Winckelmann und Lessing : Vortrag gehalten am 9. Dezember 1940 zum 100. Winckelmannsfest der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin 9783111727844, 311172784X

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Winckelmann und Lessing : Vortrag gehalten am 9. Dezember 1940 zum 100. Winckelmannsfest der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin
 9783111727844, 311172784X

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WINCKELMANN und LESSING. Vortrag gehalten am 9. Dezember 1940 zum 100. Winckelmannsfest der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin
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WINCKELMANN und

LESSING Vortrag gehalten am 9. Dezember 1940 zum 100. Winckelmannsfest der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin von

WALTHER REHM

1941

WALTER DE G R U Y T E R & CO Berlin W 35

Archiv-Nr. 3 1 7 4 4 1 Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin \V 35, vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. T r ü b n e r • Veit & Comp. Printed in Germany

EMIL JACOBS zum Gedächtnis

Sehr rasch hatte sich die Nachricht von Winckelmanns furchtbarem, einsam-verlassenem Ende in Deutschland verbreitet. Am 8. Juni 1768 war die Mordtat in Triest geschehen; einer der ersten, der sie im nördlichen Deutschland, in Preußen, der Heimat Winckelmanns, erfuhr, war Friedrich der Große und zwar aus einer Depesche seines bevollmächtigten Ministers und Gesandten in Wien, von Rohd. Wenige Jahre zuvor, 1765, hätte der König die Möglichkeit gehabt, den berühmten Gelehrten als seinen Bibliothekar nach Berlin zu ziehen, allein die 2000 Thaler, die Winckelmann forderte, war ihm der Mann nicht wert: für einen Deutschen seien 1000 Thaler genug. Auch Lessing wollte der König als Bibliothekar nicht nehmen. Lessing erfuhr von Winckelmanns Tod aus den Zeitungen und schrieb am 5. Juli 1768 an Nicolai: »Das ist seit kurzem der zweyte Schriftsteller, dem ich mit Vergnügen ein paar Jahre von meinem Leben geschenkt hätte«. Wer war der erste Schriftsteller ? Das war Lawrence Sterne, der englische, melancholische Humorist, der Verfasser der »Empfindsamen Reise«, die ihn nach Frankreich und nach Italien geführt hatte, nach Neapel und Rom, vielleicht sogar in die Nähe Winckelmanns. Möglich, daß sich ihre Wege gekreuzt haben, und Sterne wäre dann für Winckelmann einer der vielen spleenigen Engländer mehr gewesen, die er in Rom im Lauf der

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Jahre kennen lernte. Er buchte sie als eine besondere Species von Mensch - Steinkohlenseelen, so nannte er sie, »von der Hypochondrie benebelt und Menschen, die den Frühling des Lebens nicht kennen; denn die Fröhlichkeit ist diesen unbekannt«. Diesem Engländer also, der am 18. März 1768 gestorben war, und dann dem großen deutschen Landsmann wollte Lessing ein paar Jahre seines Lebens schenken, wo er doch selbst nicht allzuviel zu verschenken hatte und die Lebensspanne Winckelmanns nur um ein, zwei Jahre überdauerte. Wie dieser starb er, als er kaum in die Fünfzig geschritten war. Mit Vergnügen sogar wollte er diese Jahre dem andern schenken. Warum das bitter-lässige Wort? das freigebige Verschenken so kostbaren Gutes? gerade an Winckelmann, den berühmten, fernen, vielleicht heimlich beneideten Gelehrten, den mitten aus dem hohen, vor den Augen ganz Europas gelebten Kunstleben in Rom ein jähes, unbegreifliches Schicksal gerissen hatte? warum gerade an ihn, als dessen künftigen Nachfolger in Rom Lessing bald nach Winckelmanns Tod die Öffentlichkeit bezeichnete ? War es Mißmut ? ein Stimmungsaugenblick ? oder das Gefühl, daß des Toten Schaffen und Erkennen wichtiger sei, als das seine? daß dessen frühabgebrochenes Leben folgenreicher sein werde, als es die 8

eigene, dunklere, so schwierige Lebensbahn werde sein können ? Denn wo findet man bei Lessing ein so naiv-stolzes, sicheres Wort oder auch nur die Möglichkeit zu einem solchen, wie dieses: »Ich schätze mich für einen der seltenen Menschen in der Welt, welche völlig zufrieden sind und nichts zu verlangen übrig haben. Suche einen andern, welcher dieses von Herzen sagen kann.« Winckelmann, der »römisch gewordene Preuße«, hatte die deutsche »Kathedralernsthaftigkeit«, von der er einmal sprach, hinter sich gelassen und sie abgelegt, als er nach Italien, ins »Land der Menschlichkeit« kam. Er empfand sein Leben nun selbst als ein Wimder und schrieb an einen seiner Freunde: »O selige Freiheit, die ich endlich Schritt vor Schritt im völligen Genuß, in Rom schmecken kann!« Denn Rom hatte er sich als den Sitz seiner stolzen Ruhe, als den Ort seiner seligen Muße fast herrscherlich erkoren. Nun schaute er aus der Mitte der Welt, aus der ewigen Stadt, etwas vornehm auf die deutschen Gelehrten, die »viri eruditissimi«, herab und erkundigte sich etwa bei Heyne, dem berühmten Göttinger Philologen, ironisch fragend, staunend: wie und ob man eigentlich an einem Ort wie Göttingen vergnügt leben könne und, wie man angebe, es zu sein. Denn er könne sich nicht vorstellen - so fährt er ein wenig boshaft fort wie dieser und ein jeder Ort, wo Akademien in Deutsch-

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land seien, Leipzig ausgenommen, und die Ernsthaftigkeit - eben jene erwähnte Kathedralernsthaftigkeit - hierzu Gelegenheit gebe. »Mich deucht, man müsse in dieser Lebensart alt werden, und vor der Zeit, man mag wollen, oder nicht.« Und Lessing wurde in ihr alt, ohne je eine lösende Milderung der Lebensbitterkeit, ein Spur von der Süßigkeit des Lebens und des freien Lebensgenusses erfahren zu haben. An ihm war das Glück vorübergegangen, weil er es nicht kühn zu halten verstand, nicht wie Winckelmann, fast schon vermessen, zu sagen gewagt hatte: »Superavi te, fortuna!« Winckelmann hatte es gewagt und gesagt, als einer, der einen gütigen Himmel und ein schönes Land, wo die ganze Natur lacht, lange Zeit genossen. Eine Heiterkeit des Herzens, die Lessing nie kannte, erfüllte ihn mehr und mehr; sie machte es möglich, daß er mitten im päpstlichen Rom, sogar im Palast seines Freundes und Gönners, des Kardinalbibliothekars Albani, bei Quattro Fontane auf dem Quirinal, hoch oben in seinem Turmzimmer mit dem weiten Blick über Rom, des Morgens in der Frühe Lieder und Choräle aus seinem alten protestantischen Gesangbuch sang, vor allem sein Lieblingslied, von Paul Gerhardt: »Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust! 10

Ich sing und mach auf Erden kund, was mir von dir bewußt. Wohlauf, mein Herze, sing und spring und habe guten Mut! Dein Gott, der Ursprung aller Ding, ist selbst und bleibt dein Gut. Hat er dich nicht von Jugend auf versorget und ernährt ? Wie manchen schweren Unglückslauf hat er zurückgekehrt!« Diesem luminosen, temperamentvollen Mann, von spätem Glück begünstigt, diesem Führer seiner selbst also wollte Lessing ein paar Jahre seines Lebens schenken, weil sie ihm unwichtig und nutzlos schienen, und aus dem Gefühl eigener, hemmender Lebensschwere, jener Kathedralernsthaftigkeit, aus einer Lebensdeutung, die ihn sagen ließ: er schätze das Studium der Altertümer gerade so viel, als es wert sei (nämlich nicht sehr viel), ein Steckenpferd mehr, die Reise des Lebens zu verkürzen. Zu verkürzen: weil es ihn mitunter langweilte und gegen Ende immer mehr, wo dann die bitteren Erfahrungen ihn von allen Seiten umdrängten und er nach dem Tod der geliebten Frau schreiben konnte: er freue sich, daß ihm viel dergleichen Erfahrungen Ii

nicht mehr übrig zu machen sein könnten; darum sei er ganz leicht. Leicht, gewiß, aber mitunter auch leer, aus Ernüchterung, aus Enttäuschung, und dann suchte sich Lessing ein anderes Steckenpferd, sich die eintönige Reise des Lebens zu verkürzen. Undenkbar dies alles bei Winckelmann. Der kam nie und nimmer auf den Gedanken, aus Langeweile oder Überdruß einem andern von seinen Lebensjahren zu verschenken. Er brauchte sie selbst, alle, um so dringlicher, als er erst so spät zu leben begonnen hatte, eigentlich erst seit 1755, seit seiner Ankunft in Rom - nach ihr pflegte er wohl später seine Jahre zu zählen - , er brauchte sie bis zum letzten Tag, für das Werk, für sein Werk, für die große Lebensaufgabe, die ihm das Geschick gestellt hatte, die keiner ihm abnehmen konnte und deren restlose Erfüllung er von sich beharrlich verlangte. Sein römisches Dasein aber, den späten Frühling seiner Jahre, genoß er als eine zweite Jugend, genauer: als die erste, späte nach der versäumten in der Altmark. Als ein Spätkluger, als ein »övpiuaWis«, wie er mit den Griechen sagte, genoß er doppelt und in vollen Zügen seine stolze Freiheit, seine Ruhe, seinen europäischen Ruhm. Denn Winckelmann besaß damals schon einen europäischen Namen, als erster wieder seit Leibniz. Seine Bücher las man in Paris und London, in Rom und Berlin und Petersburg, sie wurden sogar 12

ins - verhaßte - Französische übersetzt. Als »antiquario nobile« konnte er den Fürsten von AnhaltDessau, den Prinzen von Mecklenburg, den Erbprinzen von Braunschweig seine Freunde und Gönner nennen, und dem Papst durfte er in Gegenwart von Kardinälen und Prälaten, in Castel Gandolfo, der Sommerresidenz, aus seinem neuen Werk vorlesen. All dies empfand Winckelmann mit naiver Genugtuung und meldete es den staunenden, halb ungläubigen, halb neidischen Freunden jenseits der Alpen, in der Altmark, in langen brieflichen Bulletins, in denen er sich gewaltig herausstrich und ins beste Licht zu setzen wußte. E r duldete keinen Widerspruch, faßte solchen, wo immer er ihn antraf, als Beeinträchtigung seiner Würde und Ehre und drohte mit scharfer Gegenwehr, wo ihm Widerrede und Kritik zu Ohren oder zu Augen kamen, wo man seine Autorität nicht bedingungslos anerkannte. In Rom sprach er gleichsam »ex cathedra« und mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit. Lessing wagte es zu widersprechen.

Er

hatte

Winckelmanns literarischen Weg von Beginn an aufmerksam verfolgt und dessen Schriften studiert. 1766, zwei Jahre nach dem Erscheinen von Winckelmanns Hauptwerk, der »Geschichte der Kunst des Altertums«, legte er sein Buch vor: »Laocoon oder über die Grenzen der Malerei und 13

Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte.« Das war ein Eingriff in Winckelmanns eigenstes Gebiet, und dieser plante auch sofort eine Antwort, als er im Sommer 1766, vorerst durch Freunde in Deutschland, von dem Buch erfuhr: ein bekannter Dichter - »wie man mich versichert« - , Hofmeister (Bärenführer, sagt er wegwerfend in studentischem Jargon) bei einem Studenten in Halle, der habe über den Laocoon wider ihn geschrieben. Man möge ihm schleunigst das Buch schicken oder einen Auszug daraus machen; im Fall aber das Geschwätz zu lang sei, müsse man ihn laufen lassen. Lessing: das war damals für Winckelmann ein leerer, unbekannter Name. Zwar in Deutschland bedeutete Lessing zu dieser Zeit schon für einen bestimmten Kreis eine literarisch-kritische und moralische Macht, aber, gegen Winckelmann gehalten, war er eben doch für das geistige Europa ein noch unbekannter Mann. 1766 - da lag mit Ausnahme der »Miss Sara Sampson« noch nichts vor, weder die »Minna von Barnhelm« noch die »Hamburgische Dramaturgie« noch all das, was hernach die Bedeutung Lessings festlegte, sein Gesicht so großartig und unverkennbar bestimmte. Man kann Winckelmann keinen Vorwurf daraus machen, daß er damals in Rom, fern von Deutschland, nichts von der werdenden Leistung Lessings 14

ahnte, wo doch die Deutschen selbst es kaum empfanden; daß er nichts wußte von der Grundlegung eines neuen, wirklich deutschen Dichtungsgefüges, das unabhängig von außen, von Frankreich, erstehen sollte. Vom deutschen Parnaß, soweit er ihn noch vor seiner römischen Zeit kennen gelernt hatte, hielt Winckelmann ohnehin nicht allzuviel. Was sollte ihm Gottsched, was Weiße, Gleim, Geliert ? Und doch war er an sich voll lebendigen Verstehens für alle Dichtung als »großer Welt- und Völkergabe«, für die Griechen, für Homer und Sophokles, für Dante und Milton, für den großen Haller. Der war, außer dem andern Schweizer, Geßner, wohl der letzte, den Winckelmann von den Deutschen innerlich annahm. Aber sonst waren ihm die deutschen Amazonensänger und Grenadierdichter Nebensache. Daß dieser Lessing ein Dichter sei, konnte ihn nicht mit Respekt erfüllen. Spöttisch meinte er, als Dichter sei diesem Lessing vielleicht mit Sonetten gedient. Trotzdem: Winckelmann will dem Unbekannten antworten. Schon darum, weil dieser behauptet, der Laocoon sei aus späterer Zeit, als er selbst es in der Kunstgeschichte gesagt hatte. Er war doch begierig, die Schrift zu sehen und zu lesen. Kurz danach, noch vor der Kenntnis des Buches selbst, schreibt Winckelmann in einem Brief: »Italien aber hat derselbe nur im Traume, wie ich Griechenland 15

und Elis, gesehen, wie ich von Personen weiß, die ihn kennen, und dieses muß ihm vorgerücket werden.« Ein bedeutungsschweres, unabsichtlich tiefdringendes Wort: im Traum nur habe Lessing Italien gesehen, so wie er, Winckelmann, das Wunschziel seines Lebens, Griechenland, Elis und Olympia, wo er ausgraben wollte, nur im Traum gesehen habe. Man weiß von der immer wieder aufbrechenden Sehnsucht des Archäologen:

»Ich wünschte die

Ruinen von Athen gesehen zu haben, allein man muß seinen Wünschen ein Ziel setzen.« Auch von Lessing wird solcher Wunsch berichtet: es sei ein Lieblingsgedanke von ihm gewesen, Griechenland und die klassischen Gegenden zu sehen. Allein hier ist die Frage berechtigt: wirklich? war es sein tiefer, innerlicher Wunsch? Noch 1770, also wohlgemerkt bereits angesichts der Leistung Winckelmanns, dieses geschlossenen, überschaubaren und überzeugenden Lebenswerkes, schreibt Lessing in einem Brief: er wünsche manchmal, die armseelige Karriere der Altertümer schon geendigt zu haben. E r hielt doch das Studium der Altertümer nur für so viel wert, als es sei, ein Steckenpferd mehr, die Reise des Lebens zu verkürzen. Auch eine Reise nach Griechenland, wenn je er sie emstlich geplant hätte, wäre doch nur Reiz für Lessing gewesen, nur Verkürzung, aber nicht In16

halt des Lebens. Sie wäre nie gewachsen aus der gesammelten gläubigen Sehnsucht des Herzens, das weiß: dort und nur dort warte das Eigentliche, dort erst werde der letzte Schleier von den Augen fallen. Merkwürdig ist bei Winckelmann dieser Vergleich. Er stellt sich zuerst mit jenem Lessing auf eine Ebene: so wie er Griechenland nur im Traum gesehen habe, so Lessing nur Italien. Winckelmann meint hier, wenn er vom Traum spricht, zunächst etwas Minderes, Verhüllendes - »so wie der Traum weichet, wenn die Wahrheit erscheint«, heißt es einmal bei ihm. Allein, man muß tiefer fassen, schwerer nehmen: Traum bei beiden - gewiß, doch jeweils eine abgrundtief verschiedene Art des Träumens. Bei Winckelmann ist es ein Traum, der die innere Schauenskraft erst weckt, sie steigert. Es ist ein Traum, in dem der Mensch gleichsam hellsichtig und allmächtig, in dem er Dichter wird. Er sieht mehr, schaut tiefer als sonst. Im Traum gehorchen ihm die geliebten, erhofften, ersehnten Dinge, sie hören ihn, sie erschließen sich ihm, und umgekehrt erschließt sich der Träumende ihnen. Solcher Traum stößt also im letzten aus der erregten schöpferischen Phantasie vor zum Wesen des Erträumten. Der Träumende sieht selbst die Götter und zieht sie aus dem Traumreich hinüber ins wirkliche Leben, das heißt ins haltende, liebende Wort. Es ist

ein Traum, der nicht einen Schleier über die Kunstdinge breitet, sondern diesen forthebt, der die Divination überhaupt erst gestattet, sie vorbereitet. Nur so konnte es Winckelmann nieinen, nur so hatte er geträumt, auch wenn er glaubte, der Traum habe ihm die Dinge, wie durch einen Schleier verhüllt, gewiesen. Zwar hatte er Griechenland und Elis nie gesehen und betreten, so wenig wie Hölderlin »Gehöret hab' ich von Elis und Olympia« - und hatte es doch geschaut, mit inneren Augen, weil er ganz von dieser Landschaft erfüllt und inwendig voll griechischer Gestalt war. Ihm eignete die Kraft, vom Abbild zum Urbild zu dringen, durch die Hülle zum Kern. Denn er besaß die so seltene Gnade des erlösenden Blicks und konnte ihn auf andere übertragen. Und Lessing? Sein Traum läßt sich nicht vergleichen mit der Art des göttlich-divinatorischen Träumens des großen Enthusiasten. Denn diesem war die Karriere der Altertümer nicht so armseelig, daß er wünschte, sie bald geendet zu haben; sie war ihm die schicksalhafte Lebensaufgabe an sich. Für ihn bedeuteten die Altertümer kein Steckenpferd, sich die Reise des Lebens zu verkürzen, sondern Lebensinhalt, wie sonst nichts, innerster Beruf, Beruf, wie ihn der ewig berufslose Clemens Brentano einmal faßte: als direkten Zug von Gnade, Beruf, wie ihn der Humanist Lessing so eben nie in seinem 18

nach allen Seiten hin ausstrahlenden, aber auch sich spaltenden Werk sollte erfahren dürfen. Lessing - er war Kritiker, Philolog und Dichter zugleich, und doch weder das eine noch das andere ganz und bis zum letzten. Zweifellos war er, verglichen mit Winckelmann, umfassender in der Weite des Wissens, in der allgemeinen Erudition, in den verschiedenen Möglichkeiten der geistigen Betätigung, aber er besaß nicht jenen durchschlagenden, wuchtigen und systematischen Ansatz der gesammelten Kraft an einem Punkt, aus dem Glauben heraus, für immer und dauernd. Er hatte nicht das beglückende, über manche Brache hinweg helfende Gefühl einer Sendung, einer lebennährenden Aufgabe, die nur von ihm zu lösen war. Auch die Dichtung, selbst die Kritik, sein ureigenstes Gebiet, von andern nicht zu reden, sind nur Möglichkeiten eines Sichselbstbeweisens, eines allerdings oft virtuosen, unerreichten Könnens, eines Auchkönnens, eines Besserkönnens mitunter, in den mannigfachsten Gebieten des geistigen Lebens, aber nicht des Müssens, so wie Winckelmann mußte, unter Hintansetzung aller Bedenken, vielleicht sogar auf Kosten der eigenen, letzten Ehrlichkeit, in der unglücklichen Frage des Konfessionswechsels, wo er sich dann rechtfertigte: man müsse die gemeine Bahn verlassen, sich zu erheben.

Das fordernde, unüberhörbare Muß ist bei Lessing kaum zu spüren, jenes Muß, das über und hinter dem Menschen steht, ihn treibt, ihn besitzt, ihn mit höchster Spannung erfüllt, aber doch auch wieder mit kraftvoller Gewißheit und einer heitern Ruhe. Warum diese Unrast, dieser stetige, fast beängstigende Interessenwechsel, dieses ewige Suchen bei Lessing? Ist es wirklich nur faustischer, sich nie genugtuender Drang, aus einem Überschwang an Kraft? Ist es nicht vielmehr auch Schwäche, geheimste Unsicherheit? Wenn Lessing träumte, wie Winckelmann es meinte, so war es eine andere Art des Träumens: nicht helleres Sehen, aufmerksameres Erfassen eines wirklich geliebten Gegenstandes, eines »Kunstkörpers«, an dem jede Verletzimg als Verletzung des eigenen Körperempfindens, der eigenen gefühlten menschlichen Würde genommen wurde, sondern dann war es ein Traum, der vom Wirklichen entfernte, den Schleier nicht hob, vielmehr ihn eigentlich erst senkte, unsicher tasten ließ, gerade dort, wo die Wahrheit leidenschaftlich begehrt wurde. Lessing sah nicht umfassend, nicht liebend genug. Er gehörte zu jenen Zahlreichen im deutschen Volk, die, nach Dehios treffendem Wort, seit der Reformation, seit dem Buchdruck sich durch zu vieles Lesen die Augen verdorben hatten. Den kritisch scharfen, den scheidenden, auflösenden Blick besaß 20

Lessing wie keiner und vergaß darüber so oft das Ganze des Werks, das Winckelmann als Mystiker, als Eingeweihter durch Divination besaß. Lessing zum Beispiel sieht am Laocoon nur den Mund, Winckelmann sieht die ganze Gestalt in ihrem Schmerzzusammenhang. Da war dann nichts mehr zu scheiden, da waren keine noch so fein erdachten Regeln zu begründen, da mußte man sehen. Lessing wollte aber gar nicht sehen. Im 14. Antiquarischen Brief steht das erstaunliche, sehr merkwürdige Wort: »Ich, ich bin nicht in Italien gewesen; ich habe den Fechter nicht selbst gesehen! - Was tut das! Was kömmt hier auf das selbst Sehen an? Ich spreche ja nicht von der Kunst.« Das waren für einen Winckelmann unfaßbare Worte - fem, so fern, aus einer andern, graueren, unsinnlichen Welt. Gerade darauf kam es ihm ja an: auf das Selbstsehen

und auf die Kunst,

nur auf sie. Nur von ihr, vom »Wesentlichen der Kunst« sprach Winckelmann, und dazu brauchte und forderte er unablässig das Selbstsehen. Lessing glaubte es nicht nötig zu haben, weil ihm im Reich der Kunst überhaupt nie der Schleier von den Augen genommen worden war, weil er nicht liebte. E r nahm die Sache nur als Kurzweil, nie und nimmer als ernstesten und dauernden Selbstzweck. Winckelmann urteile bloß nach der Kunst, wirft 21

Lessing einmal dem Archäologen vor. Nach was denn sonst ? - hätte dieser fragen können und müssen. Nur und ausschließlich und immer nach der Kunst. Weil man Augen habe, wie ein anderer, heißt es gelegentlich bei Winckelmann, so wolle man so gut wie ein anderer sehen können. Lessing glaubte mitunter sogar zu sehen, wie und was Winckelmann sah. Aber er sah ja gar nicht. Mehr noch - er meinte nicht sehen, nicht lernen, nicht umlernen zu müssen, als er dann später, 1 7 7 5 , nach Italien und nach Rom kam, nicht wie Winckelmann oder Heinse oder Goethe bis in den letzten Nerv erbebend, sondern, überdies in einer gewissen persönlichen Gedrücktheit, kühl, Abstand haltend, zwar für vieles, zu vieles interessiert, doch wesentlich als philologischer Büchermensch und Enzyklopädist, der die Bücherwelt, nicht die Kunstwelt suchte. E s war die Reise eines Bibliothekars, eines Gelehrten, der andere Gelehrte besuchte, seltene Bücher und Handschriften ansah und sich Exzerpte machte. Beim Kardinal Albani, dem Freund und Herrn Winckelmanns, war Lessing wiederholt zur Tafel geladen, er durfte sieh die berühmte Villa Albani anschauen, draußen vor Porta Salaria, mit einer der bedeutendsten Privatsammlungen in Europa. Und dann vermerkt er sich ins Tagebuch - die Wohnungen Winckelmanns in Rom, seine Erben, seine 22

Einnahmen; 100 Scudi vom Kardinal Stoppani, ioo vom Kardinal Albani, 120 als scrittore greco der Vaticana und 300 vom Papst als Präsident der Altertümer und - daß ihm Friedrich der Große seinerzeit nicht mehr als 1000 Thaler habe geben wollen. Ein etwas magerer Ertrag, selbst wenn man in Rechnung stellt, daß Lessing sich vorübergehend mit dem Gedanken trug, Winckelmanns Kunstgeschichte neu herauszugeben und wohl auch mit einer biographischen Einleitung zu begleiten. Aber eigentlich »gesehen« hat Lessing in Rom nichts, denn er spricht ja nicht »bloß« von der Kunst, sondern auch noch von vielen andern Dingen. Hat er den Laocoon im Belvedere dann auch wirklich gesucht, ein unstillbares Verlangen empfunden, vor ihn hinzutreten und zu schauen? In dem Tagebuch, in den Briefen findet sich keine Spur einer solchen Begegnung (ein sehr viel späterer Bericht von anderer Seite trägt zu deutlich den Stempel des Gestellten und Erfundenen, als daß man ihm glauben könnte), denn dies war ja lange her, es lag hinter ihm, das Buch über den Laocoon war nicht einmal abgeschlossen, und dem ersten sollte auch nie der zweite, abschließende Teil folgen. Nichts von dem beglückenden Empfinden eines geheimen Wieder-Sehens, wie es Goethe hernach erfuhr; es sei ihm, so schrieb er an die Freundin, 23

nicht als ob er die Sachen sähe, sondern als ob er sie wiedersähe. Nichts von der Gewißheit Goethes: es öffne sich ihm alles, weil er in der Demut wandle. Nichts vom Gefühl der Wiedergeburt oder vom Glück des weiten, freien, aufatmenden Schauens, nichts und nie etwas vom Lynkeusglück: »Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt«. Wir lenken zurück. Endlich, im August 1766, erhält Winckelmann das Buch Lessings. Da ist er doch zunächst überrascht durch den ersten Eindruck. Das war ein anderer Ton als sonst; hier schien, trotz allem, ein Kenner zu sprechen, vielleicht sogar ein Ebenbürtiger. Er glaubt, seine vorschnell geäußerte, ungünstige Meinung von diesem Lessing zurücknehmen zu müssen, und entschuldigt sich Mitte August bei den Bekannten: er habe nichts von diesem gelehrten Mann vorher gewußt oder gelesen. Vor seiner Abreise aus Deutschland habe er andere Dinge, alte fränkische Chroniken, Leben der Heiligen und dergleichen, im Kopf gehabt. »Lessing, von dem ich leider nichts gesehen hatte, schreibt, wie man geschrieben zu haben wünschen möchte... Es verdienet derselbe also, wo man sich vertheidigen kann, eine würdige Antwort. Wie es rühmlich ist, von rühmlichen Leuten gelobet zu werden - und Lessing hatte dies, zwar mit Vorbehalten, getan kann es auch rühmlich werden, 24

ihrer Beurtheilung würdig geachtet zu seyn.« E r werde, wo er könne, demselben auf die würdigste Art antworten. Aber hatte denn wirklich Lessing geschrieben, wie Winckelmann nur je geschrieben zu haben wünschen konnte ? Hier war doch alles entgegengesetzt in der Haltung, im Temperament der Betrachtung und Wortführung, in der Weise, an ein Werk der Kunst überhaupt heranzutreten, es zum Objekt der Auslegung zu machen. Tatsächlich greift die kritische Ablehnung, nach der ersten verwunderten Aufwallung, sehr rasch Platz. Sie mußte Platz greifen, wenn Winckelmann nicht seiner eigenen Art hätte untreu werden sollen. In diesem Buch war alles so anders, als in dem seinigen; das war eine ganz verschiedene Art des Fassens und Sehens, da war überhaupt kein Sehen, wie Winckelmann es verstand, keine »Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst«, von der Winckelmann erst wenige Jahre zuvor, 1763, in einer kleinen Schrift einem wohlgeborenen jungen Mann leidenschaftlich beschwörenden Unterricht gegeben hatte, wie ihn Lessing nie geben wollte oder konnte, sokratischen Unterricht, der den jungen, noch bildungsfähigen Menschen prägte, indem er ihn dem höchsten Schönen gegenüberzustellen suchte. E s war Unterricht aus Enthusiasmus, aus pädagogischem Charisma. 25

Da steht das Wort zu lesen: »Wo die Empfindung des Schönen nicht ist, da predigt man Blinden die Kenntnis des Schönen, wie die Musik einem nicht musikalischen Gehör.« Darum erübrigte sich für Winckelmann die ursprünglich geplante »würdige Antwort« in der Vorrede zu seinem neuen, eben abgeschlossenen Werk, den »Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Altertums«, das dann 1767 erschien. Er kehrte zurück zu jenem Standpunkt, den er im Juni 1766, noch vor Kenntnis des Buches, eingenommen hatte, als ihm sein Verleger eine Entgegnung auf Lessings Schrift im Vorwort zur neuen Arbeit nahelegte. »Ich weiß nicht, wie E. H. sich einbilden können, daß ich in dem Werke selbst eine Widerlegung und in einer Untersuchimg des ehrwürdigen Alterthums und der erhabenen Kunst, die ihm ein Geheimnis bleiben muß, einflicken wolle.« War es damals hochfahrend, noch vor der Lektüre des Buches so zu sprechen, jetzt, nachträglich schien es gestattet. Und doch hat Winckelmann entgegnet. Bei genauerem Hinschauen und Hinhören findet man in dieser Vorrede leicht die Stellen, die gegen Lessing gerichtet sind. Es ist nicht nur jene, mit Hinblick auf die Versehen, die im »Laocoon« genau anzumerken der Philologe Lessing sich nicht hatte versagen können: die Gelehrsamkeit solle in Abhandlungen über die Kunst der geringste Teil sein, 26

»wie denn dieselbe, wo sie nichts wesentliches lehret, vor nichts zu achten ist, und alsdenn wie bey seichten Rednern, oder bey schlechten Saytenschlägem (um mit den Alten zu reden) das Husten zu seyn pfleget, nemlich ein Zeichen des Mangels«. Sondern vor allem diese Stelle: »Ich sehe die Werke der Kunst an, nicht als jemand, der zuerst das Meer sähe und sagte, es wäre artig anzusehen: die Athaumastie oder die Nichtverwunderung, die vom Strabo angepriesen wird, weil sie die Apathie hervorbringet, schätze ich in der Moral, aber nicht in der Kunst, weil hier die Gleichgültigkeit schädlich ist.« Das war ein deutlicher Hieb, der zur Mitte vorstieß; er zielte auf die Unfähigkeit Lessings

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Winckelmann muß sie sofort gewittert haben - , sich erschüttern zu lassen. Und darum war jedes weitere Wort verloren, wo der kritisch bewundernde, aber auch auflösende Zweifel auf Schritt und Tritt herrschte, wo das Elementare fehlte, die Voraussetzung von edlem: das Selbstsehen und das Sehenwollen, die dienende Demut vor dem zu erkennenden Gegenstand, die so reichlich vergolten wurde, die Ehrfurcht vor der Kunst an sich und dem Künstler im besondern, die verehrende Kraft. Schön und scharfsinnig sei sie geschrieben, diese Schrift des Herrn Lessing, so heißt es in einem Brief aus dem Herbst 1766, aber über seine Zweifel 27

und Entdeckungen habe er viel Unterricht nötig. »Er komme nach Rom, um auf dem Ort mit ihm zu sprechen.« Tatsächlich war das die einzig mögliche Antwort. Tatsächlich - es mußte ihm vorgerückt werden, daß er Italien nur im Traum gesehen hatte. E r komme nach Rom, in die »hohe Schule des Lebens«, aber willig, mit aufgeschlossenen, aufnahmebereiten Augen, ohne Brille, ohne den Plinius und den Pausanias, ohne das ganze gelehrte Gepäck; er schaue, er lasse sich im Schauen, im Empfinden, im Erstaunen unterrichten. Wenige Wochen wohl nach der ersten Lesung des »Laocoon«, nach jenem Ausspruch: er komme nach Rom, schreibt Winckelmann im »Trattato preliminare« zu seinem letzten Werk, den »Monumenti antichi inediti«, bei Gelegenheit der umstrittenen Datierung des Laocoon: Lessing sei zwar ein »scrittore giudizioso ed erudito«, aber er irre. Das ist die einzige, sehr höfliche, sehr kühle öffentliche E r wähnung, die Winckelmann dem andern hat zuteil werden lassen. In gleichzeitigen Briefen fiel das Urteil wesentlich härter und schärfer aus. Im November 1766 heißt es - Lessing hat das später in der Handschrift gelesen und eine dann doch erfolgte Unterdrückung der Stelle nicht gewünscht - : »Dieser Mensch hat so wenig Kenntniß, da ihn keine Antwort bedeuten würde, und es würde leichter seyn, einen gesunden Verstand aus der Ucker28

mark zu überführen als einen Universitäts-Witz, welcher mit Paradoxen sich hervorthun will. Also sey ihm die Antwort geschenkt. Dieses aber bleibet unter uns!« Es ist nicht genau zu fassen, auf was Winckelmann hier zielt. Im Kern meint er wohl die tiefere unheilbare Kunstblindheit, das Voreingenommensein des vorwiegend kritischen Menschen, der auf einem bestimmten Gebiet eine Gastrolle gibt und hier nun von dem zurückgewiesen wird, der in diesem Raum seine Heimat hat, in ihm sich erfüllt und seine Lebensaufgabe sieht. Lessing steht in alter, von der Antike und Renaissance sich herleitender Überlieferung mit der Überheblichkeit des geistigen Menschen gegenüber dem bildenden Künstler. Er faßt ihn als Banausos und achtet ihn gering. Das Werk zwar ist säkular, groß, verehrungswürdig, aber der Werker selbst ist nur ein Hand-Werker und darum nicht eigentlich teilhaft der hohen geistigen Sphäre, in der der Dichter und der Philosoph angesiedelt sind. Vor diesen empfindet Lessing eine große, wenn auch nicht unbegrenzte Ehrfurcht — man denke an seinen Aristoteles gewidmeten Autoritätsglauben doch selten, eigentlich nie vor dem Künstler, dem Maler, dem Bildhauer. Der Theoretiker hat stets recht gegenüber dem Praktiker, das Denken steht über dem Sehen, dem 89

Selbstsehen - »Was kömmt hier auf das Selbstsehen an!« Das bedeutet den unbedingten Vorrang des Gedanklich-Abstrakten vor dem Künstlerisch-Konkreten. Winckelmann hätte diese Rangordnung niemals anerkennen können. Ihm war die Kunst, die wahre Empfindung des Schönen das einzig Wesentliche und ebenso die Hingabe an das Werk, an den Künstler und seine Inspiration, das stets erneute Anschauen des Kunstdinges, das Überwinden jeglichen behindernden Vorurteils. »Man stelle sich allezeit vor, viel zu finden, damit man viel suche, um etwas zu erblicken.« So hieß es am Ende der »Geschichte der Kunst des Altertums«. Freilich mit inneren und mit äußeren Augen mußte man erblicken, schauen können, aus der Idee des anzuschauenden Kunstwerkes heraus, das heißt, aus der schöpferischen Mitte des Werkers. Dann teilte sich die seltene Gabe mit, wie sie Winckelmann sein Eigen nennen durfte: alles im Ganzen zu sehen, überall, wie es später Friedrich Schlegel von dem »heiligen Winckelmann« sagte, aus der »Ahndung des Ganzen« auch zum Ganzen vorzudringen. Aus jedem Teil, aus jedem Bruchstück, etwa aus dem mächtigen Torso des Hercules im Belvedere, war dann die ganze Gestalt wieder aufzubauen; sie war auch dort noch zu sehen, wo sie verletzt, zerstört war. Was brauchte Winckelmann das Haupt 30

des Hercules, das doch dem Ganzen - so meint man - erst die zusammenfassende geistige Gewalt und Würde verleiht ? Winckelmann schaut es vom Rücken aus, vom Künstler selbst her, schöpferischergänzend, divinatorisch. »Scheinet es unbegreiflich, außer dem Kopfe in einem anderen Theile [des Körpers] eine denkende Kraft zu legen; so lernet hier, wie die Hand eines schöpferischen Meisters die Materie geistig zu machen vermögend ist. Mich deucht, es bilde mir der Rücken, welcher durch hohe Betrachtungen gekrümmet scheinet, ein Haupt, welches mit einer frohen Erinnerung seiner erstaunenden Thaten beschäftiget ist; und indem sich so ein Haupt voll von Majestät und Weisheit vor meinen Augen erhebet, so fangen sich an in meinen Gedanken die übrigen mangelhaften Glieder zu bilden: es sammelt sich ein Ausfluß aus dem Gegenwärtigen und wirket gleichsam eine plötzliche Ergänzung.« Das ist es: plötzliche Ergänzung, anders: plötzliche Erscheinung des Ganzen, Divination, Theophanie seltenster Art, auch etwa angesichts des leicht dahinschreitenden Apollo: »Ich war im ersten Augenblick gleichsam weggeriicket, und in den heiligen Hain versetzet und glaubte, den Gott selber zu sehen, wie er den Sterblichen erschienen.« Es ist die beschwörende Gewalt des Traums, der schaffenden, nachschaffenden Phantasie. Winckelmann 31

ist fast selbst erschrocken über die Macht des erhellenden Blicks: »Eine mit Bestürzung vermischte Bewunderung wird dich außer dich setzen«. Oder: »Ich erschrack, ich blieb wie von Stein, ich wurde außer mir gesetzet, da mir eine fast noch höhere Schönheit zu Gesichte kam.« Erschrack - außer mich gesetzet - entrücket - verzaubert: immer ist es eine Erschütterung bis zum Kern des Wesens, nicht Athaumastie, nicht Apatheia, sondern Sympatheia, die nie ermüdende, nie nachlassende Fähigkeit zur Empfindung des Schönen. Dem kritischen Gelehrten, dem Büchermenschen Lessing war sie, zumindest auf dem Gebiet der Kunst, nicht vorgegeben. Lessing war nie überwältigt, verzaubert, verzückt, außer sich gesetzt und hätte nie öffentlich je davon sprechen können oder wollen. Schon darum nicht, weil er nie in einer unmittelbaren Beziehung zum Kunstwerk stand, sondern stets nur in einer mittelbaren, die über Bücher, über Autoren, über Regeln ging, aber nicht übers Schauen. Auch dies ist noch zu erwägen: Lessing sah, wie die ganze Renaissance- und Aufklärungsästhetik, das Kunstwerk wesentlich nur von der Wirkung auf den Betrachter, Winckelmann aber empfand zuerst vom Künstler, vom Kunstwerk selbst her, das groß und still, selbstgenugsam in sich ruht, so selbstgenugsam wie die seeligen Götter es waren. 32

Zwar das Kunstwerk, irgendeine Plastik, besitzt die heilende Kraft der Verwandlung im hingegebenen Betrachter, es vermag in dessen eigenen Lebenszusammenhang tief einzugreifen -

»Denn da ist

keine Stelle, die dich nicht ansieht. Du mußt dein Leben ändern« (Rilke)

aber das alles wirkt un-

absichtlich und wird nur dem zuteil, der sich dem Werk fromm naht, in Andacht und Anbetung gleichsam, vielleicht dem priesterlichen Interpreten, aber nie und nimmer dem Kunstrichter, der nach der Erfüllung irgendeiner Norm oder Regel Ausschau hält. Lessing denkt her von Aristoteles, vom abstrakten Begriff einer Kunst, kritisch bewußt, in kühler, auskühlender Überlegung. Winckelmann fühlt von Plato her und von Plotin, von der Idee der höchsten Schönheit, die in Gott selbst beschlossen und erlöst ist. Er kommt vom »Phaidros« und empfiehlt diesen platonischen Dialog jungen, prägsamen Menschen. Sie sollen ihn lesen, und zwar öfters und mit großer Ruhe. Winckelmann empfindet durchaus religiös-ergriffen und sieht sich in einer absoluten, bedingungslosen Hingabe, in Liebe. Novalis, der wußte, daß die Antiken nicht einen, wie Lessing meinte, sondern alle Sinne berühren, sagt, alle absolute Empfindung sei religiös. In diesem Sinn ist Winckelmann religiös, gebunden. Lessing aber hat diese Empfindung, damals wenigstens, noch nijht

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gekannt, vielleicht gegen Ende seines Lebens, da er immer unabweislicher dem Religiösen gegenübertrat und nun - wie bezeichnend für ihn - alles eigenen Willens mit einem Mal ledig zu werden trachtete. So sehr Lessing den bloßen »Altertumskrämern« überlegen war, selbst auf seinen ganz zufälligen, unvorhergesehenen, aber oft meisterlich-kritischen Spaziergängen in fremde Gebiete, auch in das der bildenden, der antiken Kunst - dem großen Andern, der an der Quelle saß, dem eigentlichen Meister, mußte er dann doch weichen. Aber merkwürdig: so ging es ihm oft. Er mußte, ausgenommen das Feld der Kritik, fast überall weichen, auch im Feld der Philologie oder der Theologie, und schließlich auch im Feld der Dichtung. Da mußte er vor den andern zurücktreten, den Nurdichtern, den dämonisch Getriebenen, von absoluter Empfindung Besessenen, den Unbedingten, die nur eines, aber dies ganz wollten, weil sie den inneren Ruf hörten, wie etwa Klopstock oder die ganze junge Genie-Generation. Zu ihnen, den Einseitigen, gehört Lessing nicht, sondern zu den Vielseitigen und damit sich selbst gefährlich Schwächenden, zu den allerdings ganz großen »Fragmentisten«. Gewiß: das einmal Gepackte nimmt er auf, unter Umständen sogar leidenschaftlich, aber er führt es nur bis zu einem gewissen Punkt, dann erlahmt die Anteilnahme 34

ebenso rasch, wie sie erwacht ist. Der »Laocoon« bleibt unvollendet. Unvorstellbar, die »Geschichte der Kunst des Altertums« oder, aus anderm Gebiet, der »Messias« von Klopstock wären willentlich, zu Lebzeiten ihrer Verfasser, unfertig liegen geblieben. Beide, Klopstock und Winckelmann, waren in ihrer Art getragen von einer gleichsam heiligen Sendung, einer Aufgabe, der sie sich nicht entziehen konnten oder wollten. Sie füllte ihr ganzes gespanntes Leben aus, nicht nur vorübergehend ein paar Jahre ihres Daseins. Lessing kennt dies nicht. Schnell nimmt ihn anderes wieder gefangen, um ebenso schnell anderem wieder zu weichen. Lessing ist nie ein wirklich »ergriffener«, vom unantastbar Objektiven ergriffener, festgehaltener Mensch, wie Winckelmann oder Klopstock oder wie, aus der nachfolgenden Genie-Gemeinschaft, Winckelmanns genialer Schüler Herder. Ungerecht sei diese Nebeneinanderfügung der beiden - so könnte der Einwand lauten. Man müsse die beiden dort vergleichen und nebeneinander rücken, wo ihr eigentliches Feld ist, wo sie beide absolut mit ihrer Leistung und ihrem Werk zum Ganzen der Geschichte stehen. Aber abgesehen davon, daß ein solcher Vergleich ein allzu billiges Unternehmen wäre und zudem rasch auf breit ausgetretene und oft begangene

Bahnen führen würde: bei Winckelmann ist dieses eigentliche Feld schnell und unbedenklich gefunden, doch nicht bei Lessing. Es ist schwer festzustellen, wo dessen eigentliches Feld ist, wo er ganz er selbst erscheint, ob in den »Literaturbriefen«, der »Dramaturgie«, im »Laocoon« oder in den großen Dramen. Vor allem ist es, angesichts einer solch geschlossenen und eindeutigen Gestalt wie Winckelmann gegenüber, schwer zu sagen, wo die innere Einheit dieses seltsamen Mannes liegt, der immer wieder anzieht und immer wieder entgleitet, der offenbar nirgends festgelegt sein will, aber auch darum nirgends ganz festgelegt, ganz verwurzelt ist. Die Religion am Ende - man ahnt die Möglichkeiten dieses suchenden, ruhelos getriebenen Lebens, einen Weg zum »Muß«, zur inneren Entscheidung. Der Tod tritt dazwischen und verschließt den Mund, ehe das Letzte, Allerletzte gesagt ist. Hatte Lessing ein klar umrissenes Testament? so wie in seiner Art Winckelmann aus einem lebenslang bewahrten Glauben heraus ein solches Vermächtnis hinterließ, ein Testament, das sich auf das Ganze des gelebten Lebens und des geschaffenen Werks bezog und nicht nur auf einen bestimmten Abschnitt und Ausschnitt desselben. Am ehesten, so möchte man meinen, ist Lessing ganz er selbst als Kritiker. Doch aus der Kritik 36

allein, mag sie noch so zwingend, so scharf, so fördernd und erhellend sein, nährt sich nie die dauernde Leistung. Dazu bedarf es eines größeren Raumes mit tieferen Möglichkeiten. Also ist es der Dichter Lessing? Hier wäre die eine Stärke neben der andern, das eine Absolute neben dem andern, Müssen neben Müssen, nicht nur Können neben Müssen. Doch auch hier liegt der Nachdruck bei Lessing so oft auf dem Können, auf dem Bessermachenkönnen, dem Exempelaufstellenwollen. Zudem wehrte er selbst ab, wenn man ihn einen Dichter heißen wollte, nicht nur aus falscher Bescheidenheit, wie man oft hört - Lessing bedurfte dieser untergeordneten Eigenschaft nicht. E r tut es in jener bekannten Stelle der

»Hamburgischen

Dramaturgie«, wo er dann sagt: er fühle die lebendige Quelle nicht in sich, die durch eigene Kraft sich emporarbeite, durch eigene Kraft in so reichen, frischen, so reinen Strahlen aufschieße; er müsse alles durch Druckwerk und Röhren aus sich herauf pressen. Das ist ein bitter ernst zu nehmendes Bekenntnis, nichts daran ist hinwegzudeuteln. Winckelmann dagegen fordert in naiver Selbstverständlichkeit unbedenklich, j a gebieterisch den ganzen Ruhm, die volle Achtung vor seiner einmaligen und als solcher empfundenen Leistung von seiner Zeit und von sich selbst. 37

Es ist also schwer, fast unmöglich - und dies wäre bereits wieder eine Aussage über die beiden großen, so ungleichen Männer - , den richtigen Standpunkt zum Vergleich zu finden, jeweils aus der Mitte ihrer Sach- und Lebensgebiete heraus. Wo es auf die Stärke der absoluten, verpflichtenden, festlegenden und dauernden Lebens- und Arbeitsempfindung ankommt, wird sich immer die Waage zugunsten des einen, Einseitigen, eben Winckelmanns, senken müssen. Noch ein anderes kommt hinzu. Von Anfang an, aus dem Persönlichen heraus, lehnt es Winckelmann ab, Lessing zu antworten, er erkennt und spürt das Umsonst und das Vergebens. Und Lessing war nicht der Mann, sich ohne weiteres belehren zu lassen, auch nicht von Winckelmann, den Goethe später den »meisterhaft Belehrenden« nannte, und erst recht nicht dann, wenn er, wie am Ende des »Laocoon«, vorgab, sich von ihm belehren lassen zu wollen. Vielleicht wäre es denkbar gewesen in einer persönlichen Begegnung, in Rom selbst, wenn Lessing dem wärmenden Feuer des andern nahe gekommen wäre. Im Bereich des Möglichen lag eine solche Begegnung durchaus. Man ist geneigt, sich diese Möglichkeit auszumalen, so wie es schon mancher Zeitgenosse der beiden getan hat: Lessing in Rom, neben Winckelmann, von diesem geführt, vielleicht wäre er dann langsam, zögernd und verwundert in 38

Winckelmanns eigenstes Reich, das der »marmornen Schönheiten«, eingetreten, und er hätte das Sehen, das Empfinden, das »Gewahrwerden«, das Erstaunen zu lernen begonnen, wenn je es ihm überhaupt gegeben war, er hätte gespürt wie Winckelmann, daß man in diesem Reich gewisser und mit beständigem Ideen gehe als in irgendeinem andern. Es war eine Möglichkeit, aber nicht eine Wirklichkeit, die sich ereignete, so wenig wie die andere, erregendere, weil aussichtsreichere: Winckelmann, wie er ursprünglich geplant, im Mai 1768, nicht in Wien auf der plötzlich angetretenen Rückreise, die ihn in den Tod führte, sondern auf dem Weg in die Heimat, unterwegs in Leipzig, im Haus des alten Freundes Oeser und neben ihnen stumm lauschend, begierig zu hören, zu lernen, ein junger Mann, ein Schüler Oesers wie einst Winckelmann, ein Studiosus juris aus Frankfurt, Wolfgang Goethe. — Winckelmann und Lessing kamen nicht zusammen, jedenfalls nicht persönlich, nicht bewußt und gewollt. Der Abstand zwischen ihnen war unüberwindbar, die Grenzen schienen unüberschreitbax. Dies aber ist nicht die Ausnahme, sondern nur die Bestätigung eines lastenden Gesetzes in der deutschen Geistesgeschichte. Sie kennt seit je und stets das Neben- oder gar das Gegeneinander der bedeutenden Männer, selten oder nie ihr Miteinander: von Wolfram von Eschenbach und Gottfried von 39

Straßburg bis hin zu Kleist und Goethe, Hebbel und Grillparzer, George und Rilke. Erst von diesem harten und unerbittlichen Gesetz her läßt sich die Größe des Schicksalgeschenkes ermessen, daß die beiden andern, Goethe und Schiller, sich begegnen durften, wo alle übrigen sich nicht gefunden haben. Es erscheint als das Selbstverständliche, ihrer beider Namen zusammen zu nennen, als ob es nie anders denkbar gewesen sei. Allein ihre Begegnung, kaum noch zu erhoffen, war die seltene Ausnahme, da alles schon darauf zielte, auch zwischen diesen beiden Deutschen unüberwindliche Schranken aufzurichten. Man denke an Goethes schneidend scharfe Ablehnung Schillers nach der Rückkehr aus Italien, an Schillers Ausruf: »Ich hasse diesen Goethe, er ist mir einmal im Wege.« Jenes Gesetz bietet aber auch den dunklen Hintergrund, von dem sich die persönlichen und sachlichen Beziehungen zwischen Winckelmann und Lessing abheben, ihr Nichtsichgrüßen, ihr An o inandervorbeigehen, wo die brüderlich geeinte Kraft der Beiden die deutsche Bewegung um ein Vielfaches hätte vertiefen und vorwärts tragen können. Man darf die Kosten und Umwege nicht unterschätzen, die dies immer wieder zu beobachtende Einzelgängertum der deutschen Geschichte gebracht hat. Der Einwand ist nicht gültig: die Unterschiede der Charaktere, der Denkungsart, der

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Gemütszustände sei eben zu groß gewesen. Sie waren bei Goethe und Schiller nicht minder groß. Und doch geschah in einer St emenstunde, daß sie sich trafen, sich die Hand reichten. Vielleicht gerade aus dieser glückhaften, nie erhofften, aber geschenkten und dankbar gepriesenen Erfahrung hat Goethe noch später bedauernd den Wunsch ausgesprochen: Winckelmann und Lessing hätten sich treffen, sie hätten zusammenwirken sollen. Gleichwohl: über ihren Tod hinaus haben die beiden doch nicht gegeneinander gewirkt. In einem höheren Sinn treten sie, als »befugte Individuen«, zusammen - im Kampf um eine neue deutsche Art und Kunst, um die Befreiung des deutschen Menschen und seiner Gestalt von der engenden Vorherrschaft des römisch-romanischen, französischen Wesens. Sie waren sich einig in der Überzeugung, wie sie Winckelmann umriß: daß ein Franzose und das Altertum, eben das griechische Altertum, sich widersprächen, daß französisch-romanisches und antik-griechisches Wesen sich gegenseitig ausschlössen. Nicht über Frankreich konnte der Weg zurück in die wahre, die griechische Antike gehen. Wo der große geistige Kampf zwischen Romanitas und Graecitas, zwischen Paris und Athen ausgetragen wurde, da standen Winckelmann und Lessing nebeneinander und drängten das Römische zurück, um dem Griechischen Raum im deutschen 4i

Bewußtsein zu schaffen und damit dem Durch* brach des Deutschen selbst. Vergil, der den abendländischen Menschen durch die Landschaft des Mittelalters und der Neuzeit geleitet hatte, wie Dante durch die Räume des Inferno und Purgatorio, mußte Homer weichen.

»Eine Bildsäule

von einer alten Römischen Hand«, so heißt es in Winckelmanns programmatischer Erstlingsschrift von 1 7 5 5 , den »Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke«, »wird sich gegen ein Griechisches Urbild allemahl verhalten, wie Virgils Dido in ihrem Gefolge mit der Diana unter den Oreaden verglichen, sich gegen Homers Nausicaa verhält, welche jener nachzuahmen gesuchet hat.« Aber es bleibt bei diesem Versuch. Das römische Abbild erreicht nicht das griechische Urbild. Im Zeichen Homers geschieht die Neugeburt und das Sichselbstfinden des deutschen Menschen im 18. Jahrhundert. Dem griechischen Dichter gilt sein Morgengebet, ihm und dem Griechischen sind die Morgenstunden des deutschen Geistes gewidmet, so wie sie Winckelmann in Seehausen, als Konrektor, dem Griechischen weihte und dabei Gleichnisse aus dem Homer betete. Homer begleitete ihn lebenslang, er lehrte ihn sehen, das Griechische sehen, mehr als alle anderen griechischen Dichter und Schriftsteller zusammen. Hier war die Größe, die »edle Einfalt« der Alten. Simplicité, noble sim42

plicité, simplicité majestueuse - das waren schon termini technici der französischen, barockklassizistischen Kunsttheorie. Edle Einfalt, die berühmte Wortprägung Winckelmanns, scheint also zunächst nur eine Verdeutschung von »noble simplicité« zu sein. »Nur« eine Verdeutschung: aber darin liegt eben doch viel Größeres und Tieferes. Es ist die wirkliche innere Verwandlung eines abstrakten Kunstbegriffs in ein »seelisches Ideal«, in ein ethisches Gesetz, das voll innerer Figur, voll lebendigen Anschauens war. Auch Lessing durfte es für sich beanspruchen und sich zu ihm bekennen. Homerisch-sophokleisches Griechentum erschien wie der Gesundbrunnen einer unselbständig gewordenen, französisch überfremdeten, erkrankten deutschen Kultur. »Die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet: glücklich ist, wer sie findet und schmecket. Diese Quellen suchen, heißt nach Athen reisen.« Dazu der andere, gleich darauf folgende Satz aus Winckelmanns Frühschrift, den »Gedanken über die Nachahmung«: »Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.« Beide Sätze konnte und durfte Lessing unterschreiben, gerade in seinen eigensten Gebieten, denen der Kritik und des Dramas. Auch Lessing verstand, wie Winckelmann, unter Nachahmung der Alten die innerliche, schöpferi43

sehe Nachahmung, der es auf das »Wie«, nicht auf das »Was« ankam, auf den anspornenden Geist, auf die bildende Gewalt des Wetteifers, der sich aus dem Deutschen heraus zur brüderlichen Leistung emporschwang. Auch für Lessing lag der Nachdruck nicht auf: Nachahmung der Alten, sondern auf dem andern: damit wir groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich würden, damit wir, wir Deutsche, endlich das eigene, unverkennbare und geprägte Gesicht erhielten, den eigenen Weg zu den Griechen und zu uns selbst fänden, wir, die wir bislang »die geschworenen Nachahmer alles Ausländischen«, die »untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen« gewesen waren. In ihrer eigenen Art sind beide, Winckelmann und Lessing, Baumeister an dem neu aufwachsenden Bau der deutschen Kultur, beide helfen sie, das neue deutsche Menschenbild zu formen. Nur daß der eine die fortreißende beginnliche Kraft, den stürmischen Enthusiasmus besaß, wo der andere nur zögernd, kritisch-bedacht nachfolgen konnte. Wir sind gewohnt, aber auch berechtigt, sie zusammen zu nennen, im gleichen Atemzug, trotz ihrer tiefreichenden Unterschiede, trotz ihrer Ferne im gemeinsamen Lebensraum ihres Jahrhunderts. Doppelt sind sie in dieser Gemeinschaft den Nachlebenden teuer, weil das Schicksal über alle Hin44

demisse hinweg dann doch hat zusammenwirken lassen, was zunächst getrennte Wege zu gehen schien. Gewiß: es ist Winckelmann, der die Tore zum deutsch-griechischen Seelen- und Sinnenreich groß, weit und feierlich aufgetan und sie als erster in wahrhafter, innerer Bewegung durchschritten hatte. Aber Lessing war würdig, neben ihm zu stehen, für die Nachwelt zumindest, wenn er selbst es nicht glaubte und der andere es nicht wollte: als Hüter des Tores zu diesem Wunsch- und Sehnsuchtsland der Deutschen, dessen Schwelle noch keiner überschreiten durfte, der sich nicht vor beiden, vor Winckelmann und Lessing, willig und dankbar gebeugt hätte.

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Nachbemerkung Der Vortrag erscheint auf Wunsch der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin im Druck, und zwar in gesonderter Form. Am Wortlaut wurde für die Drucklegung nur Weniges geändert, ein paar Stellen, die seinerzeit fortfallen mußten, wurden wieder hinzugegeben. Neben der Darstellung von Justi sei vor allem die leider ungedruckte Göttinger Dissertation von H. G. Evers, Studien zu Winckelmanns Stil, 1924, genannt, die auch das Verhältnis Winckelmann-Lessing behandelt, vielleicht zu schroff, aber mit Einsichten, die auch der vorliegenden Darstellung zugute kamen. Die Briefstelle auf S. 15 f., von der die Interpretation ausgeht, war bisher unbekannt; sie stammt aus einem noch unveröffentlichten Brief Winckelmanns vom 6. 8.1766 an Goessei (Original in der Preußischen Staatsbibliothek); er wird im Rahmen der vorbereiteten Gesamtausgabe der Briefe Winckelmanns erscheinen. Der anonyme, erst 1805 veröffentlichte Bericht über Lessings angeblichen Besuch des Laocoon im Belvedere, der S. 23 erwähnt wird, ist abgedruckt bei Fl. von Biedermann, Lessings Gespräche, Berlin 1924, S. 173; ebd. S. 99 über den S. 16 erwähnten griechischen Reiseplan. Die auf S. 41 ff. nur kurz angedeuteten Gedanken sind weiter ausgeführt und genauer begründet in 46

meinem Buch:

Griechentum

und

Goethezeit,

Leipzig 1938 1 und in einem Aufsatz in der Germanisch-Romanischen

Monatsschrift 1934,

bes.

S. 226 ff. Das Titelbild gibt das von Anton Raphael Mengs, gemalte Bildnis Winckelmanns nach einer Aufnahme der Staatlichen Bildstelle, Berlin, wieder. Zu dem Bilde vgl. H. Thiersch, Winckelmann und seine Bildnisse, München 1918, S. 21 ff. Abb. III und K. Gerstenberg, J . J . Winckelmann und A. R. Mengs (27. Hall. Winckelmannsprogramm), 1929, S. 19 ff. Es stammt wahrscheinlich aus dem Jahr 1761.

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