheint gegen die Uttara, die nördliche Kaula-Schule, eingenommen zu sein. — A. A. 637 Ich habe mich diesem Kommentar auch in meiner »Wave of Bliss« angeschlossen. — A. A. 638 Bija, das Keim-Mantra. — A. A. 639 Diejenigen Schriftsteller, die sich mit der praktischen Nutzanwendung befassen. — A. A. 640 Das ist der ruhmreiche bengalische Paramahamsa Guru des Pümänanda Svämi, des Verfassers des Shatchakranirüpana. Brahmänanda gilt als der Verfasser des berühmten Shäktänandatarangini. — A. A. 641 Sarveshäm präninäm shirasi Amritam asti iti yogamärgena kundalinlgamane tatratya tatpravähäplutena yoginäm Ishvarasämyam jäyate iti yogashästreshu prasiddham (Kommentar zu Vers 1). 642 Bibliotheca Indica, ed. Asiatic Society (1871). Die Anmerkungen stammen aus dem Kommentar des Näräyana. 643 Die Mann-Löwe-Inkamation Vishnus. 644 Änandätmaka; in Änanda (der Wonne) als solche. 645 Das Gute, das Vollkommene. 646 Das Strahlende (tejomaya). 647 Das Chakra, das durch die Jnänashakti und durch die Kriyäshakti alle Regionen (loka) beschützt. 648 Das durch den Yogapfad erreichte Chakra. 649 Das Chakra, das den Untergang aller Asuras, aller Lügner verkörpert. 650 Das heißt, ein jedes Chakra hat drei Bereiche — einen inneren, einen mittleren und einen äußeren Bereich, hat ein Bija, ein Märasimha Gäyatri und ein Mantra. 651 Das Keim-Mantra, worüber in diesem Palle, bzw. in diesen Fällen, die übernächste Anmerkung Aufschluß gibt. 652 Das ist das Mantra. Närasimhäya vidmahe vajranakhäya dhimahi tannah simhah prachodayät. (Möchten wir über Närasimha nachdenken, möchten wir über seine vajraähnlichen Klauen nachdenken. Möchte dieser »Mann-Löwe« uns doch leiten.) 653 Das heißt die folgenden Bijas: kshaum (im ächakra); shrim, seine shakti (im suchakra); aim (im Mahächakra); kllm (im sakalaloka-rakshana-chakra); om (im dyuchakra) und hüm (im asuräntakachakra). 654 Das heißt, einem jeden von ihnen wird der einzelne Teil der obenerwähnten NärasimhaGäyatri zugeteilt. 655 Der Atmä als Wonne, Liebe, Licht oder Energie, Mäyä, Yoga — einschließlich des Chakra, das die Vernichtung aller Asuras verkörpert. 656 Das heißt, wie soll man Nyäsa ausführen? Das wird im Text und in den folgenden Anmerkungen erläutert, wo die Nyäsa angegeben wird. 657 Kshaum Närasimhäya ächakräya änandätmane svähä hridayäya namah. 658 Shrim vidmahe suchakräya priyätmane svähä shirase svähä. 659 Aim vajranakhäya mahächakräya jyotirätmane svähä shikhäyai vashat. 660 K llm (jhimahi sakala-loka-rakshana-chakräya mäyätmane svähä kavachäya hum. 661 Om tanno dyuchakräya yogätmane svähä netratrayäya vaushat. 662 Haum nrisimhah prachodayät asuräntaka-chakräya satyätmane svähä asträya phat. 663 Das heißt, er wird sprachfähig, er wird ein Poet. Er weiß um den Anfang und um das Ende aller Dinge und ist imstande, alle Dinge zu erklären. 664 Verschiedene Seinsformen schreckenerregender und boshafter Geisteseinflüsse. 665 Das heißt, nicht demjenigen _gegenüber, der dieses Wissen zu empfangen ungeeignet (adhikäri) ist. Hier endet die Ätharvaniya Shatchakro-Panishad. 666 Wenn mein aus dem Bengali stammender Auszug auch die kläglichen Grobheiten des Originals aufweist, so wird der Kritiker, des bin ich sicher, nicht Anstoß daran nehmen. 667 Es ist immer belangreich, einen solchen Tatbestand zu unterstreichen, denn es beeinflußt im allgemeinen den Ausblick auf die Dinge. In einigen Fällen ist die Denkart von so

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abendländischem Gepräge, daß sie außerstande ist, das alte indische Gedankengut fehlerfrei zu erfassen. 668 Das würde meiner Ansicht nach kein Tantriker gelten lassen. Er würde sagen, es liege an der Unwissenheit (avidyä), wenn jemand zwischen Veda und Agama Unterschiede feststellte. Der Rezensent wiederholt hier nur wie ein Echo einige abendländische K ri­ tiken. 669 Es ist wahr, die vollendete Mukti, die Kaivalya, ist körperlos (videha). Man unterscheidet aber auch eine Mukti, in der der Y ogi seinen Körper beibehält (jlvanmukti). In W irk­ lichkeit aber gibt es kein »Verlassen«, kein »Fortgehen«, wie Shankara sagt, denn der Ätmä »geht« nicht und »kommt« nicht. 670 Das beweist wenigstens seine umfassende Durehdringungsfähigkeit. 671 Das ist ein verächtlichmachender Ausdruck, der noch aus den Tagen stammt, wo man den Fremden als ein Objekt der Feindseligkeit, als ein Objekt der Geringschätzung, betrachtete. Genauso wie die Griechen und wie die Chinesen einen Nichtgriechen, bzw. einen Nichtchinesen, einen »Barbaren« nannten, so nennen die Hindus der exoterischen Schule alle Nichthindus, ob sie nun zu den eingeborenen Stämmen zählen oder gebildete Ausländer sein mögen: Mlechchhas. Mlechchhatä ist die Seinsform eines Mlechchha. Dem guten R uf des Shäkta-Tantra ist es zu verdanken, daß es solche närrisch-beschränkte Vorstellungen nicht unterstützt. 672 Sie durchwandern Indien und überreden die Dorfeinwohner, zur Arbeit in die Teegärten zu kommen, zu denen man sie dann — gelinde gesagt — mit nicht gerade bewunderungs­ würdigen Verkehrsmitteln hintransportiert. Die Wahrheit verlangt jedoch eine Richtig­ stellung, nämlich die, daß die Behauptung, »die Gurus beschäftigten Agenten, um sich Nachfolger zu sichern«, grundlos ist. Die Gurus von echtem Schrot und K orn nehmen es mit der Qualifikation des vorgeblichen Anhängers sogar sehr genau. 673 Die Bücher und die Gurus behaupten es zu lehren. 674 Es ist kein Guckkasten für jedermann. Nur diejenigen sollen sehen, die die großen Schwierigkeiten dieses Pfades bewältigt haben. 675 Man unterscheidet einen Brahman mit seinen Aspekten. 676 Dieser Nektar findet sich im Körper. Das Wahrnehmbare ist jedoch nicht immer so grob beschaffen wie diejenigen Dinge, mit denen die Heilkunde sich befaßt. 677 Das ist der indischen Überlieferung nach die Zeitepoche des Philosophen. 678 Als Shankara mit Käpälika Krakacha ernst debattierte, rief dieser die feurige Existenz­ form Shivas, den sogenannten Bhairava, um Hilfe an. Als aber Shankara den Gott anbetete, sagte dieser zu Krakacha: »Deine Stunde ist gekommen«, und nahm Seinen Verehrer in Sich auf. Siehe Mädhava: Shankaravijaya, X V . Kapitel. 679 Siehe ante, p. 277. 680 So nimmt das der Gottheit dargebrachte Blumenopfer und dgl. Anteil an dem Karma­ gesetz; während Bhakti, wo der Verehrer durch die Liebe zu Gott in diesen aufgegangen ist, dem transzendentalen Aspekte nach eine Samädhi-Form darstellt. 681 Wenn wir uns jedoch mit den sogenannten drei Kändas befassen — nämlich mit Karma, mit Upäsanä und mit Jnäna —, dann bilden Tapas und dergleichen Praktiken einen Teil der Upäsanä-Kända. Die obige Definition ist nur eine zweckmäßige Yogaklassi­ fikation. 682 Sattva, Atisattva, Paramasattva, Shuddhasattva und Vishuddhasattva sind fünf ver­ schiedene Chaitanya-Formen. 683 Das ist für die Erlangung der Bereitwilligkeit durchaus erforderlich. Fortgesetztes Üben macht die Handlung gleichsam zur zweiten Natur, und das Endergebnis wird dauerhaft. 684 Gäyatrünülaka Shatchakrer vyäkhyäna o sädhanä (Mangala Ganga Mission Press). 685 Der erwähnte unorthodoxe Verfasser, der den Ausspruch anführt, »um Siddhi (die Erreichnisse, die Frucht) im Shruti (Studium und Praxis des vedischen Zeremoniells) zu gewinnen, muß der Brähmana das Tantra befolgen«, fragt gemäß seinen Ansichten über dieses ebengenannte Shästra: »Wie können denn diejenigen, die vom Veda getrennt sind, siddhi im Shruti gewinnen ?« — Das ist die Wiederholung eines allgemein bekannten Vorwurfs, daß das Tantra dem Veda zuwiderlaufe, was aber das Shästra als solches abstreitet. Im Gegenteil, das Kulärnava Tantra spricht von ihm als Vedätmaka. Die eine Frage ist natürlich der erhobene Anspruch, den Veda als Grundlage zu haben; die nächste Frage aber ist, ób ein bestimmtes Shästra de facto mit ihm übereinstimmt. Darüber streiten sich die indischen Schulen und differieren genauso wie die christlichen Sekten im Hinblick auf die Bibel, die sie alle als Grundlage beanspruchen.

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686 Diese Definition ist unrichtig. W ie ich später noch erklären werde, sind die physischen Ganglien nur die groben Entsprechungen für die subtilen Vitalchakras, von denen sie beseelt werden. 687 Der Verfasser nimmt hier Bezug auf die später beschriebenen Prozesse, in denen man Luft einzieht und die inneren Feuer anfacht, um die schlafende Schlange aufzuscheuchen. Der Parätmä ist der höchste Ätmä. 688 Diese Bemerkung deutet eine wertvolle Gedankenrichtung an. Einige verfolgen den Pfad der Ergebenheit (bhakti), was geschieht nun aber mit denjenigen, die diese nicht haben oder sie nur in geringem Grade besitzen ? 689 Der Abschnitt in eckigen Klammem stammt von mir. — A. A. 690 Diese Äußerung scheint hinsichtlich des spezifischen Yogacharakters ein Mißverständnis anzudeuten. Wenn man die Kundall erwecken will, dann muß man, so habe ich mir sagen lassen, mit dem Verfahren am untersten Zentrum beginnen. Man kennt indessen auch noch andere Yogaformen, wo man die Kundall nicht erweckt. — A. A. 691 Wie zum Beispiel Pränäyäma, Asana. Siehe weiter vorn, p. 192. 692 So kann man, wenn man die Kundalini Shakti bis zum Manipüra-Zentrum aufsteigen läßt, (angeblich) mit Gewalt über Feuer erlangen. 693 Die sich auf Dharma, Yama, Niyama usw. aufbaut. In jedem Falle, w o das erstrebte Ziel rein »geistig« ist, haben wir Vairägya, Verzichtleistung, Entsagung. 694 Das eben macht den Räja-Yoga zum höchsten und schwierigsten Yoga, denn hier veranlaßt man den Geist, sich selber zu besiegen. Im Laya-Yoga wird der Sieg für den Sädhaka durch die Kundalini Shakti errangen. Er erweckt sie, und sie gewinnt für ihn die Siddhi. Die Kundalini zu erwecken ist leichter als durch bloßes gedankliches Be­ trachten in den Nirvikalpa Samädhi einzutreten. 695 W eil es Mitmenschen gibt, die unter dem Begriff »Genuß« (bhoga) immer nur »Bier und Kegelspiel« verstehen, muß ich hier darauf aufmerksam machen, daß weder dieses noch der hier gebrauchte Ausdruck den tieferen Sinn des Wortes »Bhoga« wiedergibt. Philosophisch gesehen ist Bhoga die Perzeption von Objekten, auf die Genuß, vielleicht aber auch Leid, zeitlich nachfolgt. Hier meint man mit diesem Ausdruck jede Form von sinnlichem oder geistigem Genuß. Alles Leben in der Formwelt ist Genuß. In W irk­ lichkeit umfaßt Bhoga auch das Leid. 696 Den man vermutlich billigen kann, ohne ihn dabei zu einer bestimmten Nutzanwendung, zu der man ihn gebrauchen könnte, heranzuziehen. Man kennt allerdings auch einige — gelinde gesagt — gefährliche Praktiken, die in den Händen von charakterlich minder­ wertigen Personen zu den entsprechenden Ergebnissen geführt und in dieser Hinsicht dem Shästra seinen üblen R uf eingebracht haben. 697 »Welten«, weil das so der englische Redestil ist. Hier aber handelt es sich um den Gegen­ satz zwischen der W elt (einerlei ob Erde oder Himmel) und der Erlösung von allen Welten. 698 So ergreift der Sädhaka im Shäkta-Ritual den Weinkelch und gießt als Trankopfer den Wein in den Mund der Kundalini-Shakti, wobei ihm die Shakti in Gestalt seiner selbst erscheint. 699 Ein Name Shivas. 700 Das heißt die Weltmutter von allem, wie sie in der Gestalt ihres Verehrers in die Erschei­ nung tritt. 701 Von Sj. Arobindo Ghose in der Arya. 702 Im Tantrismus hat man sich als erstes mit der vedantischen Wahrheit zu befassen; an zweiter Stelle kommt dann, mit einer Erhabenheit eigener Art, Mäyävädin, die aszetische Observanz, die aber mit den Bedürfnissen der meisten Mitmenschen möglicherweise schon weniger übereinstimmt. 703 Yoga bhogäyate säkshät dushkritam sukritäyate Mokshäyate hi samsärah kauladharme kuleshvari. (Kulärnava Tantra) 704 Samhäramudrä, die Geste, mit der man die Selbstauflösung einleitet: »Jetzt bin ich im Begriff zu sterben.« 705 Siehe meine »Shakti and Shäkta«. 706 Die Erklärung der Tantras, daß diese Union die Befreiung (mukti) darstelle, ist nur stuti — d. h. nach der indischen Denkweise ein Lob auf den vorliegenden Tatbestand, der außerhalb des Bereichs des aktuellen Geschehens liegt. Derjenige europäische Leser, der solche Beschreibungen »au pied de la lettre« ( = wortwörtlich) nimmt und belächelt, macht sich als Besserwisser selbst lächerlich. Was in einem solchen Falle tatsächlich

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eintritt, ist eine flüchtig vorübergehende Wonne, die wie jede andere Wonne von der Ur-Wonne ausgeht, die aber nur deren matten Abglanz darstellt und die Befreiung von der zukünftigen Wiedergeburt von sich aus keineswegs sicherstellt. Es ist das die Wonne der niederen Sädhanä, gleichsam wie die Verschmelzung von Kundalinl Shakti und Shiva die Wonne der höheren Sädhanä verkörpert. Wie das Paräpraveshikä sie so schön nennt. Im Yoginlhridaya Tantra heißt es: »Sie ist das Herz, denn von ihr entspringen alle Dinge.« Es ist, wie das Yoginl Tantra besagt, der Koitus (maithuna) derjenigen, die Y ati sind (die ihre Leidenschaften im Zaume halten). Dieser Ausdruck bezeichnet die aus der männlich-weiblichen Verschmelzung resul­ tierende Wonne, die entweder aus den Körpern oder aus deren inneren Prinzipien ihren Ursprung nehmen kann. Eür das Siddhi-Auge, für denjenigen Geist also, der Udäsina ist (der als schlichter Beobachter die Außenwelt ganz und gar vergißt), ist der Werdeprozeß Adhyäsa und nichts Reales (im indischen Sinne dieses Ausdrucks wie er bei Shankara üblich ist). Die Schöpfung (shristi) ist vivarta, d. h. ist eine scheinbare und unwirkliche Evolution (parinäma). Adhyäsa ist das, was man einem Dinge zuschreibt, was es in Wirklichkeit aber gar nicht besitzt. Die projizierende Bewußtseinskraft zieht ihre in die Sinneswelt gerichteten Projektionen zurück, und übrig bleibt die Bewußtseinskraft als Existenzkraft. Warum gerade hier, so könnte man fragen, wo doch das Bewußtsein alles-durchdringend ist? Zugegeben; aber gerade hier ist die tamasische K raft der Mäyä am schwächsten. Deshalb erreicht man hier das Bewußtsein. In einem an mich gerichteten Brief hatte er in Erwiderung auf eine meiner Repliken mir einige Auskünfte über diesen Y oga erteilt. Er schrieb mir, daß mein Brief ihm gewisse Gedankengänge »über ein Problem von höchst philosophischem und praktischem Interesse im Leben eines Hindu« erweckt hätte; ich gebe das im Wortlaut wieder. Die eingeklammerten Übersetzungen der Sanskritausdrücke stammen von mir. »Annäherungen an die Wahrheit«, »Das Offenkundige Wunder« (The Patent Wonder) — wertvolle Darstellungen der alten vedantischen Lehre in neuzeitlichem Sprachstil. Daß Kundalinl die statische Shakti sei. Gewiß. Mit dem Befruchtungsvorgang befaßt sich das Mätrikäbheda Tantra. Dieses Aus- und Einströmen ist ein im Tantra üblicher Begriff. Spiritisten. Overcharged anstatt: over-saturated. »Getrunken, getrunken und wieder getrunken« — ein Passus aus dem Kulämava Tantra, der nicht das wirkliche Trinken (wie einige glauben), sondern das wiederholte Erwecken der Kundalim andeutet. »Nehmen Sie einen Magneten« — und »Magnetismus«, würden wir sagen. Hier ist der Ort der ersten Regung, die Stätte des Pashyanti Shabda. Obgleich er diesen Y oga selbst nicht praktizierte, war doch sein Bruder, bei dem er gelernt hatte, ein Adept darin. Seine Berichte habe ich stets besonders wertvoll emp­ funden. Ich möchte jedoch daran erinnern, daß ein noch so gelernter Pandit, ein noch so erfahrener Yogi, über die wissenschaftlichen Zusammenhänge seiner Lehre wie seiner Praxis möglicherweise im Unklaren sein kann. Weder sage ich, daß das rechtsgültig anerkannt, noch daß es eine Tatsache sei. Nur derjenige, der alle Yoga-Erfahrungen durchgemacht hat, kann so etwas sagen. Ich berichte hier nur über Tatbestände. Was der christliche Wissenschaftler, wie ich glaube, die »sterbliche Seele« (mortal mind) nennt. Nach der indischen Lehre ist die Seele (mind) eine zeitlich und räumlich begrenzte Manifestation des ewigen grenzenlosen Bewußtseins. Da die Begriffe differieren, sind zwei Definitionen besser als eine.

ANMERKUNGEN TEXT Die Beschreibung der Sechs Zentren Einleitungavers 1 Parichita-Shadambhoja-Vibhava. 2 Das ist das Shat-Chakra; die Sechs Zentren heißen: Mülädhära, Svädhishthäna, Manipüra, Anähata, Vishuddha und Äjüä. 3 Antas-Tattva — i. e., in bezug auf die Shat-Chakra. 4 Kripä-Nätha, der barmherzige Herr, das ist der Guru. 5 Sha, Sa, Ha. Sha = endgültige Erlösung. Sa = Wissen, Erkenntnis. H a = Höchster Geist; auch Brahma bzw. Vishnu und Shiva. 6 Diejenigen, die Sädhana, die Geistesdisziplin, üben; hier: Yoga-Aspiranten. 7 Tattva-Jnäna = Brahma-Erkenntnis, das Wissen um das Brahman. 8 Die Devi als Shabda Brahman (shabda-brahma-rüpä kundalini, Vers 2, später) in der Körperwelt (pindändä) oder im Kshudra-Brahmända (Mikrokosmos). Vers 10 beschreibt sie als diejenige, die alle Wesen in der W elt vermittels des Ein- und Aushauchs am Leben erhält. Der unmanifestierte »Klang« nimmt im Tierkörper die Kundali-Form an ( W . 10,

11). 9 Mülädhära usw. 10 Shat-Chakra-Nirüpana. Nirüpana = Untersuchung, Gestaltung und Ermittlung der Sechs Chakras. Das ist das 6. Kapitel aus Pürnänanda: »Shri-Tattva-Chintämani«. 11 In denen man eine ausführliche Beschreibung des hier geschilderten Vorgangs, der bekannten Shat-Chakra-Bheda (Durchdringung der Sechs Chakras) finden kann. 12 Die »Nerven« oder Kraftkanäle (siehe Vers 2). Nädi ist abgeleitet aus dem Wurzel wort nad = Antrieb, Bewegung, und bezeichnet einen Kanal (vivara). 13 Brahma-Säkshätkära-Rüpa-Nishpattih. 14 »Man erreicht das durch« . . . = udgata, was wörtlich »entsprungen aus«, »entsprossen aus«, heißt. 15 Nach Shankara sind mit dem Ausdruck »die anderen Dinge« das Sahasrära usw. gemeint. Dieser hier und weiter unten erwähnte Shankara ist ein Kommentator dieses Werkes und nicht der Philosoph Shankarächärya. 16 Siehe Anmerkung 31. 17 In dreien der Chakras — viz., Svayambhu, Väna und Itara. 18 Vyoma-Panchaka. 19 Brahma-Säkshät-Kära. Vers 1 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Die Wirbelsäule. d. h., Nädis. Mond = die weibliche oder Shakti-Rüpä-Nädi Idä, links. Sonne = die männliche Nädl Píngala, rechts. Dem Sinne nach (siehe später) entweder die Gunas Sattva, Rajas und Tamas; oder die »Nerven« Nädl Sushumnä mit der in ihr verlaufenden Nädl Vajrä und der in dieser verlaufenden Nädi Chitrini. Das heißt als Chitrini, Vajrini und Sushumnä. Dhatura fastuosa. Die Wurzel aller Nädis (siehe später). Kanda = Wulst. Penis. Chandrasvarüpini und Süryarüpä. Kapitel IV , 5 —6. Der vom Kommentator nicht zitierte siebente Vers lautet: »Innerhalb der Meru verläuft die glühende Sushumnä, sie erstreckt sich von der Müla bis zur Brahma-Stätte und gilt als das wahre Selbst aller Erkenntnis.« Cf. Rudrayämala, Kap. X X V II, Vers 51. Shakti-Rüpä — die Devi als Shaktloder »Weib«. Rudrätmikä — d. h., dem Charakter nach Rudra oder »Mann«. Ein Passus aus dem Prapanchasära (Tantrik Texts, Bd. III) Kap. I, W . 81, 82. Es gibt eine abweichende Lesart: Nädikä statt Näsikä.

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35 Das Sammohana Tantra lautet im Kap. 11/13 so: »In der Idä ist die Devi-Jähnavi, Yamunä ist in der Píngala, und Sarasvati in der Sushumnä« — alles Namen heiliger indischer Flüsse. 36 Das wird dem Sinne nach auch so übersetzt, daß die drei Nädis an den drei Granthis — Brahmagranthi, Vishnugranthi und Rudragranthi — zusammenlaufen. 37 Der Penis. 38 Wenn man in den »Flüssen hier eintaucht« usw. heißt, wenn der Geist mit einem voll­ ständigen Wissen um diese Chakras übergossen wird, gewinnt man dadurch großen Nutzen. 39 Sushumnä ist die äußerste Hülle, Chitrini die innerste, und im Innern der Chitrini verläuft die Brahmanädi (»Ader Brahmas«), der Kanal, den die Kundall entlangwandert. 40 Sammohana Tantra I I /7 ; findet sich auch im Rudrayämala Kap. X X V II, Vers 52. 41 Wenn man tad-vähye dem Sinne nach mit »außerhalb dieser beiden« übersetzt, wird dieser scheinbare Widerspruch beseitigt. Tadvähye ist entweder aus tasya vähye oder aus tayor vähye entstanden; im letzteren Falle wäre der Sinn: »außerhalb der beiden«. Diejenigen, die sich auf diesen Passus verlassen, lesen tad-vähye = tasya vähye. 42 Vajrini = vajrä. 43 Medhra = Penis. 44 Dieser Kanal, dieser Durchgang im Chitrini-Innern ist die Brahmanädi. 45 Tetranthera Apétala (Colebrook’s Amarakosha). 46 Nädi dieses Namens; siehe später. 47 Pranaväkriti — das Mantra Om. Das heißt, daß das Pranava sich als die Sushumnä manifestiert. 48 Devi Kundalinl; v. ante. 49 Ihr Mund hat sich der Brahmarandhra angenähert. Der Lokativ ist hier sämipye saptami — d. i. ein Lokativ im Sinne der Nähe. In Wirklichkeit erreicht die Sushumnä die Brahmarandhra nicht, sondern geht nahe daran vorbei und endigt in der Nähe des zwölfblättrigen Lotos. Cf. Pädukäpanchaka, Vers 1. 50 »Mutter«, eine Bezeichnung für die Devi. 51 Pädädi, wörtlich: am Anfang der Pädä; siehe später. Vers 2 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

Das heißt innerhalb der Vajrä, die wieder im Innern der Sushumnä liegt. Das Mantra »Om«. Shuddhabodhasvarüpä. Von ihr kommt die Jfiäna bei denen, die rein sind (Shankara). Die Brahmanädi ist nicht eine von der Chitrinl getrennte Nädl, sondern der in ihr ver­ laufende Kanal. Shiva; hier der Svayambhu-Linga. Der Parama Bindu: vide ibid. Die Brahmanädi erreicht die nächste Nähe des Adi-Deva, nicht aber ihn selbst. Wörtlich »Schlange«, eine Bezeichnung für die Kundalinl. Vishvanätha meint mit einem Zitat aus dem Mäyä Tantra, daß alle sechs Lotosse an der Chitrini befestigt seien (chitrini-grathitam). Shabda-Brahma-Rüpä Kundalinl. Shabdabrahman (siehe Einführung) ist das Chaitanya in allen Lebewesen. Shankara erklärt diesen Vers in leicht abgewandelter Form, der Sinn ist aber praktisch der gleiche, weil die Modifikationen nur von verbalem Charakter sind.

Vers 3 62 63 64 65

Die Chitrini, deren Inneres Brahma-Nädi heißt. Shuddha-Bodha-Svabhävä. Siehe Kommentar. Weil sie nach Vishvanätha den Nektar herabströmen läßt und deshalb alle Wonnearten enthält. Shankara läßt auch die mögliche Übersetzung gelten »Sie ist wonnevoll für alle«. 66 Kälicharana deutet Sva-Bhäva als die Naturanlage des einzelnen. Shankara interpretiert das W ort im Sinne von Jfiäna, die als der Paramätmä oder, anders ausgedrückt, als die göttliche oder geistige Jfiäna gilt. Nach Shankara ist die Lesart: Shuddha-BhävaSvabhävä. 67 Die Pforte Brahmans.

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68 Sämarasya, ein Terminus, der gewöhnlich auf die Sexualunion bezogen wird (stripumyogät yat saukyam tat sämarasyam) — hier und anderswo natürlich nur symbolisch gebraucht. 69 Die Wurzel aller Nädis; siehe Vers 1, ante. Vers 4 70 Das ist das Mülädhära Chakra; so bezeichnet, weil es an der Wurzel der sechs Chakras liegt; siehe von nun an den späteren Vers 12. 71 Siehe Einführung. 72 Siehe pag. 7, zuvor ( = Vers 1). 73 Veda-Varna: Veda steht statt »vier«. Vier Veden gibt es, und die Gelehrten benutzen manchmal das W ort Veda, um die Vier zu bezeichnen — i. e., die Zahl der Vedas. 74 Siehe Einführung. Vers 5 75 Das zu diesem Chakra gehörende Erdelement. Die Form dieses Tattva ist quadratisch.

K f 7* 76 Die Ashtashüla werden so dargestellt:

4-1

l->

*hjT* 77 Die Farbe des in diesem Chakra vorherrschenden Erdelements. Ein jedes Tattva mani­ festiert Form, Farbe und Wirkung seiner speziellen Schwingung. 78 Das ist das Prithivl-Bija (»Erdkeim«-Zaubersilbe), das Erd-Tattva oder »Lang«. Siehe Einführung. 79 Mahendro Malayah Sahyah Shuktimän Rikshaparvatah Vindhyash cha Päripätrash cha saptaite kulaparvatäh. (Zitiert im Shabdastomamahänidhi.) Einige lesen Päriputrah statt Paripätrah. Shankara meint, die Speere seien hier, weil Dakini, eine der großen Bhairavis, das Chakra bewohne. 80 Indra Bija und Erd-Bija sind beide dasselbe. 81 Mähä-Bähu: »Mit großen langen Armen versehen« — als Zeichen der Tapferkeit. Cf. Äjanu-Lambitabähu (bis an die Knie reichende Arme). 82 Der Elephant Indras. Dieses Tier, wie auch die in den Chakras bildlich dargestellten übrigen Tiere, bezeichnet jeweils die Tattva-Eigenschaft wie auch das Vehikel (vähana) des darin befindlichen Devatä. Siehe Einführung.

Vers 6 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99

Diese beiden adjektivischen Ausdrücke qualifizieren das Dharä Bija. Airävata. Das ist der Bindu des (Dharä) Bija, des »Lam«. W ird später erklärt. Brahma wird vierköpfig dargestellt. Das ist der Indra Deva. Srishtikartä. Prajä-Pati. Veda wird zur Bezeichnung der Vier gebraucht, weil es Vier Veden gibt. Das ist der Hiranya-Garbha. Hamsa, oder wie einige sagen, der wilde Ganter oder Flamingo. Siehe W oodroffe: »Garland of Letters« pag. 155. In Anspielung auf den Glauben, daß die Vier Vedas aus den vier Mündern Brahmas gekommen seien. Danda. Kamandalu. Aksha-Sütra. Das ist die Abhaya-Mudrä: Die Hand ist erhoben, wobei die Handfläche zum Beschauer zeigt. Die vier Finger liegen gestreckt aneinander, der Daumen überkreuzt den Hand­ teller in Richtung auf den vierten Finger. Märkandeya Chandi. Brähml Shakti.

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100 Das ist die Varadamudrä: Die Hand wird in gleicher Stellung wie in Anm. 97 gehalten, aber die Handfläche steht horizontal statt vertikal. 101 Kamandalu: ein kürbisförmiges Gefäß mit einem Griff am oberen Ende, wird von Asketen gewöhnlich zum Wassertragen benutzt. Vers 7 102 Däkini und die übrigen Shaktis dieser Art heißen in einigen Tantras die Königinnen der Chakras, in anderen deren Türhüterinnen. 103 Nach Vishvanätha heißt das, sie ist ganz und gar rot. 104 Shuddha-Buddhi — i. e., Tattva-Jnäna. 105 Wenn man das W ort »sadä« getrennt von »shuddha-buddhi« liest, wird es zur adverbialen Bestimmung von »vahanti«, der Passus lautete dann »stets übermittelt sie die Offen­ barung Göttlicher Erkenntnis«. 106 Vaktra. Das ist möglicherweise ein Schreibfehler des Übersetzers für »Padma« = Lotos. 107 Das Shäktänanda-Tarangini bringt sie in eine andere Reihenfolge. Siehe P. K . Shastri’s Ausgabe pag. 75. 108 Die Unwissenden. Siehe des Verfassers Einleitung zum Mahänirväna. 109 Shüla. 110 Ein mit einem Menschenschädel oben verzierter Stab. 111 Khadga, eine Art Schwert, wie man es beim Tieropfer benutzt. Einige lesen Kheta. 112 Eine Art Milchpudding aus in Milch gekochtem Reis mit Ghee (zerlassener Butter) und Zucker. 113 Hier ist das von der Erau zwischen den Augenbrauen getragene Mal, zum Zeichen, daß ihr Gatte lebt — ein glückverheißendes Zeichen. Das Saubhägyaratnäkara sagt, Dakini wohne im Tvak Dhätu. 114 Viertes Kapitel; Prasanna Kumära Shästn’s Ausgabe, pag. 78, 79. Der im Text zitierte Passus ist unvollständig. 115 Pravritti-Märga: der hinausführende Pfad, zum Unterschied vom Nivritti-Märga, dem zum Parabrahman zurückführenden Pfad. 116 Nivritti-Märga. Vers 8 117 Siehe den späteren Kommentar. 118 Dieses Dreieck, so meint der das Gautamlya-Tantra zitierende Vishvanätha, ist Ichchhäjüäna-Kriyätmaka — d. h., Willenskraft, Erkenntnisfähigkeit und die Fähigkeit zum Handeln. Siehe Einführung. 119 Eine Erscheinungsform des Apäna Vayu. Kandarpa ist eine Bezeichnung für Käma, den Deva der Liebe. 120 Pentapoetes Phoenicea. 121 Das ist das Mantra »Klim «; im Tantraräja sagt der zur D evi sprechende Shiva: »Der Buchstabe K a ist Deine Form.« Das Nityapüjäpaddhati erwähnt in diesem Zusammen­ hang auf pag. 80 »Kam«, das Käminl-Vija. Siehe Einführung. 122 W o es sich mit dem Kakäratattva befaßt, pag. 165, Prasanna Kumära Shastri’s Ausgabe. 123 Sundari — d. h., Tripura- Sundarl, ein Name der Devi. Siehe Tantraräja (Tantrik Texts V H I, Kap. 4 —6). 124 Shankara definiert das als den »verkörperten Wunsch des Verehrers« (bhaktäbhiläshasvarüpam). 125 Das Gemach Madanas (des Liebesgottes) — die Yoni. 126 Väyu ist hier eine Bezeichnung für eine Präna-Erscheinungsform. Die fünf wichtigsten Manifestationen dieser Art sind: Präna, Apäna, Samäna, Vyäna, Udäna. Siehe Ein­ führung. 127 Das ist ein oft wiederholter Passus (Shäktänanda, p. 5). 128 Der Einhauch und Aushauch ist Hamsah. Vers 9 129 130 131 132

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Der »Selbsterschaffene«, der »Aus-sich-selbst-Seiende«, der Shiva Linga dieses Namens. Als menschlicher Phallus. Jfiäna. Dhyäna.

133 134 135 136 137 138 139

Das bezieht sich auf eine Vertiefung an der Lingaspitze. Nila. Vishvanätha liest Rasa statt Kara (Strahl) — d. i. der vom Mond herabfließende Nektar. Benares oder Bäranäsi. Das Universum ist Seine Viläsa oder lila . Shankara meint, er werde wegen seiner ruhelosen Bewegung so bezeichnet. Der dreiseitig-pyramidenförmige Sitz des Kama.

Vers 10 und 11 140 Shankara hat im Gegensatz zu Kälicharana die beiden Verse getrennt aufgezeichnet. 141 Svayambhu Linga — d. h., ihn mit ihrem Körper umwickelnd und mit ihrem K opf überragend. 142 Die Kundalinl ist der Ruhezustand der Shakti, die die mäyische W elt ins Dasein ruft. Im Kürma-Puräna sagt Shiva: »Diese Höohste Shakti ist in Mir, sie ist das Brahman als solches. Diese Mäyä, die diese W elt verwirrt, ist mir teuer.« Deshalb heißt die Devi im Lalitä »Sarvamohini« (die Alles-Verwirrende). 143 Siehe Kommentar. 144 Shivopari. 145 Vishvanätha meint, sie mache dieses Geräusch beim Erwachen. Nach Shankara bezeich­ net das den Vaikhari-Zustand der Kundalinl. 146 Ist eine Klasse literarischer Komposition, in der der Vers nach Art eines Diagramms oder Bildes arrangiert wird. 147 Bhedakrama und Atibhedakrama. 148 Vishvanätha zitiert das Dakshinämürti, in welchem angegeben wird, daß der Mensch während eines Tages und einer Nacht 21 600mal ein- und ausatme, wobei Aushauch wie Einhauch als Einheit angenommen wird. Siehe Einführung. 149 Madhuram: dieses W ort wird nach Shankara in adjektivischem Sinne gebraucht und heißt »süß«, »lieblich«. Er sagt, sie trinke Nektar durch die Brahmadvära; und weil der Nektar durch die Brahmadvära fließt, sei diese süß. 150 Kapitel I, zweite Zeile von Vers 11 und Vers 14, die Zwischenverse sind ausgelassen. Die ausgelassenen lauten folgendermaßen: »Diesen Klang nennen die in den Ägamas Bewanderten den Shabdabrahman. Einige Lehrer vertreten den Standpunkt, Shabdabrahman bezeichne Shabdärtha, andere wieder (die Grammatiker) sind der Ansicht, es bezeichne Shabda; aber keiner von ihnen hat recht, weil Shabda sowohl wie ShabdärthaJada (unbewußte Dinge) sind. Meiner Ansicht nach ist Shabdabrahman das Chaitanya aller Lebewesen.« Das Agama im Text ist Shruti (Heilige Offenbarung); Räghava zitiert Shankarächärya im Prapanchasära, das die Shruti-Bewanderten erwähnt. Chaitanya ist das als der tiefste Grund aller Geschöpfe betrachtete Brahman — d. h., es ist Chit und Shakti oder Chit in Manifestation. 151 Das ist das Klangprinzip, die Klangursache. Siehe Einführung. 152 Tantraräja (Täntrik Texts, Bd. V III und X II) Kapitel X X V I, Verse 5 —9. 153 Vishvanätha spricht auf pp. 120—122 in Bd. I I der Täntrik Texts von Parä, Pashyanti und den übrigen Shaktis. Die Nädaform soll nach Ansicht des Manoramä vom Guru erfahren werden. Diese Ichchhä-Shakti ist Kälamayl. 154 Pashyanti wird manchmal mit dem Manipüra in Verbindung gebracht. Siehe Einführung. 155 Der Sinn davon, so meint das Manoramä, sei der, daß der vierstufige Näda (avasthächatushtyätmaka) nach dem Durchgang durch die im Text erwähnten verschiedenen Zentren die Form der 51 Buchstaben annehme. 156 Srishtirüpä. 157 Srishti-Stithi-Layätmikä. 158 Vishvätitä. Sie ist dem Universum nicht nur immanent, sondern überschreitet sogar seine Grenzen. 159 Jüäna-Rüpä. 160 Ürddhvavähini, denn Kundalinl steigt zum Sahasrära auf. 161 Ishta-Deva-Svarüpini. Der Ishtadevatä ist der vom Sädhaka speziell verehrte Devatä. 162 Sie keimzeichnen bei Frauen eine leidenschaftliche Charakteranlage. 163 Das Shäktänandatarangini sagt: Man soll über sie als in rot nur dann meditieren, wenn das Verehrungsobjekt das Tripurä ist. Der Text kann dem Sinne nach auch so ausgelegt werden, daß »rot« als ein auf die Shri Sundari — d. i. die Devi Tripurasundari — bezogenes Attribut anzusehen ist.

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Dieses Zitat stammt aus dem Alankara Shästra (Redekunst). Das ist die Vara-Mudrä und die Abhaya-Mudrä; v. ante pp. 19, 20 ( = Anm. 97 und 100). Das Musikinstrument gleichen Namens. Das Mülädhära.

Vers 12 168 Svayambhulinga, um den die Kundall sich aufgewickelt hat. 169 Nach Shankara befindet sich die Parä in der Kundalinl. Vishvanätha, der das Svachchhandasangraha zitiert, nennt sie Brahmäni. In der Kundalinl herrscht der ParäZustand des Shabda. 170 vide post. 171 Katäha — d. i. die untere Hälfte des Brahmända, die als solche kesselförmig gestaltet ist. 172 Brahmända — das Ei Brahmas. 173 So sagt das Devi Puräna (Kap. X L V ), diese K raft der Allerhöchsten beschreibend: Vichitra-käryakäranä chintitätiphalapradä Svapnend rajälaval loke mäyä tena prakirtitä. Parama kann aber auch bedeuten: Param miyate anayä iti Parama — d. h., sie ist diejenige, durch die das Höchste »abgemessen wird«, in dem Sinne (denn das Höchste ist ja unermeßlich) daß sie, die mit dem Höchsten eines ist, die plastische Formen gebende Wirkkraft verkörpert. Siehe Einführung. Ein nicht näher bezeichnetes TantraZitat anführend, sagt Vishvanätha, diese Mäyä sei im Innern der Kundalinl, und diese Paramä sei Paramätmasvarüpä. 174 Kundalinyabhedasharlrini. 175 Näda-Shakti = Shakti als Näda. Siehe Einführung. 176 Süra = Sürya, Sonne. 177 Das beim Zeitpunkt der Großen Auflösung (pralaya) alle Dinge vernichtende Feuer. 178 Mond. 179 Siehe Einführung. 180 Das heißt, wenn man den in zwei Teile zerlegten W ortkomplex so liest: nityänandaparamparä und getrennt: ativigalatpiyüshadhärädharä. Über die im Text angenommene Übersetzung berichtet der folgende Abschnitt.

Vers 13 181 Das heißt, Brahma, Vishnu, Shiva usw. 182 Das heißt, durch seine Meisterschaft über W orte wird er gleichsam zum Brihaspati Guru der De vas (Shankara). 183 »Lam«. 184 Vajra. 185 Danda. 186 Kamandalu. 187 Abhayamudrä; siehe Vers 6, Anm. 97. 188 Speer. 189 Ein am oberen Ende mit einem Schädel verzierter Stab. 190 Schwert. Khadga ist ein schweres Opferschwert. 191 Trinkschale. 192 »Kllm«. 193 Sein Farbton. 194 In Vers 12 als eine andere Kundaliruform beschrieben. 195 Prakarana. Der Kommentator teilt den Text und sein Kommentar in acht Unter­ abschnitte. Vers 14 196 197 198 199

Das ist das Svädhishthäna Chakra. Siehe Einführung. Der Buchstabe La; siehe später. Der Anusvära. Saushumna; Shankara deutet dieses W ort im Sinne der innerhalb der Sushumnä ver­ laufenden Brahmanädl und sagt, daß das Suffix »in«, das den Wechsel bevorzuge, im Sinne von »bezüglich« und nicht im Sinne von »gelegen in« gebraucht sei. 200 Vide ante, Einführung.

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Vers 15 201 Svädhishthäna. 202 Wasser ist das Element dieses Chakra und wird durch den zunehmenden Mond sym­ bolisch dargestellt. 203 Ein Tier sagenhafter Gestalt, etwa einem Alligator ähnlich. Siehe Tafel 3. 204 Kapitel I, Vers 24, Chaturas-Ram; sed qu, denn gewöhnlich ist das Mandala halbkreis­ förmig. 205 Der berühmte Kommentator des Shäradä-Tilaka. 206 Anscheinend Shankaräohärya, Prapanchasära (Täntrik Texts, Bd. III), i. 24. 207 Yähana. 208 Tadürddbvam. Siehe den Kommentar zum nächsten Vers. 209 Vishnu.

Vers 16 210 Das heißt, Vishnu ist im »Schoß«-innem des Bindu der Silbe »Vam«. 211 Wörtlich: Günstling der Shri oder Lakshml — eine glückverheißende Schmachtlocke an der Brust Vishnus und seines Avatära, Krishna. Sie soll die Prakriti symbolisch darstellen. Siehe die Ahirbudhnya Samhita 52, 92, die auch die Astrabhüshana Adhyäya des Vishnu Puräna, 1/22 zitiert. 212 Ein von Vishnu getragener großer Edelstein, der die Seelen symbolisch darstellen soll " (siehe die Schriftbelege in der letzten Anmerkung). Diese sollen mit dem Kaustubha des Gottes vereinigt sein (Vishnutilaka 11/100). 213 Vanamälä: die Bezeichnung für eine bis zu den Knien herabreichende große Halskette. Sie wird folgendermaßen beschrieben: Ajanulambinl mälä sarvartu-kusumojjvalä Madhye sthülakadambädhyä vanamäletti klrtitä. (Die bis an die Knie herabreichende, mit den Blüten aller Jahreszeiten und mit den großen Kadambablüten in der Mitte verzierte Schöne soll die Vanamälä sein.) Dieses Blumengewinde ist himmlischen Ursprungs, weil es die Blüten aller Jahreszeiten enthält. 214 Shankha. 215 Chakra. 216 Gadä. 217 Padma. 218 Die Girlande symbolisiert die Elemente; wie die Keule den Mahat; die Muschel den Sättvika Ahamkära; der Bogen den Tämasika Ahamkära; das Schwert die Erkenntnis; seine Scheide die Unwissenheit; der Diskus das Gemüt, und die Pfeile die Sinne. Siehe die in Ziff. 211 ante angegebenen Schriftbelege. 219 Der Königsvogel, das Tragtier (vähana) Vishnus. Vers 17 220 W ohnt (bhäti): der Sanskritausdruck heißt wörtlich »leuchtet« — »hier«, das heißt, im Svädhishthäna. 221 Earbe des blauen Lotos (mlämbujodara-sahodarakäntishobha); wörtlich: Ihre strahlende Schönheit kommt dem Innern des blauen Lotos gleich. 222 Matta-Chittä; denn sie trinkt den vom Sahasrära herabfließenden Nektar. Sie ist erhabenen Geistes von der sie durchdringenden göttlichen Kraft. 223 Shüla. 224 Damaru. 225 Tanka. 226 Damshtra — d. h., sie hat hervorstehende lange Zähne. 227 Raktadhäraikanäsäm. Das Saubhägyaratnakara hat Raktadhätvekanäthäm — d. h., sie ist die Gebieterin des Raktadhätu. 228 Shuklänna. 229 In jedem der Hauptlotosse gibt es noch einen kleineren Lotos, auf dem sitzt die Shakti. Vers 18 230 Das heißt von seinen Feinden, den sechs Leidenschaften. 231 Egoismus, Ichbezogenheit. Siehe Einführung. 232 Moha.

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233 Das stammt aus dem Rudra-Yämala, K ap. X X V II, Vers 58. 234 Nämlich: Kama (Begierde), Krodha (Zorn), Lobha (Habgier), Moha (Wahn, Ver­ blendung), Mada (Hochmut, Stolz), Mätsaryya (Mißgunst, Neid), sie alle entspringen einem Gefühl der Ichbezogenheit (ahamkära). 235 Unwissenheit, Täuschung, Verblendung. 236 Siehe Kommentar zu Vers 11. 237 Kutila-Damshträ. 238 Shuklänna. Vers 19 239 Svädhishthäna. 240 Das Manipüra Chakra, der Sitz des Feuerelements, sein Symbol ist ein Dreieck. Siehe Einführung. 241 Ein Glückszeiohen; siehe später. 242 Das ist »Ram«, die »Feuerkeim«-Zaubersilbe. 243 Shankara liest Dasha-Dalalalite — d. h., der bezaubernde zehnblättrige Lotos. 244 Es ist wie ein Kreuz: 245 In der Anmerkung zu Vers 23 im I. Kap. des Shäradä Tilaka. Vers 20 246 Das heißt, er macht die Vara Mudrä und die Abhaya Mudrä, v. ante Ziff. 97, 100. 247 Das Schwert des Vahni oder Feuergottes. Bhäskararäya meint, es handle sich um das Schwert, das im Maharashtra »Sämti« genannt wird. Vers 21 248 Shyämä; vide ante Kommentar zu Vers 11. 249 Matta-Chittä; vide ante Ziff. 222. 250 Etat: eine abweichende Lesart ist evam = »in dieser Weise«. 251 Näbhi-Padma. 252 Das heißt die Sprach-Devi, Sarasvati. 253 Vishvanäta zitiert eine Dhyäna, in der sie als eine einen Stecken mit sich führende Bucklige (kubjinl) beschrieben wird. 254 Das Schwert Vahnis (des Feuergottes). Siehe Ziff. 247. 255 Mudrä. 256 Einige lesen »Mamsasthäm« = die im Fleische Wohnende. 257 Ein Vaishnava-Tantra großen Ansehens. Das Zitat stammt aus dem 34. Kapitel desselben. 258 Mani-Vad bhinnam. Bhinna heißt hier »unterschieden von«, denn im Manipüra herrscht die Feuerregion. Siehe auch das Rudrayämala Kap. X X V II, Vers 60. 259 Vara und Abhaya — i. e., die furchtvertreibende und die gnadengewährende Mudrä. 260 Khecharänna — d. i. mit Reis und Erbsenbrei vermischtes Fleisch wie beispielsweise Khecharänna (khichri), Pilau usw. Vers 22 261 Pentapoetes Phoenicea. 262 Anähata, der Herzlotos, der Sitz des Luftelements, dessen Symbol als sechseckig be­ schrieben wird, befindet sich hier. Siehe Einführung. 263 Kalpa-Taru. Shankara sagt, der Kalpa-Taru, einer der Himmelsbäume in Indras Himmel, gewähre alles, was man sich wünscht; dieser aber gäbe mehr, denn er führe ihn zur Moksha. 264 Shatkona — d. h., ineinanderliegende Dreiecke Siehe Tafel V. Vgl. Einführung und Rudrayämala, Kap. X X V H , V. 64. 265 Vishvanätha zitiert (Täntrik Texts, Bd. II, pag. 121) folgendes: »In seinem Innern ist der Väna-Linga, der wie zehntausend Sonnen strahlt, und auch der Shabdabrahmamaya (der substanzialiter aus Brahman bestehende Klang), der ursachenlose (ahetuka). So beschaffen ist der Lotos Anähata, w o der Purusha (d. i. der Jivätmä) wohnt.« Was das Shabdabrahman anbelangt, siehe Räghavabhatta’s Kommentar über das Shäradä, Kap. I, Vers 12. 266 Surataru = Kalpa-Taru.

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Vers 23 267 Das ist Väyu, sein Bija lautet »Yam«. 268 Dieser Rauch stammt nach Shankaras Ansicht aus dem Jlvätmä, der die Gestalt einer Flamme habe. 269 Shankara übersetzt »Meer der Barmherzigkeit« (karunäväridhi). 270 Hamsa, die Sonne — auch eine Bezeichnung für den Allerhöchsten. Cf. »Hrim, der Höchste Hamsa wohnt im strahlenden Himmel.« Siehe die HamsavatI R ik des Rigveda IV/40, zitiert im Mahänirväna Tantra, W . 196/197, K ap. V. Hamsa kommt von Han = Gati, Bewegung. Er heißt Äditya, weil er in unaufhörlicher Bewegung ist (säyanna). Hamsa ist außerdem die Erscheinungsform des Antarätmä, siehe den späteren Vers 31. Diese Rik läuft auch im Yajurveda (X /2 4 und X II/1 4) und in einigen Upanishads. 271 Dies zeigt, daß das Bija Hände und Füße hat (Shankara). 272 Goad, Stachelstock. 273 Schlinge. 274 Das in der Stirn, in der Zirbeldrüsengegend liegende dritte Auge gilt als das Auge der Weisheit (jüänachakshu). Vers 24 275 Nava-tadit-pltä — d. h., w o mehr Donner als Regen herrscht, wenn die Blitzfolge sehr lebhaft auftritt. Pitä ist gelb; Käkinl ist von gelb leuchtendem Hautkolorit. 276 Shankara hat unmattä (rasend gemacht, verzückt) als gleichbedeutend für Mattä. 277 Nityäm. Wenn das nicht stutl ist, lautet das W ort möglicherweise nityam = »immer«. 278 Vishvanätha gibt in seinem Kommentar zum Shatchakra folgende Dhyäna über die Käkinl: »Meditiere über die im Fett wohnende (meda-samsthäm) Käkinl, wie sie in den Händen die Päsha (Fangschlinge), den Shüla (Dreizack), die Kapäla (Trinkschale aus einem Schädel) und die Damaru (Handtrommel) hält. Sie ist gelbfarben und ißt gern Dickmilch mit Reis (dadhyanna). Ihr vollendet schöner Körper steht in einer leicht seitwärts gedrehten Positur (svavayavanamitä). Ihr Herz ist froh gelaunt vom Reiswein­ trunk (väruni).« Das Saubhägya-Ratnäkara zitiert Sieben Dhyänas über die Sieben Shaktis oder Yoginls — Däkinl und die übrigen —, aus denen ersichtlich ist, daß eine jede ihre Wohnung in einem der sieben Dhätus innehat. Die Siebente Shakti-Yakshini wird in diesem Buche nicht erwähnt. Vers 25 279 Da es sich um eine Trikona-Shakti handelt, muß ihre Dreiecksspitze wie bei der Yoni nach unten zeigen. 280 Das ist nicht eines von den Sechs Chakras, sondern ein als Änandakanda bekannter Lotos, in welchem man über den Ishtadevatä seine Betrachtungen anstellt. Ygl. das Mahänirväna Tantra, Kap. V/132. 281 Kalpa. Tattat-Kalpoktamärgatah. Das heißt, in der durch die Sampradäya für den Sädhaka besonders vorgeschriebene Art und Weise. 282 Der Linga selbst ist nicht durchbohrt, aber er trägt den Bindu, der in seinem Innen­ bezirk einen Hohlraum (shünya) hat. 283 Das heißt hier: die Schöne. 284 Kämodgama. Vers 26 285 Sura-Taru = Kalpa-Taru. 286 Mahä-Deva, Shiva. 287 Hier der Jlvätmä. 288 Siehe Einführung. 289 Vishvanätha zitiert einen Vers, in welchem dieser Hamsa als Purusha bezeichnet wird. 290 Kalä = Finger oder Anteile der Shakti. 291 Wegen seiner Vereinheitlichung mit der Brahma-Substanz. Vers 27 292 Priyät-Priyatamah — geliebter als jene, die ihnen teuer sind. 293 Nach Shankaras Ansicht wird Lakshmi seine Familien-Devatä — d. h., seine Familie ist stets glücklich.

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Parapure; vide post. Karmakushalah. — »Teurer als ihre Gatten« (Shankara). Iha bhuktvä varán bhogän ante mukti-padam brajet. Die Siddhi, mit der die Yogis sich in den Körper eines andern übertragen (phowa, S. P. K ap. V I), wie es Shankarächärya gekonnt haben soll. Die letztere Auslegung verdient den Vorzug, denn ein solcher Y ogi wird keine Peinde haben, und hätte er welche, wird er sie nicht zu überwältigen suchen. Pentapoetes Phoenicea. Siehe Einführung. Kämodgamollasita. Siehe Einführung. Vgl. das Mahänirväna Tantra, Kap. V , W . 129/130, pag. 85, w o das Mantra angegeben wird.

Vers 28 und 29 303 Äther ist das Element dieses Chakra, das Symbol (mandala) für dieses Tattva ist ein Kreis (vritta-rüpa). Siehe Einführung. 304 Manu = Mantra = (hier) »Ham«. 305 Ambara = die Äthersphäre; das W ort heißt auch »Gewand« — »Vyomni-Väsasi« (AmaraKosha). Auf einem schneeweißen Elephanten reitet Ambara, weißfarben in seiner BljaForm. Der Sanskritausdruck kann auch noch einen anderen Sinn haben: »Auf einem Elephanten reitet das Bija, seine Kleidung ist weiß.« 306 Päsha. 307 Ankusha. 308 Mudrä; vgl. Ziff. 97 und 100. 309 Des Nabhovlja oder der Silbe »Ham«. 310 »Die aus den Bergen Gebürtige«, ein Titel der Devi, als der Tochter des Bergkönigs (Himavat-Himälaya). Hier wird auf die androgyne Shiva-Shakti-Form angespielt. Siehe Kommentar. 311 Sadä = immer. Shiva = der Wohltätige. Wohltätigkeit. 312 Feuer läutert. 313 Der Ätherkreis. 314 Das heißt, jedes Mandala (ob Viereck, Kreis, Dreieck usw.) bildet sich nach den charak­ teristischen Eigenschaften seiner Elemente (vgl. Shäradä-Tilaka, 1/24). 315 Das Bija eines Dinges ist das betreffende Ding an sich. 316 Hara-Gauri-Mürti (Shankara). 317 Das ist die Amä-Kalä. 318 Patala V III. Der übersetzte Text ist ungenau. In der Rasikamohana Chattopädhyäya’s Ausgabe lautet die Stelle folgendermaßen: »Im Yantrainnem ist der Stier, dessen eine Hälfte einen Löwen darstellt.« Das stimmt mit dem Arddhanänshvara überein, denn der Stier ist das Vähana (Tragtier) Shivas, und der Löwe das der Devi. 319 Das ist das Shatkona-Yantra. 320 Dieser Gestus heißt auch Astra oder Wurfwaffe, weil er Güte auf den Sädhaka abwirft.

Vers 30 321 Der »Mann im Mond«. 322 Sudhäsindhu, sagt Shankara, ist Chandra (Mond). Sie ist reiner und weißer als der Nektar im Mond. Die hier wiedergegebene Übersetzung ist der Auslegung Shankaras und Vishvanäthas angepaßt, die »Sudhäsindhoh« im Ablativ übersetzen. Källcharana aber, der den Ausdruck in den Genitiv setzt, gibt ihm den Sinn »rein wie der Nektar­ ozean«, der der innerste Ozean der sieben Ozeane ist und die Juweleninsel (manidvipa) umgibt. 323 Wird ausgeführt, indem man den Daumen und den ersten Finger der rechten Hand in Berührung bringt und sie über das Herz hält. 324 Vergleiche die Einführung zu A. Avalon: »Mahänirväna Tantra«. 325 Das heißt, sie ist die Devatä des Asthi Dhätu. 326 Das Wesen der Dhyäna (Meditation) variiert mit dem Ziel, das ein Sädhaka durch seine Anbetung zu erreichen sucht. Siehe das Tantraräja. Täntrik Texts, Bd. V III und X II. 327 Die »Ätherkeim«-Zaubersilbe »Ham«.

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Vers 31 328 Kavi. 329 Shanta-Chetäh. Shama, sagt Shankaräohärya in seinem »Ätmänätma-Viveka«, ist Antarindriya-Nigraha — d. h., die Unterjochung des inneren Sinnes. 330 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 331 Das W ort Y oga ist hier im Sinne von Jnäna gebraucht. 332 Shrimadächärya, das ist Shankaräohärya. 333 Der in Anführungszeichen gesetzte Teil stammt aus der Bhagavad-Gltä X V I/2 , 3. 334 Cf. Sarvarogaharachakra im Shrl-Yantra. 335 Das heißt, der Hamsa befindet sich im zwölfblättrigen Lotos unter dem Sahasrära. Shankara und Vishvanätha nennen den Hamsa »Sonne«. 336 Kantha-Müle. 337 Das heißt, mit nichts bekleidet. 338 Agneya-Astra. Vers 31 A 339 Weder Kälicharana noch Shankara hat diesen Vers in den Bericht übernommen. Er ist von Bala-Deva in seinem Text aufgeführt und wird hier einschließlich seines Kommentars wiedergegeben. Er findet sich im Tripuräsära-Samuchchaya Kap. V/26. 340 Die Zurückhaltung der Atemluft im Pränäyäma heißt Kumbhaka. 341 Das ist ein Lob (stutiväda) auf seine großen Kräfte und will besagen, würde er in W ut geraten, könnte er die drei Welten in Bewegung setzen. 342 Siehe Kommentar. 343 Sonne. Siehe Kommentar. 344 Ganesha. Vers 32 345 Äjüä — der Befehl. Siehe Kommentar. Das Tanträntara-Tantra nennt dieses Chakra das Haus Shivas (Shivageha). 346 Der durch Meditation (dhyäna) erworbene Gemütszustand. 347 Vidyäm mudräm dadhänä — d. h., sie macht den Vidyä-Gestus, die Pushtaka Mudrä, sowie den gnadengewährenden und den furchtvertreibenden Gestus. Es geht nicht darum, daß sie ein Buch in der Hand hält. Siehe später. 348 Damaru. 349 Ein Rosenkranz, mit dem man das »Aufsagen« (japa) des Mantra vollzieht. 350 Hier kommt man nämlich mit dem Äjüä des Guru in gedankliche Kommunikation (Gautamiya Tantra, zit. von Vishvanätha). Vgl. das Rudra-Yämala, Kap. X X V II, Vers 68, w o es heißt, daß man mit dem Äjüä des Guru in Gedankenverbindung steht (guroräjüeti). 351 Das ist das Sammohana-Tantra. 352 Oder der Sinn könnte auch sein, daß das Äjüä-Chakra Strahlen besitze, die so kühl wie die mondhaften Ambrosiastrahlen und so schön weißleuchtend wie der Mond wären. 353 Siehe die Einleitung zum Prapancliasära Tantra, Bd. III, Täntrik Texts, ed. A. Avalon. 354 Majjasthä. Nach einer anderen Lesart wohnt sie im Chakra (chakrasthä). Vers 33 355 Im , Kälam tarati iti Itarah (Vishvanätha). »Itara« ist das was einen befähigt, die Käla zu überschreiten. Im — d. i. die Wandelwelt. 356 Om. 357 Die Nädl Chitrinl. 358 Samkalpavikalpätmaka. Es handelt sich um die niedere Manasfunktion und nicht um diejenige, auf die sich der Kommentar im späteren Vers 40 bezieht. Was die Geistes­ kräfte anbelangt, siehe Einführung. 359 Das phallische Sinnbild für Shiva. 360 Nach Vishvanätha ist das ein Amsha (Teil) des Nirguna Para Shiva im Sahasrära. 361 Om. 362 Der Buchstabe Ma; d. h., es ist die Makärarüpa, das Ma vor der Manifestation. 363 Shankara meint, Paramakula bezeichne den Mülädhära Padma, und Paramakulapada = Er, der im Mülädhära wohnt. 364 Vgl. das Shäradä Tilaka, Kap. V, 135; Kap. X II, V. 117 et seq.; Kulärnava Tantra, Kap. IV und Einführung.

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Vers 34 365 Para-Para — kann auch das Haus eines anderen bedeuten. Siehe Vers 27, Ziff. 294 ante. 366 Siddhi. 367 Dhyänayogädisampannah. — Das W ort kann auch einen bezeichnen, der ein Adept im Dhyänayoga und anderer übernormaler Erreichnisse ist. 368 »Pado’sya vishvä bhütänlti«. »Tadidam sarvam Brahma«. Die Chhä.-Upanishad (3. 12. 6) lautet: »Pädo’sya sarvä hhütäni« und (3. 14. 1): »Sarvam khalvidam Brahma« — was dasselbe besagt. 369 Aham devo na chänyo-smi Brahmaiväsmi na shokabhäk. 370 Brahmaivaikam sad-vastu tadanyad asat prapancha-samudäyastu Brahma-bhäsatayä bhäsate. 371 Jivätmä-paramätmanor aikyachintanam. 372 Das ist Stuti-Väda, ein L oh ; oder wie wir etwa sagen würden, ein Kompliment, das im Sinne eines vorhandenen Wunsches zwar wirklich ist, nämlich das in der Tat Lobens­ werte zu loben, das aber andererseits unwirklich ist im Hinblick auf die wirklich vor­ handenen W orte, mit denen wir diesen Wunsch zum Ausdruck bringen. Vers 35 373 Das heißt A und U , aus denen nach der Sandhi (Regel) O wird, das dann mit dem Anusvära (M) zusammen das Pranava, das Mantra OM, ergibt. 374 Der Buchstabe M in seiner Binduform im Chandra-Vindu. 375 Shankara liest es als »Jaladhavala usw.« und erklärt es mit »farblos wie Wasser«. Der letzte Teil kann auch heißen »Die lächelnde Blässe gleicht der des Mondes«. 376 Das ist der Anusvära. 377 Sudhädhärasantäna bezeichnet nach Vishvanätha eine Vielzahl von Monden. Vers 36 378 Nirälamba-Purl. Nirälamba (vide post) ist etwas, das keine Stütze hat — viz., es be­ zeichnet einen Zustand, in welchem die geistige Verbindung mit der Außenwelt auf­ gehoben und die Verwirklichung des Unendlichen erreicht worden ist. Äkäshamämsl = dessen Heisch oder Substanz aus Äkäsha besteht (Räjanighantu-Wörterbuch). 379 Siehe nächste Seite und Einführung. 380 Das heißt, er schließt die Sinnespforten und sammelt den Geist in sich selbst. 381 Pavana-Suhrid — »Er, der B undesgenosse der Luft« = das Feuer. Wenn der Wind bläst, nimmt das Feuer zu. 382 Das heißt, durch die Käkl-Mudrä. Das Shruti sagt, wenn man den Väyu durch diese Mudrä einzieht und durch Kumbhaka zurückhält, erreicht man Gleichförmigkeit im Gemüt. 383 Diese und die folgenden Verse finden sich im Shäradä-Tilaka, Kap. X X V , W . 45, 46. Der erste Teil dieses Passus beschreibt die Siddhäsana. 384 Das heißt durch Kumbhaka. 385 Das heißt, rezitiere Hamsa oder das Ajapämantra ( = den Atem) während Kumbhaka. 386 Der als Präna sich manifestierende Jivätmä. 387 Eine Mudrä aus dem Hatha-Yoga. Siehe Einführung. 388 K ha hat drei Bedeutungen: Äther, Brahman und der Raum zwischen den Augenbrauen (äjüä). Brahmänanda, der Kommentator der Hathayoga-Pradlpikä, akzeptiert bei der Interpretation dieses Verses (Kap. III, Vers 41) die letztere Bezeichnung, und hei der Kommentierung des 55. Verses der Hathayoga-Pradlpikä gebraucht er das W ort im Sinne von Brahman. 389 W örtlich: Zunge. 390 Das, was sich im Himmel oder Äther umherbewegt. Manas (das sinnegebundene Denken) entzieht nämlich dem Chitta die Freiheit, indem es Weltverhaftung hervorruft. Hat sich aber Chitta vom Manas getrennt, bewegt es sich frei im Äther und geht seinen eigenen Weg. 391 Unmani herrscht dort, wo, um ein W ort zu prägen, die »Manasheit« des Manas erlischt. Siehe Anmerkung zu Vérs 40. U t = ohne, man! kommt von Manas. 392 Das stammt aus dem Jnänärnava-Tantra, Kap. X X I V , Vers 37. 393 Das wohl anerkanntermaßen für diese Dinge unzureichend ist.

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Vers 37 394 Jyotih. 395 Siehe späteren Kommentar. 396 Pürna-Vibhava, das aber, wie Kälicharana später betont, auf verschiedene Weise über­ setzt werden kann. Nach Vishvanätha enthält das II. K ap. des Kaivalya-Kalikä-Tantra einen Vers, in dem es heißt, daß die Gegenwart des allesdurchdringenden Brahman durch Sein Zutun realisiert wird, so wie wir die Gegenwart Bähu’s durch sein Wirken auf Sonne und Mond verwirklichen. 397 Das ist das Dreieck auf dem Manipitha im Innern des A-Ka-Tha-Dreiecks. Siehe Pädukä panchaka Vers 4. 398 Die Partikel va wird im Text in einem inklusiven Sinne gebraucht. 399 Hier wird er gesehen. 400 Tait. Up. 3. 1.1. 401 Phalänupahita-vishayitänäspadechohhäkatvam: Er, dessen Wunsch vom Ergebnis nioht bewegt und von einem Objekt nicht gefesselt wird; oder mit anderen W orten: Er, dessen Wege unerforschlich sind für uns, die wir den Begrenzungen (mäyä) unterworfen sind. 402 Pürna-chandrasya mandalam. 403 Die Edelstein-Insel im Ambrosia-Ozean. Das Rudrayämala sagt, sie befinde sich im Zentrum des Nektarozeans außerhalb und jenseits der zahllosen Myriaden Weltsysteme, und dort gäbe es die höchste Wohnstatt Shrividyäs. 404 Eine Shaktiform. 405 Die zwei Tüpfel, die den Aushauch am Ende des Hamsah bilden. 406 Der unzerstörbare Visarga — Visargarüpam avyayam. 407 Das heißt, der Parabindu wird im Äjüä durch den Bindu des Omkära dargestellt, das sein Pratika ist. 408 Der Bindu ist der Nasallaut von Ma, der ein männlicher Buchstabe ist. Der Bindu ist hier das unmanifestierte Ma. 409 Chanakäkära-Rüpinl. Siehe Einführung. 410 Anscheinend eine Schule dieses Namens. 411 Das erwähnte Körnchen ist unter der es umgebenden Hülle in zwei Hälften unterteilt. Vers 38 412 Vgl. Bhagavad-Gitä, Kap. V III, W . 9 und 10 sowie den Kommentar von Shankarächärya und Madhusüdana SarasvatI über diesen Vers. 413 Nach Shankara ist es ein Adjektiv und heißt soviel wie »Er, der die Ursache der Schöpfung ist« und dgl. 414 Das sind die drei Sphären Bhüh, Bhuvah, Svah, die Vyahriti der Gäyatri. 415 Shankara liest »Vedänta-Vihita« und erklärt den Ausdruck im Sinne von »das ist die Lehre des Vedanta«. 416 Gudam äkunchya — das heißt, durch die Ashvini-Mudrä. 417 Pränarüpashväsaparamätmakam. Siehe das Jnänämava-Tantra, Kap. X X I , W . 13 — 18. 418 Karbura = w eiß; heißt auch gefleckt. 419 Vide ante Ziff. 97 und 100. 420 Der Teil in eckigen Klammem ist mein Kommentar. — A . A. 421 Eine Yojana erstreckt sich über acht Meilen. 422 W as die Kaläs anbelangt, siehe die Einleitung zu Band I I I Täntrik Texts, ed. von A. Avalon. Vgl. auch die Einführung zu diesem Band; ferner die »Studien im Mantrashästrä«, A. Avalon. Vers 39 423 Das heißt alle Sprachfähigkeiten. 424 Väyoh layasthänam. Shankara definiert es mit dem Ausspruch: Etat sthänam väyoh viräma-bhütam — das ist der Ort, wo der Väyu zu existieren aufhört. 425 Das heißt, Shiva ist Hakära; und wenn man den oberen Teil des Ha wegläßt, hat der restliche Buchstabenteil die Form eines indischen Pflugs. 426 Shuddha-Buddhi-Prakäsha. 427 Käranäväntarasharira. Kärana = Ursache; aväntara = untergeordnet, zwischenliegend, inklusive; Shañra = Körper. Der Körper hat seinen Namen davon, weil er zugrunde geht und verschwindet. Das W ort leitet sich ab von der Wortwurzel shri = verfallen, verwelken. Käranäväntarasharira wäre also der »Zwischenursachen-Sharira«. Die Causa

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prima ist die Große Ursache. Ihre Effekte sind auch Zwischenursachen dessen, was sie selbst hervorrufen; sie sind also sekundäre oder Zwischenursachenkörper. Wenn man Sakala Parameshvara als Causa prima annimmt, ist der Mahänäda eine seiner Wirkungen und ein Käranäväntarasharira im Hinblick auf das, was er hervorruft und was auf ihn folgt. 428 Das »Berührungsprinzip«, auch Tvak-Tattva genannt. Was die Bhütashuddhi anbetrifft, siehe ihre Beschreibung in des Verfassers Einführung zum Mahänirväna Tantra. 429 Äther. 430 Die Entstehung des B lja-K nn erfolgt in dieser Weise: Kakära = K ali; Rakära = Brahma als Feuer; Ikära = Mahämäyä. Anusvära oder Chandrabindu (Ng) teilt sich in zwei Teile: in Näda, die Vishvamätä oder Mutter des Universums; und in Bindu, das ist Duhkhahara, der Vertreiber des Kummers (bijakosha). 431 Wallfahrtsorte, wo die Frommen baden. Es bezeichnet auch heilige Wasser. 432 Feuer. 433 Luft. 434 Gagana, Äther. 435 Das heißt aus Krin, zusammengesetzt aus K a + R a + I + N g . 436 Krin. 437 Das ist das Sammohana Tantra. Ausgabe R. M. Chattopädhyäya. 438 Das heißt, er besteht substanzialiter aus Shiva und Shakti. 439 Nirämaya-Padonmukhl = sie hat sich der Erlösungsstätte zugewandt: das ist die Shakti im höchsten Zustand. 440 Sie strebt zu Shiva, beschäftigt sich mit ihm, hat das Gesicht zu ihm emporgehoben — heißt hier: sie tendiert zur Schöpfung. Das heißt, der erste Zustand ist Chit. Näda ist der Mithah-Samaväya der Shakti oder des, Bindu. Die Gründung dieses Verhältnisses reizt sie, sich zum Schöpfungszwecke Shiva zuzuwenden, sie tritt als männliches Wesen, als Bindu, in Erscheinung. 441 Tasyä eva shakter nädabindü srishtyupayogyarüpau (Upayoga ist die Fähigkeit, die Tauglichkeit zur Schöpfung). 442 Nach einer anderen Lesart würde dieser Textteil lauten: »Sie ist das Tattva«. 443 Sie ist dort als das seiende Chit, mit dem sie vollständig wesensgleich ist. Sie »mißt das Chit« — d. h. ist gleichzeitig mit dem Chit und als Chit vorhanden und gilt auch als die plastisch bildende Wirkkraft. Die obige Übersetzung ist die des Textes, doch der Vers ist anderswo so zitiert worden als hieße es »chinmätrajyotishah« und nicht »chinmäträjyotishah« — was in der Übersetzung etwa lauten würde »wenn sie dem Jyotih, dem bloßen Bewußtsein an sich, nahekommt, möchte sie sich gern verwandeln, sie wird massiv und nimmt die Binduform an«. 444 Shankarächärya. 445 Das heißt, sie sind beide golden in Form eines Ohrrings. Cf. die Chhändogya Up. 6. 1.4. »O Edler! Alle aus Lehm gemachten Dinge sind durch einen Lehmklumpen bekannt. Die Variation liegt in den ihm gegebenen Namen, wenn man diese ausspricht. Der Lehm allein ist real.« Vers 40 446 Dieser Ort heißt in dem von Vishvanätha zitierten Svachchhanda-Sangraha der Höchste Äther (parama-vyoma). Parama-Vyoma ist im Pancharätna die Bezeichnung für den Höchsten Himmel, den Vaikuntha. Siehe Ahirbudhnya, 49. 447 Nach dem von Vishvanätha zitierten Svachchhandasangraha heißt das Sahasrära Akula. 448 Kevalänanda-Rüpam, das ist die Brahmanwonne. 449 Der als Chit betrachtete Ätmä. 450 Erde, Wasser, Luft, Äther. 451 Die Sphäre des Erdelements, das Mülädhära Chakra. 452 Das Geruchsprinzip oder Tanmätra. 453 Svädhishthäna, die Wasser(jala) - Sphäre. 454 Das Geschmacksprinzip. 455 Mani-Püra, die Feuerregion (vahni). 456 Das Gesichtsprinzip. 457 Anähata, die Luftregion (väyu). 458 Das Berührungsprinzip. 459 Vishuddha, die Ätherregion (nabhas).

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Das Klangprinzip. Siehe nächste Anmerkung. Siehe Einführung und den späteren Kommentar. Egoismus, Ich-Macher — Selbstbewußtsein. Das heißt, die tatsächliche Anordnung der Dinge im Vergleich zur angegebenen Reihen­ folge. Das Mahat-Tattva ist eine Vikriti der Prakriti. Mülabhüta Avyakta (die unmanifestierte Existenz am Uranfang) entspricht der Sänkhyan Mülaprakriti. Hier wird auf die Tattvasrishtihingewiesen (Kommentar zum Shäradä, Kap. I, Verse 17—18), wie Räghavabhatta sagt, und er erklärt es (Kap. I, Verse 17—18) folgendermaßen: Unmanifestierte Müla­ bhüta Paravastu kann entweder den Bindu oder das Shabda Brahman bezeichnen. Mit Vikrita ist die Bereitschaft, der Hang zu erschaffen gemeint (srishtyunmukha). Aus diesem Bindu oder Shabda Brahman emaniert nun das Mahat-Tattva, womit das Padärtha-Mahat gemeint ist: in der Shaiva-Mata kennt man es als das Buddhi-Tattva. Dieses Mahat-Tattva oder Buddhi-Tattva besteht aus den drei Gunas — Sattva, Rajas und Tainas. Das heißt, es umfaßt Manas, Buddhi, Ahankära und Chitta. Diese vier sind das Produkt (kärya) aus den Gunas als der Ursache (kärana), und die Ursache (kärana) inhäriert (upachära) dem Effekt (kärya). Nachdem Räghava die Worte Ishäna Shivas zitiert hat, weist er darauf hin, daß auch das Vämakeshvara Tantra darüber berichte, daß aus dem unmanifestierten Shabda Brahman das Buddhi-Tattva ent- . springe, in welchem Sattva-Guna manifest sei. Er distanziert sich also von der SänkhyaAnsicht, nach der der Gleichgewichtszustand zwischen Sattva, Rajas und Tamas in der Prakriti vorherrschen soll, die man auch Pradhäna und Avyakta nenne. Das ist das Höchste (paravastu). Aus einer Störung im Gunas-Gleichgewicht entspringt das Mahat. Dieses Mahat setzt sich aus Gunas zusammen und bildet die Causa für die Antahkaranas. Demnach sind also unter Gunas die fünf Tanmätras Shabda, Sparsha usw. zu verstehen. Nach dieser Ansicht kommt aus der Prakriti auch das Mahat, und aus diesem der Ahankära. Räghava zeigt also, auf welch verschiedene Weise man den Shäradä-Text vom Shäkta-, Shaiva- und Sänkhya-Standpunkt aus interpretieren kann. Srishtibheda — d. h., der eine Ahankära (Ichmacher) ergibt sich aus dem Übergewicht von Sattva, ein anderer aus dem von Rajas, ein dritter aus dem von Tamas. Das heißt, im Sinne des Produktes. Nach dem Shaivashäktadarshana (System) ist die Mülaprakriti (der Urstoff der Weltentfaltung) als solche ein Produkt aus dem Shivashaktitattva, denn das Selbst wird zum eigenen Objekt. Das heißt, vom Standpunkt des Paravastu aus gesehen ist es eine Wirkung, aber in bezug auf das von ihm Hervorgerufene ist es eine Causa. Vikritih prativimbatä — man wird in einem Spiegel gesehen, aber das Spiegelbild ist man nicht selbst. Räghavabhatta sagt, das sei so nach der Shaiva-Lehre. Boddhavya-Lakshanä — das, was erkannt werden kann (jneya); die objektive, mani­ festierte Prakriti. Siehe Einführung, Kap. III. Was Sa-Sankalpa-Vikalpa anbetrifft, siehe Einführung. Das ist Taijasa Ahankära, der Ursprung für die Indriyas. In diesem Passus ist die Änji = Samani. Das Bhüta-Shuddhi (siehe später) macht zwischen Änji und Samani auch einen Unterschied. Es handelt sich um die in der Layakrama aufgezählten Aväntarasharlras der Ersten Ursache. Der aus dem Shäradä zitierte Text gibt die Srishti-Krama (Reihenfolge) an. Mäträrdhä. In der Devi Bhägavata findet sich der Ausdruck Ardhamäträ (eine Bezeich­ nung für Näda) in I, 1, Vers 55, ferner in III, 5, Vers 29, und Nüakantha definiert ihn im Sinne von Param Padam = der Höchste Zustand, das Brahman. Der Ausdruck Ardha-Mäträ findet sich noch im Chandl 1/55 in praktisch gleichem Sinne. Gopäla Chakravartl zitiert einen Passus folgenden Wortlauts: «Ardhamäträ ist attributlos (nirguna) und durch den Y ogi realisierbar.« Er zitiert eine weitere Textstelle, die lautet: »Om — das sind die drei Vedas, die drei Lokas, und nach den drei Lokas ist Mäträrdhä das vierte — das Höchste Tattva.« Siehe Shandi »Tvamudgithe ardhamäträsi« und die Devibhägavata I, 5, Vers 55. Shruti (die Heilige Offenbarung) sagt: »Du bist das Ardha­ mäträ des Pranava, der Gäyatri und Vyähriti.« Hier wird die Einheitlichkeit von Devi und Brahman ersichtlich. Sie gilt als das mit der Mäyä vereinigte Brahman (mäyävishishtabrahmarüpini). Das Nädabindu Upanishad (Vers 1) sagt: »A-Kära ist die rechte Schwinge (des als Vogel dargestellten Om), U-Kära ist die andere (die linke) Schwinge,

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Ma-Kära ist der Schwanz, und Ardhamäträ ist der K opf. Sattva ist sein Körper, Rajas und Tamas sind die beiden Füße. Dharma ist sein rechtes Auge, Adharma ist sein linkes. Die Bhür-Loka ist seine Füße; die Bhuvarloka seine Knie; die Svarloka ist seine Mitte; die Maharloka sein Nabel; Janaloka ist das Herz; Tapoloka seine Kehle und Satyaloka der Raum zwischen den Augenbrauen.« Ygl. auch die Brahma-Vidyä Upanishade, Vers 10. Der dritte der sieben ersten Subtiltöne. Shäradä, Kap. I, Verse 7 —9. Sakala, das Oppositum zu Nishkala oder Nirguna, heißt mit Kala vereint und gilt nach der Sänkhya (Lehre) als Sänyävasthä(zustand) der Gunas, das ist die Prakriti. Nach den Vedantisten (der Mäyä Väda) ist Kalä die Avidyä. Im Shaiva Tantra ist Kalä die Shakti (Räghava-Bhatta). Ein anderer Text hat Shivätmaka — das heißt, Bindu ist der Shiva-Aspekt. Samaväya = kshobhya-kshobhaka-sambandha — wörtlich: Verknüpfung, die den Wechselseitigkeitskonnex herstellt. Siehe Einführung. _ In der Benares-Ausgabe des Shäradä-Tilaka wie in der Rasika Mohana Ausgabe des Chattopädhyäya lautet der Text »Shivätmaka«, als ob das Bija näher bestimmt werden sollte, doch das scheint unrichtig zu sein. Bei Räghava heißt es: »Samastatattvasanghätmasphurtyadhishthatrirüpinim« — »Sie ist die Devi, welche die Entfaltung, die Manifestation der gesamten Tattvamasse be­ herrscht oder leitet.« Vishvanätha zitiert das Svachchhandasangraha, in welchem der Unmani über Samanä erwähnt wird, und sagt, auf der Unmani (manaslosen) Stufe gäbe es kein Erkennen von Käla und Kalä und folglich auch kein Unterscheiden zwischen den beiden; dort gäbe es weder einen Körper noch Devatäs noch ein Aufhören der Kontinuität. Es wäre der reine und köstliche Mund Rudras. Cf. Vrittinam manah in der Shiva-Samhitä, Vers 219. Sahasrärädharä. Siehe Einführung. Sarvasankalpa-Rahitä — i. e., sie ist von allem Verhaftetsein befreit und wird durch nichts zu irgendwelcher Handlung veranlaßt. Die zitierten Textstellen stammen aus dem V. Kapitel des Kankäla-Mälini. Vishvanätha nennt die Samanä und sagt, sie sei Chidänandasvarüpä (d. i. Chit und Änanda) und die Ursache aller Ursachen (sarvakäranakäranam). Vaidika Lakära (La). Das heißt, 51 Buchstaben lassen sich im Sahasrära nicht unterbringen. Das heißt, von hinten nach vorn. Von v om nach hinten. Eine Form verbaler Zusammenstellung im Sanskrit. Dakshinävarta — die umgekehrte Bewegungsrichtung der Uhrzeiger.

Vers 41 494 Der Mann im Mond. 495 Das A-Ka-Thädi-Dreieck nach Vishvanätha. 496 Shünya = Bindu — d. h., der Parabindu oder Ishvara, in seinem Zentrum liegt die Stätte Brahmans (brahmapada). In den nördlichen Shaiva und Shäkta Schulen sind Sadäshiva und Ishvara der Nimesha- und Unmesha-Aspekt unmittelbarer Erfahrung zwischen Shiva Tattva und Shuddhavidyä, wobei ersterer Shünyätishünya heißt. Die Lage des Sonnen- und Mondkreises im Sahasrära und die Lage des zwölfblättrigen Lotos mit der Kämakalä sind im Text angegeben. 497 i. e. Devas. 498 Wenn sie Binduform annimmt, steht sie auf der Seite der wirkenden Gunas, denn dann ist sie Sakala.

Vers 42 499 Es gibt siebzehn Mondkaläs (Mondfinger), aber die nektarspendende Amä und die Nirvänakalä werden nur auf dieser Stufe enthüllt. Die übrigen Kaläs werden im Skända Puräna, Praphäsa Khanda erwähnt. 500 Die Erlösungswonne und die aus der Shiva-Shakti-Union stammende W onne; siehe später. 501 Ajüäna. 502 Moha. Dieser Vers findet sich im Tripurä-Sära-Samuchchaya, Kap. V/40.

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503 Kanda heißt Wulst oder Wurzel. Das Yogini-Hridaya sagt, dieser Kanda Bei die subtile Paränanda-Kandabindurüpa, die Wurzel höchster W onne in Binduform (Vishvanätha). 504 Nach dem Kommentator qualifiziert das den Kanda. Bindu ist der Kreis 0 , die Leere ist Brahmapada (die Brahmastätte) oder der Innenraum. 505 Vishvanätha sagt, dieser Shiva sei der Saguna Shiva. 506 Cf. das Shruti »Kham Brahma« Chhä. 4 —10—5 Brah. 5 — 1 — 1. 507 »Das bist du«. Siehe Einführung. 508 i. e., Moksha. 509 Das heißt, die Rasa in ihm ist zur Virasa geworden. Vers 43 510 Wie aus dem späteren Kommentar hervorgeht, kann man das auf verschiedene Weise folgendermaßen übersetzen: »Einen unaufhörlichen und den silbrig glänzenden M ond­ strahlen ähnelnden verschwenderischen Nektarstrom ausgießend« oder: »Durch un­ ablässige und nektargleiche Worte, gewichtig genug, die Finsternis der Verblendung auszurotten« oder: »Durch beständiges Wiederholen des Wortes, das in seiner Barm­ herzigkeit nektargleich ist und den Wesenskern des Brahma-Mantra in sich faßt«. 511 i. e. der Herr als der Besitzer der sechs Aishvaryaformen (übernormale Wunderkräfte). 512 Den Selbstbeherrschten, dessen Gemüt mit dem Verehrungsobjekt gleichförmig geworden ist. 513 Jnäna ist geistiges Wissen oder Weisheit, Vijüäna ist das Wissen um die stoffliche W elt (Wissenschaft). 514 i. e., der vertieft ist in. 515 Dies gilt als ein Lob auf die Shakti, ohne die Shiva ein Shava (Leichnam) und bewegungs­ unfähig wäre. 516 Dieser Passus findet sich in der III. Patala des Nirväna Tantra (Rasika Mohana Chattopädhyäya Ausgabe pag. 3) und gilt als Antwort auf die folgende Frage der D evi: »Der im Turiyadhäma (>Vierten Stand