Einiges zur Erinnerung an Lessing, ein Wort an unsere Zeit: Ein Vortrag gehalten in der deutschen Gesselschaft zu Königsberg am preußischen Krönungsfeste 1839 [Reprint 2019 ed.] 9783111482897, 9783111116082

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Einiges zur Erinnerung an Lessing, ein Wort an unsere Zeit: Ein Vortrag gehalten in der deutschen Gesselschaft zu Königsberg am preußischen Krönungsfeste 1839 [Reprint 2019 ed.]
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Vorwort
Einiges zur Erinnerung an Lessing, ein Wort an unsere Zeit

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Einiges zur

Erinnerung an Lessing, ein Wort an unsere Zeit von

Dr. Ludwig Wilhelm Sachs.

Ein Vortrag gehalten in der deutscher! Gesellschaft zu Königsberg am preußischen Krönungsfeste 1839.

Berlin, 1839: Verlag von Veit und Comp.

Vorwort

iX)stß ich

folgende Blätter, deren nächste Veranlas­

sung auf dem Titel angegeben ist, deren Tendenz und Inhalt aber sie selbst deutlich genug aussprechen, dem Drucke übergebe, ist ein Akt des Gehorsams gegen Freunde. Sollte dieser rein vollzogen werden, so durfte ich mir keine Abänderung in der Handschrift erlauben, und so erscheint denn auch ein treuer Ab­ druck des wirklich gehaltenen Vortrags, mit allen sei­ nen, auch mir fühlbaren Unvollkommenheiten. Ich selbst lege sehr geringen Werth daraus, noch weniger verspreche' ich mir eine irgend nahmhafte Wir­ kung davon.

Unvergleichlich Besseres und Gründli­

cheres würde in unserer Zeit tiefster Erschlaffung, in welcher nichts Eindruck macht, in der es vorgezogen

IV

wird, von der Trägheit sich abmatten und von der Leidenschaft sich zerwühlen zu lassen, als mit rüstiger Willigkeit in den Dienst des Geistes zu treten und darin zu beharren, ohne Einfluß, ohne sichtbare Wir­ kung bleiben. Bei aller Behutsamkeit aber gegen Täuschung vermag dennoch der Geist nicht von der Hoffnung zu scheiden, da er von sich selbst nicht scheiden kann. Und so harren wir denn mit gespanntester Sehnsucht, in treuester Gesinnung!

E§ir feiern heute das Geburtsfest des preußischen Kö­ nigthums,

und sind zuvörderst wohl alle darüber einver­

standen, daß nicht die Erwerbung des Titels, sondern der Eintritt unseres Vaterlandes in diejenige Stelle des euro­ päischen Staatensystems, durch welche ihm ein glückliches Fortschreiten

zur Erfüllung seiner höheren Bestimmung,

zur Gewinnung seiner wahren Natur, nicht einer andern, oder eines Andern, möglich werden konnte, der eigentliche Gegenstand unserer Freude sein könne.

Soll diese eine

wahre sein, so muß sie in ihrem Grunde sich selbst durch­ sichtig werden, so wie die Feier nur dann eine ihrem Ge­ genstände angemessene werden könnte, wenn sie das Bild des zu Feiernden an sich lebendig und anschaulich zu ma­ chen vermöchte. Denn was sonst noch als festliche Bezeichnung genannt werden mag: glänzendere äußere Erscheinung, Vermeidung des Alltäglichen mit seiner mechanischen Eingleisung, Ver­ einigung zu höherer Geselligkeit und ihren Freuden; oder — was schon viel mehr ist — heitere und freie Erösf-

1

2 nung des Gemüths, allgemeine und mit einer Art geistiger Ansteckung sich verbreitende freudige Stimmung, ja selbst die in erregbaren und edlem Gemüthern sich leicht ent­ wickelnden Anflüge zur Begeisterung —: alles dies, und was ihm sonst ähnlich ist, ist nur Attribut, Merkmal und, im besten Falle, Wirkung der festlichen Erregung über­ haupt, es ist allen gemeinsam und somit auch ohne Bezug zum besonderen Inhalte des einzelnen Festes; es bezeichnet wohl Freudigkeit, verhüllt aber ihren bestimmten Grrmd. Aber nicht bloß nöthig ist eine solche Erkenntniß, wenn auch das Menschlichste, das Bewußtsein, bei solcher Feier nicht fehlen darf,

sondern in der That auch nicht wenig

schwierig. Denn sieht man sich im weiten Kreise der Ver­ wandten, oder doch ähnlich Scheinenden um, und verweilt zunächst betrachtend bei einem entfernt Stehenden zwar, das aber theils durch die Allgemeinheit, mit welcher auch dieses Fest begangen wird, theils durch die Besonderheit, mit welcher jeder es in seiner Weise begeht, theils auch wegen eines Gegensatzes zu unserm besondern Falle,

am

meisten Aufklärung über den Allgemeinbegriff verspricht —: betrachten wir, sag' ich, die Geburtsfestc, die ja von den meisten Einzelnen und von den mit diesen in Liebe Ver­ bundenen alle die Jahre ihres Daseins gefeiert werden, so begegnet uns schon hier ein schwer Begreifliches, wenn anders wir. nur beim Vernünftigen uns beruhigen können. Denn wie soll es als vernünftig erscheinen, einen ganzen Tag der Erinnerung einer Geburt zu widmen und über-

3 dies noch mit besonderer festlicher Zurüstung, wenn doch, wie jeder weiß, nichts gemeiner und gewöhnlicher ist, als eine Geburt,

und in der That auf unserer kleinen Erde

ein solches Ercigniß nicht nur in jeder Minute hundertmal sich wiederholt, sondern

auch fast ebenso oft wiederum

aufhebt, da ja in je zwei Secunden drei Menschen sterben? Mehr noch: kommt man bei solchen festlichen Begehungen nicht ganz ins eigene Widerspiel und in die kläglichste Be­ wußtlosigkeit hinein? wird nicht dabei noch ein Zweites, ganz Offenbares, völlig vergessen —: dies: daß die Ge­ burt selbst gar nichts anderes sei, als der Eintritt ins Gebiet des Sterblichen und der Anfang des Todes selbst, der fortgesetzt werden muß, bis mit dem Ende des Ster­ bens der Tod selbst keinen Theil mehr an uns haben samt? ist denn, was man Leben nennt, etwas anderes, als ein zwar fortgesetzter, immerfort aber auch vergeblicher Kampf mit dem Tode?

Hieran aber

scheinen Geburtstagsbe­

gehende gar wenig zu denken, und wer sie daran erin­ nerte könnte schwerlich hoffen als Mehrer ihrer Freude begrüßt zu werden. Könnten wir nun bei diesen sonst nichts erfahren, so wäre unsere Hoffnung, Belehrung bei ihnen zu finden über das,

was wir suchen,

völlig getäuscht, und wir hätten

nichts eiligeres zu thun, als umzukehren und andere Leh­ rer zu suchen.

Und in Beziehung auf Viele ist allerdings

dies das Angemessenste.

Denn nur den wenig Erwägen­

den kann es entgehen, daß bei den Meisten nichts vergeb\ *

4 licher wäre, als in ihnm den Grand für dasjenige, das sie selbst, und oft mit großer Angelegentlichkeit, beginnen, zu suchen.

Alles vielmehr, das von ihnen und in ihnen

geschieht, ist nur Wirkung außerhalb ihrer, ihnen selbst verdeckter Ursachen, während sie selbst allezeit sich lediglich als Träger von Zuständen time werden, artig suchen oder fliehen.

die sie instinkt­

Ihre Persönlichkeit ist ganz im

Triebe eingeschlossen und gefangen;

was aber diesen be­

wegt kennen sie nicht, denn Andere sind cs, oder Anderes. Freilich aber, wenn nur solche Individuen das Men­ schengeschlecht bildeten, würde überall keine Frage, die sich auf etwas anderes, als bloß auf sinnliche Zustände be­ zöge, eine Antwort finden können, ja, es würde keine solche Fragen, wie überall kein geistiges Interesse geben.

Daß

es deren gibt und immer gegeben hat, ist ein thatsächli­ cher Beweis, daß es auch an solchen menschlichen Indi­ viduen weder fehlt, noch je gefehlt hat, denen es mehr um das Innewerden der Gründe als um die daraus her­ vorgehenden Zustände,

und um diese überhaupt nur, in-

wiefem sie die Erscheinungen jener sind, zu thun sei. Denn das Interesse der Gründe, ist eben das des Geistes, nur er sucht und findet sie, und zwar in ihm selber. Von solchen erhalten wir allerdings Belehrung über die schone Bedeutung der Geburtstagsfeste, insofern sie die Einzelnen zum Gegenstände haben. Denn einmal der Dumpf­ heit der Grundlosigkeit entrissen, leuchtet ihnen zuvörderst ein, daß der Werth und die Bestimmung des menschliche»

Daseins und Lebens nicht in jenem

fließenden Kommen

und Gehen, nicht in fortstürzendem Verschwinden, nicht in jenem Auftauchen aus dem Nichts, um sofort wieder in dasselbe hinabzusinken, mit einem Worte: nicht in eitel Schein des Seins bestehen könne, sondem daß in diesem Fluß des Werdens und Wandels etwas entwickelt werde, das selbst dem Wandel nicht unterworfen ist, sondern nur derjenigen Veränderung, die, aus Sein hervorgehend, dem Unveränderlichen sich immer mehr zubildet, und zwar aus sich selbst, so daß der Veränderung selbst ein Beharrli­ ches aber zu Verherrlichendes, ein Unveränderliches aber mit unzerstörbarer Fruchtbarkeit Ausgestattetes zum Grunde liegt.

Unwandelbar aber mit einer möglichen Entwicklung

aus sich heraus, ins Unendliche hinein, ist nur der Geist. Bestimmung des menschlichen Daseins mithin ist die Herausbildung des in sich selbst verbürgten Geistes unter dem Abfluß einer wandelbaren Erscheinung, fortlaufende, immer höher sich steigernde Bildung des Geistes unter be­ ständiger Abwerfung der verdunkelnden, nur

zum Ver­

schwinden gebildeter Hüllen —, Hervorbrechen des Geistes zu durchsichtiger Klarheit aus dev Dunkelheit —: die Ver­ kündigung des Geistes seiner selbst als das Positive und ewig sich selbst Bejahende. Aber die geistige Welt ist ebenso wenig, und noch viel weniger eine Monas, oder ein Monadenhaufen, als die ih­ rem Sein nach äußerliche, die wir die physische zu nen­ nen pflegen; dort so wenig, und noch viel weniger als

6 hier ist irgend etwas ein in sich selbst völlig Abgeschlosse­ nes, Jsolirtes; und doch jedes ein Besonderes, und in dem Maaße von größerem, entschiedenerem Einfluß auf alles Andere, je mehr es sich selbst nach seiner Besonderheit aus­ gebildet hat, jedes ist eine um so wirksamere Potenz, den anderen zur Erreichung ihrer Bestimmung diensam zu sein, je mehr es ihm mit ihm selber gelungen ist. Jede menschliche Gestalt daher ist uns eine Personi­ fikation einer besonderen geistigen Aufgabe, die, von diesem Individuum, welches allein es vermag, gelöst, eine neue belebende Erregung und innere Ergänzung in das Ganze zu bringen, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Bestimmung in sich trägt.

Dies ist der reine, einige und

heilige Grund wahrer Mcnschcnachtung; wer jenen ver­ kennt, diese vergißt, verlegt — nicht Menschen, sondern das Göttliche selbst, denn Gott selbst ist Geist und der Vater der Geister, und nur wer in ihrer Lebensgemeinschaft ist weiß sich mit Gott verbunden und ist Genosse der heiligen Familie. Und eben dies auch ist's, was ganz natürlich die freu­ dige Stimmung mit der vollen Gewalt des Vernunftin­ stinkts in uns hervorruft, wenn in unserm näheren Kreise ein Mensch geboren ist; denn der Geist, nie Sättigung füh­ lend, verlangt immerdar nach Mitgenoffen und Mitarbei­ tern, und schon die Hoffnung darauf ist ihm Erquickung; dies treibt uns znr gespanntesten Beobachtung der ersten

7 geistigen Regungen der Säuglinge und Kinder, und ver­ leitet uns sogar, nur zu oft, zu voreiligen Prophetien. Ist es nun wohl nöthig zu sagen, was es sei, das zu Begehungen und fteudiger Theilnahme

an Geburtstags-

feierlichkeiten bestimmt? Die gefeierte Persönlichkeit ist ent­ weder eine geistig ausgebildete,

die durch ihr bestimmtes

Sein sich als belebende geistige Energie

in nähere und

entfernte Kreise hineingebildet und Viele zum Leben erweckt, oder es ihnen erhellt hat, so daß sie ihr eigenes Sein be­ wußt erfassen, das jener Persönlichkeit als wesentliches Moment in sich eingepflanzt, jenen Geist in sich eingegeistet finden —: und dann kann es ja wohl gar nicht zwei­ felhaft sein, was sie zum Dank und zur Freude erregt, und was ihrer Feier die Bedeutung gäbe.

Wäre diese be­

deutungslos, hätten jene keine Veranlassung, oder vielmehr keine Nöthigung, so mußte das Verhältniß der Geister zu einander,

wie das der Sandkörner in einem Sandhaufen

sein. Aber selbst wo es sich mit der gefeierten Persönlich­ keit ganz anders, ja fast entgegengesetzt verhielte, wo man vielleicht bekennen müßte, daß dieselbe während eines lan­ gen Daseins noch gar nicht zur Geburt gekommen, son­ dern immerfort nur gestorben sei,

ohne darin bis jetzt

schon das Ende gefunden zu haben, selbst da — und wie schwer, ja, wie unmöglich wäre

es doch für ein solches

Urtheil ein Zeugniß der Wahrheit zu finden; wer hat alle Gedanken eines Menschen und ihre Wirkungen gesehen, wer alle Liebe eines Menschenherzens, oder auch nur eine durch

8 und durch erkannt? wer müßte nicht bekennen, daß der Geist nicht nur das Offenbarste, sondern auch das Verbor­ genste sei? — selbst da, sag' ich, kann es Wohlgesinnten und denjenigen besonders, die von den Geheimnissen des Geistes etwas erblickt haben, nicht an allem Grund zur Freude fehlen, weil die Hoffnung,, diese in die Zukunft sich hineinbauende Kraft des Lebens, nicht fehlen kann: wer noch nicht ganz und gar gestorben ist, könne ja wohl auch noch ganz und gar zum Leben erwachen,

wenn

vielleicht

auch erst im Augenblick des Todes, so daß dieser selbst zur vollgültigen Lebensthat sich ausprägen möchte! Hätten wir so den Grund und die Bedeutung der Ge­ burtstagsfeste gefunden, und zwar als Feier freudiger An­ erkennung und liebevoller Hoffnung des Geistes, so bliebe nur noch nachzusehen, ob dasjenige, was sich hierüber als das Richtige erwiesen hat, wo alles sich auf Einzelne be­ zieht,

auch noch als wahr stehen bleibe, wenn größere,

umfassendere Einheiten in Betrachtung gezogen werden sol­ len, namentlich wenn, wie in unserm Falle, vom Staate die Rede ist.

Hievon sogleich sich, wie von einem Ver­

suche zur Verschmelzung ganz auseinanderliegender Betrach­ tungsgegenstände, zurückschrecken zu lassen, dazu, scheint mir, gibt es keinen Grund.

Denn gar zu groß ist die

Verschiedenheit zwischen ihnen, wenn es deren auch gibt, doch wohl nicht, und in vielem, das gleichwohl wesentlich ist, fallen sie völlig zusammen. Zuvörderst darin, daß beide eine Bestimmung haben, deren Erfüllung nicht von ihrem

9 blossen Dasein, sondern vom Thun ihres Geistes abhängig ist, die sie also erreichen, oder verfehlen können. darin sind beide ganz gleich,

Und auch

daß sie außer ihrer Be­

stimmung und abgelöst von dieser nichts sein, keinen wah­ ren Inhalt haben können, sondern nichtigem Schein ver­ fallen, dem lebendigen

Tode,

dessen größte Täuschung

und herbste Strafe eben der Lebensschein und die Lebens­ mühen sind, während die unablässigste Arbeit innerhalb der Bestimmung von den Kräften dieser bestritten wird und den ihr Hingegebenen Stärkung, Freudigkeit, wesentlichen Zuwachs und innerlichst erfüllende Versicherung des Le­ bens gewährt. Und treffen beide in diesen, freilich nur allgemeinsten Beziehungen zusammen, so wird die gemeinsame Betrach­ tung auch dadurch nicht auseinandergezogen, was aller­ dings zwischen ihnen verschieden scheint.

Denn wenn man

etwa das als Verschiedenes hervorheben möchte, daß die Individuen, als solche, als verschwindende, die Staaten aber als beharrliche Größen sich verhalten, so wäre dies in der That bei weitem mehr scheinbar, als wahr.

Denn

einerseits verschwinden Individuen, wenn sie wahrhafte sind, in dem was sie sind, niemals; oder wie ist's mit Homer, Sophokles, Plato, Luther, Raphael, Shakespeare, Newton, Kant, Goethe?

Sind sie verschwunden? können sie ver­

schwinden? kann, seitdem sie dagewesen, ein Staat, der durch einige Cultur sich dieses Namens werth zeigen soll, ohne sie, oder ihre fortgehende, mit individueller Schärfe

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sich bezeichnende Wirksamkeit, als existent gedeiht wer­ den? Wird das Menschengeschlecht je, wenn es auch den verkehrtm Willen dazu gewinnen sollte, sie loswerden kön­ nen? Oder — um etwas viel näher liegendes zu nennen — man versuche in Gedanken ein Experiment zu machen: man nehme aus der Geschichte des preußischen Staats dasje­ nige ganz bestimmte Individuum heraus, das wir Fried­ rich den Großen nennen, oder verwandle dasselbe in eine verschwindende Größe, und sehe, falls das Experiment ge­ lingen sollte, wohl zu, was noch bleiben möchte, und in welchem Zusammenhange. Und was andererseits ist der Widerlegung wohl we­ niger bedürftig, als die Annahme der festen Dauer, oder gar schlechthinniger Beharrlichkeit der Staaten? Sind nicht alle, welche die sichtbare Herrlichkeit der alten Welt ge­ wesen, hinweggetilgt und selbst aus dem lebendigen Anden­ ken der Menschen geschwunden? Wie wenige von denen, die im Mittelalter mit göttlicher Macht bekleidet schienen, haben sich im Dasein erhalten, der Ohnmacht, ja dem völ­ ligen Tode entziehen können? Ja, schauen wir in die Ge­ genwart hinein, begegnen wir da nicht Reichen, die fast alles haben, nur nicht Leben? Staaten, in denen vor we­ nigen Jahrhunderten noch die Sonne nicht unterging, die jetzt kein Licht mehr empfangen, aus welchen kein Lebens­ ton mehr vernommen wird, als der Aufruf zum Bruder­ mord? Staaten, die vor wenigen Jahrhunderten der Schrekken des civisilirten Europa's, der gesummten Christenheit wa-

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ren, die nun nur noch ein Scheinleben führen, und auch dies nicht aus etwa noch erhaltenen Lebenstrieben, sondern lediglich durch die Todesfurcht Anderer? Mehr noch, wir begegnen in der Gegenwart Staaten, die im umgekehrten Verhältnisse zur imponirenden Fülle ihrer Massenkraft nur die schwächsten Spuren der Kraft des wahren Lebens zei­ gen und selbst die Entfaltung dieser spärlichen Lebenstriebe durch die Masse hemmen, fast erdrücken, dergestalt daß ih­ rer wahren Geburt ein Ersterben ihres Maffenseins vor­ angehen müßte, d. h. ein Auseinandergehen in gesonderte und eine neue Verbindung der durch Wahlanziehung für einander zum Leben bestimmter Elemente. Schon die Erwägung aber dieser wenigen Momente ist hinreichend, um die Unzulässigkeit einer auseinanderhal­ tenden Unterscheidung der Individuen und Staaten zu er­ weisen, inwiefern diese die beharrenden, jene die verschwin­ denden Existenzen wären. Denn wenn überall eine solche Trennung nachgemacht werden sollte, so müßte sie ja, nach dem was sich so eben gezeigt hat, in die entgegengesetzte Richtung gehen. Doch auch dies wäre viel mehr, als sich bei fortgesetzter Ueberlegung aufrecht erhalten ließe. Denn müßte man auch zugeben, daß es der geistigen Entwick­ lung der Individuen leichter gelingt und öfter gelungen ist, als der der Staaten, diejenige Höhe und Vollendung zu erlangen, um eine feste, unverrückbare Stelle in der Reihe der fortwirkenden intelligenten Potenzen einzunehmen, so begründet dies doch einmal keinen Unterschied der Art,

12 sondern nur des Grades; sodann aber bliebe ja auch noch zu untersuchen, ob nicht selbst diese Differenz mehr in den Aufgaben, als in den Trägern ihrer Lösung enthalten sei. Was aber bisher sich uns als die Grundbedingung, als alleiniges inneres Recht des lebendigen und beleben­ den Seins, sei es der Individuen, oder der Staaten, ge­ zeigt hat, ist nur der Geist. Dies auch ist das vollgül­ tige, göttliche Recht, da Gott, die Quelle und der Grund alles Seins, für sich selbst keine andere Bezeichnung hat, als die des Geistes, und so auch sich nennt. Dürfen wir also von dieser Seite her nicht fürchten, Verschiedenes und Ungleichartiges durch eine gemeinsame Betrachtung zu vermischen, so früge sich ob nicht eben das, welches wir so eben genannt, eine solche trennende Verschiedenheit setze — eben die Verschiedenheit der Auf­ gaben selbst, an welche Staaten und Individuen ihre Kraft setzen und dadurch wahres Leben gewinnen sollen. Und hier allerdings gewinnen die Dinge gar sehr den Schein der Ungleichartigkeit, dergestalt, daß es bedenklich werden könnte, irgend etwas von dem einen auf das an­ dere zu übertragen. Denn hören wir nur, was uns zu­ vörderst als Widerspruch, ja als entschiedener Einspruch gegen jede Vergleichung der beiden entgegengestellt werden könnte. Individuen, sagt man uns, sind doch auch in der Beziehung Individualitäten, daß ihnen einzelne, in sich selbst schon gesonderte, streng bestimmte Aufgaben zufallen, in welche sie ihr ganzes Vermögen und Sein versenken,

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gleichsam davor vor Anker gehen, alle fernere Bewegung auf der Oberfläche der Mannigfaltigkeit aufgeben, und nur die Tiefe verfolgen müssen, während Staaten, als solche, so weit entfernt sind, selbst in diese Besonderheiten eingehen zu können oder zu dürfen, daß sie dieselben viel­ mehr nur als aufgehoben, d. h. als aufgelöst und in einem reinen Mischungsverhältnisse in sich enthalten könne. Oder kann es bezweifelt werden, daß nur da etwas von einem der Idee gemäß sich zubildenden Staate erblickt werden könne, wo er den verschiedensten geistigen Interessen, die er eben als seine Lebenswnrzeln erkennen muß, ein solches Verhältniß zu einander gewährt, daß sie nicht nur einan­ der nicht be- und verdrängen, sondern gegenseitig sich stärken und im Gedeihen fördern, indem sie einander als zuführende Kanäle des erregenden und ernährenden Lebens­ saftes dienen? Wahrlich man darf, um uns die Kraft dieses Ein­ spruchs fühlbar zu machen, nicht an die abschreckenden Beispiele uns erinnern, welche immer die Verirrungen durch Verwechslung jener Aufgaben erzeugt haben. Was kann es denn auch Widerwärtigeres geben, als jener vermeint­ liche Bildungszustand derjenigen, die es sich angelegen sein lassen, ihrer Umfassung aller geistigen Interessen sich zu rühmen, und so ein wahres Zerrbild aller wahren Bildung erzeugen? Ist das, was sie als ihre universelle Bildung uns erblicken lassen, etwas anderes, als ein vollgültiges, wenn auch sehr unfreiwillig abgelegtes Zeugniß, daß es

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ihnen an aller, wenigstens an jeder wahren fehle? Und ihre Allwissenheit, unterscheidet sie sich wohl von schlichter Unwissenheit durch etwas anderes, als durch peinigendere Unerträglichkeit? Und wie diese Uebergriffe der Individuen ins Unbe­ grenzte nur welche ins Leere sind, übrigens aber doch ohne weitere Folgen, aber wegen des unauflöslichen Bandes zwischen Vergeblichkeit und Nichtigkeit, so ists andererseits eben so verkehrt aber auch in nicht geringem Maaße ver­ wirrend und verderblich, wenn Staaten sich Partikular­ aufgaben stellen. Und hiebei kommt es gar nicht einmal darauf an, welcher Art diese seien, denn waren sie auch edle an sich, so sind sie doch keine für ihn; und was er auch in dieser Beziehung thäte, bliebe nothwendig unange­ messen für ihn und widersprechend der Sache. Denn hielte es z. B. ein Staat, als Regierung, für seine Aufgabe, die Religion, ohne Zweifel das Höchste, auszubilden, so wird sofort, und zwar jemehr und direkter er darauf aus­ gehen mag, destomehr das Verwerflichste eingeleitet sein; denn was anderes könnte dann wirklich werden, als Prie­ sterherrschaft, Heuchelei, Möncherei, Götzendienst? Wie auch könnte das, was die innerlichste, freieste und höchste That des menschlichen Geistes ist: das Erfassen des gött­ lichen Geistes durch den Menschengeist, von außen her an­ befohlen, angerichtet werden? Wie gering und unbedeu­ tend sind doch alle Beihülfen und Handreichungen, die Menschen überall einander zur Vollziehung jener höchsten.

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das Leben erfüllenden und vollendenden That gewähren können! und wie ganz und gar nichts vermag doch der Staat dafür zu leisten: — es sei denn durch weise Ent­ haltsamkeit von allem positiven Eingreifen in diese Sphäre. — Ueberall muß der Staat, wenn er nur irgend die hohe Bedeutung der ihm anvertrauten göttlichen Kraft inne wird, sich vor nichts mehr hüten und bewahren, als vor der Uebung in der Ohnmacht. Oder wenn ein Staat, als solcher, es unternähme, die Bildung der Künste, sei es der Maler-, oder Bildhauer­ oder Baukunst zu seiner besondere Aufgabe zu machen — denn was die Wissenschaften anlangt, so sind deshalb schon bisher solche Verirrungen in Beziehung auf sie un­ möglich gewesen, da man sie nur als nothwendige Uebel betrachtet und im besten Falle mit Schonung behandelt hat: — in welch ein sonderbares und verworrenes Thun würde er doch hineingerathen! Denn zuvörderst könnte er selber ja nicht malen, oder in Stein hauen, oder bauen, sondern die Künstler müßten dies, wenn es deren gäbe. Fehlt es aber an solchen nicht, so vermögen sie gar nicht anders, als der Nöthigung des sie belebenden und drän­ genden Geistes zu folgen, und es entstehen dann die höch­ sten Kunstwerke von selbst, d. h. durch die überwindende Naturgewalt des Geistes, wenn die Hemmungen von au­ ßen nicht gar zu groß, nicht völlig erdrückend sind. Es ist schon hinreichend, wenn unter solchen Umständen der Staat nur geschehen läßt; oder will er das Großmüthigste

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thun, wohlan! so begünstige er das wirkliche Geschehen, und er thut dies schon reichlich durch solche Gewährungen, die für ihn nicht den Namen eines Opfers verdienen. Jsts aber in Beziehung auf die bildenden Künste für den Staat, vorausgesetzt, daß in ihm Individuen sind, auf welchen die schöpferischen Gedanken der Kunst ruhen, schon hinreichend, wenn er nichts, und viel, wenn er ein Geringes thut, und tritt dann jedenfalls das dem schöpferischen Genius ent­ sprechende Bildwerk zur geisteserweckenden Erscheinung hervor, so vermag gewiß nichts dies eine Element zu er­ setzen, wo es fehlt, und der Staat wird es mit Aufbie­ tung und Darangeben aller seiner Mittel nicht hervorru­ fen, durch keine Zwangsmaaßregel beschaffen können. Und was er dennoch in Abwesenheit der Möglichkeit des Ge­ lingens zur Lösung der falschen Aufgabe beginnen mag, wäre in der That das Kläglichste, Unwürdigste, von Täu­ schungen aller Art Erfüllteste, das nur unternommen wer­ den kann. Denn ließe er etwa Tempel in großer Zahl aufführen, bald nach antiken, bald nach mittelaltrigen Mu­ stern, so geschähe doch unter aller dieser schweren Arbeit eben nur nichts, oder etwas, das nur als negative Größe ausgedrückt werden kann; es wäre damit der volle und überdies unnöthige Beweis seines Unvermögens zum Tem­ pelbau geführt, überall seines Unvermögens einen lebmdigen Gedanken aus dem Geiste zu schöpfen und ihn in der ihm selbst entsprechenden Gestalt erscheinen zu lassen. Aber was hülfe es die größten Massen schönen Mar-

17 mors, die ja gern des belebenden Geistes länger geharrt und sich ihm dann willig erweicht, in die zartesten Wünsche desselben sich gern eingeschmiegt hatten, was hilft es, sag' ich, diese schönen Massen schonungslos zu zertrümmern, um nothwendig mislingende Versuche zu machen den Stein durch Tod zu beleben! Oder

was würde

wohl zur Erscheinung

kommen,

wenn ein Staat es als seine Aufgabe erwählte, die Poesie auszubilden und etwa das Staatsoberhaupt die Selbstverläugnung so weit triebe, die Lösung nur sofort selbst zu übernehmen?

dieser Aufgabe

Erinnert man sich nicht

der Entzückung Roms, als Nero sang? —

Doch ich ver­

nehme eine zürnende Mahnung des Heiligen unseres schö­ nen Tages, und sein gutes Recht zur Ausschließung jedes Unedlen während seines Regiments willig ehrend, wende ich schnell mich ab von dem eben etwas entfalteten Bilde. Zur Betrachtung des

uns

beschäftigenden Gegenstandes

aber müssen wir zurück. Unweigerlich also räumen wir ein, daß weder Indi­ viduen, als solchen, die Aufgabe der Universalität, noch den Staaten die Probleme der speziellen Bildung zufallen können, daß somit allerdings ein nicht zu übersehender, in keiner Weise zu verkennender Unterschied zwischen ihnen in Beziehung vorhanden sei.

auf ihre Bestimmung und Lebensthätigkeit Doch auch dies hindert, wie uns scheint,

ihre gemeinschaftliche Betrachtung nicht nur nicht, sondern fordert sie umsomehr, da sie selbst in diesem Unterschiede

2

18

noch ein Gemeinsames zeigen. Denn wie sehr immerhin die wahre, ja einzige Bedeutung der Individuen auf ih­ rem Aufgehen in die bestimmtesten geistigen Aufgaben und deren Lösung beruht, so ist doch hieran, und daß solches wirklich geschehe, eigentlich gar nicht recht zu denken, als daß es auf dem Boden einer gewissen allgemeinen Bildung zu Stande gebracht, und sofort auch damit wieder in eine continuirliche Verbindung gesetzt werde. Denn die Auf­ gaben selbst, in welcher scharfen Gesondertheit sie auch auftreten mögen, sind weder ursprünglich einfache Ele­ mente, noch sollen sie länger in der künstlichen Jsolirung bleiben, als bis sie durch die gefundene Lösung in den reinen Gedankenfluß hineinversetzt worden sind. Ihre Be­ arbeitung freilich erheischt die strengste Jndividualisirung, und in ihr eben erzeugt und bildet sich der durchsichtigste Karakter der Individualität, aber diese lichte Klarheit selbst läßt nicht bloß das beleuchtete, als besonderes, son­ dern auch das Licht als die allgemeine Quelle erkennen, und wie jeder physische Gesichtsakt eine ganze sichtbare Welt aufschließt und verbürgt, so auch jeder geistige eine geistige. Um sich hievon sogleich völlig durchdringen zu lassen, darf man nur zweierlei, scheinbar Entgegengesetztes, er­ wägen. Einmal ein Ereigniß, das zwar nicht zu den häufigen, aber doch auch nicht zu den unerhörten gehört: es geschieht zuweilen, daß Einzelne durch ein entschiedenes Talent, sei es der geistigen Anlage, oder des Fleißes und

19 der Beharrlichkeit, das Ausgezeichnete auf irgend einer einzel­ nen Stelle im Gebiete der Wissenschaften leisten, das denn auch dem Ganzen im hohen Maaße zu Gute kommt und zur bewundernden Anerkennung treibt.

Aber wie sonder­

bar ergeht es uns doch mit solchen!

Jsts doch als ob

wir

den

Gegenstand, die Person, der wir Dank und

Ehrerbietung darbringen wollen, gar nicht finden könnten. Sie bleiben uns fremd, nicht bloß durch das, was ihnen Bedeutung und Größe gibt, sondern auch, und viel mehr noch, weil sich kein gemeinschaftlicher Grund der Bildung zwischen ihnen und uns findet,

weil ihr ganzes Sein ein

isolirtes ist, weil sse, troll ihrer uns zur Anerkennung zwin­ genden Größe, da wo wir selbst uns mehr empfangend und leidend verhalten müssen, uns als wundersam verkümmert und beschränkt erscheinen, Leben und Thun ist.

da wo in uns selbst geistiges

Sie machen und erhalten uns stets

in der Stimmung der Verlegenheit — nicht durch das, was sie find, sondern was sie uns an ihnen vermissen lassen und das wir uns nicht gern gestehen möchten, um der dankba­ ren Verehrung keinen Abbruch zu thun. Wie wenig wir aber einem

ohne geistiges Gemeingut an

geistigen Eigenthum wahrhaft theilnehmen können,

werden wir zweitens an einem Ereigniß recht inne, das wir zwar nicht kennen, auf das wir alle aber zuversichtlich hoffen:

ich meine die Gemeinschaft

der seligen Geister.

Diese.können wir uns nicht denken, wenigstens nicht als eine selige, ohne daß jeder Geist, vollendet in seiner Be-

2

*

20 sonderheit, zugleich in inniger Liebe dem verbunden sei und zugewendet, was er selbst eben nicht ist, sondern die An­ deren. Diese Anhänglichkeit aber kann da nicht mehr belie­ biger Entschluß, oder Ergebniß eines Erwägungsacts sein, sondern sie muß dem eigensten, rein innerlichen Wesen, eben der geistigen Natur selbst, angehören. Ist demnach die Grundlage einer 'allgemeinen geistigen Bildung nothwendige Bedingung der rein individuellen und aller Gemeinschaft der Individuen unter einander,

so ist

auch andererseits der Staat, obwohl ihm als Aufgabe der Compler des Besondern, das man auch das Universelle nennen könnte, zufällt, nicht so aufgelöst und zerflossen in demselben, daß er nicht einen besonderen Karakter gewin­ nen könnte und müßte, dergestalt, daß auch die Staaten als solche zu einander sich als Individuen, d. h. als cha­ rakteristisch gebildete und immer weiter auszubildende Be­ sonderheiten verhalten müßten. Dies in der That ist auch immer anerkannt worden, wenigstens seitdem das allgemeine, sich durch sich selbst gel­ tend machende Culturgesetz der fortschreitenden Sonderung bei fortschreitender intelligenter Bildung, sich auch als das gültige in Beziehung auf die Staaten herausgestellt hat. Weder setzt gibt es, noch hat cs seit lange schon gegeben einen herrschenden Staat, sondern nur herrschende Staa­ ten, und derjenige ist's am meisten, der am schärfsten seine besondere Aufgabe gefaßt, und am rüstigsten in der Lösung derselben steht. Ja, es bedarf dermalen wahrlich keines großen

21 Tiefblicks,

um eS deutlich zu erkennen, daß die Staaten

nur auf doppelte Weise sich gegenseitig im Gleichgewichte halten können, entweder durch gleichmäßige Spannung, oder gleichmäßige Erschlaffung ihrer besonderen Energien, d. h. durch rüstiges, wackres Aufnehmen, oder lässiges Aufgeben ihrer spezifischen Lebenshandlungen. Freilich meinen wir mit dem eben angedeuteten ge­ wiß nicht neuen Gedanken nichts, das irgend eine Gemein­ schaft hätte mit jenen Ganklerkünsten, die uns in neuerer Zeit an einer Art von Geographie, oder Statistik der in­ telligenten Aufgaben der einzelnen Staaten nach den durch den Wiener Congreß zu Stande gekommenen Territorialbestimmungen, gezeigt worden, und bei welchen denn, wie natürlich,

die säkularisirten

unbetheiligt bleiben mußten.

Unternehmungen dieser Art gehören derjenigen Sekte an, die so glücklich ist die Ueberzeugung zu haben die Erfin­ derin der Vernunft zu sein, und dies dadurch bewährt, daß sie jeden ihr überlieferten Gedanken mit irgend einer Son­ derbarkeit, und wäre es auch nur durch eine Verzerrung des Ausdrucks, behaftet, wodurch er ganz scharf bis an die Grenze des Thörichten oder Lächerlichen gedrängt wird. Niemand wird es nns zu leide thun zu glauben, daß wir hier an Hegel denken, der ohne Zweifel ein gebietender Fürst, eine Großmacht im Reiche des Gedankens gewesen ist;

und wenn wir cs nicht verhehlen können, daß wir

allerdings seine Sekte meinen, so müssen wir doch gleich hinzufügen, daß wir selbst diese für ungleich bester und

22 edler halten, als die sie nun zelotisch verfolgende, pfäffisch verkezernde.

und

Von beiden aber ist vielleicht wahr,

was Jean Paul einmal in Beziehung auf alle gesagt hat: die ersten Anhänger jeder Sekte müsse man, meinte er, wie den ersten Wurf der Doggen behandeln — sie ersäufen, da sie sonst toll würden. Fassen wir nun das bisher Erwogene zusammen, ist uns wohl die Berechtigung gewonnen

so

das von uns zu

begehende hohe Geburtsfest in der Art zu betrachten, wie wir es am Begriffe der Geburtsfeier der Individuen er­ kannt haben.

Nun bin ich aber in der allerdings unbe­

quemen Lage, auf dieses Ergebniß einiges Gewicht legen zu müssen,

da ich es nur zu sehr fühle, daß die Erledi­

gung dieser Vorfrage mein größter Gewinn sein

werde.

Denn diese Feier selbst nun würdig zu begehen, d. h. den ganzen und geistigen Inhalt des hohen Gegenstandes er­ kenntlich zu machen, das freilich übersteigt sosehr alles, was ich nur irgend vermöchte, daß es ganz thöricht wäre, wenn ich auch nur den geringsten Theil desjenigen,

was

ich verfehlen, jedenfalls nicht erreichen werde, im Voraus mit den äußeren, zufälligen Beschränkungen, die mir auf­ erlegt sind, zu entschuldigen unternähme.

Am besten wäre

es mir, wenn ich hier abbrechen dürfte; doch ein Anderes ist mir geboten, und soll ich, was mir innerhalb dieser Nöthigung noch von Freiheit verbleibt,

zu meinem Vortheil

verwenden, so muß ich mich ohne weitere Vermittlung und sofort in die Sache selbst hinein versetzen.

23 Das aber ist gleich im Anfange schon bemerkt und wohl auch eingeräumt worden, daß eine solche Feier an­ ders nicht würdig, d. h. geistig angemessen begangen wer­ den könne, als inwiefern es etwa gelänge, an ihr selbst das Bild des zu Feiernden lebendig zu machen.

Ein geistiges

lebendiges Bild des preußischen Königthumes also suchen wir. Ein solches aber tritt uns entgegen an Lessing.

Denn

eben was Lessing als Individuum war, und nicht etwa bloß durch Anlage, sondern mit dieser durch lebensvolles und rastloses geistiges Thun, das soll Preußen als Staat sein. Dies werde ich nicht— deduzircn, und sage dies im Vor­ aus, damit nicht etwa ein Philosoph, die Deduktion spä­ ter vermissend,

mich mit dem Vorwurf dieses Mangels

außer Fassung bringe.

Vielleicht aber gelingt mir, was

in meiner Sphäre mir immer als das Bessere erschienen ist, statt des deduzirenden Beweises ein nachweisender Er­ weis.

Gestatten Sie mir daher den Versuch, einige Züge

zum Bilde Lessings hinzuwerfen, und sind diese nicht ohne Lebenswahrheit,

so bleibt Ihnen ja doch noch die letzte

Entscheidung überlassen, inwiefern dadurch auch Züge zum Lebensbilds desjenigen Staates gegeben seien,

dem anzu­

gehören wir als Glück erkennen. Ein Glückliches begegnet mir sogleich; dies: daß aus dieser hochansehnlichen Versammlung mir keine Frage der eracten Seichtigkeit,

oder der seichten Eractigkeit droht,

etwa die: was denn dieser Lessing geleistet habe?

Denn

wie beschämend und alle die schönen Intentionen zerstörend

24 würde es nicht erscheinen, wenn wir, so gefragt, antwor­ ten müßten:

nichts!

Wir jedoch schlagen weder Alles,

noch Alle über den Leisten des Leistens,

wir wissen, daß

es Naturen gibt, und eben die bedeutsamsten, und unter diesen ganz namentlich Lesstng,

die gar nicht da sind zu

etwas, um etwas, sondern sie selbst sind der ganze und volle Zweck;

es sind dies die spezifischen und genuinen,

nicht die vermittelten und vermittelnden Geister.

Sich selbst

in der ganzen Bestimmtheit und, scheinbar wenigstens, gren­ zenlosen Bestimmbarkeit seiner Persönlichkeit zu entwickeln, ohne zu fragen: was diese denn selbst solle? wem sie zu Gute kommen könne?—: dies war seine große, trotz ihrer un­ berechenbaren Schwierigkeit von ihm glücklicher gelöste Auf­ gabe, als dies sonst nur von wenigen, geistig hervorra­ genden Männern, selbst bei viel beschränkteren Aufgaben und unter günstigern Verhältnissen

zur Lösung

gerühmt

werden kann. Wie fest aber Lessing im Gesetze seiner eigenen Natur gestanden und beständig sich erhalten hat, beweist der Um­ stand, daß er einen Fehler, der freilich bei ihm alles, d. h. ihn selbst

zu Grunde gerichtet hätte, nicht nur nicht be­

gangen, sondern, wie es scheint, nicht einmal als Versu­ chung gekannt hat; ich meine den: aus sich etwas in der Welt machen, oder in ihr heißen zu wollen.

Nicht daß er

sie verschmäht, ober wohl gar verachtet hätte —: Gemüthszuständc dieser Art waren ihm

völlig fremd, selbst die

Schlechtigkeit verachtete er nicht, sondern er haßte und

25 züchtigte sie mit vernichtendem Zorn heiliger Liebe; aber er war allezeit so erfüllt und innerlich bewegt durch hö­ here geistige Interessen, und seine Capacität für diese ver­ stärkte sich immerfort und in so stetiger Weise, seine ganze Persönlichkeit gewann dadurch sosehr bloß den Karakter der Innerlichkeit und erfüllter Unmittelbarkeit, daß im völ­ ligen Vergessen seiner selbst als reflektirtes Objekt, mit wel­ chem und für welches man äußerlichen Absichten und Zwekken nachgehen könnte, es zur natürlichstell Bestimmung für ihn wurde, immer hingegebener dem reinen Zuge des Gei­ stes zu folgen, immer tiefer in den reichen Schacht seiner Innerlichkeit sich zu versenken. das ihm begegnet ist,

Von allem Aeußerlichen,

scheint er nur die Armuth, freilich

seine beständige Lebensgefährtinn,

mit einiger Beharrlich­

keit wahrgenommen zu haben; aber selbst diese, als Sei­ tenstück und Parodie zum Reichthum und zur sprudelnden Fülle seines Geistes, ist ihm zur Quelle der heitersten und großartigsten Ironie geworden, die nur selten, in Momen­ ten sehr drückender äußerer Noth, etwas getrübt, nie ganz getilgt wurde.

Doch dies und Achnliches hier zu erwäh­

nen, ist ganz überflüssig,

da es überall uns bei weitem

weniger um die Erkeniltniß der Form, als um die des In­ halts und der Bedeutung dieser großen Individualität zu thun ist, denn nur hiervon dürfen wir uns die richtige Er­ fassung der Erscheinung dieser mächtigen Persönlichkeit, wie desjenigen, wovon sie uns das klare und scharf begrenzte Bild sein soll, versprechen.

Gestatten Sie mir dazu eine

26 Betrachtung anzudeuten,

die freilich eine sehr allgemein,

scheint, uns aber doch bald an unsern Gegenstand herane ja in seine Mitte hinein versetzen wird. Bestimmtes geistiges Sein, oder — was ganz dasselbe iss— rein geistige Thätigkeit gibt es, d. h. beurkundet sich nur in zwei Grundweisen: durch auf den Inhalt gerich­ tete Prüfung des Denkstoffes, oder durch freie Gestaltung desselben.

Wir können dieses auch so ausdrücken: Kritik

und Poesie sind die beiden Basen aller geistigen Thätig­ keit.

Wir dürfen uns dieser Ausdrücke in unserer Zeit um­

somehr bedienen, als wohl, namentlich wegen der zweiten Beziehung, dermalen das Misverständniß, als sollte unter Poesie ausschließlich die künstlerische Darstellung durch die Rede, sei es gebundene, oder ungebundene, bezeichnet werbeit, nicht mehr zu fürchten ist, wenigstens nicht in Deutsch­ land, wo es ja, seit Goethe von uns geschieden, keinen Poe­ ten in diesem Sinne gibt.

Wir verstehen vielmehr unter

Kritik und Poesie nur das, was sie dem ursprünglichen Wortsinne nach bedeuten: die beiden Grundkräfte des Gei­ stes, deren eine auf dem Urtheile, die andere aber auf ei­ nem schöpferischen Vermögen beruht.

Nun versteht cs sich

freilich auch ganz von selbst, daß sie nicht geschiedene, aus­ einanderliegende, sondern nur verschiedene, eine Verbindung also nicht bloß zulassende, sondenr ein Gemeinschaftliches sogar voraussetzende Dinge sind.

Denn das schöpferische

Talent, abgelöst vom prüfend urtheilenden, würde nicht bloß aus der Verworrenheit des Zufälligen nicht heraus.

27 sondern sehr bald auch und nothwendig ins Abentheuerliche und Leere

hineinkommen; und die Kritik ihrerseits

kann es gar nicht verhindern, und zwar je reiner sie ist und jemehr sie sich selbst sich überläßt um so weniger, daß nicht eben aus der schärfsten,

sondernden Prüfung, aus

ihrem vertrautesten unb hingegebcnsten Umgänge mit den Zweifeln selbst, neue, überraschende, mächtige Combinatio­ nen,

aus den Zweifelsmomenten festgegründete Gewisheit

durch die innerlichste Versicherung des Geistes, und aus der Untersuchung Schöpfungen hervorgehen. Ja, jede wahre Kritik gründet Wahrheit, endet also schöpferisch, wenn sie auch, oft genug, mit Zerstörung solcher Bildungen begin­ nen muß, die den Schein schöpferischer Monumente haben, deren ganze Festigkeit

aber nur

auf der Zähigkeit des

Wahns beruht. Kann also gewiß weder das schöpferische Talent der Kritik sich entschlagen, noch die Kritik ohne Ausgang in einen Schöpsüngsact bleiben, so sind sie doch an sich, d. h. eben als Energien, verschiedene, von denen jene, aus dem Geiste mit Macht hervorquillend, die andere zur Lei­ terin und Begleiterin sucht;

diese aber, in den Geist sich

hineinsenkend, ihn zu einem zeugenden Act nöthigt.

Jene

hat den Muth und die Lust ihres Lebens im Schaffen, diese im Forschen; jene empfindet sich selbst durch und durch,

diese geht völlig in sich auf und gelangt nur zu

ihrer Anschauung, wo sie, zwar durch sich selbst, aber doch über sich selbst hinausgeführt wird, wo sie das nicht be-

28 absichtigte, aber in der That entstandene, aus den geistig­ sten Elementen wie durch ein Wunder sich entfaltende Schö­ pfungswerk erblickt;

das Interesse jener ist, daß etwas

dem Geiste Angemessenes gestaltet werde, das der andern aber, daß die in sich verschlossene Wahrheit des Geistes hüllenlos hervortrete. Daß das Talent Lessings ein kritisches gewesen sei im höchsten Sinne dieses Worts, daß der Geist der Kritik sich in jedem seiner Worte beurkunde, ja daß selbst das, was man an ihm als Witz, also als Wetterleuchten seines mit leuchtender Materie überfüllten Geistes, bewundert hat, Wirkung und Folge der Kritik gewesen sei — weshalb denn auch sein Witz nicht humoristischer, sondern der fein­ sten, treffendsten epigrammatischen Art gewesen ist —, das darf hier, als völlig anerkannt, gar nicht weiter erwähnt werden.

Ebenso sind wir wohl auch einverstanden über

seinen bekannten Ausspruch über sich selbst:

er wisse sehr

wohl kein Dichter zu sein, daß dieser nämlich einerseits ein vollkommen-ernstes und wahres Wort seiner kritischen Ein­ sicht gewesen sei, andererseits aber nicht übler ausgelegt und verstanden werden könnte, Zeugniß und Argument

als wenn man dies als

gegen den Werth eines großen

Theils seiner poetischen Werke geltend machen wollte. Ohne Zweifel vielmehr nehmen diese eine der höchsten Stellen in der poetischen Literatur Deutschlands seit Klopstock ein, so daß er neben Goethe und Schiller mit Ehren, kein an­ derer aber als sich ihm auch nur nähernd genannt wer-

29 den

kann.

Seine Dichtungswerke sind

freie Erzeugnisse

eines

schöpferischen,

allerdings

keine

aber nothwendige

eines hindurchgedrungenen und bis zur Verklärung gelang­ ten kritischen Talents. Alles dies jedoch,

und wäre es auch bedeutend für

sich und viel für jeden Andern, ist doch immer kein rech­ tes, kein bezeichnendes Wort für Lessing, und wie schwer immerhin das volle zu finden sein möchte, so kann niemand hiemit sich entschuldigen,

sobald einmal der Versuch über

ihn zu sprechen gewagt worden ist.

Ist es denn nicht schon

oft genug mislungen, selbst bei gutem Willen und nicht geringer Zurüstung, würdig über ihn zu reden?

ist dies

nicht im hohem Maaße auch Fr. Schlegel, selbst in seiner besten Zeit begegnet, in welcher es aber freilich zu seinem Unglücke ihn jükerte selbst ein wenig zu lessinglen, durch welche Personenverwechslung es ihm allerdings begegnen mußte in die Leere eitler Phantasmagorien der Selbstbespieglung zu gerathen.

Wahrlich da keinem zum Reden

der Mund aufgebrochen wird, so bliebe ja jedem, der nicht irgend würdig, d. h. ausschließend über Lessing zu sprechen vermag, noch das sehr erlaubte, ja gebotene Mittel ihn schweigend zu ehren.

Mir jedoch ist dies verscherzt, und

nicht wissend freilich was mir redend gelingen werde, muß ich doch nun einmal auf alle Gefahr hin hindurchzudringen wagen, ob es etwa glücken möchte sein Bild zu erfassen und anschaulich zu machen. der That gefunden zu haben.

Und eine Spur glaub' ich in

30 Ist nicht Lessing der legitimste geistige Erbe der Re­ formation? Es ist hier nicht die Rede vom Besitzergrcifen ihres reichen Nachlasses, denn das haben alle gethan, die Unberechtigten nicht weniger, selbst der Pabst läßt sich's

als die Berechtigten, und als Benefiziat Wohlgefallen.

Wer aber ist — nicht sowohl in den Genuß, als in die Aufgabe, in die Arbeit der Reformation zum Anbau gei­ stiger Freiheit, in den Kampf für sie als das höchste Gut und strengste Gebot Gottes getreten, wie er? wer in dem Maaße, in dem Umfange, mit solcher Beharrlichkeit, mit so freudiger Kampfeslust, wie er? Doch auch dies ist im­ mer noch nicht das Spezifische seines Geistes, wie seiner Bedeutung für uns.

Soll er uns hier nicht wiederum

entschlüpfen, so bedarf es wenigstens noch einer Ergänzung. Wird die Reformation genannt, so tritt unmittelbar Luther, als ihr mächtiger Repräsentant vor den Sinn; eine Vergleichung mit diesem ist daher bei jedem unver­ meidlich, dessen persönliche Bedeutung die der Reformation selbst sein soll.

Und wie fällt diese hier aus?

ist etwa

di« Differenz der Personen nur die der verschiedenen Zei­ ten? oder der verschiedensten Objecte? oder des Verhält­ nisses dieser zu andern Interessen?

Niemand wird solches

behaupten wollen, wenigstens nicht es mit Recht können. Es findet sich aber sofort das Verwandte und Verschiedene, wenn die spezifischen Energien, welche die Persönlichkeiten dieser hohen Individuen ausmachen und erfüllen, ins Auge gefaßt werden; dann auch begreift sich leicht, was die

31 Differenz

der

verschiedenen Zeiten zur Ausprägung der

Personen beigetragen habe. Während Luther ein entschieden schöpferisches Talent hatte und ganz und gar von demselben getragen und be­ stimmt wurde, war Leffing ein rein kritisches, dem zu fol­ gen er keine Wahl hatte, dessen Walten irgendwo Halt zu gebieten, weder in seinem Willen, noch in seiner Macht lag.

Luther ist bedingt durch die Widerbelebung der Wissen­

schaften, oder vielmehr durch die Auferstehung, den Auf­ stand des Geistes in Masse im sechszehnten Jahrhunderte: über ihn gekommen war die frische Strömung der aufge­ regten Wogen des Geistes, ihn erfüllte, was aller Bele­ bung des Geistes wesentlich inwohnt: innigste, glühende Liebe zur Freiheit, und deshalb auch brennender Haß gegegen alles, das den Geist zu kränken, oder auch nur zu trüben und zu dämpfen ausging; sein Herz schmachtete nach dem Anblicke der rechtmäßigsten Herrschaft, nach der des Geistes.

Der Augustinermönch aber konnte wohl als

nächsten Gegenstand seiner heißesten Wünsche und hinge­ gebensten Thätigkeit erfassen — nur die Kirche. Wer aber vermöchte seinen Schmerz zu ermessen, als er in den ho­ hen Tempeln weder ein Rauschen, noch ein Flüstern des Geistes, sondern das wilde, unheilige Toben von Faunen und Satyrn vernahm: — als sein verlangend spähendes Auge keine Gestalten des Friedens und der Liebe, fonbent nur Peiniger und Gepeinigte erblickte! — Und dies sollten Tempel zur Anbetung des lebendigen, heiligen Gottes sein?

32 Hier seine Ehre wohnen? Hieher sollten die Mühseligen und Beladenen geladen sein, daß sie Erquickung fänden? Hier sollten pfunden?

die Gnadenströme göttlicher Vaterhuld em­

Hier die fröhliche Botschaft von der Freiheit

der Menschen als Kinder Gottes verkündigt werden? — Freilich solche Mördergruben des Geistes mußte er, inner­ lichst ergriffen und ergrimmt, fliehen: — aber nicht der Kirche selbst wandte er den Rücken, sondern, gestärkt durch die Kraft eines göttlichen Zorns, erquickt durch die Ein­ strömung des gewissen und freudigen Geistes, versenkte er sich in Andacht und Zuversicht zu dem Gotte, der nicht will, daß eine Seele verloren gehe.

Von jetzt ab wurde

jedes Wort, das er sprach, eine That, jede That ein Werk.

Tief in seinem Innersten und nicht im Buchstaben

entdeckte er reines Christenthum und führte es wiederum hervor, zum Erstaunen der damit ganz fremd gewordenen Christenheit.

Widerum,

aber mit lauterem Frohlocken,

trat durch ihn, wie in der ersten unschuldigeren, aber hart gedrückten Zeit des Christenthums, der wesentliche Inhalt des Evangeliums, daß Gott die Liebe sei und ein Geist, vor das Auge des Geistes. Ob die Welt ihm folgen sollte? hatte sie denn, ihn vernehmend, eine Wahl?

Wann hatte sie vor ihm eine

solche Sprache gehört?

Wie ein reiffender Bergstrom

fuhr seine Rede mit Unwiderstehlichkeit einher, denn sie war nicht bloß Zeugniß des lebendigen Geistes, sondern sie wurde auch von ihm bezeugt: —beide innig verwachsen

33 und eines.

Worauf aber sein ganzer Sinn, das unablässige

Trachten seines Herzens gerichtet war, das war der Auf­ bau der evangelischen Kirche, aus Elementen des Geistes, zur sichtbaren Verherrlichung des Geistes. Und diese Aufgabe loste er mit der vollen und sie­ genden Kraft des ihm verliehenen und unter dem Ringen immer

mächtiger

werdenden schöpferischen Genius,

und

was immer von ihm ausging, es trug den Karakter des Ursprünglichen und Schöpferischen: seine Bibelübersetzung — wohl das höchste Sprachkunstwerk, das genannt wer­ den kann — seine Lieder, Reden, Streitschriften, Briefe, Gesänge: — alles ist positiv, produktiv, durch und durch schöpferisch. Und so kam denn in der That sein hoher Kirchenbau zu Stande, den Niemand mehr zerstören wird, der auf heiligem Boden

stehen und

mit seinen Gipfeln in den

Himmel hineinragen wird, bis ans Ende der Tage. Denn es gibt keine andere evangelische Kirche,

als

die vom

Geiste des Evangeliums erweckte, belebte und entzündete Gemeinde, die nicht, wie eine Viehheerde, nach den Häup­ tern, sondern nach dem Haupte, welches ist der Alleinige, gezählt werden kann.

Darum gab es für Luther, wie

für Alle in der Wahrheit Stehenden bis zum Ablauf aller Zeiten, nur eine einige, die allgemeine Kirche, wie groß oder geringe immerhin die Zahl ihrer Genossen sein möge, und darum auch war sein Streit — nicht gegen den Ka­ tholizismus gerichtet —

wer wäre denn je ein besserer

3

34 und wahrhafterer Katholik gewesen, als eben er? — son­ dern gegen den geistestödtenden Götzendienst, gegen die Ver­ ächter und Zertreter des Evangeliums, gegen den Papis­ mus, gegen den Papst selbst. Ja ihm, Luther, hat es der Papst zu verdanken, eine feste, anschauliche, historische Ge­ stalt gewonnen zn haben, die des Antichrists! Sollte er mit diesem in einen Act der Verträgrlci ein­ gehen? mit ihm, dem Unverträglichen, dem Geiste Widersprechenden und darum Unerträglichen?

Das war fern

von ihm! Er sprengte das der zur Freiheit erlösten Mensch­ heit aufgebürdete, unerträgliche Joch und machte eben da­ durch die evangelische Kirche zur wahrhaft katholischen. Aber Himmel! dürfen wir, wir, und eben jetzt, alle diese Worte sagen? Kehren sie sich nicht gegen uns selbst, Schmerzensbrand in unser eigenes Herz schleudernd? Läßt niederdrückende Schaam uns die Augen aufschlagen? nagt uns fteffender Kummer über die Gegenwart nicht jede Er­ innerung vergangener Geistesherrlichkeit weg?

Wahrlich,

ich möchte nicht zur weichlichen Selbstschonung rathen, um einer süßlich verzagenden Resignation mit einem ge­ wissen Demuthsschein nachhängen zu können.

Jedenfalls

wäre doch herber Schmerz über unsern Zustand auch ein Zeichen der richtigen Schätzung desselben.

Und an Gründ

dazu kann es ja nicht fehlen, wenn es doch, fast drei und ein Viertel Jahrhundert nach der Reformation, dahin gekom­ men ist, daß man den Papst, den unveränderten, weise nennt, ihn ersucht, bittet: er möge nns nur nicht ganz und

35 gar durch Schmach erdrücken, denn bloß viel davon, sei uns nicht zu viel, — er möge uns nur nicht ganz ver­ werfen, denn einen guten Theil davon zu tragen fiele uns nicht zu schwer! Aber ohne dem gerechten Schmerz etwas zu entziehen, kann es uns an Grund nicht fehlen, wohlgemuthet Luthers und der Reformation zu gedenken, und trotz dem vielen Beklagenswerthen, das die Gegenwart uns vorhält, er­ mangeln wir nicht des Trostes und fester Zuversicht.

Ist

denn die Reformation in irgend einem Bureau discutirt, beschlossen, angeordnet und von dazu Angestellten hindurch­ geführt werden?

Ist sie nicht hervorgegangen aus der

Nöthigung des Geistes? und hat dieser nicht seine auser­ wählten Rüstzeuge da gesunden, wo die Welt sie wahrlich nicht gesucht und nicht gefürchtet hätte?

Noch in Worms

fragte Kaiser Karl V. Luther: „seid ihr der Esel, der in Deutschland so vielen Lärm macht?" und was Luther ge­ antwortet, ist bekannt.

Nun, ist nur nicht aller Geist aus­

gegangen, so wird es an seiner Nöthigung nicht fehlen; die Sünden der Bosheit und die Vergehungen der Schwach­ heit und Menschenfurcht werden nicht unterlassen zu drän­ gen, und unter diesen Bedrängnissen wird der alte Kampf sich mächtig erneuern;

aber wiederum sich zeigen, nicht

nur wie sehr dem lebendigen Geiste

der Sieg verbürgt

sei, sondern auch, daß er allein den wahren Muth habe, während die lichtscheue Bosheit auch feige ist.

Darum

aber getröste sich niemand des Geistes, den Feigheit drückt!

3

*

36 Wohin aber gerathen wir? wollten wir nicht von Leffing sprechen?

Gewiß doch! auch haben wir immer­

fort seiner gedacht und stehen in der That ihm schon ganz nahe.

Denn blicken wir nur recht hin.

Luther, die höchste

Blüthe und reifste Frucht des durch schöpferischen Geist aufgeregten sechszehnten Jahrhunderts, er, selbst von die­ sem Geiste durchglüht und auf ihn kräftigst gegründet, er richtete seine gotterfüllte Kraft auf die Kirche und baute diese in die Religion hinein: — dies ist das Riesenwerk der Reformation, das, wie nur irgend ein göttliches Werk auch das einesMenschen genannt werden kann, das Werk Luthers ist.

Die Forschung, die Intelligenz selbst, war

nicht sein Zweck, aber mit der ganzen Kraft und Wahr­ heit des Vernnnftinstinkts

ergriff er sie als

reichste Mittel für seinen Zweck.

das segen­

Und sofort auch ist

durch die Reformation das unauflöslichste und natürlichste Bündniß zwischen dem religiösen Interesse und allen übri­ gen des Geistes geschlossen worden.

Und dieses Bündniß

besteht und lebt wirksam fort trotz allem Seufzen und Toben deS Jgnorantismus und Zelotismus.

Leffing ha­

ben wir den legitimsten geistigen Erben der Reformation genannt; früher aber schon haben wir von ihm erkannt, daß das ihm vertraute Pfund kein schöpferischer, sondern ein kritischer Genius gewesen sei, oder vielmehr: daß sein Schaffen in der Kritik und in dem, was diese, sich selbst vollendend,

schaffen muß, bestanden habe.

Lessing aber

hatte überhaupt seine geistige Bedingung im achtzebntcn

37 Jahrhundert, das selbst zum sechszehnten wie das kritische zum

schöpferischen Talente sich verhält: —

was gewiß

keine beliebige Annahme, sondern eine leicht, nur nicht hier nachzuweisende Thatsache der Kulturgeschichte

ist.

Der

Kritik aber ists überall nicht um ein Bestimmtes zu thun, das sie vorher sieht, oder wünscht, sondern um die Wahr­ heit, wie sie aus der Forschung und durch diese zur Er­ gebung gezwungen sich eben der Erkenntniß ergibt.

Das

Thun der Kritik daher ist ein unermessliches, denn jedes Ergebniß der vc rangegangenen Forschung wird zur nö­ thigenden Aufgabe für die folgende, fortschreitende.

Das

nothwendige Element daher der Kritik ist zuvörderst Fort­ schritt, denn nur in ihm empfindet sie sich lebend, während das schöpferische Talent wenigstens die Versuchung haben kann, beim gebildeten Werk beschauend auszuruhen. Das Ziel und der Zweck der Kritik ist die Wahrheit als Erkenntniß, also die Intelligenz selbst;

deshalb kann

sie auch nur in ihr Boden suchen und finden, und jede Verweisung

jenseits

dieser ist ihr eine Verweisung aus

sich selbst, d. h. Vernichtung. in sich selbst keinen Grund

Da sic aber, eben seiend,

zu ihrer Vernichtung finden

kann, so ist ihr eben diese Verweisung selbst nichtig.

Wohl

aber kann die Kritik eine Grenze der Erforschbarkeit für irgend ein Object, in irgend einem bestimmten Momente, unter gewissen Bedingungen, finden.

Dann aber muß

dieses Moment selbst eines der Erkenntniß sein.

Alle Kri­

tik mithin ist fortschreitende Reformation durch Intelligenz

38 und für diese.

Ohne andere Voraussetzung als durch

gewonnene und durchschauliche Einsicht kann sie nacktes Nichtwissen nicht als Anfangs - und Zielpunkte, und Glau­ ben, als schlechthinniges Fürwahrhalten, nicht als Mitte erkennen; sondern das Nichtwissen selbst muß ihr durch Wissen gewonnen und der Glaube durch Gründe in ein Wahrscheinliches verwandelt sein.

Sie weist daher keine

Fragen zurück, sondern sie fordert und holt sie hervor, sie verschmäht keine Gründe, sondern sich, wenn ohne sie. Ihre Zuversicht ist ihr unbegrenztes und c.riomatisches Ver­ trauen zur Kraft der Wahrheit; die Einsicht in deren Unersetzbarkeit ihre Weisheit, und sie von jeder fremdar­ tigen Beimischung zu läutern, von jeder Entstellung zu befreien ihre Gewissenhaftigkeit. Ist nun durch diese Andeutungen das allgemeine We­ sen der Kritik irgendwie kenntlich bezeichnet, ist jedenfalls dadurch einsichtlich gemacht, daß sie ein continuirlicher Prozeß der Reformation durch Intelligenz und für diese sei, und ist früher schon das Verhältniß der kirchlichen Reformation des sechszehnten Jahrhunderts zu den übri­ gen geistigen Interessen einsichtlich gemacht, daß wir jene diese ergreifen und mit ihnen in ein Bündniß treten sehen, jedoch nur so, daß sie ihr ein förderliches Mittel für ih­ ren eigentlichen Zweck, für die Kirche, sein sollten, so wendet sich, wenigstens scheinbar, das Verhältniß durch das Auftreten und Walten der Kritik um: die Intelligenz selbst ist der Zweck, und die Religion — nicht etwa ein

39 Mittel dazu, sondern die Summe und Lauterkeit der In­ telligenz ist — Religion, die Religion.

Dies jedoch kann

apprehensiv scheinen, wohl auch in Bestürzung, oder gar in die heftigste Gegenwehr versetzen mir wo das erste Ele­ ment aller Religion, wie aller Intelligenz fehlt, dies: daß Gott selbst ein Geist sei und daß es das höchste Ziel und die innigste Sehnsucht der Frömmigkeit ist: Gott zu er­ kennen, wie wir von ihm erkannt worden sind.

Die Kri­

tik jedenfalls geräth dadurch nicht in die geringste Besorgniß, denn was die Wahrheit,

durch die Kritik zur

Aussage über sich selbst gebracht, von sich ausscheidet, oder verneint, das droht und bringt keinen Verlust, sondern ist unmittelbarer Gewinn, denn es ist Bewährung den rech­ ten Weg nicht verfehlt zu haben, ist Zuwachs an Wahr­ heit und Leben. Zu solchem Thun der Kritik bedarf es des Muthes nicht, als einer besonderen Eigenschaft, sondern er wird gegeben,

gestärkt und erhöht im Thun selber, denn die

Wahrheit kennt sich zwar als überwindend, aber nicht als überwindlich; sie hat die ganze Gelassenheit einer That­ sache, die sie ja auch ist. Nun versteht es sich freilich ganz von selbst, daß beide Grundtypen der geistigen Thätigkeit, die prüfende oder kritische sowohl, als die schöpferische, die mannig­ fachsten Richtungen

einschlagen,

von den verschiedensten

Denkstoffen, sei es durch besondere Affinitätsgesetze, oder durch irgend sonstige Bestimmungen angezogen und gleich-

40

fallt absorbirt werden können, dergestalt daß die bearbei­ teten Stoffe in der That wesentlich verändert und mit dem daran verwendeten Geist getränkt hervorgehen. Ebenso ist es durch Erfahrung gewiß, daß das spezifisch schöpfe­ rische Talent fast keine Wahl in seiner Richtung habe und durch Determination oder Prädestination in einen bestimm­ ten Kreis der Entfaltung und Uebung seiner Kraft, wie bewunderungswürdig groß diese auch sein mag, hineinver­ setzt wird. Und auch vom Talente der Kritik, obwohl es weitere Kreise umfassen und erregend erfüllen kann, ist dies doch nur höchst selten der wirkliche Fall; und weit gefehlt hierüber zu einer Klage berechtigt zu sein, so bleibt es immer noch ein höchst gewinnreiches Ereigniß für das Reich der Intelligenz, wenn sich nur hin und wieder in irgend einem Gebiete und auf dieses beschränkt ein wahr­ haft kritisches Talent entfaltet. Um so mehr aber ist cs als eine epochemachende Gunst des Geschickes zu betrach­ ten, wenn denn einmal im Ablaufe vieler Jahrhunderte ein solches Talent ersteht, das sich nicht bloß in irgend einen einzelnen Gegenstand hineinsenkt, sondern seine Flügel weit ausbreitend große Massen der mannigfachsten, in Dunkel und Verworrenheit getauchten Gegenstände in die sonnige Höhe des Lichts trägt und sie durchleuchtet und leuchtend dem Menschengeschlechte zeigt. Was sollen wir nun aber vollends von Lessing sagen? denn ein so scharfer, freier, beweglicher und umfassender kritischer Geist, als er cs war, ist wohl, wenigstens seit

41 Aristoteles, auf Erden nicht erschienen.

Und was je in

die Hände seines Geistes gerathen ist, ging verändert und gefördert aus denselben wiederum hervor, was er berührt, hat einen belebenden Eindruck seines edlen Geistes, seine sehr kenntliche Signatur erhalten.

Fragen wir aber was

seinem Geiste eine solche Erpanstbilität gegeben, so wird man gewiß nicht Neigung zur Gelehrsamkeit, als solcher nennen können, die ihm zwar achtungswerth war, wo er sie fand, die er auch nebenbei und fast ohne darum zu wis­ sen selbst besaß, die ihm aber nicht ein Zweck schien, min­ destens nicht seiner.

Noch weniger Neigung zur Polyhi­

storie, oder gar zum Dilettantismus: jene war ihm abge­ schmackt, dieser ekel.

Noch auch kann man glauben, daß

eine gewisse geistige Unruhe ihm die Stetigkeit genommen und zum Umherschweifen genöthigt hätte, da er sich doch überall, wohin sein Geist nur einmal sich gewendet hatte, mit solcher Liebeslust cingesogen und heimisch gemacht hatte, daß er davon so wenig, als von sich selbst hätte scheiden können; auch bedurfte es bei ihm nur des kleinsten An­ stoßes, um jeden Augenblick mit ungeschwächter erster Liebe wieder zurückzukehren.

Nur also ein unbeschränktes Be­

dürfniß seines großen Geistes würde man zunächst als all­ gemeinen Grund

seiner kritischen Vielthätigkeit angeben

können, wenn anders hiemit mehr als eine bloße Para­ phrase der Thatsache selbst gegeben wäre. Näher jedenfalls treten

wir der Bedeutung

dieser

merkwürdigen Erscheinung, wenn wir erkennen, was frei-

42 lich sich gar nicht verkennen läßt, daß seinem Prüfungs­ und Forschungsdrange ein

bestimmtes,

mächtiges

sches Moment zum Grunde gelegen hat: die tiefste,

ethi­ mit

reinster Liebe erfüllte, begeisternde Ueberzeugung, daß die Wahrheit an sich die lauterste, unerschöpfliche Quelle aller Beseeligung des menschlichen Geistes sei,

daß nur in ihr

Sicherheit, Selbstverbürgung des Geistes, erfrischende Thä­ tigkeit und erregende Ruhe für Zeit und Ewigkeit zu fin­ den sei. Dies ist der tiefe Born seiner Begeisterung, wenn er von der Wahrheitsliebe als dem beseeligenden Grund­ triebe der Menschenseele spricht, dies der frische Lebenso­ dem, der seine Worte und Werke, wie sein ganzes Leben, durchzieht. Und selbst wo er in Schmerzenstönen über das Misgeschick spricht, die Wahrheit selbst bei der treuesten Bemühung nicht gefitnden zu haben, fühlt man es ihnen doch an, daß sie nur Klänge der Liebesschmerzen sind und dennoch von Wonne erfüllt, denn entzöge sich auch die Wahrheit selbst, so bleibt doch nicht nur die Liebe zu ihr unser, sondern es ist in ihr auch die Zuversicht, ja die Zusage

einstiger Erfüllung schon enthalten.

Diese rein

ethische, tiefreligiöse Wahrheitsliebe nun ist es, die ihm die Gegenstände der Forschung in Beziehung ihres Wer­ thes völlig gleichstellte, die ihm Empfänglichkeit und volle Lust zu allem verlieh.

Ihm war jedes recht, wenn nur

die Wahrheit gesucht, wenn sie nur wahr gesucht, wenn nur nicht jammervoll gefeilscht, listig verhehlt, sophistisch

43

überredet, elend geschmeichelt, fromm betrogen, nur nicht — geknechtet werden sollte. Diese strengsittliche, uns feinster Herzensfrömmigkeit stammende Wahrheitsliebe war es, die ihm jenen heroi­ schen Gleichmuth, jene völlige Unerschrockenheit verlieh in Beziehung auf die etwanigen Ergebnisse gründlicher For­ schung. Können doch Ergebnisse nicht gemacht werden, müssen sie doch sich selbst geben, gibt sie ja doch die Wahr­ heit selbst —: wer sollte kleinlich sie mäklen, wer frech sie tadle» wollen! Wie sie aber sind, sind sie, und sind gut; weh dem, der schnöde ihnen begegnen möchte! Polemik? nun ja, die übte er, und übte sie in einem Um­ fange, in einem Maaße, in einer Art, wie wohl sonst niemand. Aber wie hätte er auch anders vermocht: sah er nicht die Wett voll Irrthum, und sollte sie nicht voll des Wahren sein? Aber Irrthum, sofern er nicht Schuld des Menschen, sondern der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur ist, hatte keine feindliche Begegnung, sondern nur Berichtigung und Hilfe, und die davon Behafteten die liebevollste persönliche Scho­ nung von ihm zu erwarten. Auch die harmlose Beschränkt­ heit hatte ihn nicht zu fürchten; die sich spreizende und zur ungebährdigen, trotzenden Vornehmheit sich erhebende aber wurde — nicht zwar zum Bewußtsein gebracht — wozu es eines Prozesses der Widergeburt bedurft hätte — aber doch sicher zum Bewußtsein ihrer Ohnmacht ihm gegenüber: er nahm ihr das Wort. Denn wie sie sich auch wenden mochte, weder ihre Redner, noch irgend einer der

44 auf Grundlosigkeit trotzenden Gegner Lessings behielten das letzte Wort, während er doch, wo ihm Gründe vorgehalten wurden, freudig hineilte, wie ein gejagtes Reh zur frischen Quelle.

Gleisnerische Seichtigkeit vollends, Geistestyran­

nei, Heuchelei und Pharisäismus erregten in ihm einen wahrhaft paulinischen, verzehrenden Eifer.

Mit den schärf­

sten Waffen des Geistes, mit der ganzen Lohe seines ent­ brannten Gemüths trat er vernichtend ihnen entgegen und die Götzen stürzten zertrümmert nieder. Wohin er gesteuert, wohin jede Faser in ihm sich mit voller Spannung gerichtet? ach, ich könnte es sagen, könnte es mit einem Worte aussprechen und seiner freudigsten Bejahung sicher sein; ja, ich könnte es, wenn dieses Wort, dermalen zwar sehr gehegt und geehrt, nicht einen ganz andern Inhalt erhalten hätte, nicht jetzt eine Siechanstalt bezeichnete, in welcher die Untüchtigkeit die Untüchtigen mit mütterlicher Zärtlichkeit pflegt,

eine Brutanstalt der

geistigen Mattigkeit und Lahmheit —: Humanität!

Ihm

aber war sie Ausdruck aller menschlichen Annäherung zum Göttlichen, der Inbegriff alles Göttlichen im Menschen, jedes Kampfes, jedes Opfers werth, da das Leben selbst, ohne diesen Inhalt, das schwerste Opfer und an sich werth­ los wäre. Ihm war Humanität: Geist, Freiheit, Wahrheit. Und in diesem Sinne ist Lessing ein Held und Muster der Humanität.

hohes

Ob er auch ein Christ gewesen?

Man frage Christum, und er wird antworten, sein heili­ ger Mund, der Mund der Wahrheit wird vernehmlich ant-

45 werten, zugleich aber wird vernommen werden ein Heulen und Zähneklappern der richtenden, verkezernden Zeloten. Im Nathan, in diesem bewunderungswürdigen Werke, möge man aus die Tiefe und

die Fülle der Gedanken,

oder auf die vollendete psychologische Kunst, oder auf die erhabene Tendenz des Ganzen das Auge richten, in die­ sem Nathan, in welchem bekanntlich die darstellende Kunst Lesstngs durch die geschickteste und genaueste Portraitirung der bestimmtesten geistigen Gestalten sich verherrlicht hat, in diesem hohen Werke finde ich eine Gestalt,

von der

ich es nicht weiß, noch behaupten möchte, daß Lessing da­ mit sein eigenes Bild habe geben wollen,

aber das weiß

ich und behaupte es, daß jene Gestalt Lesstngs Bild ist—: diese Gestalt, die so gedankenschwer und doch so harmlos vor uns hintritt, in welcher die schwersten Sorgen der Treue mit engelreiner Heiterkeit gepaart sind, in der jedeBewe« gung ein Akt der Freiheit ist, jeder Blick einsaugende Wahrheitsgicr, jeder Zoll ein edler Geist —: ich meine jene Ge­ stalt des — doch welche andere könnte ich denn meinen als die des Saladin, dieser schönsten, ritterlichsten, geisti­ gen und frommsten Erscheinung der Kreuzzüge? Diese völ­ lig, und rein menschliche Erscheinung, der zwar auch die Möglichkeit des Irrthums, aber kein Falsch anhaftet! Hab' ich all dieses über Lessing hier ausgesprochen, weil es meine innige und, wie ich hoffe, gegründete Ue­ berzeugung ist,

wo ich aber nur wohlwollendes,

nendes Verständniß zu erwarten hatte,

begeg­

so würde ich es

doch auch dem laurenden Misverständniffc gegenüber thun,

46 dann aber mit Lessing hinzufügen:

Wohlan! hier sind

Tonnen ausgeworfen, Tonnen für Wallfische! Es ist mein ursprünglicher Vorsatz gewesen an eini­ gen

der bedeutendsten

Werke

Lessings die Karakteristik

dieses edlen und mächtigen Geistes zu versuchen; die Auf­ gabe ist anziehend und, gewiß belohnend.

mislingt ihre Lösung nicht ganz,

Doch breche ich ab, nicht wissend frei­

lich ob ich solcher Versuchung immer werde widerstehen können.

Um jedoch nach allem, das ich über Lessing ge­

sagt, wovon Sie das Unzureichende nicht stärker empfin­ den können, als ich es, nur schmerzlicher und beschämender fühle, noch etwas an Ihr Ohr gelangen zu lassen, das nicht verfehlen kann, in Ihren Geist, in das Mark Ihres Gemüths zu dringen, so lassen Sie mich noch einige Worte von Lessing hinzufügen;

es sind so wenige,

daß sie be­

quem in einen Ring zum Andenken gestochen werden, und von solcher Fülle, daß sie vieles und großes Menschenle­ ben gedanken- und thatenreich ausfüllen könnten: es sind die Worte, mit welchen er seine Gespräche über Freimau­ rerei (Ernst und Falk) dem Herzog Ferdinand zugeeignet hat „Durchlauchtigster Herzog!

Auch

ich war an der

Quelle der Wahrheit, und schöpfte. Wie tief ich geschöpft habe, kann nur der beurtheilen, von dem ich die Erlaub­ niß erwarte, noch tiefer zu schöpfen. — Das Volk lechzt schon lange und vergeht vor Durst.

Ew. Durchlaucht unterthänigster"

Sollte ich wohl der Erinnerung an das heutige Fest bedürfen? und daß eben seine Feier uns hier vereinigt, uud

47 ich selbst etwas zu seiner würdigen Begehung habe bei­ tragen wollen?

Müßte ich nun einen besondern Beweis

führen, daß ich die Aufgabe festgehalten und zu ihrer Lö­ sung etwas geschehen sei, so wäre er ganz überflüssig, ja entkräftet, denn der entgegengesetzte wäre dann schon, alle Widerrede abschneidend,

eingetreten.

Dem ist aber nicht

so. Schon daß wir mit Recht und vollkommener Bestimmt­ heit sagen durften: die hohe Bestimmung Preußens sei: als Staat immer mehr zu dem sich zu entwickeln, was Les­ sing als Individuum in der That gewesen ist, ist etwas, das wir als hohes Glück preisen müssen, das uns, als Genossen einer erhabenen Bestimmung, Geistes

mit Frische

des

erfüllen, unsere Sehnen spannen, die kleinliche

Weisheit dumpfer Unentschlossenheit, den falschen Muth der Trägheit,

alle Scheu vor der Macht und der That

des Geistes von uns verscheuchen und uns ausrüsten muß zu einem guten und freudigen Kampfe,

zumal wenn es

uns eben nicht entgangen ist, was am Bilde Lessing's ge­ zeigt worden ist. Daß aber Preußen in der That die an­ gegebene Bestimmung habe und keine andere, neinen,

möge ver­

wer es im Widerspruche zum Zeugnisse der Ge­

schichte und des Tages zu beweisen,

oder auch nur zu

behaupten wagen kann: unser Vaterland habe seine Wur­ zeln, sein inneres Wachsthum und wahres Sein nicht im Geiste, seine Aufgabe sei eine andere, als die der Humani­ tät im strengen und erhabenen Sinne dieses Wortes, seine siegenden Kräfte und Waffen seien Wahrheit und Freiheit.

andere,

als Geist,

Solcherlei aber wird Niemand,

48 selbst keiner aus der Schaar der Finsterlinge, mindestens nicht laut sagen mögen. Unser Vaterland befindet sich aber jetzt in einem kri­ tischen Momente; wer will zweifeln, daß es die ihm ver­ liehenen Kräfte und Waffen, die guten, nie stumpf wer­ denden, nie ihr Ziel verfehlenden, die des Geistes, gebrau­ chen werde?

Wie ein festgegründeter, kräftiger Organis­

mus doch gegen krankhafte Verletzung nicht geschützt ist, davon aber getroffen sofort eine volle Reaction seiner rei­ nen

und

schützenden Energien

entgegenstellt,

sein fich

selbst behauptendes Leben eben selbst, und so das Feind­ liche niederkämpft, das Störende beseitigt, das Verderb­ liche ausstößt, und albald wieder in ftischer, reiner Le­ bensthätigkeit, sich selbst entsprechend, heiter und erstarkt dasteht, so wird, in einer Kürze, unser Vaterland das sei­ nem Geiste, dem guten Geiste, Widerstehende niedergewor­ fen, die Feinde des Lichts und der Wahrheit gebändigt, wenigstens zum Gehorsam, wenn auch unwilligem, gezwun­ gen, die trugvollen Sophisten entlarvt und zur Rückkehr in ihre dunklen Höhlen getrieben haben, es selbst aber, un­ ser theures Vaterland bald, ach sehr bald!, in angestamm­ ter reiner Ehre, in kräftiger Gesundheit, gerüstet mit Geist, geschmückt mit Wahrheit fröhlich dastehen. Und dies ist die fröhlich-festliche Stimmung, in der wir Alle mit fester Zuversicht der Erhörung flehen:

Heil

unserm geliebten Könige, Heil seinem königlichen Hause, Heil seinem treuen Volke!