Wie ist in unserer Zeit das Christentum zu verteidigen?: Ein Vortrag [Reprint 2022 ed.] 9783112682500

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Wie ist in unserer Zeit das Christentum zu verteidigen?: Ein Vortrag [Reprint 2022 ed.]
 9783112682500

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Der Theologische Jahresbericht herausgegeben von H. Holtzmann bringt im Jahrgang 1893 Abth. 3. nachstehende Besprechung von A. Baur über
Wie ist in unserer Zeit das Christentum;n verteidigen?

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Nie ist in unserer Zeit

das Christentum;n verteidigen? Ein Vortrag von

D. Paul Mehlhorn, Pastor an der evang.-reform. Gemeinde in Leipzig.

Sonderabdruck aus dem „Evangelischen Gemeindeblatt".

2. Auflage.

Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer. 1894.

Verlag von Georg Reimer in Berlin, zu beziehen durch jede Buchhandlung.

Das ürchristenthum, seine Schriften und Lehren, in geschichtlichem Zusammenhang beschrieben von

Otto Pfleiderer, Dr. u. Prof. d. Theol. an d. Universität Berlin.

Preis: 14 Mark, geb. 16 Mark 50 Pf.

Geschichte der

Religionsphilosophie von Spinoza bis auf die Gegenwart von

D. Otto Pfleiderer, Professor an der Universität zu Berlin.

Dritte erweiterte Auflage. Preis: 10 Mark 50 Pf., geb. 13 Mark.

Glaubens- und Sittenlehre als Compendium für Studirende und als

Leitfaden für den Unterricht an höheren Schulen bearbeitet von

Otto Pfleiderer, Doktor und Professor der Theologie zu Berlin.

Fünfte verbesserte Auflage, Preis: broch. 5 Mark, geb. 6 Mark.

Volksreligion und Weltreligion. Fünf Hibbert-Vorlesungen von

A. Kuenen, Professor in Leiden.

Preis: 5 Mark.

Der Theologische Jahresbericht herausgegeben von H. Holtzmann bringt im Jahrgang 1893 Abth. 3. nach­ stehende Besprechung von A. Baur über

„Mehlhorn, Wie ist in unserer Zeit das Christenthum zn vertheidigen?" Mehlhorn's Arbeit ist ganz vortrefflich. Er geht aus von dem Satz, daß es für jeden Menschen gut sei — im Gegensatz zur Gleich­ gültigkeit —, von Zeit zu Zeit zu erwägen, wie gerade in der Gegen­ wart das Christenthum zu vertheidigen sei, bespricht dann die Frage, ob das Christenthnm netto oder brutto nach einem Ausdruck Biedermann's zu vertheidigen sei, und bejaht sie im Sinne des Christenthums netto, d. h. des Kerngehaltes des Christenthums, das nur bei Christus zu finden sei, und zwar zunächst nicht in dem, was andere von ein­ zelnen außergewöhnlichen Thaten und Schicksalen berichten, sondern in dem, was er selbst sagt, und in der ganzen Richtung seines Lebens. Damit sind wir auf die 3 ersten Evangelien gestellt. Der Kern des Christenthums aber liege in dem, was er innerlich erlebte als das höchste Gut seines Herzens, als den leuchtenden Mittelpunkt seines Denkens und Urtheilens, als die treibende Kraft all seines Wollens und Handelns; insofern sei die in Christus uns aufgegangene Gottes­ kindschaft das Christenthum netto mit der brüderlichen Liebesgemeinschaft im Gottesreich. Zu vertheidigen aber sei das Christenthum nur gegen diejenigen, welche auch gegen dieses Ällerheiligste ihre Ge­ schosse richten, womit dem Theologengezänk, dem kirchlichen Partei­ hader, das Recht abgesprochen wird, sich mit dem Ehrentitel „Ver­ theidigung des Christenthums" zu schmücken, da es sich bei dieser falschen Apologetik nur um Meinungen handle; auch gegen die „Wissenschaft", so lange sie in ihren Grenzen bleibe, sei eine Ver­ theidigung unnöthig, wie auch das Christenthum gegen die Verschie­ denheit der Staatsformen an sich gleichgültig sei. Die Gegner des

Christenthums, gegen welche die Vertheidigung nöthig ist, theilt der Verfasser in drei Klassen: die praktischen Atheisten und Materialisten, die theoretischen Unchristen, die ungeschichtlich denkenden, die unkirchlichen Christen. Die Waffen der Vertheidigung können ihrer Art nach nur Waffen der Gerechtigkeit, des Geistes und der Liebe sein, das warme und klare Wort, die opferwillige wohlgeordnete Liebes­ thätigkeit. Zunächst schildert Verfasser die Regeln, nach denen der Kampf des Wortes zu führen ist. Besonders genau geht der Ver­ fasser ein auf die rechte Art des Ankämpfens gegen den Materialis­ mus, dem er nicht nur seine Sinnlosigkeit, sondern auch die Bedürf­ nisse des Gemüths entgegenhält, auf die Frage des Gewissens in seiner unbedingten Forderung an uns, aber auch mit seiner geschicht­ lichen Bedingtheit. Doch es ist genug: auf diesen 30 Seiten ist viel mehr durchschlagende Vertheidigung des Christenthums zu finden, als in vielen dickleibigen Werken /in denen statt des Christenthums nur eine bestimmte Theologie und auch nur häufig genug mit Mitteln der Sophistik vertheidigt wird.

Wie ist in unserer Zeit das

M verteidigen?

Ein Vortrag von

v. Paul Mehlhorn, Pastor an der evang.-reform. Gemeinde in Leipzig.

Sonderabdruck aus dem „Evangelischen Gemcindeblatt".

2. Auflage.

Berlin, Druck und Verlag von Georg Reimer.

1894.

Nach einer

bekannten Anekdote

aus dem klassischen

Altertum kam einst ein athenischer Redner nach Sparta und kündigte eine Lobrede auf Herakles an.

Da vernahm

er aus dem Munde eines der nüchternen und wortkargen Lakonier die verblüffende Frage:

tadelt?"

„Wer hat ihn denn ge­

Daß nun jemand auch mir einen ähnlichen Ein­

wand gegen mein Thema machte, daß er nämlich fragte: „Hat denn jemand das Christentum angegriffen?", brauche

ich leider nicht zu erwarten. sagen:

Wohl aber könnte mancher

„Diese Frage geht mich

weder zu denen,

nichts an;

ich gehöre

gegen die das Christentum zu vertei­

digen ist, denn ich halte es von Herzen hoch; noch zu denen, die es zu verteidigen haben, denn ich bin kein Theo­

loge."

Allein es ist doch für jeden Christen gut, von Zeit

zu Zeit zu erwägen, wie gerade in der Gegenwart das Christentum zu verteidigen ist.

Wir fühlen, daß in einem

jeden von uns selbst etwas steckt, wogegen diese Verteidi­

gung immer von neuem zu führen ist, daß wir in gar

mancher Stunde mit dem Herzen zwar Christen, mit dem Verstände aber Heiden, ja,

manchmal auch 1*

„mit

dem

4 Herzen" nicht die besten Christen sind.

Wir fühlen es

aber auf der anderen Seite auch heraus, daß wir als Protestanten nicht den Geistlichen und Theologen allein,

gleichsam als den Berufssoldaten, die Verteidigung des religiösen Heimatsbodens überlassen dürfen, sondern die

Verantwortlichkeit für den Bestand des Christentums alle mitzutragen, eine allgemeine Wehrpflicht zu erfüllen haben. Da fragen wir natürlich zunächst: eigentlich verteidigt werden?

„Was soll denn

Das Christentum, gewiß;

aber das ist ein sehr weiter, vieldeutiger Begriff.

Das

Christentum hat viele Entwicklungsstufen durchlaufen, es

steht uns in einer Anzahl von Kirchen oder Konfessionen gegenüber, und jede von ihnen umfaßt wieder eine Menge

von Stimmungen, Gesinnungen und Vorstellungen, die sich in Bräuchen, Einrichtungen und Lehren kundgeben.

von alledem wollen wir nun verteidigen?

testantische Christentum?

Was

Etwa das pro­

Daraus wird es ja gewiß bei

uns hinauskommen, weil wir im Protestantismus die reinste und höchste Ausprägung des christlichen Geistes erkennen; aber wir müssen erst einmal auf einem für jeden Unbe­

fangenen gangbaren Wege seststellen, was Christentum ist, und dann erst kann sich zeigen, welche der christlichen

Konfessionen die christlichste ist. uns auf die Erklärung hin:

Außerdem aber könnte

„wir wollen das protestan­

tische Christentum verteidigen," sofort wieder die Frage in den Weg geworfen werden: ja, welches denn?

Das luthe­

rische oder reformierte oder unierte oder irgend ein an­

deres? und innerhalb dieser Unterabteilungen wieder: das

5

liberale oder orthodoxe oder eine Mittelschattierung? Soll überhaupt eine dieser Gestalten des Christentums sozusagen mit Haut und Haar verteidigt, oder soll gewissermaßen nur die Gesundheit ihres Herzens nachgewiesen werden? Han­ delt es sich, wie es kurz und treffend ausgedrückt worden ist,') dabei „um das Christentum brutto oder das Christen­ tum netto?" Nun, daß irgend ein geschichtlich gewordenes Kirchentum oder Lehrsystem in allen seinen Teilen von vornherein als richtig anzusehen wäre, könnte doch nur mit der einzigartigen Unfehlbarkeit und göttlichen Erleuch­ tung derer begründet werden, von denen seine verschiedenen Bestandteile herstammen, seien diese Gewährsmänner nun Träger eines heiligen Amtes — Päpste —, oder Ver­ fasser von Schriften, die in einem heiligen Buche vereinigt sind, der Bibel. Es ist aber nun einmal eine unverlierbare Errungen­ schaft unserer Zeit, für die wir dem Gott, der auch in der Kulturgeschichte waltet, dankbar sein sollen, daß wir uns jeder bloß von außen kommenden Autorität gegenüber unser eigenes, auf wohlerwogener Erfahrung beruhendes Urteil vorbehalten. Auch die Gedanken, die ohne bewußte An­ strengung mit überwältigender Kraft und Gewißheit in einer Menschenseele aufblitzen und die wir wohl als Offen­ barungen auf dem Gebiete der Religion bezeichnen, werden 2) Biedermann: Welches sind die dringendsten Aufgaben der protestantischen Apologetik in der Gegenwart? (Ausgewählte Vor­ träge und Aufsätze mit einer biographischen Einleitung von I. Kradolfer, S. 253.)

6 für andere erst dann zu geltenden Wahrheiten, wenn sie sich an > deren eigenem Inneren bewähren und . in die Er­

fahrungswelt, die ihnen sonst gewiß ist, einfügen. Darum haben denn auch die eigentlichen Vertreter der

theologischen Wissenschaft, selbst die angeblich orthodoxen, die einfache Berufung auf die göttliche Eingebung der heiligen

Schrift teils mehr, teils minder entschlossen und unver­

hohlen ausgegeben.

Dann könnte also der Inhalt des

„Christentums brutto", die ganze Fülle von Glaubens­

und Lebensanschauungen, die es in einer bestimmten über­

lieferten Form in sich schließt, entweder nur Stück für Stück verteidigt, oder es müßte auf einen einheitlichen

Kern zurückgeführt und dieser verteidigt werden.

Der aber

würde dann eben „das Christentum netto" sein.

Was für eine mühselige und unfruchtbare Arbeit wäre

aber doch jenes Stückwerk!

Hätte man glücklich eine Reihe

solcher Einzelbeweise geliefert, so wäre wahrscheinlich der erste längst vergessen, wenn man beim letzten anlangte.

Und dann bliebe noch immer die Frage übrig:

warum

benennt man dies bunte Allerlei von Sätzen mit dem zusammenfassenden Namen Christentum?

Ist unter ihnen

nichts Ueberflüssiges, und erschöpfen sie wirklich das

Wesen des Christentums?

Wen man in dieser Weise be­

kehrt hätte, dem hätte man wohl eine Anzahl neuer Glied­ maßen künstlich eingesetzt, aber eine reinere und gesündere

Blutbildung in seinem Herzen wäre damit nicht verbürgt.

Allein wenn sich nun eine Anzahl von Bestandteilen

eines überlieferten christlichen Systems thatsächlich als un-

7 haltbar erweisen, und sie doch alle zusammen „das Christen­ tum" bilden, so behalten wir schließlich nur ein verstüm­

meltes,

ein Dreiviertels- oder halbes

noch weniger?

Christentum oder

Nein, das Christentum, das wir verteidigen

sollen, muß etwas Einheitliches sein, gleichsam ein leben­ diges Wesen, das sich seine Glieder von innen heraus selbst

bildet.

Eins ist not:

das gilt auch für unsere Aufgabe.

Eine Grundwahrheit, eine Grundthatsache muß das Wesen

des Christentums ausmachen, an der dann alles, was im einzelnen christlich genannt wird, zu messen ist.

Hängt es

als Folgerung oder Voraussetzung unablösbar mit jener

Thatsache zusammen, so ist es ein notwendiges Glied der christlichen Weltanschauung; ist dies nicht der Fall, so ist

es entweder für den Verteidiger des Christentums gleichgiltig oder sogar zu bekämpfen.

Wir haben somit „das Christentum netto", den Kern­ gehalt des Christentums, zu verteidigen.

Wo aber finden

wir diesen Kern, und worin besteht er?

Natürlich können wir das Christentum nur bei Jesus Christus suchen, und zwar zunächst nicht in dem, was an­

dere von einzelnen außergewöhnlichen Thaten und Schick­ salen Jesu berichten, sondern in dem, was er selbst sagt,

und in der ganzen Art und Richtung seines Lebens.

Da­

mit betreten wir den sichersten Weg zum Ziele; denn mag auch manches einzelne Wort oder Gleichnis uns ungenau

überliefert,

mancher Zug

sinnigen Phantasie und

dieses Lebensbildes

von

der

dem pietätvollen Gemüt ausge­

schmückt oder eingetragen sein, so bleibt doch in unsern

8 drei ältesten Evangelien genug übrig, woran nur die bo­ denlose Zweiselsucht, für die es überhaupt keine geschicht­ lichen Quellen mehr giebt, rütteln kann, genug, um uns

ein klares, zusammenstimmendes Zeugnis von dieser erha­ benen Persönlichkeit zu geben, uns auf den Kernpunkt

ihres inneren Lebens hinzusühren.

Denn auch das ist noch

nicht das eigentliche Christentum, was dieser Größte in Israel von seinen Vätern ererbt hatte, was er über die

äußere Welt und ihre Vergangenheit und Zukunft dachte,

sondern was er innerlich erlebte als das höchste

Gut seines Herzens, als den leuchtenden Mittel­ punkt seines Denkens und Urteilens, als die trei­

bende Kraft all seines Wollens und Handelns. Was war das?

Es war das Gefühl einer in ihm waltenden Macht, die höher ist als alles Belieben des Menschen, und in der doch der Mensch erst sein wahres Heil, die Erfüllung seines

innersten Sehnens findet, wenn er fich ihr völlig hingiebt, wenn er ihr in herzlichem Vertrauen folgt wie das rechte

Kind seinem Vater.

Die geheimnisvolle und erhabene

Macht, von welcher der Mensch fich selbst abhängig fühlt, und von der er auch die Welt um ihn her durchwaltet

denkt, nennt er seine Gottheit und stellt sie sich in mannig­ facher Weise vor.

Israel hatte sich längst zu dem einen

Gott bekannt, der Himmel und Erde gemacht hat, und unter seinen sittlichen Eigenschaften auch Liebe und Gnade gepriesen:

Jesus aber erkannte aus Grund dessen, was

sein eigenes Herz ganz beherrschte, erfüllte und beseligte,

9 die allem menschlichen Thun zuvorkommende „Liebe" als das tiefste Wesen Gottes, und darum verkündete er ihn als den himmlischen Vater, und das Verhältnis der Gotteskindschaft, in dem er selbst sein Leben lang stand, als die wahre Bestimmung des Menschen. Die in Jesus Christus uns aufgegangene Gotteskindschaft des Menschen: das ist „das Christentum netto", und das sollen wir als unser höchstes Gut und Ziel verteidigen. Darin verteidigen wir zugleich unsere dankbare, vertrauens­ volle Liebe zu Gott, „die sich im Gebet enthüllt", die Pflicht der Bruderliebe gegen alle Menschen, ihre Zu­ sammengehörigkeit zu einer großen Familie oder zu einem Reiche Gottes, von dem auch der reuige Sünder nicht ausgeschloffen wird, und die ehrfurchtsvolle Anerkennung Jesu als des Stifters dieses Reiches, oder — in der Sprache seines Volkes — des Messias, des Christus, — als des geschichtlichen Quellpunktes der reinsten Gotteserkenntnis, — als des anschaulichen, begeisternden Vorbildes echter Gotteskindschast für alle Zeiten, oder, biblisch ausgedrückt, des Sohnes Gottes, aus dessen Persönlichkeit die gött­ liche Liebe selbst uns erlösend und versöhnend entgegen­ strahlt. Was dagegen mit diesem von Christus erlebten und von uns nachzuerlebenden Verhältnis der Gotteskindschast nicht in notwendigem Zusammenhang steht, das ist nicht der bleibende Kern des Christentums, sondern gehört zurSchale,wo es auch geschrieben stehen mag. Gegen wen haben wir nun in unseren Tagen das Christentum zu verteidigen? Auf diese Frage können wir

10 jetzt erst eine bestimmte Antwort geben, nachdem wir den

Gegenstand unserer Verteidigung genau bezeichnet haben.

Hoffentlich wird sich nach und nach unsere Gegnerschaft von selbst beträchtlich verringern, wenn wir ganz unumwunden

die Fahne eines so innerlichen,

der allgemeinen mensch­

lichen Erfahrung zugänglichen Christentums aufpflanzen. Nur die, welche auch gegen dieses Allerheiligste ihre Ge­ schosse richten oder seine Mauern zu untergraben drohen,

sind die Gegner, mit denen wir es zu thun haben.

Da­

mit wird zunächst dem gehässigen kirchlichen Parteihader,

dem bloßen Theologengezänk, das Recht abgesprochen, sich mit dem Ehrentitel „Verteidigung des Christentums" zu schmücken.

Man kann ja in gleicher Weise von dem Ideal

der Gotteskindschast und

des Gottesreiches, von inniger

Gottes- und Nächstenliebe und von der Verehrung für den Gottessohn von Nazareth erfüllt sein und doch über die

Form des göttlichen Wirkens in der Welt, über die Rich­ tigkeit einer

kirchlichen oder

biblischen Vorstellung und

Ueberlieferung, über den Verfasser und die Entstehungszeit

einer biblischen Schrift sehr verschiedene Meinungen haben.

Wissenschaftlich

betrachtet

sind

natürlich

diese Ansichten

keineswegs gleichgiltig, ja sie haben auch großenteils ihre

praktischen Folgen für das kirchliche und persönliche Leben, und darum soll der Streit darüber zwischen den Christen

christlich und sachlich zum Austrag gebracht werden.

Aber

als Christen sollen wir einander trotzdem anerkennen und uns

als Bundesgenossen im Verteidigungskampfe für

das Christentum fühlen,

mag auch der eine die Waffen,

11 die der andere führt, nicht für ebenso brauchbar und zeit­

gemäß halten wie die eigenen.

In dieser Hinsicht sollen

die Vertreter verschiedener theologischer und kirchlicher Rich­

tungen zu einander sprechen wie bei Schiller der biedere

Meier von Sarnen zu Jtel Reding:

„Herr Reding, wir

sind Feinde vor Gericht; hier sind wir einig."

Ebensowenig ist natürlich

gegen die Ergebnisse der

Wissenschaft, gegen eine politische oder wirtschaftliche An­

schauungsweise

im

Namen

des

Christentums

Krieg

zu

führen, solange sie die Grenzen ihres Gebietes nicht über­ schreiten.

Die Thatsachen der Geschichte, die Kräfte der

Natur, die Gesetze, nach denen sie sich bewegen und auf

einander wirken, die Entwicklungsformen, welche die äußere Welt mutmaßlich durchlaufen hat, kann die Religion, auch die christliche, nicht mit eigenen Mitteln bestimmen; auf

diesen Gebieten sind wir als Christen bescheiden Lernende und

dankbar Nehmende und

müssen jeden Versuch,

geistliche Diktatur aufzurichten, werfen.

eine

als eine Anmaßung ver­

Die Religion ist eine Richtung des Geistes und

Herzens, die es mit dem ewigen Grund und Ziel der Welt zu thun hat, und deren Sein oder Nichtsein nicht von der wiffenschaftlichen Beschreibung und Erklärung der Erschei­

nungswelt abhängt.

Gott ist die Liebe, und Gott war in

Christo, und Gott will in einem Reiche liebevoller Persön­

lichkeiten alles in allen sein: das steht dem Christen gleich fest, ob nun nach alter Anschauung sich die Sonne um die

Erde oder nach neuer die Erde um die Sonne dreht,

ob

unsre Welt in 6 Tagen oder in endlosen Zeiträumen ent-

12 standen ist, ob Gott gelegentlich von außen in das Räder­ werk der Welt eingreift oder in der stetigen Vollziehung

ewiger Ordnungen sein Werk treibt.

Erst wenn — nicht

„die Wissenschaft", sondern ein unberufener Vertreter einer bestimmten Wissenschaft leugnet und bestreitet, was wir

doch als unseres Herzens höchsten Inhalt und mächtigste Schwungkraft erleben, so tritt der Kriegsfall ein, aber ge­

genüber dem Angreifer, nicht gegenüber „der Wissen­ schaft", deren Banner er unbefugter Weise schwingt.

Und ebenso verhält sich das Christentum zu einem je­ den wirklich rein politischen oder wirtschaftlichen Stand­

punkt.

Der Staat und die bürgerliche Gesellschaft sind für

den Christen bestimmte Kreise, in denen das Reich Gottes verwirklicht, das Heil aller gefördert werden soll; welche

Mittel dafür die geeignetsten, welche Versassungs- und Er­ werbsverhältnisse die zweckmäßigsten find, das ist eine Frage

des Verstandes und der speziellen Sachkenntnis. wäre es ein Mißbrauch,

Darum

das Christentum etwa mit der

konservativen Partei zu verquicken oder es vor dem Para­ dies der besitzenden Klassen als Cherub mit dem zweischnei­

digen Schwerte zur Abwehr jedes tiefergreisenden sozialen

Reformgedankens aufzustellen.

Aber wenn die Wortführer

politischer und sozialer Parteien aus das sittlich-religiöse Gebiet hinüberschweifen, wenn sie die heiligsten Empfin­

dungen und Erfahrungen des christlichen Gemütes und Gewissens verhöhnen und die edelsten Gestalten der christ­ lichen Geschichte

in den Staub

treten,

wenn sie kein

höheres Lebensziel gelten lassen wollen als Sinnengenuß

13 oder Verstandesaufklärung und zur Erreichung ihrer Zwecke Unrecht und Gewaltthat nicht verschmähen, dann freilich ertönt die Sturmglocke zur Verteidigung

des Christen­

tums — nicht gegen politische und soziale Richtungen als

solche, denn es giebt auch christliche Republiken und hat auch christliche Gütergemeinschaft gegeben, — sondern gegen gottlose, pietätlose, unsittliche Vertreter solcher Rich­

tungen.

Die fleischlich Gesinnten, um mit der Bibel zu reden, oder die praktischen Atheisten und Materialisten,

um den modernen Kunstausdruck zu brauchen, bilden also die erste und augenfälligste Gruppe

Christentums.

von Gegnern

des

Eine anders geartete Schar besteht aus

denen, die zwar weit mehr Feinfühligkeit und ernste Ge­ wissenhaftigkeit bethätigen, ja uns vielleicht durch ihren opferwilligen Eifer für das Gemeinwohl in Erstaunen

setzen und zur Hochachtung nötigen, aber die religiösen Überzeugungen,

denen ein

solches Verhalten

entspricht,

einfach ablehnen oder wenigstens als etwas völlig Unsiche­ res dahingestellt sein lassen.

Es sind die theoretischen

Unchristen, die entweder zu wenig oder mit krankhafter

Spitzfindigkeit über die höchsten Fragen des inneren und des sittlichen Lebens nachdenken.

gutes Stück praktischen,

Sie haben sich noch ein

aber unbewußten Christentums

aus dem Erbe der Väter gerettet; aber es ist Gefahr vor­

handen, daß dieser Stamm ohne nährende Wurzel mit der Zeit abstirbt und daß andere, weniger zartbesaitete Ge­ müter auch die praktischen Folgerungen aus den theoreti-

14 schen Voraussetzungen ziehen, und zwar je länger, desto mehrere, bis das ganze Volksleben an diesem Schaden krankt und zu Grunde geht.

Endlich aber dürfen wir hier noch eine Gruppe von Leuten ins Auge fassen, die allerdings keine bewußten Geg­

ner sind, aber dennoch durch ihr Verhalten die Sache des Christentums schädigen.

Es sind die, welche zwar die christ­

lichen Lebensgrundsätze und die christliche Weltanschauung ehren und erhalten zu sehen wünschen, aber sich nicht darum

bekümmern, wie das allein wirksam geschehen kann, näm­

lich durch lebendige Beteiligung an der Gemeinschaft, die

eben zur ausdrücklichen, planmäßigen Pflege des Christen­ tums da ist, an der Kirche.

Sie verkennen die Bedingun­

gen, unter denen ein Ideal in der Geschichte sich behauptet

und verwirklicht; wir können sie daher die ungeschicht­ lich denkenden, die unkirchlichen Christen nennen. Je nach der Beschaffenheit der feindlichen oder doch

hemmenden

Mächte,

mit

denen

die entschiedenen

Ver­

treter des Christentums zu rechnen haben, richtet sich not­ wendig auch die Art seiner Verteidigung,

die, wie jede

wirksame Verteidigung, zuweilen auch zum Angriff über­

gehen muß, selbstverständlich mit Waffen der Gerechtigkeit,

des Geistes und der Liebe. Damit ist jeder Zwang, der zur Heuchelei verführen

könnte von vornherein ausgeschlosfen.

Nicht das kann die

Ausgabe sein, die Zahl der bloßen Namens- und Schein­

christen künstlich zu erhalten oder gar zu vermehren, son­ dern die Wahrheit und den Wert des Christentums mög-

15 lichst vielen überzeugend und herzgewinnend darzustellen.

Wollen also die im Herzen dem Christentum völlig Ent­ fremdeten auch aus

der äußeren Gemeinschaft austreten,

so ist dies zunächst kein Schade für die Kirche, sondern für sie selbst und leider auch für eine Menge Unmündiger, die

sie mit sich ziehen.

Die Kirche aber hat ernsten Grund,

sich die Frage vorzulegen, ob sie denn auch wirklich ihre

Pflicht an den Scheidenden gethan, ob sie ihnen etwas ge­ wesen ist, sich um ihre Erleuchtung, Erwärmung, Erziehung und Bewahrung die nötige Mühe gegeben oder ihnen viel­

leicht bloß unverstandene Worte und Zeremonien geboten hat.

Und so wird hoffentlich die jetzt von manchen geforderte

Auswanderung aus der Kirche dieser eine Mahnung zur Selbstbesinnung, zur Ausraffung, zur Anwendung der Mittel

sein,

durch die allein Geister und Herzen gefesselt und

gewonnen werden,

des warmen und klaren Wortes und

der opferwilligen, wohlgeordneten Liebesthätigkeit. Das Wort ist in erster Linie am Platze,

wo der

Widerspruch im Verstände oder Unverstände seinen Grund hat; die That muß da Bahn brechen, wo das Herz ver­

blendet und

verführt ist.

Wir reden hier hauptsächlich

von dem Kampf des Wortes und fragen nach den allge­

meinen Regeln, die dabei zu beachten sind.

Da gilt es

denn vor allem, gewissenhaft zu prüfen und offen anzu­

erkennen, was an der Ansicht des Gegners berech­

tigt ist.

Bloße Seifenblasen zerplatzen bald von selbst;

der hartnäckige Irrtum pflegt an einem, wenn auch winzi­

gen, Wahrheitskern zu hasten.

Es ist z. B. eine tiefwur-

16 zelnde Ueberzeugung der Mehrzahl unserer gebildeteren Zeit­

genossen,

daß in der Welt alles mit natürlichen Dingen

zugehe und festen, unverrückbaren Gesetzen folge.

Daran

knüpft sich bei vielen die Ansicht, der Gottesglaube sei eine durchaus überflüssige, unbegründete Vermutung, und die Wunder, die in den Urkunden wohl aller Religionen erzählt

werden, mit ihnen zugleich aber die Religionen selbst, seien nichts

als

Aberglaube,

wenn nicht gar Lug und Trug.

Sollen wir nun zur Verteidigung des Christentums gegen

solche Anschauungen einfach als gegen böswilligen, ruch­ losen Unglauben losdonnern? Es würde uns wenig helfen, als daß man uns verlachte und Pfaffen schälte.

Niemand,

auch der Gläubigste nicht, richtet sein Leben heutzutage nach der Voraussetzung ein, daß von 5 Broten und 2 Fischen

5000 Mann satt werden könnten, niemand versucht, über die Meereswogen zu Fuße dahin zu schreiten.

einmal die Regel des Denkens erkannt hat,

Und wer

die solchem

Verhalten zu Grunde liegt, wer einmal von dem großarti­

gen,

wundervollen Gedanken einer zuverlässigen Weltord­

nung durchdrungen ist, der läßt sich ihn schwerlich wieder

ausreden.

In der That, für all' unser Forschen und all'

unser Handeln, das doch gewiß auch zu unserer Bestim­

mung in dieser Welt gehört, ginge mit jener Überzeugung der sichere Boden verloren. Aber nun befinden wir uns

auch am Scheideweg.

Ist denn wirklich durch den Gedanken einer festen Welt­

ordnung

der eines göttlichen Geistes

ausgeschlossen oder

nicht vielmehr darin schon eingeschlossen?

Gesetz ist doch

17 gewiß nichts Greifbares, kein materielles Ding, sondern

ein Begriff, den unser Geist auf Grund vieler gleichartiger Beobachtungen sich bildet, aber mit dem Bewußtsein, da­

mit nichts willkürlich in die Welt hineinzudenken, sondern etwas wirklich Vorhandenes herauszufinden. Ist aber Gesetz,

Ordnung wirklich in der Welt, und ist Gesetz nichts Mate­

rielles, sondern etwas Geistiges, Begriff oder Gedanke, —

so begrüßt ja unser kleiner erkennender Geist, wenn er von Weltgesetzen und Weltordnung spricht, gleichsam den großen in der Welt waltenden Geist, und in diesem Sinne ist die

Wissenschaft nicht wider die Religion, sondern für sie. Freilich haben wir damit noch nicht den vollen christlichen

Gottesbegriff der ewigen Liebe erfaßt,

aber doch wenig­

stens eine Station auf dem Wege dahin erreicht, geistigen Hintergrund

der ganzen

einen

Erscheinungs­

welt erschaut. Aber was wird bei dieser Betrachtungsweise aus bib­

lischen Wundererzählungen

wie der

und dem Meerwandeln Jesu? Geschichten,

Speisung

der 5000

Sie sind allerdings keine

die sich buchstäblich

äußerlich so zugetragen

hätten, es sind Erzeugnisse der sagenbildenden, dichtenden Phantasie, mag diese nun bewußt oder unbewußt ihr Werk

gethan haben.

Aber diese Phantasie baut damit nicht bloße

Luftschlösser, sondern schlingt ihre Epheuranken um sehr solides Mauerwerk, um eine wirkliche Persönlichkeit, deren innere, sittlich-religiöse Macht und Bedeutung in diesen an­ schaulichen, durchsichtigen Bildern dargestellt wird. Christus

und sein Evangelium selbst ist ja thatsächlich das Brot des Wie ist in unserer Zeit das Christentum zu verteidigen?

' 2

18 Lebens, das schon Millionen hungriger Seelen gespeist hat, und noch heute wiederholt sich innerlich bei jeder wirksamen

Verkündigung der christlichen Wahrheit, bei jeder andächti­

gen Feier des heiligen Abendmahls etwas von dem, was uns die Erzählung von der wunderbaren Speisung vor Augen malt.

Und ist nicht Christus im geistigen Sinne

wirklich über Meereswogen dahingeschritten, mag man nun

daran denken, daß seine Begeisterung und sein festes Gott­ vertrauen ihn in Lebenslagen über dem Wasser hielt, in

denen andern die Wogen über dem Haupte zusammen­ schlagen würden, oder (mit anderen Auslegern) daran, daß

sein Geist in dem großen Heidenapostel auch das Meer überschritt und das Evangelium nach Europa hinübertrug,

zum Weltevangelium machte. Wir haben hiermit gleich zwei weitere Regeln anzu­ wenden und zu veranschaulichen gesucht, die bei jeder Ver­

teidigung des Christentums in unserer Zeit zu beobachten

sind, nämlich:

prüfe sorgfältig

die Tragweite deiner

Gründe und hüte dich vor jeder Uebertreibung,

die nur

das Vertrauen des Gegners vollends zerstören kann; und: führe diejenigen Lehren und Erzählungen der christlichen

Überlieferung, die einerseits dem Denken der Gegenwart widerspruchsvoll und unmöglich erscheinen müssen, und doch andrerseits für den tiefer Blickenden keine bodenlose Phan­ tasterei sind, auf ihren Entstehungsgrund, aus die wirk­

lichen Erfahrungen, auf die Thatsachen und Gemütsein­

drücke zurück, die darin ihren durch die Vorstellungsweise und Bildungsstufe der Entstehungszeit bedingten Ausdruck

19 finden!

Diese Anwendung des Entwicklungsgedankens auf

die überlieferte christliche Vorstellungswelt befriedigt allein die beiden im lebendigen Menschen der Gegenwart vorhan­

denen und völlig berechtigten Bedürfnisse: das Herzens­

interesse an einem bleibenden Kern religiöser Wahrheit, weltüberwindender,

beseligender und heiligender Ideale,

und das Interesse der sich mündig fühlenden Vernunft,

nichts Unverdauliches blindlings hinunterzuschlucken.

So

allein wahren wir heutzutage Pietät und Freiheit,

die

Rechte der Frömmigkeit und der Wissenschaft zugleich. Auf diese Weise sind wir auch sicher, nicht bei neben­

sächlichen

Einzelheiten, bei beliebigen Außenwerken

des

Christentums stehen zu bleiben und dort zwecklose Schar­

mützel zu liefern, sondern immer wieder aus den Mittel­ punkt geführt zu werden, am entscheidenden Punkte die entscheidende Schlacht zu schlagen.

Wir werfen unsere An­

ker tiefer, als in die mündliche oder schriftliche Überliefe­ rung, die doch immer wieder mannigfachen Zweifeln Raum läßt; wir werfen sie vollends nicht in die Lust und be­

haupten nicht mit hohlem Pathos, Dinge zu wissen, die überhaupt kein menschliches Wissen erreichen kann; sondern wir ruhen erst, wenn wir in den Tiefen des Geistes auf

Erfahrungen stoßen, die jeder macht und deren un­

vergleichlicher Wert sich jedem anfdrängen muß,

der

nicht gewaltsam die Augen dagegen verschließt. Suchen wir uns in möglichster Kürze der Erfahrun­

gen zu erinnern, aus die es bei Begründung der christlichen Überzeugung ankommt!

20 Da vertritt uns wohl gleich der geschworene Feind aller Religion den Weg, der Materialismus, und sagt: „Bon Erfahrung faselt oder fabelt ihr?

Daran scheitert

ja eben alle Religion, daß sie der Erfahrung widerspricht. Diese zeigt uns nirgends Gott, den Geist; ja auch was wir Menschengeist nennen, ist nur ein Erzeugnis bestimm­

ter bewegter Stoffteile.

Im Anfang war nicht der Geist,

sondern der Stoff."

Stoff — das scheint ein höchst einfacher Begriff zu

sein, und ist es doch nur für die Oberflächlichkeit und Ge­

dankenlosigkeit. Was ist denn Stoff? Das räumlich Ausge­

dehnte, Raumerfüllende. Aber was erfüllt denn den Raum? Wir Menschen kennen es nur aus seiner Wirkung auf uns,

aus der Erfahrung seiner Kraft.

Wir erfahren somit

den Stoff nicht unmittelbar, sondern denken ihn uns viel­

mehr nur als Ursache von Kräften.

Sehen wir uns aber

die Kräfte, die unserer Erfahrung zu Grunde liegen, ge­

nauer an, so werden wir auf die Unterscheidung zwischen

Kräften äußerer Bewegung und innerer Empfindung

geführt.

Unser Trommelfell wird durch bewegte Luft in

eine Reihe von Schwingungen versetzt, und wir empfinden den Wohllaut einer Melodie oder ein wirres, mißtönendes Geräusch.

Liegt

etwa

der

Grund

dieser verschiedenen

Empfindung, dieses entgegengesetzten Werturteils, offen vor

uns in der Zahl und den Zwischenräumen jener Lust­ schwingungen?

Ist es uns begreiflich,

wie auf einmal,

statt daß bloß „Well' auf Well' sich ohn' Ende drängt", aus diesem Wellentanze gleichsam ein sinnendes Haupt, ein

21 fühlendes Herz emportaucht?

Nein, wenn wir klar denken

und ehrlich reden wollen, so können wir nur sagen: wir

finden, daß thatsächlich räumliche Bewegungen in der äuße­

ren Welt und unräumliche Empfindungen der inneren Welt mit einander in Beziehung und Verbindung stehen, aber

wir können das Seelische aus dem Materiellen, die Empfin­

dung aus der Bewegung nun und nimmer herleiten.

ist", sagt der Naturforscher Dubois-Reymond, und für immer unbegreiflich,

„Es

„durchaus

daß es einer Anzahl von

Kohlenstoff-, Wafferstoff-, Sauerstoff-Atomen nicht sollte

völlig gleichgiltig sein, wie sie liegen und sich bewegen." Was aber ist nun von den beiden Wahrnehmungen

für uns die ursprünglichste und sicherste: die, daß wir

etwas empfinden, oder die, daß wir oder die Welt um uns sich bewegt? Über die Frage, ob wir und der Bahn­ zug, in dem wir sitzen, oder der auf dem Nebengeleise be­

findliche Zug sich bewegt, können wir uns täuschen, ebenso darüber, ob eine Veränderung in unserm Körper, und

welche, die Ursache einer Empfindung ist, die wir haben; aber daß wir die Empfindung haben, das ist die unbe­ streitbarste Thatsache der Welt für uns, die lassen wir uns

durch keine noch so große Mehrheit widersprechender Stim­

men ausreden.

Das Hemd sitzt uns näher als Rock und

Mantel, und unser Selbstgefühl und Selbstbewußtsein, also unsere innere, geistige Erfahrung ist uns gewisser als die ganze Welt da draußen mit allem, was da kreucht und

fleugt, und wir können jene aus dieser niemals wirklich begreifen und erklären.

Wollen wir also durchaus einseitig

22 fein, so ist es nach den Gesetzen unserer Erkenntnis immer noch ein geringeres Unrecht, die materielle Welt zu leug­

nen, als den Geist; es ist viel vernünftiger, die Welt, in

der wir leben,

als das Werk und die Offenbarung des

ewigen Geistes aufzusaffen, als die Welt, die in uns lebt, als eine bloße Wirkung oder Luftspiegelung geistlosen Stoffes.

der

Wahrlich,

edle Philosoph Lotze trifft den Nagel auf

den Kopf mit den Worten: „Unter allen Verirrungen des menschlichen Geistes ist diese mir stets als die seltsamste

erschienen,

daß

er dahin kommen konnte,

sein

eigenes

Wesen, welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln und es sich als Erzeugnis schenken zu lassen,

einer äußeren Natur wieder­

die wir nur aus zweiter Hand,

nur

durch das vermittelnde Wesen des Geistes kennen, den wir leugneten."

Also vor dem Materialismus

hat

nicht Ursache die Segel zu streichen.

der da zeuget, daß Geist Wahrheit ist."

das

Christentum

„Der Geist ist es, In dem geistigen

Wesen, dem unmittelbaren Selbstgefühl des Menschen liegt aber auch die Wurzel aller Religion von ihren niedrig­

sten bis zu ihren höchsten Entwicklungsformen. wohl sagen:

Man darf

jeder Mensch, der etwas auf sich hält, muß

zuletzt verzweifeln oder glauben.

Er fühlt es heraus, sei

es auch noch so dunkel und verworren, daß die ganze Welt nur einen Sinn hat für den sinnenden Geist, einen Wert

nur für das empfindende Gemüt; und in ihm lebt dieses Gemüt.

Darum will er heimisch, ja Hausherr sein in der

„unfühlenden Natur".

Aber wie oft kreuzt sie seine Wege,

23 stört sie erbarmungslos seine Kreise?

Wie oft kommt er

mit seinem Herrscherberuf sich doch fremd, verlassen, hilflos vor in der weiten Welt.

Sich in diese Hilflosigkeit erge­

ben, heißt verzweifeln, das volle Bewußtsein der Menschen­ würde als einen luftigen, widerspruchsvollen Traum aus­

geben.

Aber der Lebendige verzweifelt nicht völlig,

er hört auf zu leben.

sucht er eine Lösung;

oder

Für die Widersprüche des Lebens

je ernster der Kampf, desto größer

die Spannkraft, je dunkler der Weg, desto stärker die An­

strengung, doch etwas zu sehen.

Und siehe, es wird Licht;

hier blinkt ein Stern und da einer; oft freilich ist es auch

ein Irrlicht; aber allmählich breitet sich „ein großes stilles Leuchten" über den ganzen Horizont; endlich geht die Sonne aus und verdrängt auch den fahlschimmernden Halbmond,

und

die Welt liegt

Oder ohne Bild

da im hellen,

gesprochen:

warmen Tageslicht!

die Menschen

ahnen

suchen hinter und über der bunten Außenwelt

und

geistige

Mächte, denen sie verwandt sind und mit denen sie sich in Verbindung setzen können.

Sie suchen sie oft an der un­

rechten Stelle, sie machen sich ost höchst kindliche oder auch

kindische, ja rohe Vorstellungen von ihnen und den Bedin­

gungen, unter denen ihre Hilfe zu erlangen ist.

Aber im

Laufe der Kulturgeschichte geht das Unhaltbare schließlich wieder zu Grunde, und frei wird die Bahn zu dem erha­

benen Gedanken des einen Gottes, der Geist ist und im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will, Bekenntnis: „Ein Gott und Vater aller,

zu dem

der da ist über

euch alle und durch euch alle und in euch allen." (Eph. 4, 6.)

24 Nun erst wird die Welt dem Menschen zu dem Vaterhause mit den vielen Wohnungen, in dem er sich heimisch, ge­ borgen, erb- und Herrschberechtigt fühlt.

„In Kampf ist

Welt und Ich": damit bezeichnet Rückerts Dichtermund

treffend

die Wurzel

der Religion

im Menschengemüt;

„und nur in Gott ist Frieden": damit bezeichnet er ihre Krone.

Nun wohl, höre ich jemand sagen, Religion mag nichts so Widersinniges, sie mag sogar etwas sehr Mensch­ liches und unter Umständen recht Beglückendes sein; aber das genügt mir noch nicht.

Ich will sicher sein, daß ich

mich nicht an Einbildungen labe; lieber nüchterne, ja bit­

tere Wahrheit, als süße Täuschung! Wahrheit sein,

Soll aber Religion

dann darf sie nichts bloß Menschliches,

sondern muß etwas Gottmenschliches, eine wirkliche Ge­

meinschaft mit Gott sein; dann muß ihre Wurzel noch tiefer reichen als in das menschliche Gemüt, nämlich bis in die Tiefen der Gottheit.

Ein ehrenwerter und fruchtbarer Einwand, der uns nötigt, noch tiefer zu graben!

Wie kommt ein Mensch zu

dem scheinbar so wunderlichen Standpunkt, die Wahrheit

um jeden Preis zu erstreben und der süßesten Täuschung

vorzuziehen?

Das hat seinen Grund im Gewissen, das

ihm unerbittlich das Streben nach Wahrheit vorschreibt

und seinen Frieden stört, wenn er ihn auf Unsicheres oder Unwahres gründen will. Es ist also zwischen Scheinfrieden und wahrem Frieden,

zwischen trügerischem Glück und

dauerhafter Seligkeit ein Unterschied; es kommt darauf an,

25 worin der Mensch sein höchstes Gut erblickt, das er im Sturme der Welt behaupten will.

Alle sinnlichen Güter

sind vergänglich und unvollkommen, und selbst der Grad von Genuß, den sie thatsächlich bieten können, wird zer­

stört, wenn sie mit den Forderungen des erwachten Ge­ wissens in Widerspruch stehen.

Nur ein sittliches Gut

kann das höchste, vollkommene, unvergängliche sein; nur

das Gut, das wir nicht bloß zu haben wünschen, sondern haben sollen: der demütige und sriedevolle Einklang des

persönlichen Interesses,

des Einzelwillens,

mit dem alle

verpflichtenden, unbedingten Willen Gottes; nur für einen

sittlichen, allgemeinen Zweck, für ein Reich Gottes, kann die Dienstbarkeit der Sinnenwelt beansprucht und mehr

und mehr durchgesetzt werden,

nicht für die Willkür und

Selbstsucht, die zum Kampfe aller gegen alle führt.

Auf

allgemeine Anerkennung kann somit in der That nur eine

sittliche Religion Anspruch machen, eine Religion, die ein Weltziel, einen Gotteswillen verkündet, der im Gewissen seinen Widerhall findet; und im Gewissen hat denn auch

das Urteil des einfachen Menschen Stimme Gottes selbst anerkannt.

immer wieder eine

Oder sollte es doch bloß

der Ausdruck eines mehr oder minder umfassenden mensch­ lichen Gesamtwillens sein, eine bloß durch die Gewohnheit

eingewurzelte Macht?

Aber woher dann jenes von heili­

gem Ernst getragene, erhabene, durchschlagende: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist,

euch . .?"

. . ich aber sage

Woher jenes heldenhafte: „hier stehe ich, sich

kann nicht anders,^ Gott helfe mir! Amen!?"

In solchen

26 Augenblicken hören wir gleichsam die Brunnen der Tiefe

rauschen, da bricht ein ewiger Wille sich Bahn in dieser

Zeitlichkeit.

So gewiß wir in unsern Sinnesempfindungen

wirklich im Verkehr mit einer Welt außer uns stehen, so

gewiß erleben wir auch in dem Gefühl unbedingten Sollens und dem, was sich daran knüpft, eine wirkliche Verbindung mit einem unbedingten Willen über uns, von dem

unser Heil abhängt.

Diese sittliche Erfahrung leugnen,

hieße gerade auf das verzichten, was dem Menschen seinen Adel giebt.

Wer sie aber einmal wirklich gemacht hat,

der wird von einem unendlichen Mut, einer heiligen Sie­ geszuversicht erfüllt, der traut jenem Willen, der ihn ganz beherrscht, auch die Herrschermacht über die Welt zu,

der spricht mit Luther: Das Reich muß uns doch bleiben, — und ob die Welt voll Teufel wär', es muß uns doch

gelingen, — den Doktor Martinus können sie verbrennen, aber die Wahrheit können sie nicht mit verbrennen!

Ja,

die Welt ist für ihn nach Fichtes großem Wort ihrer höchsten

Bedeutung nach „das Material unsrer Pflichterfüllung".

Aber wir sind noch immer auf einen Einwand gefaßt. Auch das sittliche Bewußtsein hat seine Geschichte; das

Gewissen spricht nicht von Geburt an und nicht immer laut; es hat einen sehr mannigfachen, von vielen äußeren

und

geschichtlichen Umständen

bedingten Inhalt.

Dem

einen sagt es: du sollst Blutrache üben! dem andern: liebe

deinen Feind!

Dem einen: faste und kasteie deinen Leib!

dem andern: stärke auch deinen Körper für die schweren Ausgaben deines Berufes! Wie sollte diese Widerspruchs-

27 volle, durchaus bedingte Redeweise die Offenbarung des

einen unbedingten Gotteswillens sein?

Auch

dieser Einwand nötigt uns, noch schärfer zu

unterscheiden und bestimmter zu reden.

Ja, alles in der

Welt hat seine Geschichte, auch das sittliche Bewußtsein und die sittliche Religion. Nicht die fertige Formel ist der Menschheit in die Wiege gelegt, aber eine sittliche Anlage,

eine sittliche Triebkraft und das Bedürfnis, über diese ins

klare zu kommen, ihre Formel zu entdecken. Erst im Lause

der Geschichte, auf Grund mannigfacher erhebender und demütigender Erfahrungen und Empfindungen bilden sich die sittlichen Begriffe immer vollkommner heraus.

Aber

durch diese Veränderungen zieht sich doch ein einheitlicher Wie verschieden auch die Grundsätze des

Faden hindurch.

Fastens und der Stärkung des Körpers für die Aufgaben des Berufs lauten mögen, so liegt doch in beiden die ge­ meinsame Mahnung: sei kein Sklave deiner Sinne, sondern nimm das Sinnliche in den Dienst des bewußten Willens,

des Geistes!

Und so entgegengesetzt auch die Ideen der

Blutrache und der Feindesliebe sind, so spricht sich doch

auch in ihnen ein sich gleich bleibendes Bewußtsein aus,

nämlich das der Zugehörigkeit des einzelnen zu einer Ge­ meinschaft, für die er einzustehen hat, die Forderung: sei

kein Egoist, sondern „schließ' als dienendes Glied an ein Ganzes dich an".

Worin nun die rechte, vernünftige Un­

terordnung des sinnlichen Triebes unter den Geist besteht, wie weit und wie beschaffen die Gemeinschaft sein soll, der

der einzelne sich ein- und unterzuordnen hat, wie diese

28 beiden Grundforderungen zusammenhängen und sich gegen­ seitig näher bestimmen, darüber kommt die Menschheit, die Völker und die einzelnen in ihnen, erst allmählich ins

reine.

Das Urteil darüber hängt von dem Stande der

Kultur, von der Weite des geistigen Gesichtskreises im all­

gemeinen, innerhalb dieses Rahmens aber wiederum von

dem lauteren, ernsten Wollen und Sinnen des einzelnen ab.

Was aber dann einmal als sittliche Erkenntnis ge­

wonnen ist, das geht auch nicht wieder unter, sondern bleibt eine Macht in der Geschichte.

Unabhängig von un­

serer Willkür machen die von uns erkannten sittlichen Wahr­ heiten sich in unserm Innern geltend, ja, sie treiben unsern

Geist über sich selbst hinaus zu immer höherer, reinerer

Wahrheitserkenntnis, bis das letzte Wort gesunden und ge­

sprochen ist; sie erfassen den, der sie erfaßt hat, sodaß er ihr Zeuge und Vorkämpfer wird; sie werden zum verzeh­ renden Feuer in seinen Gebeinen, wenn er sie in sich ver­

schließen und unterdrücken will, aber zur leuchtenden und wärmenden Flamme, wenn er sie in sich walten läßt, und

er kann die Frostriesen nicht beneiden, Feuer nichts zu missen behaupten.

die von diesem

In dieser treibenden

und richtenden Macht aber erfahren wir den ewigen Willen Gottes.

Lang ist der Weg, den der Rheinstrom bis zu

seiner Mündung zurücklegt, manche Windung macht sein

Lauf je nach der Beschaffenheit des Bodens, durch den er

sich Bahn bricht, mancher Zufluß verändert die Färbung seiner Gewässer, aber er wäre nicht da ohne die immer

sprudelnde Quelle im Hochgebirg.

29 Auf welcher Strecke des Stromes der religiös-sittlichen Entwicklung der Menschheit treibt nun unser Schifflein?

Nun, wie groß die Entfernung bis zur Mündung noch ist,

und wie viele Zuflüsse der Strom noch aufnimmt, das ist

uns verborgen; aber seine Richtung ist jetzt dieselbe, in der auch die Mündung liegt. eignet

sich

Menschheit;

zum

Inhalt

Denn das christliche Lebensideal

eines

Gesamtgewissens

der

in der Richtung aus dieses Ideal können alle

naturgemäßen menschlichen Interessen zusammenlaufen und ihre Ausgleichung finden;

in ihm und dem ihm ent­

sprechenden Gottesgedanken liegt der Schlüssel eines Ver­

ständnisses der Welt, das alle vernünftigen Menschen

befriedigen kann.

Jesus Christus

hat die sittliche

Religion aus die Stufe der Vollendung gebracht.

Er hat die wahre Bestimmung aller Menschen und damit

die wahre Offenbarung des göttlichen Willens in sich erlebt und uns in Wort und Wandel dargestellt.

Nicht weltsüch­

tiger, aber auch nicht weltflüchtiger, sondern weltüberwin­

dender Geist war in ihm lebendig, nicht blos Stammes-, Volks- oder Rassengefühl, sondern allgemeine, schrankenlose heilige Liebe.

Ja sie lebte nicht bloß in ihm, zeitweise,

neben vielen anderen Interessen, mit ihnen abwechselnd,

von ihnen beschränkt oder auch manchmal verdrängt, nein,

er lebte in ihr als in seiner Lebenslust, sein ganzes Leben floß aus ihr als aus seinem einen Quell.

So erlebte

er Gott selbst als den Geist, als die Liebe, und war eins

mit ihm wie das Kind mit dem Vater.

Und in der

Schrankenlosigkeit der göttlichen Liebe liegt schon, daß sie

30 auch Gnade ist, die Sünden vergeben und alles neu machen kann, aber freilich nur zu dem Zweck und unter der Be­ dingung, daß der Sünder nun in ihre Gemeinschaft tritt,

ein Liebescharakter wird, in hingebender Liebesarbeit auf

irgend einem Posten des Lebens seine Ausgabe und seine Befriedigung sucht.

So allein verwirklicht sich der Welt­

zweck, das Reich Gottes, mit dem der Menschheit über­ haupt alles Gute zusallen soll, dessen sie bedarf und fähig

ist.

Denn wo die Liebe herrscht, da wird auch die sociale

Not mehr und mehr schwinden,

da werden alle Arbeiten

einer gesunden Kultur gedeihen,

die ja in der Beherr­

schung und Verwertung der Welt zum besten der Menschheit

besteht, da wird auch die sittliche Würde der menschlichen Persönlichkeit überall geachtet und gewahrt und,

wo sie

verloren scheint, nach Kräften wiederhergestellt werden. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibet in Gott und Gott in

ihm (1. Joh. 4, 16):

das spricht der Christ nicht bloß als

selige Lebenserfahrung für die Gegenwart, sondern als

kindlich-kühne Hoffnung für eine unsern menschlichen Blicken verhüllte Zukunft aus. Halten wir nun, auf dieser Höhe angelangt, Umschau über das weite Gebiet der Religions- und Sittenge­

schichte, so werden wir heutzutage freilich nicht mehr mit

der naiven Sicherheit, ja Schroffheit, die der Unwissenheit eigen ist, behaupten, daß außerhalb des Christentums nur Nacht sei; nein, wir werden Elemente der Wahrheit, er­ habenen Edelmut und tiefe Frömmigkeit, und somit auch

Gottesoffenbarung, selbst in dem sogenannten Heidentum

31 entdecken und anerkennen, und unser Gott wird uns nicht kleiner, sondern erst recht groß erscheinen, wenn wir seine

Spuren allerorten und in allen Zeiten erblicken; aber das

Ergebnis unserer vergleichenden Prüfung wird doch sein: es ist in keinem andern das Heil,

das volle Heil,

als in Christus, und darum unsere Losung: Jesus Christus

gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit! Das sind einige Andeutungen der Art, wie wir nach

meiner Überzeugung in der Gegenwart das Christentum verteidigen müssen.

Wir sollen uns völlig klar darüber

sein, worin der eigentliche Gegenstand der Verteidigung be­

steht; wir sollen nicht Gegensätze zum Christentum finden, wo bloß vergängliche Vorstellungs- und Einkleidungsformen

des Christentums bestritten werden; wir sollen mit red­ lichem Wahrheitssinn, nicht mit spitzfindiger, rechthaberischer Klopffechterei,

nicht mit hohlen Redensarten

und bloß

äußeren Autoritäten, sondern mit Berufung auf die allge­ meinmenschliche, aus die persönliche wie geschichtliche Er­

fahrung unsere Sache führen, bereit, im einzelnen selbst vom Gegner zu lernen, aber überzeugt, in der Hauptsache auf dem rechten Wege und mit Gottes Hilfe des Sieges gewiß zu sein.

Dieselben Waffen des Gedankens werden wir natürlich auch zu führen haben, wo es gilt, heidnisches Land, ein noch nicht

christliches Kulturvolk, etwa das der Japaner, zu erobern.') ]) Ich freue mich, dieses Urteil in der trefflichen Flugschrift des früheren Missionars O. Schmiedel, „Kultur- und Missionsbilder aus Japan" (Berlin 1891), deren Ertrag dem Allg. evang.-prot. Missions­ verein zu gute kommt, S. 30 vollkommen bestätigt zu finden.

32 Doch es wäre ein kurzsichtiges Verfahren,

wenn die

aktiven Offiziere alle bloß an der Mauer ständen, die dem Feinde zugekehrt ist, und niemand neue Rekruten einexer­ cierte und

das Desertieren verhinderte.

Wir sollen als

Verteidiger des Christentums nicht nur halten, was wir

haben, sondern nach Kräften auch, wen wir haben, und das

Heranwachsende Geschlecht dazu heranbilden, daß es uns hilft und uns dereinst ersetzt. Auch für den Religionsunterricht wie für die Predigt, für den Vortragenden wie für den Schrift­ steller haben die aufgestellten Grundsätze ihre Geltung.

Ist aber das Christentum nicht in erster Linie eine Lehre,

sondern

ein

bestimmtes

Lebensverhältnis

zu

Gott und den Menschen, von dem allerdings dann auch in der Lehre Rechenschaft zu geben ist,

so kann

man wohl

theoretische Bedenken dagegen bei andern zerstreuen,

aber

die volle Überzeugung von seinem Wert und seiner Wahr­ heit muß jeder selbst

erleben.

„So jemand

will

des

Willen thun, der mich gesandt hat, der wird inne werden,

ob diese Lehre von Gott sei, rede."

oder ob ich von mir selbst

(Joh. 7,16 f.) Und es ist sehr gut, daß die letzte

Entscheidung aus diesem allen zugänglichen Gebiete liegt, auf einem Experimente beruht, das der Schlichteste machen

kann und

der

Gebildetste machen muß.

Hat

dir

das

äußere Leben mit seinen Genüssen oder Erfolgen, das ernste Forschen und geistige Schaffen für sich allein keinen vollen,

ungetrübten Frieden gebracht, so versuche es einmal mit der thätigen Kindschaft des Gottes, der die Liebe ist, er­

lebe handelnd und duldend das innerlich nach, was Jesus

33 dir bis zum Tode, ja zum Tod am Kreuze, vorgelebt hat.

Vielleicht erfährst du dann,

daß es ein höchstes Gut des

Herzens giebt, das dir um keinen Preis mehr feil ist, einen höchsten Zweck des Lebens, dem alles, auch Schmerz, Ver­ lust, Entbehrung und Enttäuschung, dienen kann und soll. Unsre Zeit hält ja überhaupt, und mit Recht, so viel auf

das Experiment; nun so mache denn auch das unerläßliche Experiment der christlichen Religion! Aber wie ladet man die Menschen am wirksamsten zu

diesem Experiment, zum Nacherleben des inneren Lebens Jesu ein?

Durch das Bild dieses Lebens selbst und

die Lebensbilder seiner treuesten Zeugen, derer, in denen Christus in mehr als 18 Jahrhunderten wirklich Gestalt

gewonnen hat, . ist eine reichgesegnete Wirkung zu üben, und die christliche Gemeinde wird nie auf dieses Mittel

verzichten dürfen.

Aber noch wirksamer, als das gemalte,

ist das lebende Bild:

die Gemeinde selbst muß gesinnt

sein, wie Jesus Christus auch war, muß ein wohlgeglie­

derter Leib werden, durch den Christi Geist ein zielbewußtes Werk heiliger Liebe treibt.

Besser als durch das geistvollste

Wort des einzelnen wird das Christentum durch die That,

durch das zusammenhängende Lebenswerk der Gemeinde ver­ teidigt,

die sich für jede zu ihr gehörige Seele verant­

wortlich weiß?) T) Im einzelnen darzulegen, wie diese Gemeindearbeit einzu­ richten und zu treiben ist, wäre eine Aufgabe für sich. Ihr ist das schöne und bedeutsame Buch deZ Pastors !). Sülze in Dresden: „die evangelische Gemeinde" (Gotha 1891) gewidmet. Wie ist i» unserer Zeit das Christentum zu verteidige«?

3

34 Wenn aber diese lebendige Schutzmauer des Christen­ tums in unserer Zeit wirklich erstehen soll, so muß ein jeder von uns in fich und der ihm erreichbaren Umgebung

einen

doppelten Feind

bekämpfen:

träge

und

bequeme

Gleichgiltigkeit und engherzigen geistlichen Hochmut.

Jene

entzieht der lebendigen Mauer brauchbare Steine, dieser richtet wohl gar Gegenmauern und Extrazäune aus, beide

aber sorgen an ihrem Teil dafür, daß das Christentum

nur ja als Privat- und Geschmackssache, als etwas für die volle Menschlichkeit Entbehrliches erscheint, während es doch zur höchsten, den Menschen erst vollendenden, alle erziehen­

den, alle verbindenden und beglückenden Lebensmacht be­ stimmt ist.

So lange freilich der christliche Gemeindegeist

schläft, sind die kleinen frommen Kreise und Vereine in

ihrem guten Recht; wenn aber der schlafende Riese erwacht und die Kelle in die eine, das Schwert in die andere Hand

nimmt, dann sollen die Zwerge ihm nicht störend vor den Füßen herumlaufen und durch ihren Liliputanerkrieg sein mitleidiges Lächeln oder seinen gerechten Zorn erregen. Gott schenke ihm allerorten ein baldiges Erwachen und da­

mit dem Christentum seine beste Schutz- und Trutzmacht!

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