Einer von den Normalen. Biographie und narrativer Selbstentwurf des NS-Direkttäters Dr. Erich Isselhorst [1. ed.] 9783958323148

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Einer von den Normalen. Biographie und narrativer Selbstentwurf des NS-Direkttäters Dr. Erich Isselhorst [1. ed.]
 9783958323148

Table of contents :
Cover
Vorwort
1 Einleitung
2 Forschungsüberblick und Methode
2.1 Wege der NS-Täterforschung
2.2 Biographie und Ego-Dokumente in der NS-Täterforschung
3 Erich Isselhorst: Konstruktion und Rekonstruktion einer Biographie
3.1 Kindheit und Ausbildung
3.2 Karriere in der Geheimen Staatspolizei (Gestapo)
3.3 Bei den Einsatzgruppen
3.3.1 Einsatzgruppe B (Smolensk)
3.3.2 Einsatzgruppe A (Krasnogwardeisk)
3.3.3 Kommandeur der Sicherheitspolizei (KdS) in Minsk
3.4 Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) in Straßburg
3.5 Kriegsende und Kriegsgefangenschaft
3.5.1 Prozess in Wuppertal
3.5.2 Prozesse in Straßburg
3.5.3 Letzte Monate und Hinrichtung
4 Biographischer Selbstentwurf
4.1 »Deutsche Jugend« und Nationalsozialismus
4.2 Führerglaube und Christentum
4.3 Patriotismus und Verteidigung der abendländischen Kultur
4.4 Arbeit in der Gestapo
4.5 Isselhorsts Angebot an Frankreich 1947
4.6 Schuld eines Normalen
5 Schluss
6 Quellen- und Literaturverzeichnis
6.1 Quellen
6.2 Literatur
6.3 Abbildungsverzeichnis
6.4 Abkürzungsverzeichnis

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David Tüscher

Einer von den Normalen Biographie und narrativer Selbstentwurf des NS-Direkttäters Dr. Erich Isselhorst

Schriftenreihe Genozid und Gedächtnis VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Schriftenreihe »Genozid und Gedächtnis« des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum

David Tüscher

Einer von den Normalen Biographie und narrativer Selbstentwurf des NS-Direkttäters Dr. Erich Isselhorst

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Erste Auflage 2022 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2022 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-314-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2 Forschungsüberblick und Methode . . . . . . . . . . 22 2.1 Wege der NS-Täterforschung . . . . . . . . . . . 24 2.2 Biographie und Ego-Dokumente in der NS-Täterforschung . . . . . . . . . . . . 36 3 Erich Isselhorst: Konstruktion und Rekonstruktion einer Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Kindheit und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . 3.2 Karriere in der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) . . . . 3.3 Bei den Einsatzgruppen . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Einsatzgruppe B (Smolensk) . . . . . . . . . 3.3.2 Einsatzgruppe A (Krasnogwardeisk) . . . . . . 3.3.3 Kommandeur der Sicherheitspolizei (KdS) in Minsk . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) in Straßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Kriegsende und Kriegsgefangenschaft . . . . . . . . 3.5.1 Prozess in Wuppertal . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Prozesse in Straßburg . . . . . . . . . . . 3.5.3 Letzte Monate und Hinrichtung . . . . . . . 4 Biographischer Selbstentwurf . . . . . . . . . . . . . 4.1 »Deutsche Jugend« und Nationalsozialismus . . . . . 4.2 Führerglaube und Christentum . . . . . . . . . . 4.3 Patriotismus und Verteidigung der abendländischen Kultur . . . . . . . . . . . . 4.4 Arbeit in der Gestapo . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Isselhorsts Angebot an Frankreich 1947 . . . . . . . 4.6 Schuld eines Normalen . . . . . . . . . . . . .

63 72 83 114 114 143 160 174 199 214 238 251 266 267 276 291 305 323 328

5 Schluss

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6 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . 6.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die vorliegende Studie über den NS-Täter Dr. Erich Isselhorst wurde im Juni 2021 als Dissertation von der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum angenommen. Als Erstbetreuer stand mir während meines Promotionsstudiums Professor Dr. Mihran Dabag vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung (IDG) der Ruhr-Universität Bochum zur Verfügung. Der Zweitgutachter war Professor Dr. Constantin Goschler, ebenfalls von der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Ruhr-Universität Bochum. Insbesondere Professor Dr. Dabag und den Mitarbeiter:innen des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung PD Dr. Kristin Platt und Dr. Medardus Brehl danke ich für ihre konstruktive und offene Unterstützung bei der Konzeption dieser Arbeit und den vielen neuen Erkenntnissen, Hinweisen und Diskussionen im Forschungsprozess. Eine solche Unterstützung ist nicht selbstverständlich und doch ist sie unentbehrlich, um einen Schritt in der Wissenschaft zu gehen. Für den Hinweis auf den Quellenkorpus von Erich Isselhorst danke ich Professor Dr. Dieter Pohl von der Universität in Klagenfurt. Ohne Unterstützung kann ein solches Vorhaben freilich nicht gelingen. Dank gebührt den zahlreichen Korrekturleser:innen der Studie, die unermüdlich an der Vollendung der Arbeit mitgewirkt haben, meinen Eltern, die mich während meiner gesamten Studienzeit unterstützten, sowie meiner Frau Carmen, die so viele Stunden des Zermarterns und Grübelns ertragen hat.

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1 Einleitung In der Wahrnehmung eines erfahrenen Juristen, der gänzlich von seiner eigenen Unschuld überzeugt war, muss der Verlauf des gegen ihn am 24. Juli 1947 eröffneten Kriegsverbrecherprozesses in Straßburg geradezu skandalös gewesen sein. Der Angeklagte, Dr. jur. Erich Isselhorst, bekam an jenem Tag buchstäblich einen kurzen Prozess und wurde vom Militärgericht der Tötung von vier französischen Zivilisten für schuldig befunden, die im Herbst 1944 durch Lichtsignale mit den alliierten Einheiten kollaboriert hatten. Entlastungszeugen der Verteidigung wurden nicht angehört, es genügte die Aussage eines Mitangeklagten.1 Die Verhandlung dauerte insgesamt nicht länger als dreieinhalb Stunden. Mit dem Richterspruch wurde Isselhorst bereits zum dritten Mal binnen eines Jahres zum Tode verurteilt. Das rigide Vorgehen der französischen Militärjustiz gegen Mitglieder der ehemaligen Besatzungsmacht hatte im Jahr 1947 noch eine deutlich schärfere Fasson, als dies einige Jahre später der Fall sein sollte. Dies war auch der Tatsache geschuldet, dass die Mehrheit der Beisitzer in den Verfahren aus ehemaligen Widerstandskämpfern bestand.2 Wäre Isselhorst zu einem späteren Zeitpunkt oder in Deutschland angeklagt worden, hätte er mit einem deutlich milderen Urteil oder gar mit einem Freispruch rechnen können. Doch Isselhorst gehörte zu den NS-Verbrechern, die bereits kurz nach Kriegsende festgenommen, vor einem ausländischen Gericht angeklagt wurden und deren Vergehen sich in Westeuropa nachweisen ließen, obgleich diese in der Dimension kaum mit den NS-Verbrechen im sogenannten »Unternehmen Barbarossa« zu vergleichen waren. Als langjähriger Mitarbeiter der Gestapo und Kommandeur in den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei im Ostfeldzug war Isselhorst indes mit beiden Tatorten vertraut. In Bezugnahme auf den niederländischen Ethologen Nikolaas Tinbergen zitierte Erich Fromm in seinem sozialpsychologischen Klassiker »Die Anatomie der menschlichen Destruktivität« aus dem Jahr 1973:

1 Vgl. RW 0725 Nr. 13. Gnadengesuch des Rechtsanwaltes P. Buchmann (Straßburg) an den französischen Staatspräsidenten Vincent Auriol aus dem Jahr 1947, in dem er schreibt: »Eins bleibt jedenfalls bei dem ganzen Fall als wichtige Tatsache festzuhalten. Isselhorst ist einzig und allein auf die Erklärung seines Mitangeklagten Gehrum zum Tode verurteilt worden.« Zudem kritisiert der Anwalt, dass Gegenzeugen, wie beispielsweise ein Inspekteur der Kriminalpolizei namens Bauer, nicht angehört wurden. 2 Vgl. Moisel, Claudia: Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis in der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004, S. 91.

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Abb. 1 Erich Isselhorst (OStubaf), undatiert, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28272, Nr. 35.

»Einerseits ist der Mensch mit vielen Tierarten damit verwandt, daß er gegen seine eigenen Artgenossen kämpft. Andererseits ist er unter Tausenden von Arten, die kämpfen, die einzige, bei der das Kämpfen destruktiv ist ... Der Mensch ist als einzige Spezies eine Spezies von Massenmördern, die einzige, die der eigenen Gesellschaft nicht angepasst ist. Warum ist das so?«3 3 Nikolaas Tinbergen, zitiert nach: Fromm, Erich: Die Anatomie der menschlichen Destruktivität, 23. Auflage, Hamburg 2011 (zuerst 1973), S. 36.

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Auch ohne dass diese These explizit zur Untersuchungsfrage von historischen oder soziologischen Studien wurde, ist die Frage nach der menschlichen Fähigkeit zu Mord vielfach in den Forschungen moderner Sozial- und Geisteswissenschaften reflektiert. Historisch kann sie als Element der Analyse von Strukturen und Handlungsräumen einer Gesellschaft fungieren und eine Akteursebene erweitern. Integriert in soziologische oder sozialpsychologische Perspektiven ist sie als Aspekt der Untersuchung von sozialen Dynamiken oder politischen Gruppenbildungen erkennbar und würde hier der Unterstreichung allgemeiner Phänomene und Strukturelemente dienen. Auch individualpsychologisch können Fragen nach Konditionierungen, nach Motivationen und intentionalen Mustern der Täter gestellt werden. Wird versucht, die Fragestellung in Verbindung zu einer spezifischen Moralterminologie zu setzen, wird erkennbar, wie die Komplexität und Fragilität dieser Moralkonzepte die Resultate angreifbar machen.4 Die in der Wissenschaftsgeschichte ursprünglich für die Theologie und die Philosophie reservierte Thematik fand erst in den letzten Jahrhunderten auch in andere Disziplinen Eingang, so dass es heute ein breites Portfolio wissenschaftlicher Zugänge zu moralischen Fragestellungen gibt.5 Der Begriff »Moral« leitet sich aus dem lateinischen Wort »mores« ab und bedeutet etwa »Sitte einer Gemeinschaft«. Doch schon diese Übersetzung birgt Schwierigkeiten, da umgehend die definitorische Frage nach der Gemeinschaft gestellt wird und deren Einfluss auf die Sitte. »Gut« und »böse« sind hierbei Begriffe und Konzepte, die sowohl aus der Per­ spektive einer Gesellschaft oder Gemeinschaft bestimmt werden können, als auch auf einer individuellen Basis definiert werden, mitunter korrelieren. Je nachdem, welche Basis gewählt wird, entstehen unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten hinsichtlich der Verantwortung über Entscheidungen und das Handeln einer Person oder einer Gruppe.6 Ein Ziel dieser Arbeit ist es, der Frage nachzugehen, welche empirischen Befunde die Quellen Erich Isselhorsts hinsichtlich der moralischen Selbstorientierung seines Handelns ermöglichen. Gibt es Momente in den Aufzeichnungen, 4 Insbesondere ist dies bei den Arbeiten von Raphael Gross deutlich, der sich u.a. mit dieser terminologischen Schwierigkeit beschäftigt. Vgl. hierzu: Gross, Raphael: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt a. M. 2010. Vgl. auch Gross, Raphael u. Konitzer, Werner (Hrsg.) Moralität des Bösen. Ethik und nationalsozialistische Verbrechen, Frankfurt a. M. 2009. Vgl. auch Gross, Raphael: Geschichte und Ethik. Zum Fortwirken der nationalsozialistischen Moral; in: Mittelweg Nr. 36 (1999), S. 44–67. 5 Vgl. Rawls, John: Geschichte der Moralphilosophie. Hume – Leibniz – Kant – Hegel, Frankfurt a. M. 2004 (zuerst 2000). 6 Vgl. Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a. M. 2010 (zuerst 1963), S. 22f. Adorno kritisiert hierbei die Beschränktheit der Ethik auf die Einzelperson, da diese die Gemeinschaft als entscheidenden Faktor »eskamotiert«.

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die Auskunft darüber geben, ob Erich Isselhorst seine Taten bedauerte oder gar bereute? Gibt es abseits seiner juristischen Verurteilung auch ein persönliches Eingeständnis von Schuld? Diese Fragen nach der inneren, moralischen Einstellung von Isselhorst stehen dabei losgelöst von der tatsächlichen Umsetzung der Mordaktionen, wie dies von Dieter Pohl pointiert für den Großteil der beteiligten Täter dargestellt wurde: »Mochten auch viele Offiziere und Soldaten die Massenmorde innerlich missbilligen, für deren Ausführung spielte das kaum eine Rolle.«7 Wenn, wie im Titel dieser Arbeit, das Prädikat »normal« für die Typisierung eines Menschen vergeben wird, so wird zu Recht die Frage nach der Definition der »Normalität« erhoben. Was bedeutet »normal«? Und was bedeutet diese »Normalität« in Bezug auf das eben »Nicht-Normale«? Kann jemand, der solche Gewaltverbrechen begeht, überhaupt als »normal« gelten? Einige Wissenschaftler standen und stehen dieser Einschätzung kritisch gegenüber.8 Es soll im Nachfolgenden keine philosophische Erklärung zum Terminus der »Normalität« als solcher integriert werden. Im Grunde hat der hier verwendete Begriff von »Normalität« zwei entscheidende Konnotationen. Es besteht ein unmittelbarer Bezug zur neueren NS-Täterforschung, in der das Täterbild deutlich erweitert wurde und wegführt von einer Dämonisierung und Exklusivität derjenigen, die für die Gewaltverbrechen der NS-Zeit verantwortlich sind. Es sind eben die »ganz normale[n] Männer«9 und Frauen, die »ganz gewöhnliche[n] Deutsche[n]«10 und Mitglieder anderer Nationen, ohne die eine Gewaltpolitik wie die Shoah und andere Völkermorde in Europa während der NS-Zeit nicht realisierbar gewesen wären. Auch mit Blick auf das eingesetzte Spitzenpersonal der Wehrmacht bei den Mordaktionen »[…] haben wir es mit einem Querschnitt aus den konservativen Eliten des Reiches zu tun. Die bekennenden Nationalsozialisten blieben hier sicher in der Minderheit.«11 Die ausgewerteten Dokumente offenbaren, dass die unmittelbare Teilnahme an den Massenmorden aus heutiger Perspektive zwar als 7 Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2008), S. 18. 8 Vgl. Kröber, Hans Ludwig: Töten ist menschlich; in: Die ZEIT, Nr. 42 (2012), S. 17–18. Laut Kröber sind Wissenschaftler wie Rolf Pohl und Joachim Perel hier zu nennen, »die auf dem Standpunkt stehen, Massenmörder könnten eo ipso nicht normal sein und Antisemitismus sei ein Wahn«. 9 Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, 6. Auflage, Hamburg 2011 (zuerst 1992). 10 Goldhagen, Daniel J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 1996. 11 Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2008), S. 347.

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unerklärlich angesehen werden mag, zumal in den besetzten Ostgebieten insbesondere Kinder ermordet wurden12, sie aber doch zu jener Tatzeit und in der Situation selbst eine Form von »Arbeit« angenommen hatte – ein Phänomen, das nicht exklusiv für die Zeit des Nationalsozialismus zu beobachten ist.13 Dies bedeutet nicht, dass die Täter bei den Tötungsaktionen determinativ agierten. Es gibt mannigfaltige Gründe, die die Soldaten und Polizisten sowohl intentional als auch situativ beeinflussten und den Rahmen spannten, in dem die Ermordung der Menschen nicht nur eine Möglichkeit war, sondern unbedingt erforderlich erschien. Die Distanz jedoch zwischen den objektiven Strukturen, die das Handeln des Einzelnen bedingen, und der subjektiven Realisierung ist unüberbrückbar.14 Zudem muss konstatiert werden, dass während der Kriegszeit, trotz geltendem Kriegsrecht, praktisch keine Verfolgung von Kriegsverbrechen durch die Wehrmachtsführung stattfand15, allerdings gibt es auch umgekehrt keinen belegten Fall, der eine Bestrafung eines Soldaten oder Polizisten für die Nicht-Teilnahme an den Mordaktionen belegen würde.16 Im Grunde gibt es noch eine dritte Konnotation, die der Terminus »normal« mit den NS-Tätern verbindet. Diese besteht in dem Phänomen der Selbstdarstellung zahlreicher NS-Täter nach dem Krieg, die darauf abzielte, die eigene Persönlichkeit in einem günstigeren Licht darzustellen und auch das eigene Handeln durch das Attribut der »Normalität« zu kaschieren beziehungsweise zu verharmlosen.17 Auch wenn mittlerweile heraus12 Vgl. Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2008), S. 343. Unter Juden und Roma handelt es sich bei jedem dritten Mordopfer um ein Kind. Dies galt insbesondere für Kinder mit Behinderung und Insassen von Kinderheimen. 13 Vergleichende Studien finden sich beispielsweise in sozialpsychologischen Studien bei Welzer: Welzer, Harald: Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2005), S. 220–245. 14 Vgl. Latzel, Klaus: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998, S. 84. 15 Vgl. Böhler, Jochen: Intention oder Situation? Soldaten der Wehrmacht und die Anfänge des Vernichtungskrieges in Polen; in: Richter, Timm C. (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 165–172, hier: S. 172. Böhler spricht hier von einem »beispiellosen moralischen Versagen der Wehrmachtsführung«, das sich bereits im Polenfeldzug manifestierte. 16 Vgl. Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, 6. Auflage, Hamburg 2011 (zuerst 1992), S. 222f. 17 Vgl. Bloxham, Donald: Motivation und Umfeld. Vergleichende Anmerkungen zu den Ursachen genozidaler Täterschaft; in: Cüppers, Martin/

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gestellt wurde, dass Adolf Eichmann nicht ganz so ein »Hanswurst« war, wie ihn Hannah Arendt einschätzte18 – auch er schaffte es, genau diesen Eindruck zu vermitteln. Aussagen von Erich Isselhorst, die er in seiner Haftzeit und während der Gerichtsprozesse über seine Position und seine Persönlichkeit tätigte, zielten ebenfalls darauf ab, sich als möglichst kleines Rädchen in einem überwältigenden Staatsapparat zu stilisieren.19 Die »Normalität« wird so zum Schutzschirm, um die eigene Rolle in der NS-Zeit möglichst unbedeutend erscheinen zu lassen. Diese Form von Selbstverortung muss nicht unbedingt einer bewussten Taktik hinsichtlich der Verteidigung entspringen. Durchaus kann sie im Rahmen dessen entstanden sein, wofür das System der NS-Vernichtungspolitik gesorgt hatte. Selbst jemand, der danebenstand, als tausende Opfer exekutiert wurden, konnte sich im Nachhinein bar jeder Schuld fühlen, denn »gerade die Auffassung, böse Handlungen setzen böse Absichten voraus, ermöglicht es totalitären Regimen, Leute zur Mißachtung ihrer moralischen Skrupel zu bewegen, die sich sonst womöglich nicht durchgesetzt hätten.«20 Zur Analyse von subjektiven Einstellungsmustern, die in dieser Arbeit untersucht werden sollen, benötigt man eine »kontinuierlich über einen längeren Zeitraum erstreckende Quellenbasis«21, die eine Vielzahl von Schwierigkeiten in der Anwendung qualitativer Methoden aufwerfen – ganz abgesehen von der Sicherung der Kohärenz und Vollständigkeit der Quellenbestände. Skepsis gegenüber der Analyse dieses Tätermaterials besteht aufgrund der fokussierten Betrachtung von »oft unerträglichen Selbst-Exkulpationen«22 der Täter bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Opfer jener Verbrecher. Mark Rosemann stellt diesbezüglich die kritischen Fragen:

Matthäus, Jürgen/ Angrick, Andrej (Hrsg.) Naziverbrechen. Täter Taten, Bewältigungsversuche, Darmstadt 2013, S. 62–74, hier: S. 63. 18 Ludz, Ursula (Hrsg.) Hannah Arendt. Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, 4. Auflage, München 2012 (zuerst 2005), S. 64 (Fernsehinterview mit Günter Gaus im Oktober 1964). Zur Gegenposition vgl. Stangneth, Bettina: Lüge! Alles Lüge! Aufzeichnungen des Eichmann-Verhörs von Avner Werner Less, Zürich 2012 sowie: Stangneth, Bettina: Eichmann vor Jerusalem – Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich 2011. 19 Beispielhaft: RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 05.06.1947). In diesem Schreiben an seine Frau lehnte er es ab, als »Größe des Dritten Reiches« bezeichnet zu werden. 20 Neiman, Susan: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. 2004, S. 402. 21 Irrgang, Astrid: Feldpost eines Frontsoldaten; in: APuZ Nr. 14/15 (2007), S. 41–46, hier S. 41. 22 Kramer, Helgard: Einleitung; in: Dies. (Hrsg.) NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 9–26, hier: S. 22.

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»[…] war das Leben Einzelner der Ort, an dem NS-Geschichte gemacht wurde? Und wenn nicht, bietet ein solches Leben zumindest eine analytische Perspektive, von der aus der Lauf der Geschichte beobachtet werden kann? Setzen Biographien nicht ein Minimum an Einfühlungsvermögen und eine gewisse Empathie voraus, die wir in diesem Zusammenhang nicht aufbringen können – bzw. nicht aufbringen sollten? Ist eine Reise in das Innere dieser Männer überhaupt zulässig?«23

Die Fragen berühren eine Problematik, die grundsätzlich für die Täterforschung besteht, nämlich die Gefahr, den Opfern zu wenig Platz einzuräumen. Doch ohne den Einbezug dieser Quellen würde der Gewaltprozess unzureichend interpretiert werden. Die Bedenken Rosemanns richten sich an die Biographien von NS-Spitzen wie Reinhard Heydrich oder Heinrich Himmler. Dies sind jedoch nicht die »normalen« Täter vor Ort. Umfangreiches Quellenmaterial wie Tagebücher, Briefserien oder Memoiren von Menschen, die unmittelbar an derartigen Gewaltaktionen im Zweiten Weltkrieg teilnahmen, stellt die Ausnahme und keinesfalls die Regel dar. Neben der Arbeit von Catherine Ebstein über Gauleiter Arthur Greiser24 gibt es bislang einzelne biographische Analysen von Direkttätern, wie beispielsweise die Studie von Wolfram Wette über Karl Jäger, die Analyse von Peter Lieb, der sich mit den Kriegstagebüchern des Oberst Carl von Andrian beschäftigte25, die Arbeit von Alex J. Kay über Alfred Filbert26 oder das Werk von Swantje Greve, das den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz in der Ukraine, Fritz Sauckel, behandelt.27 Allerdings werden nur in wenigen dieser historischen Studien Ego-Dokumente umfassend verwendet, da diese, wenn überhaupt, nur sporadisch existieren. 23 Rosemann, Mark: Lebensfälle: Biographische Annäherung an NS-Täter; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 186–209, hier: S. 186f. 24 Eine Ausnahme unter den besagten Biographien bildet die Biographie von Catherine Ebstein über den Gauleiter Arthur Greiser. Vgl. Epstein, Cathe­ rine: Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland, Oxford/New York 2010. 25 Vgl. Lieb, Peter: Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42; in: VfZ Nr. 50 (2002), S. 523–557. 26 Vgl. Wette, Wolfram: Karl Jäger: Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 2013. (zuerst 2011) Auch Wette prangert dieses Forschungsdesiderat an. Vgl. S. 22–24. Ausgeklammert sind hier die Studien über die Konzentrations- und Vernichtungslager, deren spezifische Konstellationen einer eigenen Kategorisierung bedürfen. Vgl. hierzu das folgende Kapitel dieser Arbeit. 27 Vgl. Greve, Swantje: Das »System Sauckel«. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und die Arbeitskräftepolitik in der besetzten Ukraine 1942–1945, Göttingen 2019.

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EINLEITUNG

Eine der umfangreichsten Arbeiten der neueren Täterforschung stellt die Studie von Ulrich Herbert über Dr. Werner Best dar.28 Im Vergleich zum hier rekonstruierten biographischen Ausgangsmaterial zeigen sich zwei wesentliche Unterschiede. Das Quellenmaterial, welches Herbert für seine Studie heranzieht, ist im Hinblick auf die Selbstzeugnisse von Werner Best deutlich weniger heterogen. So finden sich die maßgeblichen Selbstverortungen zu großen Teilen in Schriften nach dem Ende des Krieges und somit in einem neuen systemischen Umfeld. Zwar besitzen auch Bests Publikationen vor und während des Krieges einen wichtigen Quellenwert, doch ist dieser nicht identisch zu anderen zeitgenössischen und persönlichen Schriftstücken, wie etwa Tagebüchern oder privaten Briefen. Auch Herbert bedauert das Fehlen dieser Materialgrundlage, wenn er schreibt, dass »das Bild des privaten Werner Best doch blaß [bleibt]« und sieht in dieser »Farblosigkeit« und »unpersönlichen Kühle« einen Wesenszug des »führenden SS-Mannes schlechthin.«29 In der Studie wird Best als »Schreibtischtäter« und »Weltanschauungstäter« beschrieben, der als Repräsentant einer etwa 300-köpfigen homogenen Führungselite des RSHA zu sehen ist: »[…] als Angehöriger eines bestimmten Typus der radikalisierten ›Kriegsjugendgeneration‹, als Vertreter eines ›heroischen Realismus‹ und als Protagonist eines ›Antisemitismus der Vernunft‹, der völkische Utopie und zweckgebundene Rationalität zu einem mörderischen Konglomerat miteinander verknüpfte.«30 Freilich lässt diese Typisierung Unterschiede zu anderen Tätertypen erkennen, deren Handeln und Mentalität beispielsweise nicht von der räumlichen Distanz zu den Opfern beeinträchtigt wurde. Insofern bleibt unklar, wie Thomas Kühne formuliert, »inwieweit die für Best eindrücklich nachgewiesene Handlungsrelevanz der ›rationalen‹ Volkstumsideologie auf die übrigen Angehörigen der Generation der ›Sachlichkeit‹ und insbesondere auf tatnahe Exekutoren des Holocaust übertragen werden kann.«31 Der Quellenkorpus um Erich Isselhorst stellt daher die Möglichkeit dar, einen Einblick in das Leben eines Direkttäters zu erhalten, der auch nach dem Krieg von den ideologischen Zielen des NS überzeugt blieb. Auf der Grundlage der Rekonstruktion der biographischen Muster Isselhorsts lässt sich 28 Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996. 29 Ebd. S. 23f. 30 Paul, Gerhard: Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und »ganz gewöhnlichen« Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung; in: Ders. (Hrsg.) Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? 2. Auflage, Göttingen 2003 (zuerst 2002), S. 13–92, hier: S. 44. 31 Kühne, Thomas: Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg und die »ganz normalen« Deutschen. Forschungsprobleme und Forschungstendenzen der Gesellschaftsgeschichte des Zweiten Weltkrieges, Erster Teil; in: Archiv für Sozialgeschichte 39 (1999), S. 581–662, hier: S. 618.

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zweifelsohne kein abgrenzbarer Tätertypus bestimmen. Dies gilt auch für den biographischen Rahmen selbst, da Isselhorst zwar »Hardliner« im Sinne der Ideologie des NS war, jedoch zugleich in seinen autobiographischen Quellen Kritik am NS-System, an einzelnen Führungspersonen und seinen Aufgaben bei der Staatspolizei übte. Trotz seiner hohen Stellung bei den Einsatzgruppen und im gesamten Sicherheitspolizeiapparat lag bisher keine wissenschaftlichen Untersuchungen zur Rolle und Person Isselhorsts vor. Die Arbeit von Joachim Lilla enthält eine kurze Skizze zur Biographie von Erich Isselhorst.32 In wenigen weiteren Einzelstudien findet der Name Erwähnung. Die Vermutung liegt nahe, dass sein relativ niedriger SS-Rang hierbei eine Rolle spielte. Durch einen disziplinarischen Verweis, den Isselhorst als Leiter der Gestapo-Dienststelle in München 1941 erhalten hatte, war gegen ihn ein zweijähriger Beförderungsstopp verhängt worden. Die Positionen, die er in den folgenden Jahren bekleidete, waren hierdurch stets höher als sein eigentlicher SS- und Polizei-Rang. Erst Ende 1944 war Isselhorst zum Oberst der Polizei und Standartenträger der SS ernannt worden. Zu diesem Zeitpunkt war er seit knapp einem Jahr Befehlshaber (BdS) und Inspekteur der Sicherheitspolizei (IdS) für den gesamten Raum Südwest. Eine Einordnung seiner Person im Rahmen der von ihm wahrgenommenen Aufgaben steht daher noch aus.33 Wenn der Fokus einer Studie auf Ego-Dokumenten liegt, so gilt es auch die Frage nach dem historischen Wahrheitsgehalt zu berücksichtigen. Hierfür sollte im Sinne einer hermeneutischen Perspektive der Inhalt gezielt nutzbar gemacht werden. Es ist eine Form von Erzählung, in welcher das subjektive Geschichtsbewusstsein unmittelbar die autobiographische Erzählung und die Selbstauffassung des Erzählers prägt. »Personen verstehen geschichtlich, was ihnen einst widerfuhr und weil sie handelnd zur Welt Stellung nahmen, und sie begreifen nicht zuletzt ihre heutige Lage sowie das, was sie gegenwärtig tun und lassen oder künftig unternehmen wollen, teilweise eben als historisch.«34 Die mikrohistorische Orientierung der Geschichtswissenschaft in den vergangenen 32 Lilla, Joachim: Isselhorst, Erich, in: ders. (Hrsg.) Staatsminister, leitende Verwaltungsbeamte und (NS-) Funktionsträger in Bayern 1918 bis 1945. Internet: http://verwaltungshandbuch.bayerische-landesbibliothek-online.de/ isselhorst-erich [10.09.2016]. 33 Vgl. Moisel, Claudia: Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis in der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004. Obgleich Isselhorst genau in die Thematik und den Zeitraum der von Moisel getätigten Untersuchung fällt, wird Isselhorst nicht erwähnt. 34 Straub, Jürgen: Geschichte erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung; in: Ders. (Hrsg.) Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität, Frankfurt a. M. 1998, S. 81–169, hier: S. 82.

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Jahrzehnten diente der Bereicherung des historischen Wissens, da hierdurch die »Umsetzung großer, geschichtsmächtiger Prozesse« auf individueller Ebene erkennbar wird. »Insofern lässt sich die mikrohistorische Forschung durchaus mit der methodischen Entwicklung der neueren Geschichtswissenschaft vereinbaren, vor allem, wenn der heuristische Zusammenhang zwischen der strukturellen Analyse und der Untersuchung des Einzelobjektes gewahrt bleibt.«35 Handlungen und historische Vorgänge haben dementsprechend eine Aussagekraft, die über das Individuelle hinaus Rückschlüsse auf makrohistorischer Ebene zulassen. Die Subjektivität und der emotionale Gehalt prägen die autobiographischen Quellen. Die darin geschilderten Ereignisse sind – insbesondere, wenn ein größerer zeitlicher Abstand besteht – keine historisch validen Angaben. Eine historische Quellenkritik ist somit unerlässlich, will man die Aussagen verorten. Dennoch: Die Aussagen sind aus erster Hand. Sie zeigen die Situation und die Perzeption des Schreibers in einem Augenblick seines Lebens, seine emotionale Einstellung, seine Haltung und seine Selbstauffassung. Das von Winfried Schulze in den deutschsprachigen Wissenschaftsraum eingeführte Konzept der Ego-Dokumente als Per­spektive auf dieses Quellenmaterial bildet eine Grundlage, um sich mit der Identität und der »inneren« Einstellung einer Person zu befassen, die in der Geschichte handelte.36 So wie es Werner Mahrholz bereits 1919 schrieb: »Hier spricht unbewußt und bewußt der Mensch als Kind der Zeit unmittelbar.«37 Dabei besteht die Gefahr einer derartigen Analyse darin, beispielweise die »kumulative Radikalisierung« der Rassenpolitik, das heißt die dahinterliegenden Strukturen zu verschleiern, wie dies schon Hans Mommsen anprangerte.38 Der historiographische Trend, die Kreise der Täterschaft auszudehnen bis hin zu einer »Tätergesellschaft«, führt letztlich auch zu der strukturanalytischen Fragestellung nach dem Gehalt des Einflusses eben dieser auf die einzelne Person.39 Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, strukturanalytische Aspekte 35 Schulze, Winfried: Einführung in die Neuere Geschichte, 4. Auflage, Stuttgart 2002 (zuerst 1987), S. 276. 36 Schulze, Winfried (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996. 37 Mahrholz, Werner: Der Wert der Selbstbiographie als geschichtliche Quelle (1919); in: Niggl, Günter (Hrsg.) Die Autobiographie. Zur Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2. Auflage, Darmstadt 1998 (zuerst 1989), S. 72–74, hier: S. 73. 38 Vgl. Mommsen, Hans: Probleme der Täterforschung; in: Kramer, Helgard (Hrsg.) NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 425– 433. Vgl. Rosemann, Mark: Lebensfälle: Biographische Annäherung an NSTäter; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 186–209, hier: S. 188f. 39 Vgl. Ebd. S. 189f.

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mit den Aussagen aus biographischen Ego-Dokumenten zu verknüpfen – ein Ziel, welchem zumindest in Ansätzen auch in dieser Untersuchung nachgegangen werden soll. In der vorliegenden Ausarbeitung wird das Ziel verfolgt, die historische Quellenkritik in Bezug auf die Forschungsperspektive der Ego-Dokumente mit einem kontrastierenden qualitativen Verfahren zu kombinieren, und zwar mit einer Analyse des narrativen Selbstentwurfes von Erich Isselhorst und den Einstellungsveränderungen im Verlaufe seines Lebens, insbesondere gegen Ende des Krieges und in der Zeit seiner Gefangennahme und Verurteilung. Dieser narrative Selbstentwurf, so die hier formulierte These, hatte maßgeblichen Einfluss auf die Rationalisierung und Legitimierung seines Handelns und schuf zudem die Möglichkeit eines identitären Transfers zwischen der NS-Zeit und der Nachkriegszeit. Dass die hierfür verwendeten Aussagen und Erinnerungen keinesfalls einer historisch validen Realität entsprachen, soll zunächst in der quellenkritischen, biographischen Darstellung erläutert werden. Dass jedoch diese unsicheren und mitunter bizarren Aussagen in den Ego-Dokumenten nicht bloße Lügen und taktische Behauptungen in Bezug auf die Gerichtsverfahren sind, sondern Rückschlüsse auf individuelle Handlungsräume, sowie institutionelle und soziale Strukturen erlauben, ist die Grundannahme für die Analyse im zweiten Abschnitt. Biographische Rekonstruktionen haben die Tendenz, Erlebnisse und Einstellungen zu Erfahrungen zusammenzuschließen, die ein kohärentes Bild der eigenen Person präsentieren sollen. Entscheidungen und Lebenslauf werden in der Narration verknüpft und zusammengefügt. Das geschieht zumeist unbewusst. Dementsprechend müssen die Bedingungen und die jeweilige Situation Isselhorsts bei der Abfassung seiner Dokumente berücksichtigt werden. Hierbei stellen die Ergebnisse einen exemplarischen Versuch für den Umgang mit autobiographischen Quellen dar, die in den Bereich der Ego-Dokumente fallen. Der Quellenkorpus für diese Arbeit besteht zu großen Teilen aus autobiographischen Quellen von Erich Isselhorst, die im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen im Bestand unter der Kennzeichnungsnummer RW0725 archiviert liegen. Hierzu zählen Briefserien (1934–1948), eine Vielzahl an selbst erstellten Fotoaufnahmen, Notizen, Dokumente zu der Strategie in den Gerichtsverhandlungen, Gerichts- und Verhörprotokolle, ein Kriegstagebuch (Januar 1942–Dezember 1943), zwei von Isselhorst 1947 angefertigten Memoiren, Urkunden, SS-Beförderungen und Dokumente sowie Materialien über Leumundschaftsauskünfte, neben dem Schriftverkehr seiner Ehefrau nach der Hinrichtung Isselhorsts.40 Ferner wurde die von Isselhorst 1932 im Zuge seiner juristischen Ausbildung verfasste Dissertation über die »Schlichtungsnotverordnung« berücksichtigt, die wenig Aussagekraft hinsichtlich seiner persönlichen politischen Ansichten offenbart, 40 LAV NRW RW 0725, Nr. 1–40.

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aber Ausblicke zulässt auf die Kontexte seines intellektuellen Denkens.41 Zur Analyse der Karriere Isselhorsts in der Gestapo wurden ergänzende Quellen aus lokalen Archiven in Form von Gestapoakten gesichtet. Quellen, die die Einsatzgruppenzeit dokumentieren, konnten aus den Quelleneditionen der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, maßgeblich unter Rekurs auf die Arbeiten von Klaus-Michael Mallmann, herangezogen werden.42 Auch die Arbeit von Wolfgang Curilla über die Ordnungspolizei im Ostfeldzug war hilfreich zur Entschlüsselung der von Isselhorst erwähnten »Aktionen« der Sicherheitspolizei.43 Die Existenz einer in der Sekundärliteratur erwähnten eidesstattlichen Erklärung, die im Hauptarchiv in Koblenz archiviert sein soll, konnte nicht verifiziert werden.44 Für die Studie wurde zudem auf weitere Quellensammlungen zum Zweiten Weltkrieg zurückgegriffen.45 Die vorliegende Ausarbeitung ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt erläutert im Wesentlichen die Historie der NS-Täterforschung und stellt die aktuellen Tendenzen und Forschungsergebnisse in 41 Vgl. Isselhorst, Erich: Die Schlichtungsnotverordnung (Dissertation), Düsseldorf 1932. 42 Insbesondere sind die zwei Quellenbände zu nennen: Mallmann, Klaus-­ Michael; Cüppers, Martin; Angrick, Andrej und Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941–45: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Band II, Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2013 und: Mallmann, Klaus-Michael; Cüppers, Martin; Angrick, Andrej; Brandon, Ray und Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Berichte aus dem Osten 1942/1943: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Band III, Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2014. Im Folgenden werden daraus die jeweiligen Ereignismeldungen beziehungsweise die Meldungen aus dem besetzten Ostgebieten mit der entsprechenden Datumsangabe zitiert (EM/MbO Nr., Datum, Seitenangabe). 43 Curilla, Wolfgang: Die Deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und Weißrussland 1941–1944, 2. Auflage München/Paderborn u.a. 2006. 44 Eidesstattliche Aussage Erich Isselhorsts vom 30.10.1945, in: StA Koblenz 9 Ks 2/62 Dok. Bd. 1. Die Akte bezieht sich auf den Prozess gegen den ehemaligen OStuf Georg Heuser, der 1962 wegen Mordes in über 11.000 Fällen schuldig gesprochen wurde. Die Aussage von Erich Isselhorst findet sich jedoch nicht im ersten Band. Eventuell besteht eine Verwechslung mit der eidesstattlichen Aussage von Erich Ehrlinger. Da der Prozess erst 14 Jahre nach dem Tod Isselhorsts stattfand, wurde eventuell die Aussage von Isselhorst herangezogen, die er 1945 in amerikanischer Gefangenschaft machte und dessen Kopie sich in RW 0725 Nr. 14 abgedruckt findet. Diese Aussage ist jedoch ein Verhörprotokoll vom 05.10.1945. Als Quellenangabe findet sich die Aussage beispielsweise in: Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 187. 45 Grundlegende Studien stellen die Arbeiten von Dieter Pohl, Frank Bajohr, Michael Wildt, sowie zahlreichen (ehemaligen) Mitarbeitern des IfZ dar.

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den Vordergrund. Des Weiteren wird die Analyse von Ego-Dokumenten fokussiert, die in der Darlegung eines methodischen Konzeptes zur Analyse von narrativen Selbstentwürfen eng geführt werden soll. Der zweite Teil der Studie umfasst eine historisch-biographische Analyse der Selbstzeugnisse von Erich Isselhorst und weiteren Quellen. Der Abschnitt übernimmt zwei Funktionen. Zum einen soll die von Isselhorst in seinen autobiographischen Quellen erstellte Rekonstruktion seiner Biographie dekonstruiert werden. Die Dokumente sollen quellenkritisch diskutiert und mit anderen Quellen kontrastiert werden. Gleichzeitig soll auch die Perzeption von Isselhorst dargestellt werden. Die so durchgeführte Dekonstruktion seiner eigenen Lebensdarstellung bildet die Grundlage, um daran anschließend die narrativen Selbstdarstellungen zu analysieren. Dieser dritte Abschnitt verlässt die vorherige Chronologie, da in diesem die biographischen Schlüsselkonzepte aus dem Selbstentwurf herausgearbeitet werden. Anhand dieser Analyse soll gezeigt werden, wie Isselhorst seine Lebensgeschichte während und nach dem Krieg strukturierte und wie diese Muster zu einem Selbstentwurf führen, der für die Rationalisierung und Legitimation seines Handelns unabdingbar ist. Die autobiographischen Quellen offenbaren Selbstbilder von Isselhorst, die geprägt sind von der Zeit und den Umständen, in denen er sie verschriftlichte. Spätestens mit seinen Memoiren möchte er sein eigenes Andenken in ein bestimmtes Licht rücken, das fernab eines Massenmörders und Kriegsverbrechers liegt und die Geschichte eines patriotischen und beschützenden Kulturverteidigers erzählen soll. Dass er sich angesichts dieses Selbstentwurfes bei seinem Verfahren im Jahr 1947 von der französischen Militärjustiz hintergangen fühlte, auch da er selbst knapp zwei Jahrzehnte zuvor als promovierter Accessor die Strafprozesse am Düsseldorfer Landgericht durchexerzieren konnte, war aufgrund des Prozessablaufs nachvollziehbar. Dennoch waren es nicht nur unglückliche Umstände, die ihn sieben Monate nach seiner letzten Verurteilung, am Morgen des 23. Februars 1948, auf den Polygon-Hügel bei Straßburg brachten, wo er, an einen Fahl gebunden, von einer Salve des dort positionierten Erschießungskommandos getötet wurde. Orts- und Personenangaben, die nicht entziffert werden konnten, wurden durch ein nachgestelltes, eingeklammertes Fragezeichen (?) gekennzeichnet. Einige Probleme bei der Quellenbehandlung entstanden dadurch, dass beinahe der gesamte Quellenbestand aus dem persönlichen Nachlass in Kurrentschrift geschrieben wurde und das Material zum Teil beschädigt oder gänzlich unleserlich war. An den betreffenden Stellen wurden Aussparungen beziehungsweise Anmerkungen diesbezüglich getroffen. Orts- und Personennamen bestehen, sofern sie im Rahmen der militärischen und polizeilichen Operationen genannt wurden und lesbar waren, in unveränderter Form. Die verwendeten Bilder stammen von Erich Isselhorst, der mit seiner Kamera Szenen an verschiedenen 20

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Einsatz- und Urlaubsorten festhielt. Da die Fotos undatiert und unbeschriftet vorliegen, konnten nur begründete Vermutungen über deren Inhalt getätigt werden, ohne die Richtigkeit zu garantieren. Da zu Beginn des Krieges lediglich 10 Prozent der Deutschen einen eigenen Fotoapparat besaßen, bieten Isselhorsts Aufnahmen seltene Einblicke in die Arbeit der Sicherheitspolizei.46 Die zum Teil umfangreichen Zitate aus den autobiographischen Quellen und Gerichtsprotokollen wurden in möglichst vollem Umfang wiedergeben, da sie teilweise Aussagekraft für andere Forschungsarbeiten haben, wie die ausführlichen Stellungnahmen von Erich Isselhorst nach dem Krieg oder auch die von ihm geschilderte weitläufige Zusammenarbeit zwischen der Sicherheitspolizei und der Wehrmacht im Ostfeldzug. Außerdem ist für eine narrative Analyse der Quellen Isselhorsts die ausführliche Darstellung der Erzählungen unumgänglich. In den Quellen erwähnte Isselhorst diverse Personen, mit denen er während seiner Zeit bei der Sicherheitspolizei zusammenarbeitete. Sofern deren Lebensläufe bekannt sind, wurden zu den besagten Personen Kurzbeschreibungen verfasst, die ihre Beteiligung an den NS-Verbrechen kurz anreißen und zudem Auskunft darüber geben, was mit diesen Personen nach dem Krieg geschah.

46 Vgl. Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland von 1880 bis 1980, München 1995, S. 95–98. Dies ist freilich nur eine Schätzung, die nach Starl, den Absatzzahlen der Fotoindustrie entspricht.

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2 Forschungsüberblick und Methode Die Vergangenheit der NS-Täterforschung ist geprägt von dualistischen Kontroversen. Angefangen mit der Debatte um die Gewichtung von Funktionalisten und Intentionalisten ab den 70er Jahren, mit Abstrichen auch der Historikerstreit 1986/87, über die »Goldhagen-Debatte« in den 90er Jahren, wobei insbesondere die deutschen Kritiker zum Teil »Schaum vor dem Mund hatten«1, bot dieses Forschungsfeld bis in die Gegenwart den Anstoß für kontroverse Debatten.2 Die bundesweit gezeigte Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944«, die vom Hamburger Institut für Sozialforschung Ende der 90er Jahre ausgearbeitet wurde und für eine bundesweite öffentliche Kontroverse führte, vermochte zwar den Fokus in der Öffentlichkeit auf die Täterschaft der vormals »sauberen« Wehrmacht zu lenken, die darin publizierten Erkenntnisse beriefen sich allerdings größtenteils auf Ergebnisse der Täterforschung aus den 60er und 70er Jahren.3 Neuere Ergebnisse der Täterforschung veranschaulichen auch auf einer sozialpsychologischen Ebene dieses Streitpotential des Forschungszweiges. Speziell seit dem Aufkommen der Thesen von Harald Welzer über die Verschiebung des »normativen Referenzrahmens«, die durch den NS geschah, und der damit einhergehenden Erweiterung der »Normalitätsthese«, die schon Christopher Browning in seiner Studie »Ganz normale Männer«4 aufgeführt hatte, findet diese Debatte auch in der Gegenwart große Resonanz.5 Dass die immer wiederkehrende dualistische Ausrichtung der Debatten dem Forschungsgegenstand eigentlich 1 Mank, Ute: Zwischen Trauma und Rechtfertigung. Wie sich ehemalige Wehrmachtssoldaten an den Krieg erinnern, Frankfurt a. M. 2011, S. 13–15. 2 Vgl. die Debatte von König und Fritze im Leviathan: Vgl. Fritze, Lothar: Moralische Rechtfertigung und außermoralische Überzeugungen. Sind »totalitäre Verbrechen« nur in einer säkularen Welt möglich?; in: Leviathan, Nr. 1 (2009), S. 5–33. Und die Antwort: Helmut König: Moral, Politik und totalitäre Verbrechen. Bemerkungen zu Lothar Fritze: Moralische Rechtfertigung und außermoralische Überzeugungen. Sind »totalitäre Verbrechen« nur in einer säkularen Welt möglich?; in: Leviathan, Nr. 1 (2009), S. 34–51. 3 Vgl. Böhler, Jochen: Intention oder Situation? Soldaten der Wehrmacht und die Anfänge des Vernichtungskrieges in Polen; in: Richter, Timm (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 165–172, hier: S. 166. 4 Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, 6. Auflage, Hamburg 2011 (zuerst 1992). 5 Vgl. hierzu Baader, Karl-Ludwig: NS-Taten und neuere Täterforschung: Was heißt hier »normal«? Internet: http://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/

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nicht gerecht wird, wurde von Peter Longerich unlängst hervorgehoben, wenn er schreibt: »Meines Erachtens sind wir in der Holocaustforschung an einen Punkt gelangt, an dem eine Strukturierung der Debatten in Form solcher Dichotomien nicht mehr sinnvoll ist, da die Konfrontation jeweils eindimensionaler Erklärungen der Komplexität unseres Forschungsgegenstandes nicht gerecht werden kann. Der Forschungsgegenstand, daran sei erinnert, ist der systematische Massenmord an den europäischen Juden.«6

Nach Longerich besteht eine wesentliche Leistung der neueren Täterforschung darin, Gegensatzpaare wie Intention – Funktion, Rationalität – Ideologie, Zentrum – Peripherie in einem dialektischen Verhältnis zu betrachten, anstatt sie als Widersprüche aufzufassen.7 Alltagsbeschreibungen der NS-Täter wurden oft dafür kritisiert, dass sie die äußeren Strukturen und den zeitlichen Kontext nicht angemessen in ihre Betrachtung einbeziehen. Sie entsprachen eben nicht dem strukturanalytischen Tenor, der in den ersten Jahrzehnten die Forschung dominierte. Doch wenn wir uns mit dem alltäglichen Handeln von Direkttätern auf der mikrohistorischen Ebene beschäftigen, sind derartige Einblicke in die Lebenswelten der Täter alternativlos.8 Die Täterforschung ermöglicht hierbei verschiedene einzunehmende Perspektiven. Denn selbstverständlich gilt es, die Mordaktionen nicht nur aus der Sicht der Täter zu analysieren – was gelegentlich auch die Gefahr des Empathisierens mit sich trägt – sondern sie auch von der Warte der Opfer aus zu betrachten. Letztere externe Beschreibung der Opferperspektive scheitert jedoch daran, dass sie niemals angemessen das durchlebte Grauen darstellen kann. »Jedes Verbrechen ist einmalig – das Leiden besitzt immer eigenes Gewicht. Dies gilt jedoch keineswegs für die Motive der Täter, radikalisierende Umstände oder die Art und Weise, wie Verbrechen begangen wurden.«9 Hilfreich für die perspektivische Aufschlüsselung ist freilich die Öffnung der ehemals sowjetischen Archive, die sich bereits in einigen jüngeren historischen Studien bemerkbar macht und die nunmehr multiperspektivi-

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Uebersicht/NS-Taten-und-neuere-Taeterforschung-Was-heisst-hier-normal [28.11.2015]. Longerich, Peter: Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung; in: APuZ, Nr. 14/15 (2007), S. 3–6, hier: S. 3. Vgl. Ebd. S. 4. Vgl. Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, 6. Auflage, Hamburg 2011 (zuerst 1992), S. 15f. Arnold, Klaus Jochen: Der Vergleich als Instrument zur Erforschung der Verbrechen von Wehrmachteinheiten: Perspektiven und Probleme; in: Richter, Timm C. (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 75–85, hier: S. 84.

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FORSCHUNGSÜBERBLICK UND METHODE

sche Studien zu den NS-Verbrechen ermöglichen, obgleich weiterhin methodische Schwierigkeiten im Umgang mit Ego-Dokumenten bestehen.

2.1 Wege der NS-Täterforschung Über die verschiedenen Kontroversen in Hinblick auf die Täter hinaus, die in den letzten knapp 60 Jahren den historischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs geprägt haben, bleiben die grundlegenden Fragen weiterhin unverändert: »Wie konnte es zum Holocaust kommen? Was für Menschen waren die Mörder? Wie kann ihr Verhalten erklärt werden; warum haben sie getötet?«10 Allerdings veränderte sich die Herangehensweise im Laufe der Zeit. Empirisch-soziologische Studien, wie sie insbesondere durch die von Theodor Adorno und Max Horkheimer begründete »kritische Theorie« der Frankfurter Schule entwickelt wurden, prägten die Täterforschung ebenso wie die normativen Überlegungen Hannah Arendts.11 Länderspezifisch entwickelte sich die historische Aufarbeitung der NS-Täterschaft different. In den 60er Jahren war die US-amerikanische Täterforschung noch führend, sodass ihr eine »initiierende Rolle«12 zugesprochen werden kann. Insbesondere das Werk von Raul Hilberg brillierte, das wohl noch heute die antiquierte Bezeichnung des »Standardwerkes« verdient.13 Dass diese grundlegende Studie, die bereits 1961 in den USA veröffentlicht wurde, erst nach über zwanzig Jahren (erstmals 1982) in die deutsche Sprache übersetzt wurde, spiegelt die in jener Zeit in Deutschland vorherrschende Einstellung gegenüber den NS-Verbrechen. Wenn der Generalstaatsanwalt Fritz Bauer bemerkte, dass er außerhalb seines Büros das »Feindesland« betrat, veranschaulicht dies genau jene Epoche der deutschen »Vergangenheitsbewältigung«.14 Auch wenn die frühen 10 Browning, Christopher R.: Die Debatte über die Täter des Holocausts; in: Herbert, Ulrich (Hrsg.) Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939–1945. Neue Forschungen und Kontroversen, 2. Auflage 1998, S. 148–169, hier: S. 148. 11 Vgl. Weissberg, Liliane (Hrsg.) Affinität wider Willen? Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und die Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 2011. 12 Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.6.2013, http://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung [30.01.2016]. 13 Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. I–III, durchgesehene und erweiterte Taschenbuchausgabe, Frankfurt a. M. 1994 (zuerst 1961). Im Folgenden zitiert als: Hilberg: Vernichtung. 14 Weissberg, Liliane: Rückkehr im Widerstand; in: Rauschenberger, Katharina. (Hrsg.) Rückkehr in Feindesland? Fritz Bauer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013, S. 15–38, hier: S. 25.

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WEGE DER NS-TÄTERFORSCHUNG

amerikanischen Forschungsergebnisse als initiatorisch angesehen werden müssen, wird die neuere Täterforschung (ab den 90er Jahren) deutlich von deutschsprachigen Wissenschaftlern dominiert.15 Dies ist nicht zuletzt auch in dem veränderten öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in den darauf folgenden Jahrzehnten begründet. Ein Problem der Täterforschung im Bereich des Nationalsozialismus lässt sich an der Tätereingrenzung und dessen Entwicklung in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ablesen. In den Nürnberger Prozessen waren lediglich die politischen und militärischen Spitzen im Fokus der Anklage, waren sie doch maßgeblich an der Initiierung der Kriegsverbrechen, insbesondere der Völkermorde beteiligt. Niedere Instanzen, wie beispielsweise die verschiedenen Polizeieinheiten und die Verwaltungsbeamten, wurden in der jungen Bundesrepublik – wenn überhaupt – erst viel später angeklagt. Die Bezeichnung »Schreibtischtäter« als Ausdruck einer neuen Tätergruppe entstand auch aus der Vakanz einer definitorischen Einordnung solcher Verbrechen, deren Sprachlosigkeit sich auch in der juristischen Auseinandersetzung manifestierte.16 In den ersten Dekaden war die NS-Forschung in Kontroversen zwischen »Funktionalisten« und »Strukturalisten« verstrickt, ein Begriffspaar, wie es erstmals von Timothy Mason kategorisiert wurde.17 Eine Dichotomie, die unter anderem Gewand immer wieder die Forschungskontroversen begleitete. So muss auch die in den 90er Jahren folgende Debatte über die NS-Täter, die von Daniel Jonah Goldhagens Werk mit dem provokanten Titel: »Hitlers willige Vollstrecker«18 angestoßen wurde, als wichtiger Wendepunkt gesehen werden. Die These des »eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen« wurde nicht zu Unrecht als »Legende«19 kritisiert, obgleich viele Teile aus dieser Studie über die NS-Täter bahnbrechende Einblicke in den Alltag von NS-Direkttätern offenbarten. Standen in den Anfangsjahren der Forschung noch strukturanalytische Arbeiten, zumeist über die NS-Führung und -systematik, im Fokus, verlagerte Goldhagen die Debatte auf die »ganz gewöhnlichen 15 Vgl. Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 18.6.2013, http://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung [30.01.2016]. 16 Zum Begriff des »Schreibtischtäters« vgl. Gottschalch, Wilfried: Männlichkeit und Gewalt. Eine psychoanalytische und historisch soziologische Reise in die Abgründe der Männlichkeit, München 1997, S. 219–227. 17 Vgl. Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 9. 18 Goldhagen, Daniel J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 1996. 19 Wehler, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus, Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen 1919–1945, München 2009, S. 132.

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FORSCHUNGSÜBERBLICK UND METHODE

Deutschen«.20 Christopher Browning hatte zeitgleich aus dem gleichen Quellenmaterial, das fast ausschließlich aus den Gerichtsakten der Nachkriegsprozesse bestand, ebenfalls die »normalen« Täter im Visier. Sein Buch »Ganz normale Männer«21 zielte ebenso wie Goldhagen auf die keineswegs begrenzte Täterschaft innerhalb der deutschen Bevölkerung ab. Beide Wissenschaftler versuchten ihre Bezeichnung des Gewöhnlichen durch die Auseinandersetzung mit dem Reservepolizeibataillon 101 zu belegen, das im Zeitraum von Juli 1942 bis November 1943 etwa 78.000 Menschen ermordete oder in Vernichtungslager deportierte.22 Während Goldhagen diese Tötungsbereitschaft eben als Beleg für seine These des »eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen« sah, versuchte Browning ein weitaus vielschichtigeres und in vielen Augen auch schlüssigeres Konzept als Erklärungsmodell zu verwenden. Nach Browning war eine ganze Reihe von externen und psychologischen Faktoren maßgeblich, um das Handeln der Täter zu erklären.23 Das Fallbeispiel des Polizeibataillons behandelt »Direkttäter«, wobei mit dem Terminus Personen bezeichnet werden sollen, die unmittelbar an der Ermordung der Opfer beteiligt waren. »Dabei ist jedoch noch einmal zu unterscheiden zwischen der allgemeinen Verschiebung des normativen Referenzrahmens durch das NS-Regime und der besonderen Situation der unmittelbar an Tötungsaktionen hinter der Front beteiligten Täter.«24 Daniel Jacob wies auf diese Unterscheidung vor dem Hintergrund hin, dass zum Teil unterschiedliche Bedingungen existierten, die die jeweiligen Täter beeinflussten. Daher ist die Unterscheidung zwischen »Direkttäter« und »Distanztäter« beziehungsweise »Schreibtischtäter« von nicht geringer Bedeutung, konnte aber in der historischen Forschung bislang nicht abschließend geklärt werden. Auch weitere Bezeichnungen wie »Bystander« oder »Tätergesellschaft«, die im Grunde nicht klar voneinander getrennt werden können, verweisen auf diese definitorische Problematik. Dieter Pohl geht in seinen Berechnungen von circa 250.000 bis 300.000 deutschen und österreichischen Direkttätern aus, das heißt Personen, die durch ihr Handeln die Mordaktionen unmittelbar bestimmten. Was aber genau ist ein Direkttäter? Ist ein Lagerkommandant eines Vernichtungslagers beispielsweise ein Direkttäter, auch wenn er nie eine Person eigen20 Goldhagen, Daniel J.: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, München 1996. 21 Browning, Christopher R.: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen, 6. Auflage, Hamburg 2011 (zuerst 1992). 22 Vgl. Ebd. S. 293f. 23 Vgl. Ebd. S. 208–248. 24 Jacob, Daniel: Der Nationalsozialismus, Richard Rorty und die Möglichkeiten rationaler Verständigung; in: Leviathan, Nr. 1 (2012), S. 109–128, hier: S. 112.

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WEGE DER NS-TÄTERFORSCHUNG

händig tötete? Ist jemand, der Straßenabschnitte in Ghettos und Dörfern abriegelte, sodass die Einwohner in die Züge und Lkws zu den Vernichtungslagern und Erschießungsgruben abtransportiert werden konnten, ein Direkttäter oder nur ein Distanztäter? Welche Rolle spielt die Gesamtgesellschaft oder die sogenannten »Bystander« in der staatlichen Vernichtungspolitik, aus der letztlich alle diese Täter stammen? Eine einheitliche Definition von »Direkttätern« birgt zudem die Gefahr, die wesentlichen Unterschiede zwischen Tätergruppen beispielsweise in den Konzentrations- und Vernichtungslagern oder bei den Mordaktionen der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei zu nivellieren. Interdisziplinäre Ansätze erscheinen sinnvoll, um die Tätergruppen und Untergruppen zu kategorisieren. Wichtige Hinweise für diese Notwendigkeit finden sich bereits in frühen Studien von Philip Zimbardo.25 Gleiches gilt für Erving Goffman mit seiner Arbeit über die Rollendistanz, die er am Beispiel von KZ-Ärzten untersuchte.26 Die von Mallmann und Paul ermittelten Täterbiographien zeigen, dass einzelne NS-Täter mitunter sadistische und gewalttätige Tätermerkmale besaßen, die in erschreckender Form im Verlauf des NS zum Vorschein kamen.27 Jedoch wäre es zu kurz gefasst, die NS-Verbrechen lediglich einem kleinen pathologischen Täterkreis zuzuordnen. Ein erster Versuch zur Typologisierung der einzelnen Tätergruppen wurde von Gerhard Paul unternommen. Die fünf Kategorien, die Paul vorschlägt, nämlich den »Weltanschauungstäter (Beispiel: Dr. Werner Best), die »Bandwagon-Nazis«, also Opportunisten, die durch Statusinkonsistenzen der Zwischenkriegszeit geprägt waren und die durch die enge Bindung an den SS-Apparat einen relativ raschen beruflichen Aufstieg machten (Beispiele: SS-Ärzte) und Exzess-Täter (Beispiel: Dr. Oscar Dirlewanger), also Täter mit spezifischen Persönlichkeitsstrukturen, die im NS die Gelegenheit fanden, um ihre Neigungen zu verwirklichen. Hinzu kam die bereits erwähnte Kategorie des »Schreibtischtäters« (Beispiel: Adolf Eichmann) – eine Personengruppe, die die verbrecherischen Befehle an untergeordnete Distanzen delegierte und schließlich der fünfte Typus, eine »Mixtur aus bürokratischen Killern, Direkt-Tätern, Vordenkern der Vernichtung und Henkern«.28 Helgard Kramer weist bei der Einschätzung der Typologien auf die Defizite insbesondere dieses fünften 25 Vgl. Zimbardo, Philip: Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen, Berlin 2012 (zuerst 2007). 26 Vgl. Goffman, Erving: Rollendistanz; in: Steinert, Heinz (Hrsg.) Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie, Stuttgart 1973, S. 260–279. 27 Vgl. Mallmann, Klaus-Michael u. Paul, Gerhard (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiografien, Darmstadt 2004. 28 Eine gute Zusammenfassung der Typologien von Paul findet sich bei: Kramer, Helgard: Tätertypologien; in: Dies. (Hrsg.) NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 253–310, hier: S. 267–271.

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Typus hin, da »eine Residualkategorie, die von allem ein bisschen enthält, die Grenzen zwischen den zuvor beschriebenen Kategorien wieder verschwimmen lässt.«29 Darüber hinaus fällt auf, dass die Kategorien kaum die spezifischen Einsatzorte und Bedingungen berücksichtigen, welche die verschiedenen Täter umgaben. Während einige Direkttäter an einem Ort, wie beispielsweise einem KZ oder einem Vernichtungslager, agierten – also einem in sich geschlossenen System –, hatten andere Täter es mit wesentlich heterogeneren Konstellationen zu tun. Aus der Täterperspektive macht es einen Unterschied, ob ein vermeintlicher Aufstand niedergeschlagen wird, ein Ghetto geräumt oder eine Vergeltungsaktion durchgeführt wird, oder ob sich diese Tat an einem Ort vollzieht, der einzig der Funktion diente, Menschen massenhaft zu ermorden. Dass diese statische Kategorisierung von Tätern schnell an ihre Grenzen stößt, belegt der Versuch der Einordnung Erich Isselhorsts in eine der fünf Kategorien. Isselhorst war von der Weltanschauung des NS überzeugt, obgleich er immerwährend einzelne Punkte des Systems kritisierte. Gleichzeitig konnte Isselhorst durch den NS einen raschen Karriereaufstieg bei der Gestapo erleben, der jedoch zu Beginn des Krieges durch das bereits erwähnte Disziplinarverfahren ein jähes Ende fand. Dennoch drängte er auch in den Folgejahren darauf, mehr Verantwortung und höhere Positionen zu bekleiden. Keineswegs kann Isselhorst als Exzess-Täter dargestellt werden. Nicht nur, dass er – laut eigener Aussage30 – eigenhändig keine Tötung während seines Einsatzes durchgeführt haben soll, auch die zeitgenössischen Quellen weisen nicht darauf hin, dass Isselhorst zu Exzessen neigte. Ganz im Gegenteil, es war ihm wichtig, dass Tötungen nur auf Grundlage eines Befehls oder eines klar geregelten Verfahrens durchgeführt wurden. In den Positionen, die Isselhorst während seines Osteinsatzes bekleidete, hätte ein Exzess-Täter wesentlich anders agiert. Aber Isselhorst war auch nicht nur ein Schreibtischtäter, denn er ist vor Ort, wenn seine Befehle durchgeführt werden, sah also die unmittelbaren Folgen der Vernichtungspolitik. Insofern würde man ihn in die fünfte Kategorie einordnen, die wiederum dieser generellen Kategorisierung widersprechen würde. So wird deutlich, dass die NS-Täter und ihre spezifischen Konstellationen und Rahmenbedingungen zu heterogen sind, um sie schlichtweg in fünf Kategorien aufzuteilen. Die Goldhagen-Debatte in den 90er Jahren intensivierte die NS-Täterforschung und führte dazu, dass sich insbesondere die Sozialpsychologie berufen sah, ihre zum Teil Jahrzehnte alten Überlegungen in die breite Öffentlichkeit zu tragen.31 Das damit einhergehende geschichtswissenschaftliche 29 Ebd. S. 271. 30 Vgl. RW 0725 Nr. 12. 31 Insbesondere sind hier die Arbeiten von Harald Welzer zu nennen: Welzer, Harald: Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden,

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Bedürfnis der empirischen »Re-Konkretisierung« des Holocausts, der bis dato vornehmlich gedeutet, aber eben nicht konkret untersucht wurde, verdeutlicht ebenfalls diese Tendenz. Im Zuge dessen wurden auch die starren herrschaftsstrukturellen Debatten zwischen den »Intentionalisten« auf der einen und den »Strukturalisten« auf der anderen Seite aufgebrochen.32 Die sozialpsychologische Perspektive der Täterforschung brauchte – ähnlich wie die historische Täterforschung – eine gewisse Vorlaufzeit, um in der Öffentlichkeit breitere Präsenz zu erlangen. Die jüngeren Studien von Harald Welzer33 versuchten die Bereitschaft der Soldaten für die Mordaktionen weniger strukturell und institutionell zu hinterfragen, sondern richteten den Fokus auf die Psyche des Menschen in Gewaltsituationen. Mit Hilfe einer Referenzrahmen-Analyse versuchte Welzer daher den Einfluss verschiedener Ebenen, in denen sich Menschen befinden, als Rahmen für die Tätergruppen im NS zu analysieren. Welzer stützte sich bei seinen Analysen größtenteils auf ältere Experimente und Thesen der Sozialpsychologie. Die Frage, »wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«, konnte jedoch nur in der Theorie beantwortet werden, da das verwendete Quellenmaterial kaum Aussagen über die psychische Konstellation von einzelnen NS-Tätern (und -gruppen) zuließ, zumal deren Lebensläufe kaum beachtet wurden. Zudem wurde eine zentrale These Welzers, dass nämlich eine komplette Umwälzung des moralischen Gefüges in der NS-Gesellschaft stattgefunden habe, mit diversen Gegenbeispielen entkräftet. Es bleibt äußerst fraglich, ob der Großteil der Täter das Töten tatsächlich als reguläre Arbeit aufgefasst hat, ohne daran Schuldgefühle zu knüpfen.34 Entscheidend an den Arbeiten Welzers scheint mir, dass sie die Täterforschung für einen vielschichtigeren Kanon von Zugängen öffneten. Denn die historische Forschung fühlte sich durch Welzers Thesen herausgefordert und konterte ihrerseits mit Arbeiten, in welchen gezielt der Frage nach »Situation« und »Intention«35 nachgegangen wurde, Begriffe, die zwar ebenfalls in der historischen Täterforschung der 60er und 70er Jahre zentral waren, jedoch durch den erweiterten Zugang der neueren Täterforschung eine größere Bedeutung erlangten. 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2005) u. Neitzel, Sönke u. Welzer, Harald: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011. 32 Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.6.2013, http://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung [30.01.2016]. 33 Welzer, Harald: Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2005). 34 Vgl. Kramer, Helgard: Tätertypologien; in: Dies. (Hrsg.) NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 253–310, hier: S. 289–294. 35 Vgl. den Sammelband: Richter, Timm C: Krieg und Verbrechen. Situation und Intention. Fallbeispiele, München 2006.

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Für die Analyse der konkreten historischen Situation der Mordaktionen und der darin erkennbaren Gruppenstrukturen, sozialen Ordnungen, möglichen Abwehrreaktionen oder auch Gewalteffekte lassen sich sozialpsychologische Untersuchungskonzepte und Perspektiven nutzbar machen. In jüngeren sozialwissenschaftlichen Studien wird versucht, die psychologischen und externen Faktoren zu benennen, die Menschen zu »Tätern« machen. Häufig ist hierbei von »Situationstätern« die Rede, also von Menschen, die unter »normalen« Umständen solche Taten nicht vollzogen hätten.36 Harald Welzers Werk »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«37 greift im Titel bereits den »Normal«-Terminus der Goldhagen-Debatte auf. Der darin enthaltene Hinweis, dass soziale Rollen maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung und das Handeln des einzelnen Akteurs besitzen, ist sicherlich ein wichtiger Aspekt.38 Welzer verglich die Mordaktionen im Zweiten Weltkrieg mit anderen Völkermorden der neueren Geschichte. Dass Elemente einer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, dass derartige Gewaltverbrechen geschehen, war jedoch keine neue Erkenntnis, sondern beruhte bereits auf jahrzehntelanger Forschung, wie sie insbesondere in der vergleichenden Genozidforschung getätigt wurde, ein Forschungsfeld, das aus dem angelsächsischen Raum kommend, sich in den 90er Jahren auch in Deutschland etablierte.39 Die jüngere Ausrichtung dieses Forschungsfeldes beruht auf einer akteursbezogenen Perspektive, konträr zu der Anfangszeit, in denen die Strukturanalysen dominierten.40 Es wird vermehrt auf die Biographien der Kriegsverbrecher eingegangen, um in deren frühen Leben die Beweggründe für ihre Taten und ihre »Motivation« zu identifizieren. Dies geschieht zumeist in biographischen Studien, wie sie in der Vergangenheit vor allem für die NS-Größen angefertigt wurden.41 Umfangreiche 36 Vgl. Mank, Ute: Zwischen Trauma und Rechtfertigung. Wie sich ehemalige Wehrmachtssoldaten an den Krieg erinnern, Frankfurt a. M. 2011. Hierzu gegensätzlich wäre der »Persönlichkeitstäter« zu nennen, also eine Person, die bestimmte Handlungen vornehmlich aus Gründen der personellen Psyche begeht. 37 Welzer, Harald: Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2005). 38 Vgl. Longerich, Peter: Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung; in: APuZ, Nr. 14/15 (2007), S. 3–6, hier: S. 4. 39 Vgl. Barth, Boris: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte/ Theorien/Kontroversen, München 2006, S. 10. 40 Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S.13. 41 Beispielhaft die Arbeiten: Breitmann, Richard: Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, Paderborn 1996; Koop, Volker: Martin Bohrmann. Hitlers Vollstrecker, Köln 2012; Bavendamm, Dirk: Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie 1889–1914, Graz 2009; Zdral, Wolfgang:

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biographische Studien innerhalb der darunter stehenden Offiziers- und Mannschaftsebenen, also auf der Ebene der Direkttäter, mehren sich erst seit kurzer Zeit. Eine dieser biographischen Annäherung an die Täter besteht in der fokussierten Betrachtung von Alterskohorten, vornehmlich der sogenannten »Kriegsjugendgeneration«. Diese im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts geborene Altersschicht steht in der Arbeit von Michael Wildt im Mittelpunkt, der verschiedenen Karrieren der Führungsebene des RSHA nachging und sie als »Generation des Unbedingten« definierte.42 Die Fokussierung der »Generation« als neuer Forschungsansatz wird auch in den Arbeiten von Mihran Dabag aufgegriffen, der jedoch kritisch den konstruktiven Charakter des Generationenbegriffs hinterfragt.43 »Mit dem Konzept der Generation, [...] soll dabei nicht nur ein Konzept eingeführt werden, das eine Engführung sozialer, historischer und psychologischer Fragestellungen ermöglicht, sondern die auch den Blick auf Motivationen, Prozesse der Entschlußbildung sowie nicht zuletzt auf Konsenskonstruktionen im Kontext einer Vernichtungspolitik eröffnet. Denn eine Fokussierung dieser Aspekte scheint mir für das Verständnis der Ursachen und Verläufe eines Genozids zentral zu sein.«44

Von nicht geringer Bedeutung für die »Generationenzuweisung« ist nach Robert Wohl zudem, dass diese als ein Konstrukt aufgefasst wird: »Historische Generationen werden nicht geboren; sie werden gemacht. Sie sind ein Instrument, mit dem Menschen sich einen Begriff von Gesellschaft machen und diese zu verändern suchen.«45 Es ist zu unterscheiden Die Hitlers: Die unbekannte Familie des Führers, 2. Auflage, Köln 2008 (zuerst 2005); Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie. 12. Auflage, Berlin 1998 (zuerst 1973); Longerich, Peter: Himmler. Eine Biographie, 3. Auflage, München 2010 (zuerst 2008); Gerwarth, Robert: Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011; Brechtken, Magnus: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München 2017. Zudem ist der filmische Zugang von einem »Interesse an personifizierter Geschichtsdarstellung« geleitet. Vgl. Reichel, Peter: »Onkel Hitler und Familie Speer« – Die NS-Führung privat; in: APuZ, Nr. 44 (2005), S. 14–23, hier: S. 16. 42 Wildt, Michael: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. Im Folgenden zitiert als: Wildt: Generation des Unbedingten. 43 Dabag, Mihran u. Platt, Kristin (Hrsg.): Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006. 44 Dabag, Mihran: Gestaltung durch Vernichtung. Politische Visionen und generationale Selbstermächtigung in den Bewegungen der Nationalsozialisten und Jungtürken; in: Ders. u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 142–171, hier: S. 144. 45 Wohl, Robert: The Generation of 1914, London 1980, S. 5.

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zwischen der wissenschaftlichen Definition einer bestimmten Tätergruppe als Generation und der tatsächlichen Selbstverortung der Täter als Teil einer solchen. »Denn mit der Selbstzuschreibung als ›Generation‹ wird ein sozialer Handlungsträger in der Gesellschaft konstruiert, der sich in eine Generationenfolge, in eine Genealogie einordnet, dessen Handeln jedoch zugleich einen Bruch mit den zurückliegenden Erfahrungen anstrebt.«46 Um eine bestimmte Generation zu bilden, ist sicherlich das exakte Alter weniger von Bedeutung, als die Formierung eines gemeinsamen Referenzrahmens, der sich als Bruch mit der Vergangenheit anbietet.47 Mit seiner 2014 erstmals erschienenen Studie »Ganz normale Organisationen« griff Stefan Kühl bereits im Titel den Normal-Terminus der Goldhagen-Debatte auf und wählte einen organisationstheoretischen Ansatz zur Erklärung der bereitwilligen Umsetzung der Massenverbrechen seitens der Täter in der NS-Zeit.48 Die Studie erhielt große Resonanz in verschiedenen Forschungszweigen, die gar zu einer »Kühl-Kon­troverse« erhoben wurden.49 Kühl bezog sich in seiner Studie auf Modelle der systemtheoretischen Soziologie, auch unter Berücksichtigung der Organisationstheorie von Niklas Luhmann, die freilich auf Prinzipien der Rechtstaatlichkeit und Legalität beruht. Kühl stellte die Mitgliedschaft in »Gewaltorganisationen« als zentralen Erklärungsansatz heraus. Die Mitglieder der Organisationen, so Kühl, orientierten sich an den formalen Erwartungen innerhalb der Organisationen und würden je nach Situation durch verschiedene Mittel zu den Taten motiviert. Der Ansatz hob zu Recht hervor, dass der überwiegende Teil der NS-Verbrechen von Tätern verübt wurde, die einer NS-Organisation angehörten. Gegen Kühls Thesen wurden jedoch diverse Einwände erhoben, die dem eher monokausalen Ansatz widersprachen. So konnten die von Kühl verwendeten Quellen seinen Ansatz keineswegs belegen. Der Krieg als Ausnahmesituation, die prozesshafte Veränderungen der Mordaktionen, die individuelle Umsetzung, die keineswegs einheitlichen Vorstellungen von Ideologie für die einzelne Täter aber auch die von Kühl grundlegend angenommene homogene Zielausrichtung der »Gewaltorganisationen«, wie dies beispielsweise bei den Schulungsmaterialien der 46 Dabag, Mihran: Gestaltung durch Vernichtung. Politische Visionen und generationale Selbstermächtigung in den Bewegungen der Nationalsozialisten und Jungtürken; in: Ders. u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 142–171, hier: S. 152. 47 Vgl. Wohl, Robert: The Generation of 1914, London 1980, S. 210. 48 Kühl. Stefan: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocausts, Berlin 2014. 49 Vgl. zur Debatte die Aufsätze: Ganz normale Organisationen? Systemtheoretische Ansätze der Holocaustforschung. Eine Debatte; in: Zeitschrift für Genozidforschung Nr. 2 (2018).

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SS nicht nachzuvollziehen ist, beeinträchtigen Kühls Ansatz.50 Ebenfalls deutlich wurde, dass für eine umfassende Analyse der Tatumstände verschiedene Ebenen und Referenzrahmen berücksichtigt werden müssen, die ihrerseits Einfluss auf die jeweilige Tatsituation und die handelnden Personen besitzen und nicht pauschal durch die Mitgliedschaft zu einer NSOrganisation zu erklären sind.51 Organisationen bilden zwar eine wichtige Perspektive auf die Verbrechen, sie dürfen jedoch nicht losgelöst werden von den Makro- und Mikrostrukturen der NS-Zeit. Die vorhandenen Quellen zeigen vielmehr, wie unterschiedlich die individuellen und situativen Bedingungen waren, in denen die Täter agierten. Neuere grundlegende Studien von Historikern wie Dieter Pohl52, Frank Bajohr53, Christian Gerlach54, Christoph Dieckmann55 oder Jochen Böhler56 haben die Täterforschung in den letzten Jahren durch gezielte Einzelstudien und methodische Konzepte bereichert, die nunmehr vielschichtige Ansätze in der Analyse der NS-Verbrechen verfolgen und zudem die intensive Zusammenarbeit zwischen den SS-Einheiten und der Wehrmacht verdeutlichen. Ein Tenor, der in vielen dieser Arbeiten besteht, ist die integrierende Auffassung zwischen einer Europaübergreifenden antisemitischen Entwicklung und der daraus resultierenden Vernichtungspolitik, wie sie während der NS-Zeit, insbesondere mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, stattfand. Ein solches Unterfangen bedurfte zumindest des Stillschweigens, teilweise gar der 50 Vgl. Nolzen, Armin: Organisation und Massenmord. Stefan Kühls Beitrag zu einer »Soziologie des Holocausts«; in: ZfG Nr. 2 (2018), S. 17–33. 51 Vgl. Holzinger, Markus: Der Holocaust und das Problem der Ebenen, Einige Bemerkungen zu Stefan Kühls »Soziologie des Holocaust«; in: ZfG Nr. 2 (2018), S. 34–51. 52 Neben den zahlreichen Aufsätzen sind insbesondere zwei Arbeiten zu nennen: Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. München 2008 und Pohl, Dieter: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen, Oldenbourg, München u. a. 1996. 53 Darunter insbesondere die Sammelbände und Aufsätze: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015. Bajohr, Frank u. Pohl, Dieter (Hrsg.): Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006. Bajohr, Frank u. Wildt, Michael (Hrsg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009. 54 Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde, Hamburg 1999. 55 Dieckmann, Christoph: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944, Bd. 1 und 2, Göttingen 2011. 56 Böhler, Jochen: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a. M. 2006.

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Akzeptanz breiter Gesellschaftsteile, in denen die Verbrechen stattfanden. Die Frage nach dem Wissen oder dem Nicht-Wissen-Wollen über die Mordaktionen im Osten während des Krieges beschäftigt nachhaltig die Forschung.57 Der genaue Ablauf der Vernichtung wurde von der NSFührung gezielt verschleiert. Waren die stetig in ihrer Radikalität steigenden staatlichen Maßnahmen seit der Machtübernahme der NSDAP noch von einer breiten öffentlichen Zustimmung und Unterstützung der nichtjüdischen Teile der Gesellschaft geprägt, kann dies nicht für die Massenermordungen um das Jahr 1941 gelten, die allmählich auch zu der Bevölkerung »durchsickerten«. Wie Frank Bajohr feststellt, war die Bereitschaft der deutschen Bevölkerung zu öffentlicher Diskriminierung und Repressionen zu großen Teilen vorhanden, doch war diese Akzeptanz nicht grenzenlos.58 Ein wichtiger Faktor hierfür besteht freilich in der Verbindung zwischen dem empfundenen »Erfolg« des Nationalsozialismus und der Popularität Adolf Hitlers bei gleichzeitigen wirtschaftlichen und militärischen Erfolgen in Europa, insbesondere in der Anfangsphase des Krieges. Götz Aly hat dieses Phänomen anhand der »Adolf-Kurve« beschrieben, die beziffert, dass ab dem Jahr 1941/42 ein deutlicher Rückgang in der Namensgebung für Neugeborene auf den Namen Adolf erfolgte.59 Deutlich wird hierbei auch die Parallele zum umweltpsychologischen Konzept der »shifting baselines«, in dem eine radikale Veränderung der Mentalität einer Bevölkerung von dieser nicht wahrgenommen wird, solange dieser Prozess peu à peu weiter vorangetrieben wird. Maßnahmen, die anfangs ausgeschlossen werden, gelangen durch eine allmähliche Radikalisierung in den Bereich des Möglichen, wie dies insbesondere von Welzer vertreten wird.60 Konkret bedeutet dies: Hätte Hitler 1933 die Deportation aller im Deutschen Reich lebenden jüdischen Bevölkerungsteile angeordnet, wäre dies wohl nicht realisierbar gewesen. Acht Jahre später ist dies allerdings möglich. Lediglich die tatsächliche Ermordung ist ein Schritt, der auch nach der jahrelangen Radikalisierung und Distanzierung im NS-System noch keine annehmbare Option war – zumindest für den Großteil der Bevölkerung. Diese fehlende Zustimmung muss auch 57 Vgl. Bajohr, Frank u. Pohl, Dieter: Massenmord und schlechtes Gewissen. Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust, Frankfurt a. M. 2008. 58 Vgl. Ebd., S. 35ff. Bajohr zeigt neben dem Isolationsprozess der jüdischen Bevölkerungsteile auch das vielschichtige Verhalten der deutschen Bevölkerung, das insbesondere aus der »Verhaltenstrias« (S. 53) aus Zustimmung, Zurückhaltung und kritischer Distanz bestand. 59 Vgl. Welzer, Harald: Die Deutschen und ihr »Drittes Reich«; in: APuZ Nr. 14/15 (2007), S. 21–28; hier: S. 28. 60 Vgl. Neitzel, Sönke u. Welzer, Harald: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011, S. 26f.

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der NS-Führung bewusst gewesen sein. Zwar gibt es in zahlreichen Reden Hitlers Andeutungen zu den Völkermorden im Osten, doch werden sie immer nur vage umschrieben, werden nie konkret.61 Auch die Gestapo war angehalten, jegliche Form von öffentlichen Äußerungen über die Gewaltaktionen an der Ostfront zu unterbinden. Die ganze Wahrnehmung des alltäglichen Völkermordes wurde so in einem Raum gehalten, der es der breiten Bevölkerung ermöglichte, sich von den Gräueltaten sowohl zu distanzieren als auch die Glaubwürdigkeit der Informationen in Frage zu stellen. Umstritten bleibt, inwieweit die These von Götz Aly zutrifft, der das NS-Regime als »Gefälligkeits- und Zustimmungsdiktatur« charakterisierte.62 Hans Mommsen wies darauf hin, dass diese vermeintliche Zustimmung auch durch »den direkten und indirekten Unterdrückungsapparat des Regimes« bedingt wurde, der eine freie Kommunikation, insbesondere in der Spätphase des Krieges, verhinderte.63 Als die deutsche Gesellschaft allmählich die Bedeutung von Begriffen wie der »Frontbegradigung« und das Ausmaß des »Totalen Krieges« in Form der Massenerschießungen an der Ostfront durch Frontsoldaten und die ausländische Presse kennenlernte, schwand in Teilen der Bevölkerung allmählich auch die Begeisterung für den Krieg und das System. Bajohr macht dies an unterschiedlichen Ebenen in der Radikalisierung der NS-Maßnahmen gegenüber Juden deutlich.64 Für die Soldaten und Polizisten im »Wilden Osten«65 hingegen herrschte eine Art Ausnahmezustand. »Historisch erwiesen ist, dass sich in der Ausnahmezone die Bedeutung psychologischer Faktoren für die Partizipation am Genozid verändert. Die wiederholte Teilnahme an Mordaktionen hilft Extremverhalten 61 Hier beispielhaft die Rede Hitlers vom 30. Januar 1939, die in späteren Bezügen Hitlers fälschlicherweise auf den Kriegsbeginn im. September 1939 umdatiert wurde, um die direkte Verbindung zwischen dem Krieg und den antisemitischen Maßnahmen zu unterstreichen. Vgl. Wörner, Bernward: Hitler-Rede vom 30. Januar 1939; in: Benz, Wolfgang (Hrsg.) Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2013, S. 281–282. Vgl. auch: Kley, Stefan: Intention, Verkündung, Implementierung. Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939; in: ZfG Nr. 48 (2000), S. 197–213. 62 Vgl. Aly,Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005, S. 333. 63 Vgl. Mommsen, Hans: Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus; in: APuZ Nr. 14/15 (2007), S. 14–21, hier: S. 19f. 64 Vgl. Bajohr, Frank u. Pohl, Dieter: Massenmord und schlechtes Gewissen. Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust, Frankfurt a. M. 2008, S. 45ff. 65 Mallmann, Klaus-Michael; Rieß, Volker u. Pyta, Wolfram (Hrsg.): Deutscher Osten 1939–1945. Der Weltanschauungskrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003, S. 7.

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zu ›normalisieren‹, so dass es – anders als in der Anfangsphase – aufmunternder Antriebe ›von oben‹ oder durch die jeweilige Bezugsgruppe kaum noch bedarf. An die Stelle von peer pressure tritt die gemeinsame Erfahrung habitueller Gewaltanwendung, in deren Folge sich die Gruppenbindungen verstärken und verbliebene moralische Skrupel verschwinden können.«66

Ein Problem der Forschung, welches auch in den Beiträgen des Sammelbandes von Timm Richter »Krieg und Verbrechen« deutlich wird, ist die wissenschaftliche Abgrenzung in den Analysen der NS-Verbrechen, insbesondere bei vergleichenden Studien, wie dies von Klaus Jochen Arnold im gleichen Sammelband treffend zusammengefasst wurde: »Jede vergleichende Untersuchung von Verbrechen steht zudem vor dem Dilemma, dass eine zweifelslose Unterscheidung zwischen ›Ideologie‹, ›Pragmatismus‹, endogenen und exogenen Einflüssen bekanntlich nicht realisierbar ist. Zu verwoben sind die Faktoren, zu komplex das Konglomerat an Voraussetzungen oder Beweggründen, die Ereignissen oder Handlungsweisen zugrunde liegen.«67

Der Historiker sieht sich nunmehr gezwungen, dieses Konglomerat zu entschlüsseln, ohne dabei sein Ziel zu vernachlässigen, historisch valide Aussagen über die Handlungsträger und die strukturellen Bedingungen zu tätigen. Hierfür scheint es sinnvoll und hilfreich, methodische Konzepte zu adaptieren, die in anderen Forschungszweigen verwendet werden.

2.2 Biographie und Ego-Dokumente in der NS-Täterforschung Biographien sind eng mit gesellschaftlichen Strukturen, Diskursen und Prozessen verbunden. Sie lassen sich als kulturelle oder soziale Kon­ struktionen verstehen, die auch über autobiographische Texte rekon­ struiert werden können.68 Das Selbstzeugnisse historischer Subjekte 66 Bloxham, Donald: Motivation und Umfeld. Vergleichende Anmerkungen zu den Ursachen genozidaler Täterschaft; in: Cüppers, Martin/ Matthäus, Jürgen/ Angrick, Andrej (Hrsg.) Naziverbrechen. Täter Taten, Bewältigungsversuche, Darmstadt 2013, S. 62–74, hier: S. 71. 67 Arnold, Klaus Jochen: Der Vergleich als Instrument zur Erforschung der Verbrechen von Wehrmachteinheiten: Perspektiven und Probleme; in: Richter, Timm C. (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 75–85, hier: S. 78. 68 Alheit, Peter u. Dausien, Bettina: ›Biographie‹ in den Sozialwissenschaften. Anmerkungen zu historischen und aktuellen Problemen einer Forschungsperspektive; in: Fetz, Bernhard (Hrsg.) Die Biographie – Zur Grundlegung

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als Quellen erkannt werden müssen, die nicht nur in der Relation zu Ereigniszusammenhängen, sondern sowohl in ihren gesellschaftlich-strukturellen als auch in ihren individuellen Denk- und Entstehungszusammenhängen gelesen werden müssen, ist erst seit den 1990er Jahren in der Forschung intensiver nutzbar gemacht worden.69 Selten explizit aufgelöst wird die zweifache Bedeutungsebene des Begriffs der Biographie zugleich als Bezeichnung eines Lebens in der Gesamtheit seines Verlaufs sowie in der Darstellung eines Lebens durch einen Autor oder durch einen Autor-Selbst. Beide Perspektiven sind in wissenschaftlichen Untersuchungen zu erkennen, wobei den einzelnen Perspektiven keine spezifischen Quellengattungen zugeordnet werden können. Quellen, in denen biographische Bezüge aufgefunden werden können, sind vielmehr äußerst heterogen. Dies betrifft die verschiedenen Formen, Ausrichtungen, die materielle Präsentation, die Zielsetzung und die Abgrenzung.70 In der wissenschaftlichen Behandlung von Biographien existieren diverse qualitative Methoden und Forschungszweige, die nicht einem bestimmten Fachgebiet im Wissenschaftskanon angehören.71 Bei der Analyse von biographischen Quellen ist insbesondere die perspektivische Trennung der Untersuchungsebenen von Bedeutung: »Es verändert das Verhältnis zwischen Individuum, Biograph und biographischem Text. Dann entdeckt nicht mehr ein Biograph das Individuum und schreibt dessen Einmaligkeit in einer […] Biographie fest, sondern die Gesellschaft benutzt die Form »Individuum« zur Beobachtung von Welt, in Unterscheidung zu anderen Formen, wie »Struktur«. Die Biografie ist dann das entsprechende literarische Genre, diese Form als Unterscheidung zu anderen Formen festzuhalten. […] Wenn das Individuum derartig als narratives Konstrukt entsteht, so üben biographische Texte freilich umgekehrt einen erheblichen Einfluss auf das Leben von Menschen aus, sie prägen deren Biographie – und genau diese strukturierende Kraft macht das Genre so interessant.«72

Biographien können, wie vorerwähnt, als Konstrukte untersucht werden. Zum einen (re)konstruiert der Autor einer Biographie einen Lebenslauf anhand von Quellen und Wissen über die Person, zum anderen beruht ihrer Theorie, Berlin 2009, S. 285–315, hier: S. 307. Im Folgenden zitiert als Alheit u. Dausien: ›Biographie‹ in der Sozialwissenschaft. 69 Vgl. Lässig, Simone: Die historische Biographie auf neuen Wegen?; in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Nr. 59 (2009) S. 540–553, hier: S. 551f. 70 Zur Spannbreite des Biographie-Terminus vgl. Etzenmüller, Thomas: Biografien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a. M. 2012, S. 16–19. Im Folgenden zitiert als Etzenmüller: Biografie. 71 Vgl. als Überblick: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009. 72 Etzenmüller: Biografie, S. 21f.

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dieses Vorgehen auf biographischen Wissensmustern, die sich der Autor bewusst und unbewusst angeeignet hat, die also als gesellschaftliche Wissensmuster existieren. Dieser Prozess gewinnt an Komplexität, wenn der Autor identisch mit dem Akteur der Biographie ist. Vor dem Hintergrund der sozialen Rahmungen von Biographien sind in historischen Forschungen explizit Methoden soziologischer Biographieforschung nutzbar gemacht worden. Diese interdisziplinäre Inte­ gration soll hier kurz vorgestellt werden, die die methodischen Verfahren konkretisieren und aufzeigen, dass autobiographische Quellen methodische Probleme aufwerfen, die eine Erweiterung des historischen Zugangs zu autobiographischen Quellen verlangen. Dazu wird eine Studie von Volker Depkat herangezogen, der für eine erzähltheoretische und kommunikationspragmatische Erweiterung der Quellenanalyse von autobiographischen Texten plädiert.73 Ausgehend von den soziologischen Studien von Znaniecki und Thomas über polnische Migranten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurden im Umfeld der sogenannten »Chicago School« umfassende biographische Analysen vollzogen.74 Die daraus resultierenden Studien beeinflussten die Gründung und Etablierung der Wissenssoziologie, der Ethnomethodologie und der Interaktionstheorie in den USA. Sie dienten als Grundlage für eine interpretative Methodologie, die im deutschsprachigen Raum im Bereich der Pädagogik und Soziologie in den 1970/80er Jahren weiterentwickelt werden konnte.75 Das von Fritz Schütze entwickelte Verfahren des Narrativen Interviews steht für diese Entwicklung im deutschsprachigen Raum. Schütze versuchte, weniger die makrostrukturellen Zusammenhänge einer Biographie zu fokussieren, als vielmehr deren individuellen Prozessstrukturen und intentionalen Muster.76 Durch Sequenzierung der einzelnen erzählten Lebensabschnitte sollen Prozessstrukturen im Lebenslauf entschlüsselt werden. Die darin erkennbare »biographische Gesamtformung« – eine Art Identität des Verfassers – verläuft in einem anderen Rhythmus als die Prozessstrukturen. In der Gegenüberstellung der 73 Depkat, Volker: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem; in. Depkat, Volker u. Pyta, Wolfram (Hrsg.) Autobiographie zwischen Text und Quelle. Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I, Berlin 2017, S. 23–40. 74 Vgl. Messerschmidt, Nadja: Zur Humanistischen Soziologie Florian Znanieckis. Ein Rückblick auf die biographische Methode am Institut für Soziologie der Adam-Mickiewicz-Universität, Posen in der Zwischenkriegszeit (1920–1939); in: BIOS Nr. 2 (2013), S. 177–199. 75 Vgl. Lutz, Helma; Schiebel, Martina u. Tuider, Elisabeth: Einleitung: Ein Handbuch der Biographieforschung; in: Dies. (Hrsg.) Handbuch Biographieforschung, 2. Auflage, Wiesbaden 2018, S. 1–8, hier: S. 2. 76 Vgl. Schütze, Fritz: Biographieforschung und narratives Interview; in: Neue Praxis 13/3 (1983), S.283–293, hier: S. 284.

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narrativen Prozessstrukturen mit den argumentierenden und bewertenden Prozessstrukturen erkennt Schütze den Schlüssel zum Verständnis für Erzählungen, die illusionär und verklärend wirken.77 Trotz der Tatsache, dass das Verfahren narrativer Interviews bis in die Gegenwart als Methode genutzt wird, gibt es Einwände gegen bestimmte Annahmen des Verfahrens, wie die besondere Hervorhebung der narrativen Elemente im Gegensatz zu beschreibenden, argumentativen und bewertenden Elementen der Erzählung oder die von Schütze nahegelegte Homologie zwischen den vergangenen Ereignissen und der Erzählper­ spektive.78 Unbestritten bleibt jedoch die Bedeutung der Sinn- und Deutungshorizonte biographischer Erzählungen. Mit dem Interpretationsverfahren der »objektiven Hermeneutik« wurde seit den 70er Jahren in der Soziologie ein methodisches Konzept entwickelt, das maßgeblich von Ulrich Oevermann geprägt wurde.79 Die Methode beruht auf der Annahme, dass zwei Ebenen von sozialer Realität existieren, die miteinander in Beziehung stehen. Neben dem Erkennen der subjektiven Intentionalität eines Handelnden, wie sie in einer phänomenologischen Hermeneutik untersucht wird, existiert eine weitere Ebene, die geprägt ist von latenten Sinnstrukturen, die dem Handelnden nicht oder kaum bewusst sind: »Die Realität von latenten Sinnstrukturen eines Textes einerseits, die unabhängig von ihrer jeweiligen psychischen Repräsentanz auf Seiten der Textproduzenten und Textrezipienten rekonstruierbar sind […] und der Realität von subjektiv intentional repräsentierten Bedeutungen eines Textes auf Seiten der handelnden Subjekte andererseits. Diese Realität ist gebunden an das Kriterium der Kommunizierbarkeit.«80 Der Lebenslauf, mit dem die chronologische Erfassung von Lebensereignissen an »objektiven« Daten festgemacht und deren Interpretation ermöglicht wird, ist das Untersuchungsobjekt der Lebenslaufforschung (Life-Course-Forschung). »Im Unterschied zur Biographieforschung wird in der Lebens(ver)lauf(s)forschung […] die Chronologie der Lebensereignisse und die Bearbeitung der sozial typisierten Statusübergänge durch die Individuen in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit 77 Vgl. Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, 4. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 316. Hierbei werden die Interviewskripte aufgeteilt in eine »Logik der Darstellung« und »eine Logik der Handlung«. Erzählungen werden mit argumentierenden und bewertenden Elementen kontrastiert. 78 Vgl. Ebd. S. 201–204. 79 Vgl. Ebd. S. 205–207. 80 Oevermann, Ulrich; Allert, Tilman; Konau, Elisabeth u. Krambeck, Jürgen: Die Methodologie einer »objektiven Hermeneutik« und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften; in: Soeffner, HansGeorg (Hrsg.) Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352–434, hier: S. 367.

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gerückt.«81 Dementsprechend anders ist die Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand. Während die Biographieforschung die (auto)biographischen Quellen als codierte Konstrukte auffasst, die biographischen Mustern und Sequenzen folgen, werden in der Lebenslaufforschung Phasen, Entscheidungen und Ereignisse und deren biographische Folgen untersucht. Der Lebenslauf beruht zwar auf subjektiven Entscheidungen, wird jedoch als abhängig von sozialstrukturellen Merkmalen, Alterskohorten und historischen Ereignissen betrachtet, deren Einflüsse maßgeblich den Lebenslauf prägen. In der Geschichtswissenschaft folgen biographisch orientierte Forschungsansätze oftmals der Oral History.82 Im internationalen Vergleich weist diese eine lange Tradition auf, wurde in Deutschland aber erst in den 1970er Jahren von Lutz Niethammer83 wiedereingeführt, was auch von der Tatsache beeinflusst wurde, dass nach dem Kriegsende über drei Jahrzehnte grundlegendes Quellenmaterial verschlossen oder durch Persönlichkeitsrechte geschützt war.84 Die Schnittstellen zwischen Biographieforschung und der Oral History gestalten sich im Forschungsverlauf different. Während bei der Datenerhebung oftmals auf die Interviewverfahren von Schütze zurückgegriffen wird, bestehen Unterschiede in der Systematik. Da die Biographieforschung methodologisch an die Grounded Theory anschließt, nimmt im Sampling die Theoriebildung einen wesentlichen Raum ein. Datenerhebung und Analyse werden mit dem Ziel der Theoriebildung gleichzeitig vollzogen.85 Die Fallauswahl bei der Oral History richtet sich allerdings danach, »möglichst unterschiedliche Perspektiven auf den 81 Alheit u. Dausien: ›Biographie‹ in der Sozialwissenschaft, S. 6. 82 Beispielhaft sind erfahrungsgeschichtliche Studien zu nennen. Vgl. Herrmann, Ulrich u. Müller, Rolf-Dieter (Hrsg.) Junge Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen als Lebenserfahrungen, München 2010. Der Band illustriert die Erfahrungsgeschichte sowohl anhand von TagebuchAnalysen, als auch mit Oral History-Verfahren. Vgl. auch Plato, Alexander v.: Geschichte ohne Zeitzeugen? Einige Fragen zur »Erfahrung« im Übergang von Zeitgeschichte zur Geschichte; in: Elm, Michael u. Kößler, Gottfried (Hrsg.) Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Jahrbuch 2007 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2007, S. 141–156. 83 Vgl. Ebd. S. 141. Vgl. auch: Niethammer, Lutz: »Die Jahre weiss man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.« Faschismuserfahrung im Ruhrgebiet, Berlin 1983. Vgl. auch: Niethammer, Lutz: Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis des »Oral History«, Frankfurt 1980. 84 Vgl. Ebd. S. 141f. 85 Zur Grounded Theory vgl. Fuchs-Heinritz, Werner: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, 4. Auflage, Wiesbaden 2009, S. 208–213.

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interessierenden historischen Gegenstand einzunehmen, um eine jeweils subjektiv unterschiedliche Perspektive und Verarbeitung des historischen Ereignisses zu repräsentieren.«86 Die Theoriebildung steht dementsprechend nicht im Fokus der Untersuchung. Noch größer werden die Unterschiede in der Auswertung des Quellenmaterials. So besteht in der Geschichtswissenschaft kein eindeutiges Auswertungsverfahren. Grundsätzlich wird der Frage nach der Entstehung des mündlichen Quellenmaterials nachgegangen, ein Vergleich zu anderen Quellen vollzogen und eine »textimmanente Deutungsarbeit«87 geleistet. Typenbildungen, wie sie in der Biographieforschung fokussiert werden und die der Theoriebildung dienen, werden in der Oral History zugunsten der Analyse typischer Erinnerungs- und Erzählmuster vernachlässigt.88 Grundsätzlich geht jedoch auch die Oral History vom »Konstruktionscharakter«89 der biographischen Erzählungen aus, wobei mündliche und schriftliche Quellen qualitativ als gleichwertig angesehen werden.90 Freilich hat die Geschichtswissenschaft darüber hinaus ein spezifisches Interesse an Biographien. Eine dem Historismus angehaftete Fokussierung von Lebensläufen »großer Männer« wurde in den vergangenen Jahrzehnten im Zuge einer Erweiterung der Geschichtswissenschaft hin zu Regionalgeschichte und Mikrostudien auch auf Personen und Personengruppen ausgeweitet, die zuvor kaum im Fokus des historischen Interesses standen.91 Seit den 1980er-Jahren haben zudem sprach- und kulturtheoretische Ansätze in der historischen Forschung an Gewicht gewonnen. Dies steht im Zusammenhang mit sozial- und sprachwissenschaftlichen Entwicklungen im vergangenen Jahrhundert, die unter verschiedenen Bezeichnungen wie »cultural turn«, »linguistic turn« oder »narrative turn« gefasst werden. Ein bedeutendes Kriterium ist die Hypothese, dass es sich bei Quellen generell nicht um Abbildungen vergangener Wirklichkeiten handelt, der Wissenschaftler somit nur über einen 86 Miethe, Ingrid u. Van Laak, Jeannette: Oral-History, Ego-Dokumente und Biographieforschung; in: Lutz, Helma; Schiebel, Martina u. Tuider, Elisabeth (Hrsg.) Handbuch Biographieforschung, 2. Auflage, Wiesbaden 2018, S. 587–597, hier: S. 592. 87 Wierling, Dorothee: Disziplinäre Perspektiven: Geschichte; in: Flick, Uwe; Kardoff, Ernst von, Keupp, Heiner; Rosenstiel, Lutz von u. Wolff, Stephan (Hrsg.) Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, Weinheim 1995, S. 47–52, hier: S. 51. 88 Ebd. S. 592f. 89 Ebd. S. 591. 90 Vgl. Wierling, Dorothee: Oral History; in: Maurer, Michael (Hrsg.) Aufriss der Historischen Wissenschaften, Bd. 7, Stuttgart 2003, S. 81–151, hier: S. 82. 91 Vgl. Schulze, Winfried: Einführung in die Neuere Geschichte, 4. Auflage, Stuttgart 2002 (zuerst 1987), S. 275f.

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indirekten Zugang auf die Vergangenheit verfügt und dass die Quellen dementsprechend vorrangig nicht auf eine dahinterliegende historische Wahrheit gedeutet, sondern als sprachliche Konstrukte verstanden werden müssen.92 Reinhart Kosellecks Schlussfolgerung: »Eine Geschichte ist nie identisch mit der Quelle, die von dieser Geschichte zeugt«93 weist in pointierter Weise auf diese methodische Problematik der historischen Wissenschaften hin, die in dem Verhältnis von Struktur und Intentionalität begründet liegt. »Es ist für das gesamte Verhältnis der neueren und gerade der fortschrittlichen, der sozialwissenschaftlich eingestellten Geschichtswissenschaft in Deutschland entscheidend, dass die Historische Sozialwissenschaft in der Tradition des Historismus und Max Webers cum Bourdieu kulturelle Strukturen meist mit intentionalem Sinn rationaler Subjekte und diesen mit hermeneutischen Verstehen identifiziert hat.«94 Symptomatisch in der Kontroverse um strukturgeschichtliche Ansätze auf der einen Seite, die subjektive Wahrnehmungen eher vereinnahmen, und poststrukturalistische Ansätze auf der anderen Seite, die »das Subjekt […] nur [als] eine Schnittstelle von Diskursen« sehen, ist die Tendenz zu erkennen, »dass traditionelle Erzählformen, die die Schilderung von nicht- oder überindividuellen Sachverhalten mit der Darstellung von subjektiven Wahrnehmungen und Handlungen verschränken«95 als mögliche Lösungsansätze erscheinen. Diese Erkenntnisse stehen dabei auch im Zusammenhang mit der von Hayden White aufgeworfenen Frage über die Fiktionalität historischer Arbeiten, die dieser anhand einer literaturwissenschaftlichen Analyse von geschichtswissenschaftlichen Studien versuchte zu belegen.96 In Bezug auf die Positionierung von Hayden White, die der Geschichtsschreibung etwas Fiktionales anhaftet, da der Wissenschaftler durch das Darstellungsmedium der Sprache ebenfalls eine Art »Dichtung« erschafft, darf man Whites Position nicht als Vorwurf einer Manipulation und Verbiegung historischer Argumente 92 Vgl. Lengwiler, Martin: Praxisbuch Geschichte. Einführung in die historischen Methoden, Zürich 2011, S. 88f. 93 Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt; in: Ders. (Hrsg.) Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1985, S. 176–207, hier: S. 204. 94 Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003, S. 18f. 95 Ebd. S. 29. 96 Vgl. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a. M. 1991 (zuerst 1973). Vgl. auch: ­White, Hayden: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Topologie des historischen Diskurses. Mit einer Einführung von Reinhart Koselleck, Stuttgart 1986 (zuerst 1978).

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verstehen. Es findet keine »Geschichtsklitterung«97 statt. Vielmehr ist auch der Historiker bei der sprachlichen Darstellung auf Elemente angewiesen, die seine Darstellungsweise maßgeblich beeinflussen. »Das zu dem Substantiv ›Fiktion‹ gehörige Adjektiv heißt nicht ›fiktiv‹, sondern ›fiktional‹: White lenkte den Blick darauf, auf welche Weise Geschichte(n) entworfen wird/werden.«98 Whites Ansatz hat sich in der Geschichtswissenschaft nicht durchgesetzt, doch ist die Erzählung nicht nur eine Form der Darstellung, sondern auch für die historische Sinnbildung elementar.99 Sicherlich antwortet die Integration gerade sozialwissenschaftlicher Theorieangebote in die geschichtswissenschaftliche Forschung auf eine häufig eingeklagte »Theoriearmut«. Pyta schreibt diesbezüglich, »dass eine gewisse Kluft besteht zwischen dem Verfassen gewichtiger biographischer Werke, die ohne begleitende theoretische Vertiefung auskommen und dem Formulieren theoretischer Anforderungen an biographische Unternehmungen, ohne dass dies jemals durch eine biographische Studie eingelöst worden wäre.«100 Dieses Resümee bindet Pyta an die Forderung eines kritischen Umgangs mit Selbstzeugnissen in der Geschichtswissenschaft, die tatsächlich bis heute trotz methodischer Differenzierung als kritische Quellen angesehen werden. So unterstützen die methodischen Fundierungen der Biographieforschung zwar die Möglichkeit, biographische Quellen in sowohl mikro- als auch makrotheoretische Fragestellungen einzuführen. Zu einer generellen Neubewertung der Biographie als historische Quelle hat dies jedoch nicht geführt. So ist in den vergangenen Jahrzehnten eine zwar beeindruckende Dichte an Erkenntnissen im Bereich der Strukturgeschichte des NS gewachsen, die sich auch an den biographischen Studien ablesen lässt, vernachlässigt ist jedoch die Mikroebene der Einzelbiographie. Diese Tendenzen lassen sich in biographische Arbeiten der NS-Forschung aufzeigen, deren Fokus auf den NS-Spitzen liegt. Peter Longerich verweist in seiner Biographie über Heinrich Himmler darauf, dass das geschichtswissenschaftliche Bestreben um eine biographische Studie schnell an den zur Verfügung stehenden Quellen scheitern kann. Dies sei in Bezug auf Heinrich Himmler mit den fehlenden Quellen Mitte 97 Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, 2. Aktualisierte Auflage, Paderborn 2013, S. 197. 98 Ebd. 99 Vgl. Depkat, Volker u. Pyta Wolfram: Einleitung: Autobiographie zwischen Text und Quelle; in: Dies. (Hrsg.) Autobiographie zwischen Text und Quelle. Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I, Berlin 2017, S. 7–22, hier S. 10. 100 Pyta, Wolfram: Biographisches Arbeiten als Methode: 1. Geschichtswissenschaft; in: Klein, Christian (Hrsg.) Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 331–338, hier: S. 336.

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der 30er Jahre der Fall. Nachdem das private Bild von Himmler in den Jahren zuvor relativ gut anhand von Tagebüchern und Briefen nachgezeichnet werden kann, sei dies mit dem wachsenden Status von Himmler im NS-System umso schwieriger gewesen, da an die Stelle der privaten Schriftstücke offizielle Dokumente rücken, deren Aussagekraft für die Struktur des NS ungleich größer sind. Persönliche Schriftstücke, die genauere Auskunft über Selbstentwürfe zulassen, existieren ab dieser Zeit kaum noch. Bei Longerich findet somit eine Verlagerung statt, vom anfangs individual-biographischen Zugang zu Heinrich Himmler, hin zu einer methodischen und narrativen Fokussierung der Strukturgeschichte. Longerich sieht dies als »logische Konsequenz aus der geschilderten wachsenden Verschmelzung von Amt und Person.«101 Explizit nennt Longerich die Arbeiten von Heinz Höhne102 und Robert Lewis Koehl103 als Anknüpfungspunkte seiner Arbeit, in der Longerich versucht, durch die Verschränkung von Strukturgeschichte und Biographie »die in den letzten Jahren durch die Forschung stark in Einzelaspekte aufgelöste Geschichte der SS wieder zusammenzuführen.«104 Peter Longerichs Biographie von Joseph Goebbels stellt angesichts der Quellenbestände eine Sonderrolle unter den Biographien über NS-Spitzen dar. Denn durch die zahlreichen autobiographischen Quellen, die von Goebbels überliefert sind, auch hier zentral die Tagebuchaufzeichnungen, fokussiert sich Longerich auf eine Dekonstruktion des Selbstbildes von Joseph Goebbels, welches dieser in seinen Tagebüchern und den zahlreichen produzierten Quellen offenbarte.105 Diese Dekonstruktion wird methodisch freilich nicht vertieft erläutert. Longerich fokussiert bestimmte Persönlichkeitsdefizite, wie eine »narzißtische Sucht«, eine »Unsicherheit«, »Abhängigkeit« und »grandiose Selbstüberschätzung«. Diese psychologisierenden Beschreibungen dienen einer Perspektiverweiterung auf die historische Rolle von Goebbels. Zugleich soll sich aufgrund der empirischen Quellenarbeit nicht nur ein Zugang zur Person, sondern auch ein »Zugang zu einer Analyse des Aufbaus und der Wirkungsweise des nationalsozialistischen Propagandaapparates« öffnen.106 Dementsprechend nutzt Longerich dieselben Quellen auch für 101 Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie, München 2010 (zuerst 2008), S. 12f. 102 Höhne, Heinz: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, 3. Auflage, München 1981 (zuerst 1967). 103 Koehl, Robert Lewis: The Black Corps. The Structure and Power Struggles of the Nazi SS, Madison 1983. 104 Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie, München 2010 (zuerst 2008), S. 974. Zu den benutzten Quellen und zu der Einordnung in die Forschungsgeschichte der SS vgl. S. 971–974. 105 Vgl. Longerich, Peter: Joseph Goebbels. Biographie, München 2010, S. 13. 106 Ebd. S. 14.

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die Analyse struktureller Aspekte des NS-Systems. Die Tagebücher werden von Longerich dahingehend gelesen, um Aussagen über das Machtgefüge des NS-Apparates zu ziehen und zugleich Entscheidungsprozesse zu beleuchten. Longerich vollzieht somit eine Verdopplung in der Rekonstruktion der Bedeutungsebenen der Quellen. Zum einen wird eine »Persönlichkeitsanalyse« des Tagebuchautors durchgeführt, zum anderen wird das Tagebuch als historische Quelle für eine Biographie genutzt.107 Dies verdeutlicht die Offenheit biographischer Quellen für eine doppelte Lesart. Die Quellen enthalten zwei Referenzebenen, die, quellenkritisch reflektiert, im theoretisch-methodisch abgesicherten Modus offengelegt werden und gewinnbringend miteinander korreliert werden können. Zwar erkennt Longerich, dass die Tagebücher im Vergleich zu anderen Quellen »über Termine und Begegnungen mit anderen Personen im hohen Maße zuverlässig sind«108, jedoch sind sie auch durch zahlreiche Dramatisierungen und Weglassungen gekennzeichnet. Um die daraus resultierenden Wahrnehmungen und Deutungen des Autors zu entschlüsseln, plädiert Longerich dafür, die Tagebuchaufzeichnungen mit anderen historischen Quellen zu vergleichen.109 Der britische Historiker Robert Gerwarth vertritt in seiner 2011 erschienenen Biographie über Reinhard Heydrich die These, dass Kollektivbiographien nicht ausreichen, um Aussagen über das Leben Heydrichs zu treffen. Gerwarth bezieht sich explizit auf die Studien von Michael Wildt110 und Jens Banach111, die einen kollektivbiographischen Zugang für die Analyse des Führungspersonals des RSHA wählten. Gerwarth macht deutlich, dass Heydrich in vielen Aspekten ein atypischer Vertreter der »Generation des Unbedingten« war, da er trotz seines Jahrgangs und seiner Erfahrungen in der sogenannten »Kriegsjugendgeneration« in der Weimarer Republik weder durch Antisemitismus, noch durch frühe Parteizugehörigkeit und Bindung an die NSDAP auffiel. Eher aus wirtschaftlichem Interesse und seiner Entlassung aus der Marine sowie durch die enge Bindung seiner Verlobten Lina von Osten zur NSDAP entschied sich Heydrich erst 1931 zum Eintritt in die SS. Die entscheidenden Jahre lagen somit zwischen 1931–1936, in denen sich Heydrich über Erfahrungen und persönliche Begegnungen politisch radikalisierte und die NS-Ideologie aneignete.112 Auch Gerwarth versucht in seiner Studie »private Lebensgeschichte, politische Biographie und Strukturgeschichte 107 Vgl. Ebd. S. 15. 108 Ebd. S. 16. 109 Vgl. Ebd. S. 17. 110 Wildt: Generation des Unbedingten. 111 Banach, Jens: Heydrichs Elite. Das Führungskorps der Sicherheitspolizei und des SD 1936–1945, Paderborn 1996. 112 Vgl. Gerwarth, Robert: Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011, S. 12f.

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verschränkt« zu behandeln. Zugleich nimmt Gerwarth auf einer »stärker personalisierten Ebene« die historischen Umstände in den Blick, unter denen die jungen Erwachsenen aus der bürgerlichen Mittelschicht zu Extremisten und Tätern werden konnten.113 Beispielhaft für das methodische Vorgehen bei der biographischen Analyse von NS-Spitzen in der Forschung stehen die verschiedenen Hitler-Biographien, dessen Autoren in den letzten Jahrzehnten je unterschiedliche Zugänge wählten. Auch wenn Martin Broszat bereits Ende der 80er Jahre mahnte, nicht »von den riesenhaften Wirkungen auf die Ursächlichkeit der Person«114 zu schließen, finden Hitler-Biographien bis in die Gegenwart große Resonanz.115 Während Joachim Fest in seiner erstmals 1973 erschienenen Biographie über Hitler den persönlichen Charakterzügen nachging, indem er Hitler als »merkwürdige[n] Rollencharakter«116 identifizierte, wird in der 1998 erstmals erschienen Hitler-Biographie von Ian Kershaw ein vermehrtes Augenmerk auf die gesellschaftlichen Bedingungen und Kräfte gelegt, die Hitlers Macht begründeten.117 Die Annäherung an die Person Adolf Hitlers erfolgte somit aus der Perspektive, wie Kershaw selber schreibt, eines »strukturalistischen Historikers«.118 Zugleich bemüht sich Kershaw, für seine biographische Studie personelle und strukturelle Elemente zu vereinen. Explizit bezieht sich Kershaw auf die Terminologie der »charismatischen Herrschaft« von Max Weber, ein Begriff, »der zur Erklärung dieser außergewöhnlichen Form von politischer Herrschaft primär auf diejenigen blickt, die das Charisma wahrnehmen. Das heißt auf die Gesellschaft und nicht in erster Linie auf die Persönlichkeit als dem Gegenstand ihrer Verherrlichung«.119 Kershaw erkennt in der biographischen Methode zwar Risiken, wie die Empathisierung oder versteckte Bewunderung der Person oder die Personalisierung historisch-komplexer Entwicklungen,120 nimmt diese aber in Kauf, in dem er sich gegen die Frage nach 113 Vgl. Ebd. S. 15. 114 Broszat, Martin: Probleme der Hitler-Forschung; in: Ders. (Hrsg.) Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, 2. Auflage, München 1988, S. 119–130, hier: S. 122f. 115 Vgl. Simms, Brendan: Hitler. Eine globale Biographie, München 2020 (zuerst 2019). 116 Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, 11. Auflage 2010 (zuerst 1973), S. 41. 117 Vgl. Kershaw, Ian: Hitler, Bd. 1: 1989–1936, 2. Auflage, München 1998. 118 Ebd. S. 8. 119 Ebd. S. 9. Siehe zum Aspekt des »Charismas« aus historischer Perspektive auch: Herbst, Ludolf: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt am Main 2010. Siehe ferner auch das Themenheft »Genozid und Charisma« von Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 24, 4, 1998. 120 Ebd. S. 17f.

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personeller »geschichtlicher Größe«121 wendet, die er perspektivisch umkehrt zu der Frage, »wie konnte ein solcher Mann eine so gewaltige historische Wirkung entfalten […]?«122 Volker Ullrich konnte in seiner Hitler-Biographie neben den umfassenden Sammlungen von Reden, Schriften und Anordnungen noch auf weitere Quellenbestände zurückgreifen, die den meisten vorherigen Biografen nicht zur Verfügung standen. Darunter fallen Einschätzungen von Zeitzeugen, hier insbesondere die erstmals 1992 erschienenen Tagebücher Joseph Goebbels und das Tagebuchwerk von Harry Graf Kessler, das die Jahre 1926–1937 umfasst und 2010 veröffentlicht wurde.123 Ullrich geht in seiner Studie auf die Persönlichkeit Hitlers ein, mit dem expliziten Ziel, den dämonisierten Hitler-Mythos zu dekonstruieren und Hitler so zu »normalisieren«.124 Da autobiographische Quellen von Hitler während der NS-Zeit jedoch kaum vorhanden sind, legt auch Ullrich ein vermehrtes Augenmerk auf die Strukturen des NS-Systems, die von Hitler maßgeblich geprägt wurden. Freilich stellt Hitlers Schrift »Mein Kampf« aus den Jahren 1923/24 eine einzigartige frühe autobiographische Quelle dar, die allerdings mehr Hitlers programmatischen Überzeugungen als den eigenen Lebenslauf behandelt.125 Einen kulturhistorischen Ansatz der biographischen Analyse von Adolf Hitler legte 2015 Wolfram Pyta vor, der mit Bezug auf Walther Benjamins »Ästhetisierung des Politischen« versuchte, die Herrschaftspraxis von Hitler zu analysieren.126 Pyta wählte diesen Zugang, da Hitler selbst kaum autobiographisches Quellenmaterial produzierte, stattdessen eine »orale Herrschaftstechnik«127 praktizierte, die, mitunter von Gesprächspartnern aufgeschrieben, als Quellenmaterial vorliegen.128 Um 121 Der Begriff wird ausführlich bei Fest behandelt. Vgl. Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, 11. Auflage 2010 (zuerst 1973), S. 29ff. 122 Ebd. S. 21. 123 Vgl. zu den benutzten Quellen: Ullrich, Volker: Adolf Hitler. Biographie, Bd. 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889–1939, Frankfurt a. M. 2013, S. 19f. 124 Ebd. S. 21. 125 Das IfZ hat unter maßgeblicher Arbeit von Christian Hartmann 2016 eine kritische Edition des Werkes veröffentlicht: Hartmann, Christian; Vordermayer, Thomas; Plöckinger, Othmar u. Roman Töppel (Hrsg.): Hitler, Mein Kampf: Eine kritische Edition, 1. Auflage, München 2016. 126 Pyta, Wolfram: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015. 127 Ebd. S. 31. 128 Vgl. Ebd. S. 30ff. Zu den Quellen zählen die Aufzeichnungen von Heinrich Heim (Adjutant Bormann) der sogenannten »Teegespräche« mit Adolf Hitler, die Aufzeichnungen von den Gauleitersitzungen, die von Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern notiert wurden und die stenographischen Protokolle der militärischen Lagebesprechungen.

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diesen Herrschaftsstil zu analysieren, untersuchte Pyta drei Quellenkorpusse und zeigte so, wie sich die Herrschaftspraxis Hitlers in einem Transformationsprozess vom »Redekünstler« zum Feldherrn wandelte, den er ab 1942 zu verkörpern suchte.129 Dieser spezifische Quellenzugang zur Biographie von Hitler zeigt die analytische Reichweite, die durch die spezifische Nutzung von biographischen Quellen möglich ist.130 Die Autoren versuchen einen zweifachen Zugang zur biographierten Person einzunehmen. Einerseits werden die personalen Elemente beleuchtet, die als individuelle Charakteristika hervortreten, andererseits werden vermehrt strukturelle Elemente aufgezeigt und mit den persönlichen Elementen verknüpft. Pyta erkennt in diesem methodischen Vorgehen ein Muster: »[…] als goldene Regel hat sich eingebürgert, im biographischen Ansatz die richtige Balance zwischen personalen und strukturellen Elementen zu finden. Diese Sensibilität für die Kontextualisierung ist gewiss nicht zuletzt der Verfeinerung des biographischen Zugriffs durch eine Sozialgeschichte zu verdanken, die zu der Einsicht gelangte, dass sich die Person als handlungsmächtiger Faktor nicht in Strukturen auflösen lässt und umgekehrt zu einer Verfeinerung des biographischen Vorhabens insofern beitrug, als sie eine Fülle heuristisch ergiebiger Konzepte beisteuerte, mit denen das Individuum und sein Verhaftetsein in sozialen Entitäten intelligent miteinander verknüpft werden.«131

Der strukturgeschichtliche Zugang dominiert im Großteil der biographischen Arbeiten über die NS-Spitzen. Gleichwohl gibt es eine Reihe weiterer biographischer Zugänge in der NS-Täterforschung, die sowohl Einzel- als auch Kollektivbiographien behandeln und die sich mit rangniedrigeren Personen befassen. Eine grundlegende Einzelfallstudie in der NS-Forschung stellt die Arbeit von Ulrich Herbert über Dr. Werner Best dar. Anhand umfangreicher Quellenbestände analysiert Herbert die Biographie von Best und zeigt 129 Vgl. Ebd. S.40f. 130 Depkat, Volker u. Pyta Wolfram: Einleitung: Autobiographie zwischen Text und Quelle; in: Dies. (Hrsg.) Autobiographie zwischen Text und Quelle. Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I, Berlin 2017, S. 7–22 u. Pyta, Wolfram: Biographisches Arbeiten als Methode: 1. Geschichtswissenschaft; in: Klein, Christian (Hrsg.) Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 331–338. Eine ähnliche Annäherung unternimmt Görtemaker, die den Personenkreis im direkten Umfeld von Hitler untersucht. Vgl. Görtemaker, Heike B.: Hitlers Hofstaat. Der innere Kreis im Dritten Reich und danach, 2. Auflage, München 2019. 131 Vgl. Pyta, Wolfram: Biographisches Arbeiten als Methode: 1. Geschichtswissenschaft; in: Klein, Christian (Hrsg.) Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 331–338, hier: S. 333.

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anhand dessen Schriften die Entwicklung Bests innerhalb einer völkischnationalen Jugendbewegung hin zum Organisator und Personalchef der Gestapo. Best versuchte seine »entwickelten Vorstellungen von weltanschaulich fixierter Radikalität, ›Sachlichkeit‹ und elitärem Führertum politisch und praktisch an entscheidender Stelle umzusetzen […].«132 Zudem kann Herbert, anders als die bisher genannten Biographen, auf Quellenmaterial nach 1945 zurückgreifen, die Auskunft über die Überzeugungen und Selbstauffassungen in der Nachkriegszeit geben. Herbert schlägt somit, wie er festhält, »einen Bogen […] von der völkischen Bewegung und der ›Konservativen Revolution‹ der 20er Jahre über den Aufstieg des Nationalsozialismus hin zur Politik und weltanschaulichen Verankerung des Sicherheitsapparates des Regimes, über die deutsche Besatzungspolitik in Europa bis hin zum Zusammenbruch der Diktatur, von den Nachkriegsprozessen gegen die einstigen NS-Größen und den verschiedenen Schüben der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Deutschland bis in Die Gegenwart […].«133

Die Überschneidungen zwischen der Biographie von Best und Isselhorst sind offensichtlich, und es wäre dementsprechend leicht, Isselhorst analytisch mit Best zu vergleichen. Beide gehören der sogenannten »Kriegsjugendgeneration« an, stammen aus einem ähnlichen sozialen Milieu, bestreiten in den 1920er Jahren einen ähnlichen Bildungsgang, arbeiten gemeinsam in der Geheimen Staatspolizei und werden nach dem Krieg für ihre Taten angeklagt. Doch unterscheidet sich die Person Isselhorsts zu der Werner Bests bereits hinsichtlich dessen, dass Isselhorst als Einsatzgruppenleiter im Ostfeldzug bei den Verbrechen vor Ort war – also einen unmittelbaren Zugang zu den Massenverbrechen besaß. Für die biographische Analyse liegt der bedeutendste Unterschied allerdings im Quellenmaterial. Während aufgrund der vorhandenen Quellen »das Bild des privaten Werner Best doch blaß [bleibt]«134, sind es gerade diese Quellen, die bei Isselhorsts Fallbeispiel dominieren und damit die Möglichkeit bieten, einen wesentlich tieferen Einblick in die Perzeption und in die narrative Selbstdarstellung einer Person zu erhalten, die zudem unmittelbar an den Massenverbrechen des NS beteiligt war. Weitere Beispiele von Einzelbiographien, die sich mit NS-Tätern beschäftigen, sind Arbeiten von Catherine Epstein über den Gauleiter Arthur Greiser135, Wolfram Wettes Studie über Karl Jäger, die Analyse 132 Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 525. 133 Ebd. S. 20f. 134 Ebd. S. 23. 135 Eine Ausnahme unter den besagten Biografien bildet die Biografie von Catherine Epstein über den Gauleiter Arthur Greiser. Vgl. Epstein, Catherine:

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von Peter Lieb, der sich mit den Kriegstagebüchern des Oberst Carl von Andrian136 beschäftigt, oder die Arbeit von Alex J. Kay über Al­ fred Filbert137. Alle Fälle können aufgrund der Quellenlage jedoch nur ein begrenztes Bild des jeweiligen Täters zeichnen, da autobiographische Zeugnisse nur sporadisch überliefert sind, der Täter den Krieg nicht überlebte oder das Quellenmaterial nur auf eine konkrete Fragestellung nach der Motivation angewendet wurde. Eine weitere Einzelbiographische Studie über einen sogenannten »Schreibtischtäter« stellt die Studie von Martin Dröge dar, in der das Leben des NS-Täters Karl Friedrich Kolbow untersucht wird.138 Dröge behandelt in seiner Arbeit die Vorstellung von »Männlichkeit« in Verbindung zum Begriff der »Volksgemeinschaft«, der in den vergangenen Jahren in der historischen Forschung ausgearbeitet wurde.139 Interessant an der Untersuchung ist das verwendete Quellenmaterial, denn Dröge konnte überlieferte Tagebuchaufzeichnungen analysieren. Deutlich akzentuiert Dröge darin einen erfahrungs- und wahrnehmungsspezifischen Ansatz, um zu erklären, welche Strukturen Kolbow von »Männlichkeit« entwickelte und welche Eigenschaften er damit verband. Explizit bezieht sich Dröge auf einen Feuilleton-Artikel von Volker Ullrich und dessen darin formulierten Leitthesen für eine gelungene Biographie.140 Zusammenfassend kommt es nach Ullrich auf das Erkennen der Wechselwirkung zwischen Individuum und den überindividuellen Strukturen und Prozessen an; die Biographie müsse auch psychoanalytisch auf die Ergründung von psychischen Dispositionen, von Charaktereigenschaften eingehen – ein Punkt, der von Dröge kritisch bewertet wird. Der Historiker müsse sich von der Fiktion der Kohärenz lösen – ein Ansatz den Bourdieu, wie Dröge anmerkt, bereits in den Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland, Oxford/New York 2010. 136 Vgl. Lieb, Peter: Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42; in: VfZ Nr. 50 (2002), S. 523–557. 137 Vgl. Wette, Wolfram: Karl Jäger: Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 2013. (zuerst 2011) Auch Wette prangert dieses Forschungsdesiderat an. Vgl. S. 22–24. Vgl. Kay, Alex J.: The Making of an SS Killer: Das Leben des Obersturmbannführers Alfred Filbert 1905–1990, Paderborn 2017. 138 Dröge, Martin: Männlichkeit und »Volksgemeinschaft«. Der westfälische Landeshauptmann Karl Friedrich Kolbow (1899–1945): Biographie eines NS-Täters, Paderborn 2015. Im Folgenden zitiert als Dröge: Männlichkeit. 139 Zum Forschungsüberblick des Begriffes »Volksgemeinschaft« vgl. Dröge: Männlichkeit, S. 55–63. 140 Vgl. Ullrich, Volker: Die schwierige Königsdisziplin. Das biografische Genre hat immer noch Konjunktur. Doch was macht eine gute historische Biografie aus?; in: Die Zeit Nr. 15 (2007).

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1990er Jahren als »biographische Illusion« erkannt hat; außerdem müsse die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte herausgearbeitet werden.141 Dröge gelingt eine kulturgeschichtlich erweiterte Biographie, die nach dem Kolbows Weltbild zugrundeliegenden Vorstellungen und Entwürfen fragt, und nachzeichnet, wie sich diese in den Tagebüchern und anderen Quellen ausdrücken. Da Kolbow bereits 1945 starb, lassen die Quellen in diesem Fall jedoch keinen kontrastierenden Blick auf eine Reflexion der eigenen NS-Vergangenheit in der Nachkriegszeit zu. Bernhard Haupert und Franz Josef Schäfer untersuchten in einer Studie über biographische Sinnrekonstruktionen das Leben eines jungen deutschen Panzerfahrers namens Josef Schäfer.142 Vom biographischen Rahmen her unterscheidet sich dieser von der sogenannten »Kriegsjugendgeneration« oder der zuvor geborenen »Frontgeneration« insofern, als Schäfer erst 1924 geboren wurde. In der angewandten Methodik schlagen Haupert und Schäfer vor, einen Bogen über verschiedene methodische Ansätze aufzumachen. So verbinden sie die Objektive Hermeneutik mit der Biographieforschung und Ansätzen aus dem Bereich der Oral History. Die Studie bewegt sich daher »im Spannungsfeld zwischen soziologisch-hermeneutischer Rekonstruktion (Oevermann, Schütze), dem Ansatz der Oral History (Niethammer) und neueren Ansätzen der historischen Spurensuche.«143 Sie trennen in der Analyse zwei Ebenen. In der »deskriptiven Rekonstruktion« werden Auskünfte über die Selbstdefinitionen des Soldaten getroffen, also eine auf der tatsächlichen Perzeption beruhende Deutung seiner Lebenswelt. In der »interpretativen Rekonstruktion« wird eine Bewertung der Lebensumstände geleistet, die Aussagen über die Motive, Beweggründe, Ideen und Wünsche zulasse. Durch dieses Verfahren soll die soziale Realität von Josef Schäfer nachgezeichnet werden, die dann auch einen »generationentypischen Charakter« beinhalte.144 An dieser Stelle wird deutlich, dass die »Generation« als Analysekategorie bei Haupert und Schäfer fokussiert wird, jedoch geschieht diese Annäherung – im Gegensatz zu kollektivbiographischen Ansätzen – »von unten« anhand einer Einzelfallstudie. Einen derartigen kollektivbiographischen Ansatz in der NS-Forschung bietet die Studie von Michael Wildt über das Führungskorps des Reichsicherheitshauptamtes.145 Wildt fokussiert in einem generationalen Zugang die sogenannte »Kriegsjugendgeneration«, da in dieser das »spezifische 141 Vgl. Dröge: Männlichkeit, S. 23–25. 142 Vgl. Haupert, Bernhard u. Schäfer, Franz Joseph: Jugend zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Biographische Rekonstruktion als Alltagsgeschichte des Faschismus. Mit einem Vorwort von Manfred Messerschmidt, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 1992 (zuerst 1991). 143 Ebd. S. 16. 144 Vgl. Ebd. S. 17. 145 Wildt: Generation des Unbedingten.

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politische Weltanschauungsprofil« erkennbar werde, das vom Großteil der späteren Täter geteilt worden sei. Die Analysekategorien »Generation« und »Weltanschauungen« werden von Wildt in enger Verbindung zur Strukturierung von Wahrnehmungen und Erfahrungen verstanden. Dabei wendet sich Wildt explizit gegen ein »deterministisches biographisches Modell«, das darauf beruhe, die Erlebnisse und Erfahrungen aus der Jugend als Erklärungen für Handlungen im Erwachsenalter abzuleiten. Ein solches, gewissermaßen biographisch-reduktionistisches Verfahren werde, so Wildt, vor allem in intentionalistischen Analysen auf Hitler angewendet.146 Eine weitere analytische Kategorie erkennt Wildt in strukturellen Veränderungen im NS-System, hier maßgeblich dem institutionellen Zusammenschluss der staatlichen Polizei mit der SS und der Gründung des RSHA, der gemeinsam mit den gesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Umbrüchen der NS-Zeit eine »mephistophelische Öffnung des Möglichkeitshorizonts«147 bedeutete. Schließlich bildet auch die Ausnahmesituation des Krieges selbst eine Kategorie, anhand derer das Handeln der Täter analysiert werden kann: »Erst der Krieg und die Politik in den eroberten, besetzten Gebieten, vor allem im Osten, boten einer Institution wie dem RSHA die Möglichkeit, entgrenzte Radikalität nicht nur als organisatorische Struktur, sondern auch als politische Praxis zu verwirklichen.«148 In dieser Zusammenführung von »weltanschaulich radikalen Akteuren, entgrenzter Institution und mörderischer Praxis im Krieg«, die Wildt als »Untersuchung eines Prozesses dynamischer Radikalisierung« charakterisiert, soll sich diese von individualund sozialpsychologischen Vorstellungen gespaltener Persönlichkeiten und der »soziologischen Festschreibung von technokratischen Erfüllungsgehilfen bürokratischer Machtstrukturen oder modernisierungstheoretische Annahmen von NS-Tätern als Sozialingenieuren«149 abgrenzen. Als Quellen für die biographischen Analyseteile nutzte Wildt insbesondere SS-Personalakten und Dokumente aus den Nachkriegsverfahren. Persönliche Schriftstücke wie Tagebücher, Briefe und Memoiren waren »nur in den seltensten Fällen«150 erhalten oder zugänglich. Explizit benennt Wildt die Studie von Ulrich Herbert über Werner Best als exemplarisch und betont dabei Bests Zugehörigkeit zu einer spezifischen Generation, »deren Erfahrungen und politische Schlußfolgerungen einer konkreten historischen Phase zuzurechnen sind.«151 In der methodischen Ausrichtung bezieht sich Wildt auf die qualitative Biographieforschung und 146 Vgl. Ebd. S. 25f. 147 Ebd. S. 26. 148 Ebd. S. 27. 149 Ebd. S. 28f. 150 Ebd. S. 29. 151 Ebd. S. 31.

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die »sozialwissenschaftliche Debatte um Lebenslauf und Biographie«152. Hier werden insbesondere die Werke von Martin Kohli aus der Lebensverlaufsforschung genannt.153 Die gesellschaftliche Produktion von Lebensläufen, die Bedingtheit eigener individueller Lebensentwürfe, deren Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen und die Selbstdeutungen des Handelnden werden darin zusammengefasst. Diese Bedingungen werden empirisch auf verschiedene Personen im RSHA angewendet, um verschiedene Typen zu charakterisieren. Allerdings erkennt Wildt auch die Grenzen der Aussagekraft: »Eine psychohistorische Deutung allerdings lassen die vorhandenen Quellen nicht zu. Sie geben weniger über persönliche Motivationslagen als über berufliche Werdegänge und konkrete Tätigkeiten Auskunft. Daher kann die Studie individual- oder sozialpsychologische Fragestellungen nicht beantworten.«154 Einen ähnlichen Personenkreis von NS-Tätern, wie ihn Wildt in den Blick genommen hat, behandelt auch Christian Ingrao in seiner Arbeit »Hitlers Elite«. Anhand von 80 Lebenswegen von Hochschulabsolventen, die später im unterschiedlichen Maße bei den NS-Massenverbrechen beteiligt waren, versucht Ingrao die Täter anhand ihrer »Gedankenwelt«155 zu analysieren. Hierzu fasst Ingrao den NS als »Glaubenssystem«156 auf, dass weniger von der Politik und systemischen Entscheidungen abhing: »Ausschlagegebend waren Emotionen, die von soziologisch und politikwissenschaftlich orientierten Studien […] mit Vorliebe ignoriert wurden.«157 Daher stuft Ingrao Aspekte wie »Inbrunst und Angst, Selbstmord und Gewalt, Utopien, Verzweiflung und Hass […]«158 als wesentlich und bedeutungsvoll für seine Analyse und Interpretation ein. Dabei geht er in Analyseschritten vor. In einem Schritt fokussiert er die erfahrungsgeschichtliche Dimension der Kriegsjugend, deren gemeinsamen Erfahrungsrahmen, er als grundlegend für eine gemeinsame Weltwahrnehmung erkennt, die »mit apokalyptischen und eschatologischen Kategorien«159 überfrachtet gewesen sei. Dabei ist in diesem Analyseschritt eine Gemeinsamkeit zur Studie von Michael 152 Ebd. S. 36. 153 Vgl. Kohli, Martin: Soziologie des Lebenslaufs Die Institutionalisierung des Lebenslaufs: Historische Befunde und theoretische Argumente; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Nr. 37 (1985) S. 1–29. Sowie: Kohli, Martin u. Robert, Günther: Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1993. 154 Wildt: Generation des Unbedingten, S. 37. 155 Ingrao, Christian: Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords, Bonn 2012 (zuerst 2010), S. 10. 156 Ebd. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Vgl. Ebd. S. 11.

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Wildt über die »Generation des Unbedingten« deutlich erkennbar, auch wenn Ingrao angibt, diese Studie erst nach Abschluss der eigenen Arbeit gelesen zu haben.160 In einem zweiten Schritt verbindet Ingrao diese Erfahrungsdimension mit dem praktischen politischen Handeln der Akteure bis hin zu den Massenmorden im Ostfeldzug und ihren Strategien in den Gerichtsprozessen nach dem Krieg. Von der deutschen NSTäterforschung, die in ihren Arbeiten in erster Linie an einer »sorgfältigen Rekonstruktion der Fakten anhand von Archivquellen gelegen« sei,161 grenzt sich Ingrao explizit ab und merkt kritisch an, dass sich die Täterforschung zu sehr auf das Zusammenspiel der Institutionen konzentriere. Obgleich die meisten Forscher »hervorragende Spezialisten für Primärquellen« seien, legen sie oftmals »eine gewisse konzeptionelle Unschärfe an den Tag«,162 die sich in diffusen Begriffen wie »Fanatismus, Ehrgeiz, Karrierismus, Indoktrinierung, Gehorsam oder Konformismus«163 zeige. Weitere vergleichende Studien zu Täterbiographien wurden von Gerhard Paul164 beziehungsweise von Gerhard Paul gemeinsam mit KlausMichael Mallmann165 veröffentlicht. Dabei akzentuiert insbesondere der 2004 erschienene Band »Karrieren der Gewalt« die Gewalterfahrungen, die bei den ausgewählten Tätern bereits vor dem Beginn des Krieges vorlagen. So wird biographisch argumentiert, dass es im Lebenslauf der Täter zu einem »Kontinuum an Gewalterfahrungen« gekommen sei, die die spätere Täterschaft begünstigt hätten. Bajohr kritisiert diese »Brutalisierungsthese«, da sie anhand anderer Fallstudien widerlegt wurde und wesentliche situative Unterschiede bei den Gewaltaktionen keine Berücksichtigung finden.166 Weitere biographische Analysen, die in ihren Ansätzen unterschiedlichen Fragen nachgehen, verdeutlichen die Spannbreite in der historischen Forschung.167 Es zeigt sich, dass die biographischen Studien in 160 Ebd. S. 514f. 161 Ebd. S. 510. 162 Ebd. S. 513. 163 Ebd. S. 513f. 164 Paul, Gerhard (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? 2. Auflage, Göttingen 2003. 165 Mallmann, Klaus-Michael u. Paul, Gerhard (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiografien, Darmstadt 2004. 166 Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.6.2013, http://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung [30.01.2016]. 167 Beispielhaft die Arbeiten: Breitmann, Richard: Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, Paderborn 1996; Koop, Volker: Martin Bohrmann. Hitlers Vollstrecker, Köln 2012; Bavendamm, Dirk: Der junge Hitler. Korrekturen einer Biographie 1889–1914, Graz 2009; Zdral, Wolfgang: Die

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ihrer Analyse mit diversen Quellenarten arbeiten, autobiographisches Quellenmaterial wird jedoch nur selten genutzt. Eine Konzentration auf diese Quellen bietet der Ansatz der Ego-Dokumenten-Forschung. Der Terminus »Ego-Dokumente« wurde aus der niederländischen Geschichtsforschung übernommen und in den 1990er Jahren von Winfried Schulze in die deutsche Geschichtswissenschaft eingeführt. Ego-Dokumente sind laut Schulze Quellen, die in einem engeren Sinn Auskunft über die Selbstsicht eines Menschen geben. In einer erweiterten Bedeutung würden Ego-Dokumente alle Quellen umfassen, »die uns über die Art und Weise informieren, in der ein Mensch Auskunft über sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig – also etwa in einem Brief oder in einem autobiographischen Text – oder durch andere Umstände bedingt geschieht.«168 Wie zuvor beispielhaft demonstriert, werden Ego-Dokumente in historischen Arbeiten selten als eigenständiger Quellenkorpus genutzt. Oft geschieht dies aus der Not heraus, da der betroffene Personenkreis nicht mehr zu interviewen ist – Methoden der Oral History folglich nicht mehr angewendet werden können. Es stellt sich die Frage, warum EgoDokumente in der biographischen Geschichtswissenschaft so selten als Quellen herangezogen werden. Dies liegt vielleicht darin begründet, dass diese Quellen oftmals nicht existieren oder auffindbar sind. Ein anderer gewichtiger Grund liegt in der skeptischen Betrachtung dieser Quellengattung innerhalb der Geschichtswissenschaft.169 Seit dem Historismus wurden subjektive Selbstzeugnisse dahingehend kritisiert, dass sie nicht repräsentativ, intentional oder faktisch falsch sind und mitunter aus einem gegenwärtigen Legitimationsbedürfnis heraus entstanden seien. Von Plato widerspricht dieser Kritik, da er darin ein grundlegendes Missverständnis in der Bewertung des Untersuchungsgegenstandes erkennt: Hitlers: Die unbekannte Familie des Führers, 2. Auflage, Köln 2008 (zuerst 2005); Brechtken, Magnus: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. München 2017. Die »moralische Biographie« über den SS-Richter Konrad Morgen stellt einen besonderen biographischen Zugang dar. Vgl. Pauer-Studer, Herlinde u. Velleman, David J.: »Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin.« Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen, Berlin 2017. Zudem ist der filmische Zugang von einem »Interesse an personifizierter Geschichtsdarstellung« geleitet. Vgl. Reichel, Peter: »Onkel Hitler und Familie Speer« – Die NS-Führung privat; in: APuZ, Nr. 44 (2005), S. 14–23, hier: S. 16. 168 Schulze, Winfried (Hrsg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 10. 169 Die generelle Sensibilität im Umgang mit autobiographischem Quellenmaterial aus der historischen Warte, illustriert bereits das Thema der im Jahr 2000 stattgefundene Konferenz »Der Zeitzeuge als natürlicher Feind der historischen Zunft?« Vgl. Gudehus, Christian; Eichenberg, Ariane u. Welzer, Harald: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, S. 309f.

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»Wer die Subjektivität der Quellen kritisiert, müsste in Wirklichkeit nicht die Quelle, sondern die Thematik als irrelevant kritisieren. Dies wäre jedoch mehr als fragwürdig, weil es hieße, ein, wenn nicht das wesentliche, Element aus der Geschichte zu eliminieren, nämlich Subjekte im Umgang mit den Zwängen und Möglichkeiten ihrer Zeit, ihre Sicht, ihre Erfahrung und schließlich ihre Verarbeitung zu vernachlässigen.«170

Die Subjektivität der autobiographischen Quellen sei dementsprechend weniger als Problem denn als zu entschlüsselnde Aufgabe zu verstehen. Die generelle Skepsis gegenüber autobiographischen Quellenmaterialien liegt in der bis in die Gegenwart reichenden quellensystematischen Ordnung des Historismus begründet. So werden Autobiographien quellensystematisch zu der Tradition gezählt – Quellen also, die vom Verfasser absichtlich für die Nachwelt verfasst wurden. Daran haftet die missverständliche Einschätzung, dass subjektive Quellen die Vergangenheit falsch abbilden.171 In der Quellensystematik des Historismus wird eine Trennung zwischen Überrest und Tradition vorgenommen, und demzufolge werden beispielsweise institutionelle Akten von persönlichen Quellen auch in ihrer Wertigkeit unterschieden. Dies beruht auf der Annahme, dass die einen Quellen historische Fakten darstellen, persönliche Schriftstücke dagegen auf die darin enthaltende Auffassung (Subjektivität) ausgerichtet sind. »Deshalb arbeitet sich die historische Quellenkritik im Umgang mit persönlichen Quellen vor allem daran ab, das ›Tatsächliche‹ aus den ›Auffassungen‹ herauszufiltern.«172 Es entsteht eine qualitative Rangordnung in der Wertigkeit von Quellen, in der die institutionellen Akten als wesentlich bedeutungsvoller erscheinen, als persönliche Schriften.173 Der eigentliche Kern der autobiographischen Quellen wird hierdurch jedoch nicht ausgeschöpft. In autobiographischen Texten besteht ein dynamisches Verhältnis zwischen Identität und Erinnerungen. Depkat vertritt die These in Bezug zu Autobiographien, dass der Autor in diesen Texten die eigene Lebensgeschichte mit der Vergangenheit in ein Verhältnis setzt und er »Vergangenheit erst hervor [bringt], weil er sich mit seinem Text ihr gegenüber verhält. […] Kurz, Autobiographien sind sonische Selbstbeschreibungen und als solche selbst historische Fakten, die Bestandteil der Zeit sind, in der sie entstehen.«174 170 Plato, Alexander v.: Zeitzeugen und die historische Zunft Erinnerung, kommunikative Tradierung und kollektives Gedächtnis in der qualitativen Geschichtswissenschaft – ein Problemaufriss; in: BIOS Nr. 1 (2000), S. 5–29, hier: S. 8. 171 Vgl. Depkat: Autobiographien als geschichtswissenschaftliches Problem, S. 26. 172 Ebd. S. 27. 173 Ebd. S. 27f. 174 Depkat, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit; in: GG Nr. 3 (2003), S. 441–476, hier: S. 444f. Im Folgenden zitiert als:

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Diese Beziehung muss in der historischen Analyse der Selbstzeugnisse berücksichtigt werden. Somit bilden Ego-Dokumente, wie Etzenmüller schreibt, ein eigenes Genre, »mit eigenen, Wirklichkeit konstituierenden Regeln […] außerdem als Akt der Selbstaussage, also als soziale Praxis, als Selbstthematisierung, also Teil einer Subjekt- und Identitätsbildung, sowie als Kommunikationsmedium.«175 Mit Blick auf die Quellengattung der Autobiographie stellt Volker Depkat einen Bezug zur amerikanischen Life-Writing Forschung auf, in der jede Form der Selbstthematisierung unter dem normativ weniger aufgeladenen Begriff der »autobiographischen Texte« gefasst wird.176 Die beschriebene Vielschichtigkeit wird in der vorliegenden Untersuchung berücksichtigt. Das bedeutet nicht, dass die kritische Haltung gegenüber autobiographischen Quellen übergangen wird. Selbstverständlich beinhalten die Memoiren von Isselhorst die Intention, das eigene Bild für die Nachwelt zu formen. Auch die Rekonstruktion der Schreibsituation und Fragen nach dem Stil, dem Adressaten, den Topoi des Erzählens und seiner Rezeption wird nachgegangen.177 Doch wird der retrospektiven narrativen Identitätsgestaltung eine größere Bedeutung beigemessen, als dies gemeinhin geschieht.178 Die Stärke dieses Zugangs liegt im Verständnisgewinn über die »verarbeitete Geschichte«, in der Auffassungen, Orientierungen und Nachwirkungen bestimmter Erfahrungen untersucht werden.179 Mentalitätsund erfahrungsgeschichtliche Studien fokussieren das Gedächtnis und die Erinnerungen von Personen und Gruppen und verdeutlichen die Fragilität der Konstrukte, die je nach Milieu und zeitlichem Rahmen Veränderungen durchlaufen.180 Von Plato weist bei historischen Arbeiten auf Depkat: Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. Vgl. hierzu auch: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 866–1149. 175 Ebd. Etzenmüller, Thomas: Biografien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a. M. 2012, S. 65. Im Folgenden zitiert als: Etzenmüller: Biografien. 176 Depkat, Volker: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem; in. Depkat, Volker u. Pyta, Wolfram (Hrsg.) Autobiographie zwischen Text und Quelle. Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I, Berlin 2017, S. 23–40, hier: S. 24f. Im Folgenden zitiert als: Depkat: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem. 177 Ebd. S. 92. 178 Ebd. S. 71. 179 Vgl. Plato, Alexander v.: Zweiter Weltkrieg und Holocaust – Realgeschichte und Erinnerung; in: Mattl, Siegfried; Botz, Gerhard; Karner, Stefan u. Konrad, Helmut (Hrsg.) Krieg. Erinnerung. Geschichtswissenschaft, Wien/Köln/ Weimar 2009, S. 275–300, hier: S. 297. 180 Vgl. Fußnote 14.

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den zweischneidigen Wirklichkeitsgehalt von autobiographischen Quellen hin, und betont, dass es »eine erkenntnistheoretische Selbstverständlichkeit [ist], dass für jeden Untersuchungsgegenstand spezifische methodische Instrumente gefunden werden müssen. Die Verarbeitung von Geschichte, das kollektive Gedächtnis oder auch kollektive Mythen über die Vergangenheit, die Beziehung zwischen großer Politik bzw. politisch-gesellschaftlicher historischer Veränderung und Lebenslauf bzw. Lebensgeschichte oder biographische (Neu)Konstruktionen sind die großen Felder, in denen subjektive Erinnerungszeugnisse […] eine notwendige Rolle spielen müssen. Sie können auch Quellen für die Rekonstruktion von Fakten, Abläufen und Ereignissen in der Geschichte sein, entweder in Ermangelung anderer Quellen oder als Kontrolle und Korrektiv anderer methodischer Zugänge.«181

Demzufolge darf die realhistorische Aussagekraft der autobiographischen Quellen nicht grundsätzlich verneint werden, ohne sie im gleichen Maße zu überhöhen. Volker Depkat plädiert in einem 2017 gemeinsam mit Wolfram Pyta herausgegebenen Sammelband dafür, das zuvor bereits angedeutete Bedürfnis in der Geschichtswissenschaft nach einem kulturwissenschaftlich erweiterten Zugang zu den autobiographischen Quellen in die methodische Analyse einzubeziehen. Geschichtswissenschaft müsse darauf ausgerichtet sein, narrative Quellen »für die historische Rekonstruktion kultureller Sinnstiftungsprozesse«182 auszuschöpfen. Angesichts des »cultural turns« würde eine solche Erweiterung eine wichtige Grundlage bieten, um »die den (narrativen) Texten eigenen Formen und Mechanismen der Repräsentation von Wirklichkeit und der Sinnproduktion analysieren [zu] können, um Autobiographien, Tagebücher und Briefe, Romane und Reiseberichte und anderes narratives Material als historische Quelle anzapfen und in ihrem Wert für die historische Erkenntnis einschätzen zu können.«183

Kritisch sieht Depkat die bereits beschriebene Tendenz in der historischen Forschung, die Autobiographien grundsätzlich als Quellen für eine dahinterstehende Wirklichkeit zu lesen. Dies beruht auf der missverständlichen Annahme, die Autobiographien als »direkteste Umsetzung von Leben in Literatur« oder als »unverfälscht[e] Dokument[e] von Lebensund Weltmodellen verschiedener sozialer Gruppen« einzuordnen.184 181 Ebd. S. 26. 182 Depkat, Volker u. Pyta Wolfram: Einleitung: Autobiographie zwischen Text und Quelle; in: Dies. (Hrsg.) Autobiographie zwischen Text und Quelle. Geschichts- und Literaturwissenschaft im Gespräch I, Berlin 2017, S. 7–22, hier S. 7. 183 Ebd. 184 Ebd. S. 9.

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Um diese Deutungsstrategie aufzubrechen, schlägt Depkat einen verstärkten Einbezug von erzähltheoretischen und kommunikationspragmatischen Ansätzen vor.185 Autobiographische Texte werden somit als narrative Texte gelesen, die eine zeitliche und räumliche strukturierte Welt entstehen lassen und ein historisches »Ich« darin verorten. Durch die Erzählung wird eine Perspektive auf die Welt organisiert, um daraus die Welt zu deuten.186 Dies würde die Quellenanalyse mit einem zweifachen Fokus ausstatten. Die Erkenntnisse aus der neueren Wissenssoziologie, »nach der ›Gesellschaft‹ eine doppelte Realität eigen ist, nämlich einerseits die sich in Institutionen und Strukturen manifestierende objektive Wirklichkeit, andererseits die ganz eigene Realität der subjektiven Imaginationen der Teilnehmer an Gesellschaft über Gesellschaft« würden so auf Autobiographien angewendet werden.187 Depkat entwickelt anhand der verwendeten Bezüge einen Fragenkatalog an die autobiographischen Quellen, die einen umfassenden Einblick in die narrativen Strukturen der Quellen schaffen: »Es geht also allgemein darum herauszufinden, wie in den autobiographischen Texten sprachlich und inhaltlich auf einen äußeren historischen Kontext der Schreibgegenwart Bezug genommen wird, wie sich der Erzähler diesen gegenüber verortet und wie dieser textexterne Kontext der Texte auch textintern an der Sprachgestalt der Autobiographie erkennbar wird. Dies heißt freilich, dass man zunächst einmal nach dem sowohl lebensgeschichtlichen als auch allgemein historischen Warum und Wann des autobiographischen Aktes fragen muss, bevor man sich an das Was und Wie der autobiographischen Erzählung macht. In der Rekon­ struktion des biographischen Orts der Autobiographie und ihres situativen Kontexts werden Historikerinnen und Historiker auch auf anderes Quellenmaterial zurückgreifen müssen, aber das sind sie ja gewöhnt.«188

Dies bedeute konkret, dass die autobiographische Erzählung eingebettet werden muss in eine umfangreiche quellenkritische Analyse des Lebenslaufs. Bei der Analyse der Ego-Dokumente von Erich Isselhorst wiegt dieser Punkt umso schwerer, da sich Isselhorsts Aufzeichnungen hinsichtlich des situativen Kontextes deutlich unterscheiden. Ein zweiter Schritt würde darauf aufbauend nach der Kommunikation des Autors fragen: 185 Depkat: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem, S. 31ff. Mit Bezug auf Dagmar Günthers erzähltheoretisch-begründete Arbeiten soll eine Analyse der Struktur narrativer Sinnbildung erfolgen, eine narratologische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Erzählers zum Erzählten geschehen, semantische Relationen zwischen den Passagen und Episoden freigelegt, narrative Strategien der Geltungssicherung rekonstruiert und genrespezifische Erzählmuster identifiziert werden. 186 Ebd. 187 Depkat: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem, S. 30. 188 Ebd. S. 35.

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»Wie entwirft ein Autobiograph sich selbst als Erzähler? Welche kommunikativen Rollen spielt er im Verlauf seiner Erzählung? Welche Perspektive auf Wirklichkeit wird dadurch organisiert und was heißt dies für die Art und Weise, wie historische Wirklichkeit in einer Autobiographie repräsentiert wird? Welche Ausschnitte von Wirklichkeit kommen in den Blick? Wo sind Blindstellen, die ein bestimmtes Sprecherverständnis produziert? Welche Aspekte vergangener Wirklichkeit kommen dadurch nicht in den Blick? Wer ist der intendierte Adressat und welche Auswirkungen hat dies auf die sprachliche-thematische Gestalt des autobiographischen Textes?«189

Diese Fragen richten sich an die Identität des Autors und die damit einhergehende perspektivische Verortung der eigenen Person. Durch die veränderte Rolle, die Isselhorst in seinen Memoiren einnimmt, verändert sich die Bedeutung vergangener Ereignisse. Je nach Abfassungszeit werden dieselben Erfahrungen anders interpretiert oder gänzlich ausgespart. Zudem wendet sich Isselhorst mit seinen Memoiren explizit an eine breitere Öffentlichkeit und versucht darin, seine eigene Vergangenheit, sein Handeln und den NS zu rechtfertigen.190 Weitere Fragen richten sich an eine zeitlich-räumliche Struktur der autobiographischen Erzählung: »Mit Hilfe welcher zeitlichen und räumlichen Signale nimmt er auf den Abfassungszeitpunkt und die Schreibgegenwart Bezug? Welche Per­spektiven auf Vergangenheit und Zukunft werden dadurch organisiert? Wie wird die erzählte Vergangenheit selbst zeit-räumlich strukturiert? Welche Zäsuren werden gesetzt? Welche räumlichen Kon­ stellationen entworfen? Wie wird die eigene Lebensgeschichte dazu in Beziehung gesetzt? Wie werden Vergangenheit und Zukunft aus Sicht der Schreibgegenwart ineinander verschränkt? Was sagt dies über die biographische und historische Wirklichkeit des Abfassungszeitpunktes aus?«191

Dies bedeutet, dass der Autobiograph mit seiner eigenen Lebensgeschichte argumentiert. Lebensereignisse und politische Ereignisse werden in einen Zusammenhang gesetzt und zu einer Geschichte zusammengefügt, zu einer »erzählten Welt«. Mit den Frageblöcken soll diese »erzählte Welt« in ihren Elementen und Strukturen in einer hermeneutischen Textarbeit freigelegt werden. Hierbei soll jedoch auch der Erzähler selbst und dessen Perspektive auf die Welt betrachtet werden. Darüber hinaus wird 189 Depkat: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem, S. 35. 190 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 69f n.E.). Vgl. auch Segebrecht, Wulf: Über Anfänge von Autobiographien und ihre Leser (verfasst 1969), in: Niggl, Günter (Hrsg.): Die Autobiographie. Zur Form und Geschichte einer literarischen Gattung, 2. Auflage, Darmstadt 1998, S. 158– 169, hier: S. 169. 191 Ebd. S. 36.

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BIOGRAPHIE UND EGO-DOKUMENTE IN DER NS-TÄTERFORSCHUNG

der narrative Text jedoch auch weiterhin als Quelle für eine dahinterstehende Realität genutzt.192 »Sinn« wird erst in der diskursiven Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Perzeption und Narration konstruiert – also während des Erzählprozesses. Und genau diese Diskurse beziehungsweise die dahinterstehenden Schemata sollen hermeneutisch erarbeitet werden. Welche Vorstellungen von »Ordnung« und welche Persönlichkeitsbilder entwirft Isselhorst in den narrativen Aufzeichnungen? Wie nutzt er diese als Rationalisierungs- und Kohärenzmittel? Die Hypothesen, die basiert auf diesen Fragen, die vorliegende Studie leiten sollen, basieren auf Annahmen, die seit den 1980er Jahren in der Narrativen Psychologie vertreten werden. So wird davon ausgegangen, dass jede Erzählung ein kognitiver Vorgang ist, in dem der Autor seine Wahrnehmung in einer paradigmatischen Verarbeitung bestimmten Kategorien zuordnet und diese Ereignisse in einem narrativen Prozess zu einer Gesamtgeschichte formt.193 »Das Ergebnis des narrativen, kognitiven Verarbeitungsprozesses ist eine Geschichte, welche die Funktion übernehmen kann, dem Selbst eine integrierende Identität und den eigenen Handlungen und Lebenserfahrungen Bedeutung zu verleihen.«194 Dieses narrative Konstrukt ist im Gegensatz zum gelebten Leben an einen Hauptplot gekoppelt. Die Erfahrungen werden auch aufgrund dieses Plots im narrativen Prozess umstrukturiert, was bedeutet, dass Teile der Erfahrungen ausgespart und andere verdichtet dargestellt werden. Wieder andere werden elaboriert und übertrieben oder kompakter und konsistenter dargestellt.195 Dementsprechend ist die resultierende Erzählung kein Abbild der tatsächlichen Erfahrungen. »Narrative Darstellungen von Lebensepisoden sind keine Widerspiegelungen ehemaliger Geschehnisse. Die Strukturierung ist eine Interpretation des Lebens […].«196 Diese Interpretation wird maßgeblich vom Zeitpunkt und den Bedingungen der Abfassungszeit geprägt. In der vorliegenden Studie soll dementsprechend das Leben von Erich Isselhorst im zweifachen Sinn beleuchtet werden: Welche Aussagen lässt der quellenkritisch behandelte biographische Rahmen über Isselhorst und seine Beteiligung an den NS-Verbrechen zu? Und: Wie geht Isselhorst mit der eigenen Vergangenheit um? Welche Strategien und Deutungsmuster lässt Isselhorst in den autobiographischen Quellen 192 Ebd. S. 37. 193 Vgl. Polkinghorne, Donald E.: Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven; in: Straub, Jürgen (Hrsg.) Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1998, S. 12–45, hier: S. 17. 194 Ebd. S. 28. 195 Vgl. Ebd. S. 25. 196 Ebd. S. 26.

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FORSCHUNGSÜBERBLICK UND METHODE

erkennen? Was bedeuten diese für seine narrative Selbstgestaltung? Die narrative Struktur seiner autobiographischen Quellen wird dementsprechend in der Untersuchung zu einer eigenen Analysekategorie erhoben.

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3 Erich Isselhorst: Konstruktion und Rekonstruktion einer Biographie »Wer weiss, vielleicht haben alle diese Betrachtungen noch einmal geschichtlichen Wert, wenn sie auch nicht zu diesem Zwecke niedergeschrieben sind.«1

In visionärer Voraussicht schrieb Isselhorst diesen Satz am 17. August 1947 an seine Frau, als er zu jener Zeit als mehrfach zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher bereits seit zwei Jahren in Haft saß und an seinen Memoiren arbeitete. Indes scheint er Recht zu behalten mit seiner Aussage, obgleich der historische Wert seiner Schriften wohl eher einen anderen Gehalt besitzt als er dies 1947 vermutete. Die folgende biographische Analyse beinhaltet wesentliche Teile der Ego-Dokumente von Erich Isselhorst. Das für die Einsatzgruppenzeit 1942–1943 bedeutsame Kriegstagebuch ist an einigen Stellen beschädigt. Für die Tage vom 19.–23. März 1942 fehlen die Tagebucheinträge. Auch die Seite mit der Woche vom 13.–21. Juli 1942 existiert nicht mehr. Dies gilt auch für die Seiten zwischen dem 3.–31. August 1942, sowie für die Woche vom 29. November–5. Dezember 1942. Bei einigen der zitierten Aussagen muss zudem Vorsicht walten, da sie Retrospektiven aus seinen Memoiren und Briefen darstellen und somit den zuvor beschriebenen spezifischen Bedingungen unterliegen, sie also nicht als historisch-faktische Tatsachenbeschreibungen angesehen werden dürfen. Im Grunde jedoch sind diese Erinnerungen, insbesondere für die Jugend- und Ausbildungszeit, die einzigen Quellen für diese frühe Lebensphase, neben den offiziellen Dokumenten, wie den Urkunden und Zeugnissen. In der gesamten Studie wird jeweils auf die zeitliche Differenz zu den Aussagen hingewiesen. Freilich müssen diese Aussagen auch im Kontext der gesellschaftlichen, institutionellen und politisch-ideologischen Rahmenbedingungen analysiert werden. Zu den Strukturen des NS und der Organisation der SS existiert eine schier überwältigende Anzahl von Gesamtdarstellungen und Einzelanalysen.2 An dieser Stelle wird beispielhaft auf drei Aspekte 1 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 17.08.1947). 2 Hier beispielhaft: Vgl. Wildt, Michael: Geschichte des Nationalsozialismus, Göttingen 2008. Vgl. Bauer, Kurt: Nationalsozialismus, Wien/Köln/Weimar 2008. Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus, Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen, München 2009. Eine ausführliche Darstellung der Quellen und Literatur vgl. Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich, 6. neubearbeitete Auflage, München 2009 (zuerst 1979), S. 336–444. Vgl. auch: Ruck, Michael: Bibliographie zum Nationalsozialismus, 2 Bände, Frankfurt

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eingegangen, die für den biografischen Rahmen Isselhorsts von grundlegender Bedeutung sind. Hierzu zählen die veränderte Verwaltungsstruktur, insbesondere des Polizeiapparates nach 1933, der bestehende Antisemitismus innerhalb der deutschen Bevölkerung und die Verortung Isselhorsts sowie die Entwicklung der SS, in die Isselhorst 1934 eintrat. Nach 1933 wurden neben den bestehenden staatlichen Verwaltungsstrukturen weitere parteiliche Verwaltungs- und Organisationsebenen installiert, die in ihren Aufgaben und Kompetenzen die bestehenden Strukturen überlagerten. So gibt es alleine im Polizeiwesen, insbesondere in der Kriegszeit, diverse, zum Teil geheime Gruppen, die unterei­ nander nur sporadisch verknüpft waren, überschneidende Kompetenzen besaßen und zudem unterschiedliche Außenstellen kontrollierten.3 Außerdem wurden in der Kriegszeit in den besetzten Gebieten weitere ausländische Polizeitruppen von der Ordnungspolizei und der SS ausgebildet, die unterstützend operierten:4 »[…] Ausländer [stellten] ab Mitte 1942 einen erheblichen Teil nicht nur des ortsfesten Polizeipersonals, sondern auch der Sicherungstruppen. Ende 1942 verfügte das Heer insgesamt über 200 000 ausländischer Helfer, in der Endphase der rein militärischen Besatzungsherrschaft, Ende 1943, dienten etwa 370 000 Osttruppen und 200 000 Hiwis in der Wehrmacht. Ein erheblicher Teil dieses Personals war hinter der Front eingesetzt. So waren bei jeder Division etwa 2000 Ausländer etatisiert, die Korück verfügten 1943 überhaupt nur noch zur Hälfte über reichsdeutsches Personal [...].«5

Die Bereitschaft der ausländischen Kollaborateure und der Einbezug durch die deutschen Besatzungskräfte hatten verschiedene Gründe. So waren die immensen territorialen Gebiete, die die Wehrmacht in kurzer Zeit eroberte, alleine durch deutsche Einheiten nicht zu kontrollieren. Zudem hatten einige Hilfskräfte bereits Erfahrung im antibolschewistischen Abwehrkampf und hofften darauf, durch die Zusammenarbeit einen Anspruch auf die eigene Unabhängigkeit zu erlangen. Nicht zuletzt verbesserte sich die eigene Lebenssituation durch die Zusammenarbeit erheblich und die Gefahr, deportiert zu werden, sank gleichermaßen.6 In der innerdeutschen Verwaltungsstruktur, die nach der Machtübernahme

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a. M. 2000 (zuerst 1995). In den zwei Bänden werden über 37.000 Studien zur NS-Zeit aufgeführt. Zu den verschiedenen Polizeigruppen und den internen Veränderungen vgl. Bauer, Kurt: Nationalsozialismus, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 421–423. Vgl. Hilberg: Vernichtung, Bd. II, S. 386ff. Pohl, Dieter: Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2008), S. 177. Vgl. Ebd. S. 181.

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zusätzlich durch Gaue gegliedert wurde, welche parteiintern geleitet wurden, kam es zu einer Art Doppelung der Strukturen, deren Kompetenzüberschneidungen zu einem durchweg vorhandenen Effizienzverlust der Verwaltung und zu einer enormen Bürokratisierung führten.7 »Im Gegensatz zu den Gesellschaftsentwürfen der Utopisten hatte Hitlers rassistischer Holismus aufgrund der Einführung des sozialdarwinistisch interpretierten Führerprinzips eine tiefgreifende Dynamisierung der Herrschaftsausübung zur Folge. Insbesondere die Studien von Martin Broszat und Hans Mommsen haben gezeigt, daß sich die politische Struktur des von ihm angestrebten Staates im ›Dritten Reich‹ an den von Preußen übernommenen Institutionen [...] vorbei entwickelte. Sein Substrat waren die nationalsozialistischen Sondergewalten. [...] Zugleich verursachte dieses Führer-Gefolgschaftsverhältnis eine Zersplitterung der Verwaltung, die ihrerseits eine ›Polykratie der Ressorts‹ sowie eine anarchoide Kompetenzüberschneidung sich gegenseitig bekämpfender Machtkomplexe unausweichlich machte.«8

Diese Dynamik des NS-System erkannte auch Arendt, die darin eine »permanente Revolution« sah, da der NS nicht auf feste Strukturen, sondern auf einen stets in die Zukunft gewandten, dynamischen Radikalisierungsprozess ausgerichtet war.9 Verantwortungsbereiche im NS, speziell in den Sicherheitseinheiten in den besetzten Ostgebieten, gestalteten sich fluide und konnten oft nur schwer voneinander abgegrenzt werden. Dies galt auch für Entscheidungen einzelner Befehlsträger, wie beispielsweise Reinhard Heydrich: »Seine Anweisungen stellten weniger einen expliziten Befehl dar als vielmehr ein unbestimmtes Mandat, das offenbar auf verschiedene Weise in Handlungen übersetzt werden konnte, denn die einzelnen Einsatzgruppen und ihre Untereinheiten verhielten sich in der Anfangsphase des ›Unternehmens Barbarossa‹ nicht gleich.«10

7 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 5. Auflage, München 2006 (zuerst 1951), S. 827–837. 8 Saage, Richard: War Hitler ein Utopist?; in: Dabag, Mihran u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 186–204, hier: S. 194. 9 Zur Theorie der »permanenten Revolution« vgl. Trotzki, Leo (1932): Geschichte der Russischen Revolution. Oktoberrevolution, Essen 2010, S. 663– 672. Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 5. Auflage, München 2006 (zuerst 1951), S. 814ff. 10 Kershaw, Ian: Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg 1940/41, München 2008, S. 567.

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Daraus folgte, dass Handlungsbefugnisse offen gestaltet waren. Alle Entscheidungen konnten letztendlich allein auf den »im Führer verkörperten Willen« zurückbezogen werden.11 Das »Kompetenzchaos« erforderte und ermöglichte die Führerentscheidung »und ist somit in gewisser Hinsicht als Basis der Macht Hitlers einzuschätzen.«12 Andererseits darf der Krieg als Faktor für den Übergang zum Massenmord nicht vernachlässigt werden. Insbesondere das Zusammenspiel zwischen der NS-Führung und den lokal operierenden Einheiten und Akteuren schuf eine widersprüchliche Synergie, in der die Führung die Eskalation von Gewalt einerseits regulierte und gleichzeitig einzelnen Offizieren vor Ort, die auch von karrieristischen Motiven angetrieben wurden, durch ein »Endlösungs-Rational« die Möglichkeit einer »rassenpolitischen Flurbereinigung« bot.13 Bis heute ist in der Forschung umstritten, wann genau die Entscheidung zur massenhaften Ermordung der größtenteils jüdischen Opfer fiel, beziehungsweise ob es überhaupt einen solch eindeutigen Zeitpunkt gegeben hat.14 Eine weitere Rahmenbedingung, die für den Hintergrund Isselhorsts in der NS-Zeit von Bedeutung ist, besteht im bevölkerungsübergreifenden Antisemitismus. Ein Phänomen, das mittlerweile sowohl für die Zeit um 1900 und (wenn auch verspätet) für die Zeit der Weimarer Republik durch diverse Studien erforscht wurde.15 Dabei weist Pohl nachdrücklich darauf hin, dass der Antisemitismus viel zu oft in Bezug auf andere Konzepte, wie beispielweise die Eugenik, den Antislawismus und den Antibolschewismus, vernachlässigt wird und diese Verbindungen auch in anderen osteuropäischen Staaten zu beobachten waren.16 Ein entscheidender Aspekt der antisemitischen Maßnahmen des NSSystems ist die institutionell begründete Distanzveränderung zwischen den jüdischen Teilen der Bevölkerung und der Restbevölkerung. Joseph Walk führt in seiner Arbeit über fünfhundert spezielle Sondervorschriften 11 Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, 5. Auflage, München 2006 (zuerst 1951), S. 834ff, hier: S. 836. 12 Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich, 6. neubearbeitete Auflage, München 2009 (zuerst 1979), S. 8. 13 Vgl. Matthäus, Jürgen: Holocaust als angewandter Antisemitismus? Potential und Grenzen eines Erklärungsfaktors; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 102–123, hier: S. 113. 14 Vgl. Klein, Peter: Wege der Vernichtung; in: Die Zeit Nr. 3 (2017), S. 17. 15 Vgl. Pohl, Dieter: Der Holocaust und die anderen NS-Verbrechen: Wechselwirkungen und Zusammenhänge; Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 124–140, hier: S. 126. 16 Vgl. Ebd. S. 127f

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und Gesetze für Juden auf, die sowohl offizielle Richtlinien als auch Interna der verschiedenen Polizeikräfte darstellten und ebendiesem Distanzierungsprozess zuträglich waren.17 Insgesamt wurden über zweitausend solcher Verordnungen und Gesetze erstellt.18 Einzelne Vorschriften wurden bereits 1933 durch Austrittsverfahren und Regelungen im Vereinswesen umgesetzt, wodurch wir schon in der Frühphase des NS von einer gesellschaftlichen Distanzierung zu den jüdischen Bevölkerungsteilen sprechen können, da ihr Zugang zum öffentlichen Leben abgeschnitten wurde.19 Diese »Sonderbehandlung« verschärfte sich schließlich bis hin zur eigentlichen Bedeutung dieses Wortes. Zentrale Schritte zur Isolierung der Juden waren das »Reichsbürgergesetz« und das gleichzeitig erlassene Gesetz »zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« vom 15. September 1935, die als »Nürnberger Rassengesetze« bekannt geworden sind, aber auch einzelne Verordnungen (hier beispielhaft eine Verordnung aus dem Jahr 1938), die sich massiv auf die Distanzierung und die Beziehung zwischen jüdischen Bevölkerungsteilen und der Restbevölkerung auswirkten: »§1. Die Regierungspräsidenten können Juden deutscher Staatsangehörigkeit und staatenlosen Juden räumliche und zeitliche Beschränkungen des Inhalts auferlegen, daß sie bestimmte Bezirke nicht betreten oder sich zu bestimmten Zeiten in der Öffentlichkeit nicht zeigen dürfen. […].«20

Das »Reichsbürgergesetz« wurde bis 1943 durch dreizehn zusätzliche Verordnungen verschärft, wobei insbesondere die elfte Verordnung vom 25. November 1941 zu nennen ist, bei der die Juden »mit der Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland« nicht nur ihre Staatsbürgerschaft, sondern auch ihr Vermögen verloren.21 Die antijüdische Gesetzgebung bezog sich auf zahlreiche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Beispielsweise durfte der Anteil von Juden an höheren Schulen 17 Vgl. Walk, Joseph (Hrsg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung, Heidelberg/Karlsruhe 1981. 18 Vgl. Zimmermann, Moshe: Die Deutschen Juden 1914–1945, München 1997, S. 48. 19 Vgl. Gross: Anständig geblieben, S. 41–43. 20 Polizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit vom 28. November 1938; in: Hofer, Walther (Hrsg.) Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945, 50. Auflage, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 1957), S. 296. 21 Vgl. Buschmann, Arno: Nationalsozialistische Weltanschauung und Gesetzgebung 1933–1945, Bd. II. Dokumentation und Entwicklung, Wien 2000, S. 28f. Elfte Verordnung des »Reichsbürgergesetzes«, veröffentlicht im Reichsgesetzblatt am 26. November 1941, S. 722f. Im Folgenden abgekürzt als RGBl.

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oder Universitäten nicht mehr als 1,5 Prozent betragen und ab dem Jahr 1938 war es Juden lokal verboten, auf Parkbänken zu sitzen.22 Auch durften Juden ab Mitte der dreißiger Jahre bestimmte Berufe (Arzt, Anwalt oder Apotheker) nicht mehr oder stark eingeschränkt ausüben.23 Ab August 1938 wurden die Zwangsbeinamen »Israel« und »Sara« für die jüdischen Einwohner eingeführt und Ende 1938 wurden die Führerscheine eingezogen.24 Das öffentliche Interesse an diesen Verfahren und dem Zustandekommen war jedoch gering und lediglich kurzfristig Teil der »theoretisch-bürokratischen Diskussion«.25 Jürgen Matthäus plädiert diesbezüglich, die unterschiedlichen Phasen des antisemitischen Vorgehens durch den NS-Staat nicht zu nivellieren: »Dass judenfeindliche Vorurteile den NS-Judenmord maßgeblich beeinflussten, wird niemand ernsthaft bestreiten können; welche konkrete Rolle aber der Antisemitismus spielte, muss für jede Stufe im Prozess der Verfolgung und Vernichtung für jeden Einzelfall gesondert untersucht werden. Dies ist bislang erst ansatzweise geschehen; […].«26

Der massive Antisemitismus von staatlicher Seite und die Maßnahmen gegenüber den jüdischen Bevölkerungsteilen dürfen nicht analog verstanden werden zu den in breiten Bevölkerungsteilen vorhandenen, aber nicht durchweg artikulierten Ressentiments gegenüber Juden.27 Antisemitische Übergriffe innerhalb der Bevölkerung waren bereits vor der NSZeit vorhanden, doch ist eine »gemeinsame Tat«, so wie dies Wildt herausgestellt hat, keineswegs an ein geteiltes Motiv oder eine bestimmte Weltanschauung gebunden.28 Das allgemeine Verhältnis bestand vor allem durch Teilnahmslosigkeit.29 Dass dieser Antisemitismus in einer »eliminatorischen« Form seit Jahrhunderten in der deutschen Gesellschaft vorhanden war und im NS katalysiert wurde, ist eine gewagte These von Goldhagen, die mittlerweile 22 Vgl. Zimmermann, Moshe: Die Deutschen Juden 1914–1945, München 1997, S. 48, 50. 23 Vgl. Vierte bis achte Verordnung des »Reichsbürgergesetzes«; in: RGBl. I, S.47, 969, 1403, 1545, 1751. 24 Vgl. Klein, Adolf: Köln im Dritten Reich, Köln 1983, S. 240, 242f. 25 Zimmermann, Moshe: Die Deutschen Juden 1914–1945, München 1997, S. 49. 26 Matthäus, Jürgen: Holocaust als angewandter Antisemitismus? Potential und Grenzen eines Erklärungsfaktors; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 102–123, hier: S. 102. 27 Vgl. Bauer, Kurt: Nationalsozialismus, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 30–36. 28 Vgl. Wildt, Michael: Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1936, Hamburg 2007, S. 373. 29 Wehler, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus, Bewegung, Führerherrschaft, Verbrechen, München 2009, S. 131f.

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als entkräftet angesehen werden muss. Zudem steht Goldhagens monokausale und mononationale These konträr zu neueren Forschungsergebnissen, die die NS-Gewaltpolitik gegenüber Juden im Rahmen einer länderübergreifenden Gewalt- und Genozidforschung einzubetten versuchen.30 In Hinblick auf die Kriegszeit und der »Entfesselung« der Gewalt gegenüber Juden muss diese Massengewalt auch in Verbindung zu anderen Opfergruppen betrachtet werden, die sich eben nicht durch Antisemitismus erklären lassen. Denn schließlich bilden die jüdischen Opfer nur etwa die Hälfte aller in der NS-Zeit getöteten Zivilisten.31 Für die Analyse des Polenfeldzuges als »Auftakt zum Vernichtungskrieg« gelangt Jochen Böhler zu der These, dass »eine Hemmschwelle zur Verfolgung speziell der polnischen Juden […] dagegen von Anfang an nicht existiert zu haben [scheint] – daher bedurften antisemitische Übergriffe in der Regel auch keiner zusätzlichen situativen Faktoren.«32 Es handelt sich hierbei um eine problematische These, da sie unklar lässt, was denn »zusätzliche situative Faktoren« überhaupt sind, beziehungsweise welche situativen Faktoren für den Polenfeldzug und die antisemitische Gewalt als gegeben gesehen werden müssen. Peter Longerich hat darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen zur Ausgrenzung der Juden eben nicht nur Herrschaftszweck, sondern auch ein Herrschaftsinstrument speziell des NS-Staates waren, das die nicht-jüdische Bevölkerung begünstigte.33 Jürgen Matthäus führt die Relevanz der antisemitischen Stereotype in der NS-Zeit wie folgt zusammen: »Der über die Jahrhunderte tradierte christliche Antijudaismus integrierte im Kaiserreich insbesondere auf der politischen Rechten neue 30 Vgl. Matthäus, Jürgen: Holocaust als angewandter Antisemitismus? Potential und Grenzen eines Erklärungsfaktors; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 102–123, hier: S. 105f. 31 Vgl. Pohl, Dieter: Der Holocaust und die anderen NS-Verbrechen: Wechselwirkungen und Zusammenhänge; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 124–140, hier: S. 130f, 137f. Insbesondere im Polenfeldzug wurde zunächst die polnische Bildungselite durch gezielte Massenmorde vernichtet, so dass in dieser Anfangsphase die Juden eher die Minderheit der Opfer darstellte. 32 Böhler, Jochen: Intention oder Situation? Soldaten der Wehrmacht und die Anfänge des Vernichtungskrieges in Polen; in: Richter, Timm C. (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 165–172, hier: S. 172. 33 Vgl. Longerich, Peter: Politik der Vernichtung. Eine Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1998. Vgl. auch: Welzer, Harald: Die Deutschen und ihr »Drittes Reich«; in: APuZ, Nr. 14/15 (2007), S. 21–28, hier: S. 22.

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rassenideologische Stereotype und radikalisierte sich im Kontext der völkischen Bewegung in der Weimarer Republik massiv, um nach Hitlers Machtergreifung in eine dogmatisch grundierte antijüdische Politik überzuleiten. Antisemitismus war nicht nur Glaubenssatz der NS-Elite, sondern diente dem Regime auch als wirkungsvolles Ablenkungs- und Integrationsmittel. Judenfeindschaft begleitete die politische Praxis, bis sie unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs die systematische Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder herbeiführte.«34

Dementsprechend muss davon ausgegangen werden, dass der Antisemitismus als Wesensbestandteil des Nationalsozialismus anzusehen ist, der im nationalsozialistischen Denken nicht losgelöst vom globalen Krieg existierte, sondern als ein integraler Bestandteil eines darüber gelagerten weltanschaulichen Kampfes Geltung besaß.35 Für die Person Erich Isselhorst muss die antisemitische Einstellung als gegeben angesehen werden, ohne dass diese eine herausragende Rolle in seinem Leben einnahm, bevor er 1934/35 in die Gestapo eintrat. Es gibt keinerlei Quellen, in denen antisemitische Äußerungen fallen. Erst während des Krieges enthalten einzelne Quellen Bezüge zu den jüdischen Opfern. Diese sind jedoch äußerst spärlich und fallen keinesfalls durch eine massive Schärfe auf. Dennoch: Das Vorgehen gegenüber Juden wurde von Isselhorst, wie in der folgenden biographischen Studie dargelegt, sowohl während der Gestapo-Zeit in Köln und München, wie auch in der späteren Einsatzgruppenzeit konsequent durchgeführt und für grundsätzlich richtig erachtet. Der SS, in die Erich Isselhorst 1934 eintrat, kam bei den antijüdischen Maßnahmen und Durchführungen der Gesetze eine entscheidende Rolle zu. Bereits 1935 begann unter der Leitung von Reinhard Heyd­rich die »gezielte Auswanderung« der Juden. Die SS war während der gesamten NS-Zeit das Hauptorgan in der Umsetzung der antijüdischen Politik des Hitler-Regimes. Ab 1935 wurden spezifische Ausbildungsstätten für neue SS-Rekruten aufgebaut, in denen auch die »weltanschauliche Erziehung« einen Teil des Unterrichtes ausmachte.36 Gepaart wurde dies mit einer umfassenden militärischen Ausbildung der Re­ kruten. Auch Isselhorst durchlief nach seinem Eintritt eine mehrmonatige Schulung, deren hohe Anforderungen er in seinen Memoiren mit dem Satz zusammenfasste: »Es war schlimmer als in meinen sämtlichen 34 Matthäus, Jürgen: Holocaust als angewandter Antisemitismus? Potential und Grenzen eines Erklärungsfaktors; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 102–123, hier: S. 107 35 Vgl. Kershaw, Ian: Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg 1940/41, München 2008, S. 543. 36 Vgl. Kiekenap, Bernhard: SS-Junkerschule. SA und SS in Braunschweig, Braunschweig 2008.

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juristischen Examen!«37 Die Entwicklung der SS verlief jedoch nicht linear. Zunächst bestand in der NSDAP eine Konkurrenz von SA und SS. Erst mit dem Ausschalten der Führungsriege der SA im sogenannten »Röhm Putsch« 1934 errang die SS die alleinige Vormachtstellung in der Partei.38 Ein Teil der SS bestand aus dem seit 1931 geheim operierenden Nachrichtendienst – dem SD. Die Aufgaben der SS waren eng verbunden mit den Bereichen der Polizei, wobei insbesondere der »elitäre Charakter« der SS auf viele Bevölkerungsschichten, so auch für Isselhorst 1934, anziehend wirkte.39 Die SS wuchs während der Kriegszeit von etwa 90.000 Mitgliedern auf fast 600.000 im Jahr 1944 an40 – ein Faktum, das auch SS-intern kritisch bewertet wurde, was an zahlreichen Aussagen Isselhorsts zu belegen ist. Obgleich große Teile der SS während der Kriegszeit unter der Befehlsgewalt des OKW standen, galt dies nicht für die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei. Diese wurden unmittelbar vom RSHA in Berlin befehligt, respektive dem Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, oder unterstanden einem von ihm eingesetzten regionalen HSSPF, die 1941 nach dem Angriff auf die Sowjetunion aus Mangel an Ordnungspolizisten im rückwärtigen Armee- und Heeresgebiet installiert wurden.41 Diese Einsatzgruppen, die zu großen Teilen aus Mitgliedern der Gestapo bestanden, waren maßgeblich an den Mordaktionen im rückwärtigen Armeeund Heeresgebiet beteiligt. 37 Isselhorst, Erich: Begegnungen. Anekdotisch. Meine Erlebnisse mit Persönlichkeiten des Dritten Reichs, Straßburg 1947 (unveröffentlichte Fassung); archiviert im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, LAV NRW RW 0725, Nr. 15, S. 13f. Im Folgenden zitiert als RW 0725 Nr. 15. 38 Vgl. zum »Röhm-Putsch« Höhne, Heinz: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, 3. Auflage, München 1981 (zuerst 1967), S. 90–124. Im Folgenden zitiert als Höhne: Geschichte der SS. 39 Vgl. Ebd. S. 125–127. 40 Vgl. Wegner, Bernd: Hitlers politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933–1945. Paderborn 1997, S. 210. 41 Vgl. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 180f. Hinsichtlich Marsch, Versorgung und Unterbringung unterstanden sie dem jeweiligen Berück. Jedoch unterstanden sie für den operativen Einsatz allein dem RFSS. Vgl. auch Dams, Carsten u. Stolle, Michael: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 3. aktualisierte Auflage, München 2012 (zuerst 2008), S. 140ff. Die »Einsatztruppen« wurden zu Beginn des Polenfeldzuges dem OHK unterstellt, jedoch führten die Mordaktionen der Einsatztruppen zu heftigen Konflikten mit der Wehrmachtsführung, so dass die Sicherheitspolizei nach Entbindung von der Wehrmachtsgerichtsbarkeit Ende 1939 »völlige Eigenständigkeit« erreichen sollte. Gleichzeitig vollzog sich der Aufbau des RSHA in Berlin, so dass Dams und Stolle feststellen: »Die gemeinsam eingeübte Praxis des Massenmordes kann als Gründungsakt des RSHA verstanden werden.« (Ebd. S. 142).

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Für Erich Isselhorst, der in Folge der Ausbildung die NS-Ideologie und die Radikalität der Maßnahmen durch seine tagtägliche Arbeit bei der Gestapo wohl verinnerlicht hatte, muss freilich konstatiert werden, dass er sowohl eine antisemitische Grundeinstellung, als auch eine besondere Unterwürfigkeit gegenüber Adolf Hitler – quasi eine Art »Führerglaube« – besaß.42 Die radikale Umsetzung von antisemitischen Maßnahmen war ein tagtägliches Schema, das Isselhorst während seiner gesamten Gestapo-Zeit miterlebte und gestaltete.

3.1 Kindheit und Ausbildung Um 10 Uhr morgens, am 5. Februar 1906, wurde Erich Heinrich Georg Isselhorst in St. Avold geboren, einer kleinen Gemeinde in der deutschfranzösischen Grenzregion Elsass-Lothringen gelegen, etwa 50 Kilometer östlich von Metz. Im 18. und 19. Jahrhundert sahen sich die Dörfer und Städte dieser schwach besiedelten Region oftmals mit einer von Annexion und Gegenannexion bestimmten wechselnden staatlichen Obrigkeit konfrontiert. Dies lag nicht zuletzt an den begehrten Ressourcen des Elsasses, wobei mit Aufkommen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert speziell durch die Kohlevorkommen im Gebiet bei Carling auch der kleine Ort St. Avold einen raschen Aufschwung erlebte. Mit dem Sieg der deutschen Truppen im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 wurde St. Avold in das Deutsche Reich eingegliedert und zugleich der preußische Garnisonsstützpunkt der 3. Lothringischen Feldartillerie Nr. 69. In dieser diente Vater Heinrich Isselhorst (Jahrgang 1875) als Sergeant, der als einer der ca. 2500 Soldaten in St. Avold stationiert war und hier auch seine Frau Karoline (Jahrgang 1883) kennenlernte.43 Um die Jahrhundertwende war die Stadt mit Soldaten überfüllt – beinahe jeder zweite Einwohner der Stadt war in der Garnison stationiert.44 Mit der Geburt ihres ersten Sohnes, den sie Erich Heinrich Georg nannten, begannen anscheinend die Überlegungen der Eltern, ihren Lebensmittelpunkt nach Preußen zu verlegen. Auch die immerwährenden Spannungen in den deutsch-französischen Beziehungen, in der die »Elsassfrage« einen steten Zankapfel bildete, veranlasste die Familie, sich schon wenige Jahre nach der Geburt von Erich Isselhorst weiter nördlich, nahe Dortmund und kurz darauf in Recklinghausen, niederzulassen. Doch erst als der Vater eine Stelle in der Militärverwaltung in Düsseldorf angeboten bekam, wurde die 42 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 06.02.1945). 43 Zu den Geburtsangaben vgl. die Geburtsurkunden RW 0725 Nr. 2. 44 Zur Geschichte von St. Avold vgl. Flaus, Pascal: Société d’Histoire du Pays Naborien, Internet: http://www.shpn.fr/page21/page68/page68.html [25.03.2015].

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Stadt Düsseldorf zur neuen, dauerhaften Heimat. Sein Vater quittierte 1912 den Dienst und trat als Militäranwärter in die Beamtenlaufbahn der Justizverwaltung ein.45

Abb. 2 Erich Isselhorst, undatiert, ca. 1911, LAV NRW RWB 27552, Nr. 1r.

45 RW 0725 Nr. 21.

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Die Familie entschloss sich in der Rheinstadt sesshaft zu werden, wo Erich und später sein 1913 geborener Bruder Hans Isselhorst ihre weiterführende Schullaufbahn bestreiten sollten. Von 1912 bis 1916 besuchte Erich Isselhorst die Volksschulen in Dortmund, Recklinghausen und Düsseldorf. Seine dortigen Leistungen waren angemessen, um seine Schullaufbahn am Staatlichen Hohenzollern Gymnasium in Düsseldorf weiterzuführen, wo er im März 1925 sein Abitur ablegte.46 Die politischen Umstürze jener Zeit, der verlorene Krieg und dessen Folgen, die demokratische Revolution und das Aufkommen der nationalsozialistischen Bewegung waren an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Insbesondere der Person Adolf Hitler sprach Isselhorst bei der Retrospektive über seine Jugendzeit eine außergewöhnliche Stellung zu: »Ich war ein 17jähriger Gymnasialschüler in Düsseldorf, als die Schüsse, die am 9. November 1923 an der Feldherrenhalle in München fielen, unter vielen Deutschen auch mich zum ersten Male auf jene politische Bewegung aufmerken liessen, die ihren Ursprung in München hatte. Wer war Hitler? Was wollte er? Welches politische Ziel verfolgte er? Was war seine Partei? Diese Fragen, die damals auch unter Schülern auftauchten, fanden nur unbefriedigende Beantwortung. Uns war auch eigenen Erleben der ersten Nachkriegsjahre ein Ehrhardt, ein Schlageter, ein Begriff. Natürlich kannten wir Ludendorff; aber Hitler? Wir diskutierten, was wir ja damals gerne und oft taten.«47

Bereits an dieser Stelle werden die Ausrichtung seiner Memoiren und die darin eigenommene Perspektive deutlich. Isselhorst beschrieb seine Kenntnisse über den bekannten Freikorpsführer Hermann Ehrhardt (Jg. 1881) und den in der NS-Propaganda zum Märtyrer stilisierten Figur Albert Leo Schlageter (Jg. 1894) als Zeichen für seine Kenntnisse der revolutionären Ereignisse der Frühphase der Weimarer Republik. Isselhorst zählte sich 1947 zur Generation der »deutschen Jugend«, die als kritische Beobachter der Zeit, über die tagespolitischen Ereignisse reflektierte. Dass Isselhorst an dieser Stelle auf politische Mythen zurückgreift, um sich als Teil einer Generation zu verstehen, ist kein Zufall. »Jede soziale Großgruppe besitzt […] ein gewisses Repertoire an politischen Mythen, das im Laufe der gesellschaftlich-politischen Veränderungen den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend angepasst wird und je nach gesellschaftlicher Situation besonders aktiviert werden kann.«48 Ganz entscheidend ist, dass Isselhorst diese Erinnerung 1947 aufgreift und als Grundlage für seine allmähliche Annäherung an den NS bestimmt. Auch die Einführung Hitlers als anfangs unbekannte 46 Vgl. RW 0725 Nr. 23. 47 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 3). 48 Hein-Kircher, Heidi: »Deutsche Mythen« und ihre Wirkung; in: APuZ Nr. 13/14 (2013), S. 33–38, hier: S. 33.

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Person, bildet die Grundlage für die Mystifizierung Hitlers in seinen Memoiren. Die NS-Bewegung vertrat Ideen, die partiell in verschiedene soziale Milieus der Weimarer Gesellschaft Einzug gefunden hatten. Im »neusachlichen Jahrzehnt« der Weimarer Republik, wo soziale Desorganisation herrschte und Traditionen und tradierte Moralbegriffe an Überzeugungskraft verloren, entstanden Verhaltenslehren, die halfen, eigene Identitäten zu bestimmen und Abgrenzungen zu vollziehen. Lethen charakterisiert diese Phase mit den »Verhaltenslehren der Kälte«, die den Menschen als Attitüde diente, sich gegenüber Statusinkonsistenzen und gegen eine aus der Weltkriegsniederlage resultierenden »Krise der Gewissenskultur« zu behaupten.49 Typisch hierfür war die Resignation, das passive und unpolitische Leben im bürgerlichen Milieu, insbesondere bei eigener militärischer Vergangenheit. Seine Eltern wurden von Isselhorst in den Memoiren dementsprechend so beschrieben, dass diese für die ideologischen Überzeugungen des NS zunächst kaum zu begeistern waren. Wie viele andere ehemalige Soldaten, so Isselhorst, resignierte auch der Vater ob der Vergangenheit und verebbte im politischen Verdruss: »[…] Mein Vater, durch die Revolution zuerst an seiner alten, konservativen Auffassung des Staatslebens etwas irre geworden und zum Sozialismus hingezogen, erlebte so viele Enttäuschungen, dass er sich von jeder politischen Aktivität fern hielt, ja noch nicht einmal sich äusserlich nach der einen oder anderen Seite klar ausrichtete. Eins aber war bei ihm damals eindeutig: die Ablehnung aller extrem-radikalen Erscheinungen. Sein Herz schlug immer treu-deutsch, seine Einstellung war national. Jedoch als ihm auch das satte, tatenlose, spiessige Bürgertum zutiefst enttäuscht hatte, da allerdings war auch er noch 1932, als 57jähriger Mann jung genug im Herzen geblieben, um sich bedingungslos der Bewegung der Jugend anzuschliessen.«50

Seine eigene Position als Teil der »Bewegung der Jugend« wurde an dieser Stelle offenkundig. Er charakterisierte diese dadurch, dass sie ein Verlangen der »jungen« Bevölkerung nach einer Veränderung, nach einer »Verbesserung« der Welt bediente. Beschreibungen, die auch an die Aufzeichnungen von Sebastian Haffner erinnern.51 Die Passage weist darüber hinaus auf einen generationenübergreifenden Aspekt hin, der für die weiteren Ausführungen in seinen Memoiren von Bedeutung ist. Denn Isselhorst war wichtig, dass sich auch sein Vater dieser Bewegung letztlich unterordnete und somit war die Partizipation an der Generation 49 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, 7. Auflage, Frankfurt a. M. 2014 (zuerst 1994), S. 7–38. 50 RW 0725, Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 3f). 51 Vgl. Haffner, Sebastian (1939): Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, 5. Auflage, Stuttgart/München 2000, S. 77.

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der »deutschen Jugend« keinesfalls an ein bestimmtes Alter gebunden. Ganz im Gegenteil vereinnahmten die Ziele der Bewegung die verschiedenen Alterskohorten, sofern diese generell eine »treu-deutsche« Einstellung vertraten. Der deutsche Patriotismus, gepaart mit den idealistischen Zielen der Generationenzuschreibung, ermöglichte somit eine innergesellschaftliche und altersunabhängige Vereinigung. Im weiteren Verlauf seiner Memoiren wurde diese Verbindung nun mit den realpolitischen Ereignissen der Weimarer Zeit verknüpft: »Als Reaktion gegen die Einschränkungen und Leiden des Krieges und Nachkriegszeit, gegen die Auswirkungen des Versailler Vertrages, hatte sich unter uns [gemeint ist die »Deutsche Jugend«, Anm. d. Verf.] eine Welle neuen Lebenswillens und des leidenschaftlichen Verlangens erhoben, eine bessere Welt zu schaffen.«52

An dieser Stelle wurde nun das zuvor erstellte Konstrukt mit dem kon­ struktiven Auftrag verbunden, eine »bessere Welt« zu schaffen. Freilich geschah dies in der Abgrenzung zu den von außen oktroyierten Bedingungen, mit denen sich die »Deutsche Jugend« konfrontiert sah. Isselhorst legte somit zu Beginn seiner Memoiren bereits das Fundament für seine später beschriebenen Entscheidungen, in die Gestapo einzutreten und die NS-Bewegung bedingungslos zu unterstützen. Diese Anekdoten stellen Erinnerungen dar, die er 1947 aufgriff. Sie dürfen daher keinesfalls als eine empirische Realität begriffen werden, denn sie erfüllten den Zweck, eine kohärente Lebensgeschichte von Isselhorst zu formen. Nach dem erfolgreichen Abschluss seines Abiturs im Jahr 1925 schlug Isselhorst einen gewöhnlichen Ausbildungsschritt ein. Durch Unterstützung seines Vaters begann er am 1. Mai 1925 eine Ausbildung in der »Pahlschen Gummi- und Asbest-Gesellschaft« in Düsseldorf Rath und arbeitete dort als kaufmännischer Buchhalter. Sein 1927 ausgestelltes Zeugnis spricht von »guter Auffassungsgabe«, »angenehmen Takt« sowie »Treue und Pflichtgefühl«53 – allesamt Merkmale, die Isselhorst auch in den kommenden Jahrzehnten auszeichnen sollten. Die kaufmännische Arbeit entpuppte sich jedoch als zu eintönig für den jungen Isselhorst. Er wollte Karriere machen und da er die Chancen hierfür durch ein Studium verbessert sah, begann Isselhorst zum Wintersemester 1927 ein Studium der Rechtswissenschaft in München und Köln.54 Während seines Studiums versuchte Isselhorst seine Eltern finanziell durch Nebentätigkeiten zu unterstützen. In seinen Memoiren berichtete Isselhorst, wie er in den Semesterferien 1928 nun mit der NS-Bewegung in Kontakt trat: 52 RW 0725, Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 4). 53 RW 0725 Nr. 1. 54 RW 0725 Nr. 3.

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»Es war im Sommer 1928, als ich, wiederrum völlig unfreiwillig, auf die nationalsozialistische Bewegung stiess. Ich arbeitete damals mehrere Monate während der Semesterferien in der Mehlmühle Plange im Düsseldorfer Hafen als Arbeiter – Werkstudent nannten wir das! Die Arbeiterschaft dieses Betriebes war rot bis auf die Knochen. Man wollte mich zum Eintritt in die Gewerkschaft, ja zum Eintritt in die Kommunistische Partei Deutschlands zwingen. Ich lehnte ab. Ich war vermessen genug, während der Arbeit nationale Lieder vor mich hinzupfeifen. Das war das Signal zu einem Überfall auf mich, und es wäre mir wohl schlecht ergangen, wenn mir nicht überraschenderweise zwei, drei jüngere Arbeitskameraden zu Hilfe gekommen wären. Aus der Keilerei zogen wir uns mit Anstand, wenn auch mit blutigen Köpfen und zerrissenen Kleidern, heraus. Meine Helfer entpuppten sich als Nationalsozialisten.«55

Die Retter aus der Not, die für Isselhorst freilich, wie er 1947 in seinen Memoiren anmerkte, nur stupide Meinungen über die NS-Bewegung anzubieten hatten, brachten Isselhorst dazu, sich allmählich für die Ideen des Nationalsozialismus zu interessieren. Diese Anekdote veranschaulicht pointiert das dahinterstehende Narrativ seiner Memoiren. Zunächst stilisiert sich Isselhorst zum aufrechten Patrioten, der sich gegen den von außen kommenden Zwang zum Eintritt in die kommunistische Partei wehrt. Ganz im Gegenteil intoniert er sogar nationale Lieder während der Arbeit – ist somit deutscher Patriot – und wird aufgrund dessen von der »kommunistischen Gefahr« attackiert. Es entsteht somit ein Gegensatzpaar zwischen dem international angreifenden Kommunismus und dem national patriotischen und beschützenden Nationalsozialismus. Nur mit Hilfe seiner jungen nationalsozialistischen Helfer kann er den Angriff abwehren. Zudem dient diese Erinnerung einem übergeordneten und übergreifenden Selbstentwurf, denn er versucht zu betonen, dass er bereits vor der Zeit des NS ein Kämpfer gegen den Bolschewismus war. Ein spiegelhafte Anekdote, die beispielhaft für seinen gesamten narrativen Selbstentwurf steht. Im Studium schien Isselhorsts Interesse insbesondere an der Person Adolf Hitlers stärker zu werden. Er besuchte Kundgebungen und begann sich für die darin enthaltene Programmatik zu öffnen. Laut Isselhorst im Jahre 1928, eher jedoch bei einer Kundgebung im November 192756, besuchte er eine Rede Hitlers anlässlich der Wahlen zu den Studentenausschüssen, die er an der Universität München hielt. »Zum ersten Male aber auch verspürte ich den Flügelschlag des Schicksals, der für die Entwicklung meines politischen Denkens und meines 55 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 5). 56 Vgl. Kater, Michael H.: Der NS-Studentenbund von 1926 bis 1928: Randgruppe zwischen Hitler und Strasser; in: VfZ Nr. 2 (1974), S. 148–190, hier: S. 175.

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künftigen Lebens entscheidend werden sollte. Ich hörte Hitler in einer Ansprache an die Studenten der Münchener Universität […]. Was Hitler damals sprach, ich weiss es nicht mehr! Ich tauchte unter in die Woge der Begeisterung, die uns studentische Zuhörerschaft packte und überwältigte.«57

Das kultisch und mystisch aufgeladene Bild, das Isselhorst für Hitler an dieser Stelle entwarf, zeugt von seiner auch nach dem Krieg tiefen Bewunderung Adolf Hitlers. Dementsprechend schicksalhaft beschrieb er die Wirkung des Auftritts. Zu belegen ist, dass Erich Isselhorst sich Anfang der 30er Jahre tatsächlich dem NS-Milieu annäherte. So arbeitete er vom 7. Juni 1932 bis zum 30. April 1934, davon die ersten sechs Monate als Page, bei dem Ratsherrn der Stadt Düsseldorf, einem Rechtsanwalt namens Dr. Wenzel. Dieser einschlägig bekannte Anhänger des Nationalsozialismus trug sicherlich zur weiteren Bindung Isselhorsts an die NS-Bewegung bei, nicht zuletzt dadurch, dass er als ehemaliger Jagdflieger-Kompagnon von Hermann Göring gute Beziehungen zur NS-Führung besaß.58 Isselhorst besuchte nunmehr öfters die Kundgebungen, las die Veröffentlichungen und kam anscheinend zu dem Entschluss, dass diese Partei der Ausdruck seiner politischen Überzeugung sei, der Ausdruck der »deutschen Jugend«, zu der sich Isselhorst freilich 1947 zählte. Der Parteieintritt in die NSDAP am 1. August 193259 war somit die konsequente Folge seiner Begeisterung. SA-Mitglied wurde Isselhorst am 1. Mai 1933.60 Sein Studium in Köln und München hatte Isselhorst bereits zuvor mit befriedigenden, aber keinesfalls überragenden Leistungen abgeschlossen. Am 1. Dezember 1930 absolvierte er die erste juristische Staatsprüfung am Oberlandesgericht Düsseldorf und schon ein halbes Jahr später, am 12. Juni 1931, promovierte Isselhorst an der Universität zu Köln zum Doktor jur. Sowohl seine Doktorarbeit, die er in 48 Seiten über die »Schlichtungsnotverordnung«61 schrieb, als auch seine Staatsprüfung wurden mit »voll befriedigend« bewertet.62 Dass Isselhorst den Kommunismus zu jener Zeit tatsächlich als eine Art Gegenpol wahrnahm, lässt eine Passage aus seiner Dissertation erahnen, in der er die politischen Gefahren von Arbeitskämpfen zu Beginn der 30er Jahre herausstellt. Isselhorst berichtete, es sei: »[…] damit zu rechnen, daß Aussperrung und Streik im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit und Not auch zu politischen Unruhen führten, wie 57 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 6). 58 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 15 n. E). 59 RW 0725 Nr. 23 (Lebenslauf vom 15.10.1934). 60 RW 0725 Nr. 23. 61 Isselhorst, Erich: Die Schlichtungsnotverordnung (Dissertation), Düsseldorf 1932. 62 RW 0725 Nr. 23.

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die kommunistischen Putschversuche Anfang Januar ja auch gezeigt haben. Wenn auch damals die Vernunft siegte, wer bürgt dafür, daß erneute Versuche unter der veränderten Sachlage nicht umso sichereren Erfolg gebracht hätten?«63

Isselhorsts Gemütszustand zu der Zeit der Doktorarbeit war indes geprägt von einer großen Nervosität. Alleine zweimal beantragte er einen Aufschub beziehungsweise Sonderurlaub für die Anfertigung der Dissertation und auch ein kurz vor der Prüfung beantragter Krankheitsurlaub, der mit einem ärztlichen Attest versehen war, macht seine Anspannung deutlich: »[…] Auf Anraten des Arztes erfordern nervöse Störungen, die sich in der letzten Zeit in verstärktem Maße bemerkbar gemacht haben und aus den Vorbereitungsarbeiten für das Doktorexamen herrühren, eine kurze Erholung. […].«64 Nach dem Abschluss der Doktorarbeit begab sich Isselhorst in das Rechtsreferendariat am Oberlandesgericht Düsseldorf. Die Zeichen für seine persönliche Zukunft standen eher mäßig, da es gerade in den frühen 30er Jahren zu einem massiven Anstieg bei den Abschlussjahrgängen in den Rechtswissenschaften kam.65 Während seines Referendariats blieb Isselhorst durch die Arbeit in der Kanzlei Wenzel im Milieu des NS. Er besuchte weiterhin Kundgebungen und »Kampfreden«, wobei ihm in seinen Memoiren vor allem die Reden von Joseph Goebbels in Erinnerung blieben, die er in Düsseldorf miterlebte und dem er für seinen Mut in »kommunistischen Hochburgen« Reden zu halten, große Wertschätzung entgegenbrachte: »Muss ich betonen, dass seine Ausführungen von einem Eindruck sondergleichen auf uns junge, nach einer nationalen Erneuerung des Reiches strebenden Menschen war? […] Jeder objektiv denkende, vom politischen Hass freie Mensch wird bekennen müssen, dass eine Goebbels’sche Kampfrede zu den grössten politischen Erlebnissen der damaligen Zeit zählte. Ich jedenfalls bekenne auch heute noch frei und offen, dass ich mir in jener Zeit nicht im Klaren darüber war, ob ich seinem persönlichen Mut, seiner politischen Überzeugungskraft oder seiner wortgewaltigen Rhetorik den Vorzug geben wollte.«66 63 Isselhorst, Erich: Die Schlichtungsnotverordnung (Dissertation), Düsseldorf 1932, S. 8. 64 BR-PE 1989 Schreiben vom 23.06.1931. 65 Vgl. Gräfin von Lösch, Anna-Maria: Der nackte Geist. Die juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999, S. 26f. Mitte der zwanziger Jahre waren beinahe ein Drittel aller Studenten angehende Juristen. Daher die »Studentenschwemme« Anfang der 30er Jahre, die letztlich auch eine Rolle bei der politischen Radikalisierung spielen sollte. 66 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 8f n. E).

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Auch an dieser Stelle wird die Verbindung zwischen der NS-Bewegung und der »deutschen Jugendgeneration« betont. »Objektiv denkend« und »vom politischen Hass frei« – diese beiden Attribute nahm Isselhorst für sich in seinen Memoiren in Anspruch. Außerdem steht der Terminus »Kampfrede« hier ebenfalls sinnbildlich für seine in den Memoiren hervorgebrachte Vorstellung, dass der NS im Wesentlichen eine Bewegung des Widerstandes und der Bekämpfung ebenjener bolschewistischen Gefahr war. Geprägt wurde diese Überzeugung von einer tiefen Frömmigkeit, die Isselhorst nach dem Krieg in Gefangenschaft aufbaute. Isselhorst sah seine Memoirenschrift als Teil der Völkerverständigung zwischen Frankreich und Deutschland an, in der er als über den gegenseitigen Hass stehend, eine objektive Beschreibung über die Wirkung und die Leistungen des NS schrieb. Die Ausstrahlung der NS-Spitzen, wie Adolf Hitler oder Joseph Goebbels, erlebte Isselhorst auch im August und September 1933, als er den ersten Reichsparteitag der NSDAP nach der »Machtergreifung« in Nürnberg besuchte. Für Isselhorst war dieses Ereignis auch in der Erinnerung 14 Jahre später ein großer Moment: »Nach der Machtübernahme erlebte ich den 1. Reichsparteitag in Nürnberg mit, und wenn auch die folgenden eine plan- und systemvollere Organisation zeigten und in einem festlicheren Rahmen verliefen, so hatte dieser ihnen doch das voraus: in einem jubelnden Aufatmen legte das deutsche Volk dem Führer seinen Dank zu Füssen, mit einem Herzen voller Hoffnung schwur [sic] es ihm Treue, mit einem tiefen, inneren Ernst und Einsatzwillen ging es an die Arbeit!«67

Die Körpermetaphorik über das deutsche Volk, das durch Hitler wieder aufatmen kann, die treue und ernste Tatkraft zur Erreichung des gemeinsamen generationalen Auftrages – beides schuf in der Verbindung die Basis für Isselhorsts Arbeit bei der SS und der Gestapo. Denn dies geschah laut Isselhorst schließlich nicht aus Eigennutz oder Egoismus, sondern aufgrund eines übergeordneten Auftrages. Seine eigene Karriere verlief bereits während des Studiums in unmittelbarer Nähe zum NS-Milieu. In seinem SS-Lebenslauf beschrieb er stolz ob seiner bisherigen Leistungen, dass er während seiner Arbeit für den Rechtsanwalt Wenzel häufig mit Mitgliedern der NS-Bewegung zusammenarbeitete und seinen Parteigenossen zu Hilfe kam: »[…] Seit dem gleichen Zeitpunkt habe ich den Rechtsschutz der Ortsgruppe Friedrichsstadt übernommen und bis heute die Stellung eines Zellenwarts (Abteilungsleiter) innegehabt. Schon vorher aber habe ich während meiner Tätigkeit in der Praxis des Rechtsanwalts Wenzel die Beratung und Verteidigung von Parteigenossen ausgeführt.«68 67 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 20). 68 RW 0725 Nr. 23.

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Die explizite Betonung seiner Arbeit im NS-Umfeld muss hier jedoch unter der Bedingung verstanden werden, dass es sich bei der Quelle um den eigenen Lebenslauf für die SS handelt. Dennoch sind die beiden Tätigkeiten Fakten, die seine Nähe zum System belegen, obgleich sein Einfluss in der Kanzlei sicherlich überhöht dargestellt wurde. Im Spätsommer 1934 absolvierte Isselhorst ein mehrwöchiges Gemeinschaftslager für Referendare in Jüterbog, bei dem neben einfachen Bauarbeiten auch militärischer Drill im Fokus der Ausbildung standen.69 Nach zwei Reden Hitlers und Goebbels, die von den teilnehmenden Rechtsreferendaren am Radio verfolgt wurden, schrieb Isselhorst begeistert an seine spätere Ehefrau, die er in seinen Briefen und Tagebucheinträgen stets beim Kosenamen »Gustel« nennt: »Dienstag haben wir uns […] Goebbels angehört (seine Rede war die Schlechteste, die ich je von ihm gehört habe); da war doch die Rede des Führers am Freitag was ganz anderes. Ein herrlicher Mann, für den man durch dick und dünn gehen kann.«70

Nach seinem Referendariat beim Landesgericht Düsseldorf drohte Isselhorst eine schwierige berufliche Perspektive. Der Markt für Juristen war durch die hohen Absolventenzahlen gesättigt – ein wichtiger Scheidepunkt in seinem Leben. Denn in dieser persönlich unsicheren Situation konnte ihm der NS eine zukunftsfähige Perspektive anbieten, die zudem einen Auftrag beinhaltete, der über eine gewöhnliche Arbeit hinausging: Er bekam die Möglichkeit angeboten, die NS-Bewegung auf funktionaler Ebene zu unterstützen. Während seines Referendariats wurde ihm angeboten, im SD-Unterabschnitt West im Wirtschaftsreferat zu arbeiten. Hierfür beantragte Isselhorst einen mehrmonatigen Urlaub beim Oberlandesgericht, welcher ihm am 30. November 1934 für die Dauer von einem Jahr (Anfang Dezember 1934 bis Ende November 1935) bewilligt wurde.71 Für Isselhorst bedeutete dies eine neue Chance in einem zum damaligen Zeitpunkt sich rasch verstärkenden und einflussreichen Apparat der NS-Bewegung: »Der SD war durch die Ereignisse des 30. Juni 1934 (Röhm usw.), zu deren Aufklärung er erheblich beigetragen hatte, zu einem beachtlichen Faktor geworden und begann gerade, sich in seiner Aufgabe der Beobachtung des staatlichen, parteilichen und völkischen Lebens machtvoll zu entwickeln.«72 69 Vgl. RW 0725 Nr. 27 (Brief vom 11.08.1934). Zum Lager »Hans Kerrl« in Jüterbog vgl. Schmerbach, Folker: Das »Gemeinschaftslager Hans Kerrl« für Referendare in Jüterbog 1933–1939, Tübingen 2008. 70 RW 0725 Nr. 27 (Brief vom 19.08.1934). 71 BR-PE 1989 Schreiben vom 30.11.1934. 72 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 12).

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Abb. 3 Brief von Erich Isselhorst an seine spätere Frau, 19.08.1934, RW 0725, Nr. 27.

Das Aufgabenfeld des SD, das Isselhorst in seinen zweiten Memoiren beschreibt, unterschied sich dabei wesentlich von den Aufgaben, die er später in der Gestapo verrichten musste. So wurden die Aufgaben des SD und die Differenz zur Gestapo-Arbeit wie folgt beschrieben: »Die Beobachtung erstreckte sich auf alle nur denkbaren Gebiete, auf dem sich das Leben eines Volkes abspielt […] Während also die Staatspolizei als exekutives Vollstreckungs- und präventives Abwehrorgan gewissermassen der ›verlängerte Arm‹ der nationalsozialistischen Staatsführung war und entsprechend den staats- u. parteipolitischen Willen als ›Instrument ‹dieser Führung tätig wurde, war der SD als ›Seismograph‹ zu bezeichnen, der auf die geringste Erschütterung ausschlug und Warnsignale gab.«73

Isselhorst schien in der Zeit beim SD in Düsseldorf einen guten Eindruck auf seinen Vorgesetzten, einen SD-Führer namens Glatzel, gemacht zu haben. Denn dieser drängte ihn bereits kurz nach seinem Beschäftigungsbeginn zu einem weiteren Schritt seiner Karriere: Er sollte sich für die Führerlaufbahn bei der Geheimen Staatspolizei bewerben. Isselhorst willigte nach kurzer Bedenkzeit ein. Seine Bewerbung wurde in Berlin mit großem Interesse verfolgt, war dort der Aufbau der politischen Polizei doch gerade in vollem Gange. Der Leiter der Personalabteilung, Dr. Werner Best, besorgte sich umgehend die Personalakten und 73 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9f).

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KARRIERE IN DER GEHEIMEN STAATSPOLIZEI (GESTAPO)

Prüfungszeugnisse vom Oberlandesgericht Düsseldorf.74 Nachdem der Beschäftigungswechsel vom SD-Oberabschnitt West nach Berlin durch das Oberlandesgericht und das preußische Justizministerium geklärt war, erhielt Isselhorst Anfang Februar per Anruf die Nachricht, dass er zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen habe. Dieses sollte am 14. Februar 1935 im Geheimen Staatspolizeiamt auf der Prinz-AlbrechtStraße in Berlin vonstattengehen. Erwartet wurde er dort vom Chef der Geheimen Staatspolizei und des SD, Reinhard Heydrich.

3.2 Karriere in der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) »Die Vorstellung bei dem damaligen Chef der Gestapo und des SD, Heyd­rich, verlief zu dessen Zufriedenheit. Ich wurde mit 15 anderen aus der grossen Zahl der Bewerber für würdig gehalten, einen Lehrgang mitzumachen, in welchem wir über die Grundziele der staatspolizeilichen Aufgaben, über die staatspolitischen Tugenden, über die Struktur, über allgemeine politisch-polizeiliche Probleme usw. unterrichtet wurden. Nationalsozialistische Weltanschauungs-Theoretiker, namhafte Geschichtslehrer, bekannte Rechtswissenschaftler beschäftigten sich mit uns. Wir wurden auf Herz und Nieren geprüft; es wurden hohe Anforderungen an uns gestellt. […] Von der ethischen Bedeutung, von der Voraussetzungen der Stellung eines Stapoleiters wurde uns ein so hoher Begriff beigebracht, dass ich versucht war anzunehmen, solchen Aufgaben niemals gewachsen zu sein.«75

So schlug Erich Isselhorst als damals 29 Jahre junger Mann den Weg zur Geheimen Staatspolizei ein. Darin war er zu jener Zeit nicht alleine, da aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage Quereinstiege in die Gestapo keine Seltenheit waren. In Preußen bildete diese Gruppe Anfang der 30er Jahre rund 21,6% der Neueinsteiger in die Gestapo.76 Dass Isselhorst diesen Schritt indes aus eigenem Antrieb tat, war für den Versorgungsanspruch seiner Frau und späteren Witwe von nicht geringer Bedeutung, denn nur eine Versetzung von Amtswegen hätte ihr Pensionsansprüche nach dem Krieg gewährt.77 Da auch diese und folgende Passagen aus den Memoiren stammen, muss berücksichtigt werden, dass Isselhorst im Jahr 1947 die Gestapo als eine Eliteeinheit zur Bekämpfung der bolschewistischen Gefahr sah. Dieses Elite-Empfinden war jedoch keinesfalls eine nachkriegliche Erscheinung, auch in zeitnahen Quellen 74 BR-PE 1989 (Schreiben von Dr. Werner Best vom 31.01.1935). 75 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 13f). 76 Vgl. Dams, Carsten u. Stolle, Michael: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 4. Auflage, München 2017 (zuerst 2008), S. 62. 77 LAV NRW NW 130 Nr. 220.

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ERICH ISSELHORST: KONSTRUKTION UND REKONSTRUKTION EINER BIOGRAPHIE

wurden die Gestapo und ihre Arbeit als bedeutend charakterisiert. Die explizit hervorgehobene »ethische Bedeutung«, der Isselhorst glaubte, »niemals gewachsen zu sein«, muss freilich unter Berücksichtigung der nachkrieglichen Verortung der Gestapo von Isselhorst gesehen werden. Isselhorst betont die interdisziplinäre und elitäre Ausbildung innerhalb der Gestapo, um damit gegen den Vorwurf zu argumentieren, dass die Gestapo eine »Verbrecherorganisation« gewesen sei. Zum Übergang vom Gerichtsassessor schrieb Werner Best, damaliger Abteilungsleiter beim Geheimen Staatspolizeiamt, in einer eidesstattlichen Erklärung vom 28. Januar 1955 Folgendes: »[…] Ich bin von Anfang Januar 1935 ab der Leiter der Abteilung I (Verwaltung und Recht) des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin […] gewesen. Aus dieser dienstlichen Tätigkeit ist mir bekannt, dass das Reichsjustizministerium auf Grund einer mit der Leitung der Geheimen Staatspolizei getroffenen Vereinbarung laufend Assessoren, welche der Justizverwaltung zur Verfügung standen und von ihr nicht beschäftigt werden konnten, anwies, sich bei der Geheimen Staatspolizeiamt bzw. später beim Hauptamt Sicherheitspolizei vorzustellen, damit geprüft werden konnte, ob ihre Übernahme in den Dienst der Geheimen Staatspolizei in Frage komme. Gleichzeitig wurden die Personalakten dieser Assessoren vom Reichsjustizministerium meiner Abteilung I bzw. meinem Amt Verwaltung und Recht übersandt. Die Assessoren wurden dann von mir dem Leiter der Geheimen Staatspolizeiamtes bezw. – später – Chef der Sicherheitspolizei vorgestellt, der auf Grund des gewonnenen Eindrucks entschied, ob der Vorgestellte übernommen werden sollte.«78

Die eidesstattliche Erklärung von Best war jedoch kein Einzelfall. Nach seiner Rückkehr aus der dänischen Haft hatte der ehemalige Personalchef des Gestapa diverse Schreiben von ehemaligen Beamten erhalten, die darauf drängten, dass die Versetzung zur Gestapo »von Amts wegen« erfolgte – eine Grundbedingung für älterer Beamte, die länger als zehn Jahre Dienstzeit vorwiesen und die auf eine Wiedereingliederung in den Staatsdienst hofften. Daraufhin gab Best bis in die frühen 60er Jahre hinein »Hunderte von eidesstattlichen Erklärungen ab«79, welche diese Versetzungen »von Amts wegen« bestätigten. Dies geschah freilich vor dem Hintergrund, das öffentliche Bild der Gestapo als »Verbrecherorganisation« zu revidieren.80 Der Eindruck von Reinhard Heydrich im Vorstellungsgespräch, das für Isselhorst positiv verlief, brachte noch in der Erinnerung große Begeisterung für Heydrich ob seiner Intelligenz 78 RW 0725 Nr. 42. 79 Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 485. 80 Vgl. Ebd. S. 486–487.

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KARRIERE IN DER GEHEIMEN STAATSPOLIZEI (GESTAPO)

und kulturellen Versiertheit hervor. Dies verdeutlichen Isselhorsts Memoiren, in denen er ihn beschrieb: »Als ich mich ihm, der damals noch SS-Oberführer war, im Februar 1935 in seinem Dienstzimmer auf der Prinz-Albrechtstrasse Berlin vorstellen musste, war ich erstaunt über seine Jugend. Er war nur wenig älter als ich. Eine grosse, schlanke Figur, ein langes schmales, rassisch schönes Gesicht, blonde Haare, blaue, strahlende Augen, frische, lebhafte Bewegungen, fast jungenhaft wirkend, so stand er vor mir! Kurz und abgemessen waren seine Worte, prüfend fest sein Blick. Ich fühlte, dass in diesem Manne eine ungeheure Energie, eine gewaltige geistige Elastizität, ein kraftvoller Wille steckten, die mit einem Idealismus feurigster Art gepaart waren.«81

Die Begeisterung über Reinhard Heydrichs Persönlichkeit, die in ähnlicher Weise bereits bei den Beschreibungen Hitlers und Goebbels anklang, wurde noch dadurch verstärkt, dass Isselhorst in ihm zwei zen­ trale Attribute verortete, die der Basis seines Selbstentwurfes nach dem Krieg entsprachen, nämlich die Jugendhaftigkeit und der damit gepaarte Idealismus. Als Idealist der »deutschen Jugendbewegung« waren die Erinnerungen an Heydrichs Persönlichkeit prädestiniert, an ihm diese Einstellungsmuster zu spiegeln. Tatsächlich bildete die Aufnahme in die Staatspolizei den Auftakt zu einer mehrmonatigen Indoktrination der nationalsozialistischen Ideologie und der Vorbereitung für seine bevorstehenden Aufgaben. Die Ausbildungszeit verlief 1935 noch deutlich länger, als dies in späteren Jahren die Regel bei der Gestapo wurde.82 Dass Isselhorst als junger Jurist für diese Aufgabe auserkoren wurde, kann mit einer Aussage von ihm über Heydrich in Verbindung gebracht werden, in der er Heydrichs Pläne für die Umgestaltung der polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungs- und Strafverfolgungsstruktur beschrieb: »Sein weiteres Ziel war die staatliche Strafantrags- und Strafvollstreckungsbehörde (Staatsanwaltschaft) mit der polizeilichen Exekutive führungsmässig zu vereinigen, in eine Hand zu bekommen, sie aus der Justizverwaltung herauszulösen. Ich bin sicher, dass er dieses Ziel binnen kurzem erreicht haben würde, wenn er am Leben geblieben wäre.«83

81 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 20). 82 Vgl. Dams, Carsten u. Stolle, Michael: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 4. Auflage, München 2017 (zuerst 2008), S. 63. Diese Entwicklung nahm Ende der dreißiger Jahre deutlich zu und steigerte sich in der Kriegszeit durch eine stetig größer werdende Anzahl von Quereinsteigern und fachfremden Kräften: »Durch die Einstellung dieser Fachfremden sanken die professionellen Standards zwangsläufig, denn die neu Hinzugekommenen konnten kaum über Nacht systematisch geschult werden.« 83 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 28).

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Die hier angesprochene Umstrukturierung kann ein Hinweis auf die Frage sein, warum überproportional viele Juristen bei den späteren Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD vertreten waren. Hierzu wäre einer primär strukturell-funktionalen Antwort nachzugehen. Falls dieser Plan bei Heydrich tatsächlich existierte, ist die Rekrutierung von Juristen für die Staatspolizei eine logische Folge. Nur bei ihnen war anzunehmen, dass sie neben der polizeilichen Ermittlungsarbeit eben auch die juristischen Kompetenzen besaßen, die eine solche Vereinheitlichung der Justizorgane verlangte. Die Vereinheitlichung von Strafverfolgung und der Staatsanwaltschaft als anklagende Instanz würde bedeuten, dass unliebsame und nicht-linientreue Staatsanwälte, deren Ernennungen noch aus der Weimarer Zeit stammten, aus dem Strafverfolgungsprozess für politische Gegner ausgeschlossen würden. Die Jahre später getroffene personelle Zusammenstellung der Einsatzgruppen im Ostfeldzug wäre somit zwangsläufig von dieser Entwicklung betroffen gewesen, was bedeutet, dass sie zu großen Teilen aus Personen bestanden, die eine juristische Ausbildung durchlaufen hatten. Reinhard Heydrich wurde von Isselhorst in seinen Memoiren, aber auch in zeitgenössischen Quellen, tief bewundert. Fast schon schwärmerisch schrieb Isselhorst in seinen Memoiren über die musische Klasse des Chefs der Sicherheitspolizei: »Er schwelgte in Zukunftsplänen über die Ausbildung und geistige Vervollkommnung des ihm anvertrauten Menschenmaterials, er schwärmte von einer schöneren und besseren Zeit.«84 Auch an dieser Stelle sind die Parallelen zwischen der Beschreibung der »deutschen Jugend« und der von Heydrich offenkundig: Mit seinen gestaltenden Zukunftsvisionen steht er stellvertretend für die deutsche Jugendgeneration, deren Ziel es ja auch war, eine bessere Welt zu erschaffen. Als ein »Träumer« wurde Heydrich jedoch von Isselhorst im weiteren Verlauf seiner Aufzeichnungen nicht beschrieben, eher als ein Mann der Tat. Neben Hitler war Heydrich in Isselhorsts Darstellungen die einzige NS-Spitze, bei der er sowohl in den zeitlich nahen Quellen als auch in den Aussagen, die er in seinen Memoiren tätigte, uneingeschränkte Sympathie und Bewunderung zeigte. In diesen beschrieb Isselhorst die Vorstellungen Heydrichs über den perfekten Staatsbeamten, der nicht als eine Art Spezialist eines bestimmten Ressorts zu gelten hatte, sondern umfangreiche Kenntnisse in der Polizeiarbeit, in der Verwaltung und in der Justiz haben sollte. Auch hieran wird das »Elite«-Empfinden von Isselhorst als Teil der Gestapo deutlich. Das Vorgehen von Heydrich in der »Menschenführung«, wie es Isselhorst nannte, bestand aus einem engen Verhältnis zu den einzelnen Mitarbeitern, die in periodisch stattfindenden Tagungen mit seiner persönlichen Teilnahme geschürt wurde. Auch bei Erkrankungen oder familiären Problemen 84 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 25).

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half Heydrich mit Genesungswünschen oder finanziellen Unterstützungen aus, was nicht zuletzt zu genauen Kenntnissen der privaten Verhältnisse der einzelnen Stapo-Beamten führte. Andererseits konnte Heydrich bei Fehlern oder Enttäuschungen auch rigoros vorgehen und seine Untergebenen ohne Skrupel fallen lassen.85 Wesentliche Ereignisse, wie beispielsweise der Anschluss Österreichs 1938, wurde den Stapo-Führern, laut Isselhorst, im Vorhinein erst gar nicht mitgeteilt. Wie Isselhorst beschreibt, galt dies einer »diplomatischen Schule« Heydrichs, die da­rauf abzielte, bei den Polizisten, trotz relativer Unkenntnis, den Schein des Geheimnisvollen zu wahren.86 Isselhorst beschrieb Heydrich weiter: »Heydrich war einer der fähigsten und intelligentesten Männer des 3. Reiches! Er war mit einem feinen politischen Fingerspitzengefühl ausgezeichnet; trotz seiner Jugend war er ein reifer Mann. Besonnenes Abwägen stand blitzschnelles Erfassen und Handeln gegenüber. Er konnte in der Durchführung der staats- und parteipolitischen Notwendigkeiten steinhart und unerbittlich sein, und konnte doch, in der rein menschlichen Sphäre, weich und gefühlsbetont seinen Kameraden gegenüber auftreten. […] Mit der Zeit wurde er bei Hitler immer mehr persona grata. Ich glaube in meiner Ansicht nicht fehlzugehen, wenn ich sage, dass Heydrich in den letzten zwei Jahren vor seinem gewaltsamen Tode beim Führer mehr galt als Himmler.«87

Die Erschütterung über die Ermordung Heydrichs blieb auch noch bis nach dem Krieg vorhanden. Beinahe fatalistisch beschrieb Isselhorst die Wichtigkeit und die Wirkung von Heydrich für Deutschland. Im Grunde geht Isselhorst sogar so weit, dass er in der Ermordung Heydrichs auch den maßgeblichen Grund für die deutsche Niederlage des Krieges erkannte: »Er wäre berufen gewesen, eine führende Rolle im Leben der deutschen Nation zu spielen. Wer weiss, ob die Entwicklung der Dinge nicht anders gelaufen wäre? Ich habe es ihm jedenfalls zugetraut. Er hätte niemals hinter dem Rücken Hitlers ein Verratsspiel getrieben wie so manche ehemalige Grösse des 3. Reiches; ich bin sicher, er hätte die Verräter rechtzeitig erkannt. Aber er war auch der Mann – vielleicht damals der Einzige! – der es gewagt und vermocht hätte, Hitler in günstigem Sinne zu beeinflussen.«88

Es existieren keine zeitnahen Quellen aus dem Jahr 1935, die Isselhorsts Bewunderung der Person Reinhard Heydrich belegen. In seiner Anfangszeit bei der Gestapo lernte Isselhorst neben den anderen neuen StapoOffizieren eine weitere »Größe« des Dritten Reiches kennen: Als Chef 85 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 22). 86 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 23). 87 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 21). 88 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 31).

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der Polizei und der SS nahm sich Heinrich Himmler die Zeit, die auserkorenen Neulinge persönlich in der Prinz-Albrecht-Straße zu inspizieren. Eine zutiefst beeindruckende Situation für Isselhorst, an die er sich 1947 erinnerte: »Er, der mächtige Paladin des Führers, der für die Sicherheit des vergötterten Reichslenkers verantwortlich war, er, der sich ständig in der unmittelbaren Umgebung Hitlers befand, er, der den Orden der Schutzstaffel aufgebaut und ihm seine hohen Gesetze gegeben hatte, er war uns allen doch der Inbegriff der Treue, der Garant der inneren Ordnung des Reiches, der Verfechter der reinen Rassenlehre, der Chef der Schutzgarde des Systems! […] Seine Worte waren wohl gesetzt, abgewogen, wirkungsvoll gesprochen. Nichts Furchtbares, nichts Furchterregendes! Eher wirkte er wohlwollend, fast väterlich! Etwas störend war sein äusserliches Bild, das eigentlich garnichts Reckenhaftes, Überragendes an sich trug: die Brille stempelte ihn mehr zum Stubenhocker, zum Philosophen. Doch nicht der äussere Eindruck war das entscheidende; die Achtung vor seiner Aufgabe, vor seiner Leistung, seinem Rang, seiner Macht waren die bestimmenden Faktoren in unserer Beurteilung seiner Persönlichkeit, wie hätte es anders bei uns jungen Fanten sein können! Es ist wohl keinem von uns aufgefallen oder zum Bewusstsein gekommen, dass er, der Vorkämpfer für die Reinhaltung der Rasse seines Ordens, der die strenge Heiratsbestimmungen erlassen hatte, alles andere als der Prototyp seiner Lehre und ihrer Gesetze war!«89

Ein Phänomen, das jedoch nicht nur auf die Gestalt Heinrich Himmlers zutraf, bei ihm jedoch noch mehr auffiel, da er dies, laut Isselhorst, nicht wie andere durch eine besondere rhetorische Begabung ausgleichen konnte.90 Die hier getätigte Beschreibung von Himmler steht unter dem Einfluss zweier Aspekte, die für Isselhorst 1947 von Bedeutung waren. Zum einen wurde Himmler für seinen Suizid nach dem Krieg von Isselhorst scharf kritisiert, da er darin eine Flucht vor der Verantwortung sah, die Isselhorst nun durch die Gerichtsprozesse selbst erleiden musste. Des Weiteren war auch der disziplinarische Verweis gegen Isselhorst aus seiner Münchener Gestapo-Zeit noch nicht vergessen, genauso wie die anschließende ablehnende Haltung Himmlers gegenüber seiner Person in den kommenden Jahren bei den Einsatzgruppen. Dementsprechend suggeriert diese Beschreibung Himmlers bereits, dass er nicht dem entsprach, was seiner bedeutenden Aufgabe (insbesondere dem Schutz des »vergötterten Reichslenkers«) angemessen gewesen wäre. Die Aussagen Isselhorst lesen sich darüber hinaus als ein Vorwurf, dass Himmler diese »jungen Fanten«, die idealistischen Deutschen Patrioten der Jugendbewegung, die sich dazu entschlossen hatten, in 89 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 37f). 90 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 43).

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der Gestapo zu dienen, getäuscht hatte. In seinen Memoiren urteilte er daher abschließend über Himmler: »Für ihn, den Schuldigen, wurden Hunderte verurteilt, gehängt, erschossen, Tausende gemartert, geschlagen, in die Gefängnisse geworfen, Hunderttausende hinter Stacheldraht gesetzt, weil er nicht den Mut zum ›pater peccari‹ fand!«91 Dieses Urteil geschah freilich unter der Einschätzung von Isselhorst, dass Himmler – anders wie er selbst – sich der Verantwortung durch seinen Selbstmord entzog und somit seine Gestapo-Untergebenen der ungerechten Nachkriegsjustiz preisgab. In der Gesamtheit war jedoch Reinhard Heydrich die für Isselhorst bestimmende Figur. Dies lag nicht zuletzt daran, dass er Heinrich Himmler wesentlich seltener begegnete als seinem direkten Chef Reinhard Heyd­ rich. Bis zum Kriegsbeginn erinnerte sich Isselhorst nur an wenige Treffen mit Himmler, in denen er entweder Meldung erstattete zu einem anstehenden Besuch Adolf Hitlers in seinem Verantwortungsbereich, oder aber allgemeine Lageberichte vorzutragen hatte.92 Eine weitere Beobachtung, die Isselhorst während der NS-Zeit machte, war die ungewöhnliche Maßhaltung und Ungeselligkeit, die Himmler bei diversen Treffen mit den Stapo-Leitern einhielt: »Er war in seiner Lebenshaltung und Lebensführung sehr nüchtern und genussfremd. Wenn über jeden anderen in Bezug auf irgendeine menschliche Schwäche geredet werden konnte, an ihm gab es hier nichts auszusetzen. Er trank und rauchte kaum, seine Tafel war gut, aber nicht überladen, ja eher einfach und bescheiden zu nennen. […] Da er aber die Schwächen seiner Mitmenschen kannte, hielt er sich nie lange auf und zog sich meist schon nach wenigen Stunden aus der Geselligkeit zurück.«93

Die mehrmonatige Ausbildung Isselhorsts wurde im Sommer 1935 beendet. Die für die Führungsposition bei der Stapo erlangten Kenntnisse sollten alsbald auch in der Praxis umgesetzt werden. Erfurt: Im Spätsommer 1935 erhielt Isselhorst die Aufgabe, die provisorisch eingerichtete Stapo-Stelle in Erfurt grundlegend aufzubauen. Hierfür zog er von Berlin nach Erfurt, wodurch er zunächst räumlich von seiner Frau getrennt wurde, mit der er jedoch weiterhin postalischen Kontakt hielt. Am 15. Juli 1935 wurde Isselhorst zum Untersturmführer befördert.94 In seinen Memoiren wurde sowohl die Bezahlung als auch die häufige Trennung zu seiner Frau als unbefriedigend beschrieben. Allerdings entsprach diese Beschreibung Isselhorsts Selbstbild des NS-Idealisten, das er nach dem Krieg für sich beanspruchte und in dem er seine persönlichen 91 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 45). 92 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 40). 93 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 43). 94 RW 0725 Nr. 23 (Schreiben vom 15.07.1935).

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Wünsche hinter die Ideale des NS stellte.95 So liest sich die in den Memoiren vorgebrachte Kritik an der Bezahlung und der Belastung durch die Arbeit im Briefwechsel aus dem Sommer 1935 mit einem ganz anderen Duktus.96 Das magere Gehalt wurde von Isselhorst zwar angeprangert, jedoch keineswegs als unzumutbar empfunden. Im Juli schrieb er an seine Frau: »Und was unseren Lebensunterhalt angeht, so bin ich der festen Hoffnung, daß wir zwei beide mit einem Gehalt von mindestens 310,- RM sicherlich auskommen werden. Denkst du nicht auch? […] Und das Geld alleine darf auch nicht immer ausschlaggebend sein. Wir werden auch noch mal als Stapoleiter mehr verdienen. Jedenfalls reizt mich meine augenblickliche Tätigkeit mehr.«97

In der neu aufgebauten Zentrale in Erfurt baute Isselhorst einen Apparat auf, dessen Hauptaufgaben aus der Überwachung politischer Gegner und schutzpolizeilichen Maßnahmen bestanden, die die Stapo bei Besuchen beziehungsweise öffentlichen Veranstaltungen von NS-Politikern durchzuführen hatte. Seine erste diesbezügliche Aufgabe bestand in der Sicherung einer Festzelt-Veranstaltung im Spätsommer 1935, in der Rudolf Heß eine Rede auf einer Kundgebung in Heiligenstadt bei Eichsfeld hielt. Als Neuling erinnerte sich Isselhorst an den Besuch in seinen Memoiren: »Das Eichsfeld war eine kirchenpolitische und auch sonst sehr interessante Enklave der katholischen Kirche inmitten des überwiegend evangelischen Regierungsbezirks Erfurt; seine Bevölkerung war ein sehr einfacher, von irdischen Gütern wenig gesegneter, aber stur katholischer und daher sehr einseitig denkender Menschenschlag. Eine Gefahr für Leib und Leben des Redners war zwar nicht zu erwarten. […] Ich kann nicht leugnen, dass ich innerlich sehr erregt war. Es war wie eine Art Lampenfieber. Man steigert sich als Anfänger gerne in ein Verantwortungsbewusstsein hinein, in welchem man alle möglichen Schwierigkeiten und Gefahren auftauchen sieht, denen gegenüber man sich machtlos fühlt. […] Hess schickte mir kurz darauf sein Bild mit Widmung, das mir schon allein wegen der Aufregung, die diese ›Premiere‹ bei mir erzeugt hatte, eine wertvolle Erinnerung war.«98

Als Anhänger der evangelischen Kirche, der sich Isselhorst nach dem Krieg wieder angenähert hatte, differenzierte Isselhorst an dieser Stelle seine Einschätzung über die religiöse Einstellung der Einwohner Eichfelds, die sich als katholisch »einseitig denkender Menschenschlag« erheblich von pluralistischen Strömungen in der evangelischen Kirche 95 Vgl. RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 14f). 96 RW 0725 Nr. 28. Beschwerden über die Arbeitsbelastung und zu seiner Unzufriedenheit finden sich in den Briefen vom 20.06.; 25.06.; 05.07.; 07.08. und 14.09.1935 97 RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 31.07.35). 98 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 46f).

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unterschieden.99 In späteren Aufzeichnungen beurteilte Isselhorst die rhetorischen Fähigkeiten von Heß als »nicht besonders begabt«100, beschrieb die Person Rudolf Heß aber als einen mutigen Jagd- und Kunstflieger, der sich, noch immer gezeichnet von einer Verletzung im Ersten Weltkrieg, durch das von Hitler auferlegte Flugverbot hart getroffen sah.101 Auch weitere Persönlichkeiten, wie der Leiter des Reichsarbeitsdienstes, Konstantin Hierl (Jg. 1875) und der Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick (Jg. 1877) wurden von Isselhorst im Zuge dieser Schutzdienstaufgaben in Erfurt bewacht.102 Letzterer wurde von Isselhorst wohlwollend beschrieben: »Ich lernte ihn dabei als einen ruhigen, seelisch ausgeglichenen, klugen für alle Darbietungen von Kunst und Wissenschaft höchst interessierten Menschen kennen, der, ebenso wie seine Frau, bei Tisch und zwanglosen Unterhaltungen nur noch gewann. Ich zähle ihn zu den charakterfestesten Persönlichkeiten des 3. Reiches. […] Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der bei Kenntnis der Persönlichkeiten den Amtswechsel zwischen Frick und Himmler innerlich bedauert hat. Aber er hatte schon so viel Boden verloren, dass sein Bleiben an der schliesslichen Entwicklung nichts mehr geändert haben würde. Seine Ernennung zum Reichsprotektor Böhmen-Mähren war nur mehr ein Abschieben auf totes Geleise. Wir alle empfanden es so, er selbst wohl am meisten. Als ich ihn 1946 in Nürnberg sah, machte er auf mich trotz der Kürze des Augenblicks den Eindruck, als ob er einer von den wenigen war, der von seiner äusseren und inneren Haltung nichts aufgegeben hatte.«103

Die kulturelle Versiertheit in der Kunst und Wissenschaft ist für Isselhorst nach dem Krieg ein wichtiger Punkt, denn er projizierte seine Vorstellung der kulturverteidigenden Funktion der Bewegung eben auch auf die einzelnen Persönlichkeiten des NS. Somit war Frick für Isselhorst jemand, der exemplarisch auch weiterhin die »wahren« Ziele des NS verkörperte und auch nach dem Krieg in einem guten Licht gesehen wurde. Erfurt bildete lediglich eine kurze Zwischenstation in Isselhorsts Gestapo-Karriere. Hier lernte er neben der grundsätzlichen Schutzdienstaufgabe auch andere Exekutivmaßnahmen kennen. So nahm Isselhorst einen katholischen Priester im Juli 1935 wegen der öffentlichen Denunziation der NS-Bewegung in Schutzhaft: 99 Zur Geschichte der Kirchen im Dritten Reich und deren unterschiedlichen Strömungen und Einstellungen vgl. Strohm, Christoph: Die Kirchen im Dritten Reich, 2. Durchgesehene Auflage, München 2017. Darin besonders S. 40–80 und der Epilog, S. 111–119. 100 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 49). 101 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 50). 102 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 3f n. E.). 103 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 4f n. E.).

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»Ich habe einen kath. Geistlichen auf dem Eichsfeld in Schutzhaft nehmen müssen. Alle Zeitungen schreiben davon. Aber Berlin hat mich vollkommen gedeckt. Es wächst sich aber allmählich auch zu einem nicht mehr zu ertragenden Übel aus, wie diese Herren glauben, im Stillen u. in der Öffentlichkeit gegen alles, was uns heilig ist, hetzen zu dürfen.«104

Das strikte Vorgehen gegen einzelne Mitglieder und Institutionen der katholischen Kirche wurde trotz des Reichskonkordates von der Gestapo vehement betrieben und von Isselhorst anscheinend auch inhaltlich im Jahr 1935 gutgeheißen.105 In dieser Frühphase der Gestapo-Arbeit waren fortlaufend Lehrgänge und Tagungen zu absolvieren, die neben dem Aufbau der Stapo-Stelle in Erfurt anfielen.106 Isselhorst bewährte sich in dieser anstrengenden Phase als guter Organisator und bekam wenige Monate später seine Abkommandierung nach Köln mitgeteilt. Köln: Isselhorst hatte sich in Erfurt als zuverlässiger Mitarbeiter erwiesen und durfte nun einen weiteren Karriereschritt verbuchen. Er wurde Ende 1935 Gestapoleiter in Köln und damit verantwortlich für einen deutlich umfassenderen Aufgabenbereich. Wie auch in anderen deutschen Großstädten war die personelle Größe der Gestapo unvermutet klein. Ende 1939 waren nur etwa 100 Beamte im Innen- und Außendienst tätig. Hinzu kam noch eine ständig wechselnde Zahl von V-Leuten.107 Neben der »Schutzhaft« als zentrale Gewaltmaßnahme der Gestapo und der Überwachung der Stimmungslage der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zählte auch in Köln die Schutzdienstaufgabe zu den Kernelementen der Arbeit, die beim Besuch von hohen NS-Persönlichkeiten zu erledigen waren und die aufgrund des Ballungsraumes in Köln regelmäßig durchgeführt werden mussten. Am 1. Dezember 1935 war die Gestapo in das EL-DE-Haus eingezogen, das vom Uhren- und Goldwarenhändler Leopold Dahmen (dessen Initialen Namensgeber des Hauses sind) am Appelhofplatz ursprünglich als Wohnhaus konzipiert worden war. Nach einigen Umbaumaßnahmen wurde das Gebäude von der Gestapo bezogen.108 Zu den täglichen Aufgaben Isselhorsts zählte die Anfertigung von Tages- und monatlichen Lageberichten, in denen umfassend die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und deren Entwicklung und Stimmung zusammengefasst wurden. Diese von Isselhorst angefertigten Berichte zeigen, wie penibel die 104 RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 15.07.1935). 105 Vgl. Strohm, Christoph: Die Kirchen im Dritten Reich, 2. Durchgesehene Auflage, München 2017, S. 30–35. 106 Vgl. RW 0725 Nr. 28 (Briefe vom 20.06./25.06.1935). 107 Vgl. NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (Hrsg.): Köln im Nationalsozialismus. Ein Kurzführer durch das EL-DE Haus, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 2011, S. 117. 108 Vgl. Matzerath, Horst: Köln in der Zeit des Nationalsozialismus 1933– 1945, Köln 2009, S. 131.

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Gestapo bei der Bekämpfung von negativen Äußerungen gegenüber dem NS-System vorging. Beispielsweise wurde im Januar 1936 ein Strafverfahren gegen einen Handwerksmeister eingeleitet, dem zuvor verboten wurde, einen Jungen als Lehrling aufzunehmen, da diesem wiederum von seinen katholischen Eltern verboten wurde, in die HJ einzutreten. Daraufhin ließ sich der Handwerksmeister zu der Aussage hinreißen: »Die Juden hat man an die Wand gedrückt, sind nun auch die Katholiken dran?«109 Zudem gab Isselhorst im Januar-Bericht an, dass etwa 65 Personen wegen kommunistischer oder marxistischer Betätigung festgenommen wurden, weitere 14 Personen wurden wegen »kommunistischer Mundpropaganda« in Gewahrsam genommen.110 Als große Gefahr für die NS-Bewegung wurde die katholische Kirche ausgemacht, die in Predigten und Schriften gegen das »Neuheidentum« vorzugehen versuchte. Neben diversen Beispielen für diese Vergehen wurde von Isselhorst auch die kaum vorhandene Beflaggung der Kirchen zu nationalen Feiertagen der NS-Bewegung bemängelt.111 Einzig die Tatsache, dass der Großteil der katholischen Opposition aus älteren Menschen bestand, wurde von Isselhorst beruhigend hervorgehoben, obgleich er mahnend resümierte: »Es bleibt zu hoffen, und muss unter allen Umständen erreicht werden, dass es der katholischen Geistlichkeit nicht gelingt, auch die jüngeren und jungen Volksgenossen zu einer Einstellung gegen den Staat zu bringen.«112

Anscheinend war die deutsche Jugendgeneration auch 1936 in Isselhorsts Wahrnehmung ein zentraler und wichtiger Bestandteil der NS-Bewegung, die es besonders zu schützen galt vor den Einflüssen der katholischen Kirche. Zudem muss an dieser Stelle betont werden, dass Isselhorst in diesem Lagebericht einen klaren Gegensatz zwischen NS-Bewegung einerseits und der Kirche andererseits benennt. Diese Gegensätzlichkeit wird – wie der dritte Abschnitt zeigen wird – nach dem Krieg deutlich anders artikuliert werden. Im Februar-Bericht 1936 wurde erneut die Gefahr des katholischen Einflusses auf die Bevölkerung hervorgehoben und zugleich die Festnahme von weiteren 60 Personen vermeldet, die sich »wegen Hochverrats und kommunistischer sowie marxistischer Umtriebe« zu verantworten hatten.113 Zudem beschrieb Isselhorst darin 109 Lagebericht der Gestapostelle Köln für Januar 1936 vom 06.02.1936; in: Lageberichte Rheinischer Gestapostellen, Bd. III Januar-März 1936, bearbeitet von Faust, Anselm/ Rusinek, Bernd-A./ Dietz, Bernhard, Düsseldorf 2016, S. 105–143, hier: S. 107f. 110 Vgl. Ebd. S. 112–114. 111 Vgl. Ebd. 112 Ebd. S. 126. 113 Lagebericht der Gestapostelle Köln für Februar 1936 vom 04.03.1936; in: Lageberichte Rheinischer Gestapostellen, Bd. III Januar–März 1936,

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den sich zuspitzenden Verdacht der Kollaboration einzelner Gestapo-Beamter mit kommunistischen Untergrund-Gruppierungen. Hierfür wurde eine Reihe von Abwehrmaßnahmen eingeleitet.114 Tatsächlich darf die energische Verfolgung von NS-Aktivisten, auch innerhalb der Gestapo, nicht als Randerscheinung gesehen werden. Sowohl bei Gewaltdelikten als auch bei Korruption und Veruntreuung wurden die Beamten genau untersucht. Ein wesentlicher Unterschied bestand jedoch in der tatsächlichen Aburteilung der eigenen Funktionäre. Wie Thomas Roth betont, wurde je nach Einzelfall das Verfahren an die Person angepasst, nach der Devise: »Schonung politisch ›verdienter‹ Täter einerseits, Abstrafung eigennützig handelnder ›Parteigenossen‹ andererseits.«115 Die von Isselhorst beschriebene angespannte Stimmung in Köln änderte sich erst mit dem Einmarsch der Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland am 7. März 1936. Dieser von Hitler bei seinem Köln-Besuch am 28. März 1936 triumphal propagierten Aktion, vermochte den in der Kölner Bevölkerung partiell vorhandenen Widerstand gegen die NS-Bewegung abzumildern.116 Die Zentrale der Gestapo in Köln umgab bereits in den 30er Jahren eine »Aura des Schreckens, so dass Passanten häufig die Straßenseite wechselten.«117 Diese durch Isselhorst installierte Ausstrahlung schien genau im Sinne der von Reinhard Heydrich erdachten Wirkung der Gestapo zu sein. In seinen Memoiren beschreibt Isselhorst die große Zufriedenheit der NS-Führung mit seiner Kölner Arbeit: »Ich kann nicht leugnen, dass es mich mit stolzer Befriedigung erfüllte, als mir Heydrich nach einer überraschenden Inspektion meiner Kölner Dienststelle, die er in meiner Abwesenheit durchgeführt hatte, dann abends bei einem privaten Beisammensein sein Lob darüber aussprach, dass die Stapo Köln auch ohne die Anwesenheit ihres Chefs jeder Kritik standgehalten habe!«118

Im Zuge der Schutzdienstaufgabe konnte Isselhorst detaillierte Beschreibungen über einzelne NS-Persönlichkeiten anfertigen, die er in seinen Memoiren ausführte. Der Leiter der deutschen Arbeitsfront, Robert Ley bearbeitet von Faust, Anselm/ Rusinek, Bernd-A./ Dietz, Bernhard, Düsseldorf 2016, S. 272–304, hier: S. 278. 114 Vgl. Ebd. S. 276f. 115 Vgl. Roth, Thomas: »Verbrechensbekämpfung« und soziale Ausgrenzung im nationalsozialistischen Köln. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten zwischen Machtübernahme und Kriegsende, Köln 2010, S. 184f. 116 Vgl. Klein, Adolf: Köln im Dritten Reich, Köln 1983, S. 217. 117 Vgl. Matzerath, Horst: Köln in der Zeit des Nationalsozialismus 1933– 1945, Köln 2009, S. 135. 118 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 24).

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(Jg. 1890), wurde bei einem Besuch der Suhler Waffenwerke zu jener Zeit von Isselhorst betreut und in seinen Memoiren beschrieben: »Man hat ihm im Laufe der späteren Jahre vieles mit Recht zum Vorwurf machen können; eines konnte ihm damals nicht abgesprochen werden: sein Idealismus! Obwohl auch dieser in manch angreifbaren Formen seinen Niederschlag gefunden hat; Ja, dieser Idealismus war oft so übertrieben phantastisch, so weltfremd, dass seine Verwirklichung an den Realitäten des menschlichen Gemeinschaftslebens scheitern musste. […] Wo er, ob bei offiziellen oder inoffiziellen Anlässen, erschien, gleichgültig, ob er Hauptperson war oder nur ›dabei‹ war, immer schien er nicht nur angeheitert oder gar betrunken, sondern er war es meistens auch! Später, als er auf Grund eines energischen Hinweises Hitlers sich wieder eines ›normalen‹ Lebenswandels zu befleissigen bemühte, war sein Ruf bereits derart demoliert, dass ihm niemand mehr seine Nüchternheit glauben wollte; man sah ihn selbst dann betrunken, wenn er es wirklich nicht war! […] Ich selbst habe mich nicht sehen lassen [bei Veranstaltungen, wo er auftrat; Anm. d. Verf.], weil mir offen gestanden sein Anblick zuwider geworden war.«119

Der Idealismus, der von Isselhorst auch für Robert Ley in Anspruch genommen wurde, deckte sich mit der Vorstellung eben des Idealismus, den die Deutsche Jugendbewegung ebenfalls vertrat und der durch das unwürdige Verhalten von Ley verraten wurde. Da Isselhorst sich selbst als einen Idealisten der Bewegung sah, fiel das Urteil gegenüber Ley dementsprechend hart aus. Auch noch höher gestellte Persönlichkeiten konnte Isselhorst im Zuge seiner Arbeit genauer kennenlernen. Bei einer Rede des Propagandaministers Joseph Goebbels, die im Jahr 1937 in den Deutzer Messehallen stattfand, konnte Isselhorst im Anschluss ein Tischgespräch beschreiben: »Ohne absoluter Wortführer zu sein, brillierte Goebbels doch auch hierbei sowohl durch geschliffene Formulierungen wie auch durch Bon-mots. Ich selbst konnte zum Teil dadurch zur Unterhaltung beitragen, dass ich auf seine Aufforderung hin einige der damals im Umlauf befindlichen politischen Witze und Anekdoten über ihn und andere führende Persönlichkeiten zum Besten geben musste. Sie wurden, obwohl es ihnen nicht an satirischer Schärfe mangelte, ohne Verdruss hingenommen und mit Lachen quittiert. […] Goebbels, der als gebürtiger Rheinländer genügend persönlichen Humor hatte, bewies auch hierbei seinen Geist und seine Schlagfertigkeit […]. Zwischendurch wurde meditiert und diskutiert wie in einem politisch-wissenschaftlichen Colloquium zwischen Dozent und Höhrerschaft. Ich wagte mich hierbei auf das Gebiet des kulturhistorischen und kirchenpolitischen Lebens, das in der katholischen Metropole Köln natürlich für uns alle, die dort politisch-beruflich tätig waren, eine besondere Bedeutung hatte.«120 119 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 5–7 n. E.). 120 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 9f n. E.).

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Nicht nur an dieser Stelle war es wichtig deutlich zu machen, dass er sich auch mit den führenden NS-Personal mitunter auf einer Augenhöhe bewegt. Diese Positionierung in seinen Memoiren geschieht, da er auf dieser Grundlage eine Bewertung vollziehen konnte, die seiner nachkrieglichen Deutungshoheit entsprach. Nicht ohne selbstdarstellerische Akzentuierung betonte Isselhorst eine Pointe seinerseits zur Bewertung der Strauß-Oper »Der Rosenkavalier«, die er bei einem weiteren Treffen mit Goebbels bei der Eröffnung der Kölner Kunstwoche 1939 machte: »Als Goebbels mich nach meinem persönlichen Urteil über den künstlerischen Wert der Aufführung des ›Rosenkavalier‹ fragte, erntete ich schallende Heiterkeit, als ich ihm im Kreise der Künstler bedeutete, dass ich glücklich gewesen sei, durch meine dienstliche Aufgabe zu seinem Schutze an dem vollkommenen Genuss dieser – von mir nicht sehr geschätzten – Strauss’schen Oper verhindert gewesen zu sein. Er gab Grohe und dem Generalintendanten Spring den Rat, bei der Aufstellung des Repertoires der Kölner Bühnen mein Urteil einzuholen! Ich nahm aus dieser wie auch aus der früheren Unterhaltung den Eindruck mit, dass Goebbels einer objektiven Kritik durchaus zugänglich war, wenn sie nicht gerade ungeschickt vorgebracht wurde. […] Ich habe nie verstehen können und glauben wollen, wenn – zumal in Friedenzeiten – behauptet wurde, dass diese oder jene sachliche Kritik nicht an führende Persönlichkeiten herangebracht werden dürfe, weil sie mit deren Auffassung über die fragliche Materie nicht übereinstimme. Im Laufe meiner Tätigkeit bin ich in vielen Fällen vom Gegenteil überzeugt worden. Hier hat sich nach meiner Erfahrung in unheilvoller Weise eine Vorzimmer- und Adjutanturansicht breit gemacht, die in unverantwortlicher Absicht oder aus Dummheit und Engstirnigkeit das Vordringen der ursprünglich durchaus erwünschten Kritik bis in das von jenem Menschen verteidigte Allerheiligste des betreffenden hohen Herren zu verhindern verstand.«121

Der Stapo-Aufgabenbereich wurde von Isselhorst generell als eine nervenaufreibende Arbeit beschrieben, doch gab es laut Isselhorst kaum eine größere Herausforderung als die Schutzdienstaufgabe bei Besuchen des Oberbefehlshabers der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring. Anhand zweier Anekdoten, wie beispielsweise dem spontanen Einkaufsbummel durch die Kölner Innenstadt bei einem Inspektionsbesuch 1936, beschrieb Isselhorst in seinen Memoiren das oftmals sprunghafte Verhalten Görings bei dessen Besuchen: »Schutzdienstaufgaben im Interesse Görings konnten jeden darin Betroffenen schier zur Verzweiflung bringen! Es gab bei ihm kein Programm, und wenn es wirklich aufgestellt war, so wurde es todsicher durch letztminütliche Anordnung wieder umgestossen. Improvisation 121 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 12 n. E.).

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war Trumpf. Wer nicht genügend Reaktionsfähigkeit, Organisationstalent und Auffassungsgabe hatte, und vor allem – wer nicht Ruhe, eiserne Ruhe, aufzuweisen hatte, war in seiner verantwortlichen Aufgabe für die Sicherheit dieses Mannes aufgeschmissen!«122

Der durch seine Prunksucht auch in der Bevölkerung bekannte Göring wurde von Isselhorst jedoch trotz dieser Sprunghaftigkeit geschätzt. »Denn niemand verkannte, dass unter dieser prunkvollen Maskerade eine Persönlichkeit steckte, die, energiegeladen und mit einem unbeugsamen Willen beseelt, den absoluten Machtanspruch des 3. Reiches in sich verkörperte.«123 Süffisant merkte Isselhorst diesbezüglich in seinen Memoiren an, dass es ein Leichtes gewesen wäre, Göring durch ein Attentat in ebensolchen Situationen auszuschalten: »Welch ein glücklicher ›Zufall‹, dass bei dieser wahrhaft günstigen Gelegenheit keiner der zahlreichen, immer einsatzbereiten, heldenhaften Kämpfer der inneren Widerstandsbewegung anwesend war, sonst wäre es sicher schon damals um das Leben Görings geschehen gewesen!«124

Isselhorst erlebte Göring noch ein anderes Mal zu jener Zeit und zwar beim Besuch Mussolinis in Berlin im Herbst 1937, an dem er ebenfalls teilnahm. Am 28. September sprachen Hitler, Goebbels und Mussolini vor rund 700.000 Besuchern auf dem dortigen Maifeld: »Wie sehr stand doch dieser Göring im Widerspruch zu jenem, der Ende 1937 auf dem Maifeld des Berliner Olympia-Stadions, vor dem Erscheinen Mussolinis und Hitlers, die begeisterten Heil-Rufe und Sprech-Chöre der rund 1 Million Kundgebungsteilnehmer herausforderte! Unter allen anwesenden Führerpersönlichkeiten schien er der Beliebteste. Immer wieder gerufen, trat er mit strahlendem Gesicht an die Brüstung der Tribüne, ein frenetisch gefeierter Staatsmann, der die Kunst beherrschte, die Massen in seinen Bann zu ziehen und für sich einzunehmen. ›Hermann, Hermann‹ erschallte es immer aufs Neue. Dann versuchten die Sprech-Chöre auch den anwesenden Goebbels zur ›Schaustellung‹ zu bewegen. Als dieser nicht reagierte, rief es plötzlich aus der Menge im Berliner Jargon: ›Hermann, wo bleibt Josef?‹ und die Hunderttausenden wiederholen diesen Ruf solange, bis Hermann Göring seinen Ministerkollegen Josef Goebbels an die Hand nahm und mit ihm zusammen an die Brüstung der Tribüne trat!«125

Mussolini, der seinen Staatsbesuch in den kommenden Tagen auf ganz Deutschland ausweitete, besuchte gemeinsam mit Hitler wenige Tage 122 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 17 n. E.). 123 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 16 n. E.). 124 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 20f n. E.). 125 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 26f n. E.). Vgl. zu der Rede auf dem Maifeld auch: Reuth, Ralf Georg (Hrsg.): Joseph Goebbels Tagebücher, Bd. 3, erw. Sonderausgabe, München 1999 (zuerst 1992), S. 1131ff.

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später auch die Krupp-Werke in Essen. Bei diesem Anlass, der für die Sipo hochbrisant war, da Essen als Ort der »Internationalen« galt, war auch Isselhorst als Gestapoleiter von Köln mit der Sicherung eines etwa 300 Meter langen Abschnittes an der Torzufahrt betraut: »Bei dem Essener Staatsakt waren die Aufgaben, die einige Jahre später bei gleichen Anlässen […] allein in meiner Hand lagen, abschnittsweise aufgeteilt. Ich habe nie wieder eine solche Zusammenstellung von Sicherheitskräften erlebt. Immerhin darf nicht vergessen werden, dass Essen bis 1933 eine Hochburg der Internationale gewesen war, also ein Pflaster, dem schon besondere Beachtung geschenkt werden durfte. Aber es sollte sich auch hier erweisen, dass der deutsche Arbeiter Hitlers treuester Gefolgsmann war! […] Das begeisterte Toben der Massen unterschied sich in nichts von dem damals in Deutschland bei solchen Anlässen üblichen! Und durch eine mindere Lautstärke oder schwächere Fahnensymbolik mindestens doch hätte das ›Klassenbewusste Proletariat‹, der im Herzen ›rot und nazifeindliche‹ Arbeiter und Kumpel des Ruhrgebietes, seiner ablehnenden Einstellung gegenüber dem Regime fühlbaren Ausdruck verleihen können, wenn – ja wenn nicht eben auch er damals durchaus nationalsozialistisch gedacht hätte!«126

Eine integrierende Kraft wurde Hitler hier von Isselhorst zugesprochen, der es eben auch vermag, über unterschiedliche Gesinnungsmuster hinweg eine einheitliche und homogene nationale Denkweise zu schaffen. Diese kultische Verehrung von Hitler und dessen besondere Begabung wurde in zahlreichen Stellen seiner Memoiren hervorgehoben und spielt auf die Einzigartigkeit der Person Adolf Hitlers ab, dem von Isselhorst im Grunde übernatürliche Kräfte zugesprochen wurden. Wie in anderen Städten auch bildete seit 1936 die Gestapo in Köln gemeinsam mit der Kripo die Sicherheitspolizei und war in dieser Funktion nicht nur für die Aufklärung von Straftaten, sondern auch für die »Säuberung« der »Volksgemeinschaft« zuständig. Im Alltag bedeutete dies ein hartes Vorgehen gegen Angehörige sozialer Randgruppen (Prostituierte, Wohlfahrtsempfänger, Obdachlose, Homosexuelle, Juden, Sinti und Roma). Die Gestapo nutzte hierzu oftmals die Möglichkeit zur Einweisung der betreffenden Personen in ein KZ aus, wofür sie keinen richterlichen Beschluss benötigte.127 Die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerungsteile erlangte mit den Novemberpogromen 1938 eine neue Dimension. Vorausgegangen war den Pogromen die sogenannte »Polenaktion«, die am 30. Oktober 1938 durchgeführt wurde, und in deren Verlauf etwa 600 polnisch-stämmige Juden, die größtenteils seit Jahrzehnten in Deutschland 126 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 47f n. E.). 127 Vgl. NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (Hrsg.): Köln im Nationalsozialismus. Ein Kurzführer durch das EL-DE Haus, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Köln 2011, S. 109.

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lebten, nach Neubentschen deportiert wurden. Da auch seine gesamte Familie zu dieser abgeschobenen Gruppe gehörte, erschoss am 7. November der in Paris lebende Herschel Grynszpan den Legationssekretär der deutschen Botschaft Ernst Eduard von Rath. Diese Ermordung wurde zum Anlass genommen, am 9. November Pogrome gegen die jüdischen Bevölkerungsteile zu initiieren. Der Gestapo Köln wurde noch in der Nacht mitgeteilt, dass die »antijüdischen Aktionen« nicht gestört werden dürften, jedoch sollten Plünderungen unterbunden werden, da die Gestapo ihrerseits den Auftrag hatte, »besonders wichtiges Material in der Synagoge sicherzustellen.«128 Im gesamten Stadtgebiet kam es daraufhin zu Plünderung, Misshandlungen und Demütigungen jüdischer Opfer. Mehrere Hundert jüdische Männer wurden im Konzentrationslager Dachau interniert. »Die Synagogen in der Roonstraße, der Glockengasse und der Körnerstraße brannten nieder, die Synagoge in der St.-Apern Straße wurde verwüstet. Ebenso wurden die Synagogen in Mülheim und Deutz zerstört.«129 Der Friseur Moritz Spiro wurde in der Nacht mit schweren Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert und verstarb an diesen Verletzungen am 18. November.130 In der Straße Marsilstein und in anderen, von vielen Juden bewohnten Straßen, wurden Wohnungen gestürmt und das gesamte Inventar aus dem Fenster geworfen. In der Fridolinstraße sprang eine Frau aus Panik beim Erstürmen des Hauses aus dem zweiten Stock.131 Den Pogromen folgten massenhafte Festnahmen, die von der Gestapo durchgeführt wurden. »Jüdische Männer ›mögl. unter 40 Jahren, gesund, kräftig und wohlhabend‹ wurden auf Anordnung der Gestapo gefangen genommen, teilweise zunächst in die Gefängnisanstalt Klingelpütz, dann in die Provinzanstalt Brauweiler gebracht und von dort über den Bahnhof Großkönigsdorf ins KZ Dachau eingeliefert.« Mindestens zwei der Deportierten starben in Dachau.132 Die Auswirkungen des Vorgehens und der Maßnahmen gegen die jüdischen Bevölkerungsteile in Köln während der NS-Zeit lassen sich deutlich an den Bevölkerungszahlen belegen: 1933 waren von 757.240 Einwohnern 14.819 Juden (ca. 2%) 1939 waren von 768.352 Einwohnern 8000 Juden (ca. 1%) 1945 waren von 489.812 Einwohnern 437 Juden (ca. 0,1%)133 128 Vgl. Matzerath, Horst: Köln in der Zeit des Nationalsozialismus 1933– 1945, Köln 2009, S. 404. 129 Ebd. S.189. 130 Vgl. Ebd. S. 404. 131 Vgl. Klein, Adolf: Köln im Dritten Reich, Köln 1983, S. 241–243. 132 Ebd. S. 406. 133 Vgl. Matzerath, Horst: Köln in der Zeit des Nationalsozialismus 1933– 1945, Köln 2009, S. 371.

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Ein spezieller Moment seiner Kölner Dienstzeit war der Besuch des britischen Außenministers Neville Chamberlain, der aufgrund der »Sudetenkrise« vom 22.–24. September 1938 in Bad Godesberg weilte. Die Verhandlungen waren aufgrund der intensiven Forderung zur raschen Annexion des Sudetenlandes ein schwieriges diplomatisches Feld und auch Isselhorst, der für die Sicherung des Rheinhotels Dreesen (Unterkunft Hitler) und des Hotel Petersberg (Unterkunft Chamberlain) zuständig war, beschrieb die Stunden als: »Grosskampftag erster Ordnung! Die Blicke der Welt konzentrierten sich auf das kleine Rheinstädtchen.«134 Isselhorst, der zwar selbst nicht an den Verhandlungen teilnahm, jedoch mitunter als Assistent von Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann fungierte und ihm die Vorhänge an den Fenstern aufhielt während dieser fotografierte, beschrieb dieses Treffen und die impulsive Haltung Hitlers im Gegensatz zum besonnenen Auftreten Chamberlains: »Ich kann um der Wahrheit willen nicht bestreiten, dass Hitler, rein äusserlich, diesem ›Gentleman‹ gegenüber nicht so vorteilhaft in Erscheinung tritt. Stört doch, besonders wenn er, wie in diesem Augenblick, lebhaft wird und in Erregung gerät, mehr noch als gewöhnlich die widerspenstige Haarsträhne, die er immer wieder mit einer unwilligen Handbewegung aus der Stirne streicht. Es scheint, dass er Chamberlain stark zu bedrängen versucht.«135

Dieses Foto, das entweder in Köln oder bereits in Klagenfurt von Isselhorst aufgenommen wurde, verdeutlicht einerseits die dienstliche Nähe zum Führer, die Isselhorst nutzte, um eine derartige Nahaufnahme zu machen. Zum anderen wollte Isselhorst diese Nähe auch dokumentiert wissen. Seine persönliche Aufgabe – nämlich der Schutzdienst für Hitler – erhielt durch diese dokumentierte Nähe eine größere Bedeutung. Etzenmüller deutet die Darstellung von Hitler in Fotoaufnahmen als ReInszenierungen: »man zeigt nicht ihn, sondern reproduziert und perpetuiert den Blick des »Dritten Reiches«.136 Klagenfurt: Noch während er die Gestapo in Köln leitete, wurde Isselhorst im Frühjahr 1938 für einige Wochen nach Österreich, in die Stadt Klagenfurt am Wörthersee, abkommandiert. Kurze Zeit nach dem Anschluss Österreichs, der von Reinhard Heydrich in einem Gespräch mit Isselhorst als eine der größten Leistungen Hitlers bezeichnet wurde137, war Isselhorst, der bereits in Erfurt zu Beginn seiner Karriere bewiesen 134 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 44 n. E.). 135 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 45 n. E.). 136 Etzemüller: Biografien, S. 98. 137 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 24). »Wenn Hitler nicht mehr erreichen wird als dieses, ich werde es ihm nie vergessen. Es ist eines der wenigen Ereignisse im geschichtlichen Leben der deutschen Nation, aus dem mehr als Wille und Genie eines einmalig Grossen, aus dem ein

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Abb. 4 Adolf Hitler auf Wagen, undatiert, ca. 1938, LAV NRW R_RWB 28286, Nr. 24.

hatte, dass er in der Lage war, eine neue Dienststelle der Staatspolizei einzurichten, als Fachmann von Nöten. Während seiner Klagenfurter Zeit war er Zeuge eines Besuches von Adolf Hitler. In seinen Beschreibungen wird der Anschluss von Österreich an das Deutsche Reich als historische und generationenübergreifenden Aufgabe beschrieben, die durch den NS und Adolf Hitler bewältigt wurde.138 Das Bild, welches Isselhorst von der begeisterten und euphorisierten Bevölkerung in den Wochen nach dem Anschluss Österreichs zeichnet, ist hierbei kein Einzelfall. Auch für die obersten Offiziere der Wehrmacht war dieser Einmarsch ein zutiefst beeindruckendes Erlebnis.139 Ein Besuch des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, der neben Hitler, laut Isselhorst im April 1938, Kärnten besuchte, beschrieb Isselhorst in seinen Memoiren ebenfalls in triumphaler Weise: »Nur mit Mühe und Not kamen wir nach Klagenfurt zurück, wo Hess am Abend auf dem Marktplatz unter freiem Himmel bei Fackelbeleuchtung vor einer ergriffen lauschenden Menschenmenge ein Bekenntnis zu gewaltiges und darum auch so ergreifendes Votum des deutschen Volkstums spricht. Ich freue mich, dass auch Sie dies gefühlt und miterlebt haben.« 138 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 41f). 139 Vgl Hürter, Johannes: Hitlers Herrführer. Die Deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/1942, 2. Auflage, München 2007, S. 149f.

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Hitler und dem grossdeutschen Gedanken ablegte, in das die Tausende mit Jubel und Freudentränen begeistert einstimmten. Es war keine zündende Propaganda-Wahlrede. Aber trotzdem konnte, wie mir viele Kärntener später immer wieder versicherten, nichts wirkungsvoller sein als dieses Auftreten von Hess, der mit seiner ruhigen, freundlichen Art, das frei von jeder pompösen Schaustellung war, sich die Herzen der Österreicher im Fluge gewann.«140

Auch Hermann Göring, der für seine sprunghaften Eskapaden bei Besuchen bekannt war, besuchte Kärnten zu ebenjener Zeit. Auch dieser Besuch blieb Isselhorst bis nach dem Krieg in Erinnerung, als Göring in voller Jägermontur am Bahnsteig in Klagenfurt ankam und kurzerhand den gesamten Tagesplan umschmiss: »Es wollte mir gar nicht passen, dass Göring die Hollenburg-Fahrt abgelehnt hatte. Wusste ich doch, dass sich dort Tausende von Menschen versammelt hatten, die aus den entlegensten Karawanken-Tälern und Berghöfen, oft mit stundenlangem Anmarschweg; ja sogar seit der Nacht unterwegs, herbeigeströmt waren. […] Und schliesslich hatten diese Menschen es für ihren Idealismus verdient, dass sie nicht enttäuscht wurden. Kurz entschlossen klemme ich mich nochmals hinter Bodenschatz, der mich mit zu Göring nimmt, und entfalte nun meine ganze Beredsamkeit, von dem Kreis der anwesenden Kärntener gebührend unterstützt. Es passt ›Hermann‹ absolut nicht ins Programm, er fragt nach Fahrtdauer und Weg, aber schliesslich erklärt er sich missmutig bereit. Wenn es nun eine Pleite gibt, dann wird sich sicherlich sein ganzer Zorn auf mich, den einzigen damals in Klagenfurt an verantwortlicher Stelle tätigen, ihm bekannten Reichsdeutschen, entladen! Aber es wird das schönste Erlebnis des ganzen Tages für ihn, wie er mir später am Abend eingesteht. […] Der Abschied noch in den späten Abendstunden war herzlich, als wir ihn an seinen Sonderzug begleiten. Einhellig aber war das Urteil aller Beteiligten: Ein angenehmer, mächtiger Herr, aber eine Strapaze!«141

Die Anekdote des Göring-Besuchs in Klagenfurt offenbart mehrere Aspekte des Selbstbildes von Isselhorsts zur Zeit der Niederschrift. Er stellt sich selbst als aufopferungsvoller Helfer der Einwohner dar, der auch Gefahren eingeht, um diese zu unterstützen. Dieser Aspekt war für Isselhorst umso wichtiger, da er nach dem Krieg für sich in Anspruch nahm, diese Schutz- und Hilfsfunktion auch für die elsässische Bevölkerung in seiner späteren Zeit als BdS in Straßburg ausgeführt zu haben. Da er sich 140 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 47ff). Die Fahrt von Klagenfurt nach Velden wird von Isselhorst beschrieben. So wird der Wagen oftmals von begeisterten Menschen angehalten und »ein Blumenregen ergoss sich über Hess, jeder wollte ihm die Hand drücken, jeder ihm ins Auge sehen!« (S.49). 141 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 24f n. E.).

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nach dem Krieg selbst als einen Idealisten des NS wahrnahm, wurde seine Wertschätzung des Idealismus der einheimischen Bevölkerung auf der Hollenburg ebenfalls aufgegriffen. Neben seinen Erfahrungen mit den »Größen des Dritten Reiches« konnte Isselhorst auch berufliche Karrieresprünge machen. So stieg er in der Beamtenlaufbahn im März 1938 zum Regierungsrat auf.142 Außerdem wurde er im Juli 1938 zum Hauptsturmführer der SS befördert.143 Der gescheiterte Anschlag von Georg Elser auf Adolf Hitler im Hofbräuhaus am 8. November 1939 hatte für Isselhorst weitreichende Konsequenzen. München: Isselhorst war nach seiner Arbeit in Erfurt, Köln und Klagenfurt ein erfahrener Mitarbeiter in der Gestapo. Nach dem gescheiterten Elser-Attentat wurde er umgehend zur Aufklärung der Hintergründe und zur Wahrung der Dienststellenaufgaben zur Gestapo nach München versetzt. Seit dem Herbst 1933 wurde das Wittelsbacher Palais an der Brienner Straße von der politischen Polizei in Bayern genutzt, die später zur Stapo-Leitstelle München umbenannt wurde. In der dazugehörigen Parkanlage war 1934 ein neuer Zellentrakt installiert worden, der von der Gestapo genutzt wurde.144 Neben der Aufklärungsarbeit war die Schutzdienstaufgabe, wie auch in Köln, eine wesentliche Aufgabe der Gestapo. Da Hitler sich regelmäßig in München aufhielt, musste die Gestapo rund 30 Gebäude durchgehend sichern, in denen Hitler verkehren konnte. Dies sollte absolut diskret geschehen, da Hitler die Anwesenheit der Stapo zwar duldete, jedoch als störend empfand und davon keine Kenntnis nehmen wollte.145 Isselhorst leitete die Dienststelle bis zu seiner Abkommandierung zu den Einsatzgruppen Ende 1941. Ursprünglich wurde Isselhorst, der nach seiner Amtszeit in Köln als Experte der Staatspolizei galt, nach München abkommandiert, da das gescheiterte Elser-Attentat in München die Sicherheit der NS-Führungsebene in Frage stellte und insbesondere München als »Führerstadt« eine offenbar zu große Aufgabe für den damaligen Stapo-Leiter Karl Friedrich Bruner war. Isselhorst beschrieb in seinen Memoiren diesen Aspekt seiner Münchener Zeit ausführlich:

142 RW 0725 Nr. 3. (Schreiben vom 17.03.1938). 143 RW 0725 Nr. 23 (Beförderungsvorschlag des SD-Führers des SS-Oberabschnitts West vom 15. Juli 1938 – als Kopie – zum Hauptsturmführer). 144 Vgl. Heusler, Andreas: Prävention durch Terror. Die Gestapo und die Kontrolle der ausländischen Zwangsarbeiter am Beispiel Münchens; in: Paul, Gerhard u. Mallmann, Klaus-Michael (Hrsg.) Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. »Heimatfront« und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 222– 236, hier: S. 223f. 145 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 18f).

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»Der Leiter und Organisator der traditionellen Münchener Partei-Veranstaltung, Christian Weber, selbst ›Marschierer‹ vom 9. November 1923, hatte der Stapo, die ihm bei seinen ›wirtschaftlichen Manipulationen‹ zu sehr auf die Finger geguckt hatte und der er deshalb nicht ›grün‹ war, den Zutritt zu den Kundgebungslokalen bisher verwehrt. Am Eingang hörte ihr Machtbereich auf! Webers stereotype Erwiderung auf alle besorgten Hinweise der früheren Münchener Dienststellenleiter war: ›Der Führer ist am sichersten unter seiner alten Garde!‹ […] Und gerade Christian Weber war es, der nach der Methode: Haltet den Dieb! sein eigenes Versagen, ja seine Schuld, auf die Stapo abwälzen wollte! [Isselhorst beschreibt im Folgenden wie er bei der Kellerdurchsuchung einen möglichen, den seine Mitarbeiter nicht erkannt hatten; Anm. d. Verf.] Das also war des Rätsels Lösung! Aber es hätte auch anders sein können und es hätte nicht entdeckt zu werden brauchen, wenn ich mich lediglich auf meine Beamten verlassen hätte! Der Vorfall hatte aber das Gute zur Folge, dass in Zukunft solche Nachlässigkeiten nicht mehr vorkamen; die Münchener Schutzdienstbeamten hatten zudem, was nie schaden konnte, einen heillosen Respekt vor meiner ›Findigkeit‹ bekommen!«146

Das Bild, das Isselhorst von Christian Weber zeichnete, entsprach ganz seiner Vorstellung vom »Münchener Parteiführungs-Klüngel«, an den er sich im Jahre 1947 mit tiefer Verachtung erinnerte. Letztlich schrieb er diesem Intrigenspiel auch seinen disziplinarischen Verweis zu, den er ein Jahr später erhalten sollte. Gleichzeitig verdeutlicht diese Anekdote, dass sich Isselhorst tatsächlich als »Experte« der Gestapo sah – hier in Form seiner »Findigkeit« bei der Durchsuchung des Braukellers. Zudem klingt hier bereits ein Vorwurf an, den Isselhorst in seinen späteren Ausführungen seiner Memoiren wiederholt aufgreifen wird. Er sieht die Gestapo oftmals durch höhere NS-Funktionäre kompromittiert, das heißt, die Gestapo wird in seiner Erinnerung zu einer Art Sündenbock gemacht. Diesem Punkt wird insbesondere bei den später verübten Massenverbrechen auf sowjetischem Territorium eine wichtige Bedeutung zukommen. Bisweilen jedoch war Isselhorst zu Beginn seiner Münchener Amtszeit auf dem Höhepunkt seiner bisherigen Karriere angelangt, auch da er am 12. Dezember 1939 von Heinrich Himmler den Totenkopfring der SS überreicht bekam.147 Die Veranstaltungen, die Hitler regelmäßig nach München in das Hofbräuhaus oder den Löwenbräukeller führten, veranschaulichten in den Erinnerungen Isselhorsts die Authentizität Hitlers. Nur im Kreise seiner alten Kameraden, so Isselhorst, konnte Hitler unverblümt die Ideale und die Ziele des NS artikulieren: 146 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 48–51 n. E.). 147 Vgl. Longerich, Peter: Heinrich Himmler. Biographie, 3. Auflage, München 2010 (zuerst 2007), S. 298.

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Abb. 5 Verleihung Totenkopfring der SS vom 12. Dezember 1939, RW 0725, Nr. 26.

»Er brauchte dieses Milieu, diesen Kontakt mit den Zuhörern. Wenn dieser nicht, wie bei solchen Anlässen, von vorneherein vorhanden war, so schuf ihn regelmässig Goebbels, der dies meisterhaft verstand. […] Darin liegt meines Erachtens zu einem nicht geringen Prozentsatz der Erfolg und die ungeheure Wirkung der Reden Hitlers begründet, in dieser wechselseitigen Intuition, die von der Zuhörerschaft auf ihn und 105

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von ihm auf diese überströmte. […] Dort wurden die Worte nicht auf die Goldwaage gelegt; dort wurde gesprochen, wie einem ›das Maul gewachsen‹ war, wie das Herz und das Gefühl es vorschrieben! So, wie der ›alte Kämpfer‹ es erwartete und verlangte, der lange nicht das erfüllt sah, was die ›Bewegung‹ sich zum Ziele gesetzt hatte! Und diese ›alten Kämpfer‹ hörten nun aus Hitlers Munde ›offene Worte‹, die ihnen erklärlich machten, dass und warum er selbst unzufrieden war, aus welchen Gründen das ein oder andere Ziel noch nicht erreicht war oder seine Erfüllung zurückgestellt werden musste. Dass alle Ziele aber erreicht und alle Versprechungen einst erfüllt werden würden, das war die tiefe und gläubige Erkenntnis, die jeder dieser Männer und Frauen aus Hitlers Rede entnehmen konnte.«148

Die »tiefe und gläubige Erkenntnis« ist der Kern dieser Passage. Denn sie verdeutlicht erneut die eigentliche Positionierung Hitlers in Isselhorsts Memoiren als eine vom Schicksal gesendete Person, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die idealistischen Ziele eines Volkes und seiner Generationen zu verwirklichen. Eine weitere von Isselhorst ausführlich in seinen Memoiren geschilderte Schutzdienstaufgabe war die Sicherung der triumphalen Ankunft von Mussolini und Hitler in München nach dem Waffenstillstandsgesuch durch Frankreich im Sommer 1940. Isselhorst, der aufgrund seiner polizeilichen Erfahrung aus Köln vorsorglich den gesamten Bahnhof für den Personenverkehr schloss und ein Spalier aus BdM, Hitlerjugend und Ehren-Kompanie bis zum Bahnhofsvorplatz organisierte, holte den Sonderzug am Brenner ab und traf dann gemeinsam mit den Protagonisten in München ein:149 »Hitler begleitet Mussolini in das Prinz Karl-Palais. ein für die Zwecke hoher Staatsbesuche äusserst geschmackvoll eingerichtetes Gebäude am Rande des Englischen Gartens in unmittelbarer Nähe des ›Hauses der deutschen Kunst‹. […] Als Mussolini abgefahren ist, tritt Hitler mit seiner Begleitung, unter ihr nun auch alle die, die an der Besprechung selbst nicht teilgenommen haben, in die grosse Wandelhalle zurück. Am Treppenaufgang bleibt er stehen. Tiefe Befriedigung und stolze Freude sind nicht nur an seiner Miene zu erkennen, er drückt sie auch mit Worten aus, als er uns, die wir im Kreise um ihn herum stehen, einige kurze Aufklärungen zur militärischen und politischen Lage gibt. Wer unter uns hat damals nicht den sicheren Eindruck gehabt, dass der Krieg gewonnen sei? Wer hätte von uns zu zweifeln gewagt unter dem Einfluss dieser Persönlichkeit? Welchen Widerstand sollte es noch geben, nachdem die deutschen Armeen im Osten, Norden und Westen in kurzen, machtvollen Schlägen die Gegner geworfen und halb Europa fest unter unserer Kontrolle haben, nachdem England in Dünkirchen vernichtend geschlagen, 148 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 52f n. E.). 149 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 55f n. E.).

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vor einer Invasion bangt? […] Deutschland stand nie so entschlossen hinter Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung wie zur damaligen Stunde. Wir konnten die Siegerpose Hitlers nur zu gut verstehen.«150

Die beschriebene Nähe zu Hitler und sein persönliches Gespräch zu Heyd­rich wurden in den Memoiren herangezogen, um seine Stellung und Bedeutung für den NS-Apparat zu demonstrieren. Daran knüpfte Isselhorst noch eine kurze Passage, die Hitlers Einstellung zur ElsassFrage widerspiegelt: »Vor dem Einsteigen ruft jemand die Frage auf: ›Was wird aus Strasburg?‹ Da antwortet er siegessicher: ›Strasburg ist morgen früh in unserer Hand! Glauben Sie denn, ich würde einen Waffenstillstand schliessen, bevor nicht dieses deutsche Land und diese deutsche Stadt fest in unserem Besitz sind? Sie werden nunmehr für dauernd wieder deutsch sein!‹ Welcher Deutsche hätte sich, bei dieser grundlegenden Situationswandlung, nicht über diesen Ausspruch gefreut? Auch ich tat es. Ich konnte damals nicht ahnen, dass dieses Land und diese Stadt einmal – Jahre später, 1944 – mein Schicksal werden sollten!«151

Die Passage über Straßburg war für Isselhorst von Bedeutung, denn sie bediente seine Auffassung aus dem Jahr 1947, dass er als Elsässer und späterer BdS in Straßburg eine Aufgabe verrichtete, die einen Teil des deutschen idealistischen Zieles war. Dementsprechend wurde diese Anekdote von ihm hervorgehoben. Freilich standen die rhetorischen Fragen zum Abschluss des ersten Abschnittes unter dem beeinflussenden Tenor, dass Isselhorst und mit ihm alle »gewöhnlich Sterblichen« aufgrund der militärischen Erfolge keine andere Wahl hatten, als an die Erfüllung der propagierten Ziele des NS zu glauben. Als Dienststellenleiter der Gestapo in München oblag es Isselhorst auch, einen kuriosen Fall während der NS-Zeit zu untersuchen, nämlich den Flug von Rudolf Heß nach Großbritannien, den er am 10. Mai 1941 unternahm. Da dieser Flug auch in der NS-Forschung zu unterschiedlichen Bewertungen geführt hat, wird im Folgenden die ausführliche Darstellung von Isselhorst über die Vorkommnisse rund um den Heß-Flug zitiert: »Hitler hatte sich in der Nacht vor seiner grossen Reichstagsrede im Februar 1941 eingehend mit Hess über die damalige aussenpolitische Lage insbesondere bezüglich Englands unterhalten. […] Nachdem er Hitler verlassen hatte, reifte in ihm, der zweifellos der getreueste Gefolgsmann Hitlers war, die Erkenntnis, dass er möglicherweise in der Lage sei, den empfundenen Wunsch seines Führers auf Schaffung einer Verständigungsbasis zu erfüllen. Damit glaubte er seinem deutschen Volk u. seinem Führer einen unermesslichen Dienst erweisen zu können. […] Da er 150 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 57f n. E.). 151 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 57f n. E.).

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annehmen musste, dass Hitler aus den verschiedensten politischen Erwägungen heraus seine Einwilligung zu diesem Schritt versagen würde, gab es für ihn nur die Möglichkeit, das Unternehmen ohne Kenntnis Hitlers durchzuführen. […] Hinzu kam für Hess, der sich über das Verbot einer soldatischen Betätigung im Kriege u. seine Nutzlosigkeit grämte, dass er seinen Mut u. seine bedenkenlose Einsatzbereitschaft durch eine Sondertat unter Beweis stellen wollte. Diese Gedankengänge, die Hess teils in allgemeiner Form, ohne Eingehen auf einen speziellen Plan, mit seinem persönlichen Referenten Leitgen vor seinem Flug und teils später, nach dem ersten gescheiterten Startversuch, in Einzelheiten gegenüber seinem nun eingeweihten Adjutanten geäussert hatte, sind mir aus den ersten Vernehmungen dieser beiden bekannt geworden. Sie fanden auch ihren Niederschlag in dem Abschiedsbrief an Hitler u. veranlassten diesen, in seiner Reichstagsrede Hess als einen ›reinen Tor‹ hinzustellen.152

Isselhorst beschrieb daraufhin, dass Heß mehrere Startversuche unternahm, die jedoch aus verschiedenen Gründen fehlschlugen. Erst beim dritten Versuch konnte der Abflug wie geplant durchgeführt werden. Anschließend beschrieb Isselhorst die Überbringung der Nachricht an Hitler: »Die drei, die wieder im Kasino sitzen u. schweigend ihren Gedanken nachhängen, warten Stunden, bis sie die Gewissheit haben. Dann gibt der Adjutant dem Prof. Messerschmidt eine Erklärung: Hess ist in Durchführung einer politischen Mission im Ausland; er wird nicht zurückkommen! Die drei fahren zum Berghof; der Adjutant meldet sich bei Hitler und übergibt ihm den Abschiedsbrief. Hitler ist furchtbar erschüttert; dieser Schlag hat ihn getroffen wie noch nie zuvor! Die drei Mitwisser werden nach München gebracht u. bei der Stapo abgeliefert. Dann werden Leitgen u. die Privatsekretärin verhaftet. Noch weiss niemand, was los ist. Erst als ich auf der Dienststelle eintreffe, erhalte ich GeheimFunk aus Berlin. Dann bringt die Vernehmung Licht in die Tragödie.«153

Auch in den Darstellungen Isselhorsts wurde die bislang in der NS-Forschung gängige Auffassung vertreten, dass Hitler von dem Vorhaben Heß‹ keine Kenntnis besaß. Isselhorst erhielt daraufhin die Aufgabe, den Vorfall und die Vernehmungen der beteiligten Personen zu übernehmen und Hitler über Heydrich laufend Bericht zu erstatten.154 152 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« Blatt 13–15). Einfügung einer neuen Zählung, beginnend bei Blatt 13 (diese Seiten sind doppelseitig beschrieben) der Erstschrift bis Blatt 15, anschließend wechselt die Zitation wieder zur Zweitschrift, die dann bis zum Ende durchgezählt wurde (S. 2–70): Grund dafür ist, dass Isselhorst den gesamten Text einmal vorgeschrieben hat und später erneut abschrieb. Blatt 13–15 sind aus diesem vorgeschriebenen Text entnommen; anschließend wird wieder die Abschrift verwendet. 153 Ebd. 154 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« Blatt 13).

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Heß, der auch während der NS-Zeit durch seine Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg ständig in Kontakt zu Ärzten stand, wurde in Isselhorsts Erinnerungen als »Wanderpatient« beschrieben, der auch pseudomedizinischen Wegen nicht unempfänglich gegenüberstand: »Er stand völlig unter dem Einfluss jener unheilvollen Sekte der Kurpfuscher jeder Art.«155 Zu jener Zeit spielte Isselhorst anscheinend mit dem Gedanken, die Staatspolizei zu verlassen eine Entscheidung, die er auf Drängen von Werner Best jedoch nicht in die Tat umsetzte: »Alle, die mit Dr. Best dachten und fühlten – und das waren alle Juristen der Staatspolizei, hielten sein Scheiden für einen schweren Verlust. Er war für uns immer der moralische Halt, der Tröster in Stunden schwerer Entscheidungen gewesen. Best war es auch, der mich und andere Gleichgesinnte 1939 inständig bat, im Dienst der Staatspolizei zu bleiben, damit, wie er sich ausdrückte, dem Gebäude die juristischen Korsettstangen nicht entzogen würden, die ihm Halt gaben.«156

Allerdings müssen die von Isselhorst mehrfach in den Ego-Dokumenten erwähnten Versuche, die Gestapo zu verlassen, unter dem Einfluss der Verfassungszeit seiner Memoiren gesehen werden. 1947 sah sich Isselhorst auch als einen kritischen Beobachter des NS und speziell der Entwicklung der Gestapo, wodurch diese Willfährigkeit zum Austritt seine Einstellung aus dem Jahr 1947 widerspiegeln. Im April 1941 wurde Isselhorst zum Oberregierungsrat befördert.157 In seiner Münchener Dienstzeit war er – wie auch in den vorherigen Stationen seiner Karriere – für die Inhaftierung politischer Gegner verantwortlich. Dies galt umso mehr nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, im Zuge dessen österreichische Politiker in München interniert wurden. Hierunter fiel auch der ehemalige Kanzler Kurt Schuschnigg (Jg. 1897). Dieser prominente Insasse, der nach seiner Festnahme in Wien aufgrund von Suizidgefahr unter umfangreicher Beobachtung stand, erhielt in München einen Sonderstatus und konnte in Einzelhaft in der Gestapo-Zentrale im Wittelsbacher Palais leben. Seine Frau hatte regelmäßigen Zugang zu ihm und brachte 1940 einen Sohn zur Welt. Erst im Dezember 1941 wurde die Familie ins KZ Sachsenhausen bei Berlin verlegt, ohne auf ihren Sonderstatus und ihre zahlreichen Privilegien zu verzichten.158 Dementsprechend wohlwollend fiel auch das Urteil Schuschniggs über Erich Isselhorst nach dem Krieg aus.159 155 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« Blatt 13). 156 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 32). 157 RW 0725 Nr. 3. (Schreiben vom 08.04.1941). 158 Vgl. Koop, Volker: In Hitlers Hand. Die Sonder- und Ehrenhäftlinge der SS, Köln 2010, S. 21, 102ff. 159 RW 0725 Nr. 42 (Erklärung Kurt Schuschniggs vom 17.02.1947). Vgl. auch RW 0725 Nr. 13 (Leumundszeugen, darunter Passage von Schuschnigg)

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Die Münchener Affäre, die Isselhorst einen zweijährigen Beförderungsstopp einbringen sollte, wurde durch den zuständigen Münchener Polizei-Inspektor wie folgt beschrieben und im Februar 1941 an das SSPersonalamt gemeldet:

Abb. 6 Disziplinarischer Verweis vom 24. Februar 1941, RW 0725, Nr. 23. »Aus der Vielzahl an Leumundszeugnisse […] seien dies früheren österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg […] erwähnt, der darauf hinweist und dies auch in seinem Buch veröffentlicht hat, daß auf Grund der Initiative des Dr. I. die üblichen Schikanen im KZ.-Lager Dachau unterblieben seien.«

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»Gegen den SS-Obersturmbannführer Isselhorst wurde hier ein SSDisziplinarverfahren durchgeführt. I. hat als Leiter der Stapoleitstelle München seine Pflichten als Führer in gröblichster Weise verletzt. Er hat aus der Gefängnisküche Butter und Fleisch ohne Marken bezogen. Ausserdem hat er einen wegen kommunistischer Umtriebe einsitzenden weiblichen Häftling in seiner Wohnung als Schneiderin beschäftigt. Schliesslich hat er den Kraftfahrer Zitzler, der sich erheblich gegen die Kriegswirtschaftsverordnung vergangen hat, nicht nur nicht bestraft, sondern die Angelegenheit vollkommen totgeschwiegen. Isselhorst wurde gemäss C 1c DBO. durch Verfügung vom 26.1.42 mit einem strengen Verweis bestraft. Ausserdem hat der Chef der Sipo und des SD angeordnet, dass Isselhorst auf die Dauer von 2 Jahren nicht befördert wird.«160

Spätestens im August wurde Isselhorst von seinen Aufgaben in München entbunden.161 Isselhorst war dementsprechend nicht für die am 20. November 1941 durchgeführte Deportation von 1000 Juden nach Kaunas verantwortlich.162 Die Ereignisse in München beschäftigten Isselhorst durch seine gesamte weitere Karriere und auch nach dem Krieg blickte er voller Argwohn zurück auf diese Zeit. In seinen Memoiren erklärte er ausführlich die Folgen der Affäre für ihn persönlich und seine Beziehung zu Reinhard Heydrich: »[…] Einige alteingesessene Münchener Beamte, sog. ›Blutordensträger‹ (9. November 1923) und ›Ehrenzeichenträger‹ (goldenes Parteiabzeichen), denen meine strenge Dienstaufsicht gegenüber ihrem sprichwörtlichen Schlendrian von Beginn meiner Amtsperiode an unbequem gewesen war, brachten mit Hilfe eines mir unbekannt gewesenen Vorfalls bei der Stapo München den Stein ins Rollen. Ein Kraftfahr-Angestellter der Dienststelle hatte bei Verwandten auf dem Lande Schwarzschlachtungen vorgenommen und das Fleisch an Beamte der Dienststelle veräussert. Während ich die Bestrafung im internen Rahmen durchzuführen beabsichtigte, um jedes Aufsehen nach aussen zu vermeiden, hingen jene die Sache hinter meinem Rücken durch Meldungen an meine Münchener Vorgesetzten und an Gauleiter Wagner an die grosse Glocke! Der Fall wurde von meinen Gegnern zum Anlass genommen, meine Entfernung von München, ja meine exemplarische Bestrafung durch Einweisung in das KZ Dachau zu fordern. […] Natürlich musste der Schwächste weichen, und das war ich, da alle übrigen beteiligten Gegenspieler 160 RW 0725 Nr. 23 (Eine Kopie der SS-Akte datiert einen »Strengen Verweis« auf den 26.01.1942). 161 RW 0725 Nr. 23 (Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 32 vom 23. August 1941: »Beauftragt m. d. vertretungsw. ›Wahrnehmung‹ der Dienstgesch. des Insp. in München: SS-Stubaf. ORR. Dr. Isselhorst (Stapoleiter München).«). 162 Vgl. Krauss, Marita: Rechte Karrieren in München. Von der Weimarer Zeit bis in die Nachkriegsjahre, München 2010, S. 205.

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SS-Dienstränge und Stellungen inne hatten, die die meinen erheblich überstiegen.«163

Als kritischer Mahner der SS, so wie Isselhorst sich 1947 wahrnahm, konnte Isselhorst die Vorkommnisse in München dazu heranziehen, seine kritische Haltung gegenüber den internen Verflechtungen und den Intrigen in der SS zu belegen. Zudem konnte er mit dieser Geschichte das Selbstbild eines eigentlichen »Opfers« des SS-Machtgefüges demonstrieren. Isselhorst, der diese Ränkespiele kritisierte, da er sich 1947 als einen »Idealisten« der NS-Bewegung sah, kombinierte diese kritische Einstellung mit seiner persönlichen Beziehung zu Heydrich: »In einer sehr einseitigen Aussprache, die den Vorfall abschliessen sollte, verweigerte er mir die erbetene Entlassung aus der Sicherheitspolizei, obwohl ich ihm mit aller Deutlichkeit erklärte, dass ich durch dieses Ereignis meine bisherige Einstellung zur Sipo und zum SS-Führerkorps verloren hätte. Ich wurde daraufhin von ihm nach Russland geschickt mit der besonderen Massregel, unter keinen Umständen an verantwortlicher Stelle tätig sein zu dürfen. Der Sturz war heftig, zumal er noch mit einem Strafverweis verbunden war. Bei seinem Inspektionsbesuch Ende März 1942 in Smolensk, wollte mich Heydrich noch einmal besonders schmerzlich dadurch strafen, dass er mich von der Teilnahme an einem kameradschaftlichen Beisammensein innerhalb des SS-Führerkorps ausschloss! […] Am nächsten Morgen wurde ich dann auch zum Frühstück gebeten, in dessen Verlauf er mir sein Wohlwollen versicherte und der Hoffnung Ausdruck gab, mich in Kürze wieder in Amt und Würden einsetzen zu können. Ich habe ihm allerdings erklären müssen, dass sich meine Einstellung seit der letzten Aussprache nicht geändert habe; wenn er noch etwas für mich tun wolle, dann bäte ich erneut um meine Entlassung, damit ich mich sofort meinem Truppenteil zur Verfügung stellen könne. Ich hätte den Wunsch, es ihm im Beweis meiner Tapferkeit nachzutun!«164

Mit dieser Passage konnte Isselhorst seine idealistische und kritische Einstellung belegen, da er trotz der wohlwollenden Erklärung Heydrichs – den er weiterhin bewunderte – am Morgen nach dem Kameradschaftsabend an die Front versetzt werden möchte. Seine Loslösung von der Sipo ist in seinen Tagebuchaufzeichnungen jener Zeit nicht zu erkennen. Isselhorst erinnerte sich nach dem Krieg auch daran, dass speziell auf Drängen Heinrich Himmlers gegen ihn wesentlich härtere Sanktionen ausgesprochen werden sollten: »Ich vermute, dass ich es lediglich dem geschickten Eingreifen Heyd­ richs zu verdanken hatte, dass ich nicht im KZ-Lager Dachau oder in irgendeines der Strafkompanien, die als ›Himmelfahrts-Kommandos‹ 163 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 29). 164 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 29f).

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berüchtigt waren, gelandet bin. Jedenfalls wurde von meinen Gegnern in München um die Jahreswende 1941/42 und noch später verbreitet, der Reichsführer SS Himmler habe meine Einweisung nach Dachau und den völligen Fleischentzug für die Dauer eines Jahres befohlen! Nach anderer Version war ich bereits erschossen worden! Es war wohl eine seiner üblichen ›Spontan-Entscheidungen‹, für die Himmler überall berüchtigt war.«165

Die besagten Spontanentscheidungen, die von den Untergebenen so gefürchtet wurden, beschrieb Isselhorst an anderer Stelle genauer. Offenkundig ist an dieser Stelle der Bezug zur ungerechten Bestrafung der eigenen Person. »Wenn sich niemand fand, der einen Einwand erhob und der dazu die entsprechende Position hatte, um sich einen Einspruch erlauben zu können – und wer wagte das schon in seiner Umgebung! –, dann blieb es eben bei der getroffenen Entscheidung, und wenn sie noch so ungerecht war. Man erkannte das sehr wohl in seiner Umgebung, man sprach auch hinter Himmlers Rücken mehr oder weniger offen von dieser ›verzeihlichen Schwäche eines grossen Mannes‹, man bemitleidete sogar die Betroffenen – aber geändert wurden solche Massnahmen höchstens durch Zeitablauf!«166

Wie bereits ausgeführt, wurde Heinrich Himmler im Gegensatz zu Reinhard Heydrich in der Beurteilung von Isselhorst nach dem Krieg scharf kritisiert, wodurch auch diese Anekdoten einseitig beschrieben werden. Ob das Treffen mit Heydrich im März des darauffolgenden Jahres eine richtige Erinnerung war, ist fraglich. In seinem diesbezüglichen Tagebucheintrag vom 9. März 1942 spricht Isselhorst vom Besuch des »Reichsführers«. Diese Bezeichnung würde jedoch bedeuten, dass nicht Heydrich, sondern Himmler an diesem Tag in Smolensk zugegen war.167 Jedoch war die Abkommandierung in den Russland-Feldzug ein Fakt. Und so gelangte Erich Isselhorst im Alter von knapp 36 Jahren in die Situation, dass er nach seiner Ausbildung bei der Gestapo und aufgrund seiner jahrelangen Erfahrungen in diesem Terrorapparat nun in ein Gebiet versetzt wurde, das Timothy Snyder als »Bloodlands«168 bezeichnete.

165 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 41f). 166 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 42). 167 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 09.03.1942). 168 Vgl. Snyder, Timothy: Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, 5. Auflage, München 2015.

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3.3 Bei den Einsatzgruppen 3.3.1 Einsatzgruppe B (Smolensk) Seit November 1941 wusste Isselhorst, dass er im Laufe der kommenden Monate zu den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei abkommandiert werden würde – gerade zu jener Zeit, als die Wehrmacht noch rasche territoriale Eroberungen in einer Größenordnung machte, die eine rückwärtige Kontrolle – schon allein am Personalaufwand gemessen – zu einer bis dato ungekannten Herausforderung machte. Die Hauptaufgabe der Einsatzgruppen im Osten war dementsprechend die Sicherung des rückwärtigen Heeresgebietes, wobei die drei Heeresgruppen (Nord/Mitte/Süd) auch die Bezugsformationen der drei Einsatzgruppen (A-Nord; B-Mitte; C-Süd) waren. Aufgrund des südlichen Vorstoßes der 11. Armee, in deren Verband sich auch die beiden rumänischen Armeen befanden, wurde zusätzlich eine vierte Einsatzgruppe gebildet (D-Ukraine; Krim Bessarabien).169 In den folgenden Kapiteln wird insbesondere das Kriegstagebuch als Informationsquelle dienen, da die darin aufgeführten Angaben zeitlich nahe an den Geschehnissen sind und somit aus deskriptiver Perspektive einen guten Einblick in das alltägliche Leben von Isselhorst bieten. Allerdings muss immerzu berücksichtigt werden, dass auch Tagebücher keinen Spiegel der Realität darstellen. Sie sind auch kein Abbild des »Querschnittscharakters« des Autors, sondern sind vielmehr eine »Technik der Erfahrungsverarbeitung«170. Dennoch sind die rein fragmentarischen Überlieferungen, wie zum Beispiel die persönlichen Treffen mit bestimmten Personen, durchaus dafür geeignet, um aufzuzeigen, wie Isselhorst in den Sicherheitspolizeiapparat eingebunden war. Isselhorsts erste Station war die Zentrale der Einsatzgruppe B, die seit dem 5. August 1941 in Smolensk lag. Hier sollte er den Stab des dortigen Einsatzgruppenleiters, SS-Oberführer Erich Naumann (Jg. 1905), unterstützen.171 Der später zum SS-Brigadeführer ernannte Naumann war von November 1941 bis Oktober 1943 Chef der Einsatzgruppe B, anschließend Inspekteur der Sipo in Berlin, bevor er von September 1943 bis Juli 1944 BdS der Niederlande wurde. Im Zuge 169 Vgl. zu Auswahl und zum Aufbau der Einsatzgruppen: Krausnick, Wilhelm: Hitlers Einsatzgruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges 1938– 1942, Frankfurt a. M. 1985, S. 121ff. 170 Vgl. Steuwer, Janosch: »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017, S. 23f. 171 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 26.01.1942).

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des Einsatzgruppenprozesses zum Tode verurteilt, wurde Naumann am 7. Juni 1951 hingerichtet.172 Das Massensterben in den Einsatzgebieten der Sicherheitspolizei war in allen rückwärtigen Heeresgebieten im Winter 1941/42 von immensem Ausmaß. Alleine die Sterberate in den Kriegsgefangenlagern lag zu dieser Zeit bei etwa 300–600 Personen pro Tag.173 Durch diverse Autopannen, Witterungsumstände und vermeintliche »Partisanengefahr« während der Fahrt von Berlin über Posen, Warschau, Brest-Litowsk und Minsk dauerte die Anreise nach Smolensk neun Tage. Isselhorst dokumentierte diese Reise anhand von Bildern, die veranschaulichen, dass er diese Reise eher als ein Tourist denn als Angehöriger der Stapo wahrnahm. So wurden neben der Autopanne als Skurrilität auch Aufnahmen des Ghettos und der dortigen Bewohner gemacht. Isselhorst sah den Ostfeldzug als einzigartiges historisches Ereignis, dessen Orte er bildlich dokumentieren wollte.

Abb. 7 Fahrt nach Smolensk, Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 26.

172 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 429. 173 Vgl. Hartmann, Christian: Massensterben oder Massenvernichtung? Sowjetische Kriegsgefangene im »Unternehmen Barbarossa«. Aus dem Tagebuch eines deutschen Lagerkommandanten; in: VfZ Nr.49 (2001), S. 97–158, hier: S. 124f.

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Abb. 8 Fahrt über Warschau, Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 20.

Isselhorst nutzte diese unerwartete Freizeit, um neben Theater- und Kinobesuchen auch das Warschauer Ghetto zu besichtigen: »1.II.42 Bei strahlendem Sonnenschein, aber eisiger Kälte, haben wir heute am Vormittag eine Stadtfahrt unternommen. Besuch des Ghettos! Sehr interessant! Schauderhafter Dreck, zerlumpt, feilschende Juden, wahlloses Hin und her! Warschau zeigt immer noch die Wunden des deutschen Angriffs. Wenn auch die Zeit vieles geglättet hat, so sind doch Ruinen, abgeräumte, freie Plätze, verschneite Schutthalden usw. Zeugen der damaligen Ereignisse.«174

Diese Beschreibungen verdeutlichen die Wahrnehmung von Isselhorst zu Beginn seiner Reise gen Osten. Warschau und das dortige Ghetto werden von Isselhorst touristisch wahrgenommen, da sie, wie er schreibt, »Zeugen« des historischen Ereignisses waren, das vom deutschen Militär beim Kampf gegen Polen vollbracht wurde. Die damit verbundenen Aufnahmen zeugen ebenfalls von dieser Auffassung. Durch die Verzögerungen war Isselhorst in der Nacht vor seinem Geburtstag am 5. Februar noch in Warschau, wo er »noch einmal in Kultur geschlemmt« gemeinsam mit zwei Kameraden den Abend verbrachte.175 Dass sich der Raum in Richtung Russland außerhalb der »Kultur« befinden würde – diese Auffassung kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden. Entweder ist es die Unterscheidung zwischen dem vermuteten kargen Leben in seinem 174 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 01.02.1942). 175 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 05.02.1942).

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Abb. 9 Fahrt über Warschau, Ende Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 23.

Abb. 10 Fahrt über ­Warschau, Ende Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 24.

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zukünftigen Einsatzort, oder es zeigt sich darin tatsächlich die ideologische Überzeugung, dass »der Osten« von einer minderwertigen Kultur bewohnt sei, die es zu überwinden galt. Wie für Millionen andere deutsche Soldaten und Polizisten auch, war die »Reise« in das sowjetische Gebiet die erste große Auslandserfahrung Isselhorsts. Dieter Pohl weist darauf hin, dass dieser Aspekt nicht zu vernachlässigen ist: »Man teilte ein Leben fernab der Heimat, ja für viele war dies die erste größere ›Reise‹. Zugleich fühlte man sich in einem fremden bedrohlichen Umfeld, sei es gegenüber den zivilisatorischen Zuständen im Osten, sei es gegenüber einer undurchschaubaren Bevölkerung und der vermeintlich allgegenwärtigen Partisanengefahr. Im Hinterland kristallisierte sich eine Mischung aus pseudokolonialem Leben und unterschwelliger Angst. Gerade in der Sowjetunion veränderten sich noch mehr als in Polen – die moralischen Koordinaten des Personals, das sich immer weiter von den Umgangsformen im Reich [...] entfernte.«176

Auf der vorletzten Etappe seiner Fahrt gewann Isselhorst dann die ersten Eindrücke des Kriegsgeschehens und schrieb: »Auf der Fahrt bis S[molensk] links und rechts der Rollbahn zerstörte, verbrannte, im Stich gelassene Tanks, Wagen, Traktoren [...], an manchen Stellen oft 10 und mehr! Die ersten Zeugen der Vernichtungsschlacht.«177 Auch an dieser Stelle werden die wahrgenommenen Objekte als »Zeugen« eines historischen Ereignisses beschrieben. Und auch die zu großen Teilen zerstörten Städte Minsk und Smolensk beeindruckten Isselhorst: »Minsk ist stark zerstört, ganze Straßenzüge sind abgebrannt bzw. vernichtet. […] Bei der Einfahrt in S[molensk] war kaum zu merken, daß hier eine Stadt war.«178 Die Bildaufnahmen illustrieren dementsprechend Isselhorsts Wahrnehmung von der Teilnahme an einem historischen Ereignis, das er versucht zu dokumentieren. Nach seiner Ankunft im Smolensker Hauptquartier lernte Isselhorst seinen neuen Vorgesetzten SS-Oberführer Erich Naumann kennen. Dieser betraute ihn mit der Aufgabe der Stabsführung und der persönlichen Vertretung (Abteilung I), was Isselhorst wohlwollend zur Kenntnis nahm: »Das schafft mir Befriedigung, wenn ich schon nicht ein Einsatzkommando führen soll.«179 Bereits am nächsten Tag nahm Isselhorst an einer »Aktion«180 in Smolensk teil – jedoch ohne genauere Beschreibung des Ablaufs in seinem Tagebuch. Dass diese Gewaltaktionen auch in den kommenden 176 Pohl, Dieter: Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, Frankfurt a. M. 2011 (zuerst 2008), S. 114f. 177 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 05.02.1942). 178 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 06.02.1942). 179 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 06.02.1942). 180 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 07.02.1942).

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Abb. 11 Zerstörter Panzer neben Fahrbahn nach Smolensk, Ende Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 27.

Abb. 12 Hauptquartier der Einsatzgruppe B in Smolensk, Frühjahr 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 32.

Monaten nur peripher in seinen Notizen auftauchen, ist nicht außergewöhnlich. Denn obwohl diese Maßnahmen einen wesentlichen Teil seiner Arbeit ausmachten, ist die Selektivität der niedergeschriebenen 119

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Wahrnehmungen geradezu typisch für Kriegstagebücher. Das Tagebuch dient dementsprechend als eine Art Gedächtnisstütze, die fragmentarisch die Erfahrungen verarbeitet. Euphemistische Begriffe wie »Aktion« sind für Isselhorst selbstverständlich und somit muss dieser Begriff nicht weiter definiert werden.181 Es ist anzunehmen, dass Isselhorst als »Neuling« in die Vorgehensweise der EG eingeweiht werden sollte. Denn neben dem Besuch der Ukrainer Kompanie auf dem etwa 12 Kilometer entfernten Gut am 8. Februar nahm er wiederum am 9. Februar an einer nicht näher beschriebenen »Aktion« im Smolensker Ghetto teil, die laut Isselhorsts Tagebucheintrag jedoch »ohne Erfolg« blieb.182 Das tägliche Leben im russischen Winter 1942 war für Isselhorst eine bis dato nicht gekannte Herausforderung, wie er seinen Eltern am 9. Februar schrieb: »Die Kälte u. der Wassermangel macht das Leben gerade nicht erträglicher und der vollkommen verstopfte Lokus erst recht nicht. Aber wir haben es immer noch viel, viel besser als andere braune Soldaten an der Front.«183

Und auch an die unklaren Frontverhältnisse bei Smolensk musste sich Isselhorst erst noch gewöhnen: »Aber was ist das eigentlich für eine Kriegsführung! Manchmal weiß man gar nicht, wo nun eigentlich Front ist. […] Ich glaube, daß der Zusammenbruch sehr schnell kommt, wenn wir erstmal wieder in Bewegung kommen. Na ich werde es ja dann an den Wehrmachtsberichten hören.«184

Die Stabsführung erwies sich als umfangreiche Verwaltungsaufgabe, die Isselhorst in der kommenden Zeit an den Schreibtisch seines Dienstzimmers fesselte. Jedoch blieb in den Abendstunden immer wieder Zeit, mit seinem Chef Naumann Skat zu spielen oder Kameradschaftsabende und das Wehrmachtskino zu besuchen. Beinahe täglich verfasste Isselhorst Briefe an seine Frau und Familie, sowie an seinen ehemaligen Münchner Mitarbeiter Alfred Schimmel, der am 26. Februar 1948 wegen der Tötung eines britischen Kriegsgefangenen hingerichtet werden sollte.185 Regelmäßig berichtete Isselhorst von schweren nächtlichen Fliegerangriffen 181 Wurzer, Markus: »Nachts hörten wir Hyänen und Schakale heulen.«: Das Tagebuch eines Südtirolers aus dem Italienisch-Abessinischen Krieg 1935– 1936, Innsbruck 2016. Wurzer gibt im zweiten Abschnitt »Theoretische Verortung« einen guten Überblick über die spezifischen Eigenschaften von Kriegstagebüchern. 182 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 08./09.02.1942). 183 RW 0725 Nr. 29 (Brief vom 09.02.1942 an seine Eltern). 184 Ebd. 185 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 10.–16.02.1942). Erfolge in der Partisanenbekämpfung wurden in den Einträgen vom 13./14. Februar insbesondere aus Mogilew gemeldet. Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 535.

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auf Smolensk, die auch zu Stromausfällen und weiteren heftigen Zerstörungen der Stadt beitrugen und der sowjetischen Winteroffensive geschuldet waren. Im Alltag hingegen betonte Isselhorst, dass er versuchte, Versorgungsengpässe der EG zu verbessern. Bemerkenswert sind die täglichen Besprechungen und Spaziergänge mit Polizeiführern, darunter waren oftmals die Teilkommandoführer Adolf Ott und Heinz Richter, die Isselhorst offenbar näher kennenlernte186 Adolf Ott (Jg. 1904) wurde für seine Teilnahme an diversen Massenmorden, die er ab Februar 1942 als Führer des Sonderkommandos 7b durchführte, nach dem Krieg im Einsatzgruppen-Prozess am 10. April 1948 zum Tode verurteilt, allerdings wurde er bereits am 9. Mai 1958 aus der Landsberger Haftanstalt entlassen. Heinz Richter (Jg. 1903) war zunächst Mitarbeiter des RSHA, bevor er 1942 Führer des EK 8 wurde. Nach dem Krieg arbeitete Richter für lange Zeit als Regierungsrat, ehe er 1968 vom Landgericht Kiel angeklagt und zu sieben Jahren Haft verurteil wurde. Er starb am 27. März 1974.187 Die Stimmung seines Chefs Naumann schien sich im Februar zu verschlechtern und häufige Alkohol-Eskapaden nahmen zu: »Er war in den letzten Wochen sehr gedrückt und belebte seine Komplexe mit Alkohol.«188 Zur Besserung der Laune trug sicherlich auch nicht der Verlust eines gesamten Polizeistabes bei, dessen 32 Mitglieder wohl am 22. Fe­ bruar bei Brjansk in einen Hinterhalt gerieten und getötet wurden.189 Zudem wurde die Unterkunft des EK9 in der Nacht zum 23. Februar durch einen Bombentreffer zerstört, wobei eine Person getötet und drei weitere verletzt wurden.190 Die Versorgungslage und die Partisanengefahr waren auch wesentliche Aspekte der Ereignismeldung vom 16. Februar 1942.191 Die Vergeltungsaktionen für die Angriffe prägten die nächsten Tage bei der Einsatzgruppe. So berichtete Isselhorst von einer anlaufenden Partisanen-Großaktion, in der auch die bereits erwähnte Ukrainer-Kompanie als ausländische Hilfstruppe eingesetzt wurde: »Chef nach Brjansk. Vorbereitungen zur Großaktion gegen Partisanen. Unsere Ukrainerkompagnie [sic] wird zum ersten Mal zum Einsatz kommen. Hptm. Singling zieht mit 250 Männern, bestückt mit Granatwerfer, SMG u. BMG(?) los.«192 »SS-Stubaf Rausch feiert Abschied; er wird abgelöst und fährt in die Heimat zurück. Um 24 Uhr sind die Ukrainerkompagnie [sic] u. unsere 186 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 17.–20.02.1942) 187 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 446, 494f. 188 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 21.02.1942). 189 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 23.02.1942). 190 Vgl. EM 174 vom 27.02.1942, S. 182. 191 Vgl. EM 169 vom 16.02.1942, S. 156–159. 192 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 25.02.1942).

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ERICH ISSELHORST: KONSTRUKTION UND REKONSTRUKTION EINER BIOGRAPHIE

Waffen-SS verladen. Gute Stimmung; die Ukrainer singen u. summen ihre schwermütigen Volkslieder. Von der Waffen-SS ist nur ein Rottenf. hier geblieben, alles andere wollte mit!«193

Ukrainische Hilfstruppen wurden seit 1940 bei den Einsatzgruppen eingesetzt und beteiligten sich seit August 1941 an den Massenmorden. Aufgrund der heimischen Erfahrungen der Mordaktionen des NKWD, der zu großen Teilen der jüdischen Bevölkerung zur Last gelegt wurde, bildete das Feindbild des »jüdischen Bolschewismus« eine Art gemeinsamen Referenzrahmen. In der Umsetzung, wie auch im Tagebucheintrag zu erkennen, waren jedoch deutsche Akteure als »organisatorische Kerne vonnöten.«194 Isselhorst blieb aufgrund seiner Stellung im Quartier und war nicht direkt an den »Aktionen« beteiligt. Doch konnte er neben der Abschiedsfeier des Sonderkommando-Führers Günther Rausch (Jg. 1909) auch noch am 24. Februar den Gratulationsbesuch beim Berück Mitte, General Max von Schenckendorff (Jg. 1875), absolvieren, der am 24. Februar 1942 seinen vorletzten Geburtstag feiern sollte.195 Bei diesem war er auch vier Tage später bei einer dienstlichen Besprechung zugegen.196 Im Tätigkeits- und Lagebericht der EG B vom 1. März 1942 für den Zeitraum vom 16.–28. Februar wurde die Partisanengefahr ebenfalls hervorgehoben, wobei die nunmehr vorhandene straffere Organisation zwischen den Banden als Gefahrenquelle genannt wurde. »Ferner geht aus den Einsatzmeldungen der Kommandos hervor, daß die Juden immer noch in besonderem mit den Partisanen zusammenarbeiten, sei es, daß sie sie mit Lebensmitteln usw. unterstützen oder ihnen Unterschlupf gewähren, oder daß sie Kundschafterdienste leisten.«197

Die Gesamtzahl der bis dahin durch die »Sonderbehandlung« getöteten Personen wurde mit 91.012 Menschen beziffert.198 Zudem wurden einzelne »Aktionen« für den Berichtszeitraum genannt, die teilweise mit Unterstützung der Wehrmacht durchgeführt wurden. Beispielsweise konnte 193 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 26.02.1942). 194 Vgl. Pohl, Dieter: Ukrainische Hilfskräfte beim Mord an den Juden; in: Paul, Gerhard (Hrsg.) Die Täter der Shoa. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte Bd. 2), Göttingen 2002, S. 205–234, hier: S. 211f. 195 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 24.02.1942). 196 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 28.02.1942). 197 Tätigkeits- und Lagebericht der Einsatzgruppe B vom 01.03.1942 für die Zeit von 16.–28.02.1942; abgedruckt in: Mallmann, Klaus-Michael; Cüppers, Martin; Angrick, Andrej und Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941–45: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Band II. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2013, S. 291–303, hier: S. 295. 198 Vgl. Ebd. S. 296.

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BEI DEN EINSATZGRUPPEN

bei Newel eine größere »Aktion« der Wehrmacht erfolgreich zu Ende gebracht werden, in deren Verlauf 200 Partisanen getötet wurden. Weitere Kollaborateure oder NKWD-Mitglieder wurden bei Konotop, Kursk, Slynka, Sui, Orel und Smolensk getötet.199 Das EK 8 meldete die Tötung von 190 Juden in Slynka wegen Partisanenkontakts. Der gleiche Grund wurde auch bei der Tötung von 60 Juden bei Bobruisk und weiteren 46 Juden in Rayon Ossipowitschi genannt, die ebenfalls vom EK 8 »sonderbehandelt« wurden. Auch das EK 9 vermeldete die Tötung von 36 Juden im Ghetto Ljesno, da sie durch Gerüchte Unruhe innerhalb der dortigen Bevölkerung erzeugt haben sollten. Dies galt auch für weitere 311 Juden in Rudnja. Darüber hinaus wurden 1.180 Juden in Tschaschniki, 855 in Beschenkowitschi und weitere 298 Juden in kleineren Ortschaften getötet. Die von Isselhorst erwähnte »Partisanen-Großaktion« war vermutlich eine mit der Unterstützung der Wehrmacht durchgeführte »Aktion«, die in der Ratschewka-Vorstadt bei Smolensk am 23. Februar 1942 begann.200 Weiterhin fertigte Isselhorst Fotoaufnahmen an, die einerseits Skurrilitäten, wie die eigene Schlittenfahrt, aus einer touristischen Warte aus aufzeigen, wie auch Aufnahmen, die Smolensk als Teil des historischen Ereignisses dokumentierten.

Abb. 13 Isselhorst bei einer Schlittenfahrt bei Smolensk, Frühjahr 1942, LAV NRW R_RWB 28267, Nr. 8.

199 Vgl. Ebd. S. 297–300. 200 Vgl. Ebd. S. 300–302.

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Abb. 14 Deutsche Einheiten in Smolensk, Frühjahr 1942, LAV NRW R_RWB 28267, Nr. 7.

Anfang März begab sich OF Naumann auf einen Heimaturlaub, so dass Isselhorst für einige Wochen die Leitung der Einsatzgruppe übernahm. Diese Wochen beschrieb Isselhorst zumeist anhand von Besprechungen über die Versorgungslage und Partisanenbekämpfungs-Aktionen, die mit den Generalstabsoffizieren abgestimmt werden mussten: »Sehr viel Arbeit. Chef ist um 14 Uhr in Urlaub gefahren. 14.15 und 17.15 Uhr Besprechungen beim Ia u. Ic (Befehlshaber) über Partisanenbekämpfung.«201 Auch besuchte Isselhorst erneut den Berück von Schenckendorff und weitere Teilkommandoführer: »8.III. 16.30 Einladung beim Chef rück[wärtiges Heeresgebiet], General v. Schenkendorff zum Kaffee; anschließend Besprechung über Einsatz zur P[artisanen]-Bekämpfung. Großzügige Vorarbeit durch Sich. Pol. u. SD. Anschließend Besprechung mit O.Stubaf Ott (Briansk) über Einsatz. 9.III. Fahrt nach Mogilew zur Besprechung mit Bradfisch über Einsatz. Das EK 8 ist besser untergebracht als wir. Verpflegung ausgezeichnet. Mogilew ist eine ruhige, nicht so stark wie S[molensk] zerstörte Stadt. Abends kameradsch. Zusammensein mit Führern des Wirtsch. Insp. der Waffen-SS. Reichsführer ist in M[ogilew]. Ich habe mich zurückgehalten. Doch hat er abends im Verlauf einer Besprechung beim Höh. SS u. Pol. Führer meinen Namen erfahren und sich Notizen gemacht. 201 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 04.03.1942).

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BEI DEN EINSATZGRUPPEN

10.III. 9 Uhr Rückfahrt nach S[molensk] [...] Aktion bei Boluinsk(?) ist abgebrochen. Nach 6 Toten auf unserer Seite; Partisanen sollen über 300 Tote haben. Viel Post angekommen: 2 Briefe von Gustel, 2 von Hans, einer von Eltern, einer von Gerda.«202

Der Leiter von Einsatzkommando 8, Obersturmbannführer Otto Bradfisch (Jg. 1903), mit dem sich Isselhorst am 9. März zu einer Besprechung traf, war in Hinsicht auf Partisanenaktionen ein erfahrener Mann. So konnte ihm nach dem Krieg eine Beteiligung an diversen »Aktionen« gegenüber Juden und sowjetischen Kriegsgefangenen nachgewiesen werden. Da die Strafverfolgung der Einsatzkommandoführer in den ersten Dekaden nach dem Krieg in der deutschen Justiz von »völliger Marginalität« gekennzeichnet war, wurden diese allenfalls als »Gehilfen« dieser Massenmorde gesehen.203 So kam es, dass 1961/63 Otto Bradfisch von den Richtern in München und Hannover lediglich wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in über 15.000 Fällen zu insgesamt 13 Jahren Haft verurteilt wurde. Jedoch konnte Bradfisch das Gefängnis bereits 1969 wieder verlassen. Das Gericht konnte an Bradfisch schlichtweg keinen »Täterwillen« feststellen.204 Wie auch bei den übrigen bisher genannten Einsatzkommandoführern zu konstatieren ist, wurden gegen Mitglieder dieser Führungsebene nur niedrige Haftstrafen ausgesprochen. Das »Glück« vor ein deutsches Gericht jener Zeit zu geraten, blieb jedoch nicht allen NS-Tätern vorbehalten. Dass Isselhorst sich beim Treffen mit dem Reichsführer SS und Chef der Polizei Heinrich Himmler zurückhielt, war sicherlich der bereits beschriebenen angespannten Beziehung zwischen den beiden aus der Münchener Affäre zuzuschreiben.205 Die sicherheitspolizeiliche Lage um Smolensk liest sich in der EM vom 13. März als angespannt, diverse 202 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 08.–10.03.1942). Vgl. auch: EM 186 vom 27.03.1942, S. 238. Zu den Hintergründen vgl. Gerlach: Kalkulierte Morde, S. 884f. 203 Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 18.6.2013, http://docupedia.de/zg/Neuere_Taeterforschung [30.01.2016]. Bajohr sieht diese Marginalität in der Tätereinstufung im starken Kontrast zu einer »bemerkenswerte[n] Ubiquität«, wie sie in den Kontroversen der neueren Täterforschung geführt werden. 204 Greve, Michael: Täter oder Gehilfen? Zum strafrechtlichen Umgang mit NSGewaltverbrechern in der Bundesrepublik Deutschland, in: Weckel, Ulrike u. Wolfrum, Edgar (Hrsg.) »Bestien« und »Befehlsempfänger«. Frauen und Männer in NS-Prozessen nach 1945, Göttingen 2003, S. 194–221. 205 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S.30). Irrtümlicherweise beschreibt Isselhorst in seinen Memoiren das Treffen mit Reinhard Heydrich. Da er allerdings im Tagebuch den »Reichsführer« als Gast erwähnt, muss dies eine fehlerhafte Erinnerung sein.

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»Aktionen« von Partisanen werden erwähnt, sowie deren Bekämpfung.206 In einer weiteren Besprechung mit dem Ia, die Isselhorst in seinem Kriegstagebuch aufführte, wird die Gefahreneinschätzung seinerseits durch die Partisanen deutlich hervorgehoben: »Wieder Besprechung beim Ia. Die Partisanenlage wird immer bedrohlicher. Jetzt muß man unverzüglich ran! Rings um S[molensk] sitzen sie in vielen Dörfern. Überfälle am laufenden Band!«207

Die Gefahrensituation war sicherlich auch Hauptbestandteil der Besprechungen mit den Stabsoffizieren und weiteren Kommandeuren, die in den folgenden Tagen stattfanden. Hierbei zeigte sich, dass der interne Umgang zwischen Waffen-SS und Gestapo durchaus auch Konfliktpotential besaß. So schrieb Isselhorst am 24. März über die Besprechung mit dem EK-Führer Obersturmbannführer Wilhelm Wiebens: »Auseinandersetzung mit O-Stubaf Wiebens, der sich […] gegen die angeordnete Abstellung von Waffen SS-Männern wehrt. Es ist eine merkwürdige, immer wieder auftauchende Erscheinung, daß sich Kameraden der SS nicht unterordnen wollen, wenn sie einen Stapoführer vor die Nase gesetzt zu bekommen glauben! Ich werde eine Entscheidung des Oberführers herbeiführen müssen.«208

In ebendiesem Zeitraum Ende März beziehungsweise Anfang April 1942 führte Wilhelm Wiebens (Jg. 1906), der bereits vor Kriegsbeginn eine bemerkenswerte Karriere im SD gemacht hatte, mit Teilen des Einsatzkommandos 9 die Exekution einer zwanzigköpfigen Gruppe von Roma durch. Für diese wurde er nach dem Krieg von einem Westberliner Schwurgericht zu lebenslanger Haft verurteilt.209 Im Frühjahr des Jahres 1942 entstanden mehrere Aufnahmen, die Isselhorst gemeinsam mit dem Führungspersonal der EG B zeigen. Insbesondere eine der Aufnahmen verdeutlicht, dass Isselhorst anhand der Fotoaufnahmen einen neuen Fokus auf seine Person richten wollte. Da er selbst (r.) mit dem ihm auf dem Bild zugewandten hochrangigen Führern der EG B eine Besprechung abhält, und eine unbekannte Person diesen Moment mit Isselhorsts Kamera festhält, scheint Isselhorst die Absicht zu verfolgen, sich als wichtiges und bestimmendes Mitglied der EG darzustellen. Isselhorst war nicht mehr nur Tourist, sondern auch aktiver Part des historischen Ereignisses und wollte dies dokumentiert wissen. 206 Vgl. EM 180 vom 13.03.1942, S. 209f. 207 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 20.03.1942). 208 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 24.03.1942). 209 Freudiger, Kerstin: Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002, S. 71

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BEI DEN EINSATZGRUPPEN

Abb. 15 Isselhorst (r.) mit Führern der EG B; Außer Naumann (Oberführer, 2. v. r.) alle im Rang eines Obersturmbannführers. Darunter auch Adolf Ott (2. v. l.), LAV NRW R_RWB 28272, Nr. 15.

Mit Entrüstung nahm Isselhorst am 25. März 1942 die Meldung entgegen, dass der Einsatzgruppenleiter der EG A, Brigadeführer Franz Walter Stahlecker (Jg. 1900), bei einer Partisanenaktion am 23. März den »Heldentod« fand, und dieser nun von Brigadeführer Heinz Jost (Jg. 1904) ersetzt werden sollte.210 Die eigene, noch immer schwache Position in den Führungskreisen beschäftigte Isselhorst indes weiter. Sein Chef Naumann, der, wie die oftmals erwähnten Skat-Abende belegen, eine freundschaftliche Beziehung zu Isselhorst entwickelt hatte, versuchte bei seinen Besuchen im RSHA dessen Position zu stärken. Zentral beschäftigte Isselhorst seine Stellung beim Reichsführer, der Smolensk Ende März 1942 erneut besuchte: »26.III. […] Der Chef teilt mir den wesentlichen Inhalt seiner Berliner Besprechungen mit. Man hat dort noch nicht vergeben und vergessen! Der Chef hat dabei eine sehr anständige Haltung gezeigt; er hofft, nach Ablauf eines halben Jahres wieder für gut Wetter sorgen zu können! Ob ich mein Gleichgewicht behalte? Ich muß, wenn ich an Gustel und die Eltern denke. […] 30.III. [Chef] ist nach Mogilew gefahren, um dort Führerwechsel (Bradfisch, Richter) vorzunehmen u B[radfisch] mit KVK I. zu dekorieren. Um 10.45 kommt [Meldung], wonach [Reichsführer] heute um 18 Uhr hier 210 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 25.03.1942).

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mit Flugzeug ankommen wird! Mogilew ist verständigt. Vorbereitungen im Haus sind getroffen. [Chef] ist rechtzeitig zurückgekommen, um [Reichsführer] am Flugplatz abholen zu können. Am Abendessen habe ich nicht teilnehmen dürfen! Wie mir [Chef] mitteilte, soll sich [Reichsführer] im Verlauf des Abends mehrfach nach mir erkundigt haben.« 31.III. Am Frühstück im engeren Kreis teilgenommen; ich wurde von [Reichsführer] an seine Seite gesetzt. Dabei teilte er mir meine Abkommandierung zur Waffen-SS mit. Sonst allgemeine Unterhaltung. Anschließend Appell, der von mir gemeldet wurde. (während der Ansprache Flakfeuer!). Dann ist [Reichsführer] wieder abgeflogen; […].«211

Nach der Abreise von Himmler begab sich Isselhorst auf seinen ersten, knapp drei Wochen dauernden Heimaturlaub. Während diesem starb sein Vater am 11. April, kurz nach dem Beginn eines Fliegeralarms. Ein Umstand, den Isselhorst nach dem Krieg dazu benutzte, zu behaupten, dass sein Vater durch einen Bombenangriff ums Leben gekommen sei.212 In der Ereignismeldung vom 21. April wurde neben der weiterhin bestehenden Partisanenaktivität (»Weite Gebiete des bisher besetzten Raumes sind von Partisanen verseucht […]«213) auch eine genaue Angabe über die Opferzahlen des Monats März 1942 aufgeführt: »In der Zeit v. 6.–30.3.42 wurden im Bereich der Einsatzgruppe sonderbehandelt durch SK7a 1657 Personen, darunter 27 wegen Zugehörigkeit zu Partisanengruppen und Mitgliedschaft zur ehem. KP, 45 Zigeuner, 1585 Juden; durch SK7b 82 Personen, darunter 19 wegen Zusammenarbeit mit Partisanen, 22 wegen kommunistischer Propagandatätigkeit und erwiesener KP-Zugehörigkeit, 14 wegen hetzerischer Äusserungen, 27 Juden; durch SKM 52 Personen, darunter 41 Russen wegen Zugehörigkeit zu Partisanengruppen, 4 wegen Diebstahls bzw. Giftmordversuchs, 7 Juden; durch EK8 1609 Personen, darunter 20 Russen wegen Diebstahls, Einbruchs, Unterschlagung, 33 Zigeuner, 1551 Juden; durch EK9 273 Personen, darunter 85 Russen wegen Zugehörigkeit zu Partisanengruppen, 18 wegen kommunistischer Wühlarbeit und krimineller Delikte, 170 Juden; durch Trupp Smolensk 60 Personen, darunter 29 Russen wegen Partisanenhilfeleistungen, 13 wegen Diebstahls, Plünderungen, Agententätigkeit, Sabotage, 18 Juden.«214

In den Ereignismeldungen fällt generell auf, dass die Gruppen »Zigeuner« und »Juden« durch keinerlei Begründung für deren Tötung gekennzeichnet sind, so dass deren Exekution anscheinend keiner näheren Legitimation bedurfte. 211 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 26./30./31.03.1942). 212 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag undatiert; Mitte April 1942). Vgl. auch RW 0725 Nr. 10. 213 EM 194 vom 21.04.1942, S. 311. 214 EM 194 vom 21.04.1942, S. 318.

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BEI DEN EINSATZGRUPPEN

Nach einer Anreise von über fünf Tagen erreichte Isselhorst am 30. April 1942 wieder die EG-Zentrale in Smolensk. Hier berichtete er, neben einigen Gesprächen mit verschiedenen Führern der Einsatzgruppe, auch von der Aufgabe, ein neues Quartier für die EG zu suchen.215 Hinsichtlich der Versorgungsproblematik veranlasste Isselhorst einen neuen Gemüsegarten anzulegen. Die ergiebigen Ernten erwähnte Isselhorst in seinem Tagebuch regelmäßig.216 Auch nach seiner Rückkehr aus dem Heimaturlaub blieben die »Partisanen« im Fokus der Einsatzgruppe. Bereits am 6. Mai vermeldete Isselhorst diesbezüglich Erfolge: »[…] Eine große Partisanenbande ist geplatzt (Krassnij [Krasny – Ortschaft, ca. 50 Kilometer südwestlich von Smolensk, Anm. d. Verf.]). Überfall von allen Seiten auf S[molensk] war geplant. Die Ermittlungsergebnisse sind z.Z. außerordentlich.«217 Und auch am kommenden Tag berichtete Isselhorst von weiteren Vernehmungen sowie einer geplanten »Aktion«: »An Vernehmungen in Part[isanen] Sache K[rasny] teilgenommen. Gute Ergebnisse. O.F. war wegen OK bei Stadtkommandant. Nicht festgelegt, neue Objekte benannt, die am Nachmittag besichtigt werden; sind ungünstig, mir sogar ganz unmöglich. Lagebericht gefertigt u. vorgelegt. Wahrscheinlich wird in den nächsten Tagen Aktion in Gegend Kr. gestartet. Besprechungen hierüber; Kaffeestunde beim Chef.«218

Die »Aktion« in Krasny fand am darauffolgenden Tag statt. Oberführer Naumann war hierzu bereits in den Morgenstunden persönlich per Flugzeug aufgebrochen. Am nächsten Tag bat Naumann Isselhorst, ihn zur bereits erwähnten Ukrainer-Kompanie zu begleiten, um dort einen Erholungstag zu verbringen. »Chef überrascht mich mit Mitteilung, daß er mit mir nach Wisskoje(?) fliegen will. Große Badezeremonie und ausgiebiges Frühstück. Um 10.45 Start zum Flugplatz Süd; 11 Uhr Start mit F.St. [Fieseler Storch Propellerflugzeug] Unsere Ankunft u. Landung direkt beim Gut erregt großes Aufsehen. Gut eingehend besichtigt, insb. Ställe. Nach dem Mittagessen 1 1/2-stündiger Ritt über die weiten Felder des Gutes. Dann werden uns Schießübungen mit Pak, Granatwerfer u. SMG vorgeführt. Nach dem Kaffee bei Hptm. Siegling, der mit Adj. des Höh. SS u. PolF. Hpt. Schirmacher ebenfalls draußen war, Gewehrschießen. Bei der Ukrainerkompagnie ist Hochbetrieb: ihr Kompagnieführer hat heute eine Dorfschöne geheiratet. Wir werden zum Hochzeitsabendschmaus geladen. Reich gedeckte russische Tafel (Hühnchen, Wurst, Eier, viel Fett u. Butter und natürlich Schnaps!) in einfachstem Hause, kleines Zimmer, das gleichzeitig Schlafraum ist, […] Es war sehr interessant. Um 215 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 01.05.– 03.05.1942). 216 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 04./16./19./24.05./.1942). 217 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 06.05.1942). 218 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 07.05.1942).

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7.30 wieder abgeflogen. Rundflug über Smolensk, das von oben noch trauriger aussieht!«219

Die mehrfach erwähnte Ukrainer-Einheit schien für die Sicherheitspolizei ein wichtiger Partner zu sein, da sie auch in der MbO 8 vom 19. Juni 1942 lobend erwähnt wird: »Im Rayon Potschep (Nähe Brjansk) wurde eine Einzelaktion durch ein Ukrainer-Bataillon unter Führung deutscher Offiziere […] am 2.6. beendet. Der Gegner hatte 340 Tote, während die gleiche Zahl in der Desna ertrunken ist.«220 Am darauffolgenden Tag erfasste Isselhorst wieder der Alltag. So bereitete er eine weitere Partisanen-»Aktion« in Krasny vor, die am 12. Mai von Waldemar Klingelhöfer durchgeführt wurde. Klingelhöfer (Jg. 1900) wurde nach dem Krieg im Zuge des Einsatzgruppenprozesses für schuldig befunden, mehrere Tausend Menschen während seiner EG-Zeit ermordet zu haben. Er wurde zum Tode verurteilt, jedoch kurz darauf begnadigt. Bereits 1956 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen.221 Während dieses Einsatzes schrieb Isselhorst in seinem Tagebuch von der Planung des neuen EG-Quartiers. Er erwähnte verschiedene Gespräche mit dem Stadtkommandanten und der Bauinspektion der Heeresgruppe Russland Mitte und war zufrieden mit den Ergebnissen, obgleich der Umzug voraussichtlich erst im Herbst vollzogen werden sollte.222 Auch wenn Isselhorst zunächst kaum in die »Aktionen« und tatsächlichen Kämpfe einbezogen war, so bewunderte er in den Tagebuchaufzeichnungen wiederholt die Tatkraft seiner Kameraden, zumal diese in seinen Augen besondere Leistungen vollbrachten: »Einer unserer Partisanen-Truppführer hat bei einem nächtl. Angriff regulärer russischer Truppen u. Partisanen auf das Dorf außerordentlichen Mut bewiesen und mit wenigen seiner Männer das Dorf gehalten. Die auf Befehl eines Hauptmannes bereits weichende deutsche Infanterie hat er wieder nach vorne gerissen. Er wurde zum EK 1.Kl. vorgeschlagen! Feine Leistung!«223

Deutlich differenzierte Isselhorst hier zwischen der regulären Armee, die sich bereits zurückzog und der Sicherheitspolizei beziehungsweise der SS, die eben auch in den schwierigsten Situationen ihre Tapferkeit unter Beweis stellte. Diese Art von Beschreibung verdeutlicht auch das eigene Elite-Empfinden Isselhorsts hinsichtlich der Gestapo jener Zeit. Isselhorst stand mit den Wehrmachtsdienststellen im ständigen Kontakt. Diese enge Zusammenarbeit wurde auch auf Lehrgängen vertieft, 219 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 10.05.1942). 220 MbO 8 vom 19.06.1942, S. 365. 221 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 316. 222 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 13./15.05.1942). 223 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 15.05.1942).

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BEI DEN EINSATZGRUPPEN

in denen Wehrmachts-, Waffen-SS-, diverse Polizei- und Gestapo-Angehörige in Vorträgen über die Vorgehensweise bei Partisanen- und Judenaktionen informierten. So bereite Isselhorst am 19. Mai den Vortrag mit dem »Thema: »Auswahl und Einsatz v. V-Leuten, Zusammenarbeit mit der Truppe; die Judenfrage« vor.224 Es ist anzunehmen, dass dieser Vortrag für einen Lehrgang ausgearbeitet wurde, der 1942 das zweite Mal stattfinden sollte. Bereits ein Jahr zuvor wurde ein solcher Lehrgang vom 24.–26. September 1941 in Mogilew abgehalten. In dem vom Oberstleutnant der Schutzpolizei Max Montua organisierten Treffen wurden neben Vorträgen der verschiedenen Einheiten (Beiträge u.a. vom HSSPF Erich von dem Bach-Zelewski und dem Chef der EG Mitte Arthur Nebe) auch praktische Übungen derartiger »Aktionen« durchgeführt. So wurden in Knjashizy, einer Ortschaft nahe Mogilew, vom Polizeibataillon 322 im Zuge der Vorführung, ohne dass überhaupt eine Gefahr von Partisanen bestand, 32 Juden erschossen.225 Am 20. Mai nahm Isselhorst an der Tagung teil und hielt seinen vorbereiteten Vortrag. Mit anwesend bei der Tagung waren – wie im vorherigen Jahr – der General der Infanterie Max von Schenckendorff und der HSSPF Erich von dem Bach-Zelewski.226 Der geplante Neubau des EG-Quartiers wurde von Isselhorst in den kommenden Wochen fortwährend beschrieben. Für die Bauarbeiten wurden am 27. Mai 400 Juden als Zwangsarbeiter nach Smolensk transportiert, deren Versorgung auch in der Hand von Isselhorst lag. »Heute viel weggearbeitet; wenn der Chef Morgen zurückkommt, habe ich doch keine rechte Ruhe mehr dazu! Besprechungen mit Offizieren u. Wehrmachtsbeamten (Prüfung von Arbeitslagern; Judenproblem!) Verpflegung ist in der letzten Zeit sehr gut! Seit einigen Tagen erhalten wir jeden Abend 4–8 Apfelsinen, Tabak, Süßigkeiten als Zugabe! […] Morgen soll ein Transport mit 400 Juden für unseren Neubau ankommen. Unterbringung, Verpflegung, Bewachung macht mir Sorge! Die kräftigen Erfolge unserer Truppen an der Südfront heben die Stimmung. Leider geht es wohl bei uns vorläufig nicht weiter.«227

Explizit wurden hier die Bereiche Arbeitslager und »Judenproblem« genannt, in denen Isselhorst als Stabsleiter der EG B mit der Wehrmacht zusammenarbeitete. Die nächsten Tage führte er laut Tagebuchaufzeichnungen diverse Inspektionsbesuche auf der Baustelle durch. Dass Isselhorst höhere Ambitionen hatte und seine Tatkraft einbringen wollte, lässt die Tatsache erkennen, dass er sich nach der Urlaubs-Ankündigung 224 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 19.05.1942). 225 Vgl. Förster, Jürgen: Die Wehrmacht im NS-Staat. Eine strukturgeschichtliche Analyse, 2. Auflage, München 2009, S. 91. 226 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 20.05.1942). 227 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 26.05.1942).

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ERICH ISSELHORST: KONSTRUKTION UND REKONSTRUKTION EINER BIOGRAPHIE

des EK-Führers Wilhelm Wiebens am 2. Juni persönlich als Vertretung vorschlug: »Wiebens kommt nachmittags; dienstl. Besprechungen. W[iebens] will im laufenden Monat in Urlaub. Vertreter wird gesucht; ich schlage C[hef] vor, mich solange das Kommando führen zu lassen. Keine Gegenliebe.«228 Zu diesem Zeitpunkt war Isselhorst bereits seit knapp vier Monaten bei der EG B, hatte an diversen Partisanenaktionen teilgenommen, besprach sich beinahe täglich mit den Führern der Einsatzkommandos. Ihm musste also bekannt sein, welche Art von Aufgaben mit der Übernahme eines EK auf ihn zukommen würde. Dennoch meldete er sich freiwillig. Ein deutliches Indiz dafür, dass die Einsatzbereitschaft von Isselhorst keineswegs alleine auf einem Befehlszwang beruhte. Am 3. Mai beschrieb Isselhorst eine Situation, in der er beinahe das Opfer einer missglückten Kommunikation zwischen der EG und der Luftabwehr bei Oryol geworden wäre, einer Ortschaft knapp 400 Kilometer südöstlich von Smolensk gelegen: »Um 9.h Start mit C[hef] nach Oryol (Fieseler-Storch) mit einer Zwischenlandung um 12.15 h Oryol gelandet; schöner Flug. Auf der Straße S.-Briansk-Oryol reißt der Verkehr nicht ab. Eine Armee scheint unterwegs zu sein. (Richtung Kursk), wahrscheinlich zur Abschirmung nach Norden zu beim Großangriff an der Südfront. Nach der Landung erfahren wir, daß wir beinahe das Opfer unserer eigenen Flak geworden wären: unsere Maschine war nicht gemeldet, außerdem fehlt der vorgeschriebene gelbe Streifen! Erst in letzter Sekunde ist die Luftwaffe durch Ott verständigt worden! Das wäre ein schöner Heldentod geworden! […].«229

Ein anderer »Held« von Isselhorst starb allerdings einen Tag darauf. Reinhard Heydrich erlag am 4. Juni 1942 seinen Verletzungen, die er durch das Prager-Attentat acht Tage zuvor erlitten hatte. Diese Meldung wurde von der EG, aber insbesondere von Isselhorst, mit Entsetzen aufgenommen und alsbald mit Vergeltungsaktionen beantwortet: »4.6. […] Abend ereilt uns die Nachricht vom Ableben Heydrichs. Es ist scheußlich. Dem Führer bleibt nichts erspart. Für uns u. unsere Sache ist es ein harter, fast unersetzlicher Todesfall. Wer wird Nachfolger? (Best? Er wäre der Geeignetste!). Brief No. 11 von Gustel angekommen. 5.6. […] Um 11 Uhr Appell des Stabes im Stahlhelm. Gedenkrede des OF auf Heydrich. Brief an Hans geschrieben! C und ich unterhalten uns lange über Heydrich, seinen vermeintlichen Nachfolger u.a.m. Meldung, daß Wehrmacht PKW auf Autobahn Minsk-S. auf Mine gefahren ist: 6 Tote! Soweit wagen sich also die Partisanen schon vor! 6.6. […] Vorbereitungen für unser Partisanenunternehmen, das OF selbst durchführen will. Er startet mit Kolonne um 15h. Das plötzlich 228 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 02.06.1942). 229 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 03.06.1942).

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BEI DEN EINSATZGRUPPEN

einsetzende Regenwetter wird viele Hindernisse bringen. […] Eine spät einlaufende Meldung besagt, daß Teile der Schupo wegen der schlechten Straßen nicht zur vorgesehenen Zeit in vorgesehenem Raum sein konnten. Spät abends eine sehr harte Kontroverse mit UStuf H., der wegen seiner unbeherrschten Benehmens u. seiner Disziplinlosigkeit schon oft bei allen aufgefallen ist. 7.6. […] Die Partisanenaktion ist abends beendet; sie verlief, wie ich befürchtet habe, erfolglos, weil keine P. in dem durchkämmten Gebiet waren. 8.6. [...] Chef in Berlin für Staatsakt wegen Tod Heydrichs, ruhiger Arbeitstag; […] 9.6. Um 15h Gemeinschaftsempfang anläßlich des Staatsaktes in Bln. Wir sind alle tief ergriffen von den Ausführungen des RFSS und des Führers. Die Ehrung Heydrichs erstreckt auf uns alle u. seinen Apparat. Noch nie war ein Staatsakt so getragen von der weltanschaulichen Kämpfernatur eines Nationalsozialisten wie dieser. Zu spät wird das deutsche Volk aus den Worten des Führers u. RFSS entnommen haben, was H. war, was er leistete und wieviel ihm zu verdanken ist. Wie wird sich das alles auf uns auswirken?«230

Die angespannte Lage durch den Tod Heydrichs, die missglückte Partisanenaktion, der Anschlag auf das Wehrmachtsfahrzeug mit sechs Toten – dies alles schien die Stimmungslage zu jener Zeit bei Isselhorst, aber wohl auch in der gesamten EG deutlich zu verschlechtern. Indes änderte dies nichts am von Isselhorst in seinem Tagebuch beschriebenen üblichen Tagesablauf. Weiterhin bestimmten die Baumaßnahmen des Zwangsarbeiterlagers seine Aufzeichnungen, sowohl in Besichtigungen, als auch Besprechungen, wie die am 12. Juni mit einem Vertreter des SS-Standartenführers Hans-Joachim Tesmer.231 Tesmer (Jg. 1901) war Leiter der Abteilung Kriegsverwaltung der Heeresgruppe Mitte und somit maßgeblicher Ansprechpartner hinsichtlich der Zwangsarbeiterlager. Nach dem Krieg lebte er ein unbehelligtes Leben als Jurist in Hamburg.232 Noch zu erwähnen, weil dies für Isselhorst in späterer Zeit von Bedeutung sein würde, war die Tatsache, dass die EG B am 28. Mai zwei neue Stenotypistinnen erhielt, mit denen er in den kommenden Wochen und Monaten vermehrt seine Freizeit verbrachte.233 Die Fotoaufnahmen aus dem Sommer 1942 illustrieren die Zerstörungen in Smolensk. Isselhorsts Aufnahmen sollen die enorme Stärke 230 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 04.–09.06.1942). 231 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 12.06.1942). 232 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 620. 233 Vgl. RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 28.05./14./30.06./25./26./31 .07./10./24.10.1942).

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des deutschen Angriffes darstellen und gleichzeitig Smolensk als historischen Ort des Ostfeldzuges dokumentieren.

Abb. 16 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 22.

Abb. 17 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 19.

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Abb. 18 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 24.

Abb. 19 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 27.

Mitte Juni 1942 begab sich Isselhorst auf eine Dienstreise nach Berlin, die er mit einem Besuch bei seiner Frau in Düsseldorf verband. Am 20. und 24. Juni notierte er zwei Besprechungen im RSHA.234 Mit seiner 234 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 20./24.06.1942).

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Rückkehr nach Smolensk am 30. Juni kehrte Isselhorst wieder in seinen gewohnten Arbeitsalltag zurück: »Gleich wieder die normale Überarbeit. Ebenso ›normal‹ verlaufen die übrigen Tage. Der Beginn der Ostoffensive, die genau an der Naht MitteSüd angesetzt ist, gibt fabelhaften Auftrieb. Auch Rommels ›Wüstenritt‹ trägt zu einer erheblichen Verbesserung der Stimmung bei. Die Anwesenheit der beiden deutschen Mädels wirkt sich arbeitsmäßig als Entlastung aus. Sie schaffen uns manche Annehmlichkeiten. […]«235

Am 10. Juli flog Isselhorst gemeinsam mit seinem Chef Naumann nach Pechovo(?), um eine Partisanenaktion durchzuführen. Hierbei fanden auch Besprechungen mit EK Führer Heinz Richter statt.236 Der Sommer der EG B liest sich in den Tagebuchaufzeichnungen Isselhorsts als eher ruhiger Abschnitt. Sowjetische Zeitzeugenaussagen belegen jedoch, dass zu jener Zeit weiterhin regelmäßige Exekutionen von der Sipo durchgeführt wurden.237 Für Isselhorst bestimmten die Inspektion des Neubaus und dessen Fortschritt die meiste Zeit seiner Arbeit. Demgegenüber werden verschiedene Ausflüge und zahlreiche Festlichkeiten erwähnt, an denen Isselhorst bis spät in die Nacht teilnahm. Dass diese mitunter ausufernden Abendveranstaltungen zum festen Bestandteil seiner Zeit in Smolensk gehörten, lässt sich an den zahlreichen, zum Teil täglichen Aufzeichnungen von Feiern und alkoholbedingten Unpässlichkeiten am Folgetag belegen. 238 Alkoholkonsum war demnach ein fester Bestandteil des Alltagslebens. In den Lageberichten an das RSHA wurde indes auf die stets anschwellende Gefahr durch Partisanen, die schlechte Versorgungslage, sowie die daraus resultierende Verschlechterung der Stimmungslage innerhalb der Bevölkerung hingewiesen.239 Auch die ersten Großangriffe auf Düsseldorf beunruhigten Isselhorst, der am 2. August besorgt an seine dort lebende Mutter schrieb. Weiterhin hoffnungsvoll äußerte sich Isselhorst da­ rin über die militärischen Siegeschancen: »Das wichtigste ist der Süden, und wenn dort alles geklappt hat, dann ist das Glück des Ostfeldzuges abzusehen.«240 Der Tätigkeits- und Lagebericht vom 1. September 1942 für den Zeitraum vom 16.–31. August 1942 spricht ebenfalls von beinahe täglichen Attacken der Partisanen. Jedoch werden auch größere »Aktionen« der 235 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 30.06.1942). 236 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 10.07.1942). 237 Vgl. Kohl, Paul: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941– 1944 Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt a. M. 1995, S. 166 238 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 25.–27./31.05/­10./11.06/­04./05./10. /12.//22./23./31.07./01.08.1942). 239 Vgl. MbO 14 vom 31.07.1942, S. 398f. 240 RW 0725 Nr. 29 (Brief vom 02.08.1942).

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Sipo beschrieben, in denen die Verbindungsstraßen zwischen den größeren Ortschaften gesichert werden sollten. »Über die im Anschluss an das Unternehmen ›Adler‹, worüber bereits berichtet wurde, in der Zeit vom 16. u. bis 29.8.1942 durchgeführte Aktion ›Greif‹ liegt ein abschliessendes Ergebnis noch nicht vor. Ziel dieses Unternehmens war, den Raum beiderseits der Strasse Orscha-Witebsk, und zwar nördlich der Rollbahn, zu befrieden.«241

Die »Sonderbehandlungen« wurden während der gesamten Zeit fortgesetzt, so dass am 1. September bereits eine Gesamtzahl von 126.195 getöteten Opfern vermeldet werden konnte.242 Dementsprechend hatte die Einsatzgruppe B nach eigenen Angaben in einem halben Jahr, zwischen März und September 1942, etwa 35.000 Menschen getötet. Kurz vor seinem Urlaub im September erhielt Isselhorst in Abwesenheit seines Chefs die Meldung vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, dass die EG B Mitte September aus dem bestehenden Quartier umziehen sollte. »Bis 14 Uhr intensiv gearbeitet. Böse Überraschung: wir müssen auf Befehl des Oberbefehlshaber Heeresgruppe Mitte unsere Unterkunft räumen, u.z. in der Zeit zwischen 10.–15.9.! Ich ziehe mich aus Verhandlungen zurück, berufe mich auf alleinige Entscheidung des Of., um damit Zeit zu gewinnen. […] v. Mold(?) hat es sehr eilig; er will unbedingt mich oder den OF sprechen. Zum Glück ist OF Mittags wieder nach Stara Bezchno(?) geflogen. In Verhandlung mit Oberstltnt. Prelle (Stadtkommandant) stelle ich fest, daß Ausweichquartiere nicht vorhanden sind. Möglichkeiten kann nur die Befehlsstelle […] 9 u. OKH beschaffen. Sie bietet an: deutsches Haus (Haus der Sowjets) oder Baracken in Neubaugelände! Es wird ein hartes Stück Arbeit!«243

Aufgrund seines Heimaturlaubes, der vom 11. September bis zum 5. Oktober dauern sollte, umging Isselhorst diese unangenehme Situation. Gemeinsam mit den beiden Stenotypistinnen fuhr er am 7. September gen Heimat, wo er am 9. September eine Besprechung im RSHA hatte: »Dienstliche Besprechung beim RSHA Berlin. Für mich ist die Hoffnung des OF Schulz (IA) von Bedeutung, wonach RFSS seinen Groll begraben hat. Ich soll wieder in selbstständiger, führender Stellung tätig werden. Zunächst soll ich EK8 oder SK7b übernehmen. Ich bin angenehm überrascht 241 Tätigkeits- und Lagebericht der Einsatzgruppe B vom 01.09.1942 für die Zeit von 16.8.–31.08.1942 (Auszüge); abgedruckt in: Mallmann, KlausMichael; Cüppers, Martin; Angrick, Andrej und Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941–45: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Band II. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2013, S. 381–404, hier: S. 398. 242 Vgl. Ebd. S. 404. 243 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 04./05.09.1942).

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und habe mir das Herz genommen, darauf hinzuweisen, daß ich zwar gerne im Rußlandeinsatz bin, daß dieser aber für mich unter Begleitumständen vor sich ging, die mich nach wie vor unangenehm belasten. Für mich persönlich sei daher eine endgültige Bereinigung erst dann gegeben, wenn ich mit einer anderen, meinen Kenntnissen, Fähigkeiten und der bisherigen Laufbahn u. Arbeit entsprechenden Aufgabe betraut würde. OKK(?) Trautmann fragte, ob ich eine Kommandurstelle in einer großen, bedeutenden Stadt annehmen würde, was ich bejaht habe. Aus den von ihm gemachten Notizen glaubte ich ›Warschau‹ entziffern zu können. Mit OF Schulz habe ich mich dahingehend besprochen, daß ich ihn am Ende meines Urlaubs noch einmal aufsuchen werde. Abends mit Sp. u. M. [gemeint sind die beiden Stenotypistinnen; Anm. d. Verf.] ins Kino (Ufa). […].«244

Auch an diesem Eintrag wird die Einsatzbereitschaft Isselhorsts deutlich, der sich über die Führung eines Einsatzkommandos freuen würde. Die Kenntnisse über deren Methoden scheinen kein Hindernis oder Hemmungen in ihm hervorzurufen. Ganz im Gegenteil: Auch nach den Erfahrungen eines halben Jahres will Isselhorst mehr Verantwortung erhalten und seine Tatkraft im Sinne der NS-Bewegung einbringen. Die Karriere und die ideologischen Ziele der NS-Bewegung schienen an dieser Stelle die Priorität zu besitzen. Auch der gezielte Wunsch, in eine höhere Position zu wechseln, ist ein Beleg für das Empfinden Isselhorst als »Elite« der Sicherheitspolizei und für seine diesbezügliche Einsatzbereitschaft. Andererseits deuten die erwähnten aber nicht präzisierten belastenden »Begleitumstände« daraufhin, dass Isselhorst mit seiner Tätigkeit nicht gänzlich zufrieden ist. Unklar bleibt, ob diese Belastung von den miterlebten Handlungen der Einsatzgruppe oder von seinem angespannten Verhältnis zu Himmler herrührt. Im Tätigkeits- und Lagebericht der Einsatzgruppe B für die kurze Zeitspanne der ersten beiden Wochen im September wurden weitere Opfer angegeben: »IV. Sonderbehandelt wurden vom: Sonderkommando 7a: 54 Zigeuner, 21 Banditen, 10 Kommunisten, 3 Kriminelle, 1 Geisteskranker Sonderkommando 7b: 46 Zigeuner, 3 Kommunisten, 13 Geisteskranke Sonderkommando 7c: 90 Zigeuner, 101 Banditen, 19 Kommunisten, 9 Asoziale u. Geisteskranke Einsatzkommando 8:

3 Zigeuner, 70 Banditen, 25 Kommunisten, 8 Kriminelle, 5 Geisteskranke

Einsatzkommando 9:

10 Zigeuner u. Asoziale, 79 Banditen, 3 Kommunisten, 1 Kommunist, 10 Kriminelle

244 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 09./10.09.1942).

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Trupp Smolensk:

98 Zigeuner, 43 Banditen, 3 Kommunisten, 12 Asoziale u. Kriminelle«245

Die MbO vom 25. September verdeutlicht, dass das Gebiet um Smolensk, trotz der zahlreichen »Aktionen« der Einsatzgruppe, weiterhin Probleme bereitete: »Auch im Raume um Smolensk konnte eine besondere Aktivität der Banden festgestellt werden. Die bisher durchgeführten militärischen Aktionen waren nicht umfassend genug, um in den durchkämmten Gebieten die Banden grundsätzlich auszurotten.«246 Nach seinem Heimaturlaub, in dem er auch die beiden Stenotypistinnen besuchte, befand sich Isselhorst ab dem 5. Oktober wieder in Smolensk. Kurz zuvor konnte die Einsatzgruppe B einen Erfolg bei den Bandenbekämpfungen in Smolensk, Krasny Bor und Umgebung vermelden, als eine Gruppe von 165 Personen festgenommen werden konnte, die mit den nördlich von Demidow stehenden russischen Truppen kollaborierten. Zudem konnte eine weitere Gruppe von 53 Personen bei Kolodjna (4 km ostwärts von Smolensk) zerschlagen werden.247 Am 7. Oktober erwähnte Isselhorst den Abflug seines Chefs Richtung Borissow, wo eine »Aktion« stattfinden sollte.248 Der Neubau des Quartiers war noch nicht abgeschlossen und auf November verschoben, doch erreichten Isselhorst am 8. und 9. Oktober gleich zwei für ihn positive Meldungen: »Der OK Heeresgruppe Mitte verleiht uns 31 KVK. Liste aufgesetzt. Diesmal bin ich dabei! Morgen soll ich mit OF in seinen Gefechtsstand fliegen; er will mich einweisen, damit ich während seiner Abwesenheit das Unternehmen führen kann. Das macht mir große Freude! […].«249

Aufgrund des schlechten Wetters am kommenden Tag wurde der Flug jedoch abgesagt. Stattdessen beschrieb Isselhorst eine weitere Inspektion des Neubaus.250 Während eines Besuchs in Mogilew bekam er dann seine Abkommandierung zur Einsatzgruppe A nach Krasnogwardeisk (heutiges Gattschina, bei St. Petersburg) mitgeteilt.251 Mürrisch ob dieses 245 Tätigkeits- und Lagebericht der Einsatzgruppe B für die Zeit vom 01.9.– 15.09.1942 (Auszüge); abgedruckt in: Mallmann, Klaus-Michael; Cüppers, Martin; Angrick, Andrej und Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941–45: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Band II. Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2013, S. 405–426, hier: S. 423. 246 MbO 22 vom 25.09.1942, S. 455. 247 Vgl. MbO 23 vom 02.10.1942, S. 460f. 248 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 07.10.1942). 249 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 08./09.10.1942). 250 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 10./11.10.1942). 251 Vgl RW 0725 Nr. 23 (Kopie des Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 47 vom 24 Oktober 1942: »Abgeordnet: SS-Obersturmbannführer ORR, Dr. Isselhorst (z.Zt. E.-Gr. B) zur E.Gr. A«).

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plötzlichen Wechsels schrieb Isselhorst: »Ich habe auch nur dazu wirklich Lust nach K[rasnogwardeisk] zu gehen, wenn es dort losgeht. Im anderen Falle kann ich auch hier überwintern.«252 Isselhorst blieb noch ein paar Wochen in Smolensk und konnte aufgrund des Heimaturlaubes seines Chefs Mitte Oktober an einer Partisanenaktion teilnehmen, die er gemeinsam mit einem Hauptmann Siegling (»Ich werde wohl mit diesem Mann nie zurecht kommen!«253) bereits am 16. Oktober besprach.254 Hans Siegling (Jg. 1912) nahm als Kommandeur von Polizeiund Schutzmannschaftsbataillonen während des Krieges an zahlreichen Massenmorden teil. Nach dem Krieg lebte er ein unbehelligtes Leben in Süddeutschland.255 Am 18. Oktober begann diese zwei Tage dauernde »Aktion«. Isselhorst beschrieb in seinem Tagebuch, wie er mit dem Kübelwagen am Stützpunkt des Hauptmannes ankam und er feststellte, dass die gesamte Kompanie bereits zur »Aktion« ausgerückt war. Aufgrund der noch frischen Reifenspuren nahm Isselhorst die Verfolgung auf. Wahrscheinlich, weil dies der erste mehrtägige Einsatz war, an dem Isselhorst teilnahm, beschrieb er ihn ausführlich: »18.X. […] Nach ungemütlicher Fahrt durch bekanntes Partisanengebiet – die Dörfer sind abgebrannt, hier und da sieht man mal eine verdächtige Gestalt auftauchen und verschwinden – stoße ich unerwartet auf die Gruppe Hill(?), die ebenfalls Unternehmen angesetzt hatte. Erst jetzt stelle ich fest, daß ich falsch gefahren und den Spuren Hills(?) gefolgt bin. Ein toller, glücklicher Zufall! Nach kurzer Lagebesprechung wieder denselben Weg bis zur Rollbahn zurück. Dann richtige Spuren gefunden, denen wir (Reisinger, mein treuer und zuverlässiger Fahrer und Zugwachtmeister d. Sch.Pol. Stubing(?)) nunmehr folgen. Selewize(?) wird erreicht. Die Kpgmie ist jedoch nicht dort, weil von dem Ort nichts mehr steht! Weiterfahrt den Spuren nach; Gebiet und Lage unheimlich, doch wäre die Rückfahrt nicht minder gefährlich gewesen. Schließlich finden (und hören!) wir die Kompagnie [sic] und Kosdeuki(?), einem vollkommen zerstörten Ort, von wo aus sie mit ihren schweren Waffen gerade das Waldgebiet bestreut, dessen Rand wir durchfahren haben und in dem größere Partisanenbanden aufgrund der Aussagen von Bewohnern vermutet werden. Übernachtung in Kosdeuki(?). Das russische Bauernhaus, in dem ich mit Siegling und 3 Pol. Meistern einquartiert habe, macht einen verhältnismäßig sauberen Eindruck. Es hat sogar zwei(!) Zimmer, sodaß Russen und wir getrennt schlafen können. Nachts Feuerüberfall 252 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 13.10.1942). 253 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 23.10.1942). 254 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 16.10.1942). 255 Vgl. Klemp, Stefan: »Nicht ermittelt«. Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz. Ein Handbuch. 2. Auflage, Essen 2011, S. 87ff.

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durch Partisanen; sie werden im zusammengeführten Feuer unserer Waffen zurückgeschlagen. 19.X. Die Kompagnie [sic] stößt um 7.30 h in den Wald vor – Ziel ist Wylas, angeblich, ein Försterhaus. Dort sollen die Partisanenlager sein. Während Si[egling] mit seinen beiden Panzern auf dem Wege bleibt und dauernd(!) feuernd vorfährt, gehe ich mit der ausgeschwärmten Kpnie. mit M Pi bewaffnet, zu Fuß vor. An einer […] gesprengten Hütte sind die Panzer zum Halten gezwungen. Ich stoße mit Meister Weichsmer(?) alleine vor bis Wylas, wo wir frische Spuren finden und in etwa 300 mtr Entfernung Hundegebell hören. Wir finden noch einen verlassenen Bunker und ein hochgegangenes Munitionslager; ein weiteres Vordringen erscheint mir bei dem evtl. zu erwartenden Widerstand zwecklos; ich warte daher das Eintreffen der Männer ab. Dadurch verlieren wir 1 1/2 Stunden Zeit. Als wir in den dichten, urwaldähnlichen Wald vorstoßen finden wir ein kleines (32 Hütten) und später das Hauptlager (79 Hütten) der Partisanen. Sie waren fluchtartig verlassen, wie wir an vielen feststellen konnten; in dem Hauptlager glimmten noch zwei Lagerfeuer. Nach Zerstörung stoßen wir – zwei Panzer, mein Wagen und ein Krad – durch den Wald in Richtung [...] Ost auf die Rollbahn durch, die wir mehrmals hin und her befahren. Sie ist befahrbar, wenn auch schwer beschädigt. Seit 6 Monaten ist diese Straße gesperrt! in Perunovo(?) treffen wir erneut die Gruppe Hill. Auch sie hat etwa 1 Km von uns entfernt ein größeres Waldlager gefunden und zerstört. Damit dürften die wichtigsten und größten Lager der Banden beseitigt sein; sie selbst sind wahrscheinlich nach Norden hin zu ihrer Hauptgruppe ausgewichen. […] 20.X. […] Lage und Einsatzbesprechung in Mogilew mit v. d. Bach – sehr zufrieden mit Erfolgen; für weitere Erkundung wird Fieseler Storch zur Verfügung gestellt; kurze Besprechung mit EK 8 danach Rückkehr nach Smolensk, Besorgnis um Gustel, abends eine Fl. Wein getrunken.«256

Auch wenn es während des Einsatzes zu keinem direkten Feindkontakt kam, so macht die Beschreibung die Vorgehensweise der Sicherheitspolizei bei Partisanenaktionen deutlich. Und auch sechs Tage später begab sich Isselhorst auf einen weiteren mehrtägigen Einsatz: »26.–29.X. Unternehmen an Rollbahn gestartet. […] Ich fahre um 16h mit einem Panzerspähwagen des Pol. Reg. 14 […] nach Tsche.(?), wo ich übernachte. Abends Brief No 7 an Gustel. Am 27.X. mit Panzer auf Rollbahn […] keine Feindberührung bis auf ein kleines Feuergefecht von d. Rollbahn aus. In Per. in Bauernhaus übernachtet. Am 28.X, kommt R (Rodjanoff) von Rollbahn zwischen Per[unowo] und Kaplanowka(?) aus Wald […]. Die in diesem Raum gemeldete Bande ist nicht mehr da. Um 14 Uhr Batt. Hill in Swyschin(?) verlassen und über Tsche. 256 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 18.–20.10.1942).

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nach Mogilew. Die Fahrten im Pa[nzer] Spähwagen haben mich schwer durcheinandergeschüttelt. Sehr interessant, spannend. Leider keine Feindberührung, aber wieder 7 Lager vernichtet. Banden halten sich im Raum nicht mehr auf; wir können mit der Sicherung der Rollbahn (Abholzung usw.) beginnen. OF ist 28.X.: unterwegs, nachdem ich ihn leider am 26.X. durch Ft aus dem Urlaub holen mußte. Der OGruf wollte ihn unbedingt sprechen, da Großaktion im weißruth. und großrußischen Raum unter Führung des OGruf beginnt (RFSS-Befehl). OF soll wahrscheinlich die Leitung der SU-mäßigen Erkundungsaufgaben haben.«257

Die letzten Wochen bei der Einsatzgruppe brachten verschiedene Beförderungen und daran geknüpfte Festlichkeiten. Zunächst wurde Chef Naumann am 1. November zum Generalmajor befördert, was nach seiner Rückkehr aus Mogilew am 2. November gefeiert wurde: »OF zurück, große Feier; »Ich muß also nun doch nach Krasnogwardeisk. Abreisetermin soll der kommende Montag sein; […] Stimmung über mich in Berlin ist wieder ausgezeichnet. OF rechnet damit, daß ich garnicht sehr lange in K[rasnogwardeisk bin] (Inspekteur? Bef[ehlshaber]?) Kräftemangel ist groß! […].«258

Aufgrund des beschriebenen Rollbahn-Unternehmens schlug Naumann Isselhorst für das KVK Erster Klasse vor. Nach einer weiteren missglückten Partisanenaktion in Smolensk am 5. November259 erreichte Isselhorst am 7. November die Nachricht, dass sein Chef Naumann auch im SSOffiziersrang zum Brigade-Führer befördert wurde. Dies, in Verbindung mit der Verleihung des KVK Erster Klasse sowie des KVK mit Schwertern an Isselhorst, sorgte für beste Stimmung und ein rauschendes Fest.260 Seinem Abschied aus Smolensk am 9. November folgten einige Tage Heimaturlaub sowie einige Besprechungen im RSHA in Berlin, die von Isselhorst positiv aufgenommen wurden. (»Gustel wird sich freuen, daß Sch[ulz] schon im Frühjahr für anderweitige Beschäftigung Sorge tragen will! Ich habe deutlich erklärt, daß ich mich mit Posten in der bisherigen Form nicht mehr zufrieden geben kann.«261) Die im Dezember 1942 erhobene Gesamtzahl der getöteten Menschen durch die Einsatzgruppe B wurde im Tätigkeits- und Lagebericht mit 134.198 angegeben.262 Während seiner Einsatzzeit in Smolensk waren 257 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 26.–29.10.1942). 258 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 02.10.1942). 259 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 05.11.1942). 260 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 07.–08.11.1942). 261 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 16.11.1942). 262 Tätigkeits- und Lagebericht der Einsatzgruppe B für die Zeit vom 15.11– 15.12.1942; abgedruckt in: Mallmann, Klaus-Michael; Cüppers, Martin; Angrick, Andrej und Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Besatzungsherrschaft

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dementsprechend etwa 43.000 Menschen von der Einsatzgruppe B getötet worden. Über Riga erreichte Isselhorst am 19. November seine neue Dienststelle in Krasnogwardeisk. 3.3.2 Einsatzgruppe A (Krasnogwardeisk) Mit dem Wechsel nach Krasnogwardeisk (Gattschina) zur Einsatzgruppe A ergaben sich einige Änderungen im täglichen Arbeitsablauf sowie in den Bedingungen, in denen die Sicherheitspolizei operierte. Bereits im Jahr 1941 wurde der Großteil der dort ansässigen Juden durch zahlreiche Pogrome der einheimischen Bevölkerung getötet beziehungsweise durch die Sicherheitspolizei deportiert oder ermordet. In Litauen bildete die Ermordung der Juden gar einen wesentlichen Aspekt der Nationalbewegung und fand große Unterstützung in der einheimischen Bevölkerung. Etwa 95 Prozent aller in Litauen lebender Juden wurden getötet und drei Viertel davon bereits im Jahr 1941.263 Auch der Bericht Walter Stahleckers vom 31. Januar 1942, in dem er das estnische Gebiet als »judenfrei«264 bezeichnete, sowie die Nennung von weiteren über 200.000 jüdischen Opfern lassen darauf schließen, dass die Deportationen beziehungsweise das »Judenproblem« in diesem besetzten Gebiet im Jahr 1943 kaum mehr ein dominierendes Arbeitsgebiet der Sicherheitspolizei war. Als Isselhorst im November eintraf, fielen ihm direkt infrastrukturelle Probleme der Dienststelle ins Auge: »Um 11 h nach Nataljewka gefahren; dort sitzt der Stab! Ein kleines Russendorf, etwa 20 Km von Kr[asnogwardeisk]. entfernt, in der sich Tschierschky, mein Vorgänger, zur Vorbereitung auf das Unternehmen ›Sommer‹ (B) zurückgezogen hatte. Sauberes Häuschen, aber wie in der UdSSR 1941–45: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, Band II, Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2013, S. 493–499, hier: S. 499. 263 Vgl. Ritter, Rüdiger: Arbeitsteiliger Massenmord: Kriegsverbrechen in Litauen während des Zweiten Weltkriegs; in: Richter, Timm (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 53–62. Vgl. auch: Neumann, Alexander; Peckl, Petra u. Priemel, Kim: Ausbildung zum Massenmord. Die Beteiligung des Führernachwuchses der Sipo am Holocaust in Litauen im Jahr 1941; in: Richter, Timm (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 63–73. 264 Vgl. mit Karte aus Stahlecker-Bericht, 31. Januar 1942. Abgedruckt in: Wette, Wolfram: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 2012 (zuerst 2011), S. 148. Wette datiert die Karte auf das Jahr 1944. Allerdings ist sie Teil des Stahlecker-Berichts an Reinhard Heydrich vom 31. Januar 1942.

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unpraktisch! Jeden Tag fahren mindestens zwei Wagen hinaus. Die Straße ist besonders im letzten Teil, unter jeder Kritik (Sturzacker, gefroren!) Fast alle Wagen sind bereits in Reparatur. Und das Benzin, das da verfahren wird! Außerdem liegt ein Teil des Kommandos in Kr[asnogwardeisk]! Kein Zusammenhang! Ich glaube, ich kann gleich mit dem anderen anfangen!«265

Seine neue Aufgabe bestand in der Leitung des Einsatzkommandos 1. Die ersten Tage an der neuen Dienststelle waren geprägt von Fahrten in kleinere Dörfer der Umgebung, in denen Teilkommandos stationiert waren. Insgesamt notierte Isselhorst: »Alles macht einen ganz anderen Eindruck als Smol[ensk]. Leblos, nur hier u. da Schüsse, die die Nähe zur Front anzeigen.«266 Andere Gepflogenheiten änderten sich hingegen nicht und wurden weiterhin ausführlich in seinem Tagebuch notiert. So wurde am zweiten Tag nach seiner Ankunft der Oberbefehlshaber der 18. Armee, Generaloberst Georg Lindemann, zum Dienstantritt besucht. Im Schloss, in dem die 18. Armee stationiert war, wurde am gleichen Abend der Abschied von Isselhorsts Vorgänger, Obersturmbannführer Karl Tschierschky, gefeiert. Tschierschky (Jg. 1906) lebte nach dem Krieg unbehelligt in Frankfurt a. M. Erst 1973 wurde gegen ihn Anklage erhoben. Durch seinen Tod am 18. September 1974 entging er jedoch einer Verurteilung.267 Isselhorst war von Tschierschky tief beeindruckt: »Er hat sich übrigens im Einsatz folgende Auszeichnungen geholt: EK I. u. II., KVK I. u. II., Infanterie-Sturmabzeichen (!) und Ostmedaille !!«268 Ein weiterer Besuch brachte ihn am 24. November nach Puschkin, wo verbündete spanische Truppen in einem Schloss stationiert waren: »Im Schloß wie im ganzen Abschnitt liegt die ›blaue Division‹ (Spanier); sie machen uns mit ihrem ›Privatleben‹ viel Kummer;«269 Jedoch sollte auch Isselhorst in der kommenden Zeit seine Freude an diesem »Privatleben« finden. Am Tag darauf war Isselhorst Zeuge eines deutschen Angriffs auf eine Festung, deren Ort nur mit »Schl.« bezeichnet wird (wahrscheinlich Schlüsselburg, 35km östlich von St. Petersburg). »Dann begann ein von der B-Stelle aus geleiteter Feuerüberfall auf die Burg, an dem sich vor allem eine Mörserbatterie (30,5 cm) mit Erfolg beteiligte. […] unvergeßliche Eindrücke, wenn die schwarzen Koffer 265 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 20.11.1942). 266 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 23.11.1942). 267 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 632. Vgl. auch Schreiber, Carsten: Elite im Verborgenen. Ideologie und Herrschaftspraxis des Sicherheitsdienstes der SS und seines Netzwerkes am Beispiel Sachsens, München 2008, S. 58–61. 268 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 23.11.1942). 269 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 24.11.1942).

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über uns hinwegorgeln und im Einschlag drüben – 150 mtr von uns entfernt – hohe Rußpilze entstehen lassen, in denen die Beton – und Steinbrocken herausschwirren. Der Ivan schießt schwach wieder. Leider können wir nicht lange bleiben. […]«270

Weitere Besuche von Teilkommandos und Besprechungen mit Stabsmitgliedern der Heeresgruppe Nord folgten in den kommenden Tagen, obgleich der Winter Einzug in die Region hielt, wodurch auch Isselhorsts Arbeit zunehmend eingeschränkt wurde.271 Insbesondere mit dem Ic des 18. AOK schien sich Isselhorst gut zu verstehen: »Es war sehr nett; ich glaube, daß ich mit beiden hin komme!«272 Im November/Dezember 1942 zog der Stab der EG A von Krasnogwardeisk nach Nataljewka um. Der Umzug wurde laut Isselhorst am 18. Dezember abgeschlossen.273 Neben den Versuchen, adäquate Weihnachtsgeschenke für seine Frau und Familie zu beschaffen, wurde der Dezember 1942 vor allem dadurch beschrieben, dass diverse Besprechungen mit den Teilkommando-Führern abgehalten wurden, darunter insbesondere mit Martin Sandberger, dem Führer des Sonderkommandos 1a, mit dem Isselhorst auch seine Freizeit verbrachte.274 Sandberger (Jg. 1911) war ein akribischer Anhänger des NS und nahm an zahlreichen Massenmorden im Baltikum teil. Hierfür wurde er im Zuge des Einsatzgruppen-Prozesses 1948 zum Tode verurteilt, 1951 wurde die Strafe auf lebenslänglich reduziert und bereits 1958 konnte Sandberger das Gefängnis verlassen. Er starb 2010 in Stuttgart.275 Isselhorst war zufrieden ob der Veränderungen, die er durch seine Arbeit erreichen konnte: »Viel gearbeitet, langsam kommt Ordnung in den Laden. […] Arbeit, Arbeit, Arbeit! Jetzt machts Spaß!«276 Diesen »Spaß« erlebte er jedoch nicht nur während der Arbeitszeit, denn deutlich hervorzuheben ist, dass er beinahe täglich von Feiern und Kameradschaftsabenden, Jagd- oder Skiausflügen berichtete.277 Auch seine in Smolensk geknüpfte Beziehung zu der Stenotypistin Viktoria S. vertiefte sich zu jener Zeit zusehends: »Um 16.30 h bereits wieder in G[attschina], wo ich durch einen Brief von V[iktoria] die glücklichste Stunde verlebe, obwohl jetzt für mich 270 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 25.11.1942). 271 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 26–28.11./07.12.1942). 272 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 08.12.1942). 273 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 18.12.1942). 274 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 13./17.12.1942). 275 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 519. 276 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 19./21.12.1942). 277 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 13.–16./20.–22./24.– 26./27./31.12.1942).

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wohl die schwerste Zeit anbricht. Das Leben ist stärker und fordert sein Recht! Brief an V[iktoria] geschrieben. […]«278

Trotz der Nähe zur Frontlinie bei St. Petersburg schien die alltägliche Gefahrensituation durch feindliche Luftangriffe, wie er sie in Smolensk erlebte, eher gering zu sein. Isselhorsts Erwähnungen der zahlreichen Ausflüge und Abendveranstaltungen verdeutlichen, dass sein Alltag keineswegs aus der Angst um sein Leben bestand, wie er dies noch in späteren Gerichtsverhandlungen angab. Jedoch, auch bei St. Petersburg herrschte Krieg und das Jahr 1943 begann für Isselhorst mit einem Schrecken. Bei einer Inspektionsfahrt am 2. Januar in Puschkin erlebte er hautnah einen Artillerietreffer auf einen Lastwagen, der kurz vor ihm fuhr: »[…] Nach kurzem Aufenthalt weiter. Kurz bevor wir auf dem Schloßpark auf die Straße einbiegen, wird ein LKW von einem Ari-Volltreffer getroffen; der Fahrer ist schwer verletzt (Knöchel u. Knie zerschmettert), ich veranlasse seine Bergung. Das hätte uns auch treffen können!«279

Dieses Erlebnis war seit langer Zeit wieder eine Erinnerung an die tatsächliche Nähe des Krieges und blieb ihm auch in den kommenden Jahren stets im Gedächtnis. Noch in einem Brief an seine Frau im September 1947 schrieb er mit Bezug zur schicksalhaften Rettung seines Lebens, dass diese einer »göttlichen Fügung« unterlag.280 Diese göttliche Ebene war Isselhorst in seinen Aufzeichnungen vom Januar 1943 jedoch noch nicht bewusst. Das darin enthaltene religiös-geprägte Narrativ wurde erst nach dem Krieg ausgebildet. Besprechungen und Treffen in Riga und Berlin zwangen ihn in den kommenden Tagen mehrfach zu Dienstreisen, ohne jedoch auf die gewohnten Abendveranstaltungen und die nunmehr ausgewachsene Affäre mit seiner ehemaligen Stenotypistin zu verzichten: »Dienstl. Besprechungen beim RSHA. Große Veränderungen: Neuer Chef v. d. Pol. u SD: OGruf Kaltenbrunner (bisher Höh. SS u. Pol F. in Wien). Streckenbach geht, sein Nachfolger wird: Erwin Schulz!! Das könnte i. K. für mich von Vorteil sein. Im März werde ich wieder bei ihm vorsprechen, mal sehen was sich dann machen läßt. V[iktoria] getroffen, wunderbare Stunden. […]«281

Sein alter Bekannter Erwin Schulz (Jg. 1900), langjähriger Mitarbeiter im RSHA und kurzzeitig Einsatzkommandoführer in der Ukraine, wurde im Einsatzgruppen-Prozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, konnte jedoch durch Drängen Bremer Politiker bereits Januar 1954 das Gefängnis 278 279 280 281

RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 27.12.1942). RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 02.01.1943). RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 28.09.1947 an seine Frau). RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 08.01.1943).

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verlassen.282 Bruno Streckenbach (Jg. 1902) machte im NS rasch Karriere: Gestapoleiter in Hamburg, Einsatzgruppenführer in Polen, BdS Krakau, führende Positionen im RSHA und Divisionskommandeur der Waffen-SS – Streckenbach machte sowohl parteilich als auch militärisch Karriere. Nach dem Krieg wurde er 1952 in Moskau zu 25-jähriger Arbeitslagerhaft verurteilt, kam aber 1955 im Zuge der letzten Gefangenenentlassung zurück nach Deutschland, wo er unbehelligt bis in die 70er Jahre lebte. Die zahlreichen Mordaktionen und Deportationen, an denen sich Streckenbach im Laufe der NS-Zeit beteiligte, führten letztlich aber dazu, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft ihn 1973 für die Ermordung von rund einer Millionen Menschen anklagte. Zum Prozess kam es jedoch u. a. wegen einer Kreislaufschwäche nicht.283 Dass Ernst Kaltenbrunner zum neuen Chef des RSHA ernannt wurde, fand bei Isselhorst keine Zustimmung. Bereits zum Tod von Reinhard Heydrich hatte er die Hoffnung auf Werner Best als Nachfolger ausgesprochen.284 Dass nun ein, wie ihn Isselhorst beschrieb, bis dato kaum in Erscheinung getretener Emporkömmling dieses zentrale Amt erhielt, wurde von Isselhorst, der in seinen Memoiren die Haltung und das Vorgehen Kaltenbrunners scharf kritisierte, mit Unverständnis quittiert: »Er erschien mir nach dem ersten Eindruck kaum in der Lage, seine damaligen Aufgaben beherrschen zu können. […] Aus dem Rahmen seiner Amtskollegen im Reichsgebiet war er jedoch in der Folgezeit nie auffallend hervorgetreten, wenn man von seinem äusseren Erscheinungsbild absehen will. Das allerdings war sehr wirkungsvoll. Er war eine im wahrsten Sinne des Wortes männlich wirkende Erscheinung, von gutem Körperwuchs, mit einem von Schmissen nicht unschön zerfurchten Gesicht. Er war, was wir einen ›Poseur‹ zu nennen pflegen, der auf die äußere Wirkung seiner Persönlichkeit grossen Wert legte. Kurz, er war nach allem das genaue Gegenteil seines Vorgängers. Dass er es auch in der Auffassung von seiner hohen Aufgabe war, hat sich in voller Klarheit und in seinem ganzen, auf uns niederschmetternd wirkenden Umfange 282 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 568f. 283 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 607f. 284 Vgl. RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 04.06.1942). Vgl. auch RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 31–33). Hier spricht Isselhorst in den höchsten Tönen von Best, den der als »überragenden Kopf« und »unermüdlichen Arbeiter« beschreibt und der zudem der »[…] immer stärker auftretenden Verwässerungserscheinungen und Niveauverflachungen, die als Folge der Machterweiterungsbestrebungen Himmlers die Arbeit der Sicherheitspolizei belastete«, entgegenwirkte.

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erst in der Verhandlung in Nürnberg gezeigt. Mir war es allerdings schon vorher bewusst geworden.«285

Auch die weiteren Anmerkungen, die Isselhorst nach dem Krieg von der Person und deren Fähigkeiten, – oder besser gesagt: den nicht vorhandenen, – machte, zeugen von einer tiefen Ablehnung Kaltenbrunners. So schrieb er in seinen Memoiren, dass Kaltenbrunner für die Stapo-Leiter kaum erreichbar war und ständig mit Abwesenheit glänzte.286 Zudem legte er seinen ganzen Fokus auf das Amt VI, Auslandsnachrichtendienst, und führte so, im Gegensatz zu Heydrich, eine Spezialisierung auf ein Kerngebiet durch. »Welches auch die wahren Gründe für seine Berufung gewesen sein mögen, hervorragende fachliche Kenntnisse waren es jedenfalls nicht! […] Nur deshalb war es möglich, dass unter seiner Ägide ein Konkurrenzkampf innerhalb seiner Amts-Chefs entbrennen konnte, in welchem einer den anderen durch eigene, selbstverantwortliche Leistungen und Erfolge übertrumpfen wollte! So verselbstständigten sich die einzelnen Ämter; der Zusammenhalt war nur noch ein rein äusserlicher, stand nur noch auf dem Papier.«287

Nach Isselhorsts Rückkehr aus Berlin und Riga betonte er einen enormen administrativen Arbeitsaufwand, der ihn in den folgenden Tagen an seinen Schreibtisch fesselte. Zudem unternahm Isselhorst wie gewohnt tägliche Jagd-, Sauna- oder Skiausflüge und feierte abends gemeinsam mit General Martinez, dem Befehlshaber der spanischen Truppen, mit dem sich Isselhorst zusehends anfreundete.288 Die Situation an der Front bei St. Petersburg besserte sich indes nicht. Durch schwere Bombenangriffe waren die deutschen Besatzer gezwungen, Schlüsselburg mitsamt seiner Festungsanlage am 18. Januar aufzugeben.289 In der zweiten LadogaSchlacht gelang es der Wolchow-Front, einen Korridor zur eingekesselten Stadt St. Petersburg zu errichten. Die angespannte militärische Lage wurde durch Gerüchte aus dem estnischen Gebiet verstärkt, die von einer baldigen Invasion alliierter Truppen von Skandinavien aus berichteten. Die sich anbahnende Niederlage in Stalingrad, das Vorrücken der sowjetischen Truppen, der Verlust Schlüsselburgs – dies alles führte neben der ohnehin angespannten Versorgungslage in der Bevölkerung zu erheblichen Unruhen, bis hin zu Fluchtversuchen.290 Auch die kommenden Tage brachten neben diversen Gesprächen mit den kommandierenden Generälen und Stabsoffizieren (Ia, Ic) vor allem Sorgen über die militärische Lage: 285 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 33). 286 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 33f). 287 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 33f). 288 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 09.–17.01.1943). 289 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 18.01.1943). 290 Vgl. MbO 41 vom 12.02.1943, S. 680.

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»Abends früh ins Bett. Luftangriff; außerdem rasseln alle Fenster durch ein anständiges Trommelfeuer an der Front, das unheimlich zu uns herüberdrängt. […] Viel gearbeitet. Durch Anruf bei Ic AOK festgestellt, daß Lage in Flaschenhals sehr ernst! Es sind an der neuen Nordfront wieder Einbrüche erzielt. Dienstelle Siwerskaja abgebrannt; der größte Teil konnte gerettet werden.«291

An dieser bizarren Stimmungslage zwischen militärischen Misserfolgen und den besorgten Besprechungen mit den Kommandeuren und Offizieren der Wehrmacht auf der einen und den ungehemmten Freizeitaktivitäten auf der anderen Seite änderte sich kaum etwas in den kommenden Wochen.292 Die Niederlage bei Stalingrad jedoch wurde von Isselhorst auch in seinem Tagebuch als wichtiges Ereignis notiert. »Arbeitstagung mit EK-Führern u. Abt. Leitern. Wir stehen alle unter dem Eindruck der Sache Stalingrad! […] um 16 h ein Gemeinschaftsempfang Rede v. Goebbels mit Führerproklamation angehört. Sie war erhebend und erfrischend; ich glaube, daß sie sehr wirkungsvoll sein wird und die gedrückte Stimmung über Stalingrad überlagert.«293

Im Februar berichtete Isselhorst dem Oberbefehlshaber der 18. Armee, Generaloberst Georg Lindemann, über die Stimmung in der russischen Bevölkerung, insbesondere nach Aktivwerden des Smolensker Komitees, eine Vereinigung von russischen Militärs und Politikern, die an einer Annäherung an Nazi-Deutschland interessiert waren.294 Noch immer jedoch wog der Verlust von Stalingrad schwer: »Das Schicksal der Stalingrader Kämpfer beeindruckt uns stark. Ich sitze mit den Führern noch lange bei ernsten Gesprächen zusammen.«295 Der heftige Wintereinbruch zu dieser Zeit sorgte für Stillstand an der Front: »Bei uns hat sich die Frontlage versteift; trotz heftiger Angriffe der Russen keine größeren Einbrüche, lediglich die Höhe 43 ist genommen, die wir aber i.a.K. wiederhaben müssen. Das Smolensker Komitee wirkt sich schon aus; die Russen wollen Flugblätter haben u. diskutieren! […] der 2. Lagebericht […] fertiggestellt worden; wenn er auch so einschlägt wie der erste, bin ich zufrieden […] Die Frontlage bei uns ist nach wie vor stabil. Am Flaschenhals sind seit dem 12.I. insgesamt 405 Panzer abgeschossen worden! 52 russische Divisionen bzw. Brigaden sind seither dort eingesetzt gewesen, die Verluste sind wahnsinnig hohe! Da schlechtes Wetter ist, ist bei uns Ruhe!«296 291 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 18./19.01.1943). 292 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 23.–31.01.1943). 293 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 28./30.01.1943). 294 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 02.02.1943). Vgl. auch: Winkler, Heinrich August: Geschichte des Westens. Die Zeit der Weltkriege 1914– 1945, München 2011, S. 1000. 295 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 03.02.1943). 296 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 04./07.02.1943).

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Diese Ruhe war jedoch nur von kurzer Dauer. Bei einem Besuch in Peterhof am 8./9. Februar beobachtete und erlebte Isselhorst Folgendes: »Über den Finnischen Meerbusen fahren Russenautos von Krumstadt nach Leningrad! Auf der Rückfahrt lag die Straße unter Ari-Beschuß; Glück gehabt, es haute mehrmals auf die Straße und rechts u. links in unmittelbarer Nähe ein! […] Der Russe hat, wie ich später in Tosno erfahren habe, bei Kolpino einen Angriff gestartet. Um 8 h losgefahren. Das Trommeln verstärkt sich. Auf dem Knüppeldamm liegt Ari-Feuer, ebenso auf der Rollbahn PetersburgTosno […] Nach dem Mittagessen Rückfahrt; ich fahre in 1 St. 27 Min. von T. nach G.! Unterwegs größere Truppenverbände (Regimentstärke) auf dem Marsch in Frontrichtung Kolpino. Auch spanische Reserve kommt zum Einsatz. Welch ein Unterschied, wenn man beide Truppen zusammen auf der Straße sich gegenüber sieht! Ratas [sowjetisches Jagdflugzeug Polikarpow I-16, Anm. d. Verf.] wollen angreifen, werden aber von Messerschmidt-Jägern abgewiesen. […]«297

Die stärker werdenden Operationen der russischen Einheiten bei St. Petersburg sorgten Isselhorst in der Folgezeit vermehrt, so dass er auch bei einem Treffen in Riga mit den übrigen EK-Führern beim BdS um Unterstützung für sein Kommando bat. Diesem Wunsch wurde jedoch nicht entsprochen: »Es ist zum Verzweifeln, wenn man die Einstellung der Führer des BdS in grundsätzlichen Fragen sieht, die für uns von so ausschlaggebender Bedeutung wären, jedoch an der Sturheit und mangelnden Übersicht in Riga scheitern! Es sitzen in Riga beim BdS und KdS soviele Führer, aber an das Frontkommando wird keiner abgegeben.«298

Das Treffen in Riga nutzte Isselhorst dazu, seinen Freund Martin Sandberger zu besuchen.299 Wahrscheinlich ging es bei dem Besuch auch um die personelle Unterstützung des EK1 durch Offiziere aus Sandbergers Einheiten, die am 24. Februar in Krasnogwardeisk eintreffen sollten. Laut MbO 50 wurden in der Nähe von Narwa am 26. Februar zwei Spione durch die Sipo festgenommen, die zwei Tage zuvor in Leningrad als Fallschirmspringer eingesetzt wurden.300 In Gattschina bestimmten nach seiner Rückkehr neben der alltäglichen Büroarbeit wieder zahlreiche Abendveranstaltungen und Freizeitausflüge die Einträge in seinem Tagebuch.301 297 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 08.–10.02.1943). 298 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 16.02.1943). 299 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 18.02.1943). 300 Vgl. MbO 50 vom 16.04.1943, S. 784. 301 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 20.–27.02.1943).

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Am 1. März entging Isselhorst nach eigenen Angaben nur knapp einem Mordversuch, der von dem Sohn seiner aus Estland stammenden Bediensteten unternommen wurde: »Um 0.30 h komme ich nach G[attschina] zurück. Hildemann ist noch auf. Als ich zu ihm komme, meldet er mir, daß Serge meine Pistole mit Munition u. Bosses(?) Pistole gestohlen hatte. Ferner ist er im Kasino überrascht worden, wo er 3/4 ltr Rotwein klaute. SS OStuf Dawe(?) hat ihn in meiner Wohnung gestellt. Serge zog die Pistole, wurde aber von Dawe(?) gewandt umgangen. Als S[erge] nun 4x schoß traf er sich mit der letzten Kugel selber in den Kopf. Er erhielt noch zwei Fangschüsse von Hildemann. Bei der Visitation fand man, daß er außer meiner Pistole auch meine alte Gr(?) und zwei Flaschen Schnaps geklaut hatte. In seinem Rock fand ich ein Fallschirmspringr. Abzeichen und einen Zettel mit meinem Namen. Aus allen Anzeichen ist zu schließen, daß er mich am Abend umlegen wollte, […] wahrscheinlich wegen des gestrigen Auftritts u. der Ablehnung seines mir heute Morgen vorgetragenen Wunsches, zu den Gardisten gehen zu dürfen. Da habe ich mal wieder richtiges Schwein entwickelt! Dawe(?) hat sich kaltblütig u. mutig gezeigt; seinem tatkräftigen Eingreifen verdanke ich wohl, daß ich noch lebe! […]«302

Trotz dieses Vorfalles entschied sich Isselhorst in den kommenden Tagen, den EG-Leiter in Riga zu besuchen, da er seiner Ansicht nach falsche Entscheidungen getroffen hatte. »5.III. Ich muß mich entschließen noch Morgen nach Riga zu fahren. Es ist unbedingt notwendig, den Bef. zu erreichen und mit ihm einige wichtige Dinge zu besprechen, die von ihm falsch entschieden sind. Gegebenenfalls werde ich ihm in den Einsatz nachfahren. 6.III. [Fahrt nach Riga über Pleskau] »Besprechung mit OStubaf Traut. Hier erfahre ich, daß Kingisappju(?) zu mir geschlagen ist! Da wird Sandberger aber böse sein. […] 7.III. […] Alle Führer sind fort. Inzwischen habe ich erfahren, daß es technisch kaum möglich ist, den Bef. im Einsatz zu erreichen. Es ist eine tolle Schweinerei. Der Mann ist die überwiegende Zeit unterwegs u. für seine Kommandoführer nicht zu sprechen. Die Stimmung über ihn im eigenen Hause ist erschütternd! Sein Privatleben wird in aller Öffentlichkeit glossiert! […] 8.III. Von morgens bis spät Nachmittags Besprechungen, besonders bei Pohl. Er verspricht mir, dem Bef. meine Ausführungen wortgetreu und unter Darstellung der geschilderten Gefahren wiederzugeben. Ob es was nützt? Wenn nicht, werde ich mich entschließen, den Bef. um die Erlaubnis einer Dienstreise nach Berlin zu bitten. […]«303 302 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 01.03.1943). 303 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 05.–08.03.1943).

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Den Befehlshaber, den Isselhorst so dringend sprechen musste, war der dort stationierte BdS, Oberführer Humbert Achamer-Pifrader (Jg. 1900). Seit September 1942 war Achamer-Pifrader der Kommandeur der EG A. Der Österreicher starb kurz vor Kriegsende im April 1945 bei einem Luftangriff in Linz.304 Ihm nebengestellt war der HSSPF Ostland, Friedrich Jeckeln (Jg. 1895). Der überzeugte Antisemit, der an zahlreichen Massenmorden während der Kriegszeit mitwirkte (darunter auch dem Massaker von Babyn Jar Ende September 1941), wurde bereits 1946 nach einem sowjetischen Schnellverfahren zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag im ehemaligen Ghetto von Riga öffentlich gehängt.305 Dass Jeckeln beim Besuch Isselhorsts nicht anwesend war, lag wohl an der »Operation Winterzauber«, eine Großaktion gegen Partisanenbanden im weißrussischen und russischen Territorium. Mehr als zehntausend Menschen wurden im Laufe der mehrmonatigen »Aktion« getötet, darunter mehrere tausend Kinder, mehr als zehntausend Menschen wurden verschleppt, knapp 200 Dörfer wurden gänzlich zerstört.306 Auch wenn Isselhorst seinen Vorgesetzten dieses Mal nicht antraf, so konnte er ihn doch auf einem gemeinsamen Führer-Treffen einige Tage später, am 13. März, sprechen. Zu Besuch war an diesem Tag auch der RFSS Heinrich Himmler.307 Die Gespräche mit Achamer-Pifrader liefen zu Isselhorsts Zufriedenheit. (»Ab 9 h Besprechungen beim OF; sie verlaufen für mich sehr erfolgreich. Alle Ziele werden erreicht; sogar die Jagdkommandos behalte ich. 2 deutsche Mädchen (Stenotypistinnen) soll ich auch bekommen.«308) Die Freude über die weibliche Unterstützung seines Stabes lag wohl in seinen bisherigen Erfahrungen begründet. Nach Gesprächen mit dem Oberführer begab sich Isselhorst auf seine Rückreise, während der es auch zu einem weiteren Treffen mit Martin Sandberger in der Stadt Narva kam.309 Auf einer seiner Dienstreisen wurden von Isselhorst Fotoaufnahmen von deutschen Einheiten gemacht. Insbesondere die schlechten Straßenverhältnisse sollten hierdurch dokumentiert werden – ein Umstand, der von Isselhorst oftmals in den Briefen als großes Manko aufgeführt wurde:

304 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 10. 305 Vgl. Ebd. S. 285. 306 Vgl. MbO 44 vom 05.03.1943, S. 702. 307 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 13.03.1943). 308 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 14.03.1943). 309 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 17./21.03.1943).

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Abb. 20 Straße bei St. Petersburg, Frühjahr 1943, LAV NRW R_RWB 28297, Nr. 5.

Abb. 21 Deutsche Soldaten auf einem Panzerkampfwagen III, Frühjahr 1943, LAV NRW R_RWB 28297, Nr. 12.

Einzelne Inspektionen der Teilkommandos nahmen Isselhorst in den kommenden Tagen in Anspruch, wobei es ihn anscheinend auch in entlegene Dienststellen verschlug. (»Ich bin am ,Arsch der Welt‹ gewesen.«310) 310 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 19.03.1943).

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Durch die Rede des »Führers« am 21. März erfuhr Isselhorst von der Aufhebung der Urlaubssperre, was ihn umgehend dazu veranlasste, den selbigen Antrag nach Riga zu senden. Bereits am 23. März wurde dieser gebilligt, so dass Isselhorst bis Anfang April in einen weiteren Heimaturlaub abreiste. In diesem führte er Besprechungen mit Schulz im RSHA in Berlin, traf sich mit seiner Frau und auch mit seiner Affäre: »Über Riga nach Königsberg; Ein Tag Aufenthalt; weiter über Berlin nach München, Ankunft 25.3; Da wir vergessen hatten, die Uhr auf Sommerzeit zu stellen, verpasse ich beinahe am 29.III. meinen Zug. Leider ein sehr kurzer, unbefriedigender Abschied von G[ustel]. Fahrt über Kassel, wo ich V[iktoria] treffe. Übernachtung, am 30.III. um 6.54 h ab nach Berlin. Besuch bei v. Felde und Schulz. Vielleicht werde ich Befehlshaber in Brüssel; Kommandur Minsk habe ich abgelehnt. Ich habe keine Lust mehr, wieder mal eine Dienststelle in Ordnung zu bringen. Schulz hat Verständnis.«311

Seine Ablehnung und das ihm entgegengebrachte Verständnis änderte jedoch nichts daran, dass er einige Monate später nach Minsk versetzt werden würde. Wieder zurück in Gattschina traf sich Isselhorst am 2. April mit einer finnischen Delegation zur Besprechung einer Umsiedlungsaktion und am Tag darauf war er Gast bei einer russischen Einheit und deren Kameradschaftsabend, bei dem Isselhorst auf Händen getragen wurde: »Anschließend Kameradschaftsabend, sehr interessant. Einige Russen halten flammende Reden. Ich werde mit Fragen bestürmt; die Antworten lösen große Befriedigung aus. Tänze werden vorgeführt. Als ich aufbreche, werde ich von einigen Männern auf die Schulter genommen. Rührender Abschied, Händedrücken, Heilrufe!«312

Die russischen Angriffe nahmen in den kommenden Tagen zu, wobei einige Artillerietreffer in unmittelbarer Nähe zu Isselhorsts Standort einschlugen. Dennoch, die Laune wurde durch zahlreiche Freizeitbeschäftigungen (Schnapsanstich, Pistolenwettschießen, Jagd- und Saunabesuche) weiter hochgehalten.313 Am 13. April berichtete Isselhorst beim Besuch eines Teilkommandos: »Nach AD(?) mit Kübel[wagen] nach Luga, wo ich Bauer treffe; von dort zur Außenstelle Gorodnya (Schaar) und Druzhnaja-Gorka(?), wo ich eine typische Meuterei aufdecke; es hat schwer ›gerauscht‹! In G[attschina], wo ich um 20 h ankomme, ist schon den ganzen Nachmittag Betrieb: Fliegeralarm, 4 Bomber abgeschossen. Abends und Nachts geht der Zauber weiter.«314 311 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 23.03.1943). 312 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 02./03.04.1943). 313 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 03.–08.04.1943). 314 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 13.04.1943).

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Der Raum um Luga war in diesem Zeitraum das Zielgebiet von sowjetischen Fallschirmspringern, die Sabotageakte durchführten.315 Dass neben diesen tatsächlichen Kriegsgeschehnissen auch Isselhorsts Privatleben ein Gesprächsthema innerhalb der Belegschaft wurde, belegt ein empörter Eintrag vom 15. April: »Mit Insp[ektor] Mertens, der gestern meinen Männern das Fällen von Bäumen zur Vergrößerung des Schießstandes u. Sportplatzes verboten hatte, um 7 h einen Baum gefällt! Ich habe ihn gestern Abend derart fertig gemacht, daß er nicht anders konnte. Ich bin sehr müde von gestern. Einen Wchtm. muß ich wegen disziplinlosen Verhaltens vom Fleck weg in Arrest bringen lassen. ›Welterschütternde Aussprachen‹ zwischen Frau M., Helga; Dino(?), Schanz, Beppin(?); es handelt sich darum, wer nun eigentlich von den Frauen meine ›Geliebte‹ ist bzw. nicht ist! Nach den umlaufenden Gerüchten sollte es erst Helga, jetzt aber Frau M. sein! Verrückte Bande; die Männer haben immer noch viel zu viel Zeit. […]«316

Am 16. April 1943 traf sich Isselhorst mit verschiedenen Personen in Puschkin, darunter auch dem dort stationierten Ic-Offizier, General Infantes, dem Befehlshaber der spanischen Truppen und einem Oberst Knüppel, der im Verbindungsstab tätig war.317 Am Tag darauf beschrieb Isselhorst ein Treffen mit einem Mann namens Wackebarth, den Isselhorst als »unseren […] gefährlichsten Widerpart bei der Armee«318 bezeichnet. Die Einträge der nächsten Tage beschreiben einen hohen Arbeitsaufwand, jedoch ohne besondere Ereignisse, bis auf die regelmäßigen Artillerieangriffe der russischen Streitkräfte. Wieder einmal auffällig sind die Festlichkeiten, die Isselhorst am 20. April beschreibt: »Appell zu Führergeburtstag mit Fahnehissen, Ansprache und Verleihung von KVK II. an 6 Männer. […] Um 17.30 h gerate ich in das Zimmer von Dawe(?), wo KVK gefeiert wird! Zum Abendbrot habe ich die Dekorierten ins Kasino geladen. Um 19.45 kommen die Finnen, denen ich die Dek. vorstelle. Um 8 h beginnt der Kameradschaftsabend, der ein voller Erfolg wurde und der den Finnen mächtig imponierte. Als Getränk gab es: Sekt (von Wehrmacht empfangen). Die Stimmung war ausgezeichnet. Was in der Zeit von 22–7.30 h geschah, ist mir entfallen. Ich soll noch zwei fabelhafte Reden gehalten haben, von denen ich selbst nichts weiß! Es ist aber alles gut gegangen!«319

Der ausgelassenen Stimmung innerhalb der Belegschaft zum Trotz, nahm der Druck auf die deutsche Front zu und die Erlebnisse, die Isselhorst 315 Vgl. MbO 52 vom 40.04.1943, S. 806. 316 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 15.04.1943). 317 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 16.04.1943). 318 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 17.04.1943). 319 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 20.04.1943).

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täglich, insbesondere bei Dienstfahrten machte, verdeutlichen diese angespannte Lage im Frühsommer 1943: »Von gestern muß ich noch folgendes Erlebnis nachtragen: Auf der Fahrt auf Rollbahn sehe ich plötzlich einen großen Rauchpilz über Gattschina aufsteigen, der sich nur langsam verzieht. Als wir zur Schloßstraße kommen, stellt sich als des Rätsels Lösung heraus, daß ein deutscher Jagdflieger (ein verwundeter Unteroffizier) kurz vor der Landung etwa hundert Meter hinter unserer OS im Park abgestürzt ist und verbrannte.«320

Weitere Feiern und die Verleihung des Kompturordens der italienischen Krone (»Er wird am breiten rot-weiß-roten Bande am Halse getragen und bringt eine Reihe von Vorteilen mit sich, vor allem bei Besuchen in Italien!«321) bilden den Kern der Aufzeichnungen von Isselhorst in der kommenden Zeit, bis ihn eine Durchfallerkrankung ans Bett fesselte. Nach überstandener Krankheit beschrieb er beinahe täglich Jagdausflüge oder abendliche Feiern, die bis in die frühen Morgenstunden reichten.322 Am Tage verrichtete Isselhorst seine gewohnte Arbeit, wobei er am 5. Mai über seine neue Stelle in Kenntnis gesetzt wurde, was ihn jedoch nicht erfreute: »Nach Pleskau gefahren, wo ich mit OF. […] zusammenesse. Er macht mir die unerfreuliche Mitteilung, daß ich Kommandeur Weißruthenien (Minsk) werden soll, mit dem Ziel, demnächst daselbst Befehlshaber zu werden. Ich bin garnicht erbaut. Leider wird sich wohl kaum etwas ändern lassen. Angeblich soll man mir in Berlin damit sehr wohl wollen! Was wird Gustel sagen; wieder bleibt es bei der Trennung.«323

Dies war exakt die Position, die er noch Ende März beim Gespräch im RSHA abgelehnt hatte. Besagter Wechsel nach Minsk sollte sich jedoch noch zwei Monate hinziehen. Bis dahin verbrachte Isselhorst einige Tage in Finnland auf einer Dienstreise, um die dortige Umsiedlungsaktion zu inspizieren: »Helsinki ist eine ganz moderne Stadt mit schönen breiten Straßen u. Prachtbauten neuesten Stils (manchmal etwas übertrieben sachlich modern!) Die Menschen waren überall freundlich und entgegenkommend. […] Sauna (erst finnisch mit weibl. Bedienung!) […] Am Sonnabend Spaziergang; Mittagessen u. Sonnenbad. Um 16 h Rückfahrt, Besuch eines Umsiedlungslagers, Ankunft in H. um 19 h. Abends Gast des Chefs der finn. Staatspolizei, Anthony, der mich schon am Donnerstag Nachmittag in seinem Amt empfangen hat. Ich habe das Stadion besucht (eine herrliche Anlage, aber erheblich kleiner in seinen Ausmaßen 320 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 22.04.1943). 321 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 25.04.1943). 322 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 01.–15.05.1943). 323 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 05.05.1943).

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als das unsere) […Stadtrundfahrt; Kino; Theater; zahlreiche Geschenke erhalten] Viele Aufnahmen gemacht. Ich bekomme demnächst, wie mir nochmals offiziell mitgeteilt wurde, einen hohen finnischen Orden für meinen persönlichen Einsatz in der Umsiedlungsarbeit; der Orden ist schon verliehen, es fehlt nur noch die Annahmegenehmigung des Führers.«324

In Finnland fühlte sich Isselhorst als willkommener Gast, so dass er – wie auch sein Tagesablauf im Brief veranschaulicht – eher touristisch denn dienstlich unterwegs war. Hierzu wurde auch ein Foto von Isselhorst vor dem Hotel Aulanko in Hämeenlinna gemacht, in dem Isselhorst nächtigte. Der Wechsel zwischen Kriegsaufnahmen, die militärische Einheiten und zerstörte Städte zeigen und andere Aufnahmen, wie die Schlittenfahrt oder das Hotel in Finnland, zeigen die Ambivalenz, die Isselhorst in seinen Aufnahmen zur Schau stellt. Er befindet sich permanent zwischen der Dokumentation des historischen Feldzuges auf der einen und der touristischen Darstellung seiner Erlebnisse auf der anderen Seite.

Abb. 22 Isselhorsts Unterkunft in Finnland: Hotel Aulanko in Hämeenlinna, April 1943, LAV NRW R_RWB 28297, Nr. 35.

Auch in Finnland verstand sich Isselhorst mit den ausländischen Befehlshabern bestens, den besagten Orden jedoch sollte er nicht erhalten. Derweil ging der Bau der neuen Gebäude in Nataljewka voran:

324 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 06.–11.05.1943).

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»14.V. Arbeitsdienst. Jetzt sind wir schon am Bau des Gefängnisses, bald wird auch die Sauna folgen. Nachmittags Besuch beim Korück (Oberstleut. v. Rauscher(?) u. Maj. Herreiner(?)). Längere Aussprache über Kriegstätigkeit. Die Herren wünschen eine eigenverantwortliche Betätigung von uns. […] Brief von Gustel (10) u. V. angekommen. Gustel scheint es gut zu gehen, sie will mich aber erst im Juni sehen. Nun, es wird sowieso wegen des erwarteten russ. Großangriffes und des evtl. hohen Besuches (Kaltenbrunner) nicht vorher gehen.«325 »15.V. […] Der Höh. Art. Kommandeur beim AOK 18 will unseren Ermittlungen bzgl. L-Erkundung einige genauere Feststellungen über AriBeschuß-Wirkungen u. erklärt, daß unsere Ari eifrig nach unseren Erkundungsergebnissen schießt! Wunderbar! […]«326

Dieser vermeintliche Erfolg wurde dann auch die ganze Nacht bis um 6 Uhr morgens gebührend gefeiert. In den restlichen Aufzeichnungen des Monats Mai 1943 finden sich kaum bemerkenswerte Erwähnungen. Der Alltag war geprägt von Inspektionsreisen, Besprechungen, russischen Artillerie-Angriffen und abendlichen Feierlichkeiten. Lediglich am 31. Mai beschreibt Isselhorst eine Veränderung in der Struktur seiner Polizeieinheiten: »Währenddessen kommt eine Hiobsbotschaft: die OP Kpnie wird zurückgezogen! Am 4.VI. muß sie bereits in Riga sein. Dadurch fallen wertvolle, meist auf die Außenstellen verteilte Sacharbeiter aus. Zwei Außenstellen […] werde ich ausheben müssen. Die Arbeit im Kommandostab muß aufgeteilt werden. Das einzig angenehme ist: ich habe keine Raumsorgen mehr! Meine Hauswache muß nunmehr von Russen gestellt werden.«327

Anfang Juni begab sich Isselhorst dann auf einen etwa einmonatigen Heimaturlaub. In diesem erfuhr er zunächst bei einem Gespräch im RSHA, dass er nun doch nicht KdS in Minsk werden würde (07. Juni) – eine Entscheidung, die jedoch in einem weiteren Gespräch am 4. Juli revidiert werden sollte.328 Isselhorst nutzte die Urlaubszeit zu einem Besuch bei seiner Mutter in Düsseldorf, wo ihm die Zerstörung der Stadt durch die Bombenangriffe deutlich mitnahm: »Besuch in Düsseldorf nach Großangriff – es ist unvorstellbar, was aus der schönen Stadt geworden ist. Die Zerstörungen der Innenstadt sind vollständig! Mutter ist sehr niedergeschlagen, obwohl sie und auch die Schwiegereltern mit dem blauen Auge davon gekommen sind.«329 325 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 14.05.1943). 326 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 15.05.1943). 327 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 31.05.1943). 328 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag undatiert, wahrscheinlich Anfang Juli 1943). 329 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag undatiert, wahrscheinlich Ende Juni 1943).

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Nach seiner Rückkehr begab sich Isselhorst zunächst nach Minsk, wo er in seinen neuen Arbeitsbereich eingeführt wurde, ehe er ab August das Amt des KdS übernehmen sollte. Nach seiner Rückkehr nach Gattschina am 16. Juli besuchte er noch einmal die verschiedenen Teilkommandos, Befehlshaber (Korück; Ic; General Infantes) und erledigte noch einige »wichtige (teils unangenehme) Arbeiten.«330 Eine seiner letzten Arbeiten bei der Einsatzgruppe A bestand in der Festnahme einer Kindergartenleiterin am 1. August, wobei ihm insbesondere der Wehrmachtsgeneral auffiel: »Um 9 h Standortkommandant befohlen wegen Festnahme der russischen Kindergartenleiterin. Die Ansichten dieses Generals sind erschütternd (Partei u. SS Gegner!) und interessant. Anschließend nach Nataly. […]«331

Die Angriffe der sowjetischen Armee waren weiterhin alltäglich, wie Isselhorst am 2. August berichtete: »Wir haben in den letzten Tagen oft Luftangriffe. Vorgestern waren 6 Bomben auf Rollbahn nach Lugo u. Fliegerhorst gefallen. Zugesehen wie ein Blindgänger gesprengt wird. 4 Tote Russen waren bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.«332

Seine Abschiedsbesuche führten ihn am 4. August auch zu den Quartiermeistern der Armee, mit denen sich Isselhorst gut verstand.333 Die letzten Tage waren dann vom Abschied seiner Dienststelle und den damit verbundenen Feierlichkeiten bestimmt, die von ihm wie folgt geschildert wurden: »6.8. Letzte Diktate. Mein Nachfolger, der nach Ft aus Riga bereits am 2.8. in Marsch gesetzt ist, trifft nicht ein, sodaß der festgelegte Begrüßungsund Abschiedskameradschaftsabend ohne ihn steigt. Große Überraschung für mich: Der Gemeinschaftsraum und der Flur ist nicht wiederzukennen, alles ist prächtig ausgeschmückt. Gutes Programm mit Zeichnungen von Hapo(?) und gut gelungener Bierzeitung. Als Geschenke werden mir überreicht: 1 Siegelring, 1 Gemälde (ich!) u. eine Puschkin Vase, die ich mir immer gewünscht habe. Die Wehrmachtsoffiziere kommen aus dem Staunen nicht heraus. R. Hertel(?) (Q2) entpuppt sich auch als angenehmer Gesellschafter mit einer fabelhaften Haltung; Auch Hereiner(?), Pastor und die anderen fühlen sich sauwohl, nur unser aller Feind v. Wackenbarth nicht! Die Auseinandersetzung mit dem General wird mit Unterstützung Hertels eindeutig für uns gelöst! Ende der Feier für mich: 4.30 h! […] 10.8. Besprechungen, Einweisung von Baatz [Nachfolger, Anm. d. Verf.], nach dem Essen Fahrt […] auf dem Feldherrnhügel, wo wir 20 Minuten 330 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 30.07.1943). 331 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 01.08.1943). 332 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 02.08.1943). 333 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 04.08.1943).

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stehen, werden wir mit Ari beschossen und müssen in Deckung gehen; letzter Frontbesuch. Abends um 18 h Abschiedsbesuch bei Lindemann. […]« 11.8. Nach dem Mittagessen Start mit rührenden Abschiedsszenen auf dem Hof des OK. Ich glaube, daß ich sehr beliebt war. In Pleskau übernachtet, mit Traut und seinen Führern sowie Lettels zusammengesessen. Fernmündl. Verabredung mit OF, die mich zwingt, schon um 6.30 h zu starten. […] Ankunft am 12.8. um 11.15 h in Riga, wo ich nur noch ganz kurz mit OF sprechen kann. Gegenüber meinen Einwendungen bzgl. der Russeneinheit ist er völlig unzugänglich. Er zeigt mir seine über mich abgegebene Beurteilung, die, schlechterdings sehr gut ist. Das hätte ich nicht von ihm angenommen. Abends Abschiedsabend (Ohne OF, der nach Helsinki geflogen ist); Außerordentlich merkw. Geschenke: Lederalbum vom BdS, ein Rauchbesteck vom KdS, ein Bild (nachträglich) vom EK3. Da die Reparatur des Wagens sich noch bis Abends hinziehen wird, kann ich erst am Samstag 14.8. starten. […]«334

Mit diesem Eintrag endet seine Zeit als EK-Führer bei der Einsatzgruppe A. Im Befehlsblatt des Chefs der Sipo u. SD wurde der 10. Juli als Wechseltermin angegeben.335 Isselhorst gelangte nun in ein gänzlich anderes und auch wesentlich gefährlicheres Amt, dem des KdS Weißruthenien, dessen Zentrale in Minsk lag. 3.3.3 Kommandeur der Sicherheitspolizei (KdS) in Minsk Als KdS in Minsk war Isselhorst zwei Personen maßgeblich untergeben: dem für den Bereich »Ostland« zuständigen BdS und dem zuständigen HSSPF. Aus dem Personal des EK8, EK3, SK1b und EK2 sowie einem Zug der Waffen-SS wurde 1941 bereits die Dienststelle des KdS Minsk geschaffen, die ab Ende 1941 die Morde an über 150.000 Juden und »Partisanen« organisierte.336 Mit seinem erfahrenen Personal operierte Isselhorst zwei Monate bis zu seiner Versetzung im Oktober 1943. Untergebracht war die Zentrale des KdS im Minsker Universitätsgebäude, direkt am Bahnhof.337 Der Beginn seiner Dienstzeit am 14. August 1943 verlief für Isselhorst eher unbefriedigend: 334 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 06.–14.08.1943). 335 RW 0725 Nr. 23 [Kopie des Befehlsblatts der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 33 vom 10. Juli 1943: »Eingesetzt: SS-Obersturmbannführer Ob.Reg. Rat Dr. Isselhorst (Stapoleitst. München) als Kdr. für den Generalbezirk Weißruthenien in Minsk unter gleichzeitiger Entbindung von der Führung des EKdos. 1 (Krasnogwardeisk).«]. 336 Vgl. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 187. 337 Vgl. Kohl, Paul: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941– 1944. Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt a. M. 1995, S. 108.

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»Ankunft 8.30h. Strauch, der seit 3 Tagen zu Besprechungen hier ist, liegt in meinem Bett! Keiner ist da, um sich um mich zu bekümmern! Fängt ja gut an. Um 11h ins Gut gefahren; der Bau des Herrenhauses ist fortgeschritten. Um 12.15 h Besuch bei Pg Kaiser (Besprechung über den Streit Kube – v.d. Bach). Um 14.30 fährt Strauch ab. Mein Zimmer ist schnell eingerichtet, Feinheiten kommen noch. 2 Stunden geschlafen, dann Besprechung mit Friedrichs. Keine Post von Gustel! Ich bin ganz verzweifelt, wie ich erfahren habe, daß auch München evakuiert wird. Abends früh ins Bett.«338

Die Distanz zu seiner Frau machte ihm zu schaffen, ohne jedoch auf weiteren Briefwechsel mit seiner angeblich verflossenen Liebschaft zu verzichten.339 Der Hauptscharführer und verurteilte Kriegsverbrecher Adolf Rübe (Jg. 1896) gab in einer Zeugenaussage vom 1. September 1959 an, dass Mitte August 1943 sämtliche jüdischen Insassen der Krankenhäuser in Minsk getötet wurden. Geleitet wurde die »Aktion« von einem Obersturmführer Müller, der die »Aktion« gemeinsam mit lettischen Hilfstruppen durchführte. Rund 200 deutsche und russisch stämmige Juden wurden im Laufe der »Aktion« getötet.340 Zudem gab Rübe an, dass auf dem Ghettofriedhof in Minsk wöchentliche Hinrichtungen von kleineren Gruppen durchgeführt wurden, die durch Erschießungsbefehle von Isselhorst sowie dessen Vorgänger und Nachfolger veranlasst wurden. Auch wurden Tötungen in Gaswagen durchgeführt, die ebenfalls von den KdS befehligt wurden. Bemerkenswert ist, dass Rübe speziell für Isselhorst angab, dieser sei niemals persönlich bei den Mordaktionen zugegen gewesen.341 Zu den Einrichtungen des KdS Minsk zählte außerdem das Lager Trostenez samt der dazugehörigen Vernichtungsstätte Blagowschtschina, in denen »206.500 Menschen vergast, erschossen, in Gruben geworfen, wieder ausgegraben und verbrannt wurden.«342 Am 17. August schrieb Isselhorst: »Dann kommen beunruhigende Nachrichten aus Glubokoje: Aruskina(?) (Oberstleut Hill) ist zu den Banden übergegangen (über 1.000 gut bewaffnete Männer). Sie haben zwei Orte besetzt und niedergebrannt, alle Deutschen gefallen.«343 Bei der genannten Gruppe handelte es sich um den russischen Hilfswilligen-Verband Drushina I, der am 18. August südlich von Glubokoje meuterte, sämtliche deutsche Einheitsführer und Beamte (ca. 90 Personen) tötete und zu den Partisanen überlief. Tags darauf wurde die 338 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 14.08.1943). 339 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 16.08.1943). 340 Vgl. Aussage von Adolf Rübe vom 01.09.1959; in: 9 Ks Sta Koblenz, Bd. 6 / (Best. 584,1 Nr. 8470). 341 Vgl. Ebd. 342 Kohl, Paul: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941–1944. Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt a. M. 1995, S. 107. 343 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 17.08.1943).

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Gruppe bei Krolewszyczna durch Polizei und Wehrmacht gestoppt.344 Doch auch die nächste Großaktion im Minsker Gebiet bahnte sich an: »Meldung bei Gruf v. Gottberg (Höh. SS u Pol F.). Besprechung in Sachen Globokoie [sic] u. Judenevakution. Rücksprache mit Gelb(?) (Ver. Führer); ich glaube er ist tätig und wird mich bei meinen Säuberungsaktionen unterstützen.«345

Curt von Gottberg (Jg. 1896) war ein Nationalsozialist erster Stunde. Schon 1923 hatte er gemeinsam mit Hitler in München geputscht und stieg mit dem Aufstieg der NSDAP auch die Karriereleiter rasch hinauf. Organisation und Verwaltung lagen ihm jedoch nur bedingt, er war eher ein Mann der Tat. Als dieser wurde er von Herbst 1942 bis zum Sommer 1944 als Polizeiführer im Osten eingesetzt. Er galt als Fachmann für »Bandenbekämpfungsunternehmen« und führte mit seiner als »Kampfgruppe von Gottberg« bekannten Einheit zahlreiche Massenmorde und »Säuberungsaktionen« im weißruthenischen Gebiet durch. Noch am 1. August 1943 gab von Gottberg den Befehl aus: »Sämtliche Menschen (Männer, Weiber, Kinder) und lebendes und totes Inventar sind aus dem […] bezeichneten Raum abzuschieben. […] Dörfer und alle sonstigen Bauten sowie Brücken und Feldfrüchte sind, soweit sie nicht geborgen werden können, zu zerstören bzw. niederzubrennen. Soweit es möglich ist, sind in diesem Raum auch die Wälder durch Brand zu vernichten. In dem evakuierten Raum sind die Menschen in Zukunft Freiwild.«346

Es ging im betreffenden Befehl um das Partisanenunternehmen »Hermann«, in dem bis zum 5. August 4.280 Menschen getötet wurden und in dem mehr als 20.000 Menschen, darunter über 4.000 Kinder, als Zwangsarbeiter erfasst wurden. Die Dörfer westlich von Minsk wurden größtenteils niedergebrannt und alle nichtarbeitsfähigen Menschen deportiert.347 Mit Curt von Gottberg besprach Isselhorst auch das Vorgehen im Ghetto von Glubokoje. Es wurde der Beschluss gefasst, das Ghetto der Stadt gänzlich zu räumen. Die »Aktion« sollte zwei Tage später 344 Vgl. Curilla, Wolfgang: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn 2006, S. 690. 345 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 18.08.1943). 346 Curilla, Wolfgang: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn 2006, S. 738. 347 Vgl. Ebd. Es ist davon auszugehen, dass die Ghettobewohner bereits Kenntnis über die Tötungsverfahren besaßen, wie dies auch in anderen Ghettos bereits 1942 zu beobachten war. Vgl. hierzu Löw, Andrea: »Wanderung ins Ungewisse?« Was wussten Juden in den Gettos Litzmannstadt und Warschau 1942 über die Vernichtung? In: Cüppers, Martin; Matthäus, Jürgen u. Angrick, Andrej (Hrsg.) Naziverbrechen. Täter, Taten, Bewältigungsversuche, Darmstadt 2013, S. 258–274.

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– am 20. August – stattfinden, wurde jedoch aufgrund von aufkommenden Unruhen innerhalb des Ghettos bereits in der vorherigen Nacht gestartet. Isselhorst beschrieb diese beiden Tage in seinem Tagebuch: 19.8. »Flug mit Storch nach Gl[ubokoje], wo sich Lage zugespitzt hat (Überfälle aus dem Ghetto); Besprechungen in Obileika(?) u. Gl[ubokoje]. (F.K Jun. Terbrück (?), Bruder des Oberstleut T. aus Smolensk). Rückflug. Besprechung bei Gruf v.G[ottberg] Die Aktion gegen das G[hetto] beginnt noch in der Nacht; erste Verluste. 20.8. »Wieder in Gl[ubokoje], wo es bereits zu Ausbruchsversuchen u. Kämpfen gekommen ist. Besprechung mit Gebietskommissar u. Gruf. v.G[ottberg]. am Platze. Das 2. Bataillon kommt erst im Laufe des Nachmittags, sodaß der erste Angriff erst um 18h angesetzt werden kann. Da Widerstand, gibt es großes Blutbad (3100 J[uden] tot); nur 350 haben sich freiwillig zum Abtransport zur Verfügung gestellt. Rückflug M[insk].«348

Durch mehrere Aussagen in Gerichtsprozessen nach dem Krieg konnte der Ablauf dieser Ghettoräumung genauer beschrieben werden. Am Morgen des 19. August wurde den Ghettoinsassen mitgeteilt, dass sie nach Lublin in ein Arbeitslager abtransportiert werden sollten. Da jedoch die Vernichtungsmethodik mittlerweile auch in der Bevölkerung von Glubokoje erahnt wurde349, kam es zum Aufstand, in dessen Verlauf das Ghetto vollständig vernichtet wurde. Teile des Polizeiregiments 26 sperrten das Ghetto ab und durchkämmten das Ghetto und die Gebäude, in denen noch zwischen 4.000–5.000 Juden überlebt hatten. Die dabei aufgegriffenen Opfer wurden an einem zentralen Sammelplatz verbracht und später erschossen. Das Ghetto, das größtenteils aus einfachen Holzhäusern bestand, wurde anschließend in Brand gesteckt: »Kompanieangehörige beteiligten sich an der Erschießung von Juden. So fanden Angehörige der 6. Kompanie in einem Keller mindestens 6 versteckte Juden, darunter ein Mädchen und einen Jungen, trieben sie aus dem Gebäude und forderten sie auf, sich mit dem Gesicht nach unten auf den Erdboden zu legen. Die Juden lamentierten laut, ein alter Jude bot sogar seine Tochter an, legten sich dann aber dicht nebeneinander, mit dem Gesicht zur Erde, in eine Mulde. Ein Kompanieangehöriger tötete sie einzeln durch Genickschüsse aus einer Maschinenpistole. Man erschoß die Juden teilweise im Ghetto und teilweise außerhalb des Ortes. Insgesamt wurden bei der Liquidierung des Ghettos 3.000 Juden umgebracht.«350 348 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 19.–20.08.1943). 349 Vgl. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 739. 350 Curilla, Wolfgang: Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrussland 1941–1944, Paderborn 2006, S. 690f. Vgl. auch Herbert, Ulrich: Holocaust-Forschung in Deutschland. Geschichte und

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Diese von Wolfgang Curilla zusammengefasste Beschreibung liest sich deutlich anders als die nüchterne Darstellung in Isselhorsts Tagebuch. Deutlich ersichtlicher wird wohl eher die Richtigkeit der Aussage, die der ehemalige KdS-Mitarbeiter Johannes F. in seiner Zeugenaussage vom 21. Januar 1959 machte, in der er Isselhorst als »aktiv-judenfeindlich« beschrieb.351 Bemerkenswert erscheint zudem, dass Isselhorst die Brutalität der Anwendung in seinem Tagebuch nicht ausführt, genauso wenig wie den methodischen Ablauf der Räumung. Für ihn sind nur zwei Aspekte von Bedeutung: Es gab Widerstand, was eher ungewöhnlich war, und die Anzahl der unmittelbar getöteten Juden war mit über 3.000 Personen relativ hoch. Diese Darstellung kann durchaus als Indiz dafür gewertet werden, dass Liquidierungen und die brutale Vorgehensweise in der Wahrnehmung Isselhorsts keinesfalls außergewöhnliches Gehalt besaßen – er hatte sie schlichtweg schon in früheren »Aktionen« erlebt und kennengelernt. Nach der Ghettoräumung in Glubokoje begab sich Isselhorst am 21. Au­ gust über Königsberg nach Berlin. Am 23. August hatte er im RSHA eine Besprechung, die für ihn positiv verlief. Zudem erlebte er in derselben Nacht erstmalig einen schweren Luftangriff auf Berlin: »Besprechungen im Amt (Gruf Müller; Brig.F. Schulz, OStubaf v. Felde, Ostubaf Trautmann) u. Meldung auf Chefadjutantur. Ich erreiche, daß mir 20 Beamte zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Auch sonst Erfolge. Abends im Theater (Komödienhaus a. Schiffbauerdamm: Grete Waiser in: Ich liebe vier Frauen). Dann Terrorangriff auf Berlin in bisher nicht erlebter Stärke. Ich schleppe drei Operierte in den Keller. Angriff dauert bis 2.30h. Viele Brände in der Umgebung, aber wir selbst haben nichts mitbekommen. Gustel ist furchtbar nervös.«352

Tags darauf berichtete Isselhorst erneut von einem Treffen im RSHA, diesmal stand eine Unterredung mit dem neuen Chef des RSHA, Ernst Kaltenbrunner, an, der nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich als dessen Nachfolger bestimmt worden war. Kaltenbrunner wurde im Zuge der Nürnberger Prozesse 1946 zum Tode verurteilt und am 16. Oktober des Jahres gehängt. Die letzten Worte des ehemaligen Leiters des RSHA vor seiner Hinrichtung lassen diese Stellung eher nicht erkennen: »Ich bedaure, daß Verbrechen begangen worden sind, ich hatte keinen Anteil an Perspektive einer schwierigen Disziplin; in: Bajohr, Frank u. Löw, Andrea (Hrsg.) Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 31–82, hier: S. 33. Herbert bezieht sich auf einen fehlerhaften Zeitzeugen-Bericht, der die Ghetto-Räumung auf den 13. August 1943 terminiert und die Tötung der etwa 3.000 Opfer in den Ort Burki verlagert. 351 Vgl. Aussage von Johannes F. vom 21.01.1960; in: LHA Koblenz 584,1 Nr. 8476. 352 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 23.08.1943).

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ihnen.«353 Für Isselhorst verlief auch diese Unterredung mit Erfolg, wurde ihm doch eine Inspektor-Position in Aussicht gestellt.354 Diese sollte er im darauffolgenden Jahr tatsächlich erhalten. Zunächst ging es allerdings zurück nach Minsk, wo das gewohnte Arbeitsumfeld auf ihn wartete. Dieses beschrieb er als äußerst strapaziös (»Die Besprechungen reißen nicht ab, der Arbeitsanfall ist enorm.«355), zumal die Gefahrensituation aufgrund von Sabotageakten und Anschlägen zu jener Zeit hoch war: »Diktate, Besprechungen, Telefonate! Um 11h Staf Böhme am Flugplatz abgeholt (EG B). Kurze Besprechung bzw, Unterhaltung, wobei B. sich sehr entgegenkommend zeigt. Abschließende Besprechung mit B[öhme] bei v[on] G[ottberg] Nach dem Essen große Aussprache zwischen B[öhme] u. mir; er fliegt erst nach 15h wieder fort. Das Wohngebäude des Außenstellenleiters […] u. das des Gebietskommissars sind gesprengt (polnische B[anden]) Die Lage wird immer ernster, unsere Dienststellen sind nur noch Inseln, von Banden umgeben. Der Unsicherheitsfaktor wird immer größer, Sprengungen u. Sabotageakte am laufenden Bande. […]«356

Die besagte Besprechung führte Isselhorst mit dem Standartenführer Horst Böhme (Jg. 1909), der zu jener Zeit noch der Leiter der Einsatzgruppe B war. Als enger Mitarbeiter von Reinhard Heydrich und frühes Mitglied in der SS führte Böhme schon vor dem Krieg Mordaktionen für den SD aus. Im Osteinsatz als BdS und EG-Leiter veranlasste er zahlreiche Umsiedlungsaktionen und Massenerschießungen und führte diese bis zum Kriegsende in Einsatzgruppen und als BdS in Ostpreußen aus. Seit April 1945 galt Böhme als verschollen und wurde nachträglich vom Amtsgericht Kiel mit dem Todestag 10. April 1945 für tot erklärt. Seine Leiche wurde indes nicht gefunden.357 Zum ersten Mal beschrieb Isselhorst die Gefahrensituation durch Partisanen in dramatischer Weise. Zwar berichtete er auch zu früheren Zeitpunkten von Anschlägen durch Partisanen, doch scheint sich die Gefahrenlage im Sommer 1943 im Raum Minsk noch davon abzuheben, denn auch in den folgenden Wochen wurden zahlreiche Partisanenangriffe von ihm erwähnt, die dieser verstärkten Wahrnehmung der unmittelbaren Gefahr entsprachen. Ende August beschrieb Isselhorst ein weiteres Treffen mit dem HSSPF und Wehrmachtsangehörigen: 353 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 297. 354 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 24.08.1943). 355 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 27.08.1943). 356 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 28.08.1943). 357 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 60.

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»Arbeitstage mit Besprechungen beim Gruf., Gauleiter, Standortkommandant. Ghetto aufgesucht und die ›Gruben‹ besichtigt. Am 31.8. Einladung bei General v. F[lieger] Fischer; sehr interessante Unterhaltung mit einigen Herren d. Luftwaffe. […]«358

Abb. 23 Grubenaushebung, undatiert, LAV NRW R_RWB 28268, Nr. 26.

358 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 30.–31.08.1943).

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Der besagte General der Flieger war Veit Fischer (Jg. 1890), dessen Stab im Spätsommer 1943 nach Minsk verlegt wurde. Er ging nach dem Krieg für zehn Jahre in sowjetische Kriegsgefangenschaft und starb 1966 in Prien.359 Der Generalmajor Georg Neiffer, den Fischer während seiner Kommandantur der 20. Flakdivision in Smolensk kennenlernen durfte, erinnerte sich noch in Gefangenschaft an die Haltung Fischers, der beim Vorbeifahren einer größeren Menge von Juden zu seinem Fahrer sagte: »Ach, fahren Sie da zu, ist ja ganz Wurst, fahren Sie auch ein paar tot.«360 Isselhorst beschrieb an dem erwähnten Tag in seinem Tagebuch die Besichtigung der »Gruben« – ein Begriff, der für ihn selbstverständlich war und daher nicht näher beschrieben wird. Es ist anzunehmen, dass es sich hierbei um Erschießungsgruben handelte, da zu jener Zeit die Tötung der zwangsarbeitenden jüdischen Bevölkerung des Ghettos unter maßgeblicher Beteiligung des SS-Hauptscharführers Adolf Rübe durchgeführt wurde.361 Die Partisanengefahr wurde von Isselhorst Anfang September als besonders brisant beschrieben, als ein Sprengstoffanschlag auf die Zentrale des KdS in Minsk verübt wurde: »Rückfahrt nach M. […] Nachmittags Besprechungen u. Aufarbeit. Gemeinsam mit Führern zu Abend gegessen, dann noch gearbeitet. Um 18.55 Explosion: Sprengstoffattentat im Mannschaftsgemeinschaftsraum. Die Mine war in den unbenutzten Ofen gelegt. Verheerende Wirkung: 5 Tote, 8 Schwerverletzte, 19 Leichtverletzte u. 8 ambulant behandelte; der Raum ist völlig zerstört. Katastrophen Kommission eingesetzt, erste Spuren sind gefunden. Gruf. v. Gottberg kommt zur Besichtigung und Besprechung. Fernschreiben an RSHA und Befehle abgesetzt.«362

Drei weitere Polizisten starben an den Folgen des Anschlages in den kommenden Tagen, die größtenteils von der Ermittlung zu dem Bombenanschlag geprägt waren. Im Zuge der Ermittlungen wurden über 30 Personen im November des Jahres bei Trostenez hingerichtet. Weitere 3.000–5.000 Minsker Bewohner wurden unmittelbar als Racheaktion im Wäldchen Blagowschtschina in Gruben erschossen.363 Isselhorst erwähnte noch die Abkommandierung von Horst Böhme nach Kiew 359 Vgl. Neitzel, Sönke: Abgehört: deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945, S. 247 (Fußnote 247). 360 Ebd. S. 245. 361 Vgl. zu den zahlreichen »Aktionen«: Kohl, Paul: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941–1944. Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt a. M. 1995, S. 84–98. 362 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 06.09.1943). 363 Vgl. Kohl, Paul: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941– 1944. Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt a. M. 1995, S. 95. Der Bericht von Kohl nennt den 8. September als Tag des Anschlages – Der

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(07.09.), die Beisetzung der Gefallenen (08./13.09.), Ausflüge zur Entenjagd (10./11.09.) sowie die feierliche Eröffnung der Minsker Schwimmmeisterschaften (12.09.).364 Die ausschweifenden Abendveranstaltungen wurden ebenfalls beibehalten, so dass Isselhorst mehrfach von Feierlichkeiten berichtete, die bis in die frühen Morgenstunden verliefen. Bei einer dieser Feiern konnte er auch seine Beziehung zu seinem Chef von Gottberg verbessern (»Es war sehr ordentlich; engere Beziehungen zum Gruf angeknüpft.«365). Am 16. September begab sich Isselhorst auf Heimreise zu einer mehrere Wochen dauernden Kur, die er nach einem Gespräch beim RSHA am 17.09. gemeinsam mit seiner Frau antreten sollte. Parallel zu seinem Urlaub wurde am 17. und 19. September das Ghetto in Lida geräumt und die ca. 4.000 jüdischen Einwohner wurden in die Vernichtungslager nach Majdanek und Sobibor deportiert.366 Zudem beteiligten sich Einheiten des KdS Minsk an der Räumung des Minsker Ghettos, welches zu dieser Zeit aus rund 2.000 deutschen und 8.000 weißrussischen Juden bestand. Am 14. und 15. September wurden 1.000 Juden nach Majdanek deportiert, wo 750 von ihnen unmittelbar vergast wurden. Am 18. September wurden 2.000 jüdische Insassen nach Sobibor deportiert, 1.900 von ihnen wurden sofort getötet. »Zwei weitere Transporte, einer mit männlichen Juden und einer mit 400 bis 500 Jüdinnen aus Minsk, hatten Sobibor am 16. und 19. September erreicht.«367 Zudem wurde am 22. September 1943 ein Anschlag auf den Generalkommissar Wilhelm Kube verübt, bei welchem dieser getötet wurde. Als Antwort darauf wurden von der Wehrmacht und Sipo mehrere Tausend Minsker Bewohner verhaftet und über mehrere Tage von Lkws abtransportiert.368 Die endgültige Räumung des Ghettos in Minsk wurde am 21. und 23. Oktober durchgeführt. Erich Isselhorst war am 7. Oktober 1943 jedoch bereits durch den neuen BdS Erich Ehrlinger abgelöst worden. Erich Ehrlinger (Jg. 1910), der im September 1943 nach Minsk versetzt wurde, wo er Beauftragter Ernst Kaltenbrunners beim kommandierenden General der Sicherungstruppen und Befehlshaber der Heeresgruppe Mitte wurde, übernahm außerdem die Leitung der EG B und wurde im Oktober zudem der BdS für Russland-Mitte und Weißruthenien. Ehrlinger hatte bei der Einsatzgruppe A unter der Leitung von Tagebucheintrag von Isselhorst belegt allerdings, dass sich dieser Anschlag bereits am 6. September ereignete. 364 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 07.–13.09.1943). 365 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 15.09.1943). Weitere Einträge von diversen Feierlichkeiten am 07./11./13./15.09.1943. 366 Vgl. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 740. 367 Ebd. S. 740f. 368 Vgl. Kohl, Paul: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und der Polizei 1941– 1944. Sowjetische Überlebende berichten, Frankfurt a. M. 1995, S. 96.

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Walter Stahlecker und als BdS in Kiew bereits seine Tatkraft bei Massenmorden unter Beweis gestellt, denen er selbst »breitbeinig, mit umgehängter Maschinenpistole, die Arme in die Hüften gestützt«369 beiwohnte. Erst 1958 konnte Ehrlinger festgenommen werden, der bis dahin unter falschem Namen in Schleswig-Holstein, Nürnberg und Konstanz lebte. 1961 zu zwölf Jahren Haft verurteilt, wurde er 1965 bereits aus der Haft entlassen. Trotz Berufung der Staatsanwaltschaft kam es »wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit« Ehrlingers zu keinem weiteren Verfahren. Ganz so schlimm schien es um Ehrlingers Gesundheit jedoch nicht gestanden zu haben. Er starb 2004 im Alter von 93 Jahren in Karlsruhe.370 Aufgrund eines Bombenanschlags auf den Minsker Gauleiter musste Isselhorst seine Kur vorzeitig abbrechen. »Gegessen und ausgepackt und dann nimmt das Unglück seinen Lauf: Anruf aus München, daß Minsk Gauleiter Stube einem Minenanschlag zum Opfer gefallen ist, Muß ich nun hin? Um 21.30 kommt erneuter Anruf aus Salzburg: FS vom Chef, wonach Kur nicht angetreten werden soll; sofortige Rückkehr nach Minsk wird befohlen! Aus der Traum; wir sind beide furchtbar niedergeschlagen. Meine arme Gustel! Wir machen uns die Stunden bis zur Abfahrt so schön wie möglich; sie erfolgt am 23.9. um 17h in überfüllten Zug. In Berlin (24.9.) Meldung beim Chef, Amtschef IV u. I. Warum ich noch nicht in M[insk] sei, werde ich gefragt!«371

Bei seiner Rückkehr nach Minsk konnte Isselhorst bereits einen erfolgreichen Ermittlungserfolg hinsichtlich des vorherigen Bombenanschlags vermelden: »Auch unseres ist inzwischen aufgeklärt (Jude). Chef der EGB, OStubaf Ehrlinger, ist da; längere Aussprache, muß seine Anordnungen auf Normalmaß zurückführen und Berlin entsprechend aufklären.«372 Das Attentat war somit schon aufgeklärt, als Isselhorst von seinem unterbrochenen Heimaturlaub in Minsk eintraf. Dies erklärt auch die Verärgerung Isselhorsts, die er in einem Brief an seine Frau vom 26. September ausdrückte. Zudem beschrieb er weitere Umstrukturierungen in der Zuständigkeit in Minsk, aus denen er die Hoffnung schöpfte, bald versetzt zu werden. In den Aufzeichnungen wird zudem deutlich, dass Isselhorst nicht die Arbeit an sich missfiel, sondern lediglich die Kompetenzstreitigkeiten: »[…] Dabei war es wirklich garnicht so notwendig, hierher zu kommen: das Attentat ist aufgeklärt, die Täter, die flüchtig sind, sind bekannt, 369 Wildt: Generation des Unbedingten, S. 593. Das Zitat stammt aus dem Urteil des Landesgerichtes Karlsruhe vom 20.12.1961 gegen Ehrlinger. 370 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 128. 371 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 22.09.1943). 372 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 22.09.1943).

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Helfershelfer sind festgenommen, Sicherungs- und Sühnemaßnahmen sind getroffen. Einige neue Situationen sind jedoch eingetreten, die aber mit dem Attentat nur bedingt oder garnicht in Zusammenhang stehen: der hiesige SS- und Pol. Führer von Gottberg ist offiziell mit der Wahrnehmung der Dienstgeschäfte des Generalkommissars beauftragt und es gilt nun für mich, mich [...] in die Dienststelle richtig hineinzusetzen (aber auch das ist von meinem Vertreter schon richtig eingefädelt worden), und zweitens rückt die Einsatzgruppe B in den hiesigen Raum im Verlauf der Rückwärtsbewegungen ein und ich muß nun alles draufsetzen, um Klarheit bzgl. der Zuständigkeit zu erreichen. Ich habe heute in Berlin den Vorschlag gemacht, daß entweder der Chef der Einsatzgruppen oder ich den Gesamtraum übernehmen soll; einer von uns ist überflüssig. Bin ich es, nun dann gibt es hoffentlich eine andere Aufgabe an einer für unsere Betreffen günstigeren Stelle, ist der andere es, so bedeutet es eine Verstärkung meiner Position. Die Entscheidung wird in den nächsten Tagen fallen. Ist alles klar, – so oder so – dann werde ich gemäß der Absprache mit Brig. F. Sch. in spätestens 14 Tagen erneut meine Kur antreten. Das ist der einzige Lichtblick, den ich zur Zeit habe, aber er ist so hell und ich klammere mich mit allen Kräften daran, denn ich will mit dir zusammen sein. Ach mein Gustelchen, wie liebe ich dich doch so sehr, daß ich garnicht mehr ohne dich sein kann. […]«373

Um die Kompetenzstreitigkeiten zu klären, wurde auch das RSHA eingeschaltet, dessen Entscheidung für Ehrlinger wenige Tage später getroffen wurde.374 Die Zahl der Besprechungen nahm in den folgenden Tagen weiter zu. Am 27. und 28. September traf sich Isselhorst mit von Gottberg. Bei dem Treffen wurde ihm auch mitgeteilt, dass Familienangehörige vorerst nicht in den Minsker Raum nachreisen können, beziehungsweise, dass diese evakuiert werden sollten, was für ihn eine bedrückende Situation darstellte. Zudem wurden organisatorische Fragen geklärt: »Nachmittags Meldung beim Gruf; er ist bis auf Weiteres mit der Führung des EK beauftragt. Jetzt müssen wir uns einschalten, v. G. macht mit, ja er hat uns wohl auch direkt nötig. Morgen kommen meine Vorschläge, unsere politischen Wünsche und Personalveränderungsvorschläge. […]«375

Am 29. September führte Isselhorst ein Gespräch mit einem Reichsbahndirektionspräsidenten namens Grimm, welches jedoch nicht genauer 373 RW0725 Nr. 29 (Brief vom 26.09.1943). 374 Vgl. Angrick, Andrej: »Aktion 1005« Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945. Eine »geheime Reichssache« im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, Göttingen 2018, S. 560. 375 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 27.09.1943). Vgl. auch Tagebucheintrag vom 28.09. Seinen bevorstehenden Kurantritt, der ihm von v. Gottberg versprochen wurde, sollte in den kommenden zwei Wochen bewilligt werden. Vgl. hierzu RW 0725 Nr. 29 (Brief vom 27.09.1944).

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beschrieben wurde.376 Seinen achten Hochzeitstag am 30.09. verbrachte er niedergeschlagen ob der Trennung zu seiner Frau gemeinsam mit einigen Kameraden (»[…] alleine hätte ich ›das arme Tier‹ gekriegt.«377), den gesamten nächsten Tag verbrachte Isselhorst im Bett, was nach eigener Aussage am übermäßigen Alkoholkonsum lag.378 Bei einer Besprechung am 2. Oktober wurde Isselhorst mitgeteilt, dass er voraussichtlich das Einsatzkommando 8 der Einsatzgruppe B übernehmen werde. Dass diese Perspektive für Isselhorst nicht gerade erstrebenswert war, lässt seine Reaktion bei einer Besprechung vier Tage später erahnen, in welcher ihm mitgeteilt wurde, dass er nicht wie verabredet das EK 8 übernehmen, sondern abkommandiert werden sollte. Zudem erhielt Isselhorst am 3. Oktober ein Beförderungsschreiben seines Chefs Ehrlinger, in dem dieser Isselhorst in den höchsten Tönen lobte: »Er hat sich sowohl im Reich als auch im Einsatz stets bewährt. [...] Isselhorst ist in jeder Hinsicht ein einwandfreier SS-Führer und hat sich auch stets als guter und hilfsbereiter Kamerad erwiesen. Den Aufgaben ist er in vollem Umfange gewachsen. [...].«379 Erich Ehrlinger selbst wurde vom Gruppenführer von Gottberg zum BdS ernannt: »[…] Um 9.30h ruft Gruf an, um mich und Ehrlinger zu sich zu bitten. Eröffnung: E[hrlinger] wird Befehlshaber und Kom[mandeur], ich erhalte neue Aufgabe (wahrscheinlich Italien). Ich bin sehr froh, denn hier hält mich nichts mehr, nachdem Gustel doch nicht mit kann. Anschließend Aussprache mit E. und später mit Friedrichs, der in M[insk] nicht bleiben will u. mich bittet, ihn mitzunehmen. Da ich noch keine persönliche Benachrichtigung habe, gebe ich noch nichts bekannt. Aber ich treffe alle Vorbereitungen, um am Montag zu fahren u. hoffe am Mittwoch in Gastein zu sein!«380

Der Positionswechsel durch Ehrlinger wird von Angrick im Zusammenhang mit der »Aktion 1005 gesehen, in der eine großflächige Spurenbeseitigung der Massenverbrechen durchgeführt werden sollte. Dass Isselhorst die Vorbereitungen dieses Unternehmens »als Beweis seiner Führungstärke [sic] vorangetrieben«381 habe, ist anhand der Quellen nicht zu belegen. Auch die große Enttäuschung von Isselhorst über seine 376 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 29.09.1943). 377 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 30.09.1943). Die niedergedrückte Stimmung liest sich auch in einem Brief an seine Frau, vgl. hierzu RW 0725 Nr. 29 (Brief vom 29.09.1943). 378 RW 0725 Nr. 9 (Brief vom 01.10.1943). 379 RW 0725 Nr. 23 (von Ehrlinger unterzeichnetes zweiseitiges Beförderungsschreiben vom 03.10.1944; darin: Erwähnung eines unehelichen Kindes; Sipo-Einsatz 26.01.42–07.10.42 EGr B und BdSuSD Ostland). 380 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 07.10.1943). 381 Angrick, Andrej: »Aktion 1005« – Spurenbeseitigung von NS-Massenverbrechen 1942–1945. Eine »geheime Reichssache« im Spannungsfeld von Kriegswende und Propaganda, Göttingen 2018, S. 560.

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Versetzung, da er diese als »Substitution durch einen anderweitigen und zudem jüngeren Bevorzugten«382 verstand, kann an dieser Stelle nicht bestätigt werden. Seine Ablehnung war vermutlich auch den Vorkommnissen am Vortag geschuldet, in denen gleich an mehreren Orten in Minsk Anschläge verübt wurden. So berichtete er: »Anschließend Besprechung […] über Übernahme des EK8; nachmittags bei Gen. Sperling u. Gruf. Wir behalten die Puschkin Kaserne! Um 18h kurz hintereinander 4 Explosionen: Dann Fliegeralarm! Meldung: Sprengstoffanschlag auf Wehrmachtskino. Kommission entsandt. Gleichzeitig Meldung, daß im Wasserwerk Minen gelegt sein sollen; ebenfalls Männer entsandt. […] Längerer Angriff mit starkem Abwurf u. Beschuß, Bericht nach Abschluß: Glück im Wehrmachtskino, Sprengung zwischen zwei Vorstellungen, sodaß nur einige Leichtverletzte; aus Wasserwerk 3 Minen von fast 1 Zentner Gewicht ausgebaut u. Täter gefaßt. Unser Gut ist mit Bomben belegt: 2 Tote u. 1 Schwerverletzter; Das SS Lazarett brennt!«383

Die Abkommandierung von Isselhorst lief in den folgenden Tagen zügig ab. Bereits am 8. Oktober wurde nach der Beisetzung der Opfer des Bombenanschlages auf einer anberaumten Führertagung Isselhorsts Verabschiedung bekannt gegeben. (»Schlägt wie eine Bombe ein. Breyer und Bischof wollen mit, außerdem Höfer u.a. […]«384) Die Abkommandierung fiel zusammen mit einer medizinischen Diagnose, die Isselhorst einen Herzfehler aufgrund eines Granuloms im Bereich der Mandeln bescheinigte. Hierfür wurde ihm auch der langersehnte Kuraufenthalt bewilligt, auf den Isselhorst schon seit Wochen drängte.385 Nach mehreren Besprechungen mit Ehrlinger und Oberführer Schröder begab sich Isselhorst am 11. Oktober auf die Heimreise.386 Eine Woche später, am 18. Oktober 1943, wurden die Einheiten des KdS Minsk mit der Einsatzgruppe B und dem BdS Russland-Mitte u. Weißruthenien zusammengelegt, da sich der Rückzug aus dem Smolensker Raum anbahnte.387 Nach seiner Ankunft in Berlin am 12. Oktober erfuhr Isselhorst von seinem alten Vertrauten im RSHA, Schulz, dass er erst nach der Kur seinen neuen Standort erfahren würde. Isselhorst war zuversichtlich: 382 Ebd. Auch die erwähnte Zusammenarbeit und Instruierung der »Aktion« durch Arthur Harder (Adjutant Paul Blobel) im Vorfeld kann durch die Aufzeichnungen von Isselhorst nicht belegt werden. 383 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 06.10.1943). 384 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 08.10.1943). 385 Vgl. RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 09.10.1943). Vgl. auch RW 0725 Nr. 9 (Brief vom 01.10.1943). 386 Vgl. RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheinträge vom 09.–11.10.1943). 387 Vgl. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 187.

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BEI DEN EINSATZGRUPPEN

»In Berlin soll ich mich nach Beendigung der Kur bei Sch[ulz] melden, der bis dahin über mein weiteres Schicksal disponieren will. Was wird kommen? Ich sehe mit Ruhe und Gelassenheit der Zukunft entgegen, schlimmer als es in den vergangenen Jahren war, kann es nicht werden. Ich glaube auch, daß Sch[ulz] sich um etwas anständiges [sic] bemühen wird.«388

Isselhorst hatte somit seinen Osteinsatz überstanden. Er wurde nicht mehr zu den Einsatzgruppen abkommandiert. In dem letzten Eintrag seines Kriegstagebuches fasste er voller Zuversicht und Freude die Zeit bis zu seiner Abkommandierung zusammen. Mit diesen Einträgen enden seine Tagebuchaufzeichnungen: »Mittags Ankunft in Gastein, Gustel am Bahnhof. Es beginnt eine herrliche Zeit des Zusammenlebens, die Gustel und mich sehr glücklich macht. […]. Am 29.XI. Meldung in Berlin bei BrigF. Schulz: Eine unfaßbare Nachricht: ich werde Fischers Nachfolger in Straßburg u. damit also Befehlshaber u. Inspekteur! Ich bin ganz benommen auch noch auf der Rückreise. Gustel freut sich mit mir. Von nun ab läuft alles programmgemäß: Am 6.XII. bin ich wieder in Berlin, um beim Amt III informatorisch tätig zu sein. Ich wohne im Gästehaus am Wannsee. Großangriff auf Berlin als ›Zuschauer‹ vom W. aus mitgemacht. Am 18.XII. melde ich mich beim OGruf ab, fahre am 19. nach München, wo ich am 20.XII. Gustel treffe und mit ihr alles Wichtige bespreche. Am 21.XII. Weiterreise nach Straßburg, wo ich in den kommenden 3 Tagen von Fischer eingewiesen werde. Weihnachten (Heiligabend) treffe ich in Ebingen ein, wo Gustel schon seit Mittag ist. Friedliche Festtage in trauter Familiengemeinschaft, lediglich etwas beeindruckt von einem Erdbeben am Montag (27.) Abends, das sich die ganze Nacht in kleinen Stößen fortsetzt. Dienstags (28.) mit Gustel nach Straßburg. Jetzt fängt ein neues schönes Leben an. Wir werden wieder zusammen sein; füreinander sorgen und Glück und Leid zusammentragen.«389

Das Gespräch, welches Isselhorst mit dem Chef des RSHA Ernst Kaltenbrunner im Dezember 1943 führte, wurde von ihm in seinen Memoiren herangezogen, um den schlechten Führungsstil Kaltenbrunners zu dokumentieren. Isselhorst schrieb hierüber: »Die Unterhaltung mit ihm war schleppend und ohne Format. Er konnte mir keinerlei generelle oder spezielle Anweisungen für meine neue Aufgabe geben und verwies mich an die Amts-Chefs. Als Erklärung hierzu, 388 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag vom 12.10.1943). 389 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag undatiert, wahrscheinlich Ende Dezember 1943).

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zu deren Abgabe er sich wohl verpflichtet fühlte, gab er in seltener Offenheit an, er habe es längst aufgegeben, sich in dem desorganisierten Apparat der Zentrale zurechtzufinden, von der er vor seiner Amtsübernahme mehr gehalten und von der er sich mehr versprochen habe; es sei auch bei Heydrich nicht alles Gold gewesen, was geglänzt habe! Ich fand diese Äusserung mir als Untergebenen gegenüber zumindest geschmacklos!«390

Sein neuer Einsatzort sollte Straßburg werden, sozusagen eine Rückkehr ins Elsass, wo er 38 Jahre zuvor geboren worden war. Tatsächlich wurde die Region für Isselhorst zu einer Art Schicksalsort, denn er sollte für die Vorfälle, die sich in den kommenden Monaten in der Grenzregion abspielten, vier Jahre später hingerichtet werden.

3.4 Befehlshaber der Sicherheitspolizei (BdS) in Straßburg Die Position des BdS bedeutete für Isselhorst einen Karriereaufstieg. Er war nunmehr der Befehlshaber über die gesamten Staatspolizeieinheiten im Raum Südwest und damit verantwortlich für sämtliche sicherheitspolizeilichen Maßnahmen. Ihm vorangestellt waren im Jahr 1944 neben dem RSHA (in letzter Instanz Kaltenbrunner) und dem regional zuständigen HSSPF nur noch der CdZ, der unmittelbar Adolf Hitler unterstand und die Befugnisse hatte, Polizeieinheiten für eigene »Aktionen« heranzuziehen. Ein Umstand, der von Isselhorst in seinen Memoiren fokussiert betrachtet wurde, da er anhand dieser Befehlskette seine eigene Person entlasten wollte. »Das traf daher auch auf den Amtsbereich des RFSS u. Chef der deutschen Polizei zu, der ja, wie bereits früher ausgeführt, Bestandteil des Reichsinnenministeriums war. Es war also möglich – und ist in der Praxis auch vorgekommen –, dass der CdZ gegen die Durchführung bestimmter vom Chef der deutschen Polizei befohlenen staatspolizeilichen Massnahmen mit Erfolg opponierte, und andererseits von der Staatspolizei im Elsass ein – aktives oder passives – Verhalten verlangen konnte, das über ihre internen Richtlinien und Verordnungen hinausging oder gar ihnen zuwiderlief.«391

Die Funktion des CdZ führte im Gebiet Südwest Robert Wagner (Jg. 1895) aus, der als »Hardliner« des NS-Regimes angesehen war. Isselhorst beschrieb die Person und die Funktion des CdZ in seinen Memoiren ausführlich, hatte Wagner doch erheblichen Einfluss auf die Arbeit 390 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 35). 391 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 12).

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BEFEHLSHABER DER SICHERHEITSPOLIZEI (BDS) IN STRASSBURG

und Handlungsmöglichkeiten Isselhorsts. Außerdem unterstütze die beschriebene Einflussnahme sein Argument des Befehlszwangs, welches Isselhorst nach dem Krieg für sich benutzte: »In der Person Robert Wagners vereinigten sich vier bedeutsame Ämter. Von ihnen trugen zwei einen staatspolitischen [Reichsstatthalter] und administrativen Charakter während das dritte einen wehrpolitischen [Reichsverteidigungskommissar] und das vierte einen parteipolitischen [Gauleiter] Charakter hatte. Nur eines von diesen Ämtern aber war ausschliesslich für den elsässischen Raum bestimmt, nämlich das des ›Chef der Zivilverwaltung‹ (CdZ). Es verlieh dem Inhaber eine fast unbeschränkte Machtfülle, denn er war einzig und allein dem Führer des Deutschen Reiches verantwortlich, dessen Vertreter er auf allen RessortGebieten der Verwaltung des Reiches war. […] Sämtliche staatlichen, wirtschaftlichen, militärischen und parteilichen Dienststellen im Elsass unterstanden praktisch dem CdZ, wenn sie auch theoretisch reichsunmittelbar organisiert waren.«392

Neben der Position des BdS übernahm Isselhorst zudem das Amt des IdS und avancierte somit nicht nur im elsässischen Raum, sondern auch im gesamten badischen Gebiet zum obersten Vertreter der Gestapo, Kripo und des SD. Dies lag daran, dass das Territorium, in welchem der BdS und der IdS tätig waren, auf dem reichsinternen Wehrkreis gründete (hier Wehrkreis V Stuttgart), der nach der Annexion des Elsasses auch auf dieses Gebiet ausgedehnt wurde. In dieser Funktion war Isselhorst zugleich Koordinator und Aufsichtsperson der Sipo- und Kripodienststellen und hielt als Kontaktperson Verbindungen zu lokalen Behörden und Wirtschaftsvertretern: »Er war während des Einsatzes de facto und de jure sowohl gegenüber dem Chef der Sipo und SD und der Reichsfachzentrale als auch gegenüber dem CdZ, der allein verantwortliche Vertreter der Sipo u. des SD, der über deren Einsatzkräfte im Elsass den ›Befehl hatte‹.«393 Eine weitere zentrale Aufgabe des IdS war die Aufsicht über die Arbeits- und Erziehungslager, beziehungsweise Sicherungslager. Im Bereich des Elsasses war dies das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck, das ab 1944 unter der Dienstaufsicht des BdS stand und dessen Gefangene unmittelbar von der Stapo interniert wurden.394 Als 392 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 11, 13). 393 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 15). 394 RW 0725 Nr. 18. Als Besonderheiten des Sicherungslagers Schirmeck nannte Isselhorst, dass anders als bei KZ der Kommandant eine Haftverkürzung oder Verlängerung nicht verhindern konnte, wenn die zuständigen Dienststellen der Stapo es verlangten. Die Beziehung der Dienststellen zum Lager waren deutlich ausgeprägter als die zum BdS, der eigentlich nur monatlich einen Rapport erhielt und zudem Sonderbefugnisse hatte (Arbeitseinsätze/

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»geschichtswissenschaftliche Leere« bezeichnet Cédric Neveu die Forschungsgeschichte über dieses spezielle Lager, das im Schatten des KZ Natzweiler-Struthof kaum Interesse in den vergangenen Forschungsdekaden hervorrief.395 Das Sila Schirmeck wurde von Isselhorst in seinen Memoiren als Musterbeispiel für ein Lager herangezogen, das nicht mit den üblichen Gewaltaktionen im nationalsozialistischen KZ-System zu vergleichen war. Tatsächlich bestand ein wesentlicher Unterschied da­rin, dass es, anders als die übrigen KZ und VL, nicht dem SS-Wirtschaftshauptamt unter der Leitung von Oswald Pohl unterstand, sondern direkt dem CdZ, beziehungsweise dem ihm in dieser Funktion untergebenen BdS unterstellt war. Das Lager spielte eine Sonderrolle, was auch an den unterschiedlichen Bezeichnungen des Lagers abzulesen war, die sich jeweils nach der internierten Person und deren Haftgrund richtete (Arbeitslager, Arbeitserziehungslager, Sicherungslager, Konzentrationslager).396 Insgesamt waren die KZ kein Bestandteil der Sipo, obgleich die Sipo im Wesentlichen die Einweisungen in ein KZ durchführte. Nach der Einweisung hatte die Sipo nur in Ausnahmefällen noch Befugnisse über die Internierten. Maßgeblich für die Behandlung war der Lagerkommandant. Isselhorst gab hierzu an, dass die Lager von der Stapo nur per Sondergenehmigung zu betreten waren, was laut Isselhorst auch der Grund für die Unkenntnis der Lagerzustände innerhalb der Sipo war: »So mag die Behauptung verständlich sein, dass selbst wir über die wahren Vorgänge hinter den Lagerzäunen nicht informiert waren.«397 Da jedoch das Sila Schirmeck-Vorbruck unter Kontrolle des CdZ lag, war Isselhorst berechtigt, das Lager zu inspizieren, was er auch mindestens einmal im Monat tat.398 Hierbei fand er das Lager stets in »tadellosem« Zustand wieder. Zudem sei es ihm zu verdanken, dass das Lager weiterhin in der Hand des CdZ blieb, obgleich Himmler im August 1944 den Plan hegte, das Lager in die Hände des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes zu legen: »Ich nehme es mir als Verdienst an, im August 1944 den mir durch den Chef des Amtes IV des RSHA Berlin übermittelten Auftrag des Reichsführers Räumung) sowie die allgemeine Dienstaufsichtspflicht (Inspektionen und Kontrolle). 395 Neveu, Cédric: Das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck. Ein Lager im Zentrum der Germanisierungspolitik; in: Doerry, Janine; Klei, Alexandra; Thalhofer, Elisabeth u. Wilke, Karsten (Hrsg.) NS-Zwangslager in Westdeutschland, Frankreich und den Niederlanden. Geschichte und Erinnerung, Paderborn 2008, S. 61–76, hier S. 61. 396 Vgl. Ebd. S. 66f. 397 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 36). 398 Auszug aus dem Bericht von Major Barkworth »Missing Parachutists« vom 14. November 1945, S. 40. Internet: http://www.resistance-deportation.org/ IMG/pdf/Schirmeck._Extraits_Missing_Paras-2.pdf [23.09.2019].

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Himmler, dass das Sila Schirmeck mit sofortiger Wirkung in ein KZ-Lager unter Zentralverwaltung des SS Wirtschafts- u. Verw. Hauptamtes umzuwandeln sei, dadurch insistiert zu haben, dass ich Herrn Wagner dagegen mobilisierte. Seiner persönlichen Einschaltung bei Hitler ist es zu verdanken, dass Schirmeck damals nicht ein KZ-Lager geworden ist.«399

Obgleich Isselhorst durch seine Position, wie er selbst erklärte, keinerlei Kenntnisse von den Abläufen innerhalb der übrigen KZ im Reich besaß, schien es ihm bereits damals wichtig, dass die elsässischen Gefangenen »grundsätzlich nicht mit Erscheinungen der KZ im Reichsgebiet«400 konfrontiert werden sollten. Ein wenig Wissen über die dortigen Verhältnisse schien also doch vorhanden gewesen zu sein. Dass Isselhorst jedoch tatsächlich nur wenige übergreifende Kenntnisse von dem täglichen Lagerleben besaß, zeigt das Beispiel des Lagers Natzweiler, das er, trotz seiner örtlichen Nähe, während seiner Dienstzeit in Straßburg nicht besuchte.401 Dass es in beiden Lagern sehr wohl zu Folterungen, Tötungen und den »Erscheinungen der KZ im Reichsgebiet« kam, wurde von Isselhorst nach dem Krieg bedauert.402 Tatsächlich waren die Bedingungen im Sila Schirmeck-Vorbruck ähnlich wie in den übrigen KZ. Die vom Lagerkommandanten Karl Buck durchgeführten Maßnahmen beinhalteten neben der systematischen Unterversorgung der Häftlinge auch brutale Hinrichtungen, wie die Zerfleischung durch Hunde auf dem Appellplatz, Fleckfieberversuche an Gefangenen und die Erschießung von französischen Widerstandskämpfern. Der Lagerkommandant wurde nach dem Krieg ebenfalls zweimal zum Tode verurteilt, jedoch 1955 aus der französischen Haft entlassen.403 Ein Bericht des SAS Offiziers Barkworth vom 15. November 1945 über das Sicherungslager erwähnt die überaus gute Beziehung zwischen Isselhorst und Lagerleiter Buck: »Isselhorsts states he had a very high opinion of Buck’s ability, and wishes to make him Police President of Strassburg. He said that he visited Buck at least once a month, as he felt sorry for a man of Buck’s intelligence and education with no one in the camp to whom he could talk.«404

Wie Hohn liest sich dagegen die Aussage von Isselhorst in seinen Memoiren, als er die Zustände von Schirmeck mit seiner eigenen Inhaftierung 399 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 37). 400 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 37). 401 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 36). 402 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 34f). 403 Vgl. Pflock, Andreas: Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck – Ein erster Überblick über Ereignisgeschichte und Rezeption; in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 133 (2006), Berlin, S. 15–26. 404 Auszug aus dem Bericht von Major Barkworth »Missing Parachutists« vom 14. November 1945, S. 40. Internet: http://www.resistance-deportation.org/ IMG/pdf/Schirmeck._Extraits_Missing_Paras-2.pdf [23.09.2019].

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verglich: »Ich kann nur betonen, dass die verschiedenen Internierungslager, die ich seit 1945 von innen als Häftling kennengelernt habe, nicht im Entferntesten an Schirmeck heranreichten. Ich wäre dankbar gewesen, wenn ich dort die gleichen Verhältnisse angetroffen hätte.«405 Noch deutlicher wurde Isselhorst bei der von ihm wahrgenommen Versorgungslage der Insassen, bei der er dem Lager eine »vorbildliche Sauberkeit« attestierte, die Anlage durch »freundlich und gut unterhaltene Gartenanlagen« beschrieb und die Verpflegung als »sehr reichlich« betitelte.406 Offenbar war Isselhorst der Meinung, dass etwa 1.200 Kalorien am Tag407 für Menschen ausreichen würden, die zudem körperliche Zwangsarbeit verrichten mussten: »Sie wurde von den männlichen Insassen in sog. Aussenkommandos (Mercedes-Benz, Maschinen Reparatur Werkstätte, Holzeinschlag f. das Lager, Erdbewegungs-Arbeiten im Auftrage der Reichsbahn oder der Luftwaffe usw) vollzogen. Die weiblichen Häftlinge hatten Näh- und Flickarbeiten teils für die eigene Lagerverwaltung, teils für das Heeresbekleidungs-Amt in Strasbourg, durchzuführen. Das Lager enthielt Werkstätten für Spezialarbeiter (Schreinerei, Tischlerei, Schlosserei, Schneiderei usw), in denen ausser für den eigenen Lagerbetrieb Arbeiten für die Dienststellen des CdZ u. der Sipo u. des SD verrichtet wurden.«408

Dass Elsässer dennoch in deutschen KZ waren, lag daran, dass sie nach der Strafhaft noch einer Sicherungsverwahrung anheimfielen, die von deutschen Sondergerichten erlassen wurde. Diese konnte, laut Isselhorst, kraft Gesetz nur in KZ verbüßt werden; oder aber der Betroffene wurde aus Präventiv-Gründen, wenn er sich staatsfeindlich betätigt hatte (beispielsweise Kommunisten), auf Kriegsdauer inhaftiert. Da diese Zeit nicht klar begrenzbar war, wurden die Betroffenen in ein KZ überstellt. Nach der Evakuierung des Sila Schirmeck im November 1944 wurden die Insassen zumeist in deutsche KZ abgeschoben.409 Zuvor waren bereits Massenentlassungen, insbesondere von Frauen, durchgeführt worden, die jedoch aufgrund der Frontlage in Schirmeck festsaßen und auf die endgültige Befreiung des Lagers warten mussten.410 405 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 38). 406 Ebd. 407 Vgl. Pflock, Andreas: Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck – Ein erster Überblick über Ereignisgeschichte und Rezeption; in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 133 (2006), Berlin, S. 15–26. 408 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 38). 409 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 39f). 410 Vgl. Neveu, Cédric: Das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck. Ein Lager im Zentrum der Germanisierungspolitik; in: Doerry, Janine; Klei, Alexan­dra; Thalhofer, Elisabeth u. Wilke, Karsten (Hrsg.) NS-Zwangslager in Westdeutschland, Frankreich und den Niederlanden. Geschichte und Erinnerung, Paderborn 2008, S. 61–76, hier S. 75.

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Durch seine Doppelfunktion war Isselhorst gezwungen, oftmals die verschiedenen Dienststellen zu inspizieren, so dass er oftmals zwischen Karlsruhe, Stuttgart und Straßburg pendelte. Seine Frau, die eigentlich mit ihm gemeinsam in Straßburg hätte wohnen sollen, verbrachte jedoch nur wenige Wochen dort und begab sich anschließend wieder nach Bad Gastein. Aus diesem Grund schrieb Isselhorst in den Monaten ihrer Abwesenheit Briefe, die zumindest punktuelle Einblicke in seine Lebenswelt ermöglichen. Für die gemeinsamen Monate fehlen indes jegliche Dokumente. Lediglich in einer Notiz aus dem Jahr 1947, die Isselhorst zu seinem Prozess in Straßburg anfertigte, ist erwähnt, dass er zwar enthusiastisch an seine neue Aufgabe heranging, dies sich jedoch schnell aufgrund von staats- und parteipolitischen Fehlern änderte.411 Wahrscheinlich hing dies mit dem maßgeblichen Einfluss des CdZ Robert Wagner zusammen, dessen Maßnahmen für Isselhorsts Empfinden deutlich zu radikal waren. Generell war die »Elsasspolitik« ein Zankapfel, den er in seinen Memoiren wiederholt dazu benutzte, getroffene Entscheidungen des NS-Regimes zu kritisieren. Dies galt vornehmlich für die repressiven Maßnahmen gegenüber der einheimischen Bevölkerung, die Isselhorst als »kurzsichtige staatspolitische Anordnung[en]«412 abtat. Hierzu zählte er neben der Zwangsumsiedlung frankophiler Elsässer auch Anordnungen wie das Trage-Verbot von Baskenmützen und das Sprachverbot: »Die Befürchtung, die ich 1940 gelegentlich [bei] einer Durchreise in Strasburg hörte, man könne nach einem schnellen Friedensschluss mit Frankreich die Möglichkeit der Abschiebung solcher unsicheren Elemente auf französischem Boden verlieren, habe ich schon damals als in jeder Beziehung unverständlich u. unzutreffend nicht geteilt. […] Zwar liess der CdZ eine ›Rücksiedlung‹ von Familien oder Einzelpersonen offen, um unbillige Härten auszugleichen, doch wurde sie mit einer solchen Engherzigkeit behandelt, dass sie zahlenmässig nicht ins Gewicht fällt und das einmal angerichtete Unheil nicht wieder gutmachen konnte. […] Die Anordnung [gemeint ist das Verbot der Baskenmützen und der französischen Sprache, Anm. d. Verf.] war polizeilich gesehen von höchst bedenklichem Wert. Sie reizte zum Widerspruch weil niemand im Elsass etwas Strafbares darin finden konnte, ausser der eigenen Muttersprache, die aus dem jahrelangen Umgang geläufige französische Sprache, zu sprechen. Ihre Übertretungen konnten niemals in einer wirklich Erfolg versprechenden Weise erfasst und geahndet werden. Das gleiche trifft auf das Verbot des Tragens von Baskenmützen usw. zu. Mit solch kleinlichen Bestimmungen untergräbt man den Eindruck der eigenen Stärke und setzt sich der Gefahr der Lächerlichkeit aus.«413 411 RW 0725 Nr. 12. 412 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 26). 413 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 25f).

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Der Briefverkehr zwischen ihm und seiner Frau kam aufgrund deren Anwesenheit bis März 1944 zum Erliegen. Dies änderte sich jedoch mit der Rückkehr seiner Frau in die bayerischen Alpen, mit der auch der Briefwechsel wieder beginnen sollte. Von März 1944 existiert ein Brief an seine Frau, in dem er ihr einen Tag in Straßburg beschrieb: »Vorhin war ich zur Heldengedenkfeier auf dem Karl-Roos-Platz. Brigadeführer Lohse und der Pol. Präsident Oberführer Engelhardt gingen mit mir zusammen nach Hause. Ich habe sie dann zu einem Himbeergeist eingeladen und sie waren dann bis 18 Uhr bei mir. Es hat ihnen gut gefallen in unserer Klause und sie wollen jetzt öfter mal zu mir kommen. […] denn von 14 Uhr an waren die Berliner da und haben mit mir Personal- und Gehaltsfragen aller Führer meines Dienstbereiches besprochen, sodaß mein Vorhaben einen ruhigen, beschaulichen Sonnabend zu verleben, gestört wurde.«414

Dieser Brief ist jedoch ein Einzelstück aus dem ersten Halbjahr 1944. Bis Juni fehlen weitere Briefe von ihm. Allerdings existieren Fotoaufnahmen, die Isselhorst beim Besuch von Paris und Verdun anfertigte. Auch im Jahr 1944 wurde der Krieg unter touristischen Aspekten genutzt, obgleich die Aufnahmen von deutschen Soldaten in der okkupierten französischen Hauptstadt für Isselhorst zugleich eine historische Bedeutung besaßen, die er dokumentieren wollte.

Abb. 24 Besuch des Gräberfeldes in Verdun, Frühjahr 1944, LAV NRW R_RWB 28339, Nr. 3. 414 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 12.03.1944).

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Abb. 25 Paris-Besuch im Frühjahr 1944, LAV NRW R_RWB 28339, Nr. 13.

Abb. 26 Parade vor dem Arc du Triumphe beim Paris-Besuch im Frühjahr 1944, LAV NRW R_RWB 28339, Nr. 15.

Erst die Monate Juli bis Oktober brachten wieder regelmäßigeren Briefverkehr. Isselhorst entdeckte zu jener Zeit eine neue Freizeitbeschäftigung für sich – die Jagd. Sofern er Zeit erübrigen konnte, verbrachte er diverse Wochenenden bei Freunden in Wolfach, einem Ort rund 50 181

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Kilometer südöstlich von Straßburg, um in den dortigen Wäldern auf die Pirsch zu gehen. Diese Jagdausflüge beschrieb er mitunter ausführlich.415 Sein Alltag hingegen brachte ihn zumeist nach Stuttgart oder Karlsruhe zu Vorträgen oder Inspektionen, so wie er am 2. Juli schrieb: »Am Dienstag muß ich wieder nach Stuttg[art], wo ich übernachte. […] Am Freitag ist den ganzen Tag Tagung in Baden-Baden (Kurhaus), wo ich eine 1 1/2–2-stündige Rede halten muß. […]«416 Weiterhin beschäftigte ihn seine Karriere: »Meine Beförderung ist immer noch nicht da. Ich glaube nun doch, daß sie der RFSS abgelehnt hat. Er kann wohl nicht so schnell vergessen! Ich kann mich nun schon nicht mehr ärgern; aber es bedrückt mich doch schwer. […] Was bin ich froh, daß wir nicht zusammen in Minsk sind; du hättest doch längst wieder fort gemußt. Wer weiß, wie lange es noch in unserer Hand ist; die rückwärtige Verbindung (Sluzk) ist schon abgerissen.«417

Die militärische Einschätzung fiel hier deutlich reservierter aus, als dies noch während seines Ostfeldzuges zu beobachten war. Offensichtlich drang nun auch auf der Ebene der Sipo durch, dass der Krieg immer mehr die Gefahr einer Niederlage mit sich bringen könnte. Das Disziplinarverfahren aus Münchener Zeit haftete immer noch an ihm und es ist tatsächlich bemerkenswert, dass Isselhorst im Juli 1944, nachdem er zwei Jahre bei den Einsatzgruppen tätig war und zahlreiche Orden erhalten hatte und nunmehr sogar als BdS und IdS fungierte, immer noch den Rang eines Obersturmbannführers bekleidete. Vergleichbare Karrieren hätten sicherlich einen höheren Rang in der SS zur Folge gehabt. Dass Heinrich Himmler Einfluss auf die Verzögerung seiner Beförderung hatte, war eine Vermutung, die Isselhorst auch nach dem Krieg erneuerte.418 Isselhorst wurde am 15. Juli mitgeteilt, dass er nunmehr endgültig seine kommissarische Tätigkeit als IdS und BdS übernehmen sollte.419 Wichtiger als die militärische Lage war jedoch für Isselhorst seine persönliche Laufbahn: »Nun will ich aber in einer Stunde um 17.30h nach Wolfach fahren (mit dem Motorrad, zu mehr langt es nicht mehr!), um meiner zweiten Leidenschaft (die erste bist du!) zu frönnen [sic]. […] Übrigens ist heute meine endgültige Bestellung zum BdS u. Insp. eingetroffen, wenigstens etwas! Aber von der Beförderung zum Staf. ist weit und breit nichts zu sehen! Ende dieses Monats soll eine Tagung in Berlin sein. […]«420 415 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 29.06.1944). 416 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 02.07.1944). 417 Ebd. 418 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 42). 419 RW 0725 Nr. 23 (Kopie des Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 27 vom 15. Juli 1944). 420 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 08.07.1944).

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Abb. 27 Ort Rott (Bas-Rhin) im Elsass, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28324, Nr. 22.

Wann genau die erwähnte Tagung stattfand, wird in seinen Aufzeichnungen jedoch nicht aufgegriffen. Wahrscheinlich lag dies an den hereinstürzenden Ereignissen des 20. Juli 1944. In seinen Memoiren erinnerte sich Isselhorst jedoch an das Treffen bei einer Tagung mit Ernst Kaltenbrunner zu dieser Zeit, mit dem er wiederholt hart ins Gericht ging: »Ich war über das Niveau zutiefst erschüttert! Wenn im Jahre 1944 an politisch-polizeilichen, kriminellen und SD-mässigen Ereignissen nicht mehr passierte als das, was bei diesen Gelegenheiten und von einem solchen Gremium einem uninteressiert zuhörenden Chef Sipo u. SD vorgetragen wurde, dann war unser ganzer Apparat und sein ganzer Aufwand überflüssig!«421

Die Jagdausflüge mehrten sich in den kommenden Wochen und bildeten neben der Fertigstellung des vierteljährlichen Inspektionsberichtes die Hauptbeschäftigung Isselhorsts.422 Für seine Frau begann er Kirschen einzumachen. (»Bin ich nicht rührend in meiner Sorge um dein hausfrauliches Wohl? Ich erwarte, daß du mich liebst!«423) All dies belegt, dass Isselhorst trotz der angespannten Kriegslage wie auch in der Einsatzgruppenzeit viel Zeit für Freizeitaktivitäten hatte. Dies änderte sich 421 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 34f). 422 Vgl. RW 0725 Nr. 30 (Erwähnung von Jagdausflügen in den Briefen vom 09./13./16./19.07./03.08.1944). 423 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 09.07.1944).

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jedoch abrupt mit dem Scheitern des Attentats um Oberst von Stauffenberg am 20. Juli 1944: »[…] Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, ich bin gut verpflegt und habe meine Arbeit, und letztere natürlich mehr als mir lieb ist, wie du dir nach dem vorgestrigen Ereignis denken kannst. In dieser Nacht bin ich nicht zu Bett gekommen. Nun aber ist alles ja Gottseidank glücklich überstanden. Man mag garnicht daran denken, was passiert wäre, wenn das Schicksal es anders gewollt hätte. Ein Mann, der so von der Vorsehung sichtbar geschützt wird, kann nicht untergehen. Der Glaube an die Sendung unseres Führers ist allenthalben gewachsen. Mit verbissener Wut wird das deutsche Volk nun in den Zweikampf gehen und wird siegen, davon bin ich zutiefst überzeugt. Die nächsten Monate werden die Entscheidung des Krieges bringen; wir müssen nur bei der Stange halten, verbissen kämpfen und gläubig sein. Die Entwicklung geht aufwärts bei uns, wenn auch die äußere Lage etwas anderes zu zeigen scheint.«424

Eine derartige Beschreibung, beinahe sakraler Attribute, Adolf Hitlers wurde bis dato von Isselhorst kaum derart deutlich artikuliert – ein Beleg für die tiefe Führergläubigkeit, die in breiten Kreisen der SS gegenüber Adolf Hitler herrschte. Die angedeutete Arbeit, die Isselhorst zu verrichten hatte, bestand im Wesentlichen aus der sofortigen Festnahme aller ehemaligen Reichs- und Landtagsabgeordneten. Eine Maßnahme, die auf Grundlage einer durch die Gestapo geführten »A-Kartei« durchzuführen war, in der alle potentiellen Staatsfeinde aufgelistet wurden und die als »Aktion Gewitter« bekannt wurde.425 Bei seinen Inspektionen vor dem Attentat stellte Isselhorst fest, dass diese Liste im Elsass mit über 3.000 Personen enorm hoch war und er veranlasste, sie zu reduzieren, wodurch nur etwa 700 Personen auf der Liste verzeichnet blieben.426 Da Isselhorst die Zahl dennoch als zu hoch empfand und er Bedenken ob der Wirkung einer solchen Maßnahme hatte, protestierte er an höherer Stelle – jedoch vergebens.427 Die nach dem Attentat durchgeführte Großaktion wurde von Isselhorst 1947 in seinen Memoiren dementsprechend als Fehlschritt beschrieben, da sie die sicherheitspolizeiliche Lage im Elsass verschärfte.428 Daran folgend beschrieb Isselhorst noch eine weitere Maßnahme im Elsass, die er im Jahr 1947 heftig kritisierte, – nämlich den Einzug der elsässischen Reserveoffiziere in die Wehrmacht Mitte 1944. Diese 424 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 22.07.1944). 425 Vgl. Dams, Carsten u. Stolle, Michael: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 4. Auflage, München 2017, S. 74. 426 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 31). 427 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 30–33). 428 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 32–34).

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»freiwillige Meldung« für die Wehrmacht wurde von der Gestapo und dem SD überwacht, die die Erfassung der Offiziere veranlassen sollten. Bei Weigerung wurden die Soldaten in das Lager Schirmeck-Vorbruck gebracht, da sie »im höchsten Grade Unzuverlässige« seien. Zudem sollten ihre Familien abgesiedelt werden. Trotz, laut Isselhorst, großer Proteste seiner Person, die darauf fußten, dass es kein öffentliches Verständnis für solche Maßnahmen zu diesem Zeitpunkt gab und dies zudem keine Freiwilligkeit, sondern eine Zwangsmaßnahme war und die Reaktionen möglicherweise zu aktivem Widerstand animieren würden, blieben die Proteste beim CdZ Wagner ungehört. Demzufolge beschrieb Isselhorst den Verlauf der »Aktion« als negativ: Es gab wenige freiwillige Meldungen; viele Betroffene flohen in die Schweiz oder nahmen die Strafmaßnahmen in Kauf; stimmungsmäßig trafen die Befürchtungen von Isselhorst ein.429 Diese in den Memoiren beschriebene kritische Haltung gegenüber den Maßnahmen findet sich jedoch nicht in den Briefen wieder, die Isselhorst während der Zeit an seine Frau schrieb. Ganz im Gegenteil wurde die Rigorosität durchaus als positiv eingeschätzt. Als zentrales Element bestimmte weiterhin die zuvor beschriebene Führergläubigkeit den Tenor der Briefe, wie etwa am 29. Juli 1944: »Ja, meine Liebe, wir standen an einem Abgrund. Es kann nicht anders sein, als daß eine Vorsehung den Führer rettete und damit uns alle. […] Es geht nun um alles, und wir dürfen nicht schwach werden, sondern müssen mit zäher Verbissenheit durchhalten. Nun, wo wir wirklich vor dem totalen Kräfteeinsatz stehen, muß jeder mitmachen. Tut er das, dann werden wir schnell eine Besserung der Lage erleben. Drücken sich weite Kreise weiterhin – was ihnen allerdings kaum mehr möglich ist –, dann können wir verloren sein. Ich bin wieder viel unterwegs gewesen, habe mir das völlig zerstörte Friedrichshafen und mehrmals auch in dieser Woche das brennende und stark zerstörte Stuttgart angesehen. Es ist ein Jammer! Und doch hat sich auch hier wieder bewiesen, daß die Menschen in Zeiten größter Not Haltung haben und tapfer sind. […] Heute Nachmittag will ich, nachdem mich die Woche stark mitgenommen hat, zur Erholung nach Wolfach auf die Bockjagd fahren.«430

Tatsächlich war die Woche nach dem Anschlag geprägt von Verhören und Besprechungen, die Isselhorst zu führen hatte. Zu jener Zeit versuchte er auch seine Karriere zu fördern. Dies wollte er durch ein gemeinsames Kind mit seiner Frau erreichen. In einem Brief vom 31. Juli wird dies genauso deutlich wie das biologisch-rassistische Menschenbild, das auch von Isselhorst geteilt wurde: »Wir leiden beide darüber [gemeint ist die Kinderlosigkeit; Anm. d. Verf.], aber an unserer Liebe darf und wird das nichts ändern. […] 429 Vgl. RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 28–30). 430 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 29.07.1944).

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Gewiß würde es meinem Fortkommen dienlich sein, aber das können wir dadurch steuern, daß wir uns Kinder annehmen. […] Es gibt heute so viele Weisen mit bester Erbanlage, glaubst du nicht, daß wir ihnen viel Liebe u. viel Gutes u. eine Erziehung mitgeben könnten, die sie und uns stolz macht? Wäre es nicht ein Beweis von wahrer Herzensgüte u. Seelengröße, ganz abgesehen von einer selbstverständlichen Verpflichtung aus unserer geistlichen und weltanschaulichen Haltung heraus, wenn wir gerade heute uns zu diesem Entschluß durchringen könnten? Ich selbst wäre sehr glücklich darüber, und auch du solltest es sein.«431

Seine Frau schien ob der militärischen Lage und den Bombenangriffen beunruhigt und schrieb dies auch an ihren Mann. Isselhorst sah sich gezwungen, erste Durchhalteparolen zu entwerfen und verband diese mit einem Rückbezug auf die vergangenen Wochen, die vom missglückten Attentat des 20. Juli geprägt waren. »Du darfst überhaupt nicht unruhig sein, mußt an das gute Ende glauben. Jeder muß mitmachen, so gut er kann, es gilt alles anzuspannen u. alle verfügbaren Kräfte einzusetzen. Will meine Frau, auf die ich sonst so stolz bin, da zurückstehen? Die Zeit des Verrates liegt hinter uns; jetzt ist uns allen klar, warum das alles so kommen mußte und alle guten Hoffnungen immer wieder zerschlagen wurden. Ich werde dir mal einiges davon erzählen. Aber nun geht es wieder bald aufwärts; wir sind wieder stark geworden, noch kurze Zeit des harten Durchhaltens, dann werden wir wieder Oberwasser bekommen. Nur nicht verzagen meine Liebe, es geht um mehr als uns, es geht um alles, um Sein oder Nichtsein des Volkes und Vaterlandes. Wir standen fast blind am Abgrund und haben schaudernd in die Tiefe gesehen. Wir haben es überstanden, nun atmen wir wieder frei u. zuversichtlich.«432

Etwa im August 1944 wurde Isselhorst vermehrt in Abwehrmaßnahmen eingebunden, die zum Teil aus dem Aufbau einer neuen Verteidigungslinie, zum Teil aus der Vereitelung direkter Angriffe des französischen Widerstandes bestanden. So erwähnte er in einem Brief an seine Frau Anfang August: »Am Sonntag führe ich in den Vogesen eine Großrazzia gegen versprengte Banden und Deserteure durch, und Montag muß ich nach Karlsruhe und Mannheim. Du siehst also, wie viel du von mir hättest, wenn du hier bei mir wärst?«433

In seinen Memoiren erinnerte sich Isselhorst, dass Anfang August 1944 die Stapo von einem Plan der Maquis erfuhr, der beinhaltete, das Lager Schirmeck anzugreifen, die Häftlinge zu befreien und dem Maquis einzuverleiben. Ausgangspunkt sollte das Plaine-Tal sein. Da zu der Zeit 431 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 31.07.1944). 432 Ebd. 433 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 08.08.1944).

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keine Verbindung zu deutschen Truppen auf dem französischen Gebiet bestand, ordnete der CdZ als Reichsverteidigungskommissar »Gefahr im Verzug« an und kommandierte Einheiten aus dem Elsass (Schupo, und Teile der 405. Division) in das besagte Gebiet. Kommandostand der Operation war das Lager Schirmeck. Die Leitung oblag General Seeger, dem HSSPF Otto Hofmann sowie General Petersdorff (Orpo) und Isselhorst (BdS) als Verantwortlicher vor dem Reichsverteidigungskommissar. Die Operation begann Mitte August und war ein voller Erfolg, da auch Sabotageaktionen des 2. SAS Regiments aufgedeckt werden konnten, das mit den Maquis zusammenarbeitete.434 »Herr Wagner befahl unter ausdrücklichen Hinweis auf die einschlägigen Führerbefehle über die Bekämpfung aller Freischärler und ihrer Helfershelfer rücksichtsloses Vorgehen, um unter allen Umständen das gesteckte Ziel, das Elsass von dieser drohenden Beunruhigung frei zu halten, zu erreichen.«435

Der HSSPF Otto Hofmann bestätigte in einer eidesstattlichen Aussage vom 30. November 1945 diese gemeinsam durchgeführte Aktion und bestritt gleichzeitig seine Kenntnis der darin verübten Verbrechen: »SS-Staf Isselhorst, der Befehlshaber und Inspekteur des SW besprach mit mir im Sept. 1944 in Strassburg seinen Plan der Aktion gegen die MAQUIS, welche er im Einverständnis mit der Wehrmacht durchzuführen gedachte. Ich hatte zuzustimmen, und gab meinem BdO, General Petersdorff, den Befehl, Isselhorst für seine Aktion ein Bataillon ORPO unter Führung entweder des Majors Ewald oder Fechner, zur Verfügung zu stellen. An dieser Aktion wurden auch ca. 100 Mann des SS-Abschnittes 45 (Allgemeine SS) zur Verfügung gestellt. Durch deren Führer, dem verstorbenen SS-Brigadeführer Lohse, hörte ich zum ersten Male von dem Vorhandensein eines oder zweier SAS Regimenter. Später wurde mir das auch von dem Major der ORPO und durch Berichte Isselhorsts bestätigt. Ich bestreite, daß ich damals Kenntnis von dem sogenannten Kommandobefehl des RSHA hatte, daß die Mitglieder des Britischen SAS-Regimentes als Banditen zu betrachten wären und zu erschießen seien. […] Im Oktober oder November 1944 befahl der Chef der Civilverwaltung, Gauleiter Wagner, die Räumung des Arbeitslagers Schirmeck und den Transport der Gefangenen von dort nach Gaggenau und Hasslach.«436

Isselhorsts Einsatz gegen die lokalen Widerstandskämpfer nahm indes Fahrt auf. So wurde er bei einem Kurzurlaub bei seiner Frau noch in der Nacht alarmiert und zur Rückreise nach Straßburg gezwungen: 434 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 43f). 435 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 44). 436 NW 130, Nr.220 (Eidesstattliche Erklärung vom 30.11.1945).

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»[…] Was hätten wir noch alles in den beiden Tagen anstellen können, wieviel Wunderschönes wäre noch gesprochen und getan worden! Aber dann musste mal wieder das Kriegsschicksal mit harter Hand eingreifen und zwei Liebende trennen. […] Mittags bin ich dann ›ins Gebiet‹ gefahren (bis nach Frankreich hinein) und anschliessend fanden dann wieder Besprechungen bis nach 23 h statt. […] Du kannst unbesorgt sein, die Sache hat durchaus noch kein ernsteres Ausmaß. Allerdings war es gut, daß man mich zurückgerufen hat, weil doch eine Reihe wichtiger Entscheidungen zu treffen waren und weiterhin sind. Wir haben einen guten Erfolg erzielen können, der morgen hoffentlich noch eine Krönung durch die Festnahme der führenden, durch aufgefundenes Material bekannt gewordenen Köpfe der Widerstandsbewegung finden wird. Es war 5 Minuten vor 12!«437

Zur »Bandenbekämpfung« als zentrale Aufgabe kam in den kommenden Wochen eine weitere Großaufgabe hinzu, die in Isselhorsts Augen gar kriegsentscheidend sein sollte: »[…] Zu der bekannten Aufgabe ist eine neue, sehr große und kriegsentscheidende gekommen. Ich bin voll und ganz eingespannt und meine bisherige Arbeit ist fast vollkommen in den Hintergrund getreten.«438 Die Ermittlungsergebnisse des Unternehmens förderten große Mengen an Plänen und Schriftstücken der Saboteure zu Tage, die von der Stapo genutzt wurden, um Mitverschwörer zu enttarnen und beispielsweise die von den Alliierten abgeworfenen Mischlast-Behälter in ihren Besitz zu bringen. Insgesamt wurden laut Isselhorst mehr als 2.000 Maquisarde und von den 100 eingesetzten SAS Spezialkommandos etwa 33 gefasst. Noch während der »Aktion« erhielt Isselhorst von Wagner den Auftrag, einen Schutzwall entlang der elsässisch-französischen Grenze von Sarburg (Lothringen) bis Celle (Schweizer Grenze) zu errichten. Der Deckname der »Aktion« lautete »Operation Waldfest«, die am 1. September 1944 begann und an der etwa 50.000–60.000 Jugendliche aus der Hitler-Jugend im Alter von 13 bis 16 Jahren teilnahmen.439 Die Operation wurde laut Isselhorst durch »bewunderungswürdige Schanzarbeit deutscher Jugend« zum Abschluss gebracht, obgleich sie im weiteren Kriegsverlauf keinen militärischen Zweck erfüllte. Allerdings konnten vorzeitige Übergriffe der Maquis auf das Elsass bis zur Räumung im November 1944 verhindert werden.440 Dass Isselhorst dem Westwall tatsächlich eine große Bedeutung zukommen ließ, verdeutlichen seine eingehenden Bildaufnahmen. Seine Beteiligung an der Abwehrmaßnahme wird von ihm als bedeutende Leistung empfunden. Daher dokumentiert er diese mit den Fotoaufnahmen. Die militärische Zuversicht Isselhorsts wurde auch nicht durch einen 437 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 21.08.1944). 438 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 28.08.1944). 439 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 44). 440 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 46).

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Abb. 28 Inspektion des Westwalles, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28322, Nr. 2.

Abb. 29 Inspektion des Westwalles, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28322, Nr. 4.

Großangriff alliierter Bomber auf Straßburg ins Wanken gebracht, der in der Nacht auf den 12. August 1944 durchgeführt wurde. Ein Hoffnungsschimmer, den Isselhorst an seine Frau sandte, waren die geplanten Raketenangriffe mit der neu entwickelten V2. 189

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Abb. 30 Inspektion des Westwalles, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28322, Nr. 1.

»Die Schweine haben genau gezielt! Doch vielen Elsässern und Straßburgern sind nunmehr die Augen aufgegangen und man hört manch böses Wort über die Anglo-Amerikaner. So was muß erst mal kommen, um die Menschen vernünftig zu machen. […] Hoffentlich sieht man bald klarer; ach was gibt es für schlechte Deutsche! Wenn man bedenkt, daß alles hätte ganz anders sein können, wenn diese Schweine nicht gewesen wären. Nun sind wir wieder einmal um Monate zurückgeworfen. Aber wir haben jetzt die Gewißheit, daß uns nun niemand mehr aus den eigenen Reihen in den Rücken fallen kann; wir werden es schaffen, glaube mir, und wenn in Bälde V2 losschlagen wird, soll es auch drüben erhebliche Erschütterungen geben, faktische und moralische. Schon heute lastet V1 wie ein unabwendbarer Abdruck auf Südengland; die richtige Wirkung haben wir uns ja erst von der ›Dauer‹ dieser Vergeltungswaffe versprochen, nur schade, daß diese Wirkung wieder durch die Ereignisse des 20.7. abgeschwächt wurden. […] Was macht eigentlich dein Arbeitseinsatz? Kannst du dich nicht irgendwie betätigen? Du vergißt doch nicht, daß es neben der Selbstverständlichkeit für jeden Deutschen, heute mitzuhelfen, wo er nur kann, es für dich auch noch eine Rücksichtnahme gibt. Die Leute passen allzugerne auf Frauen ›großer Männer‹ auf!«441

Bemerkenswert ist die noch immer empfundene unmittelbare Wirkung des Attentats vom 20. Juli auf die deutsche Kriegsstärke, als wäre das Attentat verantwortlich für sämtliche nachfolgenden Ereignisse wie 441 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 14.08.1944).

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die Bombenangriffe, die Isselhorst in Straßburg miterlebte – eine Art empfundenes Menetekel, das über den deutschen Kriegsanstrengungen schwebte und diese behinderte.

Abb. 31 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert. LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 27.

Abb. 32 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert, LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 28.

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Abb. 33 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert, LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 29.

Abb. 34 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert, LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 30.

Die Fotoaufnahmen der Zerstörung von Straßburg stehen in einem anderen Sinnzusammenhang als die Bebilderung der zerstörten Städte im Ostfeldzug. Im Gegenteil illustrieren die Bilder ein von Isselhorst 192

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empfundenes Verbrechen, dass er durch die Aufnahmen dokumentieren möchte. Die Vorstellung von Isselhorst, dass es sich bei den Bombardements auf Straßburg um eine unrechtmäßige Gräueltat der Alliierten handelte, wird auch in weiteren Quellen belegt.442 Der Ton, in dem Isselhorst seiner Frau Mut für die bevorstehenden Monate machte, zeigte ein bemerkenswertes Pathos. Ganz eingenommen von den Ereignissen und der NS-ideologischen Deutung der vergangenen Wochen schrieb Isselhorst Ende August 1944: »So düster auch alles aussehen mag, einmal wird auch uns und allen Deutschen und dem Vaterland die Sonne wieder scheinen. Ich bin sicher, daß trotz aller Rückschläge, trotz allen Verrates wir siegreich aus diesem Ringen um unseren völkischen und rassischen Bestand hervorgehen werden. Wir sind an dem entscheidenden Punkt dieses Krieges angelangt; die nächsten Wochen werden offenbaren, daß wir die stärkeren, weil gläubigeren sind.«443

Die Gläubigkeit, die Isselhorst hier anspricht, war zwar bereits in früheren Aufzeichnungen erkennbar, jedoch wurde diese nicht so deutlich ausgesprochen wie an dieser Stelle. Die NS-Ideologie schien bei Isselhorst insbesondere in Krisensituationen starke Geltung zu besitzen – ganz anders, als er dies während seiner Gefangenschaft zwei Jahre später wahrhaben wollte. Freilich war die vermeintliche Zuversicht auch das Produkt einer verkehrten Situationseinschätzung von höherer Stelle, die beispielsweise von Heinrich Himmler propagiert wurde und an die sich Isselhorst auch nach dem Krieg erinnerte: »Unbegreiflich war mir und vielen anderen, dass er, so offen er über manche prekären Dinge in geschlossenen Gesellschaften auch sprechen konnte, selbst 1944 und später noch die allgemeine Lage des Reiches in der damaligen schon höchst kritischen Zeit derartig bagatellisierte bzw. so rosig schilderte, als ob Deutschland nicht in einem verzweifelten Existenzkampf, sondern vor dem eindeutigen Endsiege stände! […] Diese Sicherheit seines Auftretens, der jede beunruhigende Wirkung völlig fern war, war immer wieder geeignet, die Zweifel zu zerstreuen oder zumindest zurückzudrängen, die sich doch in so mancher Brust niedergelassen und festgesetzt hatten.«444

Dem Optimismus zum Trotz verbreitete sich die amerikanische Offensive in Frankreich auch in der deutschen Öffentlichkeit. Gerüchte und Vermutungen über die Nähe der feindlichen Einheiten wurden laut und bildeten eine Gefahr für die »Moral der Bevölkerung«, deren Festigkeit eben auch im Aufgabenbereich von Isselhorst lag. Dementsprechend harsch reagierte Isselhorst in den kommenden Wochen auf Fragen 442 RW 0725 Nr. 14. Vgl. auch RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 14.08.1944). 443 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 29.08.1944). 444 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 44).

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und Ängste, die seine Frau ihm postalisch aus der Heimat zusandte. So schrieb er ausführlich: »Bleibe bitte ruhig; es sieht draußen alles schlimmer aus als es ist u. die Leute machen es vor allem schlimmer. Was in den letzten Tagen hier an Gerüchten aufgetaucht ist u. Gott u. die Welt verrückt gemacht hat, das ist unfaßbar. Demnach waren u.a. amerikanische Panzer bereits vorgestern auf der Straße Schirmeck-Straßburg gesichtet wurden! Nun seit kurzem hat sich die größte Unruhe wieder gelegt. Man weiß, daß nun wieder angefangen u. gekämpft wird. Wir werden das Elsaß nicht preisgeben und die Ruhe bewahren. So denken wir auch nicht an eine Evakuierung. Eines dürfte feststehen: noch in diesem Jahre wird die Entscheidung fallen, und sie wird trotz allem für uns fallen. Wir wissen positiv, daß der Engländer auch nicht mehr kann, daß er in diesen noch ausstehenden Monaten September u. Oktober die Entscheidung erringen muß, die er sich schon für August erhofft hatte. Wenn er jetzt schon weich in den Knien ist, wie wird das erst sein, wenn V2 u.a. kommt! Gerade werde ich telefonisch wieder zu Hoffmann bestellt. Im Übrigen hat der RFSS die ganze Westverteidigung in die Hand bekommen: das bedeutet die Garantie für eine glatten u. erfolgreichen Ablauf der Dinge. Also nochmals, mache dir keine Sorgen, auch wenn alle ›Brudergenossen‹ (Finnland, Bulgarien) abspringen. […]«445

Die positive Haltung gegenüber der Kriegslage und seine Hoffnung auf die V2 Rakete passten in das allgemeine Bild, das Isselhorst von seiner Arbeit am Westwall und in der Bekämpfung des Widerstandes zeichnete. Auch am 8./9. September vermeldete Isselhorst: »Bei uns ist die Lage durchaus stabilisiert. Bald werden wir auch wieder Erfolge haben. Meine Arbeit selbst verläuft ebenfalls zur Zufriedenheit aller; wir stehen ganz groß drin, ich freue mich sehr darüber, insbesondere auch für meine Männer, die sehr schöne Erfolge haben. […]«446

Und auch im kommenden Schreiben, in dem Isselhorst auf die Frage seiner Frau nach seinen konkreten Tätigkeiten einging, die sicherlich ob der attribuierten »kriegsentscheidenden Aufgabe« neugierig wurde, konnte Isselhorst nur positive Meldungen machen: »Einzelheiten über meine dienstliche Aufgabe, die natürlich im Rahmen der BdS-Tätigkeit liegt, kann ich dir nicht schreiben. Ich bin viel unterwegs u.z. auch bzw. vor allem nach Frankreich jenseits der Vogesen, wo ich eine Reihe von kleineren Kommandos einrichten mußte. Es herrscht viel interessanter Betrieb; Ich bin mal wieder so richtig in meinem Element. […] Man muß schon höllisch aufpassen, wenn man auf Fahrt ist. Na, du kennst ja deinen Erich, mir passiert schon nichts!«447 445 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 03.09.1944). 446 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 08./09.09.1944). 447 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 10.09.1944).

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Trotz der von ihm erwähnten hohen Arbeitsbelastung und der tatsächlichen Feindesnähe ließ sich Isselhorst jedoch nicht von seiner neugewonnen Jagd-Leidenschaft abbringen, die er weiterhin in mehreren Briefen ausführlich beschrieb.448 Die weiterhin bestehenden Gerüchte über die bevorstehende Niederlage wurden von ihm vehement bestritten: »Ich weiß zwar nicht, was dir Else alles an Gerüchten mitgebracht hat; eines aber steht fest: es sind eben alles haltlose, unverantwortliche Gerüchte. Weder ist Str. und auch nicht das übrige Elsaß geräumt noch liegt oder lag jemals eine Stadt im Elsaß unter Beschuß! Wenn man nach den Gerüchten gehen wollte, wären die Amerikaner bereits in Berlin! Also, meine Liebe, sei schön ruhig und hoffnungsvoll, es wird alles gut gehen. Ich bin sogar gestern Nachmittag auf der Jagd gewesen, ohne Erfolg allerdings. Aber auch daraus magst du entnehmen, daß die Lage nicht so ernst ist, wie sie von diesen unverantwortlichen Schwätzern hingestellt wird. Wir werden noch einmal Zeiten ungetrübten Glücks erleben, du mußt fest daran glauben! Mit vielen Grüßen und Küssen meiner Dein Erich.«449

Eine Woche später wurde dies noch deutlicher, als Isselhorst sich über die Ordnungsmäßigkeit der Hinrichtung des KdS in Paris und der Absetzung des BdS Frankreich ausließ: »Es befriedigt mich außerordentlich, daß du nun wenigstens von der Unrichtigkeit der größten Gräuelmärchen überzeugt bist. Wenn natürlich der SD-BA München einen Mann in Richtung Straßburg schickt mit dem Auftrag zu versuchen so weit wie möglich zu kommen und dann bemerken, daß er ja wohl nach Str. selbst nicht mehr kommen werde, dann darf man sich nicht wundern, daß diese Scheißhausparolen in der Bevölkerung grassieren und Else sie am Ende auch noch weitergibt.«450

Zuversichtlich zeigte sich Isselhorst auch im darauffolgenden Brief: »Ich fühle mich so mobil und einsatzfähig wie selten zuvor. Meine Zuversicht auf einen guten und baldigen Ausgang ist nicht geringer geworden. Glaub’s mir, meine Liebe, es wird bald alles wieder ein anderes Gesicht bekommen. […] Leider kann ich den Fernschreiber nicht benutzen; […] und wenn er läuft, kann man ihn nicht mit solchen Sachen belasten. Unser Schicksal muß eben gegenüber allem anderen zurückstehen.«451

Ein weiterer Bombenangriff Ende September, dessen Ausmaße deutlich größer waren als der im vorangegangenen Monat auf Straßburg (»[…] die Verluste sind entsprechend, wenn auch im Verhältnis durchaus 448 RW 0725 Nr. 30 (Beschreibungen von Jagdausflügen in den Briefen vom 10./11./27.09.1944). 449 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 11.09.1944). 450 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 17.09.1944). 451 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 26.09.1944).

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erträglich«452) veranlasste Isselhorst zur raschen Beruhigung seiner Frau. Auch nutzte er die Gelegenheit zu weiteren Durchhalteparolen: »[…] Mein Bruder hat sich tadellos bewährt und seine Feuerprobe bestanden. […] Ein wenig durchpustet sah zwar meine Villa aus, aber sonst hat sie herrlich standgehalten und auch der Auerhahn hing noch an seinem Platz! […] Alle Nachrichtenverbindungen sind vorläufig mal ausgefallen, aber das wird in diesen Tagen schon wieder fertig. Es ist direkt eine himmlische Ruhe, kein Telefonanruf, kein Fernschreiben! […] In wenigen Tagen sieht alles nur mehr halb so schlimm aus. […] Mit dir bin ich froh darüber, daß es unseren Lieben in Ddf gut geht. Ja, sie werden auch ihre Sorgen haben und doch bin ich, besonders nach dem heutigen Wehrmachtsbericht (Zerschlagung der 1. engl. Rußlanddivision), sicher, daß sie nicht räumen müssen. Bald werden wir auch die Luftüberlegenheit unserer Feinde wieder gebrochen haben und ihnen etwas entgegenzustellen haben, daß uns von vielen Sorgen, die sich einem heute aufdrängen, befreien wird.«453

Von seinem gewohnten Tagesablauf ließ sich Isselhorst trotz der nahenden Gefahr jedoch nicht abbringen. Ganz im Gegenteil wurde auch im Oktober viel Zeit der Jagd gewidmet und auch die alltägliche Arbeitsbelastung schien sich in Grenzen zu halten: »Bis Montag Morgen will ich hier ausspannen, dann geht es wieder mit frischen Kräften an die Aufgaben. Deine Sorge bzgl. […] Belastung durch die neue Aufgabe in Frankreich ist inzwischen unbegründet geworden: der RFSS hat entschieden, daß die dortigen Einrichtungen bestehen bleiben, solange noch ein Fuß breit französischer Boden in unserem Besitz ist.«454

Die Aufräumarbeiten in Straßburg hielten Isselhorst in den kommenden Wochen beschäftigt. Gestört wurden die Arbeiten indes nur vom aufkommenden schlechten Wetter und den vermehrt geflogenen Angriffen der britischen Luftwaffe auf Straßburg. Isselhorst plante währenddessen den Umzug seiner Frau nach Wolfach – ein Plan, der jedoch nicht in die Tat umgesetzt werden konnte.455 Auch wurde die Dienstbezeichnung für Isselhorst geändert, wie er seiner Frau am 15. Oktober mitteilte: »Übrigens bin ich jetzt nur noch Befehlshaber, also auch für Baden und Württemberg, und nenne mich Befehlshaber Südost! [gemeint ist Südwest, Anm. d. Verf.]«456 Die kriegsentscheidende Aufgabe in Frankreich, mit der er seine Frau im Monat zuvor noch in Neugier versetzte, entpuppte sich Ende 452 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 27.09.1944). 453 Ebd. 454 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 07.10.1944). 455 RW 0725 Nr. 30 (Briefe vom 10./15./20.10.1944). 456 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 15.10.1944).

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Oktober 1944 als nicht ganz so bedeutsam. Letztlich war Isselhorst mit der Bewachung des Ausbaus des Westwalles beschäftigt gewesen, der jedoch bereits einen Monat später den amerikanischen Truppen kaum Widerstand bereiten sollte. Am 20. Oktober berichtete Isselhorst noch: »Übrigens ist H[ans] ab kommenden Samstag wieder für immer zu Hause; sein Einsatz ist vorbei. Jetzt kann man ja darüber schreiben: Es handelte sich um den Bau neuer Befestigungslinien und den Ausbau des alten Westwalles, die von mir sicherheitspolizeilich abzuschirmen waren. Wir haben sehr schöne Erfolge gehabt u. der Gauleiter sowie andere sind des Lobes voll. Nun ist die Aufgabe im Wesentlichen abgeschlossen und deshalb ziehe ich zum Wochenende den größten Teil meiner Kommandos wieder zurück.«457

Die militärische Lage an der Westfront war aus deutscher Sicht jedoch deutlich schlechter, als dies Isselhorsts Beschreibungen vermuten lassen. Lediglich der Umstand, dass die amerikanische Kommandantur ihren Fokus auf das nördliche Rheinland (Rheindelta/Aachen) legte, verschaffte dem Elsass eine kurze Atempause vor der Invasion. Doch unter Drängen der französischen Militärführung wurde auch der elsässische Raum in den Vogesen ab November von der 6. Heeresgruppe gemeinsam mit der 3. US-Armee attackiert. Die Landung und Befreiung der südfranzösischen Häfen, die durch das Landungsunternehmen »Dragoon« initiiert wurde, hatte zur Folge, dass die Nachschübe für die alliierten Streitkräfte nunmehr gesichert waren und etwa ein Drittel der Versorgung der alliierten Streitkräfte über Südfrankreich abgewickelt werden konnte. Ergänzt durch das französische I Korps wurde innerhalb von vier Wochen etwa 500 Kilometer Raumgewinn erzielt, so dass die Front am 21. November 1944 bereits nördlich vom befreiten Belfort lag.458 Im Verlaufe der Operation gelangen Durchbrüche bis zum Oberrheingraben bei Mühlhausen am 19. November und bereits am 23. November wurde Straßburg erobert.459 Kurz vor Eintreffen der alliierten Einheiten wurden in der sogenannten »Schwarzwälder Blutwoche« etwa 70 inhaftierte Widerstandskämpfer ermordet. Der spätere Mitangeklagte Erich Isselhorsts, Julius Gehrum (Jg. 1889), und Dr. Helmut Schlierbach (Jg. 1913) wollten durch die Morde mögliche Belastungszeugen liquidieren und taten dies in mehreren Gefängnissen im badischen Gebiet. Weitere 25 Widerstandskämpfer wurden von einer Gruppe um Gehrum am 30. November 1944 in einem Bombenkrater im Pforzheimer Waldgebiet Hagenschieß 457 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 20.10.1944). 458 Vgl. Schreiber, Gerhard: Der Zweite Weltkrieg, 3. Auflage, München 2005, S. 109. 459 Vgl. Kershaw, Ian: Das Ende. Kampf bis in den Untergang NS Deutschland 1944/45, 2. Auflage, München 2011, S. 195f.

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per Genickschuss ermordet.460 Nicht eindeutig zu belegen ist, ob Isselhorst Kenntnisse über diese »Aktionen« besaß, – es ist jedoch aufgrund der Aussagen Isselhorsts nach dem Krieg und der Nicht-Erwähnung der Taten in den zeitgenössischen Dokumenten von Isselhorst zu vermuten, dass diese Morde auf die persönliche Initiative von Gehrum und Schlierbach zurückgingen und nicht in Absprache mit Isselhorst erfolgten. CdZ Wagner rief den militärischen und polizeilichen Notstand aus, wodurch die bestehenden Rechtsgrundsätze außer Kraft gesetzt wurden. Wagner delegierte seine Befehlsgewalt auf die Kreisleiter weiter, die damit Vollmachten auch über die Wehrmacht besaßen:461 »Für alle Fälle, in denen bisher die ordentlichen oder Sondergerichte zuständig gewesen waren, wurden sog. polizeiliche Standgerichte mit einer gemischten Besetzung eingerichtet, die von Fall zu Fall örtlich zusammentreten sollten. Ausgenommen wurden alle Fälle von nachgewiesener aktiver Spionage, Landesverrat und Feindbegünstigungen im Frontgebiet, wo nach erfolgter Aufklärung die sofortige Erschiessung ohne Standgericht befohlen wurde. Diese war durch die örtlich zuständige, sachbearbeitende Dienststelle der Stapo durchzuführen.«462

Isselhorst berichtete weiter, dass gegen die missbräuchliche Anwendung dieser Vollmacht von Wagner die Anweisung gegeben wurde, dass bei Erschießungen der BdS die Überprüfung durchzuführen und zu genehmigen hätte, und dem CdZ darüber Vortrag zu halten habe. »Gegen die Übernahme dieser Aufgabe durch die Stapo konnte ich mich aus sachlichen und formellen Gründen, die aus meinen früheren allgemeinen Ausführungen Verständnis finden mögen, nicht wehren; hatte doch die Truppe seit Mitte 1944 keine eigene Geheime Feldpolizei mehr, die bis dahin zuständig gewesen war.«463

In den Memoiren gestand Isselhorst in Bezug auf diese Exekutionsaufgabe daraufhin, dass bei Hünningen vier Zivilisten aufgrund von Kontaktaufnahme mit den alliierten Truppen auf Befehl Wagners und der Prüfung Isselhorsts erschossen wurden.464 Erst durch das Unternehmen Nordwind Ende Dezember 1944 bis Januar 1945 konnte die Wehrmacht kurzfristig wieder Teile des elsässischen Gebietes zurückerobern.465 Isselhorst war zu jener Zeit bereits seines Kommandos enthoben worden. In 460 Vgl. Redding, Tony: Bombing Germany. The Final Phase. The Destruction of Pforzheim and the closing Months of Bomber Command’s war, Barnsley 2015, S. 41f. 461 Vgl. RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 46). 462 Ebd. 463 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 46f). 464 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 47). 465 Vgl. Lieb, Peter: Unternehmen Overlord. Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas, München 2014, S. 209f.

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KRIEGSENDE UND KRIEGSGEFANGENSCHAFT

einem Verhörprotokoll, das knapp ein Jahr später am 5. Oktober 1945 in amerikanischer Gefangenschaft entstand, gab Isselhorst an: »[…] Als die Alliierten Strassburg eroberten, verliess die Sipo in Colmar ihren Posten ohne mein Wissen und meinen Befehl und begab sich nach Freiburg. Aus diesem Grund wurde ich am 10 Dec 1944 meines Amtes enthoben und nach Berlin befohlen.«466

Kurze Zeit vor seiner Abkommandierung wurden ihm dennoch die von ihm so langersehnten Beförderungen gewährt. Am 14. Oktober (Mitteilung am 14. November) wurde Isselhorst durch Kaltenbrunner zum Oberst der Polizei ernannt.467 Ebenfalls wurde er am 9. November zum SS-Standartenträger befördert.468 In einem zusammenfassenden Bericht, den er nach dem Krieg in Gefangenschaft über das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck entwarf, – ein Lager, welches unter der Aufsicht des IdS Südwest stand, – berichtete Isselhorst, dass ihm in seinem Absetzungsdekret mitgeteilt wurde, dass es ihm an »notwendiger Härte« fehlen würde.469 So wurde Isselhorst nach Berlin abkommandiert, wo ihm neue Aufgaben anvertraut werden sollten.

3.5 Kriegsende und Kriegsgefangenschaft Nach seiner Rückkehr aus Straßburg im Dezember 1944 meldete sich Isselhorst wie angeordnet beim RSHA. Jedoch schien man hier noch keine sofortige Verwendung für ihn zu haben, sodass er Ende Dezember frustriert an seine Frau schrieb: »Wo ich am 31. sein werde, weiß ich noch nicht. Der Chef ist noch nicht in Berlin, ich hoffe, daß ich mich morgen bei ihm melden kann. Von der Unterredung mit ihm wird es abhängen, was man mit mir in den nächsten Monaten anstellen wird. Gruf Müller, bei dem ich mich heute meldete – den gestrigen Tag war ich völlig umsonst hier! – sprach zwar in den bekannten Tönen vollen Lobes über mich, spekuliert aber offensichtlich darauf, daß ich mich für eine Tätigkeit in seinem Amt festlege. Das aber möchte ich, wenn eben möglich, vermeiden. […]«470 466 RW 0725 Nr. 14. 467 RW 0725 Nr. 23 (Ernennungsurkunde datiert auf den 14.10.1944). Vgl. Kopie von Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD (02.12.1944) Nr. 50, S. 359: »Ernannt zum Oberst der Pol.: SS-Standartenführer Ob. Reg. Rat Dr. Isselhorst (BdS Südwest).« Archiviert in RWB 725, Nr. 23. 468 RW 0725 Nr. 23 (durch Schreiben vom 03.11.1944). 469 RW 0725 Nr. 18. 470 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 29.12.1944).

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Vorerst blieb die Position Isselhorsts unklar und er quartierte sich bei Bekannten im Grunewald ein, die er noch aus seiner Münchener Gestapo-Zeit kannte. Über seine nächste Aufgabe konnte er jedoch nur Mutmaßungen anstellen: »Ich spekuliere, falls nicht überhaupt schon bald ein neuer Einsatz kommt (Belgien ist bereits vergeben!) auf einen Sonderauftrag, der mir über die nächste Zeit hinweghilft, denn bleiben möchte ich weder in Berlin noch in einer der Ausweichstellen in der engeren und weiteren Umgebung!«471

Für die kommenden Wochen wurde Isselhorst allerdings auf eine solche Ausweichdienststelle des Amtes IV (Geheimes Staatspolizeiamt) beordert, wie er schrieb, »um einen Überblick über die instruktive Tätigkeit zu erhalten«472. Seine deprimierte Stimmung wurde durch diese Verlegenheitslösung jedenfalls nicht gebessert. In den kommenden Tagen schrieb er mehrfach seiner Frau und beklagte sich über seine Situation, auch da er seit Längerem keinen Brief mehr ihrerseits erhalten hatte. Dies hatte eine gravierende Ursache. Seine Frau hatte zu jener Zeit das Kriegstagebuch von Isselhorst gefunden, welches er im gemeinsamen Haus in Bad Gastein aufbewahrte. Hierin entdeckte sie die zahlreichen Anmerkungen zu seiner Affäre, die er mit der Stenotypistin Viktoria S. während seines Osteinsatzes hatte. Schockiert von dieser Enthüllung, die sie ihm im Januar offenbarte, schrieb Isselhorst umgehend ein fünfseitiges Schreiben an seine Frau, in dem er ihr seine Affäre gestand. Sein Vorgehen und der Aufbau dieses Briefes war nicht planlos, denn nach einem ausführlichen Schuldeingeständnis versuchte Isselhorst durch verschiedene Aspekte, sein Verhalten zu erklären: »[…] Es ist mir so weh ums Herz gerade deswegen, weil ich dir Kummer, Sorgen und Schmerzen bereitet habe, und niemand weiß wohl besser als ich, wie wenig gerade du das verdient hast. Vielleicht hilft mir mein Tagebuch dabei, wenn du es richtig zu Ende gelesen hast. Ich will gar nicht mit dir rechten, daß du es überhaupt lasest, denn schließlich ist so ein Tagebuch nicht irgendein Buch oder Schreibwerk, sondern doch wohl so etwas wie ein persönliches ›Allerheiligstes‹, wo man nicht nur seine alltäglichen Erlebnisse niederschreibt, sondern auch seine Gedanken und Gefühle einschließt, die nicht immer für jeden, oft auch nicht einmal für den liebsten Menschen offenbar werden sollen. Ist es nicht selbst bei dir so gewesen, daß du mir erst deine geheimen Gefühle und Gedanken nicht mitgeteilt hast, obwohl du gewußt, gesehen oder doch gefühlt haben mußt, daß ich – auch ich! – darüber gelitten habe?«473

471 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 30.12.1944). 472 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 02.01.1945). 473 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 11.01.1945).

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KRIEGSENDE UND KRIEGSGEFANGENSCHAFT

Daran anschließend suggerierte Isselhorst gar den Plan, dass er das Tagebuch vorausschauend bei ihr hinterlegte, da er sich schon damals bewusst war, dass er ihr irgendwann die Affäre beichten würde: »[…] Gibt es dir nicht auch zu denken, daß ich dieses Tagebuch, unter irgendeinem plausiblen Vorwand, nicht vernichtet habe, obwohl so manches darin verzeichnet ist, das mich in Bezug auf unsere Ehe belastete aus einer Zeit, die wahrlich damals die schwerste meines bisherigen Lebens war? Nein, nicht weil ich, vielleicht aus Eitelkeit, männlichem Stolz oder anderen Gründen, an diesen ›Erinnerungen‹ hing, habe ich es aus Rußland mitgebracht, und ich habe auch nicht etwa vergessen oder keine Möglichkeit gehabt, es zu beseitigen. Ich wußte vielmehr, daß einmal die Stunde kommen mußte, wo ich vor dich hintreten und dir beichten und erklären mußte, um endlich wieder meinen inneren Frieden, und damit auch den äußeren, zu erzwingen, um endlich eine Belastung los zu werden, die ich niemals ein ganzes Leben hätte ertragen können. Dazu zwang mich schon das Wissen um die Reinheit deiner Liebe, die mir immer so beschämend klar vor Augen stand. […]«474

Im nächsten Schritt versuchte Isselhorst sein Vergehen durch den Alkoholkonsum in jener Nacht zu relativieren: »[…] Ich habe es auch nicht bereut, denn diese kleine unbedeutende Frau, die in meinem Leben niemals eine entscheidende Stelle hätte spielen können, hat mich wieder zurückgerückt. Der Anstoß war: ein aus einem übermäßigen Alkoholrausch sich entwickelnder Sinnesrausch, mit nachfolgendem […] Kater; und wie sie mich wieder zurückrückte? Durch die einfache Frage: ›Wen liebst du?‹ Die Antwort war ebenso einfach und fiel mir so leicht: ›Ich liebe meine Frau.‹ […]«475

In der anschließenden Passage zog Isselhorst zusätzlich seine Karriere und die Situation im Osteinsatz heran, um sein Vergehen zu entschuldigen: »Ich bin weit entfernt davon, mein Verhalten in der damaligen Zeit zu entschuldigen. Doch vielleicht bringst du Verständnis dafür auf, wenn ich dir sage, daß die Ereignisse in München und die schändliche Behandlung, die mir daraufhin zuteil wurde, mich seelisch und körperlich viel mehr belastet haben als ich es jemals zugeben wollte. Auch das Ausgleiten von Hans und nicht zuletzt auch Vaters Tod haben diesen inneren Zermürbungsprozeß gefördert. […] Ihre Frische und Lebendigkeit – auf körperlichen und geistigen Gebiete – waren mir in diesen schweren Zeiten der Depressionen und Schicksalsschläge eine Erholung, die mich aufrichtete, um mich wieder in neue Konflikte zu stürzen. […]«476 474 Ebd. 475 Ebd. 476 Ebd.

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Im abschließenden Teil seines Briefes baute Isselhorst dann Druck auf seine Frau auf, in dem er ihr die Folgen einer Trennung von ihm vor Augen führte: »[…] Du weißt, daß ich zur Zeit wieder schwere Stunden mitmache, und daß die Ungerechtigkeit meiner Behandlung schwer auf mir lastet. Willst du mir jetzt den Halt nehmen, auf den ich gebaut habe? Ich bitte dich herzlich, dir deinen Entschluß noch einmal zu überlegen. Ich warte deine Entscheidung ab. Glaubst du, nicht mehr in seelischer und körperlicher Gemeinschaft mit mir leben zu können, so werde auch ich einen festen Entschluß zur Durchführung bringen. Ich werde dann mit größerer Entschiedenheit als vor 3 Jahren beim Chef um die Aufhebung meiner […] Stellung nachsuchen und mich zur Waffen SS melden. Das Schicksal mag dann entscheiden, ob ich noch würdig sein werde, mein Leben in Ehre weiterzuführen. Sollte es mich abberufen von dieser Welt, nun gut, mich bindet nichts mehr, da ich das Liebste, was ich habe, durch meine heißgeliebte Frau, verloren habe. […]«477

Der Brief schien Eindruck auf seine Frau zu machen, die nicht sofort antwortete und zunächst abwartete. Isselhorst jedoch legte nach und erhöhte in den kommenden Briefen den Druck auf seine Frau, denn er wollte eine Entscheidung von ihr und nicht mehr in Unsicherheit verweilen. Hierzu nutzte er einen unterschwelligen Vergleich zu der Familie seines Bruders: »[…] Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl nicht loswerden können, als ob wir uns nicht wiedersehen würden. Wenn man in das Rad des Schicksals eingreifen könnte! […] Hans hat seine Verfehlung abgebüßt und ist glücklich in seinem Familienleben. Sein größter Stolz sind seine beiden Kinder. Wäre es nicht ein Jammer, wenn dieses Glück zerrissen würde? Man mag zu Jenny stehen wie man will; sie hat in der schwersten Zeit ihres Mannes zu ihm gehalten und ihn dahin gebracht, wo er heute ist. […]«478

Im nächsten Brief ging Isselhorst einen Schritt weiter und beschrieb seine selbstopfernde Bereitschaft für das baldige Kriegsende, dass einem Untergang Deutschlands und Europas gleichkommen würde, und der für seine Frau mit großer Gefahr verbunden sein würde. Insbesondere wies Isselhorst auf die Gefahren einer sowjetischen Invasion hin.479 Entscheidend daran ist, dass zu dieser Zeit nicht exklusiv das Schicksal Deutschlands genannt wurde, sondern das Schicksal Europas. Obgleich sich die Situation zu Beginn des Jahres 1945 an allen Fronten schlecht darstellte, wird nur die Gefahr aus dem Osten als wirkliche Bedrohung wahrgenommen. Dieser Ansatzpunkt wird in den folgenden Jahren eine wich477 Ebd. 478 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 15.01.1945). 479 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 19.01.1945).

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tige Bedeutung für den Selbstentwurf von Isselhorst spielen. Bisweilen wurden die unmittelbare Gefahr und die drohende Niederlage auch in den kommenden beiden Briefen betont, so dass der Eindruck entstand, sein Ableben könnte unmittelbar bevorstehen: »[…] Die Lage für mich ist höchst unklar. Zur Zt. werden aus unseren Reihen Bataillone aufgestellt, die wahrscheinlich sehr schnell nach vorne geworfen werden. Wenn ich doch nur deinen Entschluß wüsste! […]«480 »[…] Die Schwere der Zeit drückt mich ungeheuerlich, wenn auch mein Glaube an das gute Ende unerschütterlich ist u. bleiben wird. Das gilt leider nur für die allgemeine Lage. […]«481

Erst mit dem Erhalt des Antwortschreibens, in dem sie ihrem Mann vergab, verbesserte sich auch die augenblickliche militärische Situation in Isselhorsts Beschreibungen. Trotz einer Grippe, die ihn während der letzten Januarwoche 1945 ans Bett fesselte, schrieb er ihr hocherfreut zurück.482 In den Briefen, die Isselhorst im Januar an seine Frau schrieb, wird deutlich, wie er seine eigene Vergangenheit und die augenblickliche Lage dazu benutzte, um eine für ihn wichtige Entscheidung seiner Frau herbeizuführen. So darf bezweifelt werden, dass die belastende Arbeit und die Situation in Smolensk sowie die Münchener Dienstaufsichtsaffäre tatsächlich den entscheidenden Hintergrund dieser Affäre bildeten, zumal die Affäre ja deutlich länger andauerte und auch während eines Heimaturlaubes (sogar unmittelbar nach dem Treffen mit seiner Frau) vonstattenging. Auch die augenblickliche Situation in Berlin wurde deutlich dramatisiert dargestellt, denn Isselhorsts Einsatz, – zumal an vorderster Front – war zu jener Zeit nicht unmittelbar abzusehen. Allerdings, die Intensität, mit der die sowjetischen Truppen auf Berlin vorrückten, und die verstärkten alliierten Luftangriffe, schienen bei Isselhorst Eindruck hinterlassen zu haben, der wohl ebenfalls ahnte, dass dieser Krieg kurz vor der Niederlage stand. Zwischen Memel und Drau hatte die Rote Armee am 12. Januar ihre Großoffensive gestartet, an der letztlich acht Heeresgruppen teilnahmen und der die »völlig abgekämpften Divisionen des Ostheeres« kaum etwas entgegenzusetzen hatten. Die Evakuierung von Ostpreußen war Ende Januar in vollem Gange. Die Häfen der Danziger Bucht waren mittlerweile zur zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge geworden, die allerdings erst ab dem 23. Januar evakuiert wurden.483 Im Februar schrieb Isselhorst schicksalsergeben an seine Frau: 480 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 26.01.1945). 481 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 28.01.1945). 482 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 31.01.1945). 483 Vgl. Schreiber, Gerhard: Der Zweite Weltkrieg, 3. Auflage, München 2005, S. 111f.

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»Liebe Gustel, wir stehen in einer schweren Zeit, der schwersten unseres Volkes und Vaterlandes. Wir alle müssen bereit sein, das Äußerste zu opfern. Ich weiß nicht, wann mich diese Pflicht, der ich ganz nachkommen werde, rufen wird. Es bedrückt mich ungeheuerlich in dieser Stunde so unfrei in meinen Entschlüssen zu sein. Wenn ich daran denke, in welcher Erinnerung du mich haben mußt, wenn ich jetzt von dieser Welt scheiden müßte, so macht mir das den Opfergang so schwer. Ich bitte dich, liebe Gustel, mir diese Belastung zu nehmen; du kannst es und wirst es nie bereuen, sollte es das Schicksal gut mit mir meinen. Dein Lebenswerk ist noch nicht erfüllt; deine Liebe soll der Stab sein, an dem ich mich wieder aufrichten kann; […]«484

Isselhorst hatte Glück, dass seine provisorische Unterkunft im Grunewald kein direktes Ziel der Bombenangriffe war. Doch beim Luftangriff am 3. Februar auf das Stadtzentrum von Berlin war Isselhorst in der Stadt und erlebte den Bombenangriff als Augenzeuge: »[…] Aber ich habe diese Hölle, die sich eine Stunde lang über dem Südwesten und der Stadtmitte Berlins austobte, lebend und unbeschadet überstanden. Ich stand die ganze Zeit in einem Splittergraben, sah die Geschwader kommen und ihre Lasten abwerfen; um mich zerbarsten die Bomben und die Häuser stürzten ein, aber ich blieb mit den wenigen, die mit mir in diesem Graben standen, unberührt. Das Reichssicherungshauptamt mit seinen sämtlichen Nebengebäuden steht nicht mehr, alles ein weißer Trümmerhaufen. U-Bahntunnel sind eingebrochen, viele Menschen unter sich begrabend, die Straßen verschüttet, Brände über Brände, ein schauriges Bild, ein grandioses Furiosum. […]«485

Angesichts der nunmehr kaum abwendbaren Niederlage galt es für Isselhorst, ein Bekenntnis abzulegen. In diesem zeigte sich seine nach wie vor vorhandene Zuversicht: »[…] Wir wollen alle hoffen und glauben, daß der Allmächtige es gut mit uns meint, aber es steht uns noch manch Schweres bevor, ehe die Friedensglocken läuten. Der Russe steht nicht mehr soweit von Berlin wie ehedem, und wir werden wohl bis zum letzten Mann hier bleiben, um zu siegen oder zu fallen. Doch rechne ich in Kürze mit einschneidenden Operationen, die die Lage zu unseren Gunsten klären werden.«486

Diese einschneidenden Operationen waren jedoch leere Worte und so verbrachte Isselhorst, durch eine Bronchitis geschwächt, die kommenden Wochen im Grunewald damit, »traumverloren« den Tieren zuzuschauen, wie er seiner Frau berichtete.487 Erst in der zweiten Februarhälfte wurde Isselhorst wieder für einen »Spezialauftrag« herangezogen, der 484 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 02.02.1945). 485 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 04.02.1945). 486 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 06.02.1945). 487 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 09.02.1945).

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ihn in verschiedene Orte nach Süddeutschland bringen sollte. So schrieb er am 21. Februar aus Konstanz, dass er den Auftrag habe, »[…] deutsche Zollgrenzschutzbeamte, die nach der Invasion in der Schweiz interniert waren und jetzt wieder ausgeliefert werden, zu übernehmen und zu überholen. Es ist eine Sauarbeit, die innerhalb 10–14 Tagen erledigt sein muß.«488 Tatsächlich nutzte er die Reise auch dazu, seine Frau zu besuchen, und somit kam er erst Anfang März wieder zurück nach Berlin. Hier hatte er am 11. März eine Besprechung mit Gruppenführer Müller, dem Leiter des Amtes IV. In der Unterredung sollte Isselhorst seine neue Funktion erfahren. Erneut wurde ihm eine Aufgabe im süddeutschen Raum übertragen: »Die Besprechung mit dem Gruf verlief gut u. klar. Nach einer 3 wöchigen Einarbeit an Ort und Stelle löse ich den bisherigen Mann ab. Endlich werde ich dann mal wieder etwas tun können, u.z. etwas Wichtiges und hoch Interessantes, und mich [sic] nicht mehr so überflüssig vorkommen gerade in dieser so schweren Zeit.«489

Die geplante neue Aufgabe und die bereinigte eheliche Beziehung ließen Isselhorst kurzzeitig optimistisch in die Zukunft blicken, wie er nach einer Tagung in Potsdam am 14. März schrieb: »Als ich heute auf dem Hin- und Rückweg durch den Park von Sanssouci wanderte, entdeckte ich an den Sträuchern die ersten Knospen. Ist das nicht wunderbar, daß nun der Frühling kommt? Hoffentlich ist es auch ein Frühling für Volk u. Reich. Bald wird es wohl losgehen; ich habe die feste Zuversicht, daß der Schlag gelingt. Wir werden es schaffen, weil wir es schaffen müssen.«490

Der Auftrag, auf den Isselhorst so lange gewartet hatte, wurde kurzerhand abgesagt und auf unbekannte Zeit verschoben. Für Isselhorst jedoch noch kein Grund für Zweifel: »[…] Wir werden später mit Stolz und sicher auch mit unendlichem Glücksgefühl immer wieder daran erinnern, in unserem Kinde, daß wir gerade in der schwersten Zeit des Volkes den praktischen Beweis unseres Glaubens erbracht haben, daß Deutschland nicht untergehen kann.«491

Zum wiederholten Male wurde Isselhorst in Berlin auf eine Art Abstellgleis gestellt, das ihn zum Nichtstun verdammte. Er selbst litt auch an dieser »Beschäftigungslosigkeit«, wie er seiner Frau wiederholt schrieb.492 An seiner Lage änderte sich in den kommenden Wochen kaum 488 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 21.02.1945). 489 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 13.03.1945). 490 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 14.03.1945). 491 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 16.03.1945). 492 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 18.03.1945).

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etwas. Die Briefe zu jener Zeit waren geprägt von Durchhalteparolen und allgemeiner Tristesse: »Ich lasse nicht von dem Glauben, daß diese schwere Zeit auch einmal ihre Früchte bringen wird u. muß. Das kann nicht der Untergang eines Volkes sein, das sich wie noch nie ein Volk dieser Erde in der Vergangenheit in einem solchen Heldenkampf einer ganzen feindlichen Welt mit Tapferkeit und innerer Größe erwehrt. […] Diese große Zeit darf uns nicht als Feiglinge sehen. Wir wollen […] bestehen können vor unseren Kindern, an die ich genau so glaube wie an den Sieg.«493

Im Grunde gab es kaum eine sicherere Position bei der Staatspolizei in Berlin, als die, die Isselhorst zu dieser Zeit innehatte. Aus sicherer Distanz des Grunewaldes war er täglicher Beobachter der Bombenangriffe auf Berlin und arbeitete tagsüber an einem weiteren »Sonderauftrag« der Reichsbehörde des RFSS, ohne dass dieser genauer erläutert wurde.494 »Was zur Zeit im Westen vor sich geht, ist sicher nicht schön. Ich kann die Menschen begreifen, die verzagen und verzweifeln. Und doch: damit können wir die Wende nicht erzwingen. Aber Zweifler haben auch noch nie Geschichte gemacht; das machen die wenigen Starken, Gläubigen. Zu denen aber wollen wir zählen.«495

Doch nicht nur der Westen vermeldete starke Einbrüche. Die sowjetischen Truppen bereiteten gerade den Angriff auf Berlin vor, der am 16. April eines der letzten Kapitel des Krieges bilden sollte.496 Im April waren die westlichen Alliierten an allen Fronten auf dem Vormarsch. Das Ruhrgebiet war in den ersten Aprilwochen, spätestens mit Auflösen der Heeresgruppe am 17. April von Walter Model, der sich vier Tage später in einem Waldstück bei Duisburg erschoss, in amerikanischer Hand. Weitere amerikanische Einheiten hatten am 11. April die Elbe erreicht.497 Auch der Süden wurde nach der Überquerung des Rheins von französischen und amerikanischen Einheiten rasch unter Kontrolle gebracht: Lediglich der Nordwesten, insbesondere die Nordseehäfen, die Verbindungen nach Dänemark und Teile der Niederlande blieben eine »relativ intakte Machtbasis des NS-Regimes.«498 Weiterhin verbrachte Isselhorst seine Tage im Grunewald, arbeitete im Garten und berichtete seiner Frau über den Durchhaltewillen der Deutschen. Wie in den vorherigen Briefen auch, finden sich darin prophetische Anspielungen auf die Zukunft, in der die Erkenntnis vorherrschen 493 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 22.03.1945). 494 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 24.03.1945). 495 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 26.03.1945). 496 Vgl. Kershaw, Ian: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, 2. Auflage, München 2011, S. 417. 497 Ebd. S. 414–423. 498 Ebd. S. 414.

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sollte, dass der »Gläubigkeit« und der Tapferkeit der Deutschen eine heroische Bedeutung zukommen sollte. »Wir werden nicht untergehen; eines Tages wird Deutschland wieder groß und mächtig dastehen und alle die, die versagt und feige waren, werden beschämt sein. Wir wollen mit kleinen Kreaturen nicht rechten, sie verstehen uns sowieso nicht.«499

In seinem letzten Brief an seine Frau vom 29. März berichtet Isselhorst von einem Treffen mit Gruppenführer Müller und seinen möglichen Aufstiegschancen im RSHA. »Die augenblickliche Situation bietet natürlich keine Chance für eine neue Stellung im Range der Alten; dazu müssen erst wieder bessere Zeiten kommen. Es kann aber garnicht schaden, wenn der Amtschef [gemeint ist Gruf Müller, Anm. d. Verf.] neue Qualifikationen aus meiner unmittelbaren Arbeit unter ihm erkennt! […] Ich glaube, wenn ich so 1/2 Jahr hier zu seiner Zufriedenheit arbeite, ist er imstande, mir eine Gruppe in seinem Amt anzubieten. Das wäre zwar etwas, aber mir liegt es nicht; die selbstständige Tätigkeit draußen ist doch schöner!«500

Diese langfristige Planung von Isselhorst war angesichts der militärischen Lage verwunderlich und zeugt entweder von einer Realitätsverdrängung oder der tatsächlichen Unkenntnis der brisanten Situation. Dass Isselhorst vor dem Angriff der sowjetischen Truppen am 16. ­April noch nach Niederbayern versetzt werden konnte, war angesichts der nahenden Einkesselung Berlins ausgesprochen glücklich.501 Zu diesem Zeitpunkt hatten die sowjetischen Befehlshaber bereits rund 2,5 Millionen Soldaten für den Angriff auf Berlin zusammengezogen, während die rund eine Million zählenden deutschen Streitkräfte, die zudem hoffnungslos an Material und Waffen unterlegen waren und aus zumeist kampfunerfahrenen Rekruten bestanden, auf den bevorstehenden Angriff warteten. Lediglich die in drei konzentrischen Kreisen gestaffelten Verteidigungsringe um Berlin verschufen den deutschen Einheiten einen kleinen Vorteil.502 Doch nach schweren Artillerieschlägen durchdrangen die Einheiten der sowjetischen Armee am 20. April den äußeren Verteidigungsring Berlins.503 Zu dieser Zeit leitete Isselhorst wenige Tage die Ausweichdienststelle des Amtes IV in Hof, bevor er vom 28. April bis zum Kriegsende eine Waffen-SS-Gruppe bei Jachenau übernahm, die zur 499 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 27.03.1945). 500 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 29.03.1945). 501 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 28.03.1945). 502 Vgl. Kershaw, Ian: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, 2. Auflage, München 2011, S. 418f. 503 Ebd. S. 419.

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Besetzung eines Tales nahe dem Chiemsee eingesetzt wurde.504 Zu einer Feindberührung kam es jedoch nicht.505 Von dem letzten Treffen Isselhorsts mit seinem Chef Ernst Kaltenbrunner, welches sich im April vor der Dienststelle der Stapo in Innsbruck abspielte, hatte er eine für den damaligen Leiter des RSHA vernichtende Erinnerung, die er in seinen Memoiren niederschrieb: »Eine Menge von SS-Führern drängte sich um ihn. Wir warteten in dieser Stunde, da alles um uns und in uns zusammenstürzte, auf ein richtungsweisendes, erlösendes, stärkendes Wort! Umsonst! Zu mir sagte er: ›Machen Sie, was Sie wollen. Jagen Sie ihren Haufen zum Teufel! Er soll sich mit seinen Schreibmaschinen in Scheunen verkriechen oder Soldat spielen oder nach Hause gehen, mir ist es völlig gleichgültig. Mich geht die Stapo nichts an!‹ Da wusste ich, dass er oberste Chef der Stapo auch ihr grösster Verräter war!«506

Was Isselhorst bis zu seiner Festnahme am 12. Juni 1945 durch amerikanische Soldaten der 7. US-Armee tat, ist in keiner Quelle genau zu belegen. Wahrscheinlich ist jedoch, dass er sich aufgrund der Nähe zu seinem Haus in Bad Gastein zu seiner Frau durchschlug und mit ihr diese Zeit verbrachte. Ein Beleg hierfür ist die nostalgische Erinnerung Isselhorsts während seiner Straßburger Inhaftierung 1947, in der er sich an die gemeinsame Zeit mit seiner Frau in Sachenbach am Walchensee am 12. Juni 1945 (Pfingsten) erinnerte.507 Nach seiner Gefangennahme wurde er in diversen Gefängnissen interniert, die er im September 1946 auflistete: »12. Juni 45 Verhaftung; 13.6.45 Einlieferung Gef. Augsburg; 23.6–1.7. Gef. Karlsruhe-Durl. 21. Juli 45 Gef. Heidelberg; 4. August–17. November Int. Camp Frankfurt Oberursel; 12.–22. Oktober 1945 KZ Dachau; 17. Nov. 45–30. Januar 46 Int Camp 78 Stuttgart-Zuffenhausen; 31. Jan.–5. Mai 1946 4. E.J.C. Recklinghausen 5. Mai–12. Juli: Gefängnis Wuppertal (darin: 17.Juni Prozessbeginn; 11. Juli Urteilsverkündung) 13. Juli–10. September: Zuchthaus Werl (darin: Einlieferung Zuchthaus Werl 13.7.46; 24.Juli: Gustel; 1.8.–5.8. Nürnberg; 11. September–offen: Wuppertal«508

504 RW 0725 Nr. 14. 505 Ebd. 506 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 36). 507 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 22.05.1947). 508 RW0725 Nr. 39.

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Zu der Zeit zwischen seiner Festnahme im Juni 1945 und seinem Prozess in Wuppertal im Sommer 1946 gibt es nur einzelne aussagekräftige Quellen. Eine bedeutende Quelle zu jener Zeit ist ein überliefertes Vernehmungsprotokoll vom 5. Oktober 1945, in dem Isselhorst in Oberursel zu seiner NS-Vergangenheit befragt wurde. In diesem Verhör zeigte sich Isselhorst deutlich offener, als dies in späteren Vernehmungen der Fall war. Beispielsweise gab er hier an, dass die Einsatzgruppe B in Smolensk drei Gaswagen für Massenexekutionen zur Verfügung hatte und diese während der Räumung des Smolensker Ghettos bei etwa 400 jüdischen Opfern auch benutzt wurden: »Mir ist bekannt, dass unsere Gruppe 3 Gaswagen besass, welche je nach Bedarf den verschiedenen Einsatzkommandos zu notwendigen Executionen [sic] zur Verfügung gestellt wurden. Zu meiner Zeit kam der Befehl, das Ghetto in Smolensk von Juden zu räumen. Es befanden sich ungefähr 1.200 Juden darin. Die Gesündesten wurden ausgesucht und nach Lublin verschickt, über 400 wurden mit Hilfe dieser Gaswagen vergast. Diese Arbeit wurde von der Abt. IV durchgeführt, desen [sic] Leiter damals SS-Stubaf und Regierungsrat [Eduard] Holste war.«509

Auch weitere NS-Verbrechen wie die Ghettoräumungen im Minsker Raum, die er als KdS in Minsk miterlebte, wurden von Isselhorst frei erzählt. Besonders wichtig an dieser Aussage waren neben den Passagen über seine Zeit bei den Einsatzgruppen auch die Aussagen über seine Tätigkeit als BdS Südwest und den damit verbundenen Tötungen britischer Fallschirmjäger sowie französischer Widerstandskämpfer, die im Sommer 1944 durchgeführt wurden. Denn die hierzu getätigten Aussagen lassen das Handeln und die Verantwortlichkeit Isselhorsts in einem deutlich anderen Licht erscheinen, als dies in den späteren Gerichtsverhandlungen der Fall war. Isselhorst erläuterte im Oktober 1945 seine einzelnen Einsatzorte, wie etwa Minsk: »Minsk war damals ein Partisanen-Eldorado und einige tausend Sabotageakte in einer Nacht waren nicht ungewöhnlich. Ausser der Wehrmacht betätigten sich zu meiner Zeit die folgenden Einheiten an der Bandenbekämpfung: Die Polizei Regimenter; Weissruthenen Bn (800 men); Einheit des Oberst Hill, eines übergelaufenen Russischen Oberst, die übrigens später wieder zu den Partisanen überliefen (2400 men); Kommando Dirlewanger (notorious) […]«510

Seine Zeit als BdS in Strassburg wurde von Isselhorst durch den hohen Einfluss des HSSPF Hofmann und des Gauleiter Wagner gekennzeichnet. Außerdem beschrieb Isselhorst detailliert zwei Vorfälle aus dem 509 RW 0725 Nr. 14. 510 RW 0725 Nr. 14.

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Spätsommer 1944, wo das Sipo Kommando Rhozek ins Plaine Tal gesendet wurde, dass berüchtigt war, da es aus »Maroccanern und Arabern« bestand. Das Kommando erschoss in einem Gefecht in einem Haus britische Fallschirmjäger (»Später erfuhr ich erst, dass diese auf grausame Weise massacriert [sic] worden wären.«).511 Acht andere Fallschirmjäger wurden vom Kommando VI (SS-Stubaf Ernst) »auf der Flucht erschossen.«512 »Zur selben Zeit (Sep/Oct) fiel eine andere Gruppe Englischer Fallschirmjäger in unsere Hände. Auch diese wurde zum Tode verurteilt. Kurz darauf wurde mir gemeldet, dass diese Engländer sich im Arbeitslager Schirmeck befänden. Da ich deren Execution bereits nach Berlin gemeldet hatte, gab ich den Befehl, diese Männer sofort zu erschiessen. Dieses wurde dann später in Gaggenau ausgeführt.«513

Eine vierte Gruppe Fallschirmjäger wurde laut Isselhorst in Zabern gefangen genommen und zum Verhör nach Oberursel gebracht. Die Fallschirmjäger bewaffneten und unterstützen die Maquis im Plaine Tal und sollten, laut Isselhorst, aufgrund eines Befehls vom RFSS war das sofort Erschossen werden. Nach Rücksprache mit der Wehrmacht und dem Gruf Müller war für Isselhorst eindeutig klar, »dass die Soldaten als Banditen zu behandeln und sofort zu erschiessen seien«. Auch die Gespräche mit anderen Kommandeuren (Obergruf Oberg; Oberstuf Suhr; HSSPF Frankreich; BdS Frankreich) erklärten, laut Isselhorst, bei Treffen in Fraise im September, dass diese Tötungen unumgänglich waren.514 »SS-Stubaf Ernst erklärte in einem Bericht, dass in meinem Gebiet im Ganzen 70 bis 80 Mitglieder des Englischen SAS-Regimentes tätig seien, von welchen im Ganzen 25–30 in unsere Hände gefallen seien.«515

Isselhorst gab in diesem Verhör zu, dass er zumindest für die im Lager Schirmeck gefangen gehaltenen Fallschirmjäger die Erschießung unmittelbar angeordnet hatte. Diese Darstellung wich deutlich von seinen Angaben im späteren Gerichtsverfahren ab. Ebenfalls interessant sind die Anmerkungen, die in Englisch zu den Aussagen von Isselhorst hinzugefügt wurden. Insbesondere bei der »Einheit Dirlewanger« wurde die Bezeichnung »notorious« angefügt, also »berüchtigt«. Dass die Einheit von Oscar Dirlewanger (Jg. 1895) schon zu jener Zeit unter den Alliierten als berüchtigt galt, war nicht unbegründet. Bereits 1962 hatte Hellmuth Auerbach einen Versuch unternommen, diese Einheit, die zuvor beinahe im Lichte einer »verharmlosenden 511 Ebd. 512 Ebd. 513 Ebd. 514 Ebd. 515 Ebd.

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Räuberromantik« gesehen wurde, zu untersuchen.516 Die von Dr. Oscar Dirlewanger kommandierte Einheit operierte parallel zu der Sipo im Rückwärtigen Heeresgebiet in Polen und Weißrussland.517 Dirlewanger war ein enger Vertrauter und Kriegskamerad des Chefs des SS-Hauptamtes in Berlin, Gottlob Berger (Jg. 1896). Das Leben Dirlewangers zwischen den Weltkriegen war bereits durch diverse Gewalttaten in Deutschland, aber auch im Ausland gekennzeichnet. Zwischen 1919 und 1921 kämpfte er als Mitglied von Freikorps gegen den Spartakusbund und zahlreiche Kommunisten. 1923 trat er in die NSDAP ein und wurde 1932 Führer des Sturmbanns I/122 der SA in Esslingen, das im gleichen Jahr das örtliche Gewerkschaftshaus erstürmte. Hierfür wurde Dirlewanger auch verurteilt. 1937 ging er freiwillig als Mitglied der Fremdenlegion »Condor« nach Spanien, um die Franquisten im dortigen Bürgerkrieg zu unterstützen. Bereits 1934 wurde Dirlewanger wegen des sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen verurteilt.518 Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges richtete er ein persönliches Schreiben an Heinrich Himmler, in welchem er ausdrücklich darum bat, ihm einen Fronteinsatz im bevorstehenden Krieg zu gewähren.519 Dieser wurde ihm gemeinsam mit Mitgliedern aus dem Verbrechens-Milieu und verurteilten Wehrmachtsangehörigen gewährt, die in der Einheit eine »Bewährungschance« erhalten sollten.520 Beispielhaft für eine solche Bewährungschance war der Fall von Kurt Neifeind, den Isselhorst während seiner Straßburger Zeit erwähnte. »Auch ein ehemaliger Kompanieführer der Einheit berichtet, daß die Behandlungsmethoden in der Einheit völlig willkürlich gewesen seien, Verprügelungen und Erschießungen hätten ohne jedes Gerichtsverfahren, ja sogar grundlos oder wegen geringer Vergehen stattgefunden. In betrunkenem Zustand, was häufig der Fall gewesen sei, habe Dirlewanger auch auf bloße Verdächtigung hin Leute seiner Einheit persönlich erschossen.«521

Dieses Gewaltpotential spiegelte sich alsbald im Umgang mit Zivilisten oder vermeintlichen Partisanen wider. Die zweitausend Einwohner des Dorfes Burki bei Babrujsk in Weißrussland wurden derartig »massakriert«, dass sich sogar der dortige Wehrmachtskommandant beim 516 Auerbach, Hellmuth: Die Einheit Dirlewanger; in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 10 (1962), S. 250–263, hier: S. 250. 517 Vgl. Ebd. S. 250f. 518 Vgl. Stein, Georg H.: Hitler’s Elite Guard at war: the Waffen-SS 1939–1945, Cornell 1966, S. 266. 519 Vgl. Ebd. S. 251. 520 Vgl. Auerbach, Hellmuth: Die Einheit Dirlewanger; in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 10 (1962), S. 250–263, hier: S. 253–258. 521 Ebd. S. 259.

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HSSPF Erich von dem Bach-Zelewski über die Grausamkeit der »Aktion« beschwerte.522 Ein im August 1942 eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen extremer Grausamkeiten bei der »Partisanenbekämpfung« wurde 1945 von Himmler persönlich eingestellt.523 Die »berüchtigte« Persönlichkeit Dirlewangers zeigte sich in anderen Aussagen wie der Zeugenaussage des SS-Richters Dr. Konrad Morgen, der angab, dass Dirlewanger einzelne Opfer buchstäblich zu Seife verkochte.524 Mit der Beteiligung an der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im August 1944 wurde diese extreme Gewalttätigkeit in Form von zahlreichen Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen erneut belegt.525 Isselhorst erwähnte die Einheit in seinem Kriegstagebuch an keiner Stelle, so dass davon ausgegangen werden muss, dass er kaum Kontakt zu dieser hatte, was ebenfalls für die Sonderstellung der Einheit sprechen würde. Dass kaum weitere Quellen aus dem Zeitraum Oktober 1945 bis ­April 1946 über oder von Isselhorst existieren, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass dieser zu Beginn seiner Haft nur einen Brief pro Monat versenden durfte, und die Wortanzahl auf 25 reglementiert war. So kam es, dass Isselhorst in seinen Briefen versuchte, lediglich das Allernötigste in möglichst kurzen Passagen zu schreiben. Dazu beispielhaft ein Brief vom 16. April 1946: »Liebes, glücklich über Rückantwort. Geburtstagsglückwünsche, Ostergrüsse. Zwei Tackpäckchen erhalten, Dank. Revierkrank, unbedeutend. Veranlasse regelmässige Verwandschaftspaketsendungen. . Grüsse alle. Kuss.«526

Lediglich das »Bureaux de Documentation Allemagne« verfasste bereits im August 1945 einen recht ausführlichen Bericht über die Mitarbeiter der Gestapo in Straßburg und rekonstruierte darin das Leben von 522 Vgl. Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2011 (zuerst 2008), S. 287. 523 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2003, S. 113. 524 Vgl. Hilberg: Vernichtung, Bd. II, S. 1033. Vgl. zu Konrad Morgen auch: Vgl. Pauer-Studer, Herlinde u. Velleman, David J.: »Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin.« Der Fall des SS-Richters Konrad Morgen, Berlin 2017. Die Autoren geben zur Glaubwürdigkeit von Morgen an, dass dieser »seine Tätigkeiten als SS-Richter nach dem Krieg zum größten Teil wahrheitsgemäß schilderte.« (S. 9). 525 Vgl. Stang, Knut: Dr. Oskar Dirlewanger: Protagonist der Terrorkriegsführung; in: Mallmann, Klaus-Michael u. Paul, Gerhard (Hrsg.) Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiographien, 2. Auflage Darmstadt 2005, S. 71. 526 LAV NRW RW 0725 Nr. 34.

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Isselhorst.527 In einem anderen Dokument, welches er im Juni 1947 anlässlich seiner Verteidigung im Straßburger Verfahren schrieb, erinnerte sich Isselhorst jedoch an schwere Misshandlungen anderer Mithäftlinge durch die Besatzungsmächte während dieser Zeit, die er ausführlich auflistete. Freilich war diese auch der Akzentuierung seiner eigenen Opferrolle geschuldet. So gab Isselhorst an, dass er von amerikanischer Seite Zeuge von verschiedenen Misshandlungen von Kriegsgefangenen war. Außerdem war er Augenzeuge, bei einer »verschärften Vernehmung« mit einem Dreikant in Augsburg im Juni 1945. Auch im Frankfurter Gefängnis gab Isselhorst die Musshandlung von fünf Häftlingen an, die Isselhorst in seiner Auflistung bezeugte.528 Auf englischer Seite nannte Isselhorst Misshandlungen aus den Jahren 1946 in Recklinghausen, bei denen auch zwei Häftlinge getötet worden seien. Auch wurden die Vernehmungsmethoden von Major Barkworth als äußerst brutal angegeben.529 Am ausführlichsten schilderte Isselhorst jedoch die Vergehen der französischen Seite. Hierzu schilderte Isselhorst fünf Beispiele, die von Juni bis September 1945 verschiedene Verbrechen an deutschen Soldaten und Polizisten durch die französische Seite verübt worden. Hierzu zählten Folter und Misshandlungen in verschiedenen Gefängnissen in Straßburg, Stenthof und Baden-Baden.«530 Auch beschrieb er die, laut Isselhorst, »unmenschlichen Grausamkeiten, Misshandlungen, Ermordungen deutscher Staatsangehöriger durch die Alliierten«531 in einem weiteren Schreiben aus der gleichen Zeit, in dem er die Völkerrechtsbrüche während der Kriegszeit auflistete. Hierzu zählte er vier Angriffe gegen verschiedene Einheiten im rückwärtigen Heeresgebiet an der Ostfront, die er aus seiner Zeit bei den Einsatzgruppen kannte. »a) März 1942 b. Mogilew 1 Off. 32 Mann der Orpo Kompagnie der EG. Mitte (B) von russ. Partisanen überfallen, erschossen, geschändet (Geschlechtsteile, Nase, Ohren, Zunge abgeschnitten, Augen ausgetreten, Leib aufgeschlitzt usw.) entkleidet (Uniformen wurden von Partisanen zur Täuschung bei Überfällen getragen!) Augenzeuge! b) Sept. 1942 auf Strasse Mogilew-Bobruisk: Leichen deutscher Soldaten aufgefunden, z.T. gepfählt! Leib aufgeschlitzt, Kopf angeschnitten, Geschlechtsteile in den Mund gesteckt usw. Augenzeuge! 527 Vgl. Notes Renseignements des Bureaux de Documentation Allemagne vom 14.08.1945, S. 22–32. Internet: https://archive.org/details/IsselhorstErich GeorgeHeinrich [30.01.2017]. 528 LAV NRW RW 0725 Nr. 12 (Teil 6 der Notizen). 529 Ebd. Als weitere Zeugen nannte Isselhorst: Köster, Nussberger, Schneider, Linn, Geiger, Ostertag, Muth u.a. 530 LAV NRW RW 0725 Nr. 12 (Teil 6 der Notizen). 531 RW 0725 Nr. 12.

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c) Ermordung von 40 Luftwaffenhelferinnen, die auf der Strasse Sluzk– Minsk in die Hände der Partisanen fielen. (Kenntnis durch Bericht Heeresgruppe Russland Mitte) d) Bestialische Ermordung u. Schändung des SI-Aussenkommandoführers v. Baranowitschi (Sommer 1943) und einer Reihe von Männern u. Soldaten (Missbrauch der gestohlenen Uniformen) Kenntnis durch Bericht u. Augenzeugen.«532

Abschließend wurden von Isselhorst die Taten des französischen Maquis aufgelistet, die auf der Tötung von mehreren HJ-Angehörigen beruhte.533 Die Auflistung endete mit der Aufzählung von diversen Ereignissen während des Krieges, die Isselhorst als Völkerrechtsbrüche wertete. Hierzu zählten die Fälle in Jersey und Dieppe 1942, der gezielte Luftangriff auf die Landbevölkerung in Süddeutschland und der Luftangriff auf Dresden im Februar 1945.534 Die ausführliche Darstellung dieser von Isselhorst als Kriegsverbrechen gewerteten Angriffe diente freilich seiner Unschulds-Argumentation, die darauf beruhte, dass beide Kriegsseiten während des Krieges und danach Verbrechen verübten und eine einseitige Verurteilung daher ungerecht sei. Im Juni und Juli 1946 wurde das Verfahren gegen Isselhorst in Wuppertal eröffnet. Dieses sollte wesentlich umfangreicher sein als die beiden Verfahren, die ihn ein Jahr später in Frankreich erwarten sollten. Alle drei Verfahren und die zwischenzeitlichen Geschehnisse sollen im Folgenden bis hin zu seiner Hinrichtung detailliert dargestellt werden. 3.5.1 Prozess in Wuppertal Wohl auch Isselhorst war sich bewusst, dass ihm die Todesstrafe am Ende des Wuppertaler Verfahrens drohte. Er versuchte durch möglichst umfangreiche Darstellung seiner Position sowie der Zusammenhänge, die ihn zu seinen Entscheidungen bewogen hatten, darzulegen, dass er lediglich der Überbringer von Befehlen übergeordneter Stellen, aber keinesfalls der Verantwortliche für die Tötung der Gefangenen war. Die von ihm dabei geführte Offenheit war selten und wurde von den britischen Justizmitgliedern wohlwollend zur Kenntnis genommen. Durch handschriftliche Notizen zum Verfahren, die zumeist undatiert sind, sowie 532 Ebd. 533 Ebd. Isselhorst fasst zusammen: »die Ermordung v. 6 HJ Angehörigen (13–16-jährige Kinder!) bei Bauarbeit durch Maquis-Gruppe unter Anführung von 2 SAS Angehörigen Sept. 44. Kenntnis durch Bericht von Augenzeugen; Beweis: Wenger, Wild, Schneider, Breil(?) Wasik(?); Prop. Leiter Schmidt; Unterlagen b. Maj. Barkworth.« 534 RW 0725 Nr. 12.

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auszugsweisen Kopien und deren Übersetzungen der Gerichtsprotokolle können sowohl die Taktik der Verteidigung, als auch die entscheidenden Zeugenaussagen der Anklage relativ gut nachvollzogen werden. Insgesamt dauerte die Verhandlung vom 10. Juni bis zum 22. Juli 1946.535 Isselhorst wurde angeklagt, britische SAS Mitglieder, die als Fallschirmspringer im elsässischen Raum operierten, nicht gemäß geltendem Kriegsrecht vor ein Kriegsgericht gestellt, sondern sie schlechterdings ohne Verfahren exekutiert haben zu lassen. Dass die Fallschirmspringer kein solches Gerichtsverfahren erhielten und dass sie ermordet wurden, war bereits vor dem Gerichtsverfahren eindeutig geklärt und wurde auch von Isselhorst nicht geleugnet. Vorrangig ging es daher um die Zuweisung von Verantwortlichkeit für die Hinrichtungen. Grundlegendes Beweismittel der Verteidigung war ein sogenannter »Führerbefehl«, der als Abschrift (datiert vom 18.10.1942) dem Gericht wie folgt vorlag: »Ich befehle daher: Von jetzt ab sind alle bei sog. Kdo-Unternehmungen in Europa oder in Afrika von deutschen Truppen gestellte Gegner, auch wenn es sich um Soldaten in Uniform oder Zerstörtrupps mit oder ohne Waffe handelt, im Kampf oder auf der Flucht bis auf den letzten Mann niederzumachen […] Jede Verwahrung unter militärischer Obhut, z.B. in Kriegsgefangenlagern ist strengstens verboten.«536

Isselhorst war, so seine Verteidigung, somit nicht verantwortlich für den Befehl, der zur Tötung der Soldaten führte – das klassische Verteidigungsargument des Befehlsnotstandes. Er konnte, so Isselhorst, die Durchführung auch nicht verhindern, sondern war höchstens dazu berechtigt, begründete Einwände gegen die Durchführung geltend zu machen. Dies, so gab Isselhorst an, hätte er in verschiedenen Gesprächen mit Gruppenführer Heinrich Müller, Chef der Gestapo im RSHA, im August und November 1944 getan. Isselhorst nannte zudem weitere Gründe, die ihn an einer Nicht-Durchführung der Exekutions-Anordnungen hinderten: »Über diesen Rahmen hinausgehen hinderten mich folgende Erwägungen: 1. Der zitierte Führerbefehl vom 18. Okt. 42 sah ein Einschreiten mit den schärfsten Mitteln gegen jeden Versuch der Befehlsverweigerung vor. 2. Ein Befehl des RF SS Himmler v. 1943 sah vor, dass jeder Vorgesetzte berechtigt ist, einen Untergebenen, der einen Dienstbefehl nicht befolgt, auf der Stelle zu erschiessen. 535 RW 0725 Nr. 37 (undatierter Brief, wahrscheinlich April/Mai 1946 an seine Mutter. Darin berichtet er über den bevorstehenden Prozessbeginn in Wuppertal). 536 RW 0725 Nr. 10.

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3. Nach dem Attentat vom 20. Juli 44 wurde die persönliche Haftung bei Befehlsverweigerung u.a. Fällen ausgedehnt auch auf die Familie – Sippenhaft! 4. In jedem Fall unterstand ich der SS u. Pol. Gerichtsbarkeit. Sie war bekannt wegen der unerhörten Härte ihrer Urteile, die über solche anderer Sondergerichtsbarkeiten, sogar der Militärgerichtsbarkeit während des Krieges, erheblich hinausging.«537

Isselhorst sah sich zudem nicht in der Lage, die Rechtmäßigkeit der Befehle zu prüfen. Dies begründete er mit einer Palette von Einwänden, die ihm ein solches Vorgehen unmöglich machten: – »›Führerbefehl‹ war der Willensausdruck der höchsten Staatsgewalt. – Deshalb aber gerade auch war ein ›Führerbefehl‹ gewissermassen ›sacrosanct‹! Hinzu kam sowohl der in jedem Deutschen kraft Tradition und Erziehung verankerte und tiefverwurzelte Gehorsamsbegriff als auch die besondere Einstellung auf Grund der politischen und weltanschaulichen Erziehung und einseitigen Beeinflussung der letzten 12 Jahre. – [Haager Landkriegsordnung verbietet Widerstandsgruppen in besetzten Ländern, Unterstützung dieser, daher »mindestens Beihilfe«] – Die von mir erhobenen Bedenken gegen die Durchführung des Führerbefehls bezogen sich daher nicht so sehr auf die Frage der Rechtmässigkeit, sondern vielmehr der Zweckmässigkeit im Hinblick auf die damalige aussenpolitische und militärische Lage, mit dem Ziele einer Milderung der Befehlsschärfen. […] Trotzdem hatte meine Einschaltung als Dienstaufsichtsbehörde auch das Ziel unter allen Umständen einen Völkerrechtsbruch zu vermeiden. Sie sollte sicherstellen, dass der Führerbefehl nur dann zur Durchführung durch die Vollzugsorgane kam, wenn die Überprüfung eine völlige Übereinstimmung zwischen dem Ermittlungssachverhalt, also den festgestellten Tatsachen einerseits und der Begründung des Führerbefehls für seine Rechtmässigkeit andererseits ergab. So ist nur mein Befehl an Schneider und Dr. Ernst zu verstehen. Da, wo die formellen und konkreten Vo­raussetzungen für diese Übereinstimmung nicht gegeben waren, – also im Falle Wimmenau kam der Führerbefehl auch nicht zur Durchführung. Die aufgegriffenen SAS-Angehörigen wurden also dann als Kriegsgefangene behandelt.«538

Bemerkenswert an dieser Aussage war der Rückbezug auf ein traditionelles deutschen Gehorsams-Ethos und die weltanschauliche Beeinflussung der NS-Zeit auf die Menschen. Tradition und Situation wurden 537 RW 0725 Nr. 10. 538 RW 0725 Nr. 10.

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somit zu mildernden Tatbeständen erhoben und sollten für Isselhorst trotz bewusster Illegalität hinsichtlich des Völkerrechts die Rechtfertigung für die Ausführung der Befehle bilden. Die Rechtmäßigkeit dieses Führerbefehls und seine Anwendung wurden von Isselhorst nicht in Frage gestellt: »Die Massnahmen, die durch Erlasse, Befehle, Anordnungen usw. von mir und den übrigen Beamten verlangt wurden, waren dienstliche Obliegenheiten im Rahmen einer uns kraft berufsauferlegten und von uns verlangten Tätigkeit. An die Durchführung waren wir durch Diensteid gebunden.«539

Isselhorst ging sogar einen Schritt weiter und erhob im Folgenden den Vorwurf, dass die Fallschirmspringeroperationen des SAS wiederum Völkerrechtsbrüche darstellten und daher die Vergeltungsaktionen ebenfalls nicht vom Standpunkt des Völkerrechtes zu beurteilen seien. »Die Tätigkeit der Kommando-Unternehmungen stellte einen akuten und latenten, bisher in der Kriegsgeschichte unbekannten Völkerrechtsbruch dar. Ihm begegnete Deutschland mit der Gegenmassnahme, dass es für diese Fälle die völkerrechtlichen Gepflogenheiten für unverbindlich erklärte, indem es die Akteure nicht als Kriegsgefangene behandelte. […] (Vergeltungsprinzip).«540

Im weiteren Verlauf gab Isselhorst zudem an, dass das Urteil eines Kriegsgerichtes ohnehin das gleiche Ergebnis zur Folge gehabt hätte. Die Durchführung der Exekutionen wurde sogar durch die »Milde« Isselhorsts noch begünstigt, kannte er doch die hierfür gängige Methode aus seinem Osteinsatz: »Die Form der Erschiessung war nach einem Befehl des RSHA (oder sogar des RFSS!) dem Einheitskommandeur überlassen. Ich habe als selbstverständlich annehmen müssen, dass sie, trotz der Härte der Massnahme, nicht unter menschenunwürdigen Begleiterscheinungen vor sich ging. Es war mir bekannt, dass die Form der aus dem Russlandfeldzug übernommenen ›Einzel-Exekution‹ die gebräuchlichste war. Sie hat nach allen, was ich gehört habe, vor der bei den übrigen Nationen üblichen Form den Vorzug, schnell und sicher zu wirken (Vermeidung des ›Fangschusses‹). Ich selbst habe bisher an keiner Exekution teilgenommen.«541

Ungeachtet der eigenen Erfahrungen listete Isselhorst nur Grausamkeiten auf, die von feindlichen Partisanen und französischen Maquis durchgeführt wurden, und zog diese in einen bizarren Vergleich zu den Erschießungen der SAS-Soldaten: 539 RW 0725 Nr. 10. 540 RW 0725 Nr. 10. 541 RW 0725 Nr. 10.

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»Wer die auf unmenschlichste Art durch die russischen Partisanen umgebrachten deutschen Soldaten und Zivilisten, ihre gemarterten, gepfählten, zersägten, zerstückelten Körper gesehen hat, wer überhaupt die Härte der Partisanen-Kriegführung auf allen Kriegsschauplätzen des Krieges erlebt hat, der kann diese Exekutionsform nicht als menschenunwürdige Grausamkeit, als Verbrechen gegen die Kriegsgesetze und die Gesetze der Menschlichkeit, ansprechen. In dem gleichen Gebiet, in dem die SAS ihre völkerrechtswidrige Aufgabe durchführte, sind durch die Maquisards allein 6 deutsche Knaben, Angehörige der HJ, die an dem Vogesenwall schanzten, getötet wurden!«542

Auf die Frage, ob ihm das Völkerrecht bekannt gewesen sei, brachte Isselhorst ein historisches Argument hervor, das ebenfalls zur Rechtfertigung für den Völkerbruch gesehen werden sollte, da es eben auch in der Geschichte zahlreiche Völkerrechtsbrüche gab. Dass die folgenden historischen Beispiele mit dem für ihn geltenden Kriegsrecht, maßgeblich der Haager Landkriegsordnung von 1907, zunächst nichts zu tun hatten, wurde von Isselhorst nicht berücksichtigt. Eher sollten die beidseitigen Brüche des Völkerrechts als Beleg dazu dienen, dass keine Kriegspartei an die besagten völkerrechtlichen Vereinbarungen gebunden war. Diese sogenannte »tu-quoque«-Argumentation bildete in der Tat einen generellen Kritikpunkt an den Kriegsverbrecherprozessen. Jedoch wurden diese Verteidigungsargumente in den Urteilen größtenteils nicht zugelassen.543 »Immerhin weiss ich soviel, dass es Völkerrechtsbrüche u. Verletzungen des Internationalen Rechtes in der Kriegsgeschichte aller Völker immer wieder gegeben hat (amerikanischer Freiheitskrieg; Niederschlagung der Aufstände in Irland, Indien, Südwestafrika; napoleonische Kriege; 1914 1918) und trotz aller Schutzbestimmungen geben wird. […] Bezgl. der in ihm von allen Seiten begangenen Verletzungen lässt sich a) das Bibelwort zitieren: ›Wer ohne fehl ist, der werfe den ersten Stein!‹ b) der engl. Grundsatz: Right or wrong, my country!«544

Merkwürdig erscheinen auch seine darauffolgenden Ausführungen, in denen er zahlreiche Möglichkeiten zur Flucht während seiner Gefangenschaft beschrieb, die er jedoch ungenutzt ließ, auch weil ihm ein faires Verfahren versprochen wurde und er anscheinend Angst vor einer möglichen Bestrafung seiner Familie hatte: »Ich habe an der Totenbahre meines bei einem engl. Fliegerangriff auf die ›offene Stadt‹ Düsseldorf in der Nacht vom 10.–11. April 1942 ums Leben gekommenen Vaters den Schwur geleistet, mit allen meinen Kräften jedes Leid und jede Sorge von meiner hochbetagten Mutter 542 RW 0725 Nr. 10. 543 Vgl. Weinke, Annette: Die Nürnberger Prozesse, München 2006, S. 54f. 544 RW 0725 Nr. 10.

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abzuwenden. Ich habe leider von einer Reihe von Inhaftierten erfahren müssen, dass auch bei den Besatzungsmächten der Rückgriff auf Familienangehörige dann zur Anwendung gebracht worden ist, wenn der Gesuchte nicht auffindbar oder geflohen war. Das wollte ich sowohl meiner Mutter und meiner brüderlichen Familie, die in der französischen Besatzungszone lebten, ersparen, wie auch meiner alleinlebenden Frau. Dass sie, wie ich jetzt erst erfahren habe, wegen einer Lappalie zu 1 Jahr Gefängnis durch ein amerik. Gericht verurteilt worden ist, darf ic[h] wohl auch darauf zurückführen, dass sie die Frau ›des Kriegsverbrechers‹ Isselhorst ist!«545

Dass Isselhorsts Vater bei einem britischen Luftangriff ums Leben kam, ist indes eine verkürzte Darstellung der Ereignisse. Tatsächlich starb sein Vater kurz vor einem solchen Angriff, aber eben nicht aufgrund dessen an einem Herzinfarkt im April 1942, wie Isselhorst in seinem Tagebuch berichtete.546 Auch an dieser Stelle stellte sich Isselhorst als aufopferungsvolle Person dar, die nur aufgrund ihrer familiären Verpflichtungs- und Verantwortungsgefühle den Prozess und die Haft in Kauf nahm. Zudem beschrieb er seinen friedfertigen Charakter wie folgt: »Es wäre mir ein Leichtes nachzuweisen, dass ich niemals auch nicht während meiner Tätigkeit bei der Sipo, verbrecherischen Neigungen nachgegangen bin; sie sind mir im tiefsten Grunde meines Wesens nach Veranlagung und Erziehung völlig fremd. Das Gegenteil ist der Fall! Ich habe weder Zeit noch Gelegenheit zu dieser Beweisführung erhalten noch erscheint es mir ehrenhaft, zu meiner Rechtfertigung in diesem Prozess andere Mittel zu gebrauchen als die bei den obigen Ausführungen erwähnten.«547

Der Prozess von Isselhorst wurde nach dem Eröffnungsplädoyer, in dem der Chefankläger Major Hunt den Einsatz der SAS-Soldaten beschrieb und mit der Anklage gegen Isselhorst als vermeintlich Verantwortlichen für deren spätere Hinrichtung, mit der Vernehmung von zahlreichen Zeugen fortgesetzt. Darunter war auch der SS-Sturmbannführer Helmut Schlierbach (Jg. 1913), der längere Zeit bei den Einsatzgruppen – vorrangig bei der Heeresgruppe Süd (BdS Kiew; KdS Dnjepropetrowsk) – verbrachte, ab Dezember 1943 die Stapoleitstelle Straßburg übernahm und im November 1944 als Gestapochef in Karlsruhe eingesetzt wurde. Er war es auch, der die Kommandoführung der Sicherheitspolizei am Brückenkopf Colmar innehatte, als die amerikanischen Truppen dort eintrafen. Im sogenannten »Vogesenprozess« wurde er 1946 vom Düsseldorfer Militärgericht ob jener Exekution britischer Fallschirmjäger zu zehn Jahren Haft verurteilt. Er wurde jedoch 1952 bereits aus der Haft 545 RW 0725 Nr. 10. 546 RW 0725 Nr. 11 (Tagebucheintrag undatiert; Mitte April 1942). 547 RW 0725 Nr. 10.

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entlassen und starb 2005 in Offenbach.548 Durch diesen Hintergrund war Schlierbach mit Isselhorst und den Unternehmungen im Elsass gut vertraut und gab als Zeuge über Isselhorsts Arbeit auf die Fragen von Isselhorsts Anwalt, Dr. Bruck, Folgendes an: »Der Richter: Können Sie uns sagen, wann Dr. Isselhorst diesen Erlass erhielt? A[ntwort]: Es war zwischen Mitte und Ende Oktober 1944. Der Richter: Und wie lautet Ihre Frage dazu? Dr! [sic] von Bruck: Und was war der Grund für den Verweis? Was hatte Dr. Isselhorst angeblich falsch gemacht? A[ntwort]: Mir war in diesem Augenblick nur klar, dass er sich nicht an einen früheren Befehl gehalten hatte. Heute ist mir klar, dass das RSHA ihm einen Verweis erteilte, weil er nicht immer diese Fallschirmjäger erschossen hatte. […] Was die Gauleitung anlangt, so habe ich folgendes zu sagen: Schon bald nach meiner Amtsübernahme in Strassburg stellte ich fest, dass Wagner ein sehr starkes Interesse für Gestapo-Angelegenheiten zeigte. Ich weiss, dass er und seine nachgeordneten Stellen ständig Gestapo-Angelegenheiten kritisiert haben, weil sie bei ihrem Vorgehen zu milde waren. […] Soweit es in der Macht von Dr. Isselhorst stand, trug er Sorge dafür, dass keine strengen Massnahmen angewendet wurden. Dies trifft hauptsächlich auf Gauleiter Wagner zu, der in dem gleichen Zeitraum Chef der Zivilverwaltung im Elsass war. […] F[rage]: Kennen Sie einen Fall, wo Dr. Isselhorst versuchte, besonders strenge Befehle abzumildern? A[ntwort]: Ja. Im Juni 1944 erhielt Isselhorst einen Befehl von dem Gauleiter, dass er einen besonders strengen Fall aufziehen sollte, um der Bevölkerung ein Beispiel zu statuieren; er forderte einen Prozess, der mit einem Todesurteil enden sollte. Isselhorst sagte mir wiederholt, dass es ihm unmöglich sei, einen solchen Fall zu konstruieren, nur um dem Gauleiter einen Gefallen zu tun, und er werde sich weigern, etwas Derartiges zu tun; […] Und ich erinnere mich auch noch, dass der Gauleiter den BDS fragte, ob angesichts der vielen elsässischen Desserteure ein Dorf ausgesucht und evakuiert werden könnte, und dass Dr. Isselhorst ebenfalls ablehnte, da derartige Befehle nicht zu vertreten wären. […] Ich kann lediglich sagen, dass Dr. Isselhorst in allen seinen Beziehungen zu seinen eigenen Leuten und zur Bevölkerung streng, aber gerecht war.«549 548 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2003, S. 540. 549 RW 0725 Nr. 10.

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Die Mitteilsamkeit von Isselhorst war entgegen der üblichen wortkargen Haltung deutscher Angeklagter in den Kriegsverbrecherprozessen nach 1945 in der Tat eine außergewöhnliche Haltung und wurde sowohl von den Richtern als auch von der Anklage wohlwollend zur Kenntnis genommen. Das Problem jedoch bestand in den Inhalten, die sich für Isselhorst zunehmend zur Einbahnstraße hin zur Verurteilung entwickeln sollten. Wie bereits beschrieben, gab Isselhorst zunächst zu, dass er in einigen Fällen den Befehl weitergab, die SAS-Soldaten zu töten, sofern diese als »Terroristen« zu gelten hatten und somit, nach Einschätzung von Isselhorst und seinen Kollegen, nicht unter das Kriegsrecht fielen. Generell erklärte sich Isselhorst verantwortlich für die Taten seiner untergebenen Einheiten, nicht jedoch für Unmenschlichkeiten oder Exzesse. Bei seiner Vernehmung am 29. Juni 1946 gab er zudem an, dass er am 20. oder 21. August mit seinem Chef beim RSHA (Müller) telefonierte, um die Behandlung der SAS-Gefangenen zu besprechen. Hierbei, – so Isselhorst, – versuchte er, »unnötige Härten« an den Gefangenen zu vermeiden: »Nur wenn die Verbindung zwischen dem Maquis und solchen SASTruppen einwandfrei feststand, glaubte ich, dass ich es mir nicht länger leisten konnte, mich der Ausführung dieses Führerbefehls von 1942 zu widersetzen.«550 Auch bei der erneuten Vernehmung zwei Tage später stellte Isselhorst fest, dass er über »scharfe Vernehmungen« bei den SAS-Soldaten nicht unterrichtet gewesen sei: »Ich hatte nie Kenntnis von einem derartigen Geschehen und, wie ich bereits erklärt habe, wenn es zu meiner Kenntnis gekommen wäre, ich hätte strenge Massnahmen dagegen ergriffen.«551 Als zusätzliche Belege für seinen gnädigen Umgang mit Kriegsgefangenen nannte Isselhorst drei weitere Fälle, die sich bei Schirmeck kurz vor seiner Abkommandierung im November 1944 und während der letzten Kriegstage in Hof und im Isertal abspielten. So gab Isselhorst an, dass er bei der Räumung des Sicherungslagers Schirmeck, die aufgrund des Eintreffens amerikanischer Panzer vollzogen werden musste, ausdrücklich den Befehl gab, die weiblichen Gefangenen freizulassen und die männlichen in ein Konzentrationslager nach Baden zu transportieren. Bei dem Vorfall in Hof handelte es sich um einen amerikanischen Kampfpiloten, der nach dem Abschuss seiner Maschine von Isselhorsts Einheiten gefangen genommen wurde: »Während dieses Luftangriffs wurde ein amerikanisches Flugzeug abgeschossen. Eines der Mitglieder der Besatzung landete in einem der ›dispersal points‹ von Abteilung 4 des RSHA in Hof. Als ich dort eintraf, erhielt ich eine kurze Meldung und ich gab sofort Weisungen, dass der Gefangene in ein Kriegsgefangenlager zu bringen 550 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 29.06.1946). 551 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 01.07.1946).

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sei. Das geschah auch. […]«552 Der dritte Vorfall ereignete sich wenige Wochen später im Illertal, wo Isselhorst trotz der vermeintlichen Gefahr der Spionage etwa 50–60 Häftlinge eines KZ zu den feindlichen Linien passieren ließ: »Das ereignete sich im Mai 1945 als ich eine Kompanie der WaffenSS führte. Wir waren umzingelt und innerhalb des Kessels, in dem wir umzingelt waren, erschienen in der Nacht 50 bis 60 Konzentrationslager-Häftlinge. Sie waren ohne Waffe. Sie konnten sehen, wie wir unsere Verteidigung durchführten, und sie konnten ferner die Stärke unserer Einheit beobachten. Trotzdem befahl ich, dass diese 50 bis 60 Konzen­ trationslager-Häftlinge in Richtung Lenggries weitergehen sollten, in die amerikanischen Linien.«553

Die vermeintlichen Belege für seine »korrekte« Haltung gegenüber Gefangenen waren jedoch angesichts der zahlreichen getöteten Soldaten für das Gericht und die Chefanklage weniger beeindruckend, als dies Isselhorst noch in seinen Briefen an seine Frau vermutete. Beim Kreuzverhör mit Isselhorst durch den Ankläger Major Hunt wurden seine Einstellung und seine Gewissenhaftigkeit jedenfalls deutlich in Frage gestellt. Dies geschah zunächst durch die Hinterfragung der Exekutionsmaßnahmen und deren Richtigkeit: »F[rage] Wie, glaubten Sie, wurden Ihre Befehle ausgeführt? A[ntwort] Eine ganz normale Erschiessung, just in der Weise, wie sie von mir befohlen wurde. […] Aber in allen Fällen, die bis jetzt haben [sic] befriedigend nachgewiesen werden können, gibt es keinen Fall, der durch eine reguläre Exekution durch Erschiessen ausgeführt worden wäre, wie Sie und ich eine solche Exekution verstehen. F[rage] Wenn Sie glaubten, dass alle von ihnen in einer ordnungsgemässen Art und Weise ausgeführt wurden? A[ntwort] Ich war Soldat und als Soldat dachte ich in einer korrekten Weise.«554

Im weiteren Verlauf bestritt Isselhorst jegliche Kenntnis von weiteren Tötungen einzelner SAS-Gefangenen oder Gruppen wie die eines britischen Fliegers namens Hapgood am 30. Juli 1944 bei Natzweiler, für die er seinen Untergebenen Meier verantwortlich machte. Auch das generelle Vorgehen, das Gefangene oftmals nach Natzweiler gebracht wurden, wo sie hingerichtet wurden, bestritt Isselhorst energisch. Isselhorst nannte hierfür seine Untergebenen namens Ernst und Buch als mögliche Verantwortliche. Weitere acht Personen, die vom Kommando Rotscheck 552 Ebd. 553 Ebd. 554 Ebd.

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exekutiert wurden, waren ihm nicht bekannt und er nannte auch hier seinen Mitarbeiter Ernst, der Isselhorst über diese »Aktionen« bewusst in Unkenntnis ließ: »Ich glaube, dass Ernst seine Geheimhaltung so weit trieb, dass selbst in seinem Bericht an mich er sagte ›auf der Flucht erschossen.‹«555 Das folgende Kreuzverhör machte deutlich, wie eingeengt und widersprüchlich die Ausführungen von Isselhorst, aber auch seine dargestellte Haltung zum NS war. Die Fragen von Major Hunt und die Antworten von Isselhorst: »[…] A[ntwort] Wie ich bereits vorher sagte, war in dem nationalsozialistischen Regime der Wille des Führers der Regierung gesetzt und somit folglich war dieser Befehl Gesetz. F[rage] Aber überzeugte der Erlass dieses Gesetzes Ihren Geist, dass das Töten dieser Männer rechtens war? A[ntwort] Wie ich bereits vorher sagte, prüfte ich sorgfältig diesen Befehl und selbst vom Standpunkt eines Juristen erkannte ich, dass dieses Gesetz rechtens ist, insbesondere im Hinblick und in bezug [sic] auf die Ereignisse im Jahre 1940 und auch den Angriff in Dieppe. F[rage] Als Jurist, ausschliesslich aller sonstigen Umstände und des Für und Wider, das Sie abgewogen hatten, wie waren Sie da in der Lage, das Einseitige einer Partei zu akzeptieren, die das Gesetz der Nationen änderte? A[ntwort] Zunächst einmal, ich glaube, es ist durchaus üblich im internationalen Recht; zweitens […] ich glaube oder ich wusste, dass die Schutzmacht diesen Führerbefehl den alliierten Regierungen bekannt machte. Es gibt einen Begriff ›retorsion‹ im internationalen Recht. Es ist durchaus möglich, dass ein Land eine einseitige Entscheidung trifft als Antwort auf eine ähnliche Entscheidung, die von einem anderen Land getroffen wurde. […] F[rage] Mir geht es nicht um Geschichte, noch geht es mir darum, womit eine Nation ein Völkerrecht bricht. Wie wollen Sie einen früheren Bruch des Völkerrechts hinsichtlich einer Person oder einer Partei bewerten? A[ntwort] In diesem besonderen Falle machte ich es mir zur Aufgabe, die wirklichen Fakten festzustellen, um eine Begründung für diesen angezogenen Führerbefehl zu bekommen und das ist der Grund, warum ich den Befehl gab, eine gründliche Untersuchung durchzuführen, ob diese Einheiten mit dem Maquis kooperierten oder nicht, und, soweit meine Kenntnis des Rechtes betroffen ist, ist der bewaffnete Widerstand von Zivilisten in einem besetzen Lande durch das internationale Recht [nicht geschützt] und wer immer diesem bewaffneten Widerstand hilft, 555 Ebd.

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wer ihn organisiert oder wer ihn auslöst, kann nicht durch internationales Recht gedeckt werden. Das ist meine Auffassung und wenn dies bewiesen worden war, war ich bereit, diesen Befehl des Führers auszuführen. […] F[rage] Angenommen, Sie glauben all das, was Sie gerade erwähnt haben, so werden Sie mit uns übereinstimmen, nicht wahr, dass ein Bruch des Gesetzes durch eine Partei keine Rechtfertigung für einen Bruch des Gesetzes durch die andere Partei oder durch irgendeine andere Partei ist? A[ntwort] Ich glaube, dass es durchaus möglich ist, im internationalen Recht und in der Geschichte der Völker. Das ist das Prinzip, das ich erwähnte, das Prinzip, das ›retorsion‹ heisst. F[rage] Obwohl das möglicherweise ein praktischer Glaube gewesen ist, glauben Sie ernsthaft, dass es in Übereinstimmung mit dem Gesetz war? A[ntwort] Das ist eine Frage, die ich, als kleines menschliches Wesen, nicht entscheiden kann. Das ist eine Frage, die das internationale Recht und die Regierungen zu entscheiden haben. Aber ich kann Sie versichern, dass der Inhalt dieses Führerbefehls nicht erfreulich für mich war, weil ich mir sonst nicht die ganze Mühe gemacht hätte. F[rage] Aber ich sage Ihnen, dass Sie wussten, dass der Befehl grundsätzlich widerrechtlich war? A[ntwort] Nein, das ist nicht so; ich muss sagen, dass in meinem eigenen Innern ich diesen Befehl für rechtmässig halte, aber, wie das bei vielen Befehlen während des Krieges der Fall war, er war kein erfreulicher Befehl.«556

Der von Isselhorst hervorgehobene Angriff auf die nordfranzösische Hafenstadt Dieppe wurde am 18. August 1942 größtenteils von kanadischen Truppen durchgeführt. Ziel der »Operation Jubilee« war die kurzfristige Einnahme der Stadt Dieppe und den Kenntnisgewinn über die deutsche Besatzungsmacht und deren Abwehrmaßnahmen. Aus zahlreichen technischen und taktischen Gründen sowie schlechter Witterung musste das Unternehmen jedoch wenige Stunden nach Beginn unter hohen Verlusten der Alliierten abgebrochen werden.557 Anscheinend war für Isselhorst dieser Angriff ein Beleg für einen terroristischen Akt, der von der alliierten Seite durchgeführt wurde und somit die Rechtmäßigkeit und die Härte des Führerbefehls rechtfertigte. Auch der Frage, inwiefern die Exekutionen mit anderen Befehlshabern abgestimmt waren, wurde am darauffolgenden Verhandlungstag noch einmal nachgegangen. Isselhorst gab an, die »Behandlung« der 556 Ebd. 557 Vgl. Echternkamp, Jörg: Die 101 wichtigsten Fragen. Der Zweite Weltkrieg, München 2010, S. 101f.

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Fallschirmjäger in Absprache mit Friedrich Suhr und Carl Oberg abgestimmt zu haben.558 Oberg (Jg. 1897), SS-General und HSSPF Frankreich, seinerzeit als »Schlächter von Paris« bekannt, wurde 1942, als zuvor erfahrener Polizeiführer im Generalgouvernement, nach Frankreich abkommandiert, wo er sich durch rigoroses Vorgehen gegen Widerstandskämpfer hervortat und zudem maßgeblich für die Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die Vernichtungslager verantwortlich war. Sowohl im Verfahren in Wuppertal 1946, wie auch in einem weiteren Gerichtsverfahren 1947 in Frankreich zum Tode verurteilt, wurde seine Haft 1958 auf lebenslänglich abgemildert. Ganz so lange blieb er jedoch nicht inhaftiert. Bereits 1962 konnte Oberg als freier Mann nach Deutschland zurückkehren und lebte bis zu seinem Tod 1965 in Flensburg.559 Friedrich Suhr (Jg. 1907) war langjähriger Mitarbeiter im »Judenreferat« des RSHA und Mitgestalter der sogenannten »Endlösungskonferenz« am 27.10.1942 im Eichmann-Referat. Auch im Osteinsatz bewährte sich Suhr als SKund EK-Leiter, bevor er 1943 als BdS nach Paris kam. Anders als seine Kollegen beging er am 31. Mai 1945 im Wuppertaler Gefängnis Suizid.560 Nach dem Ende des Kreuzverhöres von Major Hunt wurde Isselhorst erneut durch seinen Anwalt befragt. Die Verteidigung wollte die Gelegenheit nutzen, um erneut die völkerrechtliche Grundlage und deren Nicht-Einhaltung offenzulegen und zu konkretisieren. »[…] [Frage] Wollen Sie bitte erklären, was Sie unter dem Begriff ›retorsion‹ verstanden? A[ntwort] Ich verstehe, dass dies bedeutet, dass ein Staat eine rechtswidrige Handlung ausführen könnte als eine Repressalie für eine rechtswidrige Handlung, die von einem anderen Land begangen wurde. F[rage] Das ist technisch nicht ›Retorsion‹; das ist technisch ›Repressalie‹. Glaubten Sie, dass die das Recht hatten, Repressalien gegen die Maquisards oder gegen die Fallschirmspringer zu ergreifen? A[ntwort] Gegen die Fallschirmspringer. F[rage] Und warum glaubten Sie das? A[ntwort] Weil ich glaubte – und ich glaube es auch jetzt noch – dass die Maquisards als Terroristen, als Francs-Tireurs behandelt werden sollten und Fallschirmspringer, die in Kollaboration mit ihnen waren, halfen ihnen und begünstigten sie.«561 558 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 02.07.1946). 559 Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2003, S. 440. 560 Vgl. Ebd. S. 616. 561 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 02.07.1946).

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Die Befragung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des Führerbefehls wurde auch von Isselhorsts Anwalt erneut aufgegriffen und – merkwürdigerweise entgegen der im Kreuzverhör getätigten Aussage – als nicht völkerrechtskonform angesehen, so wie er über den Führerbefehl angab: »Der mit den normalen Gesetzen und Gepflogenheiten des Krieges nicht übereinstimmen würde.«562 Aus diesem Grund, so Isselhorst, wurde der Befehl – soweit es ihm möglich war – umgedeutet und ausgeweitet. Als weitere historische Beispiele für die Nicht-Befolgung des Völkerrechts auf alliierter Seite nannte Isselhorst die Luftlandeaktion der Deutschen in den Niederlanden 1940, in der die Truppen von den Alliierten nicht als reguläre Truppen anerkannt wurden, und den Fund eines Soldatenbefehls bei Dieppe, in dem es hieß, keine Gefangenen zu machen.563 In der weiteren Befragung wurde Isselhorst auf die eigene Interpretation des Führerbefehls detaillierter vernommen: »F[rage] Sie sagten gestern, dass angesichts der politischen und militärischen Lage, die sich änderten, Sie in Zweifel waren, ob der Führerbefehl in all seiner Strenge durchgeführt werden solle. Das waren Ihre Worte, nicht wahr? A[ntwort] Ja. F[rage] Was bedeutet das? A[ntwort] Es schien mir ziemlich zweifelhaft, ob der buchstäbliche Sinn dieses Befehls durchgeführt werden sollte. F[rage] Wieso zweifelhaft? A[ntwort] Weil zu diesem Zeitpunkt die politische und militärische Lage sich derartig geändert hatte, dass ich es nicht nur für unerfreulich hielt, diesen Befehl auszuführen, sondern auch als unklug. F[rage] Wieso unklug? A[ntwort]: Weil die ganze Situation sich für das deutsche Volk unvorteilhaft änderte. [Frage] aber wieso wurde es dadurch unklug, diesen Befehl auszuführen? […] A[ntwort] Weil ich der Meinung war, dass jede unnötige Härte vermieden werden sollte. »F[rage] Gehrum glaubt, dass sie ein Mann mit sehr grausamen Ideen sind offensichtlich. A[ntwort] Ich glaube, es sind bereits zwei Zeugen aufgetreten, die gesagt haben, dass das Unsinn und eine Lüge ist. 562 Ebd. 563 Ebd.

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F[rage] Es ist Sache des Gerichts, nicht wahr, im Endeffekt zu entscheiden, wer in diesem Verfahren lügt; aber Sie hörten, wie Gehrum es in seinem affidavit sagte, nicht wahr? A[ntwort] Ja. F[rage] Und er sagte, Sie brachten sie aus Russland mit? A[ntwort] Ja. F[rage] Und Sie waren in Russland? A[ntwort] Ja. F[rage] Einige ganz schön grausame Dinge wurden in Russland vollbracht, nicht wahr? A[ntwort] Ja. F[rage] Ausser einem Juden, glaube ich, war in den Augen eines Deutschen ein Russe der unbedeutendste Mensch, nicht wahr? A[ntwort] Nein.«564

Es waren demnach keine eigenen moralischen Gründe oder Skrupel, die Isselhorst an der Durchführung jener Exekutionsmaßnahmen hinderten. Lediglich die schlechte militärische Lage und die möglichen Folgen für die Behandlung deutscher Kriegsgefangener veranlassten Isselhorst dazu, Einwände gegen die Tötungsmaßnahmen zu erheben. Die Anklage versuchte diesen zentralen Aspekt von Isselhorsts Haltung genauer zu hinterfragen: F[rage]: Sie sagen, dass Sie einfach auf ein Stück Papier geschrieben haben, dass Sie mit dem Maquis zusammenarbeiteten; ist das richtig? A[ntwort]: Während des Verhörs gaben einige von ihnen, nicht alle von ihnen, zu, dass sie mit dem Maquis kooperiert hatten. F[rage]: Was fingen Sie mit den Männern an, die eine Zusammenarbeit leugneten? Glaubten Sie, es würde richtig sein, eine sachgemässe Untersuchung durchzuführen, um festzustellen, ob sie von Ernst fair behandelt worden waren? A[ntwort]: Aus dem grössten Teil der Verhöre war es mir klar, dass die gesamte Gruppe als Ganzes kooperierte. […] F[rage]: Waren Sie selbst zum Lesen der gesamten Akte zu faul, wenn ein Menschenleben auf dem Spiel stand? A[ntwort]: Ich war nicht faul, aber ich bitte das Gericht zu glauben, dass ich vielfache Aufgaben hatte und es mir unmöglich war, mich mit jedem kleinen Detail zu befassen; aber was ich tat, genügte, um mich zu dieser Entscheidung zu bringen. 564 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 02.07.1946).

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F[rage]: Sie entschieden über Leben und Tod eines Mannes nur aufgrund der Lektüre von Unterlagen; ist das nicht so? A[ntwort]: Diese Frage ist so gestellt, dass ich nicht ja oder nein sagen kann. F[rage]: Und Sie dachten, es wäre eine Sache von geringer Bedeutung? A[ntwort]: Es war keine Kleinigkeit für mich.«565

Die Antworten lassen erahnen, dass eine tatsächliche Fallprüfung von Isselhorst, wenn überhaupt, nur rudimentär stattfand. Tatsächlich wurden die Exekutionen weitestgehend autonom von den Gestapo-Mitarbeitern durchgeführt. Erstaunlicherweise versuchte Isselhorst nicht, seine Mitangeklagten zu belasten, – im Gegenteil: Er lud sogar Schuld auf sich, indem er wiederholt angab, die Erschießungen angeordnet zu haben.566 Zudem besiegelte Isselhorst seine Verurteilung mit der Antwort auf die Frage, ob die gefangenen SAS-Soldaten uniformiert waren: »F[rage]: Sie hatten übereinzukommen, dass jedermann, der in Zivilkleidung gekleidet war, wie ein Franzose, und der sich als britischer Soldat entpuppte, erschossen werden würde? A[ntwort]: Er wäre in diesem Fall kein Soldat, sondern ein Agent. F[rage]: Und das würde nicht ein Bruch der Gesetze und Gepflogenheiten des Krieges sein, wenn Sie ihn erschiessen? A[ntwort]: Nein. F[rage]: Bestand nicht Ihr, Suhr’s und Oberg’s Problem darin, dass diese Leute in Uniform waren; das ist es, was es schwierig machte zu wissen, ob man sie erschiessen sollte oder nicht? A[ntwort]: Das war einer der Gründe, ja.«567

Obgleich die letzte Frage suggestiv war und scheinbar von Isselhorst weder im Kern noch in der Tragweite richtig verstanden wurde, besiegelte die bejahende Antwort seine Verurteilung. Denn Isselhorst gestand dadurch vor dem Kriegsgerichtsrat, dass er uniformierte feindliche Soldaten ohne Kriegsgerichtsprozess nach ihrer Festnahme, aufgrund eines übergeordneten Befehls und einer kurzen Sachprüfung exekutieren ließ. Am darauffolgenden Verhandlungstag wurde die Befragung Isselhorsts auf seinen Verweis ausgeweitet, den er aufgrund seiner zu milden Haltung gegenüber der Durchführung des »Führerbefehls« an den Tag legte:

565 Ebd. 566 Ebd. 567 Ebd.

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»F[rage]: Wenn Sie nun die Zahl der Gefangenen und die Zahl der Erschossenen meldeten, so ist es ganz klar, dass ihre Vorgesetzten feststellen konnten, wieviele nicht erschossen waren? A[ntwort]: Ja, ich meldete dies sogar. Ich meldete, dass 5 oder vielmehr eine ganze Gruppe, nicht erschossen wurde. F[rage]: Und ist das, was, wie Sie sagen, diesen Brief aus Berlin auslöste? A[ntwort]: Ja, das war der Grund für diesen ziemlich scharfen Verweis, den ich von Berlin bekam und es wurde erneut gefragt, warum ich nicht den Führerbefehl ausführte und man forderte eine sofortige Antwort. F[rage]: Waren Sie bereit, von Ihren Vorgesetzten sehr streng bestraft zu werden, weil Sie sich bei dieser Wimmenau-Gruppe so verhalten hatten? A[ntwort]: Ja, ich nahm dies an. F[rage]: Glauben Sie, dass Ihre Vorgesetzten Ihrer Auffassung Beachtung geschenkt hätten, dass diese Leute eventuell mit dem Maquis zusammengearbeitet hätten? A[ntwort]: Ich glaube das nicht nur, sondern ich weiss es auch, weil ich Müller einen persönlichen Bericht gab. Mir wurde während dieser Unterredung gesagt, dass, obwohl sie nicht meiner Interpretation dieses Führerbefehls zustimmten, sie trotzdem es diesmal noch einmal durchgehen liessen, aber für das nächstemal ich darauf gefasst sein müsste, streng bestraft zu werden. […] F[rage]: Somit vertrat Müller nicht den Standpunkt, dass Sie Hitler’s Befehl verweigert hätten, ist das richtig? A[ntwort]: Ja, er war der Auffassung, dass ich den Befehl nicht nach dem Buchstaben verfolge und das ist auch der Grund, weshalb er mir einen sehr strengen Verweis erteilte. Ich möchte hier keine Einzelheiten sagen, aber es war ein wirklich sehr strenger Verweis. F[rage]: Wann wurde Ihnen dieser strenge Verweis erteilt? A[ntwort]: Um den 30. oder 31. oder 1. oder 2. November. F[rage]: Mit anderen Worten, Sie bekamen einen Minuspunkt als BDS, nicht wahr? A[ntwort]: Ja. F[rage]: Wissen Sie, ob dieser strenge Verweis in Ihre Papiere kam? A[ntwort]: Ich muss das annehmen, denn als ich schliesslich im Dezember meines Postens enthoben wurde, wurde mir gesagt, dass die sehr zweideutige Haltung gegenüber dem Führerbefehl einer der Gründe war, weshalb ich meinen Posten verlor.«568 568 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 03.07.1946).

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In der folgenden Befragung durch seinen Anwalt versuchte dieser erneut, auf die sorgfältige und gewissenhafte Sachprüfung Isselhorsts hinsichtlich der Exekutionsmaßnahmen hinzuweisen. Isselhorst erneuerte da­ raufhin seine widersprüchliche Auffassung, dass er die Exekution eben nicht befahl, sondern nur aufgrund des Führerbefehls anordnete. Hier entschied sich der Kriegsgerichtsrat zu einem Einwand: »Der Kriegsgerichtsrat: Mir ist nicht ganz klar geworden, worauf das hinausläuft. Es ist uns gesagt worden und wir haben Zeugen dafür, dass im Falle Davies [Name eines der Opfer, Anm. d. Verf.], wegen seines männlichen Verhaltens, das Schneider so beeindruckte, Schneider [Stapo-Beamter in Straßburg, Anm. d. Verf.] Ihnen nahelegte, dass er nicht erschossen werden sollte, und es liegt eine direkte Behauptung vor, dass Sie ihn trotzdem erschiessen liessen. Und nun werden Sie also gefragt, so wie ich das verstehe, welches ist Ihre Erklärung dafür? A[ntwort]: Am ersten Tage erzählte mir Schneider etwas über einen der Angehörigen der Fallschirmspringer, der sich sehr tapfer gehalten habe und ich glaube, er fragte mich, ob etwas für diesen Mann getan werden könne. Ich glaube, ich habe im Zeugenstand bezeugt, dass dies ein weiterer Grund war, weshalb ich Müller telefonisch anrief, dann nach der klaren Entscheidung von Müller kam meine Erklärung, und somit war die Massnahme, die getroffen werden musste, die gleiche für alle S.A.S.Männer, die damals gefangengenommen wurden, weil es sich herausgestellt hatte, dass sie mit dem Maquis zusammenarbeiteten.«569

Beinahe skurril wirkte die daran anschließende Frage seines Anwaltes an Isselhorst, was Isselhorst während seiner Einsatzgruppenzeit erlebte. Dass diese Frage tatsächlich aus entlastendem Motiv gestellt wurde, zeigt wie harmlos Isselhorst seine eigene Rolle im Osteinsatz bewertete. »F[rage]: Nun ein ganz anderer Punkt. Ich glaube, es ist bereits einmal gesagt worden, dass Sie in Russland gewesen waren und dass Sie grausame Ideen von dort mitgebracht hätten. Es ist sehr schwer zu fragen, ob Sie in Russland grausam waren, aber ich möchte Sie einfach kurz fragen, was waren Ihre Aufgaben dort? A[ntwort]: Im Februar 1942 kam ich nach Russland im Stabe der Einsatzgruppe B in Smolensk. Dort war ich bis November 1942 als Abteilungsleiter der Abteilungen 1 und 2 für Personal und Verwaltung eingesetzt. F[rage]: Und die, wenn ich Sie recht verstehe, sich mit interner Verwaltung befasste? A[ntwort]: Ja, und ich hatte keine Gelegenheit, dort irgendwelche Akte der Grausamkeit zu begehen. Dann, bis August 1943, war ich als Leiter der sogenannten Fronteinsatzkommandos an der Leningraderfront 569 Ebd.

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eingesetzt. Und das war im Rahmen der 19. Deutschen Armee. Meine Aufgaben dort, mit diesem Kommando, waren lediglich militärischer Art. Da gab es keine Partisanen oder Guerillas oder sonst etwas Derartiges in diesem Bereich, da es lediglich ein Frontabschnitt war. Ich kam dann nach Minsk als Kommandeur, wurde schwerkrank, wurde in Russland abgelöst und nach Deutschland zurückgeschickt. Meine Genesung dauerte lange und im Januar 1944 kam ich als Inspekteur in den Bereich Baden-Württemberg und Elsass.«570

Das Schlussplädoyer von Isselhorsts Anwalt zielte dementsprechend auf die bereits aufgezeigten Elemente des Befehlsnotstandes, der Illegalität der SAS-Arbeit mit dem Maquis (keine militärische Organisation, daher kein Bezug zu Kriegsrecht) und der dienstlichen Eingebundenheit von Isselhorst, die dazu führte, dass er nur rudimentäre Kenntnisse von den Vorfällen besaß und zudem versuchte, wo es eben möglich war, die Tötung zu verhindern beziehungsweise eine besonders »milde« Form der Exekution zu bewirken. Zusammenfassend führte sein Anwalt aus: »Der Angeklagte Isselhorst hatte zu der damaligen Zeit, die für das deutsche Volk eine so kritische Zeit war, hunderterlei Aufgaben, und er konnte nur einen Bruchteil dieser Zeit auf die jetzt zur Debatte stehende Frage verwenden. […] Natürlich ist da noch der Charakter des Angeklagten, und ich glaube, dass es für das Gericht von einiger Bedeutung ist, ihn kennenzulernen. […] Er hat sich nicht an seiner Verantwortung vorbeigedrückt, wie das so viele vor ihm getan und die Schuld auf andere geschoben haben. […] Er war nie grausam oder ein Fanatiker; ich spreche nun von der eidesstattlichen Erklärung (affidavit) über seinen Charakter, die von Bischof Douvier aus Strassburg abgegeben wurde. Der Bischof spricht in den höchsten Tönen von dem Charakter des Angeklagten. Er sagt, dass Isselhorst versuchte, für die Bevölkerung des Elsass, die wirklich litt, soviel wie möglich von den Bedrohungen durch andere Leute zu vermeiden. Dieses affidavit und auch die eidesstattliche Erklärung von Dr. David, einem hohen kirchlichen Würdenträger aus Köln, zeigen ferner seine Haltung gegenüber religiösen Fragen. Nicht nur stimmt das Bild, das wir von Dr. Isselhorst haben, nicht mit dem Bild überein, das wir im Allgemeinen von einem hohen SS- und SD-Funktionär haben, sondern er beteiligte sich auch nicht an der Verfolgung der katholischen und jüdischen Kirche. Er versuchte, sie zu besänftigen.«571

Dass der persönliche Einsatz von Isselhorst zum Schutz der Kirchen am Ende des Plädoyers stand, war wohl auch dem persönlichen Wandel hin 570 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 03.07.1946). 571 RW 0725 Nr. 10.

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zum religiösen Glauben geschuldet, den Isselhorst in der Zeit seiner Gefangenschaft wiederentdeckte. In zahlreichen Briefen, die während der Prozesszeit in Wuppertal an seine Frau schrieb, wurde diese Gottesgläubigkeit deutlich. So schrieb er am 23. Mai 1946: »Das Schicksal ist mächtiger als unser stärkster Wille: die Erfüllung unserer Wünsche und Hoffnungen hängt nicht vom Menschenwillen ab, sondern steht allein in der Hand des Allmächtigen. Ich habe mich zu ihm zurückgefunden und finde einen Trost darin. […] Auch ich bete täglich, dass der Allmächtige gnädig verfahren möge mit uns. […]. Doch müssen wir den Dingen nüchtern und klar ins Auge sehen: an die Gerechtigkeit irdischer Richter glaube ich nicht mehr! Die Vergangenheit der Lüge und Betruges und des schmachvollsten Missbrauchs unserer heiligsten Gefühle, und die Erlebnisse u. die Erfahrungen der Gegenwart haben es mich verlernen lassen. Ich glaube nur noch an die göttliche Gerechtigkeit. […] Wenn man mich aber strafen will dafür, dass ich als anständiger deutscher Mann meine Pflicht tat unter Bedingungen, wie sie so viele zu ertragen hatten, ohne sie mit ihren Kräften ändern zu können, so werden wir es zu tragen wissen: Du als meine tapfere, liebe und über alles geliebte Frau, und auch ich! Einzelheiten mitzuteilen würde hier zu weit führen. Was Du von dem zu halten hast, was Du aus der Presse erfährst, weisst Du.«572

Isselhorst hatte den Weg zu Gott zurückgefunden und nahm diesen Wandel auch in seine Verteidigung vor Gericht auf. Dass er noch zehn Jahre zuvor rigoros gegen die katholische Kirche vorgegangen war, spielte zu dieser Zeit keine Rolle mehr. Im Gegenteil: Erst durch seinen Schutz, so Isselhorst, wurden die Kirche und die Bevölkerung des Elsasses vor noch größerem Leid gerettet. Seine Wirkung vor Gericht wurde von Isselhorst im kommenden Brief geradezu posierend zur Schau gestellt: »Alle erleben meinen Kampf um Recht u. Gerechtigkeit, alle erleben u. hören jeden Tag, dass ich nichts Unrechtes getan habe, was mich vor Euch, vor meinem Herrgott u. vor meinem Volk als Verbrecher stempeln würde. Vier Tage lang habe ich als Zeuge in eigener Sache im Kreuzverhör gestanden, und ich glaube sagen zu dürfen, dass meine Verteidigung nicht ohne Eindruck geblieben ist. […] Von allen Seiten spüre ich die Achtung, die man mir entgegenbringt, dass es auch englische Offiziere tun, befriedigt mich. […] So trage ich die Hoffnung in mir – u. alle unsere Lieben tun es auch –, dass es nicht Gottes Wille sein kann, uns für immer zu trennen, und meine Zuversicht u. mein Glaube an das Wollen u. Schalten der göttlichen Gerechtigkeit sind stärker denn je! Der Herrgott hat uns in diesen Jahren der Bitternis u. des Leides geschützt, er wird uns auch jetzt nicht im Stich lassen. Am Montag oder Dienstag nächster Woche erwarten wir unseren Urteilsspruch, er wird zeigen, ob 572 RW 0725 Nr. 34 (Brief vom 23.05.1946).

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man Recht oder Unrecht spricht! […] Das Leben ist uns von Gott geschenkt, nur er kann es uns auch nehmen, wenn wir gerecht gelebt haben. Ich trage meine Verantwortung bis zum letzten Augenblick u. bis zur letzten Konsequenz. Lass mich nie daran zweifeln, dass auch Du so denkst u. handelst.«573

Jedoch änderten weder seine wiedergewonnene Frömmigkeit noch die erfahrene Grausamkeit im Osteinsatz etwas am Urteil, das knapp acht Tage später gefällt werden würde. Isselhorst wurde wie erwartet vom britischen Kriegsgericht für schuldig befunden, als maßgeblicher Befehlshaber die unrechtsmäßigen Tötungen angeordnet zu haben. Auf die Eingebundenheit Isselhorsts in die Befehlskette und die »Maschinerie« des NS konterte der Kriegsgerichtsrat wie folgt: »›Betroffen in der Tötung‹ würde, glaube ich, eine Organisation umfassen, die vorsätzlich zum Zwecke des Tötens von Männern eingesetzt war und sie würde jeden erfassen in dieser Organisation, die ein Teil der Maschinerie war, die notwendig war, dieses Ziel zu erreichen. Jeder, sozusagen, der eng zusammenarbeitete mit dem, was in dieser Maschinerie erforderlich war, das in der ungesetzlichen Tötung von SAS-Männern resultieren würde, könnte, glaube ich, ordnungsgemäss als in der Tötung betroffen angesprochen werden.«574

Seinem Anwalt blieb lediglich ein Appell um Gnade für seinen Mandanten, der, wie er sagte, ein »treuer Sohn der katholischen Kirche« sei. Jedoch wurde ihm diese nicht gewährt.575 Insgesamt wurden nach dem Zweitem Weltkrieg 1.085 Personen von britischen Militärgerichten verurteilt, davon 240 zum Tode. Viele der Urteile wurden durch Gnadengesuche herabgesetzt und bis 1957 wurden alle noch inhaftierten deutschen Häftlinge entlassen.576 Offenbar fand sich Isselhorst jedoch nicht mit dem Todesurteil so schicksalsergeben ab, wie er es in seinen Briefen immer wieder betonte. Zudem verfasste er kurz nach dem Prozess eine sechsseitige Stellungnahme, in der er über seine Verantwortlichkeit, seine persönliche Haltung und das britische Verfahren schrieb: »[…] Ich glaube mit diesem Vorgehen nicht nur korrekt soldatisch, sondern auch im Rahmen der damals geltenden Völkerrechtsbestimmungen und der für einen deutschen Soldaten verbindlichen Befehle des Staatsoberhauptes gehandelt zu haben. Meine Einschaltung war nicht notwendig, ich ließ mich dabei nur von dem Gedanken leiten, jede Möglichkeit eines Übertrittes von Seiten der Fronteinheiten auszuschalten. 573 RW 0725 Nr. 34 (Brief vom 04.07.1946). 574 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 11.07.1946). 575 RW 0725 Nr. 10 (Aussage vom 11.07.1946). 576 Vgl. Rückerl, Adalbert: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982, S. 99.

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Ich wollte nicht Unrecht begehen, sondern vermeiden. Der Befehl war mir nicht nur unsympathisch, sondern erschien mir auch beim damaligen Stand der militärischen und politischen Lage unzweckmässig, (obwohl nicht rechtswidrig!). Meine Versuche, bei meiner höchsten vorgesetzten Behörde in Berlin – Chef der Sicherheitspolizei – eine Milderung zu erreichen, schlugen fehl. Meine persönliche eigenwillige Auslegung des Befehls hatte in Bezug auf die Gruppe, die als Kriegsgefangene behandelt wurde, eine schwere schriftliche und mündliche Rüge zur Folge. Nur mein energisches Auftreten und die Stichhaltigkeit der vorgetragenen Gründe behüteten mich vor dem Schlimmsten, waren jedoch bei Nichtbefolgung des Befehls schärfste Strafmaßnahmen, insb. nach dem Attentat vom 20.7.1944 auch gegen die Familie (Sippenhaft) angedroht. Tatsächlich bin ich wenig später (11.12.1944) auf Befehl des Reichsführers SS Himmler meines Postens enthoben und zur Disposition gestellt worden.«577

Anschließend führte Isselhorst weiter aus, dass er in seinem langjährigen Handeln innerhalb der Gestapo immerzu versuchte, die Radikalität der geforderten Maßnahmen abzumildern, auch wenn dies zu persönlichen Konsequenzen führte: »Während meiner langjährigen Tätigkeit bei der Sicherheitspolizei habe ich mich immer als Jurist gefühlt und mein Handeln und Verhalten danach eingerichtet. Ich bin bei der Durchführung von Anordnungen meiner vorgesetzten Dienststelle – RSHA Berlin – nie nach den Buchstaben, sondern immer nach dem Sinne vorgegangen. Dabei habe ich mich häufig in Widerspruch mit den Auffassungen meiner Vorgesetzten, aber vor allem auch der Partei befunden, und mir, obwohl ich PG seit 1932 war, deren Missbilligung, ja sogar Feindschaft zugezogen. Zwei Mal bin ich wegen dieser Haltung meines Postens enthoben, einmal auch disziplinarisch bestraft worden. Trotzdem hat man meine insgesamt 5 Meldungen zur Truppe während des Krieges und meine Gesuche um Entlassung aus der Sicherheitspolizei abgelehnt. Ich wagte dies, obwohl nach einem Befehl des Chefs der Sipo zu Beginn des Krieges ein derartiger Versuch als ›Fahnenflucht‹ bezeichnet wurde.«578

Dieses »Abmildern« wurde von Isselhorst dann anhand verschiedener Beispiele aus seiner Biographie belegt, mit denen Isselhorst, so seine Auffassung, verdeutlichen konnte, dass er im Grunde stets versuchte, die Bevölkerung zu schützen: »Meine persönliche Haltung wird wohl am besten gekennzeichnet durch meine Einstellung zur kirchenpolitischen Frage. Zu der Verhandlung vor dem Kriegsgericht in Wuppertal haben sowohl der Bischof vom Elsass, Douvier, wie auch der Generalvikar Dr. David von Köln zu 577 RW 0725 Nr. 10. 578 Ebd.

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meiner Entlastung Zeugnis abgelegt und dabei nicht nur meine Loyalität, sondern auch meinen persönlichen Einsatz für die Kirche und die Geistlichkeit hervorgehoben. Der Bischof vom Elsass hat besonders betont, dass es meinem Eintreten zu verdanken gewesen sei, dass die elsässische Bevölkerung vor vielen Eingriffen bewahrt geblieben ist, die ihr von Seiten anderer Persönlichkeiten von Partei und Staat gedroht haben. Während meiner Tätigkeit in München habe ich mich energisch gegen die sogenannte ›Kruzifix-Aktion‹ des damaligen Gauleiters Adolf Wagner gewehrt, der die Entfernung aller Kruzifixe aus Schule und öffentlichen Gebäuden angeordnet hatte, und erreicht, dass die Massnahme auf Anordnung des Führers wieder zurückgezogen werden musste. Mit der gleichen Einstellung habe ich mich immer da, wo es Not tat und gerechtfertigt war, vor die Belange der Kirche und Geistlichkeit gestellt. Desgleichen habe ich gegen die Durchführung der Judenpogrome im Nov. 1938 in meinem damaligen Kölner Bereich Stellung genommen und eine Reihe von Festnahmen von Plünderern – auch solche in SA-Uniform – durch meine Beamte durchführen lassen. […].«579

Bis zu seiner Verlegung nach Frankreich wurde Isselhorst in Werl inhaftiert. Im August 1946 wurde er im Zuge des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher nach Nürnberg transportiert, wo er nach eigenen Angaben zwischen dem 1. und 5. August vernommen wurde.580 Allerdings wurde er im Zuge der Verhandlung nicht als Zeuge vorgeladen, da an diesen Verhandlungstagen u. a. mit Werner Best, Rolf Heinz Hoeppner (Jg. 1919) und Paul Hauser (Jg. 1880) andere Personen zu der Hauptverhandlung vernommen wurden.581 Für den Zeitraum von Oktober 1946 bis Mai 1947 fehlt es an schriftlichen Quellen von Isselhorst. Dies ist wohl der Tatsache geschuldet, dass seine Frau ihn während dieser Zeit persönlich besuchen konnte und der Schriftverkehr dementsprechend ruhte. Noch im September 1946 belegt ein Brief von Isselhorst an seine Frau die religiöse Dominanz in seiner Lebenswelt, die zwar schon in seinen Briefen während des Wuppertaler Verfahrens anklang, jedoch von nun an eine absolut dominante Rolle in seinen Aufzeichnungen darstellen sollte. »[…] Trotz der grossen Not und des Kummers wird dieses gemeinsame Bekenntnis unsere Herzen frei machen und uns dahin führen, wohin wir alle heute gehören: zu Gott! Alles Leid dieser Welt hat einen Sinn! Wir dürfen nicht fragen, womit wir das verdient haben, was wir jetzt erdulden müssen; es wäre überheblich gegenüber Gott. […] Und da ich fest daran glaube, dass mir meine Schuld, meine bewussten u. unbewussten Sünden, von Gott vergeben werden, weiss ich, dass ich ein neues Leben 579 Ebd. 580 RW 0725 Nr. 39. 581 Vgl. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 20, S. 158–195ff.

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für das Diesseits wie für das Jenseits mir errungen habe. […] Wenn es aber der Herrgott anders beschlossen hat, so wollen wir es hinnehmen u. wollen nicht hadern und denken, es sei Unrecht geschehen!«582

Seine religiöse Einstellung wurde darüber hinaus in mehreren Briefen an seine Frau aufgegriffen.583 Bis in den April des darauffolgenden Jahres fehlt es an weiteren Briefen. Lediglich ein Weihnachtsgruß an seine Mutter ist überliefert. Darüber hinaus ist erwähnenswert, dass ab Mitte 1946 alle Briefe religiöse Aspekte beinhalten. Nicht zuletzt seine regelmäßigen Gespräche mit dem Anstalts-Geistlichen legen darüber Zeugnis ab: »Die Besuche des Geistlichen sind eine wohltuende Abwechslung im eintönigen grauen Einerlei des Tagesablaufes, und sie haben darüber hinaus das Gute einer Seelenspeise, deren ich heute so sehr bedürftig bin.«584 Auch sein Unschuldsbewusstsein blieb weiterhin vehement artikuliert: »[…] Das musst Du mir glauben, meine liebe Mutter: ich habe nichts getan, was dir und unserem seligen Vater zu Unehre gereicht. Deshalb kann ich meinen Kopf hocherhoben u. stolz tragen, u. auch du u. alle anderen Lieben dürfen es tun. […] sollte ich aber den letzten Weg gehen müssen, so will ich es in dem Bewusstsein tun, in Euch Menschen zurückzulassen, die durch ihr Verhalten den Wert unserer Sippe allen beweisen.«585

Diese von ihm propagierte Schicksalsergebenheit war jedoch nicht von langer Dauer. Im April 1947 nutzte Isselhorst die Chance zur Flucht bei einem Gefangenentransport in Wuppertal, wie ein Zeitungsartikel vom 15. April 1947 vermeldete: »Wuppertal, 15. April. Der in einem Wuppertaler Kriegsverbrecher-Prozeß zum Tode verurteilte frühere Befehlshaber der Sicherheitspolizei Dr. Erich Isselhorst ist am vergangenen Samstag gegen 19.30 Uhr aus einem Autotransporter entflohen. Umfangreiche Fahndungsmaßnahmen wurden eingeleitet. Isselhorst, der für die Erschießung kriegsgefangener englischer Fallschirmjäger verantwortlich ist, befand sich mit einigen anderen Gefangenen auf einem Lastkraftwagen auf der Fahrt zum Gefängnis Bendahl in Wuppertal. Als der Wagen an einer Straßenkreuzung im Zentrum der Stadt aus Verkehrsgründen einen Augenblick halten mußte, gelang es Isselhorst abzuspringen und zu entkommen. Der Entflohene ist am 11. Juli 1946 vom britischen Militärgericht zur Aburteilung von Kriegsverbrechen in Wuppertal für schuldig befunden worden, an der Tötung von 33 kriegsgefangenen englischen Fallschirmjägern im September und Oktober 1944 im Elsaß beteiligt gewesen zu sein. Mit dem früheren höheren SS- und Polizeiführer von Frankreich, 582 RW 0725 Nr. 35 (Brief vom 08.09.1946). 583 Vgl. RW 0725 Nr. 35 (Briefe vom 15.07.–17.08.1946). 584 RW 0725 Nr. 38 (Brief 27.08.1946). 585 RW 0725 Nr. 38 (Brief vom 21.08.1946).

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KRIEGSENDE UND KRIEGSGEFANGENSCHAFT

SS-Obergruppenführer und General der Polizei Oberg war er zum Tode durch den Strang verurteilt worden, während der ehemalige Wehrmachtsgeneral Seeger in dem gleichen Prozeß drei Jahre Gefängnis erhalten hatte.«586

Dieser Fluchtversuch wird in seinen weiteren Schreiben an keiner Stelle erwähnt. Isselhorst gelang es mit Hilfe von Bekannten, mehr als zwei Wochen unterzutauchen. Die Polizei versuchte Isselhorst in dieser Zeit mittels Fahndung und dem Aussetzen einer Belohnung wieder habhaft zu werden.

Abb. 35 Fahndungsaufruf Erich Isselhorst (falsches Geburtsdatum), April 1947 (nicht archiviert – Kopie aus Privatbesitz).

Anscheinend durch einen Denunzianten wurde Isselhorst kurz vor Monatsende von der Polizei in Kettwig an der Brücke wieder gefasst. Lediglich ein Zeitungsartikel der Rheinischen Post vom 30. April 1947 belegt sowohl die Wiederergreifung des Flüchtigen im Essener Raum als auch seine Überstellung an die französische Justiz.587

586 RW 0725 Nr. 22. 587 RW 0725 Nr. 22 (Zeitungsartikel: Rheinische Post, Nr. 34, Jahrgang 2, vom 30. April 1947).

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3.5.2 Prozesse in Straßburg Die letzte Station, die Isselhorst in seinem Leben erreichen sollte, führte ihn wieder zurück an dessen Anfänge – ins Elsass, nach Straßburg. Die Zeit nach seiner Verlegung im April/Mai 1947 bis hin zu seinem Tod im Februar 1948 ist durch die Entfernung zur Heimat und dem damit verbundenen regelmäßigen Briefverkehr gut nachzuvollziehen. Jede Woche, häufig öfter, schrieb Isselhorst an seine Frau, gelegentlich auch an seine Mutter und an die Schwiegereltern. Wie schon zum Ende seiner Wuppertaler Gefangenschaft bildeten religiöse Themen den Kern seiner Nachrichten, obgleich auch Rückbezüge zu seiner Vergangenheit und seinen Gerichtsverfahren getätigt wurden. In Straßburg wurde Isselhorst ab Mai 1947 in zwei aufeinanderfolgenden Prozessen angeklagt. Im Wesentlichen ging es um die Ermordung der Mitglieder des französischen Widerstandes, mit denen der britische SAS in Frankreich gemeinsam operierte. Das erste Verfahren lief vom 13. bis zum 17. Mai 1947 und endete mit dem Todesurteil gegen Isselhorst und drei weitere Angeklagten.588 Auch das zweite Verfahren, das am 24. Juli innerhalb von dreieinhalb Stunden vonstattenging, endete mit dem gleichen Urteil für Isselhorst.589 Dass ein Gerichtsverfahren, an dessen Ende ein Todesurteil gefällt wurde, in dieser kurzen Zeitspanne absolviert werden konnte, wurde von Isselhorst vehement kritisiert. Auch die Vorbereitungszeit für diese Prozesse war bemerkenswert, denn Isselhorst wurde beispielsweise die Anklageschrift zum zweiten Verfahren erst am 19. Juli 1944, ohne vorherige Vernehmung, mitgeteilt. So blieben bis zum Prozessbeginn gerade einmal drei Tage.590 In der französischen Besatzungszone wurden insgesamt 2.107 Personen angeklagt und davon 104 zum Tode verurteilt. Die genaue Anzahl der Angeklagten vor Militärgerichten in Frankreich ist unbekannt, jedoch gilt als sicher, dass mindestens knapp 2.000 Personen, darunter auch Isselhorst, verurteilt wurden.591 Noch vor dem ersten Prozessbeginn versicherte ihm sein Anwalt, dass die Objektivität der Richter uneingeschränkt vorhanden sei.592 Und auch Isselhorst wirkte zu Prozessbeginn des ersten Verfahrens zuversichtlich, was nicht zuletzt an seiner Überzeugung lag, an den Ermordungen keine Verantwortung zu tragen: 588 RW 0725 Nr. 5 (Brief vom 17.05.1947; darin Beschreibung der Verurteilung), sowie: RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 08.05.1947; darin Beschreibung des Verfahrensbeginns). 589 RW 0725 Nr. 5 (Brief vom 24.07.1947), sowie: RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 24.07.1947; darin Beschreibung des Prozessablaufes). 590 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 19.07.1947). 591 Vgl. Rückerl, Adalbert: NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982, S. 99. 592 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 08.05.1947).

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»Was meine Verteidigung angeht, so bin ich guten Mutes. Ich bin mir keiner Tat bewusst, die ich nicht mit reinem Gewissen vor meinem Herrgott verantworten könnte. Sicherlich ist manches geschehen, was die Schwere der Kriegszeit notwendig machte und was im Interesse meines Volkes und Vaterlandes erforderlich war. Darf ich mein Volk und Vaterland weniger heiss lieben als ein Franzose das seine? Habe ich mich nicht immer wieder erfolgreich eingesetzt, um Härten zu mildern und Ausgleiche zu finden?«593

Auch für die Vorbereitung seiner Verteidigung zum ersten Verfahren blieb Isselhorst nur wenig Zeit, denn erst am 7. Mai konnte er sich das erste Mal mit seinem Pflichtverteidiger zur Beratung treffen.594 Vor und während der Verfahren fertigte Isselhorst Notizen über den Prozessverlauf und seine Argumente zur Verteidigung an. Zu welchem der beiden Verfahren die Notizen gehören, ist aufgrund der undatierten Aufzeichnungen nicht eindeutig zu belegen, jedoch spricht vieles dafür, dass sie dem ersten Verfahren zuzuordnen sind. Diese Vermutung begründet sich zum einen anhand der Tatsache, dass der erste Prozess wesentlich länger als das zweite Verfahren dauerte. Zum anderen resi­ gnierte Isselhorst ob der Verfahrensweise und des Urteils im ersten Prozess, wodurch die ausführlichen Aufzeichnungen eher zu diesem Prozess passen dürften, den er zu Beginn noch als deutlich erfolgversprechender einschätzte. Da die Anklagen in beiden Verfahren ähnlich lauteten, spielt die Zugehörigkeit der Notizen zu den Verfahren im Grunde eine untergeordnete Rolle. Auch seine Verteidigungsstrategie fußte in beiden Gerichtsprozessen auf den gleichen Argumenten. In den von Isselhorst gefertigten Notizen wird deutlich, dass er zunächst versuchte, die Richter von seinem umfangreichen Aufgabenbereich als BdS und IdS zu unterrichten. Als zentrale Aufgabe in Straßburg verstand Isselhorst dabei die Vermittlerrolle, die er zwischen dem CdZ Robert Wagner und der Sipo einzunehmen hatte. Für Isselhorst war Robert Wagner ein Idealist, der immer vom »besten Willen« im Sinne des NS beseelt war, der jedoch auch zu radikalen Maßnahmen tendierte. Isselhorst stellte diesbezüglich fest: »Ich darf heute zu meiner persönlichen Befriedigung u. Rechtfertigung u. zur Rechtfertigung u. Entlastung gerade auch der Stapo sagen, dass dieser fast tagtägliche Kampf, den alle meine an Führungsstellen stehenden Mitarbeiter wie auch ausserhalb Stehende bestätigen können, oft von positiven Erfolgen gekrönt gewesen ist. Sie alle aufzuzählen ist mir rein erinnerungsmässig nicht möglich; es ist versucht worden, wenigstens einen Teil, soweit möglich, unter Beweis zu stellen.«595 593 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 01.05.1947). 594 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 08.05.1947). 595 RW 0725 Nr. 12.

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Als »Erfolge« verbuchte Isselhorst die Vereitlung von einigen solcher radikalen Maßnahmen. Sein Anliegen war es somit aufzuzeigen, dass er in der Hierarchie eine untergebene Position gegenüber Robert Wagner einnahm und somit auch nicht verantwortlich war für den Erlass von derartigen Exekutions-Befehlen. Er habe im Gegenteil versucht, soweit es ihm möglich war, die Umsetzung abzumildern oder zu verhindern. Gleichzeitig wollte Isselhorst jedoch nicht seine ehemaligen Vorgesetzten diffamieren: »Ich bin vom Präsidenten gefragt worden, ob ich mich als ›intelligenter Mensch‹ im Kreise der anderen Mitangeklagten wohl fühlen würde. Ich habe mit meiner Antwort zum Ausdruck bringen wollen, dass man von mir heute nicht verlangen oder erwarten darf, ich würde mich gerade in der Zeit der schwersten Not meiner ehemaligen Kameraden von ihnen lossagen oder ihnen abrücken. Ich decke u. verantworte keine Verbrechen, aber ich will auch nicht in die Zwangslage kommen, die Angeklagten zu diffamieren. […]«596

Ein Vabanquespiel für Isselhorst, der somit versuchte, sich einerseits selbst zu entlasten, ohne andererseits seine ehemaligen Kameraden zu belasten. Diesen Aspekt notierte er wiederholt in seinen Aufzeichnungen, umso erstaunlicher, da diese wiederum Isselhorst in ihren Aussagen vor Gericht ungehemmt anprangerten. Dass Isselhorsts Mitteilsamkeit, wie auch im Wuppertaler Verfahren, durch die Richter und Ankläger begrüßt wurde, zeigte er in einem Brief, den er im Juni 1947 an seine Frau schrieb: »Ich selbst bin so fern von diesen Dingen; sie berühren mich weder innerlich noch äusserlich, alles gleitet an mir ab. […] Man hält mich für einen anständigen, sauberen Deutschen – aber man muss mich leider zum Tode verurteilen, weil ich einen so verantwortlichen Posten hatte. Da­ rüber werden sogar in anderen Verfahren Plädoyers gehalten! Der Vorsitzende im letzten Verfahren behandelte mich – als einzigen! – mit Anstand, der Oberstaatsanwalt bedauerte, einen derartigen Antrag stellen zu müssen – aber dann verurteilte man mich, ohne Beweis, zum Tode! Was soll man davon halten?«597

Hinsichtlich seiner Ausgangslage beim Dienstantritt in Straßburg formulierte Isselhorst eine ausführliche Stellungnahme, die seinen Eindruck über die damalige Situation im elsässischen Raum veranschaulichen sollte: »Als ich im Januar 1944 meinen Dienst im Elsass aufnahm, befand sich mein Vaterland im 5. Jahre einer Auseinandersetzung mit der Welt, in der es um nichts mehr oder weniger ging als um die Frage seines staatlichen und völkischen Daseins. Es war ein Ringen um seine nakte [sic] 596 Ebd. 597 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 21.06.1947).

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Existenz. Der Ausgang dieses Krieges und seine Folgen zeigen das mit aller Deutlichkeit. Die Frage, ob nationalsozialistischer Führungsstaat oder nicht, war, vom innerdeutschen Standpunkt aus betrachtet, damals 1944 für die Mehrzahl der Deutschen im Grunde nicht mehr von entscheidender, ja oft sogar von völlig untergeordneter Bedeutung [Seite durchgestrichen und in Klammern gesetzt, Anm. d. Verf.]. Die Geschichte lehrt, dass sich in einem solchen Daseinskampf von Staaten u. Völkern nicht nur anormale Härten, sondern auch Illegalitäten ereignen. Diese sind erfahrungsgemäss umso grösser und häufiger, je ernster, verzweifelter u. länger dieser Existenzkampf ist. Kein geringerer als der engl. Kriegspremier Mr. Churchill hat einmal den Ausspruch getan: ›Im Kampf um das Dasein von Völkern gibt es keine Legalität!‹ Darf dieser aus der Geschichte und aus einem langen, erfahrungsreichen politischen Leben geschöpfte Erkenntnissatz nur Gültigkeit haben für das englische oder das französische Volk, oder gilt es gar immer nur für den Sieger solcher Existenzkämpfe?«598

Wie auch im ersten Prozess in Wuppertal zielte Isselhorst darauf ab, dass der Krieg eine rechtliche Ausnahmesituation darstellte, die von der Gegenseite ebenfalls so behandelt wurde. Jedoch ging Isselhorst in diesem Verfahren noch einen Schritt weiter als in Wuppertal, wo er lediglich einzelne Vorfälle aus dem Verlauf des Zweiten Weltkrieges heranzog, um das Nicht-Einhalten des Völkerrechtes zu belegen. Er argumentierte nun gar in einem makrohistorischen Zusammenhang, indem er das Handeln der Sipo im NS mit den Einheiten der GPU im 2. Weltkrieg und gar dem Handeln von Joseph Fouché und des Grafen Metternichs gleichsetzte, also Personen aus Napoleonischer Zeit.599 Hinsichtlich seiner Verantwortlichkeit für die Hinrichtung der Maquis-Mitglieder gab er die gleiche Erklärung ab, die er auch bezüglich der britischen SAS-Mitglieder benutzte: »Ich habe diesen Befehl zur Erschiessung nicht [Hervorhebung im Original, Anm. d. Verf.] gegeben, schon allein deshalb nicht, weil er über meine Zuständigkeit hinausging. (Ich hätte allerdings, wenn er in dieser klaren Form von der Reichszentrale gegeben worden wäre, gegen seine Durchführung nicht einschreiten können, weil auch das nicht im Bereich meiner Kompetenzen gelegen hätte) Überdies wäre die Notwendigkeit etwa, vor allem nach der noch am Nachmittag des 23.XI., spätestens aber am 24.XI. klar gewordenen Festigung der Rheinfront, von mir nicht mehr anerkannt worden.«600

Als entlastenden Fakt gab Isselhorst an, dass er bereits am 22. November 1944 veranlasste, dass die Insassen des Lagers Schirmeck östlich des 598 RW 0725 Nr. 12. 599 Ebd. 600 Ebd.

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Rheins abtransportiert wurden, wobei die Frauen und kranken Internierten sogar umgehend frei gelassen wurden. Das von seinem Mitangeklagten genannte Datum des Erschießungsbefehls versuchte Isselhorst dadurch zu entkräften, dass er zwischen dem 24. und dem 25. November in Freiburg war, obgleich sein Mitangeklagter Gehrum ihn beschuldigte, am 24. ebenjenen Erschießungsbefehl gegeben zu haben.601 Auch aus diesem Grund bestritt er vehement einen solchen Befehl gegeben zu haben: »Ich war gewohnt, unter den Verhältnissen eines diktatorischen Regimes u. eines von unerhörter Strenge in Fragen der Disziplin u. des unbedingten Gehorsams gekennzeichneten Systems Verantwortung zu tragen. Ich würde mich schämen, diese Verantwortung heute u. an dieser Stelle leugnen zu wollen. Doch Sie wissen so gut wie ich, dass der Begriff der Verantwortung nur eine Fiktion ist, die allen Auslegungsmöglichkeiten Spielraum lässt. Ich muss aber eine Verantwortung ablehnen für Befehle, die ich nicht erlassen konnte, weil sie ausserhalb meiner Kompetenz lagen und die ich auch nicht erlassen habe. Das bin ich mir selber schuldig, und auch dem Andenken meines im Kriege in der Heimat gefallenen Vaters sowie meiner hochbetagten Mutter, die genau weiss, dass ihr Sohn kein Verbrecher ist. Trotzdem, oder gerade deshalb, bedaure ich es aufs Tiefste, wenn ich im Verlaufe dieser Verhandlung gegen meinen Mitangeklagten Gehrum Stellung nehmen musste.«602

An dieser Stelle versuchte Isselhorst einerseits, der Denunzierung seines Mitangeklagten zu trotzen und andererseits, diesen nicht unnötig zu belasten. Allerdings sammelte er in einer weiteren Notiz Gründe, die als Belege für die Falschaussage seines Mitangeklagten Gehrum herangezogen werden konnten. Darin beschrieb er, dass Gehrum und eine Person namens Schröder sich als einzige bereits in Straßburg von ihren Dienststellen getrennt hätten, also auf eigene Faust den Rückzug einschlugen; dass Gehrum auf dem Rückzug die gesamten Alliance-Akten mit sich führte; dass das Zusammentreffen an der Rheinbrücke während der Evakuierung rein zufällig gewesen sei und daher keine Besprechung hinsichtlich der Erschießung stattgefunden haben könne; und dass das vom Mitangeklagten genannte Datum, der 24.11., nicht stimmen könne, da Isselhorst zu jener Zeit in Freiburg weilte.603 Zudem notierte Isselhorst noch folgende Fragen über Gehrum: »Hätte Gehrum nach Festigung der Front Hemmungen bei der weiteren Durchführung seiner Handlung bekommen müssen? Warum hat er nicht den Versuch unternommen, mich, Schneider oder Maier nochmals anzusprechen?«604 601 Ebd. 602 Ebd. 603 Ebd. 604 Ebd.

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Dass ein Gericht die Aussage eines Hauptangeklagten, die ihn zudem entlastet, als maßgeblichen Beweis für die Schuld eines anderen Hauptangeklagten nimmt, war für den Juristen Isselhorst kaum nachzuvollziehen: »[Alle Hervorhebungen im Original, Anm. d. Verf.] Obwohl G[erum]. Hauptangeklagter und mein alleiniger Belaster, und trotz den Widersprüchen sowohl zwischen meinen u. G. Aussagen wie auch in der Aussage G. selbst wird gegen mich ein Todesurteil ausgesprochen! Und das unter Zuziehung auf die normalen französischen Strafrechtsbestimmungen! Also nicht etwa auf Sondergesetze! Auch nach franz. Strafrecht u. Straffprozessrecht gilt der Grundsatz: in dubio pro reo! Das Gericht hat sich aber keinerlei Mühe gegeben, die Widersprüche aufzuklären!«605

Trotz seines vehementen Widerspruchs hinsichtlich der Anklage versuchte Isselhorst in seinem skizzierten Plädoyer, in dem er auch auf die Verfahrensfehler einging (»keine eigene Sachdarstellung vor Anklagebehörde«; »keine ausreichende Zeit um Beweisstücke zu besorgen«; »kurze Vorbereitungszeit«), seine Mitangeklagten zu entlasten. Isselhorst war sich sicher, dass die Erschießungen alleinig auf Initiative von Gehrum durchgeführt wurden: »Ich bin überzeugt, dass von der Erschiessung keine amtliche Dienststelle (Gauleiter, Hofmann, Berlin) irgendetwas erfahren hat!«606 »Herr Präs. usw! Sollen die Begriffe ›Recht‹ u. ›Gerechtigkeit‹ nicht nur eine göttliche Empfindung und Urteilsfähigkeit sein, soll das Wort ›Vergeben‹ nicht nur eine göttliche Tugend umschreiben, sollen dies also nicht nur Erkenntnisse u. Begriffe sein, die für uns Menschen unerreichbar sind, dann bitte ich Sie im Interesse meiner Mitangeklagten um Verständnis der Taten, die letzten Endes nur unser aller menschlicher Unzulänglichkeit entspringen. Tragen Sie dazu bei, mit Ihrer Entscheidung den Hass aus der Seele unserer Völker zu verbannen.«607

Isselhorst erhob das Gericht und dessen Urteil auf eine völkerverständigende Ebene und appellierte, das Urteil als eine Chance der Versöhnung zu betrachten – ein Aspekt, der Isselhorst zu jener Zeit stark beschäftigte, da er diesen auch in seinen beiden Memoiren nannte. Hintergrund war sicherlich seine neugefundene Religiosität. Als abschließenden Aspekt seiner Verteidigung verwies er in einer Notiz auf ein Zitat aus dem Buch »Montgomery, eine Biographie« von Alan Moorehead, die ihm zur Verfügung stand und das lautete: »Der Soldat muss zugleich Gangster 605 Ebd. 606 Ebd. 607 Ebd.

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und Einbrecher sein«.608 Ein merkwürdiges Argument, das am besagten Todesurteil jedoch nichts zu verändern vermochte. Im darauffolgenden zweiten Gerichtsprozess (23.07.1947), in dem Isselhorst die Ermordung von vier französischen Widerstandskämpfern am 22. November 1944 vorgeworfen wurde, gab Isselhorst an, dass er Ende November 1944 tatsächlich einen Befehl zur Erschießung von Gefangenen weitergegeben hatte, als die amerikanischen Truppen bei Mühlhausen durchbrachen. Als Datum nannte er den 17. November 1944. Der vom RVK ausgerufene Notstand ermächtigte die Sipo zum Erlass dieses Erschießungsbefehls, der an vier französischen Gefangenen durchgeführt wurde, die am 21. November von der Stapo-Stelle in Lörrach festgenommen wurden. Diese, so die Ermittlungen der Sipo, hatten unter Zuhilfenahme von Taschenlampen mit den alliierten Truppen kommuniziert. Nach Geständnissen der französischen Inhaftierten und einer Besprechung bei Robert Wagner wurden die Gefangenen von der Stapo-Stelle Lörrach am 22. November exekutiert und der Fall wurde in der Tagespresse zur Abschreckung veröffentlicht.609 Seine Verteidigung gliederte Isselhorst auf drei Ebenen. Zum einen wollte er durch eine Darstellung seiner dienstlichen Eingebundenheit in das NS-System seinen eingeschränkten Handlungsspielraum hinsichtlich der Erschießungsbefehle aufweisen, zumindest in Bezug auf diejenigen, die er tatsächlich weitergab. So argumentierte Isselhorst, dass er an die Anordnungen des CdZ, Adolf Wagner, der zugleich RVK war, vollständig gebunden war. Die von Wagner ausgestellten Anordnungen hatten quasi Gesetzeskraft. Auch hier zog er die Historie als Argumentationsgrundlage heran, indem er auf die Administration zu Zeiten Ludwigs XIV. und Napoleons I. verwies.610 Hinsichtlich des Vorwurfes der Formverletzung des Völkerrechts, das laut Isselhorsts Retorsions-Arguments ohnehin nicht zu beachten war, gab er in Bezug auf eine Exekution an: »Standgericht Brückenkopf Hünningen – Ablauf des eigenen Verfahrens mit vielseitiger Prüfung. Ausgang unzweifelhaft, da Wehrmacht Erschiessung, nicht nur der 4, sondern auch der übrigen verlangte, die von Stapo L[örrach] entlassen worden sind.«611

Zum ersten Mal erwähnte Isselhorst eine unmittelbare Beteiligung der Wehrmacht bei einer dieser Exekutionen, ohne jedoch konkrete Namen zu nennen. Auf einer zweiten Ebene versuchte er dann eine »sachliche Darstellung« der Geschehnisse beim Brückenkopf Hünningen aufzustellen. Hierzu stellte Isselhorst fest, dass durch den Notstands-Erlass vom 608 Ebd. 609 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 19.07.1947). 610 RW 0725 Nr. 12. 611 Ebd.

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18. November 1944 von RVK Wagner das Standgericht die normalen Rechts- und Verfahrensgrundsätze ersetzte und dass über Sonderfälle (wie z.B. Sabotageakte) gar ohne Verfahren ad hoc durch die Stapo als Exekutive entschieden werden sollte. Im Fall Hünningen, so Isselhorsts Darstellung getreu, übergab die Wehrmacht die Gefangenen Maquis-Angehörigen an die Stapo Stelle Lörrach, dessen Mitarbeiter namens Hahn den Vorfall wiederum an den BdS in Person eines Mannes namens Meyer weitergab. Nach Absprache zwischen Meyer, Schneider und Isselhorst wurde die Exekution dann beschlossen.612 Die Absprache, die er an dieser Stelle erwähnte, sollte als entlastender Aspekt gewertet werden, da die Besprechung, laut Isselhorst, quasi eine »juristische Prüfung« der Sachlage darstellte und somit die Entscheidung zur Exekution – trotz Unvereinbarkeit mit dem Völkerrecht – keinesfalls willkürlich und illegal war. Die dritte von Isselhorst behandelte Ebene war die rechtliche Einordnung dieses Vorfalles. Für ihn stand fest, dass der RVK als direkter Vertreter des Staatsoberhauptes uneingeschränkte Vollmacht hinsichtlich seiner Anordnungen besaß: »[Hervorhebungen im Original, Anm. d. Verf.] Den Befehlen des RVK war unbedingt Folge zu leisten, da sie als solche des Staatsoberhauptes galten.«613 Als historische Parallelen nannte Isselhorst erneut Ludwig XIV., Napoleon I. (Beispiel Besançon) sowie den Zarismus und die Sowjetunion, die für ihn ebenjene Verbindlichkeit in ihren Erlassen aufzeigten, wie dies im NS durch den Führer in Vertretung durch den RVK geschah. Des Weiteren stellte sich Isselhorst auf den Standpunkt, dass standrechtliche Erschießungen auch in den Haager Landkriegsverordnungen zulässig seien. Zudem notierte er die beiden Schlagwörter »Oppenheim« und »Werwolf«, die wohl als Beispiele für den beidseitigen Völkerrechtsbruch dienen sollten und die für Isselhorst die Rechtfertigung für Retorsionsmaßnahmen waren. Generell bestand für ihn ein unbedingter Gehorsamszwang: »Es ist wohl billig u. objektiv, dass der Untertan sich auf die Rechtmässigkeit der Befehle seines staatl. Führers verlassen muss, vor allem wenn es sich um das immer umstrittene Gebiet der völkerrechtlichen Probleme handelt.«614

Laut Isselhorst galt dies umso mehr, da er selbst, als erfahrener Jurist, die Unrechtmäßigkeit der Verordnung nicht erkannte (»umso weniger für die übrigen Angeklagten!«615). Außerdem, so Isselhorst, wären die völkerrechtswidrigen Bombardements von Städten wie beispielsweise Dresden und Straßburg weitere Belege dafür, dass auch die Gegenseite das 612 Ebd. 613 Ebd. 614 Ebd. 615 Ebd.

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Völkerrecht missachtete – daher gäben auch diese die Möglichkeit zur Retorsion. Ohnehin hätte eine Befehlsverweigerung, so wie sie die Anklage forderte, erhebliche Strafen auch für die Familie des Verweigerers bedeutet, da spätestens mit dem misslungenen Attentat vom 20. Juli 1944 die Strafen drakonischer Natur gewesen wären.616 Als letzten Punkt führte Isselhorst auf, dass es zwar kein Standgericht gab, er und die übrigen Mitarbeiter jedoch eine ausführliche Untersuchung der Vorfälle vornahmen und verschiedene Vernehmungen durch die Wehrmacht und die Mitarbeiter Schrimm, Schmitt, Hahn, Schneider und Meyer durchgeführt wurden. Daher betonte Isselhorst: »Die Entscheidung muss von den damaligen Verhältnissen aus betrachtet u. beurteilt werden, nicht vom heutigen Standpunkt des Siegers, der die Macht hat!«617 Anhand dieser drei Ebenen kam Isselhorst nunmehr zu seinem Schlussplädoyer, das er in seinen Notizen ausformulierte: »Ich bin der franz. Sprache nicht mächtig genug, um den Ausführungen im Plädoyer meines Verteidigers folgen zu können. […] Im Übrigen war es in diesem Kriege keinem Angehörigen der beteiligten Nationen zumutbar, aus eigener Machtvollkommenheit u. Wissen entscheiden zu können, ob eine befohlene Massnahme den völkerrechtlichen Bestimmungen entsprach oder nicht. Es ging um die völkische u. staatliche Existenz aller beteiligten Nationen. […] Ich erinnere an die Auswirkungen der Luftangriffe auf offene Städte, an die Auslösung des Freischärlertums und ihre Gegenmassnahmen usw. […] Auf beiden Seiten mussten oft militärische Bedenken vor politischen Anforderungen zurückstehen. Ich bin sicher, dass die meisten der alliierten Luftwaffen Angehörigen sich mit innerer Abscheu von der Tötung hilfloser Familien u. Kinder abgewandt haben – und doch haben sie ihre Bomben über die Altstadt von Strassburg, über Dresden usw. ausgelöst. Sie taten es, weil es ihnen befohlen war u. weil sie an die Rechtmässigkeit dieses Befehles ihrer Führung glauben mussten! […] Speziell die deutsche Polizei stand unter einem ungeheuren seelischen Druck. Ordnete doch ein Befehl des Chefs der deutschen Polizei Himmler, aus dem Jahr 1943 an, dass jeder Vorgesetzte berechtigt u. verpflichtet sei, einem Untergebenen bei Gehorsamsverweigerung an Ort u. Stelle zu erschiessen. Der letzte deutsche KdS der Sipo Paris, Neifeind, ist diesem RFSS-Befehl zum Opfer gefallen, u. ausser ihm unzählige andere. […] Ich habe während des ganzen Krieges niemals aus eigener Vollmacht heraus Befehl zur Tötung auch nur eines Menschen gegeben, geschweige denn selbst einen getötet. Wenn dies geschehen musste, dann trat ich lediglich auf als Vermittler eines Vorgesetzten, sei es vom Bd Sipo, sei 616 Ebd. 617 Ebd.

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es vom BdZ [gemeint ist der CdZ, Anm. d. Verf.] oder RVK, sei es vom Staatsoberhaupt selbst gegebener, für mich sowohl als auch für die Vollstrecker verbindlicher Befehl. Ich habe im Gegenteil geschont, wo ich nur konnte u. habe meinen ganzen Einfluss zur Abmilderung oder Verhinderung solcher Befehle, oft unter Gefahr für mich selbst, geltend gemacht. […] In vielen weiteren Fällen habe ich durch mein Einschreiten die Festnahme von Personen verhindert oder Festgenommenen wieder zur Entlassung verholfen (Doubier, Maurer, W. Ernst, Rossé, Schlierbach, Schimmel, Buck). Viele elsässische Familien haben mir zu verdanken, dass sie nicht dem Schicksal der Absiedlung verfallen sind (W. Ernst u.a.).«618

Als Beweis für die drakonischen Strafen nannte Isselhorst das Beispiel des ehemaligen KdS Paris, Kurt Neifeind. Neifeind (Jg. 1908) machte in der Verwaltung beim RSHA Karriere, wobei er zumeist an den bürokratischen Entscheidungen zum Völkermord an den Juden mitwirkte. Erst im Mai 1944 wurde er zum KdS in Paris ernannt, dort jedoch wegen »Versagens« zum Tode verurteilt. Die Todesstrafe wurde jedoch nicht ausgeführt. Stattdessen erhielt Neifeind in der bereits beschriebenen Einheit von Oscar Dirlewanger eine Art Bewährungschance. Diese konnte der im Kampfeinsatz unerfahrene Neifeind jedoch nicht nutzen. Er starb bereits im Dezember 1944 in Šurany in der Slowakei.619 In dieser Passage seines Plädoyers wird der Umgang mit Neifeind als Beleg für die harten Sanktionen gegen deutsche Kommandeure bei unbefriedigender Erfüllung ihrer Aufgaben angeführt. Ganz anders zeigte sich diese Einschätzung noch im August 1944, als Isselhorst über den gleichen Vorgang Folgendes an seine Frau schrieb: »[…] Es ist eine Unverantwortlichkeit sondergleichen. Ich bin froh, daß ich hier die Ruhe bewahrt habe; andere konnten es nicht und haben die Folgen tragen müssen. Der Kommandeur d. Sipo in Paris ist wegen Feigheit zum Tode verurteilt; der Befehlshaber Frankreich und der von Lothringen sind abgesetzt (der erstere nicht etwa, weil er kein Territorium mehr zu bearbeiten hätte). Und das ist auch richtig so; wer jetzt die Nerven verliert, schadet dem Reich u. Führer doppelt.«620

Die damalige Überzeugung, dass der harte Umgang mit den schwachen Kommandeuren der Sipo gerade richtig sei, wandelte sich innerhalb von drei Jahren zu einer erdrückenden Belastung für die damaligen Kommandeure. Für das Gericht waren all diese Aspekte jedoch kaum von Belang. Überhaupt wurden Debatten, wie das völkerrechtswidrige Vorgehen der Widerstandskämpfer, in französischen Verfahren zu jener Zeit 618 Ebd. 619 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S. 431. 620 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 17.09.1944).

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kaum zugelassen.621 Im schriftlichen Bericht über den Prozess, den Isselhorst nach dem Verfahren erhielt, wurden seine Tatbeteiligung und seine Tötungsbefehle ohne Einschränkungen als bewiesen angesehen.622 Bereits einige Wochen vor dem zweiten Verfahren schrieb Isselhorst entsetzt über die französische Justiz hinsichtlich des ersten Verfahrens an seine Frau: »[…] Mein Anwalt lässt sich nicht sehen und hören. Und dabei habe ich jetzt – oh Ironie des Schicksals! – Beweise in der Hand, bei deren Vorliegen in der Gerichtsverhandlung niemals eine Verurteilung hätte erfolgen können, wenn man nicht willkürlich das Recht beugen will. Es ist ja überhaupt mit den Rechtsbegriffen aller Kulturnationen unvereinbar, ein derartig schweres Urteil lediglich auf die Aussage eines Mitangeklagten zu stützen, über dessen dienstlichen und charakterlichen Ruf sich niemand im Unklaren ist. […] Aber auch ein Schuft ist immer noch zu etwas gut, und bei uns macht man eben keinen Unterschied. Ich gehöre nun einmal zu dem Kollektivbegriff: Verbrecher-Organisation, auch wenn ich mich persönlich – wie übrigens auch viele Tausende mit mir – immer anständig geführt habe in meinem Dienst. […] Und so hoffe ich, dass was auch Menschen mit mir anstellen mögen, doch einmal, ob früh oder spät, auch mein Recht an den Tag kommen wird. Dann mögen die 621 Vgl. Moisel, Claudia: Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Politik und Praxis in der Strafverfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2004, S. 93. 622 RW 0725 Nr. 12. (Gerichtsprotokoll im Original mit dem Titel: »Cour d‘Appel séant à Colmar. La Chambre des Mises en Accusation«; Affaire: Schrimm et 2 consorts; Nature: assassinats et complicité; Isselhorst ausgehändigt am 17.VII.47). Im Wortlaut: »[…] Les 2 inspecteurs rendirent compte à leur chef Isselhorst des résultats de l‘enquête. Isselhorst leur ènvoya par un officier de la Wehrmacht un ordre écrit d‘exécuter les 4 personnes arrêtées. Celles-ci furent conduites vers 17 heures, les deux hommes d‘abord puis les 2 femmes ensuite par Schmidt, et Schrimm les abattit successivement d‘une balle dans la nuque. Les 2 criminels se retranchent derrière l‘ordre reçu de leur chef. Isselhorst ne conteste pas les faits. Il reconnait avoir donné cet ordre. Il prétend qu‘il avait reçu de Wagner le pouvoir d‘exécuter sans jugement les personnes qui étaient reconnues coupables d‘espionnage ou de sabotage et qu‘il n‘avait fait qu‘exécuter cet ordre. Il précise qu‘il n‘avait pas de cour martiale que c‘est lui prenait la décision. Il ajoute que ce droit était prévu par la Convention de la Haye. […] Isselhorst de s‘être dans les mêmes circonstances de temps et de lieu sciemment rendu complice des homicides volontaires ci-dessus spécifié, en donnant à Schrimm de Schmitt des instructions pour commettre ces crimes;[…] Crimes prévus et punis par les articles 295, 296, 297, 302, 59, 60 du Code pénal et l‘ordonnance du 28 août 1944; […] Ordonne que lesdits seront pis au corps et conduits dans la maison de justice étanlie près le Tribunal Militaire òu ils sont renvoyés.

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sich vor dem Herrgott rechtfertigen, die heute Unrecht begehen, weil sie nicht vom Gedanken des Verstehens und Vergebens, sondern nur von dem der alt-testamentarischen Rache u. des Hasses beseelt sind.«623

Die Niederschriften während der Verfahrenszeit in Straßburg waren geprägt von einem melancholischen Tenor, den er in den Briefen an seine Frau anklingen ließ: »Gestern hatte ich die Gelegenheit, den Ablauf eines Naturschauspiels in seiner ganzen Urgewalt und Grandiosität zu beobachten. Seit Tagen war es fast unerträglich heiss gewesen, und diese Hitze lastete bedrückend auf Natur und Mensch. […] Ein schwerer Sturm tat sich auf, die Bäume ächzten und stöhnten und wurden von unsichtbarer gewaltiger Hand geschüttelt, dass sie zu brechen und stürzen drohten. […]. Dann, nach langem erst, fuhren die ersten Blitze hernieder und grollte und dröhnte der Donner. Langsam setzte ein Regen ein, sich immer mehr verstärkend und diesen wunderbaren Duft der würzigen Reinheit verbreitend. Ein Aufatmen ging durch die Natur. Ein frischer Wind fegte die letzten Schlacken stickiger Luft aus allen Winkeln und nach wenig mehr als einer Stunde schnatterten die Vögel ihr Dankkonzert an den Schöpfer aller Dinge aus dem frischen Grün der benachbarten Bäume. Ist nicht dieses Naturereignis auch ein Abbild unseres Erlebens? Lässt sich nicht dieses Naturerlebnis, das sich hier im Kleinen abspielte, auch übertragen auf Völker, auf Generationen, auf die Menschheit überhaupt? Schickt nicht, ja muss nicht auch der Herrgott ein reinigendes, alles wieder neu belebendes, erfrischendes Unwetter schicken, um die durch eine Reihe schöner – oder schön erscheinender – Jahre unerträglich gewordene, alles belastende Staubschicht wieder wegzuschwemmen? Dabei fällt was morsch und nicht lebensfähig ist; was aber bleibt, dankt dem Allmächtigen für sein gütiges Walten. So war es gestern, so ist es heute, und so wird es auch morgen sein! Nichts ist vollkommen auf dieser Welt; dass es aber so ist, daran trägt niemand anderes die Schuld als die Menschheit selbst, denn auch sie ist nur ›Kreatur‹ und handelt nicht nach den Fähigkeiten, die ihr der Herrgott in die Wiege gelegt hat.«624

Der apokalyptische Vergleich zwischen Natur und Weltlage verdeutlicht den verzweifelten Gemütszustand von Isselhorst im Juni 1947. Einige Tage später versprach er seiner Frau in einem Brief, dass er auf keinen Fall Selbstmord in Betracht ziehen werde – eine Aussage, die er religiös begründete.625 Insgesamt wurde die Stimmung in den Briefen an seine Frau deutlich düsterer. Das Bild eines von Gott gesandten »reinigenden Gewitters«, wie er es im vorherigen Brief entwarf, erhielt in einem weiteren Brief noch drastischere Züge: 623 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 29.05.1947). 624 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 05.06.1947). 625 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 12.06.1947).

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»Aber glaube mir, der Herrgott wird ein Einsehen haben. Es ist genug, dass in diesem mörderischen Völkerringen Millionen Unschuldiger geopfert wurden. Einmal wird der Tag kommen, wo der Hohn, der heute wie in der Vergangenheit mit der göttlichen Gerechtigkeit von Menschen getrieben worden ist, sein Ende findet. Einmal wird die Langmut unseres Herrgottes zu Ende sein über die Kurzsichtigkeit seiner Menschenkinder, die aus den Zeichen dieser Zeit nicht lernen wollen. Wessen er sich dann als Geissel bedienen wird, wir wissen es nicht. Aber dass es dann ein Sodom und Gomorra geben wird, dessen dürfen alle sicher sein. Es wird ein erschreckendes Erwachen sein für alle die, die sich heute so mächtig fühlen und glauben, das Recht für sich allein gepachtet zu haben. Auch unser Volk war soweit. Sein Schicksal sollte ein Menetekel sein.«626

Ungeachtet der Tatsache, dass Isselhorst an den unschuldigen Opfern des Krieges seinen Anteil hatte, erscheint dieser Brief auch ein Beispiel dafür zu sein, wie Isselhorst versuchte die eigene Vergangenheit mit der neuen Lebenswelt in Einklang zu bringen – ein Aspekt, der im dritten Abschnitt dieser Arbeit betrachtet werden soll. Die Nachricht verbindet seine kritische Haltung zur NS-Vergangenheit mit seiner Überzeugung der grundsätzlichen Gefahr, die durch die Sowjetunion für Europa ausgeht und die von ihm mehrfach ausführlich beschrieben wurde. Im gleichen Zuge verband Isselhorst seine unterschwellige Hoffnung auf Begnadigung mit der Information, dass die Sowjetunion die Todesurteile gegen NS-Kriegsverbrecher in 25-jährige Haftstrafen umwandelte. Obgleich die Begnadigung für ihn die letzte Hoffnung darstellte, wurde sie in Bezug zur Sowjetunion lediglich als geschickter politischer Schachzug gedeutet.627 Gleichwohl wurde die sowjetische Strafumwandlung von Isselhorst auch für die französische Justiz eingefordert, da diese auch göttliches Werk verrichten würde: »Ich kann nicht glauben, dass eine Kulturnation wie die französische noch lange in dieser Hasspsychose verharrt. Ist es nicht fast beschämend für die westliche Kultur, dass ausgerechnet der östliche Bundesgenosse im Vergeben und Verstehen vorangeht, indem er die Todesstrafe abschafft u. alle bereits ausgesprochenen Todesurteile in 25 Jahre Zwangsarbeit umwandelt? Vielleicht lassen sich die Kultur-Nationen dadurch nun auch zu einer Milde bestimmen. […] Die Befriedung Europas kann nur von den Siegermächten ausgehen. Sie allein haben die menschlich hohe Aufgabe der göttlichen Vergebung nach Kräften nachzueifern und damit der Zukunft den Frieden zu sichern. Ich kann nur unterstreichen, was unser Pastor im gestrigen Gottesdienste in Hinblick auf den morgigen französischen Nationalfeiertag als Bibeltext seiner Predigt zugrunde legte: Wendet, wie sich’s gebühret einer Berufung, mit der ihr berufen 626 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 29.06.1947). 627 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 06.07.1947).

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seid (Eph. 4,1)! Möge sich das französische Volk seiner kulturellen Tradition erinnern und den übrigen Völkern, vor allem aber dem Besiegten ein Beispiel geben für Menschenwürde u. menschliche Grösse.«628

Deutlich erkennbar ist die Verbindung zwischen seiner nunmehr starken religiösen Einstellung und der Hoffnung auf Begnadigung der eigenen Person. In einem weiteren Brief an seine Frau formulierte Isselhorst dann ausführlich die Gefahr durch die Sowjetunion: »Auch ich bin der Auffassung, dass die Auseinandersetzung zwischen Ost u. West kommen wird. Leider, denn die letzten Reste der europäischen Kultur werden zum Teufel gehen. Auf welcher Seite aber nach den vergangenen 2 1/4 Jahren das deutsche Volk stehen wird, ist mir auch klar und mit mir allen Einsichtigen bei uns. Wenn die anderen Völker das nicht erkennen können oder wollen, so wird es eines Tages ein böses Erwachen geben. Oder glauben Frankreich u. England, dass sie die Furie aufhalten können? Wissen sie nicht, dass, selbst wenn sie wieder Fuss fassen in Europa, inzwischen alles, aber auch alles verloren sein wird, an dem die Herzen der kulturbewussten Menschheit bisher gehangen haben? Die Verfahren in Nürnberg interessieren mich; die Angeklagten sind mir alle bekannt. Höre dich um und teile mir mit, was Du erfährst.«629

Für Isselhorst bestand nach dem dritten Todesurteil wenig Hoffnung, der Todesstrafe zu entgehen. Dreimal zum Tode verurteilt, hatte er lediglich die Chance, ein Gnadengesuch an den Präsidenten Frankreichs, Vincent Auriol, zu senden, der als einziger die Möglichkeit zur Begnadigung besaß. 3.5.3 Letzte Monate und Hinrichtung So eindeutig die nunmehr drei Todesurteile das Schicksal von Isselhorst auch bestimmten, so vehement glaubte dieser an seine Begnadigung. Selbstverständlich spielte die Todes-Thematik eine herausgehobene Rolle in den Briefen, die er während seiner Haftzeit nach den Verfahren in Straßburg an seine Familie schrieb. Er legte seine Hoffnung in das gemeinsam mit seinem Anwalt und zahlreichen Leumundszeugen verfasste Gnadengesuch an den französischen Präsidenten. Zudem entstand in ihm allmählich die Ansicht, dass er unter einer Art göttlichem Schutz – einer schicksalhaften Fügung – stand, da er vorerst vom Erschießungskommando verschont wurde. Seinen Tagesablauf im Gefängnis »La Citadelle« schilderte Isselhorst in einem Brief an seine Frau im Juli 1947. Morgens gegen halb sieben wurden die Internierten geweckt. Vormittags 628 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 13.07.1947). 629 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 19.07.1947).

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widmete sich Isselhorst »französischen Sprachstudien«, einem Spaziergang oder schriftstellerischen Tätigkeiten. Schließlich hatte er im Juli 1947 damit begonnen, seine beiden Memoiren zu verfassen. Die Zeit nach dem Mittagessen und der Mittagsruhe sowie dem Abendessen und der Nachtruhe verbrachte Isselhorst mit der Lektüre von Büchern, die den Gefangenen zur Verfügung gestellt wurden.630 »[…] Ich bin eben angeblich hier der ›grosse‹ Mann gewesen. In einem der hiesigen Zeitungen stand nach der ersten Verhandlung eine kurze Bemerkung: Isselhorst, dessen Macht sogar noch die Wagners übertraf! Es ist lächerlich. Übrigens hörte ich, dass Mr. Churchill mal wieder ein offenes Wort geredet haben soll, wonach jeder Deutsche zur Erhaltung des künftigen Weltfriedens notwendig sein soll! Alles nur Worte; es fehlen die entscheidenden Taten.«631

Trotz der Verurteilungen blieb Isselhorst weiterhin ein begehrter Gesprächspartner der alliierten Militärpolizei, da er im Gegensatz zu den meisten anderen Kriegsgefangenen offen über die Geschehnisse der NSZeit berichtete. So besuchten ihn im August 1947 zwei amerikanische Offiziere zu einem Verhör: »[…] Ich bin übrigens gestern von zwei amerikanischen Offizieren vernommen worden (über allgemeine Dinge). Einer von ihnen war vor 1 Jahr in Werl, um mich und Schneider zu verhören. Beide waren sehr höflich (soweit das Amerikaner sein können!). Sie versicherten mir, sie hätten in mir bisher den einzigen Mann aus unserer ganzen ›Bande‹ gefunden, dem sie unbedingtes Vertrauen schenken und für einen anständigen Deutschen halten würden! Sie bedauerten mein Schicksal, hofften trotzdem auf einen guten Ausgang und drückten mir zum Abschied spontan die Hand! Und trotzdem: wie schal, wie bedrückend, wie beschämend!«632

Einige Tage später wurde Isselhorst erneut befragt – diesmal von einem französischen Untersuchungsoffizier: »Was nützt es mir aber, wenn er mir erklärt, dass ich nur das Opfer meiner Stellung und des Systems sei, und dass man allseitig von mir einen guten Eindruck habe! […] Alles schön und gut, wenn doch die ›öffentliche Meinung‹ meine Verurteilung forderte! Herr B[uchmann; Anwalt von Isselhorst in Straßburg, Anm. d. Verf.] hat mit Recht vorgebracht u. auch im Gnadengesuch zum Ausdruck gebracht, dass kein Elsässer oder Franzose in den beiden Prozessen als Zeuge gegen mich ausgesagt hat, wohl aber für mich! Ich habe keinen Elsässer oder Franzosen zum Feinde, weil ich keinem etwas getan habe. Das Gegenteil ist der Fall. Und 630 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 04.07.1947). Unter anderem erwähnt Isselhorst den Bildungsroman »Grüner Heinrich« von Gottfried Keller. 631 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 15.08.1947). 632 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 28.08.1947).

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lediglich ein ehemaliger ›Kamerad‹ brachte es fertig, mich fälschlicherweise zu belasten! Oh, armes Deutschland!«633

Das neben der Selbststilisierung als Kulturverteidiger und unschuldig Verurteilter beherrschende Thema in seinen Ausführungen war jedoch die religiöse Verarbeitung seiner Verurteilung. Die Frage nach dem Sinn seines Todes und dem Umgang mit diesem beschrieb Isselhorst in beinahe all seinen Briefen. Häufig verband er die beiden Themen miteinander, wie in einem Schreiben vom 14. September, in welchem er außerdem eine Andeutung hinsichtlich der Münchener Justiz machte: »Ich fühle, dass der mir zugedachte Tod weder dem Ansehen meiner Familie noch dem meines Vaterlandes schaden wird, das sich in näherer oder ferner Zukunft auch meines Lebens und Strebens wieder ehrenvoll erinnert wird. […] Ich würde natürlich gerne auch einmal vor einer deutschen, vor allem bayrischen Spruchkammer auftreten. Die Herren würden sich wundern! Aber ich habe gar kein Interesse, einen Deutschen, auch wenn er ein schlechter Priester war, hineinzureissen. Doch könnte ich die Schleier über einige politischer Machenschaften in Mü. lüften; ich glaube kaum, dass es den Herren angenehm zu hören sein wird!«634

In Isselhorsts Briefen wurde wiederholt deutlich, dass er sein Urteil ablehnte und er gezielt die Presse durchsuchte, um anhand anderer Kriegsverbrecherverfahren entlastende Beispiele zu erhalten, auch um daraus Hoffnung für seine eigene Position zu schöpfen. Dies beschrieb er im Oktober 1947 in einem Brief an seine Frau, in dem er auf die Verteidigung des ehemaligen Generalfeldmarschalls Wilhelm List einging: »Überdies hat […] der Verteidiger von Gen. Feldm. List, letzthin wieder an Hand namhafter, ausländischer Völkerrechtler nachgewiesen, dass der ›höhere Befehl‹ auch bei – angeblichen – Völkerrechtsbrüchen den Untergebenen unverantwortlich und straffrei macht! Es wird um Einzelschicksale gerungen, wo das Wohl u. Wehe einer Welt in greifbarer Nähe auf dem Spiel steht!«635

Wilhelm List (Jg. 1880) erlebte beide Weltkriege in führender Funktion mit und wurde vom Sommer 1942 bis September 1942 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A. Zweifelhafte Berühmtheit erlangte er jedoch mit einem Befehl vom 4. Oktober 1941, in dem er die Anlegung von »Geißelsammellagern« vorantrieb, die je nach Bedarf zur Erschießung genutzt werden sollten. Am 19. Februar 1948 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch bereits an Weihnachten 1952 aufgrund 633 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 07.09.1947). 634 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 14.09.1947). 635 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 05.10.1947).

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einer Krankheit entlassen. Er lebte noch 19 Jahre bis zu seinem Tod am 16. August 1971 in Garmisch-Partenkirchen.636 Dass Isselhorst seine Verurteilung jedoch nicht nur einem Revanchismus geschuldet sah, sondern auch den belastenden Aussagen seiner Mitangeklagten, beschrieb er in einem Brief vom Oktober 1947, in dem er seine Mitangeklagten nunmehr in einem schärferen Ton kritisierte: »Aber es gibt ›Kameraden‹, die meinen Namen bei allen passenden u. unpassenden Gelegenheiten nennen, auch wenn es nur eine völlig haltlose, selbst von ihnen nicht zu beweisende ›Annahme‹ ist!«637

Die Gnadengesuche wurden parallel vorbereitet und in enger Zusammenarbeit mit seinem Anwalt Buchmann angefertigt. Eine wesentliche Aufgabe bestand darin, Entlastungs- und Leumundszeugen ausfindig zu machen, die das Gnadengesuch unterstützen sollten. Die Familie Isselhorsts schaffte es im Laufe der drei Prozesse (1946–1947), eine ganze Reihe von Leumundszeugen für ihn ausfindig zu machen. Darunter waren auch Aussagen von religiösen Würdenträgern wie dem Generalvikar David aus Köln und dem Kölner Erzbischof Frings: »Nach dem, was mir bekannt geworden ist, hat Herr Dr. Isselhorst in dem ihm zur Last gelegten Falle nach seinem subjektiven Gewissen gehandelt und den Führerbefehl so milde ausgeführt, wie ihm möglich war. Das Gesamtbild Dr. Isselhorst’s erscheint so, dass er der erbetenen Gnade würdig ist.«638 »Auf Wunsch wird bestätigt, dass nicht lange nach Kriegsbeginn der damalige Leiter der Kölner Gestapo, Assessor Isselhorst, eine Unterredung mit dem Unterzeichneten herbeiführte, in der er den Wunsch äusserte, eine Entspannung in dem Verhältnis zwischen der kirchlichen Behörde und der Gestapo herbeizuführen und zusicherte, in Zukunft vor dem Vorgehen gegen einen Geistlichen den Versuch zu machen, die Angelegenheit friedlich zu erledigen. Es mag mit der bald erfolgten Versetzung des Herrn Assessor Isselhorst zusammenhängen, dass die Abmachung in Vergessenheit geriet. Der Erzbischöfliche Generalvikariat gez. David«639

Der Generalvikar war es auch, der Gustel Isselhorst in einem Schreiben vom 17. September 1947 mitteilte, dass die englischen Behörden das 636 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2003, S. 374f. 637 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 12.10.1947). 638 RW 0725 Nr. 4 (Brief von Erzbischof Cardinal Frings aus Köln vom 15.02.1947). 639 RW 0725 Nr. 4 (Schreiben vom 11.06.1946).

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Gnadengesuch von Isselhorst abgelehnt hätten.640 Dies bedeutete, dass nunmehr lediglich der französische Staatspräsident, Vincent Auriol, die Möglichkeit besaß, die Hinrichtung aufzuhalten. Diesem wurde Ende September 1947 das neunseitige Gnadengesuch durch den Anwalt Isselhorsts überbracht, das gespickt war mit Leumundschaftsauskünften. Hieraus einige Auszüge: »[…] Es ist schwer zu verstehen, dass der deutsche Soldat – denn Isselhorst hat im vorliegenden Fall als Soldat gehandelt – der selbst in jenen Tagen der letzten Kämpfe auf französischem Boden die Aufgabe und Pflicht hatte, seinen Feind überall, wo er ihn antraf, niederzuschlagen, seinerseits getötet werden soll dafür, dass er einzig und alleine seine militärische Pflicht erfüllte. […] Es ist mehr als zufällig, dass der Betreffende in seiner Eigenschaft als Jurist in die Dienste der deutschen Polizei eintrat, und er hat lange vor dem Kriege schon viele Versuche unternommen, dort wieder herauszukommen und seine Versetzung in einen anderen Zweig der Verwaltung zu erwirken. Es gelang ihm nicht, da ihn seine Vorgesetzten nicht mehr losliessen auf Grund seiner beruflichen Qualitäten. […] Isselhorst, heute 41 Jahre alt, wurde gänzlich in der Weltanschauung und der Disziplin des Nationalsozialismus in Deutschland geformt. Man kann es ihm nicht verübeln, dass er sich, wie alle seiner Generation, dessen mächtigen Einfluss unterworfen hat und dass er aufrichtig und in wirklich gutem Glauben an die hohe Mission glaubte, die dieser Staatsdoktrin zugewiesen zu sein schien. […] Er hätte sich immer bemüht, durch sein persönliches Eingreifen die strengen Maßnahmen zu mildern. Ein anderer Zeuge hatte schon vorher erklärt, dass die Haltung Isselhorsts während der Judenpogrome Ende November 38 sehr korrekt gewesen sei. Auf sein Eingreifen und seine Initiative hin wären Streifen in Köln eingesetzt worden ›zum Schutze jüdischen Lebens und Eigentums‹. […] Die liebevolle Sorgfalt, mit der Mitglieder des katholischen Klerus für Isselhorst bezeugt haben, ist umso bemerkenswerter, als der Betreffende selbst kein Katholik ist. Ihr Zeugnis kann also nur von der einzigen Sorge um eine gute und gesunde Rechtsprechung diktiert worden sein.«641

Auch sein früherer Anwalt, Dr. von Bruch aus dem Verfahren in Wuppertal 1946, ließ sich zu einer ausführlichen Aussage über Isselhorst bewegen: »Er war persönlich tolerant und gerecht. Ein Beweis für seine menschliche und politische Haltung ist das Zeugnis des früheren Bischofs von Strassburg, Dr. Douvier. Es beweist, dass Dr. Isselhorst kein Unterdrücker und Verfolger von Menschen war, die andere politische und 640 RW 0725 Nr. 4 (Schreiben vom 17.09.1947). 641 RW 0725 Nr. 13.

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religiöse Anschauungen vertraten, sondern dass er nach besten Kräften immer eine friedliche Lösung erstrebte. […] Während des Prozesses machte Dr. Isselhorst den Eindruck eines ehrenwerten und anständigen Mannes. Sogar der Anklagevertreter bestätigte seine Wahrheitsliebe und Ehrenhaftigkeit. […] Er ist ein im Grund seines Wesens wertvoller Mensch, der mehr ein Opfer eines vergangenen politischen Systems geworden ist, als er dessen Vollstrecker war.«642

Dr. Douvier, der auch in den kommenden Jahren postalisch Kontakt zu Gustel Isselhorst pflegen sollte, hatte tatsächlich in zwei Schreiben sein Verhältnis zu Isselhorst und dessen Naturell beschrieben: »[…] Wenn er es getan hat, so geschah es wohl, weil er sich dazu verpflichtet glaubte und auch auf Grund der Zwangsspychose [sic], die damals bestand. […] Ich erinnere mich auch noch, wie Isselhorst im Herbst 1944, als für die Besatzung […] alles schief ging, nervös gewesen und immer suchte, zu vermeiden, was vermieden werden konnte.«643 »[…] Er kam mir übrigens als Mensch vor, der innere Hemmungen hatte und ich konnte mir nicht erklären, wie er überhaupt in die Gestapo gekommen ist. Es scheint mir, dass er sich wohler fühlte in wissenschaftlichen Fragen. Und seine humanen Äusserungen in der Behandlung einzelner religiöser und rein menschlicher Fragen standen im Widerspruch zu den Methoden, welche gerade in der Gestapo angewandt wurden, so dass ich mich fragen muss, wie er sich innerlich zur Ausführung einzelner Befehle stellte, die ihm von höherer Stelle gegeben wurden, und ob das nicht seine zeitweise Unruhe erklärte.«644

Auch Isselhorsts Ehefrau schrieb einen längeren Bericht über den Charakter ihres Mannes und seine Eingebundenheit in das NS-System, der jedoch äußerst angreifbar war: »Von höherer Stelle kommenden [sic] Befehle über Kirchenaustritt wurden von ihm pflichtgemäss vorgelesen; die Ausführungen jedoch blieb jedem seiner Beamten selbst überlassen. […] Fanatiker war mein Mann nie, sonst hätte er es sicher nicht gewagt, sich kirchlich (katholisch) trauen zu lassen. Den auf ihn wegen Kirchenaustrittes ausgeübten Druck übertrug er in keiner Weise auf mich. Trotz der Gefahr, sich dienstlich unmöglich zu machen und trotz unzähliger Aufforderungen von allen Seiten bestimmte er mich nie zum Eintritt in die Partei oder einer ihrer Gliederungen. […] Trunkenheit war ihm ein fremder Begriff. […] Es wurde meinem Mann beim Reichssicherheits-Hauptamt Berlin s. Zt. schwer angekreidet, dass er der Not einer in seiner Münchener Dienststelle inhaftierten Kommunistin so grosses Verständnis entgegenbrachte und sie zur Erleichterung ihrer Haft mit einigen Näharbeiten für mich 642 RW 0725 Nr. 13 (undatiert). 643 RW 0725 Nr. 13 (Schreiben vom 28.03.1947). 644 RW 0725 Nr. 13 (Schreiben vom 01.08.1946).

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– natürlich gegen tarifmässige Bezahlung – beschäftigte. Da man u.a. in diesem Handeln ein SS-unwürdiges Verhalten sah, bat mein Mann um seine Entlassung. Dies wurde ihm als Fahnenflucht ausgelegt.«645

Freilich waren die Monate nach den Verurteilungen für Isselhorst eine psychische Tortur, da er, obgleich er Kassations- und Revisionsanträge sowie ein Gnadengesuch eingereicht hatte, doch jederzeit mit der Vollstreckung des Urteils rechnen musste. So schrieb er Ende Oktober an seine Frau: »Ob die Menschheit draussen – unsere Angehörigen ausgenommen – wohl einen Hauch davon verspüren, was es heißt, mit dieser Belastung monatelang oder, wie bei mir, 16 Monate lang zu ›leben‹ und auf den letzten Gang zu warten? Und das nach einem Leben voller Arbeit und Mühe!«646

Auch die kommenden Briefe drückten diese Unsicherheit aus.647 Noch angespannter wurde seine Lage, als die drei ebenfalls zum Tode verurteilten Mitangeklagten aus dem ersten Verfahren in Frankreich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1947 zur Exekution abgeholt wurden. Warum Isselhorst nicht ebenfalls an diesem Tag vor dem Erschießungskommando erscheinen musste, wurde ihm nicht mitgeteilt. Wahrscheinlich war jedoch seine ungewöhnliche Mitteilsamkeit bei den Verhören und Gerichtsprozessen ein wertvolles Gut, das sich die alliierte Militärpolizei noch etwas erhalten wollte. Für Isselhorst war die Nicht-Erschießung jedoch ein Zeichen für den göttlichen Schutz, unter dem er stand: »Wie ein Wunder kommt es mir vor, dass ich noch lebe! Am Montag Nacht [sic] hat der Engel des Herrn an meiner Zellentür gestanden und gewacht. Die drei Kameraden, die im ersten Prozess mit mir zusammen zum Tode verurteilt wurden, sind in dieser Nacht zur Exekution abgeholt worden. […] Der Herr war nahe, ganz nahe! Und er hat geholfen! […] Noch weiss ich nichts Genaueres über mein Schicksal, aber der französische Untersuchungsoffizier, von dem ich schon öfter schrieb, suchte mich am Montag Nachmittag [sic] auf und gab mir, wenn auch keine offizielle, so aber doch eine ›offiziöse‹ beruhigende Erklärung ab. ›Wenn wir Sie hätten erschiessen wollen, dann wäre es heute Morgen geschehen‹, war seine Antwort auf meine Frage über mein Schicksal. Ich glaube annehmen zu können, dass ich zumindest von Frankreichs Seite aus Gnade gefunden habe. […] Die Welt scheint erneut vor entscheidungsschweren Stunden zu stehen. Der Herrgott gebe, dass das Schlimmste verhindert werde. Muss es aber sein, so möge die Welt sich zusammenfinden, um ihren wahren Feind endgültig niederzuschlagen. Dann wird der Herrgott ihr wohl den Frieden schenken, nach dem sich alle 645 RW 0725 Nr. 13 (Schreiben vom 24.06.1946). 646 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 02.11.1947). 647 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 09.11.1947).

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Gläubigen und objektiv denkenden von Herzen sehnen. Wie dankbar wäre ich, könnte ich zur Erreichung dieses Zieles beitragen!«648

Eine in diesem Schreiben ebenfalls erwähnte »Reise in die amerikanische Zone«, in der er als Zeuge in einem Verfahren fungieren sollte, steht wohl im Zusammenhang mit der von Isselhorst oftmals erwähnten »Schimmel-Scharnagl Sache«.649 Alfred Schimmel (Jg. 1906) war Isselhorst noch aus der Münchener Gestapo-Zentrale bekannt, in der Schimmel seit 1938 als Abteilungsleiter arbeitete. Ab 1942 war er BdS in Straßburg und später (1944) Mitarbeiter beim BdS in Oslo. Im Juli 1947 stand er in Hamburg für die Ermordung eines britischen Luftwaffe-Offiziers namens Hayter vor Gericht und wurde zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung wurde am 26. Februar 1948 in Hameln durchgeführt.650 Zur gleichen Zeit wurden Vorwürfe gegen den Münchener Weihbischof und Politiker Anton Scharnagl laut. Er wurde bezichtigt, während der NS-Zeit eng mit der Münchener Gestapo zusammengearbeitet zu haben. Diese Anschuldigung wurde zwar in einem Spruchkammerverfahren verworfen, jedoch existieren Zeitungsberichte, die eine solche Zusammenarbeit als wahrscheinlich erscheinen lassen.651 Sein Hauptbelastungszeuge hinsichtlich der Vorwürfe war ebendieser Alfred Schimmel, der wiederum kurz vor seiner Exekution die Anschuldigungen gegen Scharnagl zurückzog und gleichzeitig in die katholische Kirche aufgenommen wurde.652 Isselhorst, als damaliger Leiter der Gestapo in München, wusste wohl über diese Verbindungen von Scharnagl und riet seiner Familie im Schreiben vom 9. November: »Am besten ist, Ihr schweigt gegenüber jedermann über die Sache!«653 Isselhorsts Frau nahm im Sommer 1948 Kontakt mit Anton Scharnagl auf, der in seinem Antwortbrief das maßvolle Verhalten Isselhorsts reflektierte und zudem die von Isselhorst angegebenen schwierigen Verhältnisse in München konstatierte: »Sie bestätigen das Bild, das ich mir von Ihrem Gemahl gemacht habe. Ich weiß, dass ihm andere Herren hier in München sehr ungünstig beurteilt haben. Mein Urteil war anders; ich habe es ihm immer zur Ehre angerechnet, dass er nach meiner entschiedenen Weigerung mich nicht 648 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 13.11.1947). Wahrscheinlich wurde die Exekution in der Nacht zum Montag (10.11.1947) durchgeführt und von Isselhorst an dieser Stelle verwechselt. 649 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 09.11.1947). 650 Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt 2003, S. 535. 651 Vgl. Ebd. S. 527. Vgl. auch Denzler, Georg: SS-Spitzel mit Soutane; in: Die Zeit Nr. 36 (1982), S. 9. 652 Vgl. Der Spiegel Nr. 39 (1948) S. 18. Vgl. auch: Der Spiegel Nr. 8 (1947) S. 3. 653 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 09.11.1947).

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weiter mit Fragen bedrängt hat und ich nehme an, dass sein ganzes Drängen überhaupt nicht aus seinem eigenen Entschluße, sondern auf das vielleicht sehr nachdrückliche Verlangen von Berlin aus geschehen ist. In diesem Sinne hat ja auch ein im Lager Moosburg befindlicher Gestapobeamter ausgesagt, die Münchener Stelle habe von Berlin einen schweren Krach bekommen, weil sie aus mir nichts herausgebracht haben.«654

Seine in dem Brief vom 13. November getroffene Bezugnahme auf die Weltlage und die große Gefahr, die laut Isselhorst von der Sowjetunion ausging, stand unter dem Einfluss seiner zu jener Zeit empfundenen Wahrnehmung, dass er als erfahrener »Experte« in der Bekämpfung des sowjetischen Systems im Abwehrkampf der westlichen Alliierten eine nützliche Rolle einnehmen könnte. Dieses Selbstbild wird deutlich in einem vierseitigen Schreiben an die französische Administration vom 30. August artikuliert, in dem er sich explizit für die schwierige Arbeit der Bekämpfung ebenjener Gefahr zur Verfügung stellte.655 Dieses bizarre Angebot wurde jedoch nie angenommen. Isselhorst blieb ein Gefangener im Straßburger Militärgefängnis, obgleich die übrigen Inhaftierten des Gefängnisses im Dezember 1947 nach Metz verlegt wurden, wo ihre Gerichtsverfahren durchgeführt werden sollten. Nur Isselhorst und ein weiterer Insasse blieben in Straßburg.656 Seine Unschuld beteuerte Isselhorst weiterhin und betonte im Schreiben an seine Frau seine Standhaftigkeit und Ehrlichkeit: »Ich bin sicher, dass es auf dieser Welt mehr Menschen gibt, die für meine Erhaltung beten, als solche, die meinen Tod fordern – und die letzteren kennen mich und mein Wirken noch nicht einmal. […] Wie wenig diese Menschen mich kennen, erwies sich auch in diesen Tagen wieder, als man im Laufe eines Verhörs an mich das Ansinnen stellte, um der Wahrheit willen Franzosen und Elsässer zu denunzieren. Ich habe natürlich abgelehnt! Genau so wenig, wie ich mich zu einem Denunzianten in Deutschland eigne, genau so wenig ist das in Hinblick auf Frankreich der Fall. […] Ja, meine Liebe, was hat man heute schon viel zu verlieren! Das Sterben wird einem so leicht gemacht, unabhängig von der inneren Einstellung!«657

Die Briefe zur Weihnachtszeit des Jahres 1947 trugen allesamt eine zutiefst christliche Konnotation, sodass er seine Familie, in der es scheinbar zu Streit gekommen war, aufforderte, sich zu versöhnen und sich gemeinsam für die kommenden Herausforderungen zu wappnen. Bemerkenswert ist die Verbindung, die Isselhorst zwischen dem Weihnachtsfest und Deutschland zieht: 654 RW 0725 Nr. 4 (Brief von Anton Scharnagl vom 24.01.1948). 655 RW 0725 Nr. 9. Das Schreiben wird in Abschnitt 4.2.2 genauer behandelt. 656 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 20.11.1947). 657 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 23.11.1947).

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ERICH ISSELHORST: KONSTRUKTION UND REKONSTRUKTION EINER BIOGRAPHIE

»Aber die Christnacht wird uns Deutschen vor allen anderen wohl immer etwas Besonderes sein, auch wenn wir keinen Anlass zum Feiern haben. Kommt es doch nicht auf den äusseren Rahmen, sondern auf den Inhalt an. Was dieses Fest einem Deutschen bedeutet, das empfindet man so ganz deutlich gerade erst dann, wenn eben jeder äussere Rahmen fehlt und man sich mit seinen Gedanken so ganz in sich selbst zurückziehen darf.«658

Der einzige Mithäftling im Straßburger Gefängnis wurde Ende Dezember ebenfalls umquartiert, da seine Todesstrafe in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt wurde. Isselhorst war nunmehr der einzig verbliebene Häftling in Straßburg.659 Das Verfahren um den Münchener Bischof Scharnagl blieb für Isselhorst ein Thema, das er auch mit seiner Frau besprach: »Was nun die Sache Dr. Scharnagl angeht, so bin ich Dir sehr dankbar für deine Ausführungen vom 7.1. […] Dr. Scharnagl kann unbesorgt sein; seine Darstellung ist sachlich richtig, sodass ich sie also in vollem Umfange bestätigen kann. Der eigentliche Anlass, ihn damals anzusprechen, soll und wird unerörtert bleiben; es hat auch mit der jetzigen politischen Seite nichts zu tun (so ist auch meine frühere Ausführung über den ›schlechten Priester‹ zu verstehen).«660

Es fehlt leider an genaueren Angaben hinsichtlich der Verbindung zwischen Scharnagl und der Münchener Gestapo. Dies lag auch daran, wie er seiner Frau schrieb, »[…] dass ich aus Dir doch verständlichen Gründen nicht alles mit der Deutlichkeit schreiben kann, wie ich es in dem einen oder anderen Fall möchte. Ich habe eben auf zu vieles Rücksicht zu nehmen; ausserdem schlägt da immer noch mein früherer Beruf durch!«661 Diese von Isselhorst empfundene innere Zensur bezog sich jedoch nur auf die Betrachtungen seiner dienstlichen Vergangenheit. Auch in einem weiteren Schreiben vom 9. Februar 1948 schrieb er diesbezüglich an seine Frau: »[…] ich schreibe ja auch wirklich nichts hinein, was einer berechtigten Zensur unterliegen könnte.«662 Die letzten Briefe, die Isselhorst Ende Januar beziehungsweise Anfang Februar 1948 an seine Frau schrieb, beinhalten nur wenig Aussagekraft. In den meisten Briefen beschrieb er nostalgisch die gemeinsame Zeit mit seiner Frau, seine Hoffnung auf die Verlegung in die amerikanische Besatzungszone, oder er gab seine allgemeine Stimmungslage an.663 Verheerend für ihn war wohl die Tatsache, dass es nicht zu dem von ihm prog658 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 26.12.1947). 659 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 29.12.1947). 660 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 12.01.1948). 661 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 12.01.1948). 662 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 09.02.1948). 663 RW 0725 Nr. 32 (Briefe vom 17.01.–06.02.1948).

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nostizierten Prozess über das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck kam, obgleich er dies nicht als so gravierend ansah, wie es wohl tatsächlich für ihn war.664 Denn letztlich gab es nun keinen triftigen Grund mehr gegen die Vollstreckung der Todesstrafe. Seine Hoffnung und sein Wunsch, beim Kampf gegen die sowjetische Gefahr aus dem Osten mitzuwirken, blieben jedoch bis zuletzt vorhanden: »Gewiss bedrückt auch mich die Ungewissheit schwer, aber es ist nicht die Ungewissheit über mein Schicksal als solches – also Tod oder Leben –, sondern über die Form der Zukunft. Ich möchte so gern arbeiten, nicht nur für mich und Dich, nein für eine übergeordnete Weltordnung, für ein friedliches Europa, für eine Beseitigung der wirklichen Gefahr der abendländischen Welt. Was geschieht denn ernsthaft dagegen? Nichts, oder doch nichts Entscheidendes. Es ist zum Verzweifeln! Ist denn die Menschheit mit Blindheit geschlagen? Oder will sie nur nicht sehen und macht in ›Vogel Strauss-Politik‹, nur weil wir es waren, die diese Gefahr schon immer gesehen und beschworen haben? Gegen die Dummheit kämpfen selbst die Götter vergebens, sagt ein klassisches Wort. Der Herrgott wird sein Haupt schütteln über das, was einmal sein Ebenbild sein sollte!«665

Weniger martialisch ging das Leben seiner Familie in Düsseldorf weiter. So beschwerte sich Isselhorst energisch über das Vorhaben seiner Frau, den Karnevalsumzug 1948 zu besuchen: »Ich finde die Aufforderung von Heilschers bzgl. deiner Beteiligung an karnevalistischen Veranstaltungen, gelinde gesagt absurd. Sie sind mir, bei allem Verständnis, das ich als Rheinländer dabei aufzubringen bemüht bin, leider nicht sympathischer geworden. Diese Zumutung an eine Frau, dessen Mann 3 mal zum Tode verurteilt ist, ist geschmacklos. […] Menschen, die das nicht erkennen, beweisen damit nur ihre Herzund Taktlosigkeit. Vielleicht auch noch sich bei diesen Gelegenheiten, gewollt oder nicht, mischen mit den Angehörigen einer Nation, deren Vertreter eines dieser Schandurteile gegen mich gefällt haben, und zu ihrer Erbauung und Belustigung beitragen!«666

Seine Frau allerdings begab sich dennoch zum besagten Karnevalsumzug, was für Isselhorst Grund genug war, seine Frau im darauffolgenden Brief zu maßregeln: »Die sichere klare Linie meiner Gedanken an Euch gerät ins Schwanken und damit meine seelische Haltung. Hast Du Dir das überlegt, als Du diese bedeutenden Worte niederschriebst? Weisst Du, was das für mich bedeutet, als einen Menschen, der nichts Erhebendes mehr hat in seiner materiellen und seelischen Einsamkeit als das treue Gedenken 664 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 30.01.1948). 665 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 09.02.1948). 666 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 12.02.1948).

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an die Menschen, die ihm die Liebsten sind auf dieser Welt? […] Aber wir dürfen uns nicht von der Pflichtversäumnis anderer bestimmen lassen, und – es darf nicht nur Pflicht sein, was uns selbst führt und lenkt! Gerade das wollen wir doch aus der Vergangenheit gelernt haben. Lies das 13 Kapitel des 1. Korinther-Briefes! Möge es uns allen Leitschnur sein! […] Meine Enttäuschung über Deine Rosenmontags-Exkursion magst Du an den Ausführungen meines letzten Briefes ermessen, wenn ich auch zugebe, dass das familiäre Milieu die Dinge etwas mildert. Ich bitte Dich, darüber in keine weitere Diskussion einzutreten. Die Nachwirkungen fanden übrigens ganz offensichtlichen Niederschlag in Deinem Brief vom 10.II., den Du mit Nr. 48 ausgezeichnet hast, obwohl der Brief vom Sonntag bereits die richtige Nr. 50 trug! Auch einige eklatante Schreib- und Wortfehler sahen nach ›Nachwehen‹ aus! Übrigens bei dieser Gelegenheit: es heisst ›Alsace‹ und nicht ›Elsace‹.«667

Die Ordnung war in Isselhorsts Leben stets ein entscheidender Faktor. Ordnung im Staat, in der beruflichen Praxis und in den familiären Beziehungen bildeten das Gerüst, das ihn bis zu diesem Punkt in das Straßburger Militärgefängnis begleitet hatte. Allerdings gab es einzelne Geschichten in seinem Leben, die konträr zu diesen Ordnungsvorstellungen verliefen. Beispielsweise zeigt die Korrespondenz zu seinem Straßburger Anwalt Buchmann kurz vor seinem Tod, dass Isselhorst sich Sorgen um seinen unehelichen Sohn Frank-Erik machte, zu dem er jedoch keinerlei Kontakt hatte und der auch in keiner anderen Quelle Erwähnung findet. Ob das Kind der Beleg für eine weitere Affäre von Isselhorst war, oder ob sich die Vaterschaft noch vor der Beziehung mit seiner Frau einstellte, ist unklar.668 Es ist nachvollziehbar, dass Isselhorst als nunmehr überzeugter Christ und Familienmensch, dessen häufig vorgebrachter Wunsch es war, mit seiner Frau ein eigenes Kind zu bekommen, angesichts seines bevorstehenden Todes begann, sich um seine Nachkommenschaft Gedanken zu machen. In seinem letzten Brief an seine Frau vom 20. Februar 1948 zeigte sich ein letztes Mal sein unbedingter Wille, als ein guter Mensch gesehen zu werden: »Es gibt doch Mansches [sic], was auf die Dauer hin und unter den besonderen abweltenden Umständen alles das niederzutrampeln versucht, was noch an menschlichen Werten in mir steckt und was ich mir bis zum letzten Atemzug auch bewahren will.«669

Die »menschlichen Werte«, die Isselhorsts Leben so unterschiedlich prägten und die sich im Laufe seines Lebens verändert hatten, sollten 667 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 16.02.1948). 668 LAV NRW RW 0725 Nr. 24 (Schreiben vom 9. August 1957 des Anwaltes Buchmann an eine Frau Traute H.). 669 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 20.02.1948).

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KRIEGSENDE UND KRIEGSGEFANGENSCHAFT

mit der Vollstreckung des Urteils am 23. Februar 1948 ein Ende finden. Pastor Neifer, der Isselhorst in den letzten Monaten seiner Haft als Gefängnis-Pfarrer begleitete, schrieb am 26. Februar eine kurze Beschreibung über den Ablauf der Exekution: »Es war am Sonntag, dem 22. Februar 1948, als ich gerade aus dem Gottesdienst heimkam, dass ich benachrichtigt wurde, dass ich am anderen Morgen um 5 Uhr im Gefaengnis sein sollte. Ich wusste sofort... und konnte es doch nicht fassen! So ging ich am anderen Morgen den schweren Gang: Finster war der Himmel mit Schneewolken behaengt und erst um 6 Uhr traten wir den Gang in die Zelle an. Der Gefangene schlief scheinbar und doch hatte er schon etwas gemerkt. Still und bleich sprang er auf, als wir die Zelle betraten. Seine Augen suchten sofort nach mir und als wir uns gefunden, war es, als wollte er mir sagen: also doch! Wir hatten ja gehofft. Still und ruhig zog er sich an und langsam kam ueber ihn jene seelische Ruhe, die er auf der Fahrt dann in die Worte fasste: Ich hoffe, mein lieber Herr Pastor, dass Sie den Meinen sagen koennen, ich waere als ein Mann und Christ gestorben. Wir unterhielten uns noch im Beisein des Verteidigers, regelten die letzten Dinge und dann gingen wir miteinander in Kapelle [sic], wo ein letzter Gottesdienst stattfand, den ich mit der Losung des Tages und dem dazu gehoerenden Liedervers begann. Dann gingen wir, seine linke Hand auf meiner Schulter in’s Bureau, wo wir warten mussten, bis der Tag ein wenig sich zeigen wollte, etwa 10 Minuten. Hier unterhielt er sich mit den französischen Offizieren, die auf sein Ehrenwort, nicht zu fliehen, es unterliessen, ihm die Handfesseln anzulegen. Und dann kam die letzte Fahrt: Ich war mit ihm allein, umgeben von Gendarmen. Und auch immer wieder der Wunsch, den er auch den Offizieren gegenueber geaeussert hat: Moege mein Tod zur Versoehnung der beiden Voelker beitragen. Als wir auf dem Polygon ankamen und das Auto hielt, schloss er die Augen, faltete die Haende. Totenstille. Man liess ihm Zeit zum letzten Gebet. Dann ging alles sehr schnell: Aussteigen, Aufstellen zwischen zwei Gendarmen, ein letzter Haendedruck, Anbinden an den Pfahl..... Jetzt schauten wir uns in die Augen und er sagte noch: Gruessen Sie meine Lieben. Ein Befehl, Schuesse und der Tod hatte auch schon sein Werk getan! Und wirklich: Der Eindruck, den sein Sterben auf die, die dabei waren, gemacht, war ein sehr tiefer: Ein Mann und ein Christ! Es war genau 7 Uhr 05 Minuten gewesen!«670

670 RW 0725 Nr.4.

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ERICH ISSELHORST: KONSTRUKTION UND REKONSTRUKTION EINER BIOGRAPHIE

Abb. 36 Zeitungsartikel vom 24.02.1948 über die Hinrichtung von Erich Isselhorst, LAV NRW RW_0725, Nr. 22.

Die letzten Minuten im Leben des Erich Isselhorsts waren von Selbstbildern geprägt, die er nach dem Krieg im Laufe der Gefangenschaft und der drei Gerichtsverfahren konstruiert hatte. Der Jurist, der ein bedingungsloser Anhänger des Nationalsozialismus gewesen war, der während der NS-Zeit aktiv gegen die Kirche vorging, der dabei war, als tausende jüdische Opfer in Gaswagen und in den Erschießungsgruben im Ostfeldzug ermordet wurden und der unerschütterlich an Adolf Hitler und »das Reine des Nationalsozialismus« glaubte, nahm in seinem Selbstverständnis nunmehr eine neue Rolle ein. In den Tod ging Isselhorst als 264

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Verteidiger der abendländischen Kultur, als aufrechter Mann und Christ, der ein treudeutscher Soldat und Idealist war, der lediglich seine Pflicht erfüllte und der als Opfer einer ungerechten Rachejustiz für die Völkerverständigung sein Leben geben musste. Es ist unwahrscheinlich, dass Isselhorst diese Selbstbilder auch drei Jahre zuvor verwendet hätte. Daher stellt sich die Frage, wie diese Wandlung zu erklären ist und welche Funktion die Selbstentwürfe von Isselhorst erfüllen. Um diese Fragen zu beantworten, werden erneut die Ego-Dokumente herangezogen. Denn in diesen offenbarte Isselhorst eine zentrale menschliche Eigenschaft: Er erzählt (s)eine Geschichte.

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4 Biographischer Selbstentwurf Die Analyse von Erich Isselhorsts Selbstentwurf ist auf die Aspekte ausgerichtet, die mit Blick auf den Nationalsozialismus von unmittelbarer Bedeutung sind. Für die Analyse sollen insbesondere die Rationalisierung- und die Rechtfertigungsmuster untersucht werden. Andere dem Selbstentwurf ebenfalls zugehörige Aspekte wie beispielsweise sein Entwurf als treuer Ehemann und Familienmensch sind zwar durchaus erkennbar, doch sind sie unter historischen Gesichtspunkten von nachrangigem Interesse. Die entscheidenden Quellen hinsichtlich des Selbstentwurfes liegen in den beiden Memoiren, die Isselhorst 1947 nach den drei Todesurteilen im Straßburger Militärgefängnis anfertigte und die in der bisherigen Analyse bereits verwendet wurden. Wie im methodischen Abschnitt zu Beginn erläutert, werden in diesen retrospektiven Lebensbeschreibungen Ereignisse und Erfahrungen selektiert. Es wird ihnen ein bestimmter Sinn und eine Bedeutung beigemessen und sie zeugen von einer Kohärenz, die im Schreibprozess und in der Narrativierung erst erzeugt wird. Letztlich sind diese autobiographischen Texte auf einen durch den Text konstruierten Sinnzusammenhang ausgerichtet: »Erst aus dem Ganzen erhält das Einzelne seinen Sinn.«1 Die Erzählung unterliegt bestimmten Zwängen (Detailierungszwang; Kondensierungszwang; Gestaltschließungszwang). In diesem Sinne wird die Lebensgeschichte narrativiert und in Form einer Geschichte erzählt, die eben nicht zusammenhangslos und willkürlich geordnet wird, sondern eine nachvollziehbare Entwicklung darstellt. Freilich geschieht dies umso leichter, wenn sich das politische und weltanschauliche System kaum verändert, da so neue Bedingungen und Erfahrungen leicht in die bestehenden Muster eingefügt werden können. Für Isselhorst ist dies eine Herausforderung. Er sieht sich im Laufe seines Lebens gleich mit mehreren politischen Systemen konfrontiert. Dies trifft insbesondere auf die abrupte Zäsur nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu. Die Fragen danach sind zentral, wie und welche Anknüpfungspunkte Isselhorst aufgriff, mit denen er sein Handeln und seine Entscheidungen aus der NS-Zeit in das neue System, in dem er als Kriegsverbrecher angeklagt wurde, transferieren konnte. Dabei soll der Fokus auf die Argumente und Sinnstrukturen gelegt werden, die als Anknüpfungspunkte dienten. Denn vergangene Sinnstrukturen und Sinnwelten werden auch in der retrospektiven Darstellung aufgegriffen, um sie mit der jetzigen Haltung abzugleichen. Dadurch lässt sich zeigen, wie stabil oder wie fragil sozial konstruierte 1 Depkat, Volker: Biographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, S. 454.

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Wirklichkeiten und deren Werte und Normen waren.2 Insofern werden nun die Ego-Dokumente analysiert und zum Teil mit Äußerungen zeitgenössischer Ego-Dokumente in Verbindung gesetzt, um Analogien und Divergenzen aufzuzeigen. Deutlich wird hierbei: Für Isselhorst bedeutete der Übergang zwischen Nationalsozialismus und Nachkriegszeit keine unüberwindbare Hürde. Ganz im Gegenteil waren einzelne Aspekte geradezu prädestiniert, um auch nach der Zäsur von 1945 seine eigene Person in einen übergreifenden Gesamtzusammenhang einzubauen. Im Wesentlichen konnte Isselhorst hierfür seinen »Kampf gegen den Bolschewismus« als verbindende Konstante nutzen.

4.1 »Deutsche Jugend« und Nationalsozialismus »Nur wir, die wir diese Entwicklung der deutschen Jugend, diese totale Wandlung von der friedlich-pazifistischen zur staatlich gelenkten, nationalen und sozialistischen Gesinnung miterlebt haben, können die einmalige Wirkung dieser Lehre recht verstehen. Das Ausland hat ihr teils uninteressiert, teils brüsk ablehnend, immer aber verurteilend, ohne an die Wurzeln heranzugehen, gegenübergestanden. Es hat nicht erfasst, um was es uns ging. Es handelte sich wohl um die revolutionierendste Veränderung im europäischen Leben der letzten 25 Jahre überhaupt. Ob die Idee des Nationalsozialismus in ihrer reinen weltanschaulichen Lehre noch einmal aus der Welt zu bringen sein wird, nachdem Millionen Deutscher und Ausländer, Jungens und Mädels, Männer und Frauen, die Anfänge ihrer Verwirklichung in einer besseren Zeit, vor dem Kriege, der ihrer Vernichtung galt, kennengelernt haben?«3

Zu Beginn seiner Memoiren, die Isselhorst »Begegnungen« nannte, stellte er skeptisch diese Frage an den Leser, um darin mitzuteilen, dass der Nationalsozialismus seiner Meinung nach nicht in einer monoperspektivischen Weise zu beurteilen sei. Zunächst vollzog Isselhorst eine exklusive Abgrenzung in Bezug auf die Frage, wer überhaupt im Stande sei, den NS zu begreifen, beziehungsweise wer das Recht habe, über ihn zu urteilen. Er verortet sich hierbei ganz offensichtlich als einen Akteur der »deutschen Jugend«, das bedeutet, er sieht sich als Teil einer Generation, die gewisse Werte bereits vor dem NS vertrat. Diese Werte seien durch die NS-Bewegung gewandelt worden hin zu einer »staatlich gelenkten, nationalen und sozialistischen Gesinnung«. Gleichzeitig baut er einen Dualismus auf zwischen dieser »deutschen Jugend« und dem »Ausland«, welches nicht in der Lage gewesen sei, zu verstehen, was 2 Vgl. Depkat, Volker: Biographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit, S. 458f. 3 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 7f).

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BIOGRAPHISCHER SELBSTENTWURF

die tatsächlichen »Wurzeln« des NS waren. Dieser »Ausland«-Terminus impliziert, dass der »Osten« nicht hierzu zählte. Die Länder, auf die sich Isselhorst bezieht, gehörten zum christlichen Abendland, welches wiederum eine wesentliche Grundlage seiner Kultur-Argumentation bildet. Isselhorst versucht an dieser Stelle einen Vorwurf gegen die westlichen Alliierten zu erheben, der besagt, dass dieser wahre Charakter des NS auch nach Kriegsende nicht verstanden wurde und dass dieser entscheidende Wesenszug des NS auch zukünftig Bestand haben werde. Des Weiteren konzipierte Isselhorst in dieser Ausführung eine Kontinuität. Die NS-Zeit wird hier zu einem Katalysator der »deutschen Jugendbewegung«, die durch den NS die Verwirklichung jener Ideale zu erreichen versucht habe. Auf dieser Grundlage sei die Mitwirkung und aktive Beteiligung am NS quasi eine logische Folge gewesen, sofern man sich eben als Teil dieser Jugendbewegung gesehen habe. Doch was macht das »Nationalsozialistische« überhaupt aus? Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um als ein Nationalsozialist gewertet zu werden? Isselhorst ist bis zu seinem Tod ein bekennender Nationalsozialist gewesen. Doch nimmt er für sich in Anspruch, nur in gewissen Punkten der nationalsozialistischen Ideologie entsprochen zu haben, während er anderen Entwicklungen der NS-Zeit kritisch gegenüberstanden habe. Eine allgemeingültige Definition des »Nationalsozialisten« anhand bestimmter Kriterien stößt jedoch an ihre Grenzen, da sich zeitgenössische Selbst- und Fremdverortungen wie auch die wissenschaftliche Verwendung dieser Bezeichnung auf eine zu untersuchende Person oder Gruppe keineswegs in eindeutigen Rahmen bewegen. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass es die NS-Ideologie nicht gegeben hat.4 Steuwer und Leßau merken mit Bezug auf Hans Mommsen an, dass eine klare Abgrenzung bereits während der NS-Zeit kaum möglich war: »Die Annahme, während der nationalsozialistischen Herrschaft habe neben einem ›Kern von hundertprozentigen Nationalsozialisten‹ eine von ihm klar unterschiedene Gruppe an ›Sympathisanten‹ existiert, die allenfalls partiell mit den Nationalsozialisten übereingestimmt hätte, sei irrig und führe letztlich dazu, dass es den ›wirklichen‹ Nationalsozialismus nicht gab.«5 4 Vgl. Saage, Richard: War Hitler ein Utopist?; in: Dabag, Mihran u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 186–204, hier: S. 186f. 5 Steuwer, Janosch u. Leßau, Hanne: »Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?«. Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen; in: Mittelweg 36 (1), S. 30–51, hier: S. 32. Vgl. dazu die Aussagen von: Mommsen, Hans: Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime. Anmerkungen zur Historikerdebatte; in: Schulze, Winfried u. Oexle, Otto Gerhard (Hrsg.) Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2000, S. 265–273, hier: S. 270f.

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»DEUTSCHE JUGEND« UND NATIONALSOZIALISMUS

Die Gefahr, dass aufgrund der definitorischen Grenzen das nationalsozialistische Potential breiter Bevölkerungsteile vernachlässigt wird, besteht, wenn man sich mit den zeitgenössischen Bewertungen der Frage nach der Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus beschäftigt. Für alle diese Aussagen ist es daher wichtig, den zeitlichen Rahmen der Aussage zu beachten, denn es macht einen enormen Unterschied, ob die Aussage vor der Machtübernahme des NS, während des totalitären Regimes und des Krieges oder gar im Nachhinein getätigt wurde. Denn anders als in der Zeit vor der Machtübernahme, konnte nach ebendieser eine wirklich ungebundene Selbstverortung kaum noch vollzogen werden: »Wenn (politisch zulässige) Positionen nur noch unter Bezugnahme auf das Weltanschauungsvokabular des Nationalsozialismus formuliert werden durften, lässt sich aus dessen Verwendung nicht mehr stichhaltig auf die politische Überzeugung eines Sprechers rückschließen – einmal abgesehen von dem ganz grundsätzlichen Problem, inwieweit bestimmte Positionen überhaupt exklusiv für die NS-Ideologie waren.«6 [Denn] »in diesem ›politisch kontrollierte[n], aber intellektuell offene[n] Meinungsfeld […], das bloß auf einige Begriffshülsen verbindlich festgelegt war‹, habe ein ›breites Spektrum politischer, philosophischer und wissenschaftlicher Ideen‹ [nur] artikuliert werden können, solange sie anschlussfähig an die ›Leitbegriffe der NS-Weltanschauung wie Volk, Gemeinschaft, Führer und Rasse‹ [waren].«7

Dies stellte sich in der Frühphase des NS, also in den zwanziger Jahren, ganz anders dar, da hier andere, konkurrierende Positionen als Bezugspunkte ohne besondere Rücksicht verwendet werden konnten. Auch nach dem Krieg war die Bewertung wieder eine andere. Interessant daran ist die Tatsache, dass die Ego-Dokumente von Personen sowohl bei der Machtübernahme 1933 als auch mit dem historischen Bruch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine solche Reflexion der eigenen Person in ähnlichem Maße zeigen. In beiden Fällen musste das nunmehr neue System mit der eigenen, persönlichen Haltung und Einstellung reflektiert werden. Ein Merkmal, das in der Anfangsphase der NS-Herrschaft als persönliche Interpretation des NS aufgefasst wurde, konnte so 1945 als Beleg für die eigene Distanzierung zum NS herangezogen werden: 6 Steuwer, Janosch u. Leßau, Hanne: »Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?«. Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen; in: Mittelweg 36 (1), S. 30–51, hier: S. 35. 7 Ebd. S. 34f. Vgl. hierzu auch die Aussagen von: Raphael, Lutz: Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime; in: Geschichte und Gesellschaft Nr. 27 (2001), S. 5–40, hier S. 28f.

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»Vor einer solchen Folie konnten nach 1945 einstmals reklamierte Eigenständigkeiten als Belege für die Distanz zum Nationalsozialismus geltend gemacht werden, die zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft umgekehrt dazu beigetragen hatten, dass sich derart viele Deutsche zum NS-Regime bekannten.«8

Aus diesem Grund muss bei der Behandlung selbstpositionistischer Aussagen von Zeitgenossen, diese immer exakt mit den Fragen einhergehen: Wann und weshalb tätigt die Person eine solche Aussage? Der Begriff »Nationalsozialist« ist somit eine fluide Zuschreibung von ideologischen Komponenten und Erfahrungen, die jedoch individuell variierten und daher immer unter Berücksichtigung der biographischen und persönlichen Dispositionen des Betreffenden zu bewerten sind.9 Die Selbstpositionierungen von Erich Isselhorst zum Nationalsozialismus fallen mannigfaltig aus. Es fehlt an frühen Quellen, die eine solche Selbstpositionierung in der Phase vor der »Machtergreifung«, also den späten 20er Jahren, belegen könnten. Doch lässt seine frühe Verbindung zum Parteiapparat, beispielsweise durch seine Arbeit in der Kanzlei des Rechtsanwaltes Wenzel in Düsseldorf, den Schluss zu, dass Isselhorst bereits für die NS-Ideologie zugänglich war. Dass er die NS-Ideologie in den 30er Jahren auf beinahe sakrale Art und Weise verinnerlicht hatte, verdeutlicht eine Aussage aus dem Sommer 1935, in der er sich nach der Festnahme eines Geistlichen darüber echauffierte, dass »diese Herren glauben, im Stillen u. in der Öffentlichkeit gegen alles, was uns heilig ist, hetzen zu dürfen.«10 Allerdings war Isselhorst zu dieser Zeit maßgeblich beeinflusst von der zuvor durchlaufenen Ausbildungszeit bei der Gestapo, wodurch er die Ideologie sicherlich noch einmal durch eine intensivere Indoktrination kennengelernt hatte. Im Kriegstagebuch werden solche Selbstpositionierungen lediglich unterschwellig deutlich. Generell schrieb Isselhorst von »unserer« Sache – bezogen auf den Krieg – und auch sein Tatendrang und seine Vorfreude, die er zu Beginn seines Einsatzes zeigte, sprechen für seine linientreuen Überzeugungen. Ähnlich wie bei viele anderen Soldaten und Polizisten schien der bevorstehende Krieg eher eine euphorisierende denn eine beängstigende Vorstellung gewesen zu sein: »Der Abschied von Gustel am 16.I.42 in Düsseldorf war schwer; sie hat sich tapfer gehalten. Auch den Eltern ist es hart, nun beide Jungens draußen zu wissen, denn auch Hans kann jeden Tag mit seinem Truppenteil ausrücken. Doch haben sie Verständnis für die meine Lage und 8 Steuwer, Janosch u. Leßau, Hanne (2014): »Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?«. Zur Unterscheidung von Nationalsozialisten und anderen Deutschen; in: Mittelweg 36 (1), S. 30–51, hier: S. 49. 9 Ebd. S. 43f. 10 RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 15.07.1935).

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sind stolz, daß ihre beiden Jungens ›dabei‹ sein dürfen. Ich freue mich auf die Zeit, wo ich unter Kameraden leben und mich in einer Form an diesem Kriege beteiligen kann, die mir sympathischer ist als das Hocken am Schreibtisch einer Heimatdienststelle.«11

Im Verlaufe des Krieges schien seine Überzeugung vom NS gerade in den Situationen an Bedeutung zu gewinnen, in denen eine kritische Lage herrschte. So verband Isselhorst sein Schicksal und das seiner Familie explizit mit dem Schicksal des NS, wie dies in den Briefen Ende März 1945 deutlich wurde, in denen er vehement die Stärke des NS betonte und die Gläubigkeit an den NS von sich und seiner Frau einforderte.12 Die Zugehörigkeit zu einer überlegenen Gruppe und die Heroisierung einzelner NS-Größen hatten eine wichtige Bedeutung für Isselhorst. Ähnlich wie er Heydrich nach dessen Tod verehrte oder Hitler nach dem gescheiterten Attentat vom 17. Juli 1944, schaffte er durch diese heroische Aufwertung des deutschen Volkes eine Basis zum Durchhalten und Kämpfen. Am deutlichsten sprach er dies Ende August 1944 in einem Brief an seine Frau aus, in dem er die Gläubigkeit unmittelbar mit der Stärke der Deutschen gleichsetzte.13 Sowohl die Quelle vom 26 März 1945 als auch die Quelle von August 1944 greifen die Bedeutung der »Gläubigkeit« an den NS auf, an die Isselhorst in den Briefen an seine Frau appellierte. Diese Gläubigkeit darf nicht missverstanden werden als eine christliche Frömmigkeit. Isselhorst offenbarte in den beiden Krisensituationen in Straßburg und Berlin eine sakrale Haltung gegenüber dem NS und als überzeugter Anhänger des NS forderte er diese Gläubigkeit auch von seiner Frau ein. Seine Positionierung zum NS veränderte sich dann in den beiden Memoiren, die er in der Haft im Spätsommer 1947 anfertigte. In diesen ging Isselhorst detailliert auf seine Vergangenheit und seine allmähliche Annäherung an den NS ein. Es ist von erheblicher Bedeutung, dass diese Aussagen unter dem Vorbehalt verstanden werden, dass sie aus der Zeit nach 1945 stammen. Dennoch lassen sich Hinweise erkennen, die auf vorherige Einstellungen hinweisen. Hierbei zeigt sich, wie Isselhorst seine eigene Person als zunächst kritischer Beobachter des NS stilisierte. Die »Deutsche Jugend« spielte in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Denn diese begründete sein Engagement und seine Überzeugung zum NS in den Anfangsjahren. An dieser Stelle wird erneut die Anekdote aufgegriffen, die Isselhorst zu Beginn seiner Memoiren erzählte und die von einem Konflikt mit kommunistischen Mitarbeitern einer Düsseldorfer Firma handelte. Isselhorst beschrieb in dieser Anekdote, dass er aufgrund seiner Ablehnung 11 RW 0725 Nr. 11 (Einleitung). 12 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 26.03.1934 und Brief vom 27.03.1945). 13 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 29.08.1944).

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BIOGRAPHISCHER SELBSTENTWURF

zum Eintritt in die Gewerkschaft und des Pfeifens nationaler Lieder von »kommunistischen« Mitarbeitern angegriffen wurde und nur durch die Hilfe seiner nationalsozialistischen Kameraden den Angriff abwehren konnte. Ferner beschrieb Isselhorst den Zustand und die Hintergründe seiner Helfer mit den Attributen, wie er Sie aus der 1947 eingenommenen Position zur deutschen Jugend interpretierte: »Diese prächtigen Burschen konnten mir zwar keine tiefschürfenden Erkenntnisse über ihr politisches Glaubensbekenntnis verschaffen, dazu waren ihre Gedankengänge zu einfach. Aber ihr Tatwille, ihre Einsatzbereitschaft, ihre Kameradschaft machten einen tiefen Eindruck auf mich. Vor allem aber: sie dachten deutsch, sie litten unter der Not des Vaterlandes, unter der Not der deutschen Jugend, wie ich auch. Was Wunder, dass ich die Nazis mit kritischeren Augen zu betrachten begann.«14

Diese Anekdote ist prädestiniert dafür, einzelne Einstellungsmuster darzustellen, um Isselhorsts Selbstentwurf von 1947 aufzuzeigen. Zunächst ist der Zeitpunkt wichtig, denn die Geschichte spielt im Jahre 1928, also deutlich vor der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten. Isselhorst, der wie bereits gezeigt, sich als Teil einer »deutschen Jugendbewegung« sah, wird in dieser Geschichte aufgrund seiner Ablehnung zum Gewerkschafts- und Parteieintritt – als Symbole der kommunistischen Bewegung – und aufgrund seiner patriotisch-nationalen Einstellung (das Singen nationaler Lieder) von der »roten« Bewegung angegriffen. Nur durch die Hilfe seiner jungen »deutsch-denkenden« Helfer, die eben den Nationalsozialismus repräsentieren, kann Isselhorst den Angriff abwehren. Dies ist der Spiegel, unter dem er seine Biographie stellte. Zusammengefasst: Der patriotisch deutsch-denkende Akteur der »deutschen Jugend« sah in der Bewegung des NS die Möglichkeit, den Angriff des Bolschewismus abzuwehren. Die außerdem an dieser Stelle durchscheinende prätentiöse Haltung, in der sich Isselhorst als gebildeten und kritisch-rationalen Betrachter des NS sah, ist die Perspektive, aus der er seine Memoiren schrieb. Es ist weniger eine autobiographische Darstellung als eine autobiographische Bewertung und Interpretation der NS-Zeit. Der Übergang zwischen der abstrakten »deutschen Jugend« und dem Anschluss an die NS-Bewegung beschrieb Isselhorst anhand der Person Adolf Hitlers, dessen Wirken er grundsätzlich unter einer fatalistischmystischen Schablone betrachtete.15 Die Begeisterung für die Person Adolf Hitlers wird in zahlreichen anderen Beispielen während der gesamten NS-Zeit, aber erstaunlicherweise auch danach dokumentiert. Zudem veranschaulicht diese Passage erneut einen Aspekt seiner Position, für die sich Isselhorst in seinen Memoiren entschied. Er wählte die Rolle eines NS-Idealisten – also einer Person, die die tiefgründige Bedeutung des NS 14 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 5f). 15 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 6).

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verstand und versuchte zu verwirklichen. Diese präzisierte er in Verbindung mit der »deutschen Jugend«, die durch den NS eine Leitlinie erhielt: »Unser Deutschtum wurde gestärkt; die unbeschränkte Wehrhoheit, das Zeichen der vollen Souveränität eines Staates, wurde wieder eingeführt. Wir erlangten Weltgeltung! Wir sammelten die deutsche Jugend und gaben ihr einen fest umrissenen Erziehungsplan.«16

Isselhorst entwickelte in den ersten Seiten seiner Memoiren den Übergang seiner Person als Teil der Jugendbewegung hin zum gestaltenden Akteur der NS-Bewegung durch seine Arbeit bei der Staatspolizei und der damit verbundenen Unterstützung der NS-Bewegung. Dass die besagte »Deutsche Jugend« und der ihr zugeschriebene Idealismus keine von Isselhorst singulär empfundene und in dem Zusammenhang erinnerte Facette dieser »Generation« war, lässt sich beispielsweise auch in zeitgenössischen Darstellungen bei Sebastian Haffner über die Zwischenkriegszeit erkennen. Ähnlich wie Isselhorst beschrieb auch dieser den eigentümlichen Charakter und das Selbstbewusstsein der »Kriegsjugendgeneration«.17 Die »Deutsche Jugend« als generationenverbindendes Konstrukt wurde auch von der NS-Führung selbst hervorgehoben und einerseits durch die Gleichschaltung der Jugendorganisationen sowie durch die Struktur und das pädagogische Konzept in der HJ forciert. Zudem wurde die Terminologie der »deutschen Jugend« in diversen Reden von führenden NS-Funktionären verwendet.18 Freilich kann man dieser Generationenzuschreibung entgegenhalten, dass sie selbst ein Ausdruck der NS-Propaganda gewesen und von dieser instrumentalisiert worden sei. Andererseits würde eine derartige ideologiekritische Analyse die Problematik aussparen, dass sehr wohl zeitgenössische Wissensmuster bei Personen wie Isselhorst existierten, an denen der propagierte Terminus der »deutschen Jugend« anknüpfen konnte.19 Die Zugehörigkeit zu dieser Jugendbewegung postulierte 16 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 8). 17 Vgl. Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, 5. Auflage, Stuttgart/München 2000 (zuerst 1939), S. 21–92. Haffner spricht hierbei wiederholt von der Eigentümlichkeit und dem später in der Weimarer Republik entstanden Idealismus vieler Angehöriger der »deutschen Jugend«. 18 Vgl. Buddrus, Michael: Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, 2 Bände, Bd. 1, München 2003, S. 25ff. Vgl. auch: Miller Kipp, Gisela: »Totale Erfassung« – aber wie? Die Hitler-Jugend: Politische Funktion, psychosoziales Funktionieren und Momente des Widerstands; in: Beckert, Stephanie u. Studt, Christoph (Hrsg.) »Und Sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben«. Funktion und Stellenwert der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände im »Dritten Reich«, Berlin 2012, S. 87–104, hier: S. 87ff. 19 Vgl. Brehl, Medardus: Vernichtung der Herrero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, München 2007, S. 51f.

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Isselhorst in seinen Memoiren wiederholt. Der Rekurs auf die Jugendbewegung wirkte gewissermaßen als Bindeglied zwischen Weimarer Zeit, NS-Zeit und seiner Nachkriegsgeschichte. Die Überschneidungen lesen sich im Zusammenhang als eine logische Abfolge seiner Überzeugungen und Handlungen – freilich ein Ausdruck des Kohärenzwillens, dem Isselhorsts narrative Selbstverortung unterlag. Die Verbindung zwischen seiner Jugendzeit und seiner aufkommenden NS-Begeisterung wurde hierbei durch die Zuschreibung zur Generation der »deutschen Jugend« maßgeblich geprägt, die das Ziel verfolgte, wie er in seinen Memoiren beschrieb, »eine bessere Welt zu schaffen.«20 Deutlich wird hier der konstruktive Gestaltungsdrang, der von Isselhorst für die »Deutsche Jugend« beansprucht wurde. Verändern bedeutete für ihn das Erschaffen von etwas Neuem – ein wesentlicher und in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzender Faktor für die Rechtfertigung seines Handelns. Denn hier wird der Schaffensprozess mit einem generationellen Auftrag verbunden. Ein Aspekt, der in der vergleichenden Genozidforschung als bedeutender Faktor für die Konstitution einer Tätergesellschaft angesehen wird.21 In die Schneise der »deutschen Jugend« trat auch ein darauffolgendes Zitat aus seinen Memoiren: »[…] Mir dämmerte, dass dort eine Bewegung stand, die der suchenden Jugend etwas geben konnte, was sie im tiefsten Innern ansprach, obwohl es so ganz anders war als das, was ich in meinem ständigen Streben nach einem besseren Leben in meinem deutschen Vaterlande und in der Welt kennenzulernen und zu finden gehofft hatte.«22

An dieser Stelle tritt die perspektivische Dopplung seiner Memoirenschrift zutage. Einerseits sieht er sich selbst als Teil der Jugendbewegung, während er auf der anderen Seite diese als historischer Beobachter in den Gesamtzusammenhang der NS-Zeit einbaute. Gleichwohl wird der NS-Bewegung eine erlösende Wirkung zugesprochen, die der »suchenden Jugend« einen Sinn gegeben habe. Isselhorst als Teil dieser Generation führte an dieser Stelle sein Streben nach »einem besseren Leben« sowohl mit einem deutschen Patriotismus als auch mit der »Welt« eng. Gegensätze werden so in einem Konglomerat gehalten, aus dem Isselhorst all die Attribute herausziehen konnte, die seinem Selbstentwurf entsprachen. Daraufhin verknüpfte Isselhorst dieses Konglomerat und die »Deutsche Jugend« mit der Person Adolf Hitlers: 20 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 4). 21 Vgl. Dabag, Mihran: Gestaltung durch Vernichtung. Politische Visionen und generationale Selbstermächtigung in den Bewegungen der Nationalsozialisten und Jungtürken; in: Ders. u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 142–171. 22 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 5f).

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»Was sie [gemeint sind die Worte Adolf Hitlers, Anm. d. Verf.] der deutschen Jugend anboten, war als ein Ventil für ihren Idealismus gegeben. Sie kamen unserem Verlangen nach Kameradschaft entgegen, sie gaben uns ein Gefühl des Vertrauens, sie beseitigten das Minderwertigkeitsbewusstsein. Sie lehrten, die Entbehrung und die Disciplin auf sich zu nehmen und gehorsam zu sein, ohne Einschränkung. Sie forderten die Abkehr vom Internationalismus und die Wendung zum nationalen Sozialismus hin.«23

Als Ideale dieser Bewegung nannte Isselhorst abstrakte Werte wie die körperliche Ertüchtigung, die Klassenlosigkeit und die Gemeinschaftserziehung – Punkte, die er auch bei der Beschreibung der Olympischen Spiele in Berlin 1936 wiederzuerkennen suchte: »Mit der Olympiade 1936 in Berlin bereitete die deutsche Jugend allen Völkern ein Friedensfest, das in dieser Form bisher auf der Welt unerreicht war. Mit welcher Begeisterung empfing Deutschland damals seine Gäste aus allen Ländern der Erde, mit welchem Jubel begrüsste es die sportlichen Abgesandten aller Nationen! Wer dachte damals an Krieg? […] Offenen Herzens streckten wir erneut der Welt unsere Hand zur übervölkischen Freundschaft hin, diesmal im Bewusstsein unserer eigenen Stärke, nicht mehr als Bettler. Hat die Welt diese ausgestreckte Hand ebenso offen angenommen? Nein, denn sie neidete uns dieser Entwicklung zur völkischen und staatlichen Macht und Einheit.«24

Deutlich wird der Dualismus zwischen der »deutschen Jugend« respektive der NS-Bewegung und der restlichen Welt, die den pazifistischen Kern und die Werte der Jugendbewegung nicht erkennen wollte. An späterer Stelle wurden die Olympischen Spiele erneut als Beleg für diese Charakteristika der Jugendbewegung herangezogen: »Ich bin der festen Überzeugung, dass jeder unvoreingenommene und objektiv-urteilende, passive und aktive Teilnehmer nur ein günstiges Bild von dem Geist des Friedens im damaligen nationalsozialistischen Deutschland gewonnen haben wird. Er wird allerdings auch einen Eindruck von der Kraft erhalten haben, die sich in der Kürze der Jahre des nationalsozialistischen Einflusses auf die körperliche und geistige Erziehung und Ertüchtigung der deutschen Jugend in einer Weise ausgewirkt hatte, die unsere Sportjugend von einem bis dahin verhältnismässig unbedeutenden Platz in der sportlichen Weltrangliste mit einem unerwarteten Elan an die Spitze aller Nationen trug. Aber gerade das war für viele, ängstlich beobachtende Ausländer, die aber nur mit ›Sicherheitsfaktoren‹ zu rechnen pflegten, wohl auch der Beweis für die politische Gefahr dieses neuen Deutschlands. Was sich hier den erstaunten und bewundernden Augen der Welt auf dem friedlichen, grünen Rasen und 23 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 6f). 24 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 8).

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der Aschenbahn darbot, konnte und musste es nicht ein Zeichen für die elementare Macht sein, mit der dieses Deutschland auch die Entscheidungen auf den übrigen Kraftfeldern des Völkerdaseins und Völkerringens suchen und finden werde? Wir dachten zwar nicht so, wenn auch der Verlauf der Olympiade unseren nationalen Stolz und unser Selbstbewusstsein hob und uns einmal mehr mit Dank erfüllte gegenüber dem Manne, der dies fertig gebracht hatte.«25

Isselhorst schrieb den Dualismus konsequent weiter. Der zuvor erwähnte Neid des Auslandes auf die innerdeutsche Entwicklung wird zugleich mit einer Angst vor der nun auf körperlicher und geistiger Ebene wiedererstarkten »deutschen Jugend« in Verbindung gesetzt. Die Olympischen Spiele dienten somit der Veranschaulichung des großen Missverständnisses des Auslandes, das darauf beruhte, dass man in der pazifistischen Wiedererstarkung der »deutschen Jugend« eine Gefahr sah. Die Verbindung zwischen der »deutschen Jugendbewegung«, dem Aufstieg des NS und die gesamtdeutsche Erstarkung wurde von Isselhorst auf eine Person projiziert: Adolf Hitler.

4.2 Führerglaube und Christentum Adolf Hitler war für Isselhorst der zentrale Bezugspunkt zum Nationalsozialismus. Er war die Figur, die Isselhorst durch seine Ausstrahlung und sein imposantes Auftreten bei öffentlichen Veranstaltungen und Reden beeindruckte und ihn für den Nationalsozialismus begeistern konnte. Dies belegen sowohl die Aussagen seiner Memoiren über die Studienzeit als auch seine zeitgenössischen Briefe in den 30er Jahren. Die gesamten Aufzeichnungen in Bezug zu Hitler lassen den Schluss zu, dass die Person Hitlers als Konstante des NS einen nahezu unantastbaren Stellenwert für Isselhorst einnahm und dessen Hingabe bis kurz vor Ende des Krieges sogar zu steigern vermochte. Tatsächlich traf Isselhorst in den ersten Jahren bei der Gestapo regelmäßig auf Hitler, was letztendlich an seiner Stellung als Leiter der verschiedenen Leitstellen der Sicherheitspolizei lag, in deren Verantwortungsbereich eben auch die Sicherung von Gebäuden und Auftritten des »Führers« angesiedelt war. Bereits 1935 konnte Isselhorst, damals Leiter der Sipo in Erfurt, bei einem Nietzsche-Jubiläum, an dem auch Hitler teilnahm, Erfahrungen in der Begleitung eines solchen Auftrittes sammeln. Mit seinem Wechsel nach Köln im Februar 1936 änderte sich jedoch auch die Dimension einer derartigen Bewachung. Hitlers Ankunft mit am Kölner Hauptbahnhof beschrieb Isselhorst in seinen Memoiren ausführlich: 25 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 39 nach Einschub).

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»Hitler kam mit seinem Sonderzug auf die Minute pünktlich im Hauptbahnhof an, wo die Spitzen der Behörden der Provinz Rheinland zum Empfang und Vorstellung versammelt waren. Es war für mich das erste Mal in meinem Leben, dass ich Hitler […] Auge in Auge gegenüberstehen sollte. […] Ich habe bei dieser Gelegenheit eine typische Eigenart der persönlichen Wirkung Hitlers kennengelernt, über die viel gesprochen worden ist: sein fesselnder Blick! Wen er einmal erfasst hatte, den liess er nicht mehr los. Wenigstens schien es dem Betroffenen so. Man war einfach machtlos im Banne dieser Augen, die sich festzusaugen schienen! […] Nach einiger Zeit tritt Hitler mit Ihnen und anderen Persönlichkeiten aus dem Wagen-Inneren auf die Plattform, ohne aber hinauszusteigen. Er spricht mit seiner Begleitung und schaut dabei auf uns, auf mich! Wie soll ich mich verhalten? Muss ich schon grüssen? Er befindet sich doch praktisch noch in einem geschlossenen Raum, von uns getrennt, wenn auch nur um 4 oder 5 Meter, so repetiere ich schnell die ›Grüss-Pflichten‹, also ruhig stehen bleiben! Ich weiss nur nicht, wie ich auf diesen Blick reagieren soll, den er dauernd und fest auf mich gerichtet hält. Ich fühle, dass meine Nebenmänner sich ebenfalls rühren. Dann gebe ich mir einen inneren Ruck, reisse meine Augen los und stelle die kurze Frage an meinen rechten Nebenmann: ›Was machen?‹ Der flüstert zurück: ›Wenn er doch nur herauskäme!‹ Ich lasse vorsichtig meine Augen wieder zur Plattform des Wagens schweifen. Aber wenn ich gehofft habe, dass Hitler in diesen Sekunden ein anderes Betrachtungsobjekt gefunden hat, so irre ich mich. Sein Blick steht immer noch fest auf mich gerichtet! Aber nun halte ich eisern aus und schaue ihm gerade und fest in die Augen. Er lässt den Blick nicht von mir, bis er schliesslich den Wagen verlässt und damit die allgemeine Spannung löst.«26

Dass Isselhorst diese detaillierte Erzählung in seinen Memoiren schilderte, verdeutlicht den mystischen Stellenwert, den Isselhorst der Person Hitlers einräumte und der auch für seinen Selbstentwurf von Bedeutung war. Das Wirken Hitlers ist eben nicht nur durch politische Handlungen, sondern auch durch die Person selbst erfahrbar. Diese Wirkungsbeschreibung ist Teil einer kultischen Verehrung, die Isselhorst in den Jahren des NS und noch danach in seinen retrospektiven Quellen manifestierte. Eine Begegnung mit Adolf Hitler war sicherlich eine einprägsame Erfahrung, doch zeigt sie auch die nach wie vor geltende Ehrfurcht vor der Person. Für Isselhorst waren die Begegnungen mit Hitler immer auch nervenaufreibend und anstrengend, so wie er zusammenfasst: »Alle späteren, gleichlaufenden oder ähnlichen dienstlichen Ereignisse hatten ein und dieselbe Wirkung bei mir: ich war, bei aller positiven inneren Einstellung zu Hitler, bei aller persönlichen Verehrung und Begeisterung, glücklich, wenn er sich verabschiedete und meinem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich den Rücken zugekehrt hatte! Es war 26 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 36f).

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doch ein gewaltiger Unterschied, ob man lediglich als verantwortungsloser Zuschauer ›dabei‹ war, oder ob man das alles unter dem Druck einer dienstlichen Aufgabe miterlebte!«27

Diese Beschreibungen lassen durchaus Parallelen erkennen zum Konzept des »autoritären Charakters«, da dieses »persönliche Gefolgschaftsverhältnis« zwischen Hitler und Isselhorst weit über eine normale Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen hinauszugehen scheint. Selbst in der zehn Jahre alten Erinnerung werden detailliert die Ängste und Befürchtungen anhand von Mimik und Haltung Hitlers hervorgebracht. Ob diese Anekdote der Beleg für eine »Mafia-typische psychische Struktur« innerhalb des Vernichtungsapparates darstellt, müsste anhand von weiteren Beschreibungen untersucht werden.28 Zumindest ist es ein Indiz für die autoritäre Beziehung zwischen Isselhorst und Hitler und ganz ähnlich wurde dies auch bei den Beschreibungen von Reinhard Heydrich deutlich. Andererseits gab es auch Personenbeschreibungen von Isselhorst, die diesem Beziehungsmuster nicht entsprachen. Von den Olympischen Spielen 1936 in Berlin schilderte Isselhorst in seinen Memoiren weitere Beobachtungen von Hitler, den er auf der Ehrentribüne sitzend, erlebte: »Nachdem er einmal von der allgemeinen Stimmung gefangen und dem bei solchen sportlichen Grosskämpfen eigenen Milieu gepackt war, offenbarte sich diese seine Leidenschaftlichkeit und Begeisterung in den natürlichsten Formen. Wie ging er bei den einzelnen Kämpfen mit! Bei einem Schwimmwettkampf im Rahmen des ›Modernen Fünfkampfes‹ beobachtete ich, unmittelbar hinter ihm sitzend, mit Vergnügen, wie er mit beiden Händen seine Oberschenkel rieb, den ganzen Körper im Takte der Schwimmbewegungen vor- und zurückwiegend, und als der deutsche Teilnehmer dieses Rennen gewann, warf er ganz spontan vor Begeisterung die Arme hoch! Wie konnte er sich freuen, wenn ein Deutscher in einer Konkurrenz Sieger blieb! Wie strahlte er, wenn er diesen oder jenen hervorragenden Olympioniken zu seinem Sieg beglückwünschte, gleichgültig, ob es ein Ausländer oder ein Deutscher war! Wie tröstete er väterlich jene vier deutschen Mädels, die bei der 4x100 Meter-Staffel im letzten Wechsel, weitaus führend, den Staffelstab verloren und dadurch den sicheren Sieg verschenkt hatten. Aus vier untröstlichen, zerknirschten, weinenden Geschöpfen machte er mit wenigen Worten, mit einem beruhigenden Streicheln seiner Hand vier strahlende, glückliche Menschen!«29 27 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 38). 28 Vgl. Kramer, Helgard: Tätertypologien; in: Dies. (Hrsg.) NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, S. 253–310, hier: S. 281f. Der Terminus »persönliches Gefolgschaftsverhältnis« geht zurück auf Karin Orth und wurde von ihr für das Verhältnis zwischen Höß und Himmler als charakteristisch eingeschätzt. 29 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 40).

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Diese Beschreibung steht in der Kontinuität mit dem von Isselhorst geprägten Bild des Nationalsozialismus als Katalysator der »deutschen Jugend«. Hitler macht keinen Unterschied zwischen Ausländern und Deutschen, genau wie die als pazifistische Jugendbewegung gekennzeichnete »Deutsche Jugend«. Er wird vielmehr als eine Person beschrieben, die auch »natürliche« Züge besaß. Gleichzeitig jedoch werden hier christliche Bilder verwendet, um die übernatürliche Wirkung Hitlers zu illustrieren. Hitler wandelt alleinig durch Handauflegung, Kummer und Schmerz zu Glückseligkeit. Ein Bild, das Isselhorst auch auf Deutschland generell projizierte. Die Ambivalenz zwischen Aura und übernatürlicher Kraft Hitlers wurden von Isselhorst in seinen Memoiren ebenfalls bei der Beschreibung eines Besuchs aufgegriffen, den Hitler 1938 nach dem Anschluss Österreichs in Kärnten machte und dem Isselhorst als kurzfristiger Leiter der Stapo-Stelle Klagenfurt beiwohnte: »Da erschien plötzlich eine Delegation von Frauen und Mädchen aus den verschiedenen Teilen des Landes, alle in der farbenprächtigen, für jeden Landstrich und jedes Gebirgstal unterschiedlichen ›Tracht‹, mit Körben voll Blumen und Geschenken. Sie waren stunden-, ja tagelang unterwegs gewesen, und hatten nun keinen geringeren Wunsch, als Hitler sprechen und ihm ihre Geschenke überreichen zu dürfen. Konnte ich es wagen, ihr Begehren an Hitler herantragen zu lassen? […] Aber die Frauen baten so herzlich bewegt und mit Tränen in den Augen, Hitler wenigstens aus nächster Nähe sehen zu dürfen, dass ich mich nach Rücksprache mit Rattenhuber und Sepp Dietrich entschloss, sie im Hotel-Foyer Aufstellung nehmen zu lassen, mit der strikten Anweisung, sich unaufgefordert nicht vom Platz zu bewegen. Welche Freude, welche Dankbarkeit! Überall lachende Gesichter, strahlende Augen! Da kommt Hitler die Treppe hinunter. Und was geschieht? Als er auf die erste, glückliche der Frauen zugeht, stammelt sie fassungslos einige Worte und bricht in Tränen aus! Tränen der Freude und tiefen Ergriffenheit, die alle anderen anstecken! Tränen aus strahlenden Augen! Hitler geht von einer zur anderen, ihnen die Hände drückend, ihnen mit leichten, zarten Bewegungen über die Wange streichelnd oder die Linke auf die Schulter legend. Schweigend geht dies alles vor sich, nur von dem Schluchzen der Frauen unterbrochen. Als sich Hitler von der letzten wegwendet, um sie noch einmal zu verabschiedend zu grüssen, sehe ich, dass ihm selbst Tränen in den Augen stehen, und manchem von uns rollte es nass über die Backen. Es war ein Augenblick, den ich nie vergessen werde! […] Bestellte Begeisterung, theatralisches Spiel? Nein, wahrstes, echtestes, ergreifendstes Gefühl! Ausdruck der Erlösung, der Dankbarkeit! Schwur der Treue! Das war der Hitler, wie das Volk ihn kannte und liebte! Das war zumindest ein anderer Hitler als der, der heute vor der Menschheit als der ›grösste Verbrecher aller Zeiten‹ dasteht.«30 30 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 41f).

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Diese Beschreibung erinnert ebenfalls an christliche Vorbilder, die Isselhorst für die Attribuierung Hitlers benutzte. Aus allen Teilen des Landes kommen die Frauen, um dieser Person Geschenke zu bringen, um ihr nah zu sein. Der Augenblick der Begegnung, der durch die Freudentränen aller Akteure widergespiegelt wird, das Gefühl der Erlösung und die historische Tat – dies alles verdeutlicht abermals die sakrosankte Verehrung Hitlers durch Isselhorst. Diese religiöse Verortung ist von nicht geringer Bedeutung für die Legitimation seiner eigenen Handlungen. Denn er kann durch die Übernatürlichkeit der Person eine Grundlage schaffen, in der das außergewöhnliche historische Ereignis seine Handlungen legitimieren wird. Die Umschreibung von Hitler: Das Handauflegen, das Weinen aus Freude, das Gefühl der Erlösung nach der vollbrachten Tat – dies sind christlich geprägte Bilder, die von Isselhorst verwendet werden, um Hitler zu sakralisieren.31 Der unerschütterliche Glaube, den Isselhorst der Person Adolf Hitlers entgegenbrachte, wird an zahlreichen Stellen in Briefen und den Memoiren, vor, während und nach dem Krieg deutlich. Tatsächlich ist diese Hingabe ein Aspekt des Nationalsozialismus, der für Isselhorst eine so gewichtige Bedeutung besaß, dass er ihn bis hin zu seiner Hinrichtung beibehielt und ihn auch in seinen persönlichen Aufzeichnungen aufgriff. Adolf Hitler hatte für Isselhorst eine herausragende Bedeutung und dies auch in einer schöpferischen Dimension. Deutlich ausgeprägt findet sich dieses Narrativ in den Beschreibungen der künstlerischen Begabung Hitlers bei seinen zahlreichen Atelier-Besuchen in München: »In solchen Stunden – und deren gab es viele in seinem Leben […] – lebte er ganz seiner zweiten Leidenschaft, der Kunst. Dann war er ganz von ihr eingefangen, fern jedem weltlichen Getriebe, fern aller politischen und staatsmännischen Gedanken. Dann aber auch konnte er schwärmen und schwelgen in all den Plänen repräsentativer Gebäude […]. Dann war sein lebhafter Geist schon wieder 10, 20 ja 50 Jahre weiter und sah ein schöneres Deutschland, ein mächtiges Reich mit einem glücklichen Volk erstehen! […] Ich sah einmal im Atelier Prof. Giessler die Entwürfe, die Reliefkarten und Miniaturbauten einer Reihe von städtebaulichen Planungen, alle im Wesentlichen auf Ideen und Anregungen Hitlers fussend. Wären sie zur Durchführung gekommen – und sie wären es, wenn er und sein Reich nicht untergegangen wären –, dies Deutschland hätte nicht nur Aufsehen, sondern auch Bewunderung gefunden. […]32

Isselhorst beschrieb Hitler als einen Visionär, der das Deutsche Reich nicht nur politisch sondern auch architektonisch verwandelte. Dieses 31 Von Hehl, Ulrich: Sakrales im Säkularen? Elemente politischer Religion im Nationalsozialismus; in: Erkens, Franz-Reiner (Hrsg.) Die Sakralität von Herrschaft. Herrschaftslegitimierung im Wechsel der Zeiten und Räume, Berlin 2002, S. 225–244, hier: S. 239f. 32 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 60 n.E.).

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Zukunftsausrichtung, in der das Deutsche Reich »schön«, »mächtig« und das Volk »glücklich« sein würde, offenbart eine eschatologische Dimension in der Person und dem Handeln Adolf Hitlers. Um diese Wandlung und die Einflussnahme auf die Kunst zu legitimieren, vollzog Isselhorst unmittelbar darauf einen Vergleich zur Sowjetunion: De gustibus non est disputandum! Jedes Zeitalter, erst recht eine derart umwälzende weltanschaulich revolutionäre Epoche drückt auch der Kunstauffassung ihren Stempel auf. Ist es in der Sowjet-Union anders? […] Kann man wirklich von einer ›Kunst in Fesseln‹ sprechen? Wenn eine alle Lebensgebiete umfassende revolutionäre Idee sich wirksam durchsetzen will, so wird die zwangsläufig zu dem Mittel einer gewissen Geschmackslenkung greifen müssen. Das ist auf dieser Welt immer so gewesen und wird auch immer so bleiben. Auch dafür ist, in viel extremerer Weise, die Sowjet-Union ein lebendiges und anschauliches Beispiel. Wer will denn heute wissen, wie die Nachwelt über die Kunstwerke der HitlerEpoche geurteilt haben würde, wenn sie ihr erhalten geblieben wären? Es ist müssig, diese Frage aufzuwerfen, denn die Zeichen dieser Zeit sind vernichtet, und was von ihnen der Krieg nicht in Trümmern gelegt hat, das hat in den Nachkriegsjahren seine Zerstörung gefunden. Nichts soll mehr erinnern an jenen Mann, der sich vermass, ein ›tausendjähriges Reich‹ aufbauen zu wollen. Doch halt, eines besteht noch: die Reichsautobahnen! […] Diese Strassen werden bleiben, was sie waren und sind: ein immer lebendiger Beweis nicht nur der Kraftanstrengung und der Machtentfaltung, sondern auch der Architektur des 3. Reiches, der ›Ära Hitler‹.«33

Der Vergleich zur Sowjetunion schafft für Isselhorst eine Legitimation für die Maßnahmen der NS-Bewegung auf architektonischer Ebene. Gleichzeitig stellt Isselhorst die Frage, wer berechtigt sei, über diese Veränderungen zu urteilen. Das Beispiel der Autobahnen wird herangezogen, um zu belegen, dass diese baulichen Veränderungen von Hitler und dem NS eine positive Bedeutung für das Deutsche Reich hatten, die auch in der Zukunft bestand haben werden. Dieser »Hitler-Mythos« wird verwendet, um die deutsche Geschichte auf den »Führer« zuzuspitzen. Hitler wurde von Isselhorst in eine historische Kontinuität gesetzt, die über das Kriegsende hinaus Geltung beanspruchte. »Zwar wurden der nationalsozialistische Rassenwahn, die Genozidund Kriegspolitik als Gründe für die deutsche Katastrophe gesehen, aber ›seine Leistungen‹ wie ›Kraft durch Freude‹, der Autobahnbau, der Wirtschaftsaufschwung und die Vollbeschäftigung wurden von einigen positiv erinnert, wobei die Gründe beziehungsweise der gesellschaftliche ›Preis‹ für diese Maßnahmen ausgeblendet wurden.«34 33 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 60f n.E.). 34 Hein-Kircher, Heidi: »Deutsche Mythen« und ihre Wirkung; in: APuZ Nr. 13/14 (2013), S. 33–38, hier: S. 36.

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Hitler wurde von Isselhorst als ein Architekt, ein Ventil der Idealisten, ein Heiler, ein Künstler gesehen. Doch beanspruchte Isselhorst nach dem Krieg auch eine kritische Distanz zum »Führer«. Als Isselhorst seine Memoiren nach dem Krieg verfasste, sah er sich als kritischer Beobachter und Mahner des NS und erkannte nach dem Krieg, dass auch der Führer eine »menschliche« Seite besaß: »Was ich über Hitler dachte, wie ich zu ihm stand? Nun, zunächst nicht anders als die Millionen der übrigen Deutschen auch! Ich verehrte ihn, ich liebte ihn, ich dankte ihm, ich war stolz auf ihn! […] Aber ich war nie ein Freund dieses Vergötterungskultes, der vor 1933 von seinen Anhängern und nachher von der Masse des Volkes mit ihm getrieben wurde. […] Auch er war nur ein Mensch! Ein Mensch, wie ihn in dieser Form die Menschheitsgeschichte nur in ganz seltenen Exemplaren aufzuweisen hat. Ein Mensch mit fast übernatürlich wirkenden Gaben ausgestattet, ein Mensch mit einmaligen Wirkungen durch Wort, Gehaben und Tat auf seine Zeitgenossen – aber auch ein Mensch mit Schwächen und Fehlern, wie wir alle! Ein Mensch, der, von seiner eigenen Dynamik getragen und fortgerissen, mit revolutionären Ideen sein Reich, das ›tausendjährige, grossdeutsche Reich‹ bauen und den jahrhunderte alten Traum der Deutschen verwirklichen wollte, und der dabei die alten Auffassungen der Welt über Staatskunst und Staatsführung, über Wirtschaftsdenken, über Religion, über Ethik, über Rasse aus den Angeln zu heben drohte. Auffassungen, die, das Kind beim rechten Namen nennend, sich gegen jene Mächte anstemmten, die seit Jahrhunderten als unanfechtbare Faktoren sowohl in der Güterverteilung dieser Welt als auch in der Frage der Menschenrechte und Menschlichkeitswerte zu gelten Anspruch erheben.«35

In seinen Memoiren nahm Isselhorst eine auktoriale Erzählperspektive ein, in der er freilich für sich beanspruchte, den Personenkult um Hitler schon während der NS-Zeit kritisch gesehen zu haben. Die verschiedenen zeitgenössischen Quellen, insbesondere aus der Endzeit des Krieges belegen dagegen, dass Isselhorst ebendiese kritische Haltung gegenüber Hitler nicht besaß. Da Isselhorst sich nunmehr aber wieder dem christlichen Glauben zugewandt hatte und eine solche gottgleiche Verehrung einer Blasphemie gleichkommen würde, wurde seine eigene Einstellung umgedeutet. Verbunden wurde diese Umdeutung mit einem bereits erläuterten Vorwurf gegenüber dem Ausland, den wahren Sinn des NS nicht erkannt zu haben, nämlich dem Kampf gegen den »internationalen Sozialismus«, dessen »Gespenst eine nicht mehr zu übersehene Realität geworden [sei].«36 Isselhorsts neue Haltung gegenüber Hitler und dem NS wurde da­ raufhin auch auf einer analytischen Ebene fortgesetzt, indem er Hitlers Herrschaftspraxis kritisierte: 35 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 61f n.E.). 36 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 62 n.E.).

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»Ich erkannte, dass bei all seiner Intelligenz, bei all seinen Fähigkeiten, bei all seiner Kunst der Staats- und Volkslenkung, bei seiner wirklichen Einmaligkeit, gerade in der ›Vergötterung‹, in der Isolierung Hitlers der grosse und tragische Fehler lag. Das trat mit eruptiver Gewalt besonders von dann ab zutage, als Hitler sich nicht nur als überragender Politiker und Staatsmann und als der Träger einer revolutionären weltanschaulichen Idee, sondern auch als unschlagbarer Feldherr fühlen zu können glaubte. Seine Überzeugung war, dass er berufen sei zur politischen Reformation Deutschlands, vom europäisch-kontinentalen Blickpunkt aus gesehen und weltmacht-politischen Aspekten. Sein Glaube war, dass dieses Ziel innerhalb eines Lebensabschnittes und nur von ihm erreicht werden musste. Aus diesem Glauben, aus dieser Überzeugung resultieren seine Massnahmen – und seine Fehler! Diese persönliche Einstellung zu den gesteckten Zielen, in Verbindung mit dem vielfachen Versagen seiner Umgebung sowie den tragischen Enttäuschungen, die ihm ein Strasser, ein Röhm, ein Hess bereitete, liess ihn zu dem später unnahbaren Despot werden, der Mass und Ziel verlor!«37

Isselhorsts Kritik an Hitlers Fähigkeiten als Feldherr, die er freilich nach dem Krieg formulierte, deckt sich hierbei mit der Forschungsmeinung zum Kriegsgeschehen im Ostfeldzug. Hitler wurde seit 1940 als »Größter Feldherr aller Zeiten« (Gröfaz) von der Propaganda stilisiert und von einigen Generälen verehrt, obgleich andere Führungskräfte Vorbehalte gegenüber seinen Strategien hatten.38 Zahlreiche militärische Fehlentscheidungen gehen unmittelbar auf Entscheidungen Hitlers zurück, wurden jedoch auch von willfährigen Militärs konsequent umgesetzt. Dass diese Entscheidungen alleine für die militärische Niederlage verantwortlich waren, wie dies beispielsweise in dem autobiographischen Werk des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein »Verlorene Siege« ausgeführt wird und in dem Manstein die Niederlage des Krieges alleinig Hitlers Dilettantismus anlastet, muss jedoch kritisch gesehen werden.39 Doch existierten spätestens mit der Niederlage von Stalingrad Stimmen im Militärapparat, die Hitlers Feldherrntum kritischen sahen. Auf diese zeitgenössischen Vorstellungen wiederrum konnte Isselhorst zurückgreifen, als er an dieser Stelle Hitlers Rolle als militärischer Feldherr in Frage stellte. Isselhorsts Kritik an der militärischen Führung Hitlers wird in seinen Memoiren darüber hinaus verbunden mit der Kritik an diversen militärischen Befehlshabern: Seine ›Unfehlbarkeit‹, mehr oder weniger von seiner engsten Umgebung emporgezüchtet, erlitt die heftigsten Stösse; sein politisches Bekenntnis 37 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 62 n.E.). 38 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerschaft, Verbrechen 1919–1945, München 2009, S.191f. 39 Vgl. Benz, Wolfgang: Die 101 wichtigsten Fragen. Das Dritte Reich, 3. Auflage, München 2013 (zuerst 2006), S.76f.

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wurde zu einem steuerlosen Wrack im Orkan der sich überstürzenden Ereignisse. In diesen Zeiten zeigte es sich, dass sein Genie verbraucht war! Den sinkenden Stern verliessen mit wenigen Ausnahmen die, die er zu sich [durchgestrichen: seiner Sonne] emporgezogen hatte. Und sie verliessen ihn nicht nur: sie belogen und betrogen ihn, ja sie verrieten ihn. Die Würden und Ehren, mit denen er sie ausgestattet hatte, nahmen sie zwar an, und die Gehälter strichen sie ein, jene Staatsbeamten, Wirtschaftsführer und Militärs, jene Bohrmanns und Himmlers, jene Speers und Schachts, jene Generalfeldmarschälle. Sie liessen sich in die Verbannung schicken und wieder hervorheben; sie dienerten widerspruchslos und sagten laut: ja! und ›Heil Hitler‹, auch wenn sie: nein, und ›in die Hölle mit ihm‹ dachten! Und wie ihn, so verrieten jene auch uns, ihr deutsches Volk.«40

Der Obrigkeitsglaube Isselhorsts schien während der Haft eine neue Ausrichtung erhalten zu haben. Während des NS und des Krieges war der Bezugspunkt eindeutig bei Heydrich, Hitler und der NS-Bewegung. In den Briefserien in der Endphase des Krieges wurde insbesondere die vehemente Gläubigkeit an den Führer deutlich.41 Die Beschreibungen von Adolf Hitler erinnern dabei nicht zufällig an religiöse Vorstellungen. Obwohl der Nationalsozialismus in seiner ideologischen Programmatik keinen Charakter einer eschatologischen Religionsauffassung darstellte, bot die Bewegung doch zumindest religiös anmutende Elemente, die sicherlich keinen zu vernachlässigenden Einfluss auf die Bevölkerung sowie die staatlichen und militärischen Akteure besaßen. Der NS als »totalitäre politische Religion«42 schaffte es, Menschen an sich zu binden, deren sozialer Hintergrund zuvor von den christlich-konservativen Milieus und deren Parteien dominiert wurden. Eine scheinbar »heimatlos gewordene religiöse Energie«43 breiter Bevölkerungsteile, insbesondere aber der jungen Menschen, wurde von der NS-Bewegung aufgegriffen, ohne jedoch in ihrer Struktur die christlichen Vorstellungen zu kontaminieren. Bei Isselhorst ist dieser Faktor umso gewichtiger, als dass er sich nach dem Krieg wieder dem christlichen Glauben zuwandte, von dem er sich in den Jahren zuvor noch distanzierte. Der Nationalsozialismus, als eine Art Sammelbecken, dessen 40 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 62f n.E.). 41 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 29.08.1944) und RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 06.02.1945). 42 Begriff nach Heinrich August Winkler, hier zitiert in: Hildebrand, Klaus: Das Dritte Reich, 6. neubearbeitete Auflage, München 2009 (zuerst 1979), S. 162. 43 Vgl. Hockerts, Hans Günter: War der Nationalsozialismus eine politische Religion?; in: Hildebrand, Klaus (Hrsg.) Zwischen Politik und Religion: Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus, München, 2003, S. 45–71, hier: S. 45ff.

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Grenzen sich nicht starr manifestierten, sondern der jederzeit die Möglichkeit zu Kompromissen, auch in der Selbstreflektion der Menschen zuließ, wurde so zu einer verbindenden Stütze zwischen der nachkrieglichen Frömmigkeit und der bedingungslosen Führergläubigkeit Isselhorsts während der NS-Zeit. Da an dieser Stelle die christliche Religiosität von Isselhorst anhand seiner Ego-Dokumente nach dem Krieg beschrieben werden soll, so muss dies auch unter Berücksichtigung der außerordentlichen Faszination der Person Adolf Hitlers geschehen. Isselhorst stammte aus einem christlich geprägten Elternhaus, wobei nicht von einer strengen Frömmigkeit ausgegangen werden muss, zumindest wird dies an keiner Stelle seiner Schriften erwähnt. Dennoch waren beide Elternteile getauft und auch Isselhorst selbst war bis zu seinem Austritt im Dezember 1936 Mitglied der evangelischen Kirche.44 Als Isselhorst Anfang Juli 1935 in der Gestapo in Erfurt arbeitete, schrieb er aufgrund seiner anstehenden Hochzeit an seine Frau: »Ich denke mir die kommende Entwicklung folgendermaßen: In den letzten Tagen des Septembers wird geheiratet. Ich werde ja zu Vaters 60. Geburtstag nach DDorf kommen. Einige Tage später findet – wie vereinbart in aller Stille u. Unauffälligkeit – unsere kirchliche Trauung statt […].«45

Als Stapo-Beamter war die kirchliche Trauung kein unkompliziertes Unterfangen. Dementsprechend schrieb er an seine Frau: »Ja, weißt du denn nicht, daß ich ohne Genehmigung von Berlin nicht heiraten darf […].«46 Die zuvor beschriebene bevorzugte Unauffälligkeit der Trauung wurde auch in seinem Brief vom 15. Juli 1935 hervorgehoben: »Die kirchliche Trauung könnte dann in einem Thüringer-Wald-Dörfchen ganz still u. unauffällig stattfinden.«47 Im gleichen Brief beschrieb Isselhorst sein Vorgehen gegen einen katholischen Geistlichen, den Isselhorst im Juli 1935 in Schutzhaft nahm.48 Im September des Jahres wurden die »Heimlichkeit« der Trauung und der unauffällige zeremonielle Ablauf erneut in einem Brief beschrieben.49 In diesen Auszügen zeigt sich deutlich seine Distanzierung zur Kirche, die nicht zuletzt auch zu seinem Kirchenaustritt führte.50 Seine Frau gab nach dem Krieg an, dass dieser Kirchenaustritt alleinig auf Druck der Partei zustande kam und dass er nur widerwillig und rein aus beruflichen 44 RW 0725 Nr. 2. 45 RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 05.07.1935). 46 RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 07.08.1935). 47 Ebd. (Brief vom 15.07.1935). 48 Ebd. 49 Vgl. RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 14.09.1935). 50 RW 0725 Nr. 2.

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Gründen erfolgte.51 Die Dokumente belegen allerdings, dass Isselhorst das Vorgehen gegen die Kirche nicht als falsch ansah. Dies betraf insbesondere die katholische Kirche, die von Isselhorst auch in seinen Gestapo-Berichten aus dem Frühjahr 1936 als große Gefahr für die jüngeren Bevölkerungsteile in Köln aufgefasst wurde.52 Diese Einstellung war sicherlich auch mit der nationalsozialistischen Haltung gegenüber der Kirche und der damit einhergehenden Ablehnung verbunden. Freilich befand sich Isselhorst in seinem beruflichen Umfeld in einem kirchenfeindlichen Milieu und auch in seiner täglichen Arbeit wurden oftmals Maßnahmen gegenüber Würdenträgern der Kirche durchgeführt. Isselhorsts Aussagen bis dato lassen die Deutung zu, dass er sich im Laufe der NS-Zeit von der Kirche distanzierte und dafür der »Glaube« an die NS-Bewegung trat. Da es keine Dokumente gibt, die diesen Prozess detailliert in den Jahren 1937–1944 verdeutlichen, kann hier nur ansatzweise nachvollzogen werden, wie sich seine pseudoreligiöse Haltung zur NS-Bewegung entwickelte. In einigen Briefen, die Isselhorst während des Krieges schrieb und in den Aufzeichnungen seines Kriegstagebuches gibt es Stellen, die von einer gewissen »Gläubigkeit« an den NS, insbesondere an bestimmte Personen, wie Reinhard Heydrich oder Adolf Hitler, zeugen.53 51 RW 0725 Nr. 13. In der eidesstattlichen Erklärung seiner Frau über den Charakter von Erich vom 24. Juni 1946 schreibt diese: »Von höherer Stelle kommende Befehle über Kirchenaustritt wurden von ihm pflichtgemäss vorgelesen; die Ausführungen jedoch blieb jedem seiner Beamten selbst überlassen. […] Fanatiker war mein Mann nie, sonst hätte er es sicher nicht gewagt, sich kirchlich (katholisch) trauen zu lassen. Den auf ihn wegen Kirchenaustrittes ausgebübten Drucks übertrug er in keiner Weise auf mich. Trotz der Gefahr, sich dienstlich unmöglich zu machen und trotz unzähliger Aufforderungen von allen Seiten bestimmte er mich nie zum Eintritt in die Partei oder einer ihrer Gliederungen. […] Trunkenheit war ihm ein fremder Begriff. […].« Zumindest letztere Aussage kann aufgrund der Darstellungen aus der EG-Zeit in der Sowjetunion als widerlegt angesehen werden. Auch die hohe christliche Orientierung, die von seiner Frau dargelegt wird, entspricht eher der Haltung aus der Nachkriegszeit, da die besagte Hochzeit und die damit verbundene christliche Symbolik von Isselhorst in den Briefen aus dem Jahr 1935 als unnötig beschrieben wurden. 52 Vgl. Lagebericht der Gestapostelle Köln für Januar 1936 vom 06.02.1936; in: Lageberichte Rheinischer Gestapostellen, Bd. III Januar-März 1936, bearbeitet von Faust, Anselm; Rusinek, Bernd-A. u. Dietz, Bernhard, Düsseldorf 2016, S. 105–143.Sowie: Lagebericht der Gestapostelle Köln für Februar 1936 vom 04.03.1936; in: Lageberichte Rheinischer Gestapostellen, Bd. III Januar–März 1936, bearbeitet von Faust, Anselm; Rusinek, BerndA. u. Dietz, Bernhard, Düsseldorf 2016, S. 272–304. 53 RW 0725 Nr. 11, RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 22.07.1944 und Brief vom 29.07.1944).

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Im Jahr 1945, das nicht nur das Ende von Nazi-Deutschland besiegelte, sondern auch für ihn durch die Gefangennahme eine ganz neue Lebenssituation bedeutete, scheint eine grundlegende Änderung hinsichtlich seiner religiösen Einstellung und seiner »Gläubigkeit« stattgefunden zu haben. Spätestens mit seiner ersten Verurteilung in Wuppertal 1946 ist der religiöse Einfluss in seinen Briefen nicht mehr zu übersehen. Auch das moralische Urteil über den NS und seine eigene Position wurde angesichts des Schuldspruches im ersten Militärgerichtsverfahren in Wuppertal nunmehr von einer religiösen Warte aus vollzogen. Isselhorst, als bekehrter Christ, legte die Beantwortung der Schuldfrage vollends in die Hände Gottes, der als alleiniger Richter über Schuld und Unschuld Geltung beanspruchen durfte: »Was jetzt noch kommt, steht allein in der Hand des Allmächtigen. Ich habe es verlernt, mich auf Menschen zu verlassen. Stolz und stark nehme ich alles an, was die nächste Zeit bringt. Mein Glaube an die göttliche Gerechtigkeit ist unerschütterlich, auch der Deine soll es sein.«54 »Das Wochenende bringt mir immer im besonderen Maase Stunden der Einkehr, Stunden mit einem tiefen Blick nach Innen. […] Ist es Hinweis auf Einkehr, ist es Strafe für eine Schuld, eine Schuld des Einzelnen oder der Gesamtheit? Warum müssen auch Unschuldige leiden, warum musst Du, muss meine alte Mutter diesen Kummer tragen? Ich grüble u. denke, ich rüge u. bete, u. doch will mir keine Klarheit kommen. Ich kann nicht an einen solchen Abschluss glauben, kann es nicht, weil ich mir keiner Schuld bewusst bin, die eine solche Strafe verdient hätte. Aber können wir kleinen Menschen das wirklich erkennen u. beurteilen? Bestehen wir vor dem Richterthron des Allmächtigen? Nun sein Wille geschehe; […] Mein Gottvertrauen ist, gerade weil alles so trostlos aussieht, unerschütterlich.«55

Angesichts seiner eigenen ungewissen Zukunft wurde mit Vehemenz auf die Richtigkeit und die Wahrhaftigkeit seines christlichen Glaubens gepocht. Dies geschah im gleichen Maße während der gesamten Zeit der Gefangenschaft. Als der »Führer« als Leitperson seiner ideologischen Einstellung wegbrach, widmete sich Isselhorst einer anderen Bezugsgröße, die für ihn zukünftig als sinnstiftender Fixpunkt seines Lebens eine Konstante bilden sollte: an die christliche Religion. Dieser Bruch wurde von Isselhorst kaum wahrgenommen. Es existieren nur zwei Stellen in den Briefen, in denen die NS-Zeit und seine Religiosität als sich gegensätzliche Punkte seiner Einstellung angedeutet werden. Am 10. August 1947 schrieb er an seine Schwiegereltern:

54 RW 0725 Nr. 35 (Brief vom 15.07.1946). 55 RW 0725 Nr. 35 (Brief vom 17.08.1946).

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»Aber der Herrgott wird wohl wissen, warum alles so sein muss. Ich habe in den hinter mir liegenden Jahren wieder gelernt, mich ganz nach seinem Willen auszurichten und mich ganz auf ihn zu verlassen.«56

Und am 21. Januar 1948 schrieb er an seine Mutter: »[…] Gott lebt, und Recht muss Recht bleiben! Ich freue mich, dass Du Dich auch so geborgen im Herrn fühlst. Wir wollen dankbar sein, dass wir wieder zu ihm zurückgefunden haben und wieder den Weg beschritten haben, den wir vor Jahren in Verblendung verlassen haben.«57

Im Übrigen waren die Aussagen von Isselhorst in seinen Briefen von einer großen Demut geprägt, hier beispielhaft: »Wir armen kleinen Menschenkinder sind immer geneigt, dem Herrgott unsere Bitten und Wünsche in einer ganz bestimmten, uns gut erscheinenden Form vorzutragen. Wir beten und legen uns die Sachen zurecht und denken: so und so muss die Erhörung unserer Gebete aussehen, wenn es eine rechte Erhörung für uns sein soll! Aber der Herrgott lässt sich nicht zwingen.«58

Isselhorst begann ab September 1947 gar sein gesamtes Leben unter der Folie der göttlichen Vorhersehung neu zu interpretieren. Für ihn war klar, dass er persönlich unter göttlichem Schutz während seines Kriegseinsatzes stand und dass dieser Schutz ihn auch weiterhin vor dem Tode bewahren sollte. Beispielhaft griff Isselhorst Situationen seiner Biographie auf, mit denen er seine Gottesnähe belegen konnte: »Wenn ich mein Leben zurückbetrachtend überschaue, so muss ich heute feststellen, dass es in einer Reihe von Ereignissen in einer Weise verlaufen ist, die ausserhalb meiner eigenen menschlichen Macht liegt. Allzu leicht und immer wieder war ich geneigt, diesen wunderbaren Ablauf mit ›Zufall‹ zu bezeichnen. War es wirklich Zufall, dass ich im Februar 1942 auf der Fahrt nach Smolensk mutterseelenallein und unangetastet durch den Sluisker(?) Wald fuhr, nicht ahnend und nicht wissend, dass vor und nach mir kein deutsches Fahrzeug allein und unbehelligt durch dieses Partisanengebiet gefahren war? War es Zufall, als ich im März 1943 [Januar 1943; Anm. d. Verf.] bei der Ausfahrt aus dem Schlosspark von Puschkin das Vorbeifahren eines mir entgegenkommenden LKW abwartete, in den dann vor meinen Augen an derselben Stelle, an der ich gewesen wäre, wenn ich nicht gehalten hätte, ein Artillerie-Volltreffer einschlug und seine Besatzung tötete und verwundete? War es Zufall, dass ich am Abend des 6.8.43 in Minsk nicht, wie üblich, um 7 Uhr abends mit dem zweiten Teil meiner Mannschaft zu Abend ass, sondern bereits um 6 Uhr und dadurch dem grässlichen Bombenanschlag 56 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 10.08.1947). 57 RW 0725 Nr. 5 (Brief 21.01.1948). 58 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 28.08.1947).

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entging, den 11 meiner Männer das Leben kostete und über 30 schwer verwundete? Ist es wirklich ›Zufall‹, dass ich von Amerikanern verhaftet, von ihnen an die Engländer ausgeliefert und schliesslich an die Franzosen abgetreten wurde und dadurch allein bisher dem Schicksal entgangen bin, dass eine Reihe meiner Kameraden bereits betroffen hat? Nein, meine Liebe, das war und ist kein Zufall, das war und ist göttliche Fügung! Das ist mir heute völlig klar.«59

Doch Isselhorst, als nunmehr Verteidiger der westeuropäischen Kultur, musste seine Gottesgläubigkeit mit dem Kampf gegen den »gottlosen« Bolschewismus verknüpfen, was in einem Brief an seine Schwiegereltern vom 2. November 1947 auch ausgeführt wurde: »Wann wird [sic] die Verblendung, der Neid, die Missgunst und der Hader endlich nachlassen, wann wird es wirklich Frieden auf Erden geben? Wenn wir alle [Hervorhebung im Original, Anm. d. Verf.] auf Gottes Wort hören; wenn wir alle die hohen ethischen Werte der wahren Religion, der Lehre Christi beherzigen und danach leben und handeln. Wenn die Völker nicht mehr auf die Signale der proletarischen Klassenverhetzung, sondern auf die Gottes hören! Dann wird auch die Menschheit wieder in Frieden leben! Würde das nicht auch mit den Gründen der ›Vernunft‹ in Einklang stehen?«60

Der christliche Glaube wird somit in einen Dualismus zur »proletarischen Klassenverhetzung« des Bolschewismus enggeführt. Seine eigene Frömmigkeit ist Bedingung für sein Handeln im NS und dessen Legitimation. Diese Gläubigkeit führte Isselhorst bis zu einer Aussage vom 8. Januar 1948, die er in einem Brief kurz vor seiner Hinrichtung an seine Frau tätigte: »Abschliessend aber muss ich Dir noch eines sagen: meine religiöse Auffassung ist nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern ein Bekenntnis, nach welchem ich mein Leben einzurichten gedenke. Ich erwarte das gleiche von Dir. Überlege Dir, ob unter diesem Gesichtspunkt Dein Verhalten richtig ist. Lies im 1. Johannesbrief, Kap. 2 Vers 3–6! Und denke daran, dass wir beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern!«61

Bemerkenswert an dieser Passage ist die Tatsache, dass sie vom Wortlaut her beinahe identisch ist mit dem Bekenntnis zum Führer und zum NS aus dem Jahr 1945: »[…] Es ist aber besser, man sieht den Dingen klar und fest ins Auge, und du sollst wissen, daß ich als dein Mann der Bewegung des Führers nicht nur ein Lippenbekenntnis abgegeben habe. Ich trage einen unerschütterlichen Glauben in mir an das Gute und Reine des Nationalsozialismus, 59 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 28.09.1947). 60 RW 0725 Nr. 33 (Brief vom 02.11.1947). 61 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 09.01.1948).

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an die Größe des Deutschen Reiches und Volkes und die Unerreichbarkeit unseres Führers.«62

Um seine wohlwollende Haltung gegenüber der Kirche zu belegen, beschrieb Isselhorst in den Memoiren sein Verhältnis zum Generalvikar Douvier, mit dem er im Zuge seiner Arbeit als BdS in Straßburg vermehrt zu tun hatte. Sein Verhältnis zum Generalvikar wird an dieser Stelle als äußerst harmonisch beschrieben: »Seine Besprechungen mit mir hatten ausschliesslich staatspolizeiliche oder allgemein politisch-polizeiliche Massnahmen zum Gegenstand, die gegen die Interessen der Kirche gerichtet waren. Dass diese Besprechungen regelmässig zur beidseitigen Befriedigung verliefen, war für mich nur ein Beweis für die objektive Haltung dieses Repräsentanten der Kirche […]. Es ist durchaus nicht ein Zeichen von Collaboration, wenn Männer so verschiedenartig gelagerter Interessen sich in verständnisvoller Aussprache unter Wahrung beiderseitiger Belange über das hinweg, was sie trennt, die Hand reichen. Ich glaube, dass aus dieser Tatsache für beide Teile erspriessliches hervorgegangen ist, was bei einem sturen, kompromisslosen Verhalten zweifellos nicht der Fall gewesen wäre. Mit dem Antipoden Douviers, dem evangelischen Oberkirchenrat Mauer bin ich aus gleichem Anlass dienstlich zusammengekommen. Auch von ihm hatte ich den besten Eindruck, wenn auch für mich keine Gelegenheit bestanden hat, seine Haltung u. sein Wirken so kennenzulernen, dass ich mir eine nähere Beurteilung erlauben könnte.«63

Dadurch, dass Isselhorst die Würdenträger beider Konfessionen benennt, schafft er einen eine Verbindung zwischen sich und der christlichen Kirche, die seinen Selbstentwurf als Christ untermauert. Auch der Generalvikar erinnerte sich in einem Briefwechsel mit der Witwe Erich Isselhorsts in den 50er Jahren an seinen damaligen Gesprächspartner: »Das Andenken an Dr. Isselhorst ist immer noch wach in mir und sein gerader Sinn, der immer das Beste im Auge hatte, hat mir stets wohl getan. Die Erinnerung an ihn ist für Sie sicher ein grosser Trost – er ist ja letzten Endes als Opfer seiner Hingabe gestorben, und unser Gott richtet in manchem anders als die Menschen.«64

Die erwähnte Hingabe, dessen Opfer Isselhorst letztlich wurde, bezieht sich jedoch keineswegs auf seine tiefe Gläubigkeit. Denn Isselhorst war 1944 kein frommer Christ, sondern ein überzeugter Nationalsozialist, dessen einziger Glaube »an das Gute und Reine des Nationalsozialismus, an die Größe des Deutschen Reiches und Volkes und die Unerreichbarkeit [des] Führers [bestand].«65 62 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 06.02.1945). 63 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« Blatt 3). 64 RW 0725 Nr. 41. (Brief vom 10.01.1956 von Douvier an Ehefrau). 65 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 06.02.1945).

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4.3 Patriotismus und Verteidigung der abendländischen Kultur Dass diese autobiografischen Schriften bei Isselhorst partiell apologetische Züge aufweisen, muss zweifelsohne unter der Berücksichtigung seiner Schreibsituation gesehen werden. Isselhorsts Memoiren stehen im direkten Zusammenhang mit seinen Gerichtsprozessen in Frankreich – eine Verbindung, die oftmals bei Autobiographien besteht, da Gerichtsreden und Autobiographien systematisch und historisch eng miteinander verbunden sind.66 Die Grundausrichtung von Isselhorsts Schriften muss eindeutig zugunsten einer »Kontinuitätsbiographie« gewertet werden, denn die von ihm dargestellte Lebensgeschichte weist keinerlei Brüche oder persönliche Wandlungen auf, wie dies bei »Konversionsbiographien« der Fall wäre.67 Zu Beginn seiner zweiten Memoiren mit dem Titel »Das Elsass im Dritten Reich« ging Isselhorst darauf ein, welche Position er selbst als Memoirenschreiber übernehmen möchte: »Ich beabsichtige keineswegs mit dieser Abhandlung eine historische Darstellung der Geschicke des elsässischen Landes und seiner politischen Lebensfragen im Allgemeinen zu geben. Auch handelt es sich nicht etwa um die Memoiren eines Politikers. Ich war kein Politiker von Profession im Sinne dieses Begriffes, […] aber vielleicht bin ich das, was man einen ›politischen Menschen‹ nennt, den nicht nur sein eigener, enger Lebenskreis aus innerer Berufung interessiert, sondern der aktiv teilnimmt an der allgemein-politischen Entwicklung seines Volkes und Vaterlandes mit all ihren Beziehungen zur Umwelt. Der persikleische Grundsatz, dass ein Mann, der sich vom öffentlichen Leben fernhält, nicht als ›friedlich‹, sondern als ›unnütz‹ zu betrachten ist, ist mir immer als notwendige und selbstverständliche Tugend eines Staatsbürgers erschienen. Vielleicht auch hatte ich etwas von dem, was man bei uns mit ›politischem Fingerspitzengefühl‹ zu bezeichnen pflegte.«68

Isselhorst sah sich somit nicht als Politiker im eigentlichen Sinne, sondern als ein politischer Akteur. Gleichzeitig gestand er demütig, dass er nicht in der Lage sei, sein Handeln aus politischer Warte vollkommen nachzuvollziehen. Aber er nahm für sich in Anspruch, dass es eine Pflicht zum Politischen gibt, die jeder Bürger eines Staates, der patriotisch und national eingestellt ist, zu verrichten hätte. Hierdurch gelang es Isselhorst, seine »politische« Arbeit bei der Gestapo mit seiner patriotischen 66 Vgl. Kremer, Roman B.: Autobiographie als Apologie. Rhetorik der Rechtfertigung bei Baldur von Schirach, Albert Speer, Karl Dönitz und Erich Raeder, Göttingen 2017, S, 18f. Im Folgenden zitiert als: Kremer: Autobiographie als Apologie. 67 Vgl. Ebd. S. 58. 68 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 1).

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Überzeugung zusammenzuführen. Dies ist umso wichtiger in seinen zweiten Memoiren (»Das Elsass im Dritten Reich«), da in diesen der Fokus auf seine Heimat gelegt wurde. Die Grenzregion hatte für Isselhorst 1947 eine zentrale Bedeutung übernommen, da er diese eng mit seinem persönlichen Schicksal verbunden sah, zumal er in der Region selbst geboren wurde. Allerdings verbrachte er nur die frühen Kindheitsjahre im Elsass, bis seine Familie noch vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges ins Rheinland zog. Dass Isselhorst 1944 als BdS in Straßburg eingesetzt wurde, bot ihm in seinen Memoiren die Möglichkeit, seine Biographie im Sinne einer patriotischen Aufgabe der Völkerverständigung im Elsass zu deuten. Der Patriotismus ist in diesem Verständnis auf die westliche Kultur bezogen, die im Grenzgebiet ElsassLothringen kumulierte. Als Intention für die zweiten Memoiren gab Isselhorst an: »Für mich handelt es sich bei diesen Betrachtungen darum, meine eigene, objektive Meinung zu den angedeuteten Problemen darzulegen. Sie ist nicht erst nach dem verlorenen Krieg entstanden und hat erst recht nicht den Zweck, mich und mein Wirken zu entschuldigen.«69

Isselhorst nahm also für sich in Anspruch, eine objektive Darstellung über das Elsass in der NS-Zeit abzugeben, die, obgleich sie alleinig auf seiner subjektiven Wahrnehmung beruhte, dennoch zeitunabhängig war und ohne die Absicht verfasst wurde, sich zu entlasten. Isselhorst war sich dementsprechend bewusst, dass seine autobiographischen Schriften als reine Apologien aufgefasst werden könnten und versuchte dieser Interpretation entgegenzuwirken. Der in St. Avold geborene Isselhorst beschrieb sich im Folgenden als eine Person, die aufgrund seiner Herkunft und der Erfahrungen, die er im besetzten Rheinland während seiner Düsseldorfer Schulzeit machte, sich besonders für die Fragen der Grenzregionen Deutschlands interessierte.70 Diese Aussage kann anhand anderer Ego-Dokumente nicht verifiziert werden. Isselhorst knüpfte daraufhin die Verbindung zu seiner Arbeit als BdS in Straßburg 1944. Diesen Übergang nutzte Isselhorst dazu, auf seine Vorstellung zu verweisen, dass die elsässische Grenzsituation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weiterhin als Unruheherd für Konflikte Bestand haben würde: »Die gleichen Erscheinungen übrigens, die wir auch heute wieder, nur unter sehr viel ungünstigeren Aspekten für mein Volk u. Vaterland, erleben, und von denen ich nur hoffen kann, dass sie in der nahen und fernen Zukunft der betroffenen Völker, sich nicht wieder zu einem staatspolitischen und völkischen Unruheherd u. damit zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung entwickeln mögen. Nur eine weitgehende u. 69 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 21f). 70 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 1f).

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PATRIOTISMUS UND VERTEIDIGUNG DER ABENDLÄNDISCHEN KULTUR

weitsichtige kluge Versöhnungspolitik, die frei ist von allen Begleiterscheinungen der Gegenwart u. Vergangenheit wird Garant dafür sein.«71

Deutlich erkennbar an dieser Stelle ist die Verbindung zwischen seiner eigenen Position und der Bedeutung des Elsasses für die weitere politische Entwicklung in Europa. Erich Isselhorst sah sich 1947 als Opfer einer Rachejustiz der Siegermächte. Daher pochte er auch auf eine »weitsichtige u. kluge« Versöhnungspolitik, die frei sein sollte von allen »Begleiterscheinung der Gegenwart u. Vergangenheit«. Nur wenn eine solche Versöhnungspolitik angestoßen würde, könnten die westlichen »Kulturstaaten« ihrer wahren Bedrohung entgegentreten. Aus der Per­ spektive des kritischen Beobachters der NS-Zeit beschrieb Isselhorst seine Erfahrungen wie folgt: »Als ich im Januar 1944 in die Stellung des damaligen Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des SD im Elsass berufen wurde, empfand ich daher eine aufrichtige Befriedigung, durfte ich doch annehmen, der gestellten Aufgabe nicht nur genügend fachliche Kenntnisse und Erfahrungen, sondern auch eine innere Einstellung entgegenbringen zu können, die mich in die Lage versetzten die Probleme richtig zu erkennen und an ihrer Behandlung mitwirken zu können. Auch hatte ich mich, räumlich durch meine Tätigkeit in Russland und im Baltikum weit von der Entwicklung im Westen abgesetzt, der Hoffnung hingegeben, dass die deutsche Elsasspolitik nach der Besetzung im Jahre 1940 Wege eingeschlagen habe, die in Erkenntnis der früher begangenen Fehler in richtiger Einschätzung der gegebenen politischen Lage alles vermied, was der zu erstrebenden Entwicklung abträglich sein konnte. Umso grösser, das sei schon jetzt gesagt, war für mich als westlicher Grenzländer u. Deutscher die Enttäuschung, die ich während meiner Tätigkeit im Elsass erlebt habe.«72

Hier nun sprach Isselhorst seine eigene Verortung aus: »ein westlicher Grenzländer u. Deutscher«, der durch seine Biographie eben auch die »innere Einstellung« zu dieser Aufgabe besaß. Die »innere Einstellung«, damit meint Isselhorst seinen Patriotismus, also die Überzeugung, dass sein Handeln grundsätzlich von seiner Liebe und Hingabe für das deutsche Vaterland geleitet wurde, ist ein wichtiges Verbindungsglied zwischen dem generationalen Auftrag und seinem besonderen Fokus auf das Elsass-Gebiet, dem Isselhorst seine zweiten Memoiren widmete. Denn ein Teil des generationalen Auftrages, so Isselhorst, bestand aus der Rückgewinnung dieses Gebietes für das Deutsche Reich. Dies wird in einer darauffolgenden Passage seiner zweiten Memoiren deutlich: »Die vom Führer des Deutschen Reiches bei der Besetzung und Annektierung des Elsass 1940 dem Gauleiter Robert Wagner gestellte Aufgabe 71 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 2). 72 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 2).

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BIOGRAPHISCHER SELBSTENTWURF

lautete, ›dieses Land und seine Bevölkerung innerhalb eines Zeitraums von 10 Jahren im Sinne des nationalsozialistischen Staats- und Volksgedankens deutsch zu machen.‹[…] Sie ist ein Ausfluss der Auffassung Hitlers von seiner historischen Bedeutung u. zeitlichen Einmaligkeit, die die Verwirklichung seiner Planungen innerhalb seines eigenen Lebensabschnittes verlangte, weil die Wirkung seiner Persönlichkeit auch alle anderen Deutschen mitriss. Seine staatsmännischen Erfolge, die in den Jahren 1933–1939 ohne blutige Mittel zu einer Wiedererstarkung des Deutschen Reiches geführt hatten und die ein schönes Deutschland unter Beseitigung all der bedrückenden Erscheinungen der Jahre 1918– 1932 wiedererstehen liessen, seine wohl alle Welt verblüffenden Siege im ersten Kriegsjahre: dies alles liess, unterstützt von der Dynamik der NSDAP, sehr wohl die Meinung aufkommen, dass er und mit ihm die Führungsschicht, ja die ganze lebende deutsche Generation die ihr von der Geschichte gestellten Aufgaben besser zu lösen imstande seien, als es die Vorfahren vermochten.«73

Zwar distanzierte sich Isselhorst an dieser Stelle aufgrund der kurzen Umsetzungs-Zeitspanne von der Aufgabe, doch ist dies kein Beleg für die generelle Ablehnung des Unterfangens. Vielmehr spiegelt die Passage seine nunmehr eingenommene Position wider, in der Isselhorst sich als kritischer Beobachter des NS wahrnahm. Daher relativierte er auch die schwierige Umsetzbarkeit des Projektes anhand der historischen Begebenheiten, die Hitler zu dieser Zeit umgaben. Diese wurden sozusagen als »mildernde Umstände« aufgeführt, um Hitlers Vorhaben zu entschuldigen, obgleich die Richtigkeit dieser »Deutschtums«-Frage nicht in Frage gestellt wurde. Denn dass das elsässische Gebiet zum Deutschen Reich gehörte, davon war Isselhorst fest überzeugt. Schließlich hatte er sich die Aufgabe der Angliederung an das Reich 1947 auch auf die eigenen Fahnen geschrieben. Isselhorst versucht daraufhin, die Frage der Zugehörigkeit des Elsasses zum Deutschen Reich historisch nachzuzeichnen: »Gewiss sind die Elsässer ein deutschsprachiger Volksstamm und gehören ursprünglich mit ihrem Lebensraum zum deutschen Volkstum. Das hat mit den staatspolitischen Entwicklungen dieses Grenzlandes nichts zu tun. Die Beweisführung z.B. eines Gustave Hervi [Nouvelle H ­ istoire de France] für das Gegenteil scheint mir nicht stichhaltig. Der Hinweis auf den gallischen Lebens- und Siedlungsraum u. die ›natürlichen Grenzen Frankreichs‹ am Rhein ist im Hinblick auf den germanischen Raum u. die national. Grenzen Deutschlands genau so absurd wie die Schlussfolgerung, welche Entwicklung West- und Zentraleuropa ohne den Teilungsvertrag von Verdun 843 genommen hätte. Ein mehr als zwei Jahrhunderte währender unmittelbarer Einfluss Frankreichs hat weder die Sprache noch den deutschstämmigen Charakter verdrängen können. […] Wer will leugnen, dass die Städtchen u. Dörfer des elsässischen 73 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 17).

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Landes, ob sie nun Hagenau oder Altkirsch, Rapoltsweiler, Ammersweier, Markirch oder Thann heissen u. ihre Bevölkerung einen typisch deutschen Charakter u. Lebensstil zur Schau tragen?«74

Auf drei historischen Ebenen argumentierte Isselhorst an dieser Stelle. Zunächst werden auf »wissenschaftlicher« Ebene die frühmittelalterlichen Bedingungen herangeführt, um die Zugehörigkeit des Elsasses zu Frankreich und die natürliche Grenze entlang des Rheines zu verwerfen. Anschließend geschieht ein Sprung in die Neuzeit, in der die etwa zweihundertjährige Zugehörigkeit des Elsasses an Frankreich als Beleg dafür herangezogen wird, dass trotz dieses Einflusses das Elsass seinen ursprünglich deutschen Charakter bewahrte. Und drittens wird dies anhand der derzeitigen Situation belegt, in der Isselhorst verdeutlichte, dass auch weiterhin die elsässischen Gemeinden ihren »typisch deutschen Charakter u. Lebensstil zur Schau tragen.« Erneut argumentierte Isselhorst aus einer scheinbar wissenschaftlichen Position heraus, die ihm aus der Warte eines kritischen Beobachters auch die Möglichkeit bot, Maßnahmen während der NS-Zeit zu hinterfragen: »Als es dann aber doch wieder zum Waffengang kam und das Elsass 1940 in deutsche Hände fiel, hätte es für die deutsche Verwaltung nur eine vordringliche politische Aufgabe geben dürfen: alles, aber auch alles zu tun, um zu verhindern, dass der Elsässer schlechthin während der Kriegsdauer in eine innere und äussere Abwehrstimmung gegen das nationalsozialistische Deutschland getrieben wurde! [Hervorhebungen im Original, Anm. d. Verf.] Man hätte alle die Massnahmen unterlassen müssen, die den Elsässer die gleichen staatsbürgerlichen Pflichten auferlegten wie einem Reichsdeutschen, obwohl er es mangels Vertragsschluss zwischen Deutschland u. Frankreich weder de facto noch de juree war. Ja, man machte es ihm sogar unklugerweise durch die in dem ›Bewährungssystem‹ liegende Klassifizierung auch noch deutlich, dass er zunächst kein vollgültiger Deutscher war, und sich diese Eigenschaft oder dieses Prädikat erst durch Zuverlässigkeit verdienen musste! […] Man wird mir entgegenhalten, dass es heute für mich einfach sei, derartige Erkenntnisse auszusprechen. Das elsässische Volk der deutschen Verwaltung beinahe dankbar sein könnte, dass eine vernünftige deutsche Elsasspolitik auch in der Kürze der Besatzungszeit Früchte hätte tragen können, auf die Frankreich noch saurer reagiert hätte als es das nach der Wiederbesetzung seiner elsässischen Provinz bisher getan hat. So aber kann die elsässische Bevölkerung schlechthin mit einiger Berechtigung wenigstens auf einen geistigen Widerstand hinweisen.«75

Zusammengefasst kritisierte Isselhorst also die Sonderstellung, die das Elsass und seine Bewohner in den Jahren nach der Rückeroberung 1940 74 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 18f). 75 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 20f).

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durch die deutsche Besatzung auferlegt bekam. Diese Sonderstellung in Verbindung mit den »Massnahmen, die aus Sicherheitsgründen zur Unschädlichmachung von wehrwirtschaftlichen und politischen Unruhestiftern notwendig waren« – also die Maßnahmen, die auch von Isselhorst durchgeführt wurden – waren laut Isselhorst für die kritische Einstellung der Bevölkerung gegenüber dem NS verantwortlich, obgleich die Menschen, so Isselhorst, grundsätzlich »deutsch« waren. Zudem verband er seine Kritik an der Behandlung der elsässischen Bevölkerung mit seiner eigenen Situation. Denn Isselhorst sah sich 1947 als Opfer eines französischen Revanchismus und stellte die falsche politische Behandlung der elsässischen Bevölkerung während des Krieges und die Maßnahmen der französischen Politik nach dem Krieg auf eine Ebene. Beide waren somit Opfer einer verfehlten Politik. So sind auch die Aussagen über sein Wirken im Elsass zu verstehen, die aufgeladen mit der Rassenlehre des NS von Isselhorst auch nach dem Krieg propagiert wurde: »Der politische Kampf des 3. Reiches um das Elsass hat praktisch mit dem 23.XI.44 aufgehört; der militärische endete mit der Räumung des Kolmarer Brückenkopfes. Wieder einmal ist eine Episode im elsässischen Grenzlandschicksal abgeschlossen. Sie stand unter dem Zeichen der Rückgewinnung eines deutschen Volksstammes. Das Ziel konnte nicht schlecht sein. Aus dem Volke sind wir alle. Nicht der Boden und nicht die Sprache und nicht der Staat, sondern das Volk in seiner Einheit ist das Vaterland. In den Rahmen dieses Vaterlandes sollte der elsässische Volksstamm wieder eingegliedert werden, unter Wahrung der staatlichen Einheit, doch ohne Aufgabe der Stammesbesonderheiten. Diese müssen sich dem Gesamtbau des nationalen Lebens ein- und unterordnen wie die einzelnen Bauteile dem Ganzen eines gotischen Donners. […] Wird das elsässische Volk, das nun wieder in den französischen Staatsverband zurückgekehrt ist unter diesen Gesichtspunkten dort seinen Frieden endgültig finden?«76

Neben der »Deutschtums«-Frage des Elsasses ging Isselhorst in seinen Briefen und Memoiren noch auf andere Aspekte seines Patriotismus ein. Hierzu zählte eine kritische Abrechnung mit den Siegermächten, die Isselhorst im September 1947 an seine Frau schrieb: »Wie lange wird unser Volk brauchen, um all den Schmutz, den es in der Vergangenheit und Gegenwart auf sich geladen hat, wieder abzuwischen? Mich schüttelt es immer wieder, wenn ich aus Gesprächen, aus Zeitschriften, aus Briefen von der deutschen Haltung höre und lese! Es ist die ewige Tragik des Deutschtums, die allerdings noch nie in unserer Geschichte so zum Ausdruck gekommen ist wie heute. Wir müssen immer erst durch tiefsten Schmutz durch, ehe wir uns wieder ans Licht wenden und zum Reinen finden. […] Wann wird die Menschheit 76 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 47).

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erkennen, dass ›Vergeben‹ nicht nur ein Ausfluss göttlicher Gnade ist? […] Humanität ist nie kräftiger mit Füssen getreten worden als heute, und, was das Erschütterndste ist, von denen, die sie predigen und auf ihr Panier geschrieben haben! Welch satanisches Spiel! Welche Uniformierung der höchsten Begriffe der Ethik! Wo liegt die Schuld, wo liegt die Ursache? Schuld mit einer Schuld zu sühnen, das macht die Menschheit nicht frei! Das vergrössert nur die Last, die auf uns allen liegt. Wo ist die zur Versöhnung ausgestreckte Hand? Menschliches, ach allzu menschliches Handeln und Denken überall! Kaum, dass man mehr mit Goethe sprechen kann: Wie von Furien gepeitscht rasen die Sonnenpferde mit unseres Schicksals leichten Wagen dahin, und uns bleibt nichts als mutig gefasst die Zügel zu halten und bald rechts, bald links vom Steine hier, vom Sturze dort die Räder wegzulenken; wohin es geht, er weiss es nicht, weiss er doch kaum, woher er kam!«77

Dass Isselhorst hier Goethes Egmont zitierte, verdeutlicht gleichsam die dramatische Weltauffassung Isselhorsts jener Zeit, die sich von seiner eigenen Zukunftsperspektive speiste. Die darin enthaltenen Vorwürfe gegen die alliierten Siegermächte akzentuierte Isselhorst auch in weiteren Briefen.78 Die Vergebung von Schuld ist das zentrale Thema dieses Briefes. Doch wird die Schuld hier aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Schuld haben die Deutschen sowohl während als auch nach dem Krieg auf sich geladen – insbesondere die nachkriegliche Schuld, also das, was Isselhorst als »Schmutz« oder die »deutsche Haltung« bezeichnete. Er erkannte darin die Verleumdung und den Verrat an den Idealen, wie er sie im NS sah, und verteidigte diese Ideale daher umso vehementer. Isselhorst erkannte darin, wie er schreibt, »die ewige Tragik des Deutschtums, die allerdings noch nie in unserer Geschichte so zum Ausdruck gekommen ist wie heute. Wir müssen immer erst durch tiefsten Schmutz durch, ehe wir uns wieder ans Licht wenden und zum Reinen finden.«79 Das, was Isselhorst hier als »das Reine« bezeichnete, sind die Ideale, die er bereits für die Generation der »deutschen Jugend« in Anspruch genommen hatte und die er durch die jetzige politische Situation erneut diskreditiert sah. Die Abkehr des von ihm eingeforderten Patriotismus der Deutschen nach dem Krieg ist der »tiefste Schmutz«, durch den die Deutschen gehen müssten, um wieder ans »Licht […] und zum Reinen« zu finden. Dieses christlich geprägte Bild wurde mit der ebenfalls getätigten Aufforderung zur Nächstenliebe noch verdeutlicht, in der er für eine gegenseitige Vergebung plädierte. Dass Isselhorst an dieser Stelle eine Verbindung zur christlichen Wertevorstellung einging, lag an seiner nach dem Krieg wiedergefundenen Religiosität, die er 1947 mit dem Patriotismus, dem Nationalsozialismus und der »deutschen Jugend« in 77 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 18.09.1947). 78 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 67f n. E.). 79 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 18.09.1947).

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Verbindung setzen musste. Auf der anderen Seite beschuldigte er die Siegermächte eines Revanchismus, den er eben auch anhand seiner eigenen Lage zu belegen glaubte. Den Verrat der deutschen Ideale, so wie er sie 1947 verstand, machte Isselhorst an anderer Stelle anhand der Bewertung verschiedener NSFunktionäre deutlich. Während beispielsweise Hitlers Selbstmord als verständlich und logisch aufgefasst wurde, war der Selbstmord Heinrich Himmlers für Isselhorst ein Beleg für das genaue Gegenteil seiner idealistischen Vorstellung eines patriotischen Deutschen. So schrieb er in seinen Memoiren noch immer bestürzt über das Verhalten und den »Verrat« Himmlers: »So wurde eine Truppe zusammengehalten, die als verschworene Gemeinschaft von Gläubigen bereit war, sich um den Führer und seinen treuesten Paladin Himmler zu scharen und mit ihnen in den Sieg hi­ neinzumarschieren; die aber auch bereit war, mit ihnen unterzugehen, wenn sie nicht mit ihnen leben durften. Ich habe in den letzten Tagen des vergangenen Krieges, die ich im Verbande einer Waffen-SS-Einheit miterlebte, keinen SS-Führer und keinen SS-Mann angetroffen, die nicht dazu bereit gewesen wären. Sie alle hatten darauf gewartet, dass sich Hitler und Himmler in ihre Mitte begeben würden, und sie hätten beide mit ihren Leibern bis zum letzten Atemzuge gedeckt. Ich habe Männer, tapfere Soldaten und Offiziere mit den höchsten Kriegsauszeichnungen haltlos wie kleine Kinder weinen sehen, als sie ihren Idealismus so jämmerlich verraten sahen!«80

Angesichts seiner Schutzdienstaufgabe erinnerte sich Isselhorst in seinen Memoiren an die Möglichkeit eines Attentates auf Hitler und verpönte damit verbunden die Scheinheiligkeit von deutschen Widerstandskämpfern: »Gegen einen Revolverschuss oder das Werfen eines Sprengkörpers aus den Reihen des Publikums auf den Strassen oder aus den Häusern heraus gab es keine Abwehrmöglichkeit, wenn der Täter sich selbst zu opfern bereit war. Wo waren da die ›Idealisten‹ der Gegenseite, die heute so gewaltig das Maul aufreissen und ihr eigenes Volk beschimpfen, dass es sich nicht schon früher dieses blutrünstigen Tyrannen erledigt habe? Sie sprechen zwar hochtönend von den Blutopfern, die ein solches Unterfangen gekostet hätte, die aber die weitaus grausigeren des Krieges vermieden haben würden; warum sind die denn nicht mit ›gutem‹ Beispiel vorangegangen? Sie mussten wohl ihr teures Leben schonen, um es heute zu Nutzen […] ihres Volkes einzusetzen, zum verächtlichen Gespött jedes anständig Denkenden unserer ehemaligen Kriegsgegner!«81 80 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 44f). 81 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 34 n. E.).

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Der deutsche Patriotismus, der von Isselhorst in seinen Memoiren wiederholt für seine Person in Anspruch genommen wurde, findet sich auch in der Passage über seinen Vater wieder, der in der Weimarer Republik im politischen Verdruss verebbte, bevor er sich als »treudeutscher« Patriot ebenfalls der »Bewegung der Jugend« anschloss.82 Diese Familiengeschichte seines Vaters und seiner erst späten Hingabe zum NS spiegelt sich bemerkenswerterweise auch in einer zeitgenössischen Quelle wider, in der Isselhorst am 23. August 1943 einen Vermerk zu einem Vorgang beim EK 1 der EG A anfertigte. Er beschrieb darin einen Vorfall, bei dem sich ein Wehrmachtskommandant weigerte, die Leiterin eines russischen Kinderheimes an die Stapo auszuliefern, obwohl Ermittlungen deren enge Verbindung zu der kommunistischen Partei ergeben hätten. Isselhorst, der sich gegen die Misstrauensvorwürfe seitens des Generalmajors der Wehrmacht verwehrte, schrieb daraufhin: »[…] Von einem Mißtrauen, wie der Generalmajor Sehmsdorf es annähme, könne daher keine Rede sein. Bezüglich der politischen Wandlung deutscher Menschen vor und nach der Machtübernahme habe ich dem Generalmajor bedeutet, daß es mir doch ein ungewöhnlich grosser Unterschied zu sein scheint, ob deutsche Menschen nach dem Krieg 14/18 und in den Wirren der Nachkriegszeit von allen, die bisher einen politischen Führungsanspruch geltend gemacht hätten, verlassen, sich in ein sozialdemokratisches oder kommunistisches Fahrwasser begeben und später wieder eine nationale Haltung und Politik und damit zur Partei des Führers gefunden hatten oder ob, wie im vorliegenden Falle, ein Ehepaar jahrzehntelang kommunistisch verseucht sei, so daß der Mann noch heute als Kommunist der Roten Armee und die Frau bis zum Erscheinen der deutschen Wehrmacht aktiv propagandistisch für den Bolschewismus gearbeitet habe.«83

Deutlich wird hier die Verbindung zwischen der eigenen Familiengeschichte und der im Osteinsatz getroffenen Rechtfertigung hinsichtlich der persönlichen Einstellungsveränderung bei eigentlich »treudeutschen« Patrioten, für den Isselhorst eben auch seinen Vater hielt. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Isselhorst den deutschen Patriotismus als verbindende Konstante im Übergang von der »deutschen Jugend« hin zum NS wahrnahm. Eine Argumentationskette, die auch nach dem Krieg aufgegriffen werden konnte. 82 RW 0725, Nr. 15, S. 3f. 83 Isselhorst, Erich: Vermerk Einsatzkommando 1 vom 23.8.1943, abgedruckt in: Mallmann, Klaus-Michael; Cüppers, Martin; Angrick, Andrej und Matthäus, Jürgen (Hrsg.): Deutsche Besatzungsherrschaft in der UdSSR 1941– 45: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion Band II Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg, Darmstadt 2013, S. 591–594, hier: S. 593.

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Diese patriotische Verortung in die westliche Kultur bot das Gerüst für seine weiteren Erinnerungen. Eindeutig zeichnet Isselhorst hier ein persönliches Bild, dass von einer elitären Selbstauffassung geprägt ist. Dieses Elite-Empfinden muss hinsichtlich zweier Bedeutungsebenen verstanden werden. Zum einen stellt sich Isselhorst als berufliche Elite dar, denn er ist eben aufgrund seiner »beruflichen Erfahrung« besonders prädestiniert für diese bedeutende Aufgabe. Zum anderen bezieht sich Isselhorst auf die darüberstehende ideologische Elite-Stellung seiner Person, denn er, als überzeugter Idealist des NS, besitzt explizit auch die geeignete »innere Einstellung« für diese Aufgabe. Dabei fand der Terminus »Kultur« in den Ego-Dokumenten von Isselhorst zunächst kaum Berücksichtigung. Erst mit dem Rückzug der deutschen Truppen aus Straßburg und seiner Versetzung nach Berlin Anfang Dezember 1944 schien sich Isselhorst dem Kulturbegriff anzunähern. Sowohl privat (Bekanntwerden der Affäre) als auch beruflich (Bombenangriff) befand sich Isselhorst in einer Krise, in der er zum ersten Mal in seinen Aufzeichnungen den für seine Definition von westlicher Kultur so wichtigen Gegensatz zwischen Europa und der Gefahr aus dem Osten ausmachte: »Gustel, wir stehen in einer schweren Zeit. Der Mongolensturm ist, wie vor 700 Jahren, über Europa, über uns gekommen. Wir wollen hoffen, daß es uns gelingt, ihn aufzuhalten und damit Europa und Deutschland zu retten vor einem grauenhaften Untergang. Was wir Männer der SS zu tun haben, ist uns klar, nicht weniger klar ist aber auch das Schicksal unserer Frauen. Sollten wir nicht mehr die Kraft aufbringen können zur Verteidigung und zur Vernichtung dieses unmenschlichen Feindes, dann muß ich dich deinem Schicksal überlassen. Ich glaube, daß du dort wo du z.Zt. bist, unbesorgt sein kannst, was deine Person angeht, denn irgendwie werden sich die westlichen Alliierten gerade zu diesem Raum einschalten. Sag dich los von mir, verrate mich, mach, was du willst, aber rette dich! Ich will nicht, daß du durch die Verbindung mit mir Schaden erleidest.«84

Der von Isselhorst heraufbeschworene Kampf um Leben und Tod war jedoch auch eine bewusste Dramatisierung seiner persönlichen Lage, um Druck auf seine Frau und deren Entscheidung zugunsten seiner Person aufzubauen. Dennoch hatte der »Mongolensturm«85, als jahrelang von der deutschen Propaganda geprägter und auch von Hitler selbst verwendeter Begriff für die Gefahr aus dem Osten, in das sprachliche Repertoire Isselhorsts Einzug gefunden. Diese Grundlage verhalf ihm drei Jahre später dazu, sich angesichts seiner Verurteilungen in den Kriegsgerichtsverfahren in Wuppertal und Straßburg, als Verteidiger der westeuropäischen Kultur zu stilisieren. Er schrieb Ende Juli 1947 an seine Frau: 84 RW 0725 Nr. 31 (Brief vom 19.01.1945). 85 Mazower, Mark: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 2009, S. 152.

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»Man hört so manches, was mich besonders beunruhigt, wenn es auch bzw. weil es gerade der von mir vorausgesehenen Entwicklung entspricht. Es würde, wenn es eintrifft, den Untergang der europäischen Kultur bedeuten. An ihr scheint aber gerade denen, die sich als Hüter dieser Kultur immer wieder aufwerfen, herzlich wenig gelegen zu sein. Der so schön nahe liegende Hass verblendete jede Einsicht, die zudem noch den unangenehmen Beigeschmack hat, von den verdammten Nazis vorausgesehen u. vorausgesagt worden zu sein.«86

Der Untergang der europäischen Kultur implizierte nicht, dass Osteuropa darin inbegriffen war. Isselhorst bezog sich auf seine empfundene Gefahr, die auch nach dem Krieg durch den Bolschewismus bestehen würde. Zudem belegt dieser Brief seine Vorstellung, dass der NS diese Gefahr schon zuvor erkannte und bekämpfte, und dass sich die Siegermächte, hier zynisch als »Hüter dieser Kultur« bezeichnet, nicht auf diese Gefahr fokussieren würden, sondern sich in einen ungerechten und vom Hass geleiteten Revanchismus abnutzten. Von diesem war Isselhorst nach eigener Überzeugung das Opfer. Darin integrierte er auch eine Art Verschwörungstheorie, nachdem die Auseinandersetzungen der Völker von einer darüberstehenden Gruppe von Staatsmännern initiiert wurden, ähnlich der Legende einer jüdischen Weltverschwörung, die Isselhorst im NS kennengelernt hatte. »[…] Alles auf der Welt steht Kopf, und nur wenige wissen, wa­rum; es sind die gleichen, die seit Jahrzehnten aus diesem Trubel ihren Nutzen ziehen. Sie wissen schon, wie man es anfangen und vollenden muss. Dass ganze Völker dabei krepieren, ist so völlig bedeutungslos! Wir stehen noch nicht am Ende dieser Entwicklung, und keiner weiss, wann der nächste Schlag kommen wird – bis auf die, die ihn führen werden. Und trotzdem dürfen wir uns nicht aufgeben, weil es nicht unser Recht ist. Das steht nur einem zu. Wer aber weiss, was Er mit uns vorhat? Vielleicht haben wir noch einmal Zeugnis abzulegen, vielleicht wird unsere Klage noch einmal einen gerechten Richter finden.«87

Nicht nur an dieser Stelle wurde der unterschwellige antisemitische Vorbehalt einer unterminierten europäischen Bevölkerung codiert. Die Argumentationslinien von Isselhorst besitzen oftmals diese Konnotationen, ohne dabei konkret ausgesprochen zu werden. Dies rührte von seiner Überzeugung her, dass der »Kampf gegen den Bolschewismus« gleichbedeutend ein Kampf gegen das Judentum sei. Die »Deutsche Jugend«, zu der sich Isselhorst zählte, war mit der Vorstellung des Verteidigungskampfes der abendländischen Kultur ebenfalls verbunden. Die eigentlichen Ideale der »deutschen Jugend«, wie er 86 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 24.07.1944). 87 RW 0725 Nr. 32 (Brief vom 15.08.1944).

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sie beispielsweise bei der beschriebenen Olympiade in Berlin 1936 erkannt haben wollte, mussten allerdings mit dem Ausbruch des Krieges neu justiert werden. Die wiederholt betonte Bereitschaft zur Völkerverständigung der »deutschen Jugend« verwandelte sich nun zu einem Patriotismus, der die nationalsozialistischen Ziele als äquivalent zu den historischen Expansionen der anderen westlichen »Kulturstaaten« zu rechtfertigen suchte. »Will man einen jungen Deutschen, ja einen Deutschen schlechthin das hohe Gefühl der Vaterlandsliebe, das Bewusstsein seiner nationalen und völkischen Kraft, den Willen zur unbedingten Aufopferung für seine Heimat absprechen? Sollten dies Eigenschaften sein, die einem Franzosen, einem Engländer, einem Amerikaner unbeschränkt eigen sein dürfen? Hatten Engländer, Franzosen, Spanier u.a.m. niemals das Bedürfnis sich in der Welt auszudehnen? Waren sie immer nur bereit, sich lediglich auf den begrenzten Raum ihres Staatsgebietes zu beschränken? Haben sie niemals Eroberungskriege geführt? Haben sie niemals Ansprüche auf weltweite Herrschaft, auf Kolonisation, auf wirtschaftliche Vormachtstellung erhoben? Kann man es Deutschland wirklich ernsthaft verzagen, dass es, das Herzstück des europäischen Kontinents, von allen Seiten eingeklammert, ein Ventil braucht, um die eingepresste Luft ausströmen zu lassen? Warum verweigert die Welt immer wieder Deutschland alles das, was sie für sich selbst fordert und einmal erreicht, verteidigt? Ist es da wirklich so verwunderlich dass dieses gepresste und eingegrenzte Deutschland voller Verzweiflung um sich schlägt, um sich Platz zum Luftholen zu machen?«88

Dieser Kanon von rhetorischen Fragen beinhaltete die Anklage und Rechtfertigung des Selbstentwurfes von Isselhorst im Jahre 1947. Der gravierende Widerspruch zwischen der »deutschen Jugend«, die den anderen Nationen in völkerverständigender Absicht die Hand reichte, und dem völkisch-patriotischen Drang zur Ausdehnung, zum Eroberungskrieg und zur weltweiten Herrschaft wird hier abenteuerlich durch das körpermetaphorische Bild des um sich schlagenden Deutschlands aufgelöst, das »sich Platz zum Luftholen« machen musste. Deutlich wird an dieser Passage die Verbindung zwischen NS-ideologischen Konstrukten (»Lebensraum im Osten«), der Schuldzuweisung für den Krieg an die ausländischen Mächte (Abwehrkampf) und der Vorstellung von einem eingeengten Deutschland, das von anderen Nationen neidisch betrachtet wurde. Der hier auf bizarre Weise vollzogene Sprung zwischen NS-Rhetorik und historisch falschen Angaben scheint jenem Kohäsionsdrang geschuldet, den Isselhorst für seine Geschichte und die Rechtfertigung seiner Person benötigte. Auch die symbolische Beschreibung Deutschlands anhand eines Körpers, der »sich Platz zum Luftholen« 88 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 9f).

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macht, wurde von Isselhorst an anderen Stellen getätigt.89 Daher verteidigte Isselhorst die Ziele der NS-Bewegung auch so vehement, denn sie waren Grundlage für die Legitimierung seines eigenen Handelns. »Die Welt ist ja bereits verteilt, und sie wird gerade von denen eindeutig beherrscht, die uns solche Gelüste unterschieben wollen! Wir wollen nur den bescheidenen Anteil, der uns als Kulturnation im Rahmen der anderen Völker gebührt und den wir zum Leben brauchen! Dass wir zur Beherrschung von weiteren Räumen allerdings ebenso wie Engländer, Franzosen, Amerikaner oder Spanier und Holländer auch fähig waren, dass wir alle Eigenschaften dazu besitzen, dass wir ›die Kerle‹ dazu sind, das hat der Nationalsozialismus den Deutschen beizubringen versucht. Diese Auffassung hat er ihm zur Stärkung seines Selbstbewusstseins eingehämmert und eingetrichtert, bis es daran glaubte und sich zu einer Gewaltleistung aufraffte.«90

Isselhorst war freilich nicht die einzige Person, die den Angriff auf die Sowjetunion als einen Verteidigungskrieg beziehungsweise als Präventivkrieg wahrnahm. Nicht zuletzt die NS-Propaganda hatte über Jahre ihren Beitrag dazu geleistet, sodass diese Vorstellung in breiten Bevölkerungsteilen existierte.91 Doch die Überzeugung Isselhorsts ging darüber hinaus, denn es ist die Rolle des patriotischen Kulturverteidigers – also eine Position, die sich gegen einen Angriff zur Wehr setzt –, die die Grundlage seines Selbstentwurfes 1947 ausmachte. Anhand einer Anekdote Isselhorsts, in der er sich an eine Sitzung im Propagandaministerium im Dezember 1943 erinnerte, also kurz vor seinem Amtsantritt in Straßburg, kann dieser Aspekt nachvollzogen werden: »Später dann hat allerdings einmal eine Goebbel’sche Ausführung nicht nur meine Ablehnung, sondern meinen hellen Zorn erregt. Das war im Dezember 1943. […] Im Laufe seiner Rede nun machte Goebbels auch Ausführungen über die Zerstörungen der deutschen Kultur-Baudenkmäler durch Luftangriffe. Er erklärte, ›wir Deutsche müssten uns frei machen von der längst überholten Anhänglichkeit an ›alten Schinken‹, die keinen realen Wert mehr darstellten. Die Verehrung mittelalterlicher 89 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 20). An dieser Stelle beschreibt Isselhorst den ersten Reichsparteitag in Nürnberg: »in einem jubelnden Aufatmen legte das deutsche Volk dem Führer seinen Dank zu Füssen […].« 90 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 10). 91 Vgl. Wette, Wolfram: Saddam Hussein als Wiedergänger Hitlers? NS-Vergleiche in der Kriegspropaganda von Demokratien; in: Heintze, Hans-Joachim u. Fath-Lihic, Annette (Hrsg.) Kriegsbegründungen. Wie Gewaltanwendungen und Opfer gerechtfertigt werden sollten, Berlin 2008, S. 93–110, hier: S. 94. Bemerkenswerterweise findet sich diese Behauptung der NS-Propaganda auch in anderen Studien. Vgl. Longerich, Peter: Hitler. Biografie, München 2015, Fußnote 3691.

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Baudenkmäler wie z.B. die Nürnberger Altstadt, die nicht mehr als einen erhebenden Eindruck rührseliger Romantik hinterliessen, müsse einer der neuen Zeit angepassten Zweckmässigkeit Platz machen. So schmerzlich den einen oder anderen Anhänger solcher veralteten Anschauungsweise der Verlust dieser historischen Denkmäler auch berühren möge, so schaffe es doch die Voraussetzung für eine neuzeitliche, hygienisch einwandfreie, unserem architektonischen Empfinden angepasste Aufbauarbeit!‹ […] Das war eine ungeheure Blasphemie, wie ich sie mir als geschworener Anhänger und Verehrer der abendländischen Kultur wirklich nicht schlimmer vorstellen konnte! Entweder war dies seine ernste, wirkliche Meinung, dann stand sie im Gegensatz zu allem, was mir und Millionen Deutscher heiligstes Gut war; oder es war die Auffassung, aus der Not eine Tugend zu machen, aber in so offenkundig überheblicher, zynischer, leichtfertiger Form, dass sie mir verächtlich erscheinen musste. Ich war zutiefst erschüttert, zumal diese Ausführungen die überwiegende Zustimmung der Anwesenden zu finden schienen, wie aus dem Beifall zu schliessen war.«92

Obwohl er im Dezember 1943 noch Tagebuch schrieb, wurde dieses Erlebnis nicht erwähnt. Es ist anzunehmen, dass dieser Erinnerung erst durch seinen Selbstentwurf im Jahr 1947 eine Bedeutung beigemessen wurde. Explizit findet sich an dieser Stelle die Selbstbeschreibung, dass Isselhorst ein »geschworener Anhänger und Verehrer der abendländischen Kultur« sei. Dass er in diesem Zusammenhang mit Terminologien wie »Blasphemie« und »heiligstes Gut« operiert, muss im Spiegel seiner religiösen Überzeugungen jener Zeit gedeutet werden. Der christliche Glaube hatte während seiner Haftzeit einen starken Einfluss auf Isselhorst, so dass er – wie bereits angedeutet – im Jahre 1947 der Überzeugung war, dass er auch die christlichen Kirchen im Rahmen seiner Gestapo-Arbeit beschützte. Da er 1947 die Kulturverteidigung als wesentliche Aufgabe der NS-Bewegung sah, zeigte sich Isselhorst in der Beschreibung äußerst bestürzt darüber, wie leicht diese Kulturdenkmäler preisgegeben werden sollten. Die Ausführungen von Goebbels wurden noch präzisiert: »Mit aller wünschenswerten Klarheit aber auch hat er immer wieder darauf hingewiesen: wenn Deutschland diesen Krieg verliert, so wird dies die vollkommene Niederlage seiner Geschichte sein; es wird im niedrigsten Sklaventum absinken! Und noch ein zweites hat er vorausgesagt und vorausgesehen: die ungeheure Gefahr des Bolschewismus für den Bestand der abendländischen Kulturwelt! Das erstere begünstigt das letztere. […] Die abendländische Kulturwelt, darin stimme ich der Goebbel’schen Auffassung in vollem Umfange zu, wird es einmal bereuen, dass sie den im nationalsozialistischen Deutschland gegebenen natürlichen und weltanschaulichen Abwehrblock vernichtete, um eine geringere Gefahr gegen die viel grössere des Sklaventums einzutauschen. 92 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 13f nach Einschub).

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Untergang des Abendlandes! Wer will bestreiten, dass Spenglers Theorie dem Stadium einer unmittelbaren Verwirklichung um ein Bedeutendes näher gerückt ist?«93

An dieser Stelle nun wurde die überwältigende Gefahr des Bolschewismus ausformuliert. Gleichzeitig wurde die Bedeutung des Nationalsozialismus als »Abwehrblock« und als Beschützer der abendländischen Kultur betont. Isselhorst sprach explizit das Werk des deutschen Geschichtsphilosophen Oswald Spengler (Jg. 1880) an, dessen zyklische Geschichtstheorie von morphologischen Kulturen ausgeht, die jeweils etwa 1.000 Jahre bestehen, bevor sie untergehen. Sein Hauptwerk mit dem passenden Titel »Der Untergang des Abendlandes« wurde bereits 1918 und später in weiteren Auflagen veröffentlicht. Obgleich er die NS-Bewegung und Adolf Hitler zeitlebens ablehnte, wurden seine Lehren von NS-Ideologen oftmals aufgegriffen und instrumentalisiert.94 Für Isselhorst bedeutet der Bezug auf Spengler jedoch auch eine argumentative Entlastung. Denn durch die Referenz auf die wissenschaftliche Theorie Spenglers, kann Isselhorst seine Argumentation hinsichtlich der Verteidigung des Abendlandes untermauern. Die Bedeutung dieser Referenzkonstruktionen liegt »in der Bereitstellung von argumentativen Verknüpfungen, die Wahrheit und Bedeutung signalisieren – und den einzelnen Sprecher von der Begründung der Wahrheit und Bedeutung einer bestimmten argumentativen Basis entlasten.«95 Somit ist es wenig verwunderlich, dass Isselhorst sich in seiner Vorstellung von der Verteidigung eines kulturellen Abendlandes auf Spengler bezog.

4.4 Arbeit in der Gestapo In einigen neueren Forschungsarbeiten wird das Motiv des »Karrierismus« als ein zentrales Handlungsmotiv der NS-Täter gesehen. Die Aufstiegsmöglichkeit durch bedingungslose Umsetzung der Befehle ist ein 93 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 13–15 nach Einschub). 94 Vgl. Kittsteiner, Heinz Dieter: Oswald Spengler zwischen »Untergang des Abendlandes« und »Preußischem Sozialismus«; in: Hardtwig, Wolfgang u. Schütz, Erhard (Hrsg.), Geschichten für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 309–330. Beispielhaft für die vielschichtige Bedeutung Spenglers in der NS-Ideologie: Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 10, 110, 156f. 95 Platt, Kristin: Fichte als Pfadfinder. Der geschichtsgestaltende Krieg im historisch entscheidenden Moment; in: Dabag, Mihran u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 93–141, hier: S.108.

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nicht zu vernachlässigender Faktor. Schließlich ist nicht zu leugnen, dass viele NS-Karrieren gerade von dieser harten Linie gefördert wurden.96 Als bestechendes Beispiel für die Verbindung von Karriereaufstieg und bedingungsloser Härte bei der Umsetzung von Befehlen, die als verbrecherisch einzustufen sind, kann die Untersuchung von Jörn Hasenclever herangezogen werden. Hasenclever untersuchte in seiner Arbeit die Karrieren von Befehlshabern in Russland und konnte feststellen, dass diese differenziert vorgingen. Während Max von Schenkendorff (Jg. 1875) noch im Polenfeldzug Gräueltaten ablehnte, entwickelte er in den Folgejahren ein allmähliches Akzeptieren der »Partisanenaktionen«. Dies geschah allerdings mit Abstrichen, indem er versuchte, die »Aktionen« eher von einheimischen Polizeigruppen durchführen zu lassen. Sein bereits vor dem Krieg ausgeprägter Antisemitismus widersprach einer konsequenten Ablehnung der »Aktionen«.97 »Mit dem berüchtigten Partisanenlehrgang Ende September 1941 schloss sich Schenckendorff offiziell der Argumentationslinie der SS an, dass dort, wo der Jude sich aufhielte, auch die Partisanen seien und umgekehrt.«98 Die Untersuchung dieser auch von Erich Isselhorst partiell mitgestalteten Lehrgänge bilden ein vielversprechendes Forschungsdesiderat, da hier der unmittelbaren Zusammenarbeit von Sicherheitspolizei und Wehrmacht Vorarbeit geleistet wurde. Die Treffen sind hinsichtlich der Dynamik und der Erschaffung eines gemeinsamen Handlungsraumes, in dem die Verbrechen koordiniert und durchgeführt wurden, ein bislang noch unzureichend analysierter Faktor. Die von Hasenclever ebenfalls untersuchten Berücks Franz und Karl von Roques können im Vergleich die unterschiedliche Wirkung von Umsetzungsstrategien auf die Karriere verdeutlichen. Karl von Roques (Jg. 1880) lehnte zunächst die Beteiligung seiner Einheiten an Massenerschießungen strikt ab, obwohl er überzeugter Antisemit war. Für ihn war dies die alleinige Aufgabe der Sicherheits- und Polizeikräfte. Diese Zurückhaltung scheint jedoch von wenig hartnäckigem Gehalt gewesen zu sein, denn bereits im August 1941 beteiligten sich seine Soldaten an der Massenerschießung in Kamenez-Podolsk, bei der etwa 23.600 Menschen ermordet wurden. Nicht zuletzt seine institutionelle Zusammenarbeit mit dem HSSPF Jeckeln ist Sinnbild für die aktive Zusammenarbeit bei den Mordaktionen. Allerdings war Karl von Roques als Offizier im Generalsrang, der bereits im Ersten Weltkrieg mitgekämpft 96 Vgl. Mallmann, Klaus-Michael u. Paul, Gerhard (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiografien, Darmstadt 2004. 97 Vgl. Hasenclever, Jörn: Die Befehlshaber der rückwärtigen Heeresgebiete und der Mord an den sowjetischen Juden; in Richter, Timm (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 207–218, hier: S. 216. 98 Ebd. S. 208f.

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hatte, wohl nicht auf Beförderungen aus, als er diese Maßnahmen durchführen ließ. Bei seinem Cousin Franz von Roques (Jg. 1877) war diese Bereitschaft weitaus weniger vorhanden. Franz von Roques protestierte mehrfach gegen die Massenerschießungen und verbot der eigenen Truppe die Beteiligung an ebensolchen. Auch sein Versuch, den HSSPF Russland Nord Adolf Prützmann von der Eingrenzung der »Aktionen« zu überzeugen, misslang.99 Genau wie sein Cousin Karl wurde er Anfang des Jahres 1943 im Rahmen der Aktion »Winterfestigkeit« in die Führerreserve versetzt. Ein Beispiel für die Belohnung von bedingungsloser Härte im Umgang mit Gefangenen sind die von Tzani untersuchten weiblichen KZAufseherinnen. Anders als dies bei den vorherigen Beispielen der Fall war, bestand bei dieser Tätergruppe aufgrund des Einkommens und der Möglichkeit zum sozialen Aufstieg ein erhöhtes Karrierestreben.100 Die partizipatorische Rolle der Frauen im Nationalsozialismus war bereits in den 30er Jahren Gegenstand einer soziologischen Studie von Theo­ dore Abel. Darin wird deutlich, dass es nicht alleinig das Karrierestreben war, was die Begeisterung für die NS-Bewegung beeinflusste, sondern eher die Vorstellung der Teilnahme an der Erschaffung einer klassenlosen »Volksgemeinschaft«, die sich gegen die bestehenden politischen Verhältnisse erheben sollte. So entstand ein Paradoxon, »dass eine emanzipationsfeindliche, autoritäre Bewegung wie der Nationalsozialismus bei seinen Anhängerinnen Emanzipationsprozesse in Gang setzen und rebellische Energien entfesseln konnte – auch wenn den Frauen jede Mitbestimmung verwehrt blieb.«101 Bei Erich Isselhorst fällt es schwer, ein eindeutiges Urteil über die Gewichtung der karrieristischen Motive zu fällen. Anfänglich ist die Aufstiegsmöglichkeit sicherlich ein bedeutender Faktor für den Juristen. Dies wird verstärkt durch seine Befürchtung, in den beginnenden 30er Jahren aufgrund der hohen Absolventenzahlen im Jura-Studium keine Arbeitsstelle zu erhalten. Doch scheint schon von Beginn an nicht die Karriere an sich ausschlaggebend zu sein, obgleich sie in der Selbststilisierung von Isselhorst schon als Mittel verwendet wird, um sich selbst als erfolgreicher Karrieremensch bei seiner Frau darzustellen, wie er dies in einem Brief vom 5. Juli 1935 tat, in dem er seine guten Aufstiegschancen und sein Gehalt von mindestens 310 Reichsmark im Monat betonte.102 Dieses Gehalt bedeutete in damaligen Verhältnissen, in denen viele Arbeiterfamilien mit unter 40 RM pro Woche auskommen mussten, 99 Vgl. Ebd. S. 214. 100 Vgl. Tzani, Fotini: Zwischen Karrierismus und Widerspenstigkeit – SS-Aufseherinnen im KZ-Alltag, Bielefeld 2011, S. 50. 101 Staas, Christian: Ihr Kampf; in: Die Zeit Nr. 28 (2017), S. 19. 102 RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 05.07.35).

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ein überdurchschnittliches Einkommen.103 Doch dass die monetäre Vergütung für Isselhorst nicht oberste Priorität besaß, zeigt sich an dem bereits behandelten Beispiel, in dem Isselhorst 1935 die Möglichkeit ablehnte, die Gestapo zugunsten einer Landratsstelle zu verlassen. In dem Brief an seine Frau vom 31. Juli 1935 erklärte er diese Ablehnung damit, dass »das Geld alleine […] auch nicht immer ausschlaggebend sein [darf].« Und ihn seine »augenblickliche Tätigkeit mehr« reizen würde.104 Isselhorsts Stellung als Stapoleiter und die damit einhergehenden Machtbefugnisse im Rahmen der Mitwirkung an der NS-Bewegung schienen hier einen essentiellen Einfluss auf seine Entscheidung besessen zu haben. Interessant ist zudem der Vergleich dieser Aussage mit der Erklärung Isselhorsts über seine Arbeit bei der Gestapo, die er nach dem Krieg in einem Brief vom 12. Juni 1947 aus dem Gefängnis in Straßburg an seine Frau machte: »Ich muss mir heute immer wieder vorhalten lassen, was für ein mächtiger Mann ich damals gewesen bin. Damals habe ich, gemessen an der Behandlung, die mir von Seiten der wahren Grössen zuteil wurde, alles andere als das annehmen können, dass ich einmal als eine ›Grösse‹ des 3. Reiches angesprochen werden würde! Sind wir beide jemals so vermessen gewesen, das für uns in Anspruch zu nehmen? Wie oft haben wir uns schon in dem Wunsche glücklich gefühlt, ich könnte einmal Landrat werden! Das war für uns ein so erstrebenswertes Ziel, dass dagegen meine ›grossmächtige‹ damalige Stellung richtig verblasste! O, Ironie des Schicksals!«105

Das von Isselhorst hier herausgestellte Bild des eigentlichen Wunsches, Landrat zu werden, wird auch unterschwellig in seinen im Spätsommer 1947 angefertigten Memoiren hervorgehoben: »Die Jahre 1933 u. 1934 hatten eine Überfüllung sowohl des Anwaltsberufes wie auch der Industrie mit Juristen mit sich gebracht, sodass ein sofortiges Unterkommen in diesen Berufen und dem Examen nicht möglich war. […] Als im Februar 1935 fachlich gut qualifizierte u. politisch zuverlässige Juristen für den Auf- und Ausbau der Geheimen Staatspolizei gesucht wurden, meldete mich mein Vorgesetzter, nachdem er sich durch Hinweis auf Aufstiegs- u. Entwicklungsmöglichkeiten sowie verhältnismässige unabhängige Tätigkeit meine Zustimmung eingeholt hatte. Die neue Laufbahn erschien mir nicht nur nach dem im SD gewonnenen Interesse für die politische Abwehrarbeit eine gewisse Befriedigung zu gewährleisten, sondern stellte nach den Erklärungen des damaligen 103 Vgl. Mason, Timothy W.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936–1939, Opladen 1975, S. 72f. 104 RW 0725, Nr. 28. 105 RW 0725 Nr. 32.

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Chefs der Gestapo u. des SD, Heydrich, auch einen möglichen Übergang in andere Ämter der inneren Verwaltung (Landrat, Regierungspräsidium, Innenministerium) in Aussicht.«106

Der Widerspruch zwischen den zeitgenössischen Briefen und den Angaben aus den Memoiren des Jahres 1947 erscheint hinsichtlich seines Selbstentwurfes sinnvoll. Isselhorst wählte 1947 die Rolle eines kritischen Beobachters der NS-Zeit. Aufgrund dieser kritischen Einstellung gewann die Position des Landrat-Postens in der Erinnerung an Attraktivität, denn in ihm konnte Isselhorst seine Vorstellung eines geruhsamen Familienlebens verwirklicht sehen. Gleichzeitig erklärt er jedoch, dass sein »im SD gewonnene[s] Interesse für die politische Abwehrarbeit« sein maßgeblicher Beweggrund für die Bewerbung bei der Gestapo war. Insofern konnte er in seinen Memoiren sowohl seine Erinnerung an die mögliche Landrats-Position als auch das damit verbundene sichere Familienleben mit seiner kritischen Haltung gegenüber Teilen der NS-Bewegung in Einklang bringen. Tatsächlich war Isselhorst, wie der Brief aus Erfurter Zeit belegt, mit seiner Tätigkeit und seiner Stellung zufrieden. Leider fehlt es an Dokumenten, die eine Entwicklung dieser Einstellung in den Jahren 1935–1941 nachzeichnen könnten. Die Quellen machen deutlich, dass für Isselhorst die monetäre Vergütung für seine Entscheidung nicht ausschlaggebend war. Beförderungen bildeten stets ein Anreiz für seine Arbeit im Gestapo-Apparat – dies belegen diverse Dokumente, in denen er sich über seine verzögerten Beförderungen beschwerte.107 Jedoch war dies kein dominanter Faktor. Trotz seiner Disziplinarstrafe aus dem Jahr 1941, die einen zweijährigen Beförderungsstopp mit sich zog, war Isselhorst auch in den darauffolgenden Jahren uneingeschränkt dazu bereit, die NS-Bewegung bei den Einsatzgruppen zu unterstützen. In seiner Selbstverortung musste die Arbeit in der Gestapo eine gesonderte Rolle einnehmen. Isselhorst sah sich aufgrund seiner Gerichtsurteile und dem öffentlichen Bild über die Gestapo dazu genötigt, sein Wirken in der Organisation zu erklären. Darüber hinaus konnte er in dieser Arbeit der Kulturverteidiger sein, der aus patriotischen Motiven seinen »Kampf gegen den Bolschewismus« führen konnte. Aus diesem Grund widmete Isselhorst den sicherheitspolizeilichen Strukturen einen wesentlichen Teil seiner zweiten Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich«. Deutlich ging Isselhorst auf den Unterschied zwischen der Gestapo und dem sowjetischen Geheimdienst NKWD ein, um aufzuzeigen, wie wichtig die Arbeit der Gestapo während des Zweiten Weltkrieges war: 106 RW 0725 Nr. 21. 107 RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 02.07.1944). Sowie: RW 0725 Nr. 11 (Tagbucheinträge vom 09./10.09.1942).

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»Aber das ist so unbedeutend gemessen an den Erkenntnissen, die die Stapo vor dem Kriege u. während des Krieges über die Arbeit dieser wahrhaft verbrecherischen Organisation des NKWD sammeln konnte, und an den Erfahrungen, die das deutsche Volk und mit ihm andere Völker des ost- und mitteleuropäischen Raumes heute am eigenen Leibe tagtäglich machen! Ich habe 10 Jahre lang an dieser Erkenntnissammlung und Abwehr der Ausstrahlungen der NKWD-Arbeit mitgewirkt. Ich kann nur der Hoffnung Ausdruck geben, dass nie der Zeitpunkt kommen möge, an dem die Völker Europas u. vielleicht sogar der Welt zu spät erkennen u. bereuen müssen, dass sie mit der heute aus politischpropagandistischen Gründen angeblich so notwendigen Diffamierung und Zertrümmerung der deutschen Stapo sich eines so wichtigen Abwehrapparates entledigt haben!«108

Die Kernaufgabe der Stapo war dementsprechend die eines »Abwehrapparates« und dies entsprach Isselhorsts Vorstellung einer Verteidigung der europäischen Kulturnationen. Die Notwendigkeit einer politischen Polizei erläuterte Isselhorst anhand der Erfahrungen in der Zeit der Weimarer Republik, in der er bereits den »immerwährenden Kampf« zwischen der »Extremen Internationalen« und dem »Deutschen Sozialismus« erkannte. Nicht zuletzt die Anekdote über seinen eigenen Kampf gegen die kommunistische Belegschaft der Düsseldorfer Firma aus dem Jahr 1928 diente als eine persönliche Referenz für diesen Kampf. Es gab, wie er schrieb, »zur Sicherung des Siegers und zur Festigung seines staatspolitischen Zieles im Kampf gegen die Illegalitätserscheinungen nur eine Lösung: die Schaffung einer grosszügigen politischen Polizei«109. Für Isselhorst war somit die Gründung der »politischen Polizeien der Länder«, die 1936 im »Gesetz über die Geheime Staatspolizei« mündete110, eine logische Folge dieses ideologischen Kampfes, den er und seine Mitstreiter erlebten. Die Zusammenführung der gesamten deutschen Polizei unter Heinrich Himmler war zwar institutionell ein gravierender Akt, für die Gestapobeamten bedeutete dies jedoch nur geringfügige organisatorische Änderungen. Zuständigkeitsverschiebungen und Kompetenzerweiterungen durchzogen die Gestapo bis Kriegsende, so dass Isselhorst feststellte: »Die Staatspolizei ist daher eine Folge der von ihrem Gründungsakt an ständig fliessenden Entwicklung nie zu einem endgültigen organisatorischen Abschluss gekommen, sondern immer ein Torso geblieben.«111 In der Tat deckt sich diese Einschätzung von Isselhorst mit den Erkenntnissen zur Organisationsstruktur der Gestapo in 108 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 4). 109 Ebd. 110 Vgl. Dams, Carsten u. Stolle, Michael: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 4. Auflage, München 2017 (zuerst 2008), S. 28. 111 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 4).

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historischen Forschungen, welche darin jedoch eine bewusste Methodik hinsichtlich einer »dynamisch orientierte[n] Polizei« erkennen.112 Das Organigramm wurde von Isselhorst von der Spitze abwärts beschrieben, darunter auch die Instanzen unter dem RSHA, wie sie sich in den einzelnen Regierungsbezirken und in den »kleineren Ländern« fanden, in denen als Mittelinstanzen die Staatspolizeistellen und SD-Abschnitte fungierten. Jedoch gab es bei der Gestapo, laut Isselhorst, keine unteren Instanzen wie bei der Landratsverwaltung: »die sog. ›Aussendienststellen‹ waren keine solchen, sondern galten als ›defachierte Kommandos‹ der jeweiligen Stapostelle oder des SD-Abschnittes. Im Übrigen traten in den unteren Instanzen die Kreispolizeibehörden als Hilfsorgane der Stapo auf«.113 Der RFSS und Sipo-Chef waren im Reichsministerium des Inneren eingebaut. Himmler besaß neben dem Minister einen eigenen Sitz und eine Stimme im Ministerrat. Da seine eigene Funktion als BdS und in den Einsatzgruppen zugleich auch beeinflusst wurde von den Funktionen des HSSPF und des Inspekteurs der Sipo, waren ihm diese beiden Positionen besonders wichtig: »In diesem Aufbau waren nun noch zwei Dienstaufsichtsorgane eingeschoben. Es waren dies einmal der ›Höhere SS- u. Polizeiführer auf dem Gesamt-Sektor der Deutschen Polizei (Sicherheitspolizei u. SD einerseits, Ordnungspolizei, Gendarmerie usw andererseits) für den RFSS Himmler in seiner Eigenschaft als Chef der Deutschen Polizei, und zum anderen der ›Inspekteur der Sipo u. SD‹ für den Chef der Sipo u. SD. Der In­spekteur war neben der räumlichen Unterstellung unter den Höheren SS- und Pol-Führer, zu dessen Stab er gehörte, unmittelbar dem Chef Sipo u. SD sowie seinen sämtlichen Amts-Chefs beim RSHA unterstellt. Er war keine fachliche Zwischeninstanz, sondern hatte ausschliesslich Inspektions- bzw. Dienstaufsichtsaufgaben, die sich auf die Organisation und die Verwaltung sowie auf die generelle Beobachtung des Dienstablaufs im Rahmen der von der Führung gegebenen Befehle bezogen.«114

Isselhorst betonte an dieser Stelle deutlich, dass der IdS dem HSSPF unterstellt war und lediglich »Inspektions- und Dienstaufsichtsaufgaben« besaß. Freilich geschah diese Betonung der eigenen systemischen Eingebundenheit als argumentative Stütze seiner Unschuldsbehauptung für die begangenen Kriegsverbrechen. Dass der IdS durchaus wesentliche Befugnisse hatte, belegt das Beispiel des Sila Schirmeck-Vorbruck. Generell 112 Vgl. Dams, Carsten u. Stolle, Michael: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 4. Auflage, München 2017 (zuerst 2008), S. 8. Die Bezeichnung beruht auf der juristischen Dissertation des Bremer Stapo-Leiters Alfred Schweder aus dem Jahr 1937, der diese notwendige Variabilität als wichtiges Charaktermerkmal der Gestapo hervorhob. 113 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 4f). 114 Ebd.

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waren die IdS zwar kaum mit institutioneller Macht ausgestattet, konnten dieses Defizit allerdings durch persönliches Durchsetzungsvermögen kompensieren. Erst ab Juni 1941 übernahmen die IdS die Leitung der Stapo-Leitstellen, ab Januar 1942 auch die Kripo-Leitstellen und wurden so formell in die bürokratischen Strukturen der Sipo eingebunden.115 Die Aufgaben der Gestapo waren umfangreich, doch gliederten sie sich laut Isselhorsts Aussagen grundsätzlich in zwei Bereiche. Diese bestanden zum einen aus den Exekutiv-Maßnahmen, die bedeuteten, dass die »Stapo Hilfsorgan der dt. Rechtspflege [war]«, d.h. nur Ermittlungsarbeit für die Staatsanwaltschaft leistete und hierin wie die Kripo an die Strafprozessordnung und das »Gerichtsverfassungsgesetz« gebunden war. Dies wurde durch die Tatsache garantiert, dass »nicht nur die Leiter der Stapostellen Voll-Juristen, sondern auch alle leitenden Exekutivbeamten juristisch geschult waren und auch das übrige Personal durch laufende Belehrungen mit den Gesetzesbestimmungen vertraut war.«116 Zum anderen hatte die Gestapo auch Präventiv-Maßnahmen durchzuführen. Hierfür erhielt die Stapo eigene Strafmittel – dazu zählten Redeverbot, Aufenthaltsverbot, Ausweisung, Meldepflicht und vor allem die Schutzhaft. »Ihre Verhängung hatte regelmässig die Einweisung in ein ›Konzentrationslager‹ zur Folge.«117 Die Entscheidungen über die Schutzhaft mussten laut Isselhorst stets mit dem RSHA abgesprochen werden und waren dadurch vom Staat legitimierte Sanktionen. »Das [gemeint ist die vorherige Einholung der Genehmigung durch RSHA, Anm. d. Verf.] traf generell auf alle Schutzhaftfälle zu, über die ausschliesslich das Reichssicherheitshauptamt auf Grund des vorgelegten Materials, oft erst nach mehrmaligen Rückfragen und Ermittlungsergänzungen entschied.«118 Dass insbesondere die Schutzhaft-Maßnahmen in einer derart geregelten Form abliefen, ist angesichts der zahlreichen Schutzhaft-Einweisungen ausgesprochen unrealistisch und entsprach keinesfalls der tatsächlichen Praxis. Ab 1934 wurden Schutzhaftbefehle mit einem Aktenzeichen versehen, welches den Anfangsbuchstaben des Gefangenen und eine durchlaufende Ziffer enthielt. 1945 wurde als einer der letzten Schutzhaftbefehle das Aktenzeichen »M 34.591« ausgestellt, was für eine enorme Anzahl an Schutzhaft-Einweisungen spricht, die keineswegs vom RSHA im Einzelfall geprüft werden konnte.119 Es war ein 115 Vgl. Stolle, Michael u. Dams, Carsten: Das Unternehmen Gestapo. Eine historische SWOT-Analyse; in: Becker, Manuel u. Studt, Christoph (Hrsg.) Der Umgang des Dritten Reiches mit den Feinden des Regimes, Berlin 2010, S.79–98, hier: S. 91. 116 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 6). 117 Ebd. 118 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 7). 119 Vgl. Stolle, Michael u. Dams, Carsten: Das Unternehmen Gestapo. Eine historische SWOT-Analyse; in: Becker, Manuel u. Studt, Christoph (Hrsg.) Der

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willkürliches Terrorinstrument der Gestapo. Die darauffolgende Passage veranschaulicht eine zweite Facette der Arbeit der Gestapo und des Vorgehens des RSHA, das auch ohne juristische Grundlage Maßnahmen durchzuführen wusste: »In diesem Zusammenhang erscheint noch erwähnenswert, dass die Stapo häufig, ohne dass die einzelnen Dienststellen selbst Ermittlungsmaterial vorliegen hatten, auf Weisung der Reichszentrale Massnahmen durchzuführen hatten, deren Notwendigkeit oder Zweckmässigkeit nur von der zentralen Führung selbst auf Grund des dort vorhanden Materials erkannt werden konnte und die regelmässig auf Befehl oder mit Zustimmung des Reichsoberhauptes ausgelöst wurden.«120

Begründet wurden diese übergeordneten Maßnahmen mit dem darüberstehenden Kampf gegen den Kommunismus, der eben auch der von Isselhorst intendierten Kulturverteidiger-Rolle entsprach: »Es gibt kein Volk – ausser dem russischen –, das den Kommunismus in allen seinen Schattierungen, allen Verästelungen seiner Organisationen, allen legalen und illegalen Erscheinungsformen, allen internationalen Bestrebungen und allen seinen Methoden der legalen und illegalen Infiltrierung so am eigenen Leibe erfahren hat wie das Deutsche; es gibt keine Polizei der Welt, der die Aufklärung dieser Weltgefahr in systematischer Abwehrarbeit so weitgehend gelungen ist wie der Stapo. Die Zukunft wird lehren, dass es falsch war, diese Erkenntnisse unserer Abwehrarbeit lediglich als nationalsozialistischer Zweckpropaganda abzutun. Wer behauptet, dass der Kommunismus bei richtiger Behandlung eine staatspolitisch ungefährliche, ja sogar national-gebundene Erscheinung sei, kennt weder seine wahre Ideologie noch die Wandlungsfähigkeit, die ihm anhaftet.«121

Andere ideologische Gegner, wie die Sozialdemokraten und die »Rechtsreaktionäre«, wurden, laut Isselhorst, von der Gestapo nur untergeordnet »bearbeitet«. Weitere Aufgaben, wie die Spionageabwehr, die oft beschriebenen Schutzdienstaufgabe und die Bekämpfung der politischen Korruption, wurden ebenfalls nachrangig behandelt, obgleich die letztere Aufgabe eben auch zum Verruf in der Bevölkerung beitrug: »Besonders das letztere Aufgabengebiet hatte zur Folge, dass die Stapo neben der instinktiven Ablehnung im breiten Volke, oh Ironie des Schicksals! – sich auch die Gegnerschaft der Partei zugezogen hatte, also gerade die Institution, die sie in ihrem Staat aus der Taufe gehoben hatte!«122 Umgang des Dritten Reiches mit den Feinden des Regimes, Berlin 2010, S. 79–98, hier: S. 83. 120 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 7). 121 Ebd. 122 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 8).

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Auf Anordnung Himmlers sollten die Stapo-Beamten alle zwei Jahre ihren Standort wechseln – ein Aspekt, den Isselhorst in Bezug auf seine eigene frühzeitige Versetzung aus München dazu nutzte, von oftmals frühzeitigen Versetzungen zu sprechen, die aufgrund korrumpierter NSPersönlichkeiten stattfanden.123 All diese Beschreibungen bezogen sich in Isselhorsts Darstellungen auf die Organisation und die Arbeit der Stapo in Friedenszeiten. Dies änderte sich erheblich mit dem Beginn des Krieges 1939 und dem späteren Angriff auf die Sowjetunion. So wurde der Personalbestand deutlich angehoben. Eine Entwicklung, die von Isselhorst in der Retrospektive kritisch betrachtet wurde: »Die damit verbundene Niveauverflachung hat im Zusammenhang mit der Übertragung der kriegsgebundenen, oft sehr harten Aufgaben für den Schutz der Truppe und der Verwaltung in den besetzten Gebieten nicht unerheblich dem Verruf beigetragen, in dem die Stapo vor aller Welt steht. Es hat genügend Angehörige der Stapo gegeben, denen diese Entwicklung ›contre coeur‹ war und die es nicht nur bei einer inneren Abkehr bewenden liessen. Sie hätten lieber ihre Pflicht als Soldat getan, als sich als ›Mülleimer‹ für Aufgaben benutzen zu lassen, die im Existenzkampf eines Volkes zwar notwendig erschienen, aber von niemand gerne übernommen wurden. Aber ein freiwilliges Zurück gab es schon vor dem Kriege nicht mehr, und überdies sorgte eine unerhört strenge Sondergerichtsbarkeit unter den SS u. Pol Gerichten für einen bedingungslosen Gehorsam in der Durchführung der Befehle des Staatsoberhauptes, dessen Willenskundgebungen bei der damaligen deutschen Staatsrechtsform bindende Gesetze waren.«124

An dieser Passage sind zwei Aspekte von Bedeutung. Zum einen ist die Aussage, dass die interne Qualität der Staatspolizei durch die tatsächlich massive personelle Aufstockung während des Krieges merklich abnahm, wie eine Selbstdegradierung der empfundenen Stellung einer »Eliteeinheit« zu verstehen. Zum anderen ist die Bezeichnung der »zwar notwendig erschienenen« Maßnahmen als »Mülleimer« dahingehend zu deuten, dass Massenexekutionen und andere Gewaltaktionen von Isselhorst anscheinend im Jahre 1947 als Bürde empfunden wurden. Dass diese Gestapo-Arbeit von Isselhorst explizit als »Mülleimer« beschrieben wurde, deckt sich mit der Aussage von Reinhard Heydrich aus dem Jahr 1941, in der er ironisch die Allwissenheit und die Allmächtigkeit der Gestapo mit dem Bild umschrieb: »So sind wir scherzhaft ausgedrückt, variabel vom ›Mädchen für Alles‹ bis zum ›Mülleimer des Reiches.«125 Auch wenn keine 123 Ebd. 124 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9). 125 Das Zitat von Reinhard Heydrich abgedruckt in: Dams, Carsten u. Stolle, Michael: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich, 4. Auflage, München 2017 (zuerst 2008), S. 7.

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zeitgenössischen Quellen, wie beispielsweise die Tagebücher, jene Aussage bestätigen, so sind Isselhorsts Ressentiments hier deutlich artikuliert. Jedoch erschien es ihm notwendig, die vollzogenen »Mülleimer«-Aktionen auch auf historischer Ebene zu legitimieren. Hierzu stellte er die Arbeit der Gestapo in eine lange Tradition der politischen Polizeiarbeit: »[…] Und doch kann ich den Lachern nur entgegenhalten, dass sie die Geschichte ihres eigenen Volkes nicht kennen! Man lese nur in den Geschichtswerken der französischen Nation nach, was dort über die absolute Monarchie eines Louis XIV u. folgende gesagt ist. Man braucht gar nicht Geschichte studiert zu haben, um nicht auch im breiten Volke aus der Schulzeit her zu wissen, dass Louis XIV seine Königswürde vom göttlichen Recht ableitete und dass er sich gemäss diesen Rechts zwar verantwortlich hielt für das Glück seiner Untertanen, aber sich ebenso sehr als der absolute Herr ihrer Güter u. ihres Lebens betrachtete. Legislative u. Exekutive lagen allein in seiner Hand. Ich zitiere aus ›Histoire de France‹ von Guiraud, Prof. d. Geschichte an der Universität Besancon, Ausgabe von 1920, die mir zufällig aus der Bibliothek des P[astor] N[eiffer] Strasburg in die Hände gekommen ist, um nicht eigene Worte gebrauchen zu müssen: ›La liberté de ses sujets dépendait de sa volonté; il pouvait, s‘il les trouvait dangereuse (! s. Präventiv-Massnahmen der Stapo!), les faire enprisonner et confiscer leurs biens!«126

Wiederholt nutzte Isselhorst das Mittel der Zitation aus einem wissenschaftlichen Werk um seine Glaubhaftigkeit und seine Argumentation zu stützen. Da er sich selbst als einen kritischen Beobachter der NS-Zeit wahrnahm, konnte Isselhorst durch den Rückbezug auf die Wissenschaft auch seine prätentiöse Vorstellung eines hochgebildeten Elite-Mitglieds verdeutlichen. Darüber hinaus konstruierte er eine historische Parallele zwischen der französischen und der deutschen Geschichte, die sich musterhaft in seine Vorstellung seines »völkerverständigenden« Handelns bei der Gestapo einfügen ließ: »Bonaparte vereinigte als Consul, trotz des ›Conseil d’Etat‹, trotz des ›Tribunat‹, trotz des ›Corps légeslatif‹ alle Macht in seiner Hand, und das französische Volk hatte keinen Repräsentanten mehr! Als aber das Complot der Cadoudal, Pichegru u. Moreau aufgedeckt wurde, da füsilierten die Dragoner des Consuls Bonapartes den auf fremdem Territorium festgenommenen Herzog von Enghien nach einem ›simulacre de jugement‹! Erst recht aber als Kaiser regierte Napoleon trotz der beibehaltenen ›Corps législatifs du Consulat‹ allein; seine Minister hatten nur seine Befehle auszuführen! Ich zitiere wieder Guirand: La liberté politique n‘exitait plus! L’opposition onet volontés de Napoléon, une critique de ses actes, timidement exprinée, pouvait conduire ses anteurs à la prison ou à l’exil, sans jugement!«127 126 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9 127 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9

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Isselhorst begab sich in seinen Memoiren nun auf den Weg einer historischen Legitimation der Gestapo und somit auch der eigenen Rolle im NS. Er verglich konkret die Staatsführung Napoleon Bonapartes mit dem NS-Regime Adolf Hitlers und legitimierte die unrechtmäßigen Maßnahmen des letzteren mit dem Handeln Napoleons. In diesem Vergleich wurde gleichzeitig mit der Ergreifung und Tötung des Herzogs von Enghien, der wie er selbst »auf fremdem Territorium« festgenommen wurde, eine Parallele zu seiner eigenen Person gezogen. Paradox daran ist, dass er hiermit im Grunde die Rechtfertigung für die eigene Hinrichtung lieferte, obgleich er das Beispiel eigentlich dafür benutzen wollte, das Handeln des NS-Regimes zu legitimieren. Das zweite Paradoxon ist die Rolle der ausländischen Nationen. Denn obwohl er das Handeln der NS-Führung generell als richtig im Sinne eines übergeordneten Abwehrkampfes gegen den Bolschewismus sah, war die Befreiung des Volkes durch die militärische und politische »Kraft aller vereinigten europäischen Mächte« notwendig. Die Verehrung Napoleons durch die französische Bevölkerung war somit gleichzusetzen mit der Verehrung Adolf Hitlers, so wie sie Isselhorst 1947 empfand. »Und doch hat das freiheitsliebende französische Volk sich nicht aus eigenen Kräften dieses ›Tyrannen‹ entledigen können, sondern es bedurfte dazu der militärischen u. politischen Kraft aller vereinigten europäischen Mächte. Mit welchem Recht spricht es heute das deutsche Volk schuldig, weil es sich von seinem ›Diktator‹ nicht befreite? Warum klagt es jeden Deutschen an, der seine Gehorsamspflicht erfüllte? War der napoleonische Wille nicht auch Gesetz u[nd] z[war] nicht nur für Frankreich, sondern sogar für das gesamte ihm damals botmässige Europa, und ist seiner striktesten Befolgung nicht auch mit allen Mitteln Nachdruck verliehen worden? Geniesst nicht trotzdem u. mit vollem Recht u. nationalem Stolz Napoleon I die Verehrung des französischen Volkes – auch heute noch, wo es sich eine demokratische Republik nennt –, weil er in seinem Zeitalter, wie vor ihm der absolutistischste [sic] König, zum Ruhme der französischen Nation erhebliches beigetragen hatte. Der Handlanger und Vollstrecker des napoleonischen Willens aber war niemand anders als die Polizei des Ministers Fouché!«128

Abgesehen von dem historischen Vergleich nahm Isselhorst in diesem Textausschnitt ein Werkzeug zur Hand, das bis dahin kaum verwendet wurde – er zitierte. Durch diesen Rückbezug auf eine wissenschaftliche Quelle wurden die Ansichten Isselhorsts in den Schein einer Seriosität gestellt, der seine Memoiren eben auch als wissenschaftliche Ausarbeitung kennzeichnen sollte. Dies entsprach seiner Vorstellung einer objektiven Darstellung der historischen Entwicklung, wie er sie zu Beginn seiner zweiten Memoiren versprach. Die darin erkannten historischen 128 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9).

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Parallelen schufen für Isselhorst ein kohärentes Muster, welches ihm half, gegen seine eigene Behandlung und gegen die generelle Degradierung des NS zu argumentieren: »So wage ich zu behaupten, dass auch die Stapo in ihrer Gesamtheit nicht das war, als was sie die heutige Welt-Propaganda hinstellt. Eine objektive Kritik ist bei einer derartig hochgepeitschten Hasspsychose nach dem für Deutschland so niederschmetternden dieses vergangenen WeltVölkerringens auch vorläufig nicht zu erwarten. Dass man in der Stapo als dem Exekutiv-Organ eines verhassten Staatsregimes geradezu den Exponenten des Nazismus und damit den Weltfeind Nr. 1 sieht, ist bei einer derartig schicksalsschwangeren Entwicklung nur eine naturnotwendige Folge. Die Stapo teilt hinsichtlich des allgemeinen Ansehens das Los aller politischen Polizeien. […] In keinem Falle und in keinem Lande und unter keinem System ist sie beliebt. Das trifft sowohl für die geschichtlich nicht nur in Frankreich so bedeutsam gewordene politische Polizei des Ministers Fouché zu – der ja sogar bekanntlich alle Staatsrechtsformen um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert durchstanden hat –, sondern auch für die Polizei des Fürsten Metternich in Österreich und die zaristische ›Ochrana‹, von der modernen sowjetischen GPU bzw dem NKWD ganz zu schweigen. […]«129

Hier nun wurde die Arbeit der Gestapo noch mit weiteren historischen Beispielen versehen, um daraus eine Allgemeingültigkeit seiner These zu proklamieren. All diese Beispiele dienten letztlich der historischen Legitimierung des Handelns der Gestapo und damit seiner eigenen Person: »Was aber tat denn die Stapo? Sie bekämpfte in der Zeit von 1933– 39 innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches als gesetzliche Einrichtung auf gesetzlicher Grundlage die politischen Gegner einer Staatsform, die sich das deutsche Volk selbst gewählt und ausgebaut hatte als ein Ausfluss des staatspolitischen Selbstbestimmungsrechts aller Völker der Welt. Denn was für ein Volk passt, taugt nicht unbedingt auch für das andere. Nicht nur die Menschen, auch die Völker leben nach ihren eigenen Gesetzen! Sie bekämpfte sie mit den Methoden u. Mitteln, die in einer Auseinandersetzung notwendig sind, bei der sich häufig niedere, kriminelle Instinkte, mit dem parteipolitischen Idealismus der Illegalität paaren. Während der Jahre 1939–45 stand sie unter dem Ausnahmerecht eines Krieges, in dem es um nicht mehr oder weniger als die Frage der staatlichen und völkischen Existenz der Deutschen Nation ging. […]«130

Der Existenzkampf der Völker, ein vom NS-Regime geprägtes und von Isselhorst verinnerlichtes Bild über die Besonderheit dieses Krieges schafft für die politische Polizei eine Ausnahmesituation, in der Handlungen möglich werden, die zuvor ausgeschlossen sind: 129 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9). 130 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9).

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»Denn nicht die Beseitigung der nationalsozialistischen Staatsform war der casus belli, sondern die durch ihn geschaffene Einigkeit des deutschen Volkes und die politische Macht, deren Weiterentwicklung zum europäischen Primat Deutschlands führen u. daher dem aussenpolitischen Streben der übrigen Nationen vor allem Frankreichs gefährlich sein musste. Hat man es doch schon einem Napoleon III verargt, dass er nicht den Mut fand, bereits 1866 im Bündnis mit dem gerade geschlagenen Österreich die Erstarkung Preussens durch einen Krieg zu verhindern. In diesem Völkerringen ging es also um alles, was einem Deutschen heilig sein musste […]. Deshalb auch wurden in ihm von allen Beteiligten Völkerrechtsbrüche begangen, weil es, wie einmal der englische Kriegsminister Churchill erklärt hat, ›im Kampf um das Leben von Nationen keine Legalität gibt‹. […] Es liegt mir ferne, begangene Verbrechen das Wort reden zu wollen. Doch die Stapo ›in cumulo‹ als Verbrecherorganisation abzustempeln, ist genau so absurd, wie leugnen zu wollen, dass in den Polizeien der anderen Länder der Welt nicht mit den gleichen Methoden der politischen und kriminellen Verbrechensbekämpfung gearbeitet worden ist und noch gearbeitet wird, die heute Gegenstand laufender Verurteilungen sind. Das wird, davon bin ich fest überzeugt, eine spätere, objektivere Geschichtsschreibung feststellen.«131

In dieser ausführlichen Aufeinanderfolge von Argumenten erkennt man Muster aus der Selbstauffassung des Jahres 1947. Isselhorst bemühte zunächst den Vergleich zu anderen politischen Polizeiapparaten, um deren geringe Wertschätzung zu zeigen und um deren »Feindbild«-Charakter zu belegen. Dabei ist das grundlegende Argument, dass diktatorische Regime durch illegale Maßnahmen ihren Herrschaftsanspruch zu protegieren suchen, kaum zu widerlegen. Die »Machtergreifung« der NSDAP und die gravierenden Umstrukturierungen des Staates wurden daraufhin jedoch in dem simplifizierten Ausspruch zusammengefasst, dass die deutsche Bevölkerung sich diesen Umbau »selbst gewählt und ausgebaut hatte als ein Ausfluss des staatspolitischen Selbstbestimmungsrechts aller Völker der Welt. Denn was für ein Volk passt, taugt nicht unbedingt auch für das andere. Nicht nur die Menschen, auch die Völker leben nach ihren eigenen Gesetzen!«132 Im Grunde, so die historische Argumentation Isselhorsts, war die Gestapo durch den politischen Aufstieg der NS-Bewegung eine logische Folge des Systems. Und dementsprechend waren auch die Maßnahmen gerechtfertigt, die dieses Organ im Sinne der NSBewegung verrichtete. Im Krieg herrschte zudem ein »Ausnahmerecht«, das aufgrund des »existenziellen Kampfes der Völker« alle Mittel rechtfertigte. Isselhorst griff ein weiteres historisches Beispiel auf, um den Existenzkampf Deutschlands gegenüber den anderen europäischen Nationen aufzuzeigen. Denn die vertane Gelegenheit Napoleons III. 1866 131 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9). 132 Ebd.

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mit Österreich gegen die Erstarkung Preußens vorzugehen, diente Isselhorst als Beispiel dafür, dass Deutschland schon vor dem 20. Jahrhundert um seine Existenz kämpfte. »In diesem Völkerringen ging es also um alles, was einem Deutschen heilig sein musste; es handelte sich aber, nachdem er ausgebrochen war, auch bei den Gegnern um die gleiche Frage.«133 Mit diesem Mittel konnte Isselhorst die Arbeit der Gestapo in einen geschichtlichen Kontext setzen, der die historische Aufgabe der völkischen Etablierung Deutschlands in Europa durch den Nationalsozialismus beinhaltete. Die Gestapo und deren Maßnahmen waren dementsprechend nur die »natürlichen« Begleiterscheinungen dieses deutschen Aufstrebens. Diese allgemeinen Voraussetzungen verknüpfte Isselhorst daraufhin mit der eigenen Person. Sein Eintritt in die Staatspolizei im Jahr 1935 bedeutete für Isselhorst die Verbindung zwischen der Person des Juristen, der Isselhorst qua Ausbildung war, und einer nunmehr gänzlich neuen Aufgabe – der des Polizisten. Rückblickend war diese neue Funktion eine schier übermächtige Herausforderung: »Nichts von alledem, was findige Juristen internationalen Rufes in ihrem Urteil über die Gestapo vor der Welt als feststehende Tatsache dokumentiert haben! Nichts von Verbrecher-Organisation, nichts von verbrecherischen Bestrebungen! Wer mir testieren will, dass ich damals aus verbrecherischer Neigung dieser Organisation beigetreten sei, in voller Kenntnis ihrer verbrecherischen Aufgaben und Ziele, den kann ich nur als einen dummen Nachschwätzer rachsüchtiger Hassparolen bezeichnen.«134

Sich selbst befand Isselhorst schließlich als einen Polizisten und keinen Verbrecher. In seiner Erinnerung verband er nun diese funktionale Ebene seines neuen Berufes mit seiner Überzeugung, ein junger deutscher Idealist gewesen zu sein. »Nach kurzer Zeit beförderte man mich zum SS-Untersturmführer, um mir nach aussen eine Repräsentation zu geben. Mein Einkommen betrug 240 RM, zu dem noch 75 RM Dienstaufwandsentschädigung kamen. Meine Kommissare und Polizeioberinspektoren verdienten fast das Doppelte! Berufs- oder Neigungsverbrecher pflegen sich im Allgemeinen mit solchen Bagatellen nicht zufrieden zu geben! Ich tat es, denn ich war Idealist!«135

Die monetäre Vergütung war also auch in der Wahrnehmung nach 1945 kein ausschlaggebendes Kriterium für sein Handeln. Die ideologische Komponente und die dahinterstehende historische Aufgabe wurden an 133 Ebd. 134 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 13f). 135 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 14).

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dieser Stelle zum entscheidenden Kriterium. Die Arbeit und die Struktur der Gestapo, wurde daran anschließend zwar als einflussreich, jedoch als große Belastung beschrieben: »Man trug Bewunderung zu Schau und beneidete mich. Man suchte meine Gunst und meine Freundschaft. Und dennoch – oder gerade deswegen? –: ich war keineswegs zufrieden! Die Gründe sind mannigfache. Zunächst: die Turbulenz, mit der mein Beruf umgeben war, sagte mir im Grunde meines Wesens nicht zu. Ein behagliches Familienleben, das meine Frau und ich uns immer gewünscht hatten, war uns versagt. […] Die Stapo ging bei dieser Entwicklung einen Weg, der, vor allem mit Beginn des Krieges, stetig mehr und mehr abwich von den ursprünglichen Aufgaben und Pflichten. Sie wurde zum ›Mülleimer‹, in dem man alles ablud, was anrüchig war! Der innere Kampf zwischen Pflicht und Gefühl, Vernunft und Glauben zerrieb mich und viele meiner Kameraden wie zwischen Mühlsteinen. Ein Austritt war schon vor dem Krieg nicht mehr möglich. Und gerade mich traf dieses Verbot besonders hart; wurde mir doch im Laufe der Jahre 1936–1939 nicht weniger als drei Mal die Möglichkeit angeboten, einen Landratsposten zu übernehmen, und im Jahre 1938 wurde mir von zwei grossen Industrie Unternehmungen die Stellung eines Syndikus offeriert. Das war ja das, was ich mir immer gewünscht hatte! […] Ebenso wurden meine verschiedenen Versuche, mit Beginn des Krieges sowie 1941, 1942, 1943 und 1944 aus der Sicherheitspolizei auszuscheiden abgelehnt, obwohl ich schon seit längerer Zeit wegen meiner offenen Kritik an Organisation und Aufgaben nicht mehr das volle Vertrauen meiner Vorgesetzten hatte. Ich war wie so viele Tausende meiner Kameraden, an eine Stellung und an eine Aufgabe gefesselt, denen mein Herz und meine Neigung nicht mehr gehörte!«136

Wie an den zeitgenössischen Quellen gezeigt, war die Übernahme des Landratspostens in den 30er Jahren keineswegs sein primäres Ziel. Er benötigte diesen Baustein jedoch, um sich zum einen als einen normalen und aufrechten Familienmenschen und zum anderen als Kritiker und Leidtragender des NS-Systems zu stilisieren. Die Aufgaben, die er in der NS-Zeit verrichtete, waren ihm aufgezwungen und er konnte ihnen nicht entgehen. Dies wiederum war die Grundlage für die ebenfalls zu dieser Zeit vorherrschende Überzeugung, dass ebendiese Handlungen, für die die Gestapo als Verbrecherorganisation gesehen wurde, aus dem Obrigkeitszwang heraus entstanden. Dazu passte auch sein immer wiederkehrendes Argument, dass seine Handlungen stets unter dem Einfluss seiner Vorgesetzten standen, so dass er keine Wahl hatte: »Berechtigte und verpflichtete doch ein Befehl des RFSS u. Chef der deutschen Polizei Himmler aus dem Jahr 1943 jeden Vorgesetzten, einen Untergebenen bei Gehorsamsverweigerung an Ort und Stelle zu 136 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 15f).

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erschiessen. Gewiss, ein aus der Härte des Krieges und der Not des Existenzkampfes heraus geborener Befehl, aber wohl auch ein Beweis dafür, dass er selbst in den Reihen derjeniger Männer notwendig war, denen das Nürnberger Urteil bescheinigte, dass sie ausschliesslich aus ›verbrecherischer Neigung‹ und ›in Kenntnis der verbrecherischen Absichten‹ dieser Organisation beigetreten seien!«137

Die Entwicklung der Stapo hin zu einer Organisation, deren Aufgabe er zum wiederholten Male als »Mülleimer« der NS-Bewegung monierte, machte Isselhorst in weiteren Ausführungen an der Person Heinrich Himmlers deutlich: »Himmler verstand es, bis zuletzt dem grossen Haufen seiner Anhänger das Vorbild seiner eigenen Treue und Ehre gegenüber Führer, Volk und Idee vorzutäuschen, um dann schliesslich alles, was er von ihnen verlangt hatte, in einer Form zu verraten, die für meine Begriffe in der deutschen Geschichte beispiellos ist! Ich kann für den Freitod Hitlers und Goebbels menschliches Verständnis aufbringen. Der Selbstmord von Himmler war die schimpflichste Flucht vor einer Verantwortung, die er, nur er allein, für Millionen gutgläubige Fanatiker zu tragen berufen war. […] Es war der ungeheuerlichste Treuebruch, den ein Mensch gegenüber seinen Mitmenschen begehen konnte.«138

Als eigentlicher Idealist der NS-Bewegung, als anständiger und gebildeter Familienmensch, so Isselhorst, wurde er im Verlauf der NS-Zeit für Aufgaben herangezogen, die eigentlich gar nicht seiner Einstellung entsprachen, aus denen es für ihn jedoch keinen Ausweg gab. Doch in seinem Selbstentwurf von 1947 war Isselhorst ja ein Kulturverteidiger und daher mehr als nur der einfache Systemkritiker und unliebsame Ausführer von unbequemen Aufgaben. Daher war es für ihn wichtig darauf hinzuweisen, dass er aktiv versuchte, zu verteidigen und zu beschützen: »Wenn behauptet wird, dass der Nationalsozialismus den Menschen schlechthin zur Ware deklassiert hat, dann trifft dies nicht weniger auch auf uns Angehörige der Sipo zu. Auch wir hatten keinen freien Willen mehr; ungeheuerliche Disciplinar-Gesetze bedrohten uns. Über meinem Kopfe schwebte mehr als einmal das damokläische Schwert nicht nur der Einweisung in ein KZ, sondern auch des schimpflichen Todes als Deserteur, als Gehorsamsverweigerer, als Feigling vor dem Feinde! Wer kann den inneren Kampf beurteilen, den ich – und mit mir viele Kameraden – ausgefochten habe? Es ist heute so leicht, zu geifern, zu hassen, zu verurteilen! Wer gibt sich noch die Mühe, objektiv zu scheinen geschweige denn zu sein? Wer spricht von dem, was ich trotz meiner Stellung, trotz meiner Pflicht Gutes getan habe? Was ich an Schlimmeren verhindert habe?«139 137 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 14). 138 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 39f). 139 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 16f).

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Neben der Kritik an der Person Heinrich Himmlers bestätigte sich die nunmehr vorherrschende Überzeugung, dass Isselhorst zum Kreis der Mahner und Kritiker in der Gestapo zählte, auch anhand anderer namhafter Persönlichkeiten, wie zum Beispiel in der Person Alfred Rosenbergs, der als überzeugter Antisemit und Chef-Ideologe während des Krieges das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete leitete: »Übrigens wurde Rosenbergs spätere Ernennung zum Reichsminister für die besetzten Ostgebiete durchaus nicht einheitlich begrüsst, ja sogar befehdet. […] Es mag zwar heute immer noch unglaubhaft klingen, entspricht aber trotzdem nicht weniger den Tatsachen, dass […] die meisten der eingesetzten Kommandeure der Sipo und des SD sowie Einsatzgruppen-Chefs und Befehlshaber energische Vorstellungen gegen die Ostpolitik der Rosenberg’schen Verwaltung beim Chef der Sipo u. SD in Berlin durch schriftliche und mündliche Berichterstattung erhoben haben. Ich darf mich, ohne einen Gegenbeweis fürchten zu müssen, vom Beginn meines Einsatzes in Russland an ruhigen Gewissens zu dem Kreis dieses Mahner zählen. Unsere Kritik umfasste nicht nur die unseres Erachtens fehlerhafte Grundeinstellung der deutschen Ortsverwaltung […], sondern auch die Deportationen, die Erschiessungen und die Deklassierung der Bevölkerung aller besetzten Ostgebiete.«140

An dieser Stelle wurden die Massenmorde in einen Kanon von Fehlentwicklungen gestellt, die durch den Einfluss Rosenbergs begünstigt wurden. Keinesfalls war dies eine moralische Bewertung der Entwicklung, sondern lediglich eine funktionale. Die Tötungen wurden von Isselhorst als Problem hinsichtlich der Selbstverwaltung in den besetzten Ostgebieten gesehen und eben nicht als per se unmoralisches oder illegales Handeln. Dass Rosenberg sich bei Isselhorst keiner übergroßen Beliebtheit erfreute, belegen weitere Ausführungen, in denen Isselhorst Rosenbergs »schwerfälligen baltischen Akzent« und seine »rhetorische Stilistik im Allgemeinen« kritisierte.141 Isselhorst kam während seiner Arbeit bei der Gestapo 1935–1941 wiederholt den hohen NS-Funktionären nahe und insbesondere die damit verbundene Aufgabe des Schutzdienstes, die von der Gestapo durchgeführt wurde, war für Isselhorst in seinen nachkrieglichen Betrachtungen zentral. Die umfangreichste Arbeit bestand in der Betreuung Adolf Hitlers, speziell in München, wo Hitler an zahlreichen Ortschaften häufig unangemeldet einkehrte. Für Isselhorst, der bei seiner Abberufung nach München bereits seit über drei Jahren Erfahrung in derlei Einsätzen besaß, bestand im Jahre 1939 darin die Herausforderung, die er als »wahrhaftig keine leichte Pflicht« beschrieb.142 In München machte 140 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 2f – nach Einschub). 141 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« Blatt 15). 142 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 27 n. E.).

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Isselhorst seine schwierige Arbeit zum Schutze des »Führers« am Beispiel der »Osteria« deutlich, die von Hitler gelegentlich besucht wurde.143 Zu den weiteren Objekten, die von der Gestapo gesichert werden mussten, zählten das Atelier von Prof. Trost und das Atelier von Prof. Giessler, dem Bruder des letzten Münchener Gauleiters, die beschriebene Osteria Bavaria und seine Privatwohnung in München Schwabing – eine gewöhnliche Etagenwohnung, in einem von mehreren Familien bewohnten Haus.144 Die Sicherung der Gebäude anlässlich von Führerbesuchen ging so weit, dass sogar auf Wunsch Heinrich Himmlers »Wünschelruten-Spezialisten« hinzugezogen wurden.145 Die Schutzdienstaufgabe war für die Gestapo, wie auch die Erinnerungen an seine Stationen in Deutschland vor seinem Kriegseinsatz zeigen, eine zentrale Aufgabe. In Isselhorsts Memoiren dienen die mitunter detaillierten Beschreibungen seiner Selbstinszenierung als Beschützer oder Verteidiger des NS. Dieses Rollenbild wollte Isselhorst von sich nicht nur in den Schutzdienstaufgaben, sondern auch für die seine gesamte Tätigkeit bei der Gestapo übertragen wissen.

4.5 Isselhorsts Angebot an Frankreich 1947 Eine wichtige Quelle seines »Kulturverteidiger«-Entwurfes soll im Folgenden vertieft untersucht werden, da sich dieser mannigfaltig im Angebot an die französische Militäradministration aus dem Jahr 1947 niederschlug. Es erscheint merkwürdig, dass ein mehrfach zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher der Administration eben jenes Landes, dessen Justiz ihn zum Tode verurteilte, anbietet, dass er statt hingerichtet zu werden, besser mit der Aufgabe betraut werden sollte, den Aufbau einer neuen antibolschewistischen und länderübergreifenden Polizeieinheit zu organisieren. Isselhorst unternahm diesen Versuch in der nach dem Krieg gewonnenen festen Überzeugung, dass er seine im NS erworbene »Experten-Funktion« im »Kampf gegen den Bolschewismus« in das neue politisch-ideologische System übertragen könne. Dieses Angebot darf dabei nicht zuallererst als dreiste Verzweiflungstat angesichts seiner bevorstehenden Vollstreckung seines Todesurteiles missverstanden werden. Es ist vielmehr der Beleg für die Vorherrschaft der darin enthaltenen Facetten seines Selbstentwurfes. Das Schreiben verdeutlicht, wie Isselhorst versuchte, einzelne Aspekte vergangener Einstellungs- und Rechtfertigungsmuster mit der neuen Systemwelt zu kombinieren und in diese zu integrieren. Um den Gesamtzusammenhang des Schreibens Isselhorsts 143 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 28, 30 n. E.). 144 Vgl. RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 28ff n. E.). 145 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 32f n. E.).

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an die französische Verwaltung vom 30. August 1947 darzulegen, wird bei der Analyse des Schreibens die ursprüngliche Abfolge eingehalten: »Die Kulturwelt des Abendlandes hatte bis zur Beendigung des vergangenen Krieges in Deutschland ein unbewusst empfundenes oder bewusst erkanntes Bollwerk gegen die systematische Ausbreitung der bolschewistischen Ideen- und Staatslehre. Ich will hier nicht für den Nationalsozialismus eine Lanze brechen, doch kann es heute keinem einsichtigen Politiker verborgen geblieben sein, dass ohne diese politische und weltanschauliche Bewegung der Bolschewismus bereits 1930 in Deutschland Fuss gefasst hätte. Ein kommunistisch regiertes und von Moskau gesteuertes Deutschland aber wäre die Plattform gewesen, von der aus eine Eroberung des europäischen Kontinentes und die Eingliederung seiner Staaten in die Sowjetische Räte-Union mit den Mitteln entweder der langsamen Infiltrierung oder der Revolutionierung oder der brutalen Gewalt des Krieges nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre. Spanien und Belgien, wahrscheinlich auch Italien waren leicht einnehmbare Festungen; Frankreich wäre zunächst ideologisch, wahrscheinlich aber auch sehr bald tatsächlich und staatspolitisch als reife Frucht in den Schoss des Bolschewismus gefallen.«146

Isselhorsts Angebot beginnt mit einem Zusammenschluss der westlichen Welt, die er unter den bereits aufgezeigten Terminus der »Kulturwelt des Abendlandes« zusammenfasst. Dieses grundlegende Motiv ist verbunden mit der Verteidigung gegenüber dem Bolschewismus. Bemerkenswert ist die Umkehr der Perspektive, aus der er die nationalsozialistische Zeit betrachtete. Der Krieg wurde nunmehr eingebettet in den großen Zusammenhang eines Ost-West-Konfliktes und spielte daher nur noch eine untergeordnete Rolle. Der Terminus »Kulturwelt des Abendlandes« greift auf die Arbeit von Oswald Spengler zurück, auf den sich Isselhorst bereits an anderer Stelle explizit bezog.147 »Diese von Anfang an geplante Entwicklung ist durch den Nationalsozialismus zunächst aufgehalten, aber mit dem Ausgang des vergangenen Krieges keineswegs beseitigt worden. Sie wird als ständige Gefahr immer über der Kulturwelt des Abendlandes schweben und für die nähere oder fernere Zukunft nur verhindert werden können, wenn sich die zentralund westeuropäischen Nationen zu einer energievollen Abwehrleistung zusammenschliessen.«148

Das zentrale Motiv der NS-Ideologie, nämlich die räumliche Expansion im Sinne des Existenzkampfes der Rassen und der Lebensraumgewinnung 146 RW 0725, Nr. 9. 147 Vgl. Kittsteiner, Heinz Dieter: Oswald Spengler zwischen »Untergang des Abendlandes« und »Preußischem Sozialismus«; in: Hardtwig, Wolfgang u. Schütz, Erhard (Hrsg.), Geschichten für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 309–330. 148 RW 0725, Nr. 9.

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der »Blut und Boden«-Ideologie, wurde von Isselhorst hier alleinig auf einer defensiven Verteidigung gegen den Bolschewismus reduziert. Der NS erhält die exklusive Eigenschaft einer Schutzfunktion der »abendländischen Kultur«. Demnach war der NS, so Isselhorst, nur eine erste Phase zur Bekämpfung dieser »ständigen Gefahr«. Der nächste Schritt, und hier schuf er nun die Verbindung zum neuen System, bestehe in einer länderübergreifenden Abwehr: »Der Bolschewismus ist eine der anpassungsfähigsten und wandlungsfähigsten politischen Erscheinungen der Weltgeschichte. Das hat jeder nüchterne Beobachter mehr als einmal feststellen können. Mit dieser ganz hervorragenden Tarnungskunst versteht er es immer wieder, die anderen Völker über seine wahren ideologischen und machtpolitischen Ziele hinters Licht zu führen. Wer den Kommunismus in den einzelnen Ländern der Welt für eine parteipolitische Erscheinung hält, die bei kluger staatspolitischer Lenkung ungefährlich oder gar national gebunden sein könnte, beweist damit nur, dass er der geschickten Tarnung bereits zum Opfer gefallen ist! Es gibt keinen Kommunismus in keinem Lande, der nicht von Moskau aus dirigiert wird. Es gibt in jedem Lande der Welt, in dem der Kommunismus Fuss gefasst hat, einen oder mehrere legale oder illegale Führer, die ihre grundlegende Ausbildung in der Lenin-Schule in Moskau durchgemacht haben!«149

Das Bild, das Isselhorst anschließend von der Sowjetunion entwarf, ist geprägt von der NS-ideologischen Rhetorik. Dieses Bild ist zudem von antisemitischen Einstellungsmustern durchzogen. Auch die darauffolgende Argumentation einer gemeinsamen westeuropäischen Abwehrfunktion, die von einem »übervölkisch verstandenen Selbsterhaltungstrieb« geprägt sein müsse, belegen die Versuche, seine bisherige Lebenswelt anpassungsfähig zu machen. »Die Welt steht zur Zeit vor der klaren Erkenntnis, dass eine Einigung zwischen Ost und West nicht zustande kommt; die Trennung ist bereits vollzogen. Ich sage: es gibt deshalb keine Einigung, weil sie der Bolschewismus – und also die Sowjet-Union – nicht will! Die Uneinigkeit der abendländischen Kultur-Nationen ist das weite Feld seiner Ernte! Sollten in solchen Zeiten einer akuten Gefahr nicht alle Hindernisse beiseitegeschoben werden müssen, die aus egoistisch-nationalpolitischen Gründen der so notwendigen Einigkeit der europäischen Nationen entgegenstehen? […] Erkennen die alliierten Westmächte wirklich nicht die Gefahr, die darin liegt, dass sie mit der in der jüngsten Vergangenheit betriebenen Politik das deutsche Volk ihrer Besatzungszone, vor allem aber die deutsche Jugend, die durch den Krieg haltlos geworden ist, zum Nihilismus und damit in die Arme des Bolschewismus treiben? Man vergesse nicht, wie leicht sich Extreme berühren! Die deutsche Jugend hat 149 RW 0725, Nr. 9.

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schon einmal mit ihrer Bereitschaft, zu übervölkischer Kameradschaft und Gemeinschaft mit den anderen europäischen Völkern zu kommen, Schiffbruch erlitten und ist dann mit fliegenden Fahnen in das Extrem des nationalen Sozialismus unter Hitlers Führung gestürzt. Der Schritt vom Nationalsozialismus zum Kommunismus ist kein grosser, zumal nicht in der jetzigen Situation! Die bisher in Deutschland durchgeführten Wahlen täuschen! Kann es Frankreich so gleichgültig sein, diese Gefahr nun nicht mehr weit östlich der früheren deutschen Ostgrenzen, sondern im unmittelbaren Vorfeld, ja im eigenen Besatzungsraum zu haben?«150

Im Mittelabschnitt des Angebotes ist deutlich die Verbindung der drei bereits herausgestellten Selbstentwürfe in kurzer Abfolge erkennbar: Die Gefahr für die »Jugendbewegung«, zu der sich Isselhorst selbst zählte; die Gefahr des Nihilismus, die gegen seine nach dem Krieg gewonnene Frömmigkeit stand; und letztlich das Abtun des Nationalsozialismus als eine Art Ventil gegen diese Gefahren sind die drei bedeutsamen Momente seiner Ausführung. Der entscheidende Unterschied zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus bestand für Isselhorst offenbar in der Tatsache, dass der Nationalsozialismus die abendländische Kultur bewahrte und beschützte, während der Kommunismus diese zerstörte. Die Attribuierung des Bolschewismus als gottverlassenes System, welches im Untergrund operiert und Gesellschaften infiltriert, erinnert stark an das antisemitische Gedankenbild des NS, das für den Bolschewismus übernommen wurde. Der Prozess, in dem der Antisemitismus mit dem Antibolschewismus praktisch zusammengeführt wurde, fußte im NS auf den Terminus des »jüdischen Bolschewismus«.151 Die Wurzeln dieser Zusammenführung reichten bis lange vor der NS-Zeit. Wurzeln, so Johannes Hürter, an die der NS »nur noch die Lunte legen musste.«152 »Ein neuer Krieg bringt in jedem Falle die Beseitigung des abendländischen Kulturlebens: entweder durch einen siegreich bleibenden Bolschewismus, oder aber durch die – meines Erachtens noch durchaus zweifelhafte – Wiedereroberung des Kontinents unter Zurücklassung eines allgemeinen Trümmerfeldes und unter einer degenerierenden Ausblutung der europäischen Völker. Ich versichere, dass diese meine Anschauung keineswegs die Frucht einer einseitigen nationalsozialistischen Schulung und Erziehung ist. Ich trug meine anti-bolschewistische Grundeinstellung in mir, bevor ich zum Nationalsozialismus stiess, und 150 RW 0725, Nr. 9. 151 Vgl. Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, München 2002, S. 89, 113. Vgl. auch Wette, Wolfram: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2005 (zuerst 2002), S. 51ff. 152 Hürter, Johannes: Ein deutscher General an der Ostfront. Die Briefe und Tagebücher des Gotthard Heinrici 1941/1942, Erfurt 2001, S. 359.

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ich bin Nationalsozialist geworden, weil ich in dieser Partei die Garantie zu finden glaubte, um der bolschewistischen Weltgefahr entgegentreten zu können. Ich hing und hänge noch mit aller Leidenschaft an dem Gedanken der Erhaltung unserer in Jahrhunderte langer Tradition bewährten abendländischen Kultur. Die Güter, die sie der Menschheit gebracht hat, sind der Ausdruck der wahrhaft schöpferischen, musischen Begabung unserer Völker. Sie sind vernichtet, und mit ihnen alles, was uns das Leben erst lebenswert macht, wenn der technisierte und alles technisierende Bolschewismus die Nachfolgeschaft in der Kulturhegemonie der westeuropäischen Völker antritt.«153

Die allgemeine Argumentation wurde von Isselhorst nun auf eine persönlich-biografische Ebene übertragen, da er für sich in Anspruch nahm, diese Gefahr bereits vor dem NS erkannt zu haben. Die Unterstützung der NS-Bewegung und sein Eintritt in die SS geschahen demnach einzig aufgrund dieses übergeordneten Kampfes gegen den Bolschewismus. Ein Argumentationskette, die in sein Selbstbild des Jahres 1947 passte, weil sie erst dann an Relevanz gewann: »Als Deutscher, als Nationalsozialist und als Angehöriger der politischen Polizei und des politischen Abwehrapparates habe ich in einem fast zwanzigjährigen Abwehrkampf gegen die Erscheinungsformen des Bolschewismus gestanden. Seit 1935 in führenden Stellungen an den Schwerpunkten dieser Aufgabe in Deutschland eingesetzt, habe ich eine umfassende und gründliche Schulung in allen politischen Abwehrfragen mitgemacht. Man mag der Staatspolizei im Allgemeinen vorwerfen, was man will, in einem Punkte hatte sie eine einheitliche, zweckbewusste Ausbildung: im Kampf gegen den Bolschewismus. Niemand, der die Verhältnisse kennt oder in objektiver Weise kennenzulernen bestrebt war, wird leugnen können, dass sie auf diesem Gebiete eine ungeheure erfolgreiche Arbeit geleistet hat. Sie hat Erkenntnisse gewonnen, die nicht nur für Deutschland, sondern für alle europäischen Nationen, ja für die Welt von eminenter Bedeutung sind. Ich halte mich auf Grund meiner Erfahrungen, meines Wissens und meiner politischen Entwicklung für fähig genug, dem Gedanken eines übervölkisch organisierten Abwehrkampfes im Rahmen einer europäischen Völker-Union wertvolle Dienste leisten zu können.«154

Das Schreiben gipfelte in diesem Angebot von Isselhorst, sich als Teil eines »übervölkisch organisierten Abwehrkampfes« zu betätigen. Die gesamte NS-Zeit und sein Handeln im Krieg werden von ihm alleine auf die darin erworbene Kompetenz zur Bekämpfung des Bolschewismus enggeführt. Freilich geschah dieses Angebot auch aus der Angst vor der bevorstehenden Hinrichtung. Doch belegen die Briefe jener Zeit, dass 153 RW 0725, Nr. 9. 154 RW 0725, Nr. 9.

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Isselhorsts Selbstentwurf zu einem geschlossenen Konstrukt geworden war, mit dessen Hilfe er auch biografisch für ein solches Angebot argumentieren konnte. »Ich halte zur Durchführung dieser Aufgabe Frankreich für den gegebenen Boden. Wenn Frankreich in diesem Rahmen für mich Verwendung haben sollte, so bin ich bereit und willens, mich zur Verfügung zu stellen. Ich darf erwarten, dass man in mir nicht eine der landesverräterischen Kreaturen erblicken wird, die ihres eigenen Vorteils willen oder um ihr Leben zu retten eine vaterlandslose und ehrlose Mitarbeit anbieten. Ich habe nie gegen Frankreich gewirkt; ich werde aber auch nie gegen Deutschland arbeiten! Ich bin im Gegenteil der festen Ueberzeugung, dass ich mit einer solchen Tätigkeit meinem Vaterlande nur nützen kann. Ich bin bereit, den mir zugedachten Tod zu sterben; er schadet weder dem Ansehen meiner Familie noch dem meines Vaterlandes, das sich in näherer oder ferner Zukunft auch meines Lebens und Sterbens ehrenvoll erinnern wird. Mein Tod nützt aber auch Frankreich nicht, wohl aber kann dies mein Leben tun! […] Ist Frankreich bereit, meine angebotenen Dienste anzunehmen, so wird es in mir einen deutschen Mann finden, der aus ehrlicher Ueberzeugung und aus heiligem Idealismus für die Sache der europäischen Volker-Union [sic] eintritt, der niemals der Verräter seines Vaterlandes, aber auch niemals der Verräter seiner Idee zum Nachteil Frankreichs sein wird. In diesem Sinne bitte ich die zuständige französische Dienststelle mein Angebot zu prüfen.«155

Isselhorst schaffte es mit diesem Angebot drei seiner Selbstbilder zu vereinen: Ein gläubiger Christ und Nationalsozialist, der durch den Idealismus und den Patriotismus einer Jugendgeneration versuchte, die abendländische Kultur gegen den Bolschewismus und das darin eingeschlossene Judentum zu verteidigen. Auf eine Antwort der französischen Administration wartete Isselhorst indes vergeblich.

4.6 Schuld eines Normalen »Wie sonst denn ist dieser in der Geschichte aller Völker einmalige, heldenhafte Widerstand bis zum letzten Tage, dieses Opfer von Gut und Blut, dieses verbissene Arbeiten und Aushalten erklärbar? Das alles geschah nicht mehr um der nationalsozialistischen Ideologie willen, und auch nicht wegen des ungeheuerlichen Drucks der blutrünstigen Stapo, die mit ihren lächerlichen paar tausend Beamten und Angestellten ein 80 Millionen Volk tyrannisieren sollte und die heute als allgemeiner Prügelknabe ausgerufen worden ist! Das alles geschah, um einer Welt von Feinden zu zeigen, dass ein Volk bereit war, gegen die Beseitigung 155 RW 0725, Nr. 9.

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seines völkischen Bestandes, seines geographischen und geschichtlichen Raumes, seiner politischen und wirtschaftlichen Machtstellung, seiner kulturellen Lebensgüter, kurz: seines Vaterlandes, bis zum letzten Atemzuge zu kämpfen, selbst dann noch, als seine Lage aussichtslos und hoffnungslos war. Wie auch das Rad der Geschichte laufen mag, einmal wird der Zeitpunkt kommen, der dieses Heldenepos eines Volkes wieder anerkennen wird.«156

Im letzten Abschnitt seiner Memoiren befasste sich Isselhorst mit dem Urteil über die Schuld oder Unschuld am Krieg und den darin verübten Verbrechen, das er mit dieser pathetischen Darstellung des Durchhaltewillens des deutschen Volkes bis zum Kriegsende begann. Die zynische Beschreibung der Stapo diente ihm dazu, den Stellenwert der Organisation kleinzureden und zugleich die Angehörigen in einen größeren Kontext einzubetten, nämlich den darüberstehenden Kampf Deutschlands »gegen die Beseitigung seines völkischen Bestandes«. Dass die Beantwortung der Schuldfrage nicht mehr losgelöst von der Bewertung des gesamten deutschen Volkes und der Person Adolf Hitlers geschehen konnte, dafür hatte Isselhorst mit seiner Argumentation über die generationenübergreifende »deutschen Jugendbewegung« Vorschub geleistet. Unverblümt erhob er in dieser letzten Passage seiner Memoirenschrift Anklage gegen die alliierten Kräfte und die Nachkriegspolitik und verknüpfte diese mit der Person Adolf Hitlers: »[…] War Hitler ein Verbrecher? War sein Regime ein verbrecherisches? Millionen Menschen der Welt rufen heute noch überzeugt: ja! […] Ich glaube nicht! Und eine offene Frage: Was ist denn nach der wirklich objektiven Auffassung der Menschheit Stalin und sein Regime? Was schrieb denn bis 1941 die Weltpresse mehr oder weniger deutlich über den Bolschewismus, über die GPU, über den ›roten Zaren‹? Was wagt sie, was wagen namhafte Politiker heute schon wieder über dieses Regime zu äussern? […] Worin denn sieht heute die Weltöffentlichkeit den Unterschied zwischen dem in vollster Blüte befindlichen bolschewistischen System und dem soeben vernichteten Nationalsozialismus? Wo bleibt hier das ›Gewissen der Welt‹? Wer unterdrückt es? Und warum?«157

Den Vorwurf der Siegerjustiz hatte Isselhorst mehrfach in seinen Briefen geäußert. Diesen wiederholte er vehement an der Person Adolf Hitlers, der für ihn ebenfalls zu Unrecht von den Alliierten und der Weltpresse verurteilt wurde. Die Figur Josef Stalins und der Bolschewismus wurden von Isselhorst als Spiegel herangezogen, um aufzuzeigen, dass eine generelle Schuldzuweisung angesichts der Verbrechen im Stalinismus nicht alleinig auf den NS geschehen kann. Dieses Argument ist angesichts der 156 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 63f). 157 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 63f n.E.).

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enormen Opferzahlen nur schwerlich zu widerlegen.158 Gleichwohl bildet der Vergleich zu nicht geahndeten Verbrechen ein äußerst schwaches Argument für die Beteuerung der eigenen Unschuld und die Adolf Hitlers. Zudem offenbarte Isselhorst mit den offenen Fragen zum Abschluss dieser Argumentation seine antisemitisch geprägten Verschwörungsvorstellungen hinsichtlich des öffentlichen und politischen Umgangs mit dem NS. »[…] Staatsrevolutionen sind, von der Gegenwart aus gesehen, nicht nur als Hochverrat ein politisches Verbrechen in jedem Lande der Welt, sie sind auch ein kriminelles Verbrechen wegen des Blutes, das um ihretwillen vergossen wird. Sie sind es nur dann nicht, wenn sie gelingen! Bei weltanschaulichen Revolutionen ist es nicht anders. […] Wie wird das kommende Jahrhundert die Ereignisse unserer heutigen Epoche beurteilen? Wird Stalin als ›Held und Vater der Menschheit‹ in die Geschichte eingehen, wenn die bolschewistische Weltrevolution Sieger geblieben sein wird? Oder wird die Menschheit des XXI. Jahrhunderts die Staatsmänner verfluchen, die den Zeitpunkt der Beseitigung dieser Gefahr aus national-egoistischen Gründen verpassten und die Völker in ein neues Blutbad stürzten, und wird sie dann Adolf Hitler ein Denkmal setzen in Würdigung dessen, dass man seine Ziele, sein Wirken und Wollen, sein Genie verkannte? Wer will das heute wissen!«159

Erneut bezog sich Isselhorst auf historische Beispiele, in deren Kontinuität er nunmehr auch die »weltanschauliche Revolution« des NS integrieren möchte. Es ist eine historische Legitimation, deren Aussage darauf zielt, dass ein finales Urteil nicht durch die Siegermächte, sondern erst mit der zukünftigen Vollendung des Ost-West-Konfliktes möglich sei. In diesem Sinne argumentierte Isselhorst dann in der Beurteilung von Hitler. Er war die Person, die von Isselhorst als Sinnbild für die Verortung von Schuld in der NS-Zeit herangezogen wurde. Seine Ikone, der er bis zuletzt die Treue schwor und der er auch nach dem Krieg tiefe Bewunderung schenkte, wurde für Isselhorst zum Synonym für die Beantwortung der Schuldfrage auch seiner eigenen Person. In einem leidenschaftlichen Vorwurf gegen die alliierte Außenpolitik und die Nachkriegsjustiz verband Isselhorst das Urteil gegenüber Hitler konkret mit seinem eigenen Schicksal: »Aber: Was Hitler tat, wollte, befahl, war ein Verbrechen! Ein Verbrechen gegen sein eigenes Volk, gegen die Menschheit, ein Verbrechen gegen Menschenwürde und Menschlichkeit! Was immer er in dem 158 Vgl. Baberowski, Jörg u. Kindler, Robert: Macht ohne Grenzen: Eine Einleitung; in: Baberowski, Jörg u. Kindler, Robert (Hrsg.) Macht ohne Grenzen. Herrschaft und Terror im Stalinismus, Frankfurt a. M. 2014, S. 7–22, hier: S.7ff. Vgl. auch die übrigen Beiträge aus dem Sammelband. 159 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 63–65 n.E.).

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vergangenen Kriege seinen Soldaten und seinem Volke befahl, war völkerrechtswidrig! So urteilt in Bausch und Bogen die heutige Welt, so urteilte sie zumindest bis heute. Und deshalb schuf sie ein Novum in der Geschichte des Völkerrechts, ja des Rechtslebens überhaupt, indem sie völlig einseitig, nämlich nur gegen den Besiegten wirkend, den strafausschliessenden Grundsatz des ›höheren Befehls‹ rückwirkend negierte […] Aber alle die alliierten Soldaten sind durch den ›höheren Befehl‹ gedeckt. Jeder Deutsche jedoch, der einen selbst durch den völkerrechtlichen Begriff der Retorsion oder der Repressalie entschuldbaren Befehl seiner Staatsführung durchführte, wird heute noch, 2 1/2 Jahre nach der Beendigung des Krieges, vor ein Tribunal gestellt und verurteilt. Wie wird die Geschichte einmal darüber urteilen? […] Nun: diesen Verbrecher Hitler habe ich geschützt! Ich habe alles getan, um jede Gefahr für Leib und Leben abzuwenden. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dass er nicht schon früher aus der Weltgeschichte verschwand.«160

Zum Auftakt der Anklage gegen die Verurteilung Adolf Hitlers als Verbrecher und damit verbunden die Verurteilung deutscher Soldaten und Polizisten nutzte Isselhorst Kenntnis-Fragmente seiner Vergangenheit, um die scheinbar ungleiche Bewertung der Kriegshandlungen zu belegen. Die von ihm angeprangerte Siegerjustiz zeigte sich, so Isselhorst, eben nicht nur an der Person Hitlers, sondern auch an seiner Person. Der zynische Vergleich fand mit seiner eigenen Positionierung als Beschützer Hitlers seinen Höhepunkt. Diese Positionierung diente jedoch als Vorbereitung für den Vorwurf, den Isselhorst darauffolgend nicht nur an die alliierten Politiker richtete, sondern in dem er die gesamte Weltbevölkerung einschloss: »Ich trage also auch meinen Teil Schuld daran, dass er die verbrecherischen Befehle erlassen konnte und dass sie ausgeführt wurden. Ist es nicht so, lieber Weltbürger? Aber ich befinde mich in angenehmer Gesellschaft. Denn Deine Staatsmänner und Diplomaten schlossen mit diesem Verbrecher Verträge, folgten seinen Einladungen zu Staatsbesuchen und Besprechungen, überbrachten ihm ihre – und Deine! – Glückwünsche und Geschenke, sassen mit ihm und seiner Verbrecherbande am Tisch festlicher Banquette, brachten Trinksprüche auf sein Wohlergehen – und das des nationalsozialistischen deutschen Volkes! – aus! […] Ihr alle kanntet doch, besser als wir, das System der Konzentrationslager. Ihr wusstet doch von den Judenpogromen, von den Freiheitsberaubungen, von den Grausamkeiten, von der eigenmächtigen, tyrannischen Justiz! Eure Zeitungen schrieben doch darüber in aller Offenheit und Deutlichkeit! […] Ihr seid auf die Festtage der Partei gefahren, Ihr habt die Olympiade in Berlin besucht, wo Eure Sportler, oder wenigstens die vielen dort vertretenen Länder wie z.B. Frankreich, mit dem ›olympischen‹ 160 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 65 n. E.).

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Gruss, der eine verteufelte Ähnlichkeit mit dem ›deutschen‹ Gruss hatte, vor den Augen der Welt an Hitler vorüber gezogen seid!«161

Isselhorsts Anklage an die westlichen Nationen gewann für ihn an Gewicht, da er mit Erfahrungen und Erlebnissen seiner eigenen Biografie argumentieren konnte. Diplomatische Besuche, der 50. Geburtstag Hitlers und die Olympischen Spiele dienten Isselhorst als biografische Belege für die Richtigkeit seiner Anschuldigung. Diese Vorwürfe wurden daraufhin auf die Schuldfrage zugespitzt: »Ja es gab genügend unter Euch – ich habe derer viele gesprochen –, die diesen ›Verbrecher‹ Hitler und seine Trabanten und Helfershelfer über den grünen Klee lobten, wenn sie sie erst einmal gesehen oder gar kennengelernt hatten; die nicht genug sprechen konnten von der einmaligen und bezwingenden Wirkung dieser Persönlichkeiten! Warum habt ihr dies alles getan und geduldet, Weltbürger? Warum habt ihr diese ›Verbrecher Clique‹, dieses Regime, dieses 3. Reich nicht isoliert, kalt gestellt, bekämpft, ehe das grosse Unglück des Krieges über uns alle kam, den doch die meisten von Euch als die logische Folge der Machtübernahme des Nationalsozialismus vorausgesagt haben? Ihr kanntet doch Hitlers Buch ›Mein Kampf‹; dort stand doch alles offen zu lesen, was er dachte und wollte! Warum also das alles? Höhere Diplomatie? Nein, wenn schon nach Schuld gesucht wird und das soll doch gemäss den ethischen Gesetzen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit und auf der höchsten Ebene des Rechts geschehen, nicht wahr? –, dann gibt es eigentlich nur einen Spruch: Mitschuldige seid Ihr, liebe Weltbürger, nicht weniger als ich und Millionen Deutscher! Was sage ich: noch schuldiger seid Ihr als wir, denn Ihr wusstet es doch schon immer besser!«162

Dieser universale Vorwurf der Duldung oder des Protegierens Hitlers bildete für Isselhorst die Grundlage seiner Rechtfertigung. Denn wenn die Welt als Ganzes Hitler und den NS protegierte, konnte er selbst als Beschützer und Ausführer der Befehle keine Schuld tragen. Neben dem Versagen der »Weltgemeinschaft« und den übernatürlichen Begabungen Adolf Hitlers führte Isselhorst noch ein weiteres Argument hinsichtlich der Schuldfrage auf, das bislang mehrfach, insbesondere bei den Gerichtsprozessen, zur Sprache kam, welches aber ebenfalls wichtig ist für die Verortung der Schuldlosigkeit seiner eigenen Person. Dieses Argument bestand aus zwei aneinanderknüpfenden Elementen. Zum einen betonte Isselhorst, dass die von der Stapo während des Krieges durchgeführten Gewaltaktionen aufgrund der Kriegssituation notwendig und gerechtfertigt waren. Diese Vorstellung verstärkte Isselhorst zusätzlich durch zwei Aspekte, nämlich durch die harte Bestrafung von Seiten der Alliierten während des Krieges und zusätzlich durch die unmenschliche 161 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 65f. n. E.). 162 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 65–67 n. E.).

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Behandlung der Kriegsgefangenen nach dem Krieg. Letzteres konnte Isselhorst mit seinen eigenen Erfahrungen verbinden, wodurch das Argument für ihn an Stärke gewann: »Dass die deutschen Abwehrmassnahmen vom Standpunkt der Besatzungsmacht wie auch vom staatsrechtlichen Notstand aus gesehen berechtigt waren, wird wohl niemand ernsthaft bestreiten. Dass mit härtesten Mitteln u. Strafen vorgegangen werden musste, ist eine ebenso selbstverständliche Folgeerscheinung des Kriegszustandes. Die alliierten Besatzungsmächte nehmen heute in Deutschland das gleiche Recht mit der gleichen Berechtigung für sich in Anspruch.«163

Dabei spielte es für Isselhorst keine Rolle, dass die im Krieg verübten Gräueltaten außerhalb des geltenden Völkerrechtes standen, es ging in dieser Argumentation lediglich um das einfache Schema der Vergeltungsmaßnahmen für andere Kriegsverbrechen. Der Ausnahmezustand des Krieges wurde von Isselhorst dazu benutzt, den Handlungsrahmen zu erweitern und zu legitimieren: »Dass bei der Bekämpfung des Widerstandes nicht immer mit GlacéHandschuhen vorgegangen wurde, ist vom rein menschlichen Standpunkte und im Einzelfall gesehen sicher bedauerlich, vom übergeordneten vaterländischen Interesse aus aber wohl verständlich. […] Es ist ein Erfahrungsgrundsatz, dass die Aufklärung politischer Widerstandsbestrebungen wegen des Idealismus, der ihnen anhaftet, erheblich grössere Schwierigkeiten bereitet. Sie zu beseitigen, ist nicht mehr eine Frage des fachlichen Ehrgeizes, sondern des überpersönlichen Notstandes. In der Regel der Fälle hat der Erfolg das Mittel gerechtfertigt […].«164

Ähnlich argumentierte Isselhorst auch bei der Bekämpfung der französischen Widerstandsgruppen im Elsass, insbesondere bei den »Aktionen« im August/September 1944 bei der sogenannten »Aktion Waldfest«, wo eine neue Verteidigungslinie, vornehmlich durch Angehörige der Hitlerjugend, ausgehoben werden sollte und in dessen Verlauf mehrere Angehörige beider Seiten getötet wurden: »[…] Ich habe volles Verständnis für die zweifellos vaterländischen Aufgaben des Maquis im Allgemeinen, wenn sie auch in der Form, in der sie durchgeführt wurden, ausserhalb des Völkerrechts standen […], ich darf aber das gleiche Verständnis erwarten für die deutschen Gegenmassnahmen.«165

Ganz entscheidend jedoch war seine abschließende Bewertung mit dem Einbezug Gottes. Schließlich benötigte Isselhorst eine Verbindung, die seine bisher getätigten Aussagen auch mit seiner nunmehr gewonnenen 163 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 41). 164 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 42). 165 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 44f).

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religiösen Überzeugung in Einklang bringen konnten. Dies geschah durch die Nennung Gottes als einzig mögliche moralisch richtende Instanz: »War es eine schimpfliche, feige Flucht vor der Verantwortung, als Adolf Hitler in der Nacht vom 28. zum 29. April 1945 den Freitod einer theatralischen Zuschaustellung vor dem Tribunal seiner Feinde vorzog? Ich sage: nein! Denn er war in seinem ganzen Leben alles andere als feige; es gibt genügend Menschen, die seinen Mut, seine Tapferkeit, seine Furchtlosigkeit immer bezeugt haben. Wenn er feige gewesen wäre, dann wäre er im April 1945 nicht nach Berlin gegangen, um sich dort zum letzten Male dem Schicksal zu stellen. […] Ein Mensch seines Geistes gehört nicht vor die Richter seiner Zeitepoche; er gehört vor das EwigkeitsTribunal der Weltgeschichte. Es gehört vor den göttlichen Richterstuhl, wo allein der Allmächtige das Urteil über ihn fällen wird. Schuldig oder nicht, wer von uns Menschenkindern hätte jemals die göttliche Gnade, hier ein wahrhaft gerechtes Urteil zu sprechen!«166

Die Geschichte wurde somit von Isselhorst dafür genutzt, die moralische Bewertung Adolf Hitlers, die gleichzeitig auch die moralische Bewertung aller NS-Akteure beinhaltete, in einen zukünftigen Raum zu verschieben. Die Erkenntnis über die Rechtmäßigkeit beziehungsweise die Anerkennung der darin enthaltenen Leistung für Deutschland war erst in diesem Raum möglich. Hierzu wurde Gott als alleiniger Richter berufen und so verknüpfte Isselhorst seine religiöse Einstellung mit seiner Vorstellung des zu Unrecht verurteilten Gefangenen. Trotz dieser Überzeugung wurden die NS-Verbrechen, wie beispielweise die Massenmorde in den Vernichtungslagern, von Isselhorst anders verortet. Er unterschied diese Verbrechen anhand zweier Kriterien. Zum einen seien, so Isselhorst, die Massenmorde kein generelles Phänomen dieser Lager gewesen, sondern Ausnahmeerscheinungen. Zum anderen verbuchte er die hohe Zahl von Menschen, die aufgrund von Unterversorgung starben, auf die alliierten Luftangriffe und Sabotageakte, die zu ebendieser schwierigen Versorgungslage führten und damit auch die Todesfälle zu verantworten hätten: »Es liegt mir ferne, den abscheulichen Exzessen das Wort zu reden, die einige deutsche Konzentrationslager zu einem ewigen Mahnmal menschlicher Verworfenheit gestempelt haben. Ich wehre mich aber dagegen, zwangsläufige unabänderliche Erscheinungen der letzten Kriegsjahre, vor allem aber der letzten Kriegsmonate, auf alle bestehenden KZ-, Sicherungs- oder Arbeitserziehungslager zu verallgemeinern und daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sie der Ausdruck einer von Anfang an vorgesehenen, planvoll betriebenen Menschenvernichtungspolitik des 3. Reiches gewesen seien. Hungerepidemien waren in diesen Lagern keine normalen Erscheinungen, sondern erst gegen Ende des Krieges eine Folge der durch feindliche Fliegertätigkeit eingetretenen 166 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 67f n. E.).

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Versorgungsstörungen, die sich nicht nur auf die Verpflegung der Häftlinge, sondern auch der Zivilbevölkerung vernichtend u. demoralisierend ausgewirkt haben. Bewohnte Lagerbaracken sind nicht nur auf Befehl einer vertierten Lagerverwaltung in Brand gesteckt worden, Häftlingstransporte nicht nur durch die Begleitmannschaften reihenweise niedergeschossen worden. Krematorien sind nicht zu dem ausschliesslichen Zwecke erbaut worden, um dort die Massen grausam getöteter Häftlinge zu verbrennen. Mir ist klar, dass die tatsächlichen schändlichen Vorkommnisse es heute noch fast unmöglich machen, die Verhältnisse in das richtige Licht zu rücken, die Spreu vom Weizen zu sondern und Menschen zu finden, die einer objektiven Darstellung zugänglich sind. Audiatur et altera pars! Solange nur ehemalige KZ-Häftlinge als glaubwürdige Zeugen angesehen werden, solange nicht das Für u. Wider in wahrhafter Objektivität abgewogen wird, wird das Bild der Darstellung immer einseitig bleiben.«167

Die Objektivität, die Isselhorst an dieser Stelle einforderte, sah er exklusiv anhand seiner eigenen Betrachtung gegeben. Wiederholt betonte Isselhorst, dass die Verhältnisse in den KZ keineswegs unmenschlich waren, sondern erst zum Ende des Krieges eine Folge der alliierten Luftangriffe waren. Diese vehemente Abwehr des Vorwurfes geschah entweder aus dem Versuch heraus, seine eigene Schuld zu verleugnen oder sie entsprach der tatsächlichen Unkenntnis über die Zustände in den Lagern. Da er selbst im Osteinsatz die Deportationen mit durchführte, schien Isselhorst auch an dieser Stelle eine systematische Trennung zwischen den Geschehnissen im Osten und den KZ und Sila in Westeuropa zu vollziehen. So nahm er für seine Person und das Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck in Anspruch, keineswegs den üblichen KZ-Mustern entsprochen zu haben. Kurioser Weise räumte Isselhorst im selben Atemzug ein, dass es diese Vorkommnisse ebenfalls im Lager Schirmeck gab, von denen er, so Isselhorst, jedoch keine Kenntnisse hatte: »Aber: Eines darf ich mit ruhigem Gewissen erklären: mit dem Sicherungslager in Schirmeck ist keine der Erscheinungen verbunden, die heute mit Recht als verbrecherische Exzesse verurteilt werden. Mögen auch gewisse Vorfälle französischen Gerichten Anlass zu härtesten Urteilsprüchen geben, es handelt sich um Dinge, die in weitem Abstand stehen von dem, was sich in Auschwitz, in Mauthausen, in Neuengamme, in Dachau u.a. Lagern zugetragen haben mag. In Schirmeck ist 1944 weder ein Mensch mit vollem Willen der Lagerleitung vom Leben zum Tode befördert worden noch ist auch nur ein Häftling an Unterernährung oder gar epidemischen Erkrankungen gestorben. Wenn, wie ich erst heute weiss, auch in Schirmeck Misshandlungen vorgekommen sind, so bedaure ich das aufs Tiefste.«168 167 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 34). 168 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 34f). Zudem strich Isselhorst die anschließende Passage durch, in der er über die

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Auch in diesen Passagen wird deutlich, dass obwohl Isselhorst immerwährend eine objektive Betrachtung seiner tatsächlichen Taten forderte, er doch keinerlei Verbindung aufmachte zwischen seiner Tätigkeit bei den Einsatzgruppen, bei denen er unmittelbar bei »Aktionen« beteiligt war, die den direkten Abtransport von Insassen in ein Vernichtungslager oder deren unmittelbare Tötung beinhalteten und seinen Handlungen in Westeuropa. Die beiden Geschehnisse wurden systematisch differenziert. Hinsichtlich der Beurteilung der Konzentrationslager wählte Isselhorst ebenfalls historische Vergleiche aus, um deren Richtigkeit während der NS-Zeit zu belegen. Gleichzeitig wurden die unmenschlichen Bedingungen der deutschen KZ zwar eingeräumt, durch den Vergleich mit anderen Ländern versuchte Isselhorst dieses Faktum jedoch wieder zu entkräften: »Die scharfe Beobachtung der Lagerhygiene ist wohl im Interesse der Lagerinsassen menschenwürdiger als das Gegenteil, wie die geschichtlich bekannten Beispiele der englischen KZ-Lager im Burenkrieg, oder, wenn man auf die Gegenwart Bezug nehmen will, gerade die deutschen KZ-Lager am Ende des Krieges und die Kriegsgefangenen und Internierungslager der Alliierten in den Jahren 1945 und 46 gezeigt haben. […]«169

Auch wurden von Isselhorst sowohl die grundsätzliche Errichtung von Konzentrationslagern dadurch legitimiert, da Sie alleinig der Sicherheit der Bevölkerung dienten, da in ihnen »der weitaus grösste Teil der Häftlinge, analog der Lagerbelegung im Reich, aus kriminellen Elementen u. Arbeitsvertrags-Brüchigen [bestand].«170 Da Isselhorst selber als IdS Notwendigkeit von Gewaltmaßnahmen bei der politischen Polizei schrieb: »Keine Polizei der Welt kommt bei der Aufklärung von Verbrechen und beim Umgang mit Rechtsbrechern ohne Handgreiflichkeiten aus, die je nach Temperament und Landessitte unterschiedlich sind. Es ist dabei wohl auch schon einmal in Frankreich vorgekommen, dass ein Unschuldiger eine Tracht Prügel bezogen hat. Lässt sich das schon in normalen Zeiten nicht vermeiden, um wieviel weniger wird das im Kriege der Fall sein […].« 169 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 38ff). Isselhorst betonte seine Unkenntnis über die Zustände in den Konzentrationsund Vernichtungslagern ebenfalls anhand der Person Reinhard Heydrichs, der ihn hierüber niemals unterrichtete. Vgl. hierzu: RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 26): »Niemals hat er sich über die Dinge geäussert, die heute uns alle so sehr belasten. Ich habe von ihm kein Wort über Vernichtungslager, über systematische Ausrottungsmethoden, über wissenschaftliche Forschungsarbeiten am lebenden Menschen in den Spezialeinrichtungen der Konzentrationslager gehört. Allerdings, er konnte schweigen, […] auch gegenüber denjenigen Männern, denen er sich persönlich in rein menschlichen Dingen aufgeschlossen zeigte.« 170 Ebd.

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für das Internierungslager Schirmeck zuständig war, wurde von ihm die grundsätzliche Bedeutung der KZ nochmals durch die Referenz auf den amerikanischen General Patton gestärkt, dessen Angabe freilich eine »hohe Objektivität« besaß, da sie eben seiner eigenen Argumentation entsprach: »Der Ausspruch des 1945 verstorbenen Generals Patton, Chef der 3. amerik. Armee, dass Deutschland mit der Konzentrierung des asozialen Verbrechertums auf dem Wege zur Lösung dieses wohl alle Völker gleichermassen berührenden Problems gewesen ist, beweist nur die hohe Objektivität dieses verantwortlichen Amerikaners.«171

Isselhorsts Selbstentwurf aus dem Jahr 1947 machte diese Aussagen möglich. So konnte er behaupten, dass er nur NS-Funktionär wurde, um gegen die bolschewistische Gefahr zu kämpfen und zur Verteidigung der westlichen Kultur beizutragen. Deshalb war er sich sicher, er hätte immer die Kirchen und die Religion verteidigt und diese beschützt. Aus diesem Grund war er nur der Überbringer von Befehlen, ein kleines Rad eines viel größeren, übermächtigen Staatsapparates. Und aus eben diesem Grund war er ein Teil der »deutschen Jugendbewegung«, die für den Erhalt Deutschlands kämpfte und deren liberaler Idealismus letztlich verraten wurde. All diese Einstellungsmuster dienten letztlich dem Transfer seines Selbstentwurfes in das neue System nach 1945, in dem er sich als Angeklagter rechtfertigen musste. Und dieser Transfer gelang für Isselhorst selbst zweifellos. Sein abschließendes Urteil über sein Wirken im Elsass fiel dementsprechend aus: »Ich habe mit ehrlichem Herzen daran mitarbeiten wollen, den geschichtlich begründeten Gedanken der Zugehörigkeit dieses deutschen Volksstammes zur Reichseinheit zu verwirklichen. Ich fühle mich rein von jeder Schuld und glaube, meiner Einstellung zu den Problemen dieses politischen Kampfes getreu geblieben zu sein. Das Urteil, dass eine von Hass geblendete Zeit heute über mich fällt, wird die Geschichte korrigieren, auch wenn ich nicht mehr leben werde.«172

Bleibt abschließend noch die Frage, ob es eine generelle persönliche Schuldauffassung gab. Wie zu Beginn dieser Untersuchung formuliert, bestand ein Ziel darin, etwaige persönliche Schuldeingeständnisse oder ein moralisches Urteil über seine Verantwortung und sein Handeln aufzuzeigen. In allen gesichteten Ego-Dokumenten gibt es nur eine Stelle, in der dieser so bedeutende Aspekt der NS-Zeit angesprochen wurde. Derartige moralische Selbstreflektionen sind auch in anderen Fallbeispielen des NS kaum aufzufinden. Florian Dirl weist 171 Ebd. 172 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 47).

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beispielhaft in seiner Studie über den NS-Täter Richard Sand darauf hin, dass »die ›Sprachlosigkeit‹ gegenüber dem Erlebnis von Gewalt, Destruktion und Tod, wie sie z.B. auch in Feldpostbriefen deutscher Soldaten zu Tage trat, […] weder ein nahe liegendes Indiz für die ideologisch motivierte Akzeptanz der ›Krieger‹-Rolle noch für die eher resignative Gewöhnung an den ›unvermeidlichen‹ Schrecken des Kriegs [sei].«173 Isselhorst gelangte in seiner Beschreibung über die Aufgaben der Gestapo in seinen zweiten Memoiren nunmehr zu der »Arbeit«, die unmittelbar mit der Bekämpfung »anderer international-weltanschaulicher Erscheinungsformen und Gegner, wie z.B. des Ultra-Montanismus u. des Weltprotestantismus, des Judentums, der Freimaurer und des Kapitalismus« zu tun hatten, dessen Auswirkungen auch auf das Ausland ausstrahlten und somit, laut Isselhorst, »letzten Endes auch entscheidend für den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches« war.174 Isselhorst war dabei, als die tausendfachen Opfer deportiert wurden; er war vor Ort als diese beispielsweise in Glubokoje brutal ermordet wurden. Um dem subjektiv-moralischen Urteil zu entgehen, das ja gegen sein restauriertes christliches Selbstbild, gegen seine Unschuldsbehauptungen stehen würde, verortete er – genau wie bei Hitler – dieses Handeln in einen Raum, in dem er sich gegenwärtig nicht zu rechtfertigen brauchte – und zwar auf eine zukünftige (göttliche) Ebene, in der die Beurteilung von Schuld oder Unschuld erst möglich sein würde. Ein Aspekt, der bei genozidalen Handlungen zu beobachten ist und auch von Mihran Dabag angeführt wird, wenn er schreibt, dass »[…] diese Selbsterklärungen einen Freiraum [schaffen], der nicht an den Maßstäben der Gegenwart gemessen werden soll, sondern allein an den Ergebnissen der Zukunft.«175 So lassen sich auch Isselhorsts Erläuterungen deuten, in denen er auf die Judenmorde einging: »Über die zweite Gruppe der von der Umsiedlung betroffenen Personen, nämlich über die Juden, gab es im nationalsozialistischen Deutschland keine Diskussionsmöglichkeit. Da es heute so viele ›Deutsche‹ gibt, die ›natürlich‹ schon immer die Judenverfolgung für einen Fehler gehalten, und die alle mindestens einen anständigen Juden gekannt haben 173 Dirl, Florian: Gewalterfahrung – Handlungsspielräume – Rationalität: Richard Sand und der Partisanenkrieg in Kreta 1941–1945; in: Richter, Timm C. (Hrsg.) Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele, München 2006, S. 41–51, hier: S. 47. 174 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 7). 175 Dabag, Mihran: Gestaltung durch Vernichtung. Politische Visionen und generationale Selbstermächtigung in den Bewegungen der Nationalsozialisten und Jungtürken; in: Ders. u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 142–171, hier: S. 170.

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(sodass es fast mehr ›anständige Juden‹ als ›Juden überhaupt‹ gegeben haben muss), möchte ich meine persönliche Meinung nicht abgeben, um von vorneherein jeden Verdacht zu vermeiden, mit solchen ›Deutschen‹ identifiziert werden zu können. Vernunft und Gefühl sind zweierlei Dinge! Auch von der ersteren Seite her gesehen werden viele heute geneigt sein die Judenverfolgung des 3. Reiches als einen grundlegenden Fehler anzusprechen, und der Ablauf der Ereignisse scheint ihnen im vollen Umfange Recht zu geben. Auch ich bin der Auffassung, dass weniger hier mehr gewesen wäre. Aber vom rein Grundsätzlichen aus gesehen, wird, das ist meine Überzeugung, die Zukunft früher oder später einmal die Richtigkeit der These von der Kompromisslosigkeit gegenüber dem Judentum erweisen. Die jetzige Zeit ist noch nicht reif dazu. Bei solchen wahrhaft weltanschaulichen Auseinandersetzungen aber hat das persönliche Gefühl zu schweigen.«176

Isselhorst legitimierte seine persönliche Beteiligung an den Verbrechen damit, dass er Vernunft und Gefühl in der moralischen Entscheidung separierte. Subjektiv-moralische Überzeugungen wurden aufgrund der Zukunftsausrichtung vom Handlungsimperativ entkoppelt und die Ausnahmesituation der »wahrhaft weltanschaulichen Auseinandersetzung« ermöglichte die Legitimation für die Gewaltverbrechen. Hierbei wurde das Verbrechen generell als richtig, wenn auch in der Durchführung als fehlerhaft gesehen. Ob Isselhorst tatsächlich seine individuellen Moralansichten überwinden musste, oder ob dies angesichts der empfundenen historischen Tat gar nicht notwendig war, kann aufgrund der Quellen nicht belegt werden. Die Überwindung moralischer Überzeugungen und eine verzerrte Wahrnehmung von Realität waren jedoch für die militärischen Akteure der NS-Zeit typisch.177 Dass Isselhorst an dieser Stelle seine subjektiven »Gefühle« hinsichtlich der begangenen Taten aufgreift, zeigt die ambivalente Legitimierungs- und Rationalisierungsmöglichkeit in der Selbstverortung Isselhorsts. Die Verbrechen der NS-Zeit werden unter Berücksichtigung der Schreibsituation und seines nachkrieglichen Selbstentwurfes nunmehr doch abgelehnt und zugleich legitimiert. Die Beurteilung des eigenen Handelns wurde von Isselhorst in der retrospektiven Betrachtung seiner persönlichen Teilnahme an den Verbrechen von der subjektiven Ebene auf eine darüber gestellte Vernunftebene übertragen. Deren Inhalt bezog sich nicht mehr auf das Individuum, sondern auf die weltanschauliche Auseinandersetzung zwischen den Völkern und deren Bedeutung für einen zukünftigen Zustand. Eine Aufteilung, die an die Teilung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bei Max Weber 176 RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 23). 177 Vgl. Bartov, Omer: Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, 2. Auflage, Hamburg 2001 (zuerst 1992), S. 164f.

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BIOGRAPHISCHER SELBSTENTWURF

erinnert.178 Ein typisches Rechtfertigungsmuster, wie Dabag in Hinblick auf einen generationalen Auftrag zusammenfasst: »Der einzelne Täter, der sich als Träger eines generationalen Auftrages erklärt, muß sich nicht selbst vor den Normen einer übergeordneten Moral oder eines späteren Rechts verantworten. Seine Verantwortung ist die heldenhafte Tat, das Opfer für eine Zukunft.«179 Ein Handeln »ad absurdum morale«, wie es Kant beschreiben würde, und sogleich doch so etwas wie die logische Folge seines Selbstentwurfes. Denn nur wenn die Beantwortung der Schuldfrage auf der in der Zukunft verorteten göttlichen Ebene lag, konnten die konstruierten Selbstbilder Isselhorsts ineinandergreifen und ihn zu etwas machen, was er zwar niemals war, wie er sich allerdings im Jahr 1947 selbst wahrnahm: als einen Verteidiger der abendländischen Kultur.

178 Vgl. Buddeberg, Eva: Verantwortung im Diskurs. Grundlinien einer rekonstruktiv-hermeneutischen Konzeption moralischer Verantwortung im Anschluss an Hans Jonas, Karl-Otto Apel und Emmanuel Lévinas, Berlin 2011, S. 133f. 179 Dabag, Mihran: Gestaltung durch Vernichtung. Politische Visionen und generationale Selbstermächtigung in den Bewegungen der Nationalsozialisten und Jungtürken; in: Ders. u. Platt, Kristin (Hrsg.) Die Machbarkeit der Welt. Wie der Mensch sich selbst als Subjekt der Geschichte entdeckt, München 2006, S. 142–171, hier: S. 169.

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5 Schluss Raul Hilberg schrieb in seinem Werk über die Vernichtung der europäischen Juden, dass dieser Völkermord »nicht aus heiterem Himmel [kam]; er fand statt, weil ihm die Täter einen Sinn beimaßen. Er war […] ein sich selbst genügender Prozeß, ein als Erlebnis erfahrener Vorgang – erlebt und durchlebt von den an ihm Beteiligten.«1 Um die von Hilberg 1961 artikulierte Bedeutung auf der subjektiven Ebene zu verstehen, wurde für die Analyse der autobiographischen Quellen des NS-Täters Erich Isselhorst eine zweizügige Analyse durchgeführt. Zum einen wurde der biografische Rahmen quellenkritisch rekonstruiert, um so die sozio-strukturellen und biografischen Hintergründe von Erich Isselhorst zu erläutern und die von ihm in den untersuchten Ego-Dokumenten getroffenen Selbstaussagen verorten zu können. Zum anderen wurden die autobiographischen Quellen dazu herangezogen, subjektive Einstellungsmuster zu analysieren, die er in der autobiographischen Konstruktion seines Lebens offenbarte. Der darin enthaltene narrative Selbstentwurf diente ihm dazu, sein eigenes Leben und sein Handeln im NS zu rationalisieren und schließlich zu legitimieren. Autobiographische Quellen eines NS-Täters in den Fokus einer historischen Analyse zu setzen, bedeutet eine konzeptionelle Herausforderung. Grundsätzlich existieren diverse biographische Ansätze im Bereich der historischen NS-Täterforschung. Zu unterscheiden sind einerseits kollektivbiographische Ansätze, denen beispielhaft in den Studien von Christian Ingrao2 und Michael Wildt3 nachgegangen wird, und andererseits Einzelbiographien von NS-Tätern. Der überwiegende Teil der Einzelbiographien beschäftigt sich mit hohen NS-Funktionären. In diesen werden zumeist die biographischen Zugänge mit strukturanalytischen Fragestellungen verknüpft. Die Ausrichtung ist sinnvoll, da diese Funktionäre unmittelbar das NS-System prägten. Dies geschieht auch vor dem Hintergrund der geschichtswissenschaftlichen Präferenz von Akten gegenüber autobiographischen Quellen, die sich insbesondere durch eine strukturgeschichtliche Ausrichtung der Geschichtswissenschaft ab dem Ende der 1960er Jahre manifestierte. Aufgrund dessen gelten singuläre autobiographische Quellen als wenig verlässlich und werden lediglich als Beleg für zuvor getroffene Erkenntnisse aus der Strukturanalyse herangezogen oder werden durch die Erkenntnisse der Strukturanalyse als »Unwahrheit« deklariert. Doch der Zusammenhang von Autobiographie 1 Hilberg: Vernichtung, S. 1061. 2 Ingrao, Christian: Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords, Bonn 2012 (zuerst 2010). 3 Wildt, Michael: Generation des Unbedingten.

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und Erinnerung ist wesentlich komplexer, als dass man unproblematisch von einer bewussten Verfälschung sprechen kann.4 In diesem Zusammenhang wird in Studien oftmals ein Zitat von Friedrich Nietzsche herangezogen: »›Das habe ich getan‹ sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.«5 Auf die autobiographischen Quellen von Isselhorst trifft dieser Satz jedoch nicht in Gänze zu. Isselhorst geht zwar nicht detailliert auf seine miterlebten Gewaltaktionen im Krieg ein, doch werden diese auch nicht komplett verschwiegen. In seinem Selbstentwurf werden sie zu einem zwar unangenehmen aber dennoch notwendigen Part der politischen Polizeiarbeit umgedeutet. Durch den von Isselhorst vollzogenen Abgleich mit historischen Vorbildern werden die Taten dann gewissermaßen normalisiert beziehungsweise gar banalisiert. Zudem dient dieser Vergleich auch der persönlichen Legitimation für die Gewalttaten. Im ersten Abschnitt dieser Arbeit wurde auf die Problemstellung hingewiesen, dass individuelle Sinnstiftungen und Rationalisierungen in vielen biographischen Studien in der Geschichtswissenschaft zugunsten einer Strukturanalyse nicht rekonstruiert und untersucht werden. Damit sollte keine Problematisierung der strukturanalytischen Ausrichtung als solcher vollzogen werden, denn es fehlt oftmals schlichtweg an Quellenmaterial, das Aufschluss über subjektive Sinnstiftung eines NS-Täters zulassen würde. Existieren autobiographische Quellen, werden diese in der historischen Forschung vorrangig als Quelle für eine dahinterliegende historische Realität herangezogen.6 Allerdings wird die subjektive Ebene der autobiographischen Quellen mit einem solchen Zugang nur unzureichend untersucht. Um diese subjektive Ebene zu analysieren wurde insbesondere auf den Ansatz von Volker Depkat verwiesen, der dafür plädiert, durch einen erweiterten Zugang zum autobiographischen Quellenmaterial, dieses nicht in Hinblick auf eine dahinterliegende Realität zu untersuchen, sondern die Quellen an sich als narrative Texte zu begreifen, in denen eine Konstruktion von Wirklichkeit, aber auch eine Konstruktion der eigenen Person erfolgt. Diese sind Akte sozialer Kommunikation, die bestimmte Funktionen übernehmen, mit denen der Autor sich und seine Vergangenheit entwirft und mit denen der Autor zu einem Publikum spricht.7 4 Vgl. Kremer: Autobiographie als Apologie, S. 48. 5 Nietzsche, Friedrich (1886): Jenseits von Gut und Böse, viertes Hauptstück (Sprüche und Zwischenspiele), Nr. 68, Hamburg 2010, S. 758. 6 Vgl. Depkat, Volker: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft; in: BIOS Nr. 23/2 (2010), S. 170–187. 7 Vgl. Depkat: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem S. 32ff.

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Im Bereich der NS-Täterforschung ragen freilich die verschiedenen Hitler-Biographien hervor, dessen Handeln und Leben, wie dargelegt, zwar in vielfältiger Weise untersucht wurde, die zugleich allerdings Schwierigkeiten im Bereich der Mikrohistorie offenbaren. Einzig die Studie von Wolfram Pyta stellt eine Ausnahme dar, der den vorhandenen Mangel an autobiographischen Quellen von Hitler durch den Einbezug von indirekten Quellen umging. So wurden beispielsweise Gesprächsnotizen von Besprechungsteilnehmern, die mit Hitler konferierten, genutzt, um Aussagen über Hitlers Selbstwahrnehmung und Herrschaftspraxis zu treffen. Anhand dieser Quellengrundlage konnte Pyta einen Wandel in Hitlers Herrschaftspraxis im Verlauf des NS nachweisen.8 Die grundlegende Studie von Ulrich Herbert über Dr. Werner Best untersuchte explizit die Weltanschauung von Best. Herbert arbeitete die zahlreichen Schriften auf, die Best im Laufe seines Lebens veröffentlichte, und konnte so zeigen, dass Best nach dem Krieg versuchte, in immer wiederkehrenden Argumentationssträngen das Bild der Gestapo mit ihren Aufgaben und Aufbau unmittelbar zu prägen. Doch ein privates Bild von Werner Best konnte aufgrund fehlender Quellen nicht nachgezeichnet werden.9 Darin erkennt Herbert freilich keine Problematik in der Überlieferung, sondern er sieht »diese persönliche Zurückgenommenheit und Farblosigkeit nicht [als] Teil der Frage, sondern der Antwort […]: Unpersönliche Kühle und ›Sachlichkeit‹, das Bestreben, individuelle Gefühle möglichst zurückzustellen und Anteilnahme nicht zu zeigen, sind als bewußt gepflegte Kennzeichen nicht nur Bests, sondern des führenden SS-Mannes schlechthin anzusehen […].«10 Bei den autobiographischen Quellen Isselhorsts hingegen gewinnt diese angemahnte Blässe des SS-Mannes an Farbe, da Isselhorst im Gegensatz zu Best seine Biographie dafür nutzt, sein Handeln in der Gestapo zu rechtfertigen. In der NS-Täterforschung besteht insgesamt ein quantitatives Gefälle zwischen den biographischen Studien von hochrangigen NS-Funktionären und den von rangniedrigeren NS-Tätern, die vor Ort operierten. Die Bedingungen unter denen diese Täter handelten, unterscheiden sich jedoch deutlich von denen der NS-Spitzen oder der sogenannten »Schreibtischtäter«. Auf diese Unterschiede wurde im ersten Abschnitt der vorliegenden Arbeit ausführlich hingewiesen. Mit der Analyse des persönlichen Nachlasses von Erich Isselhorst wurde der Fokus auf einen Täter gelegt, der direkt und unmittelbar an den Gewaltverbrechen im Zweiten Weltkrieg teilnahm. Eine Person aus diesem Personenkreis 8 Pyta, Wolfram: Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015. 9 Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Bonn 1996, S. 21–25. 10 Ebd. S. 24.

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anhand von autobiographischen Quellen zu analysieren, schafft eine perspektivische Erweiterung der NS-Täterforschung. Erich Isselhorst stammt aus der »Kriegsjugendgeneration«, eine Personengruppe, die unter kollektivbiographischen Gesichtspunkten oftmals untersucht wurde, bildet sie doch das Gros der späteren NS-Täter, insbesondere im RSHA und in den Einsatzgruppen.11 Biographische Einzelfallstudien hingegen existieren kaum, zumal diese mit Quellen arbeiten, die nicht in den Bereich der autobiografischen Quellen fallen.12 Bei Erich Isselhorst ist dies umgekehrt der Fall. Das Konvolut an persönlichen Dokumenten, Tagebucheinträgen, Memoiren, Briefen und Notizen ermöglicht eine Betrachtung der Perzeption und der Selbstdarstellung eines Mannes, der unmittelbar an den Gewaltverbrechen im Zweiten Weltkrieg beteiligt war. Dies gewinnt umso größere Bedeutung, als dass die nach dem Krieg entstandenen autobiographischen Quellen einen unmittelbaren Vergleich zu den Quellen während der NS-Zeit zulassen und so ermöglichen, Einstellungsveränderungen und Brüche, aber auch Kontinuierungen und Umschreibungen aufzudecken und nachzuzeichnen. Der zur Analyse der autobiographischen Quellen Isselhorsts gewählte doppelte Zugang ermöglicht es, eine Person unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten. Zum einen wurden die Aussagen quellenkritisch untersucht und aufgezeigt, welche Erfahrungen Isselhorst während der gesamten NS- und Nachkriegszeit machte. Da diese Aussagen und Erinnerungen aus den Memoiren oftmals mit den tatsächlichen Ereignissen nicht konform sind, die zeitliche Einordnung nicht stimmt oder Ereignisse hervorgehoben wurden, die erst zu einem späteren Zeitpunkt in der Retrospektive an Bedeutung gewannen, ist dieser Untersuchungsschritt für die historische Einordnung Isselhorsts als hoher SS-Akteur von Bedeutung. Vor dem biografischen Rahmen von Isselhorst lassen sich zudem strukturelle Bedingungen und Hintergründe erkennen, die dem Verfasser der autobiographischen Quellen selbst nicht bekannt waren. Beispielsweise konnte er in den 30er Jahren nicht wissen, dass seine Bewerbung genau in das Anforderungsprofil der Gestapo passte. Ein weiterer Mehrwert dieses Analyseschrittes besteht in der Hinwendung zur Alltagsgeschichte. Einblicke in die alltäglichen Abläufe und Erfahrungen eines Direkttäters zu erhalten, bildet eine Ausnahme in der bisherigen Forschungslandschaft zu NS-Tätern. So konnten durch die Analyse des Kriegstagebuches und der Briefe während seines Einsatzes bei den Einsatzgruppen die Tagesabläufe innerhalb der Einsatzgruppen rekonstruiert werden und diese mit den Erkenntnissen der bisherigen Forschung zu den Einsatzgruppen 11 Hier beispielhaft: Wildt: Generation des Unbedingten. 12 Vgl. Wette, Wolfram: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 2012 (zuerst 2011), Vgl. Epstein, Catherine: Model Nazi. Arthur Greiser and the Occupation of Western Poland, Oxford/New York 2010.

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verknüpft werden. Deutlich wurde hierbei, welche Verbindungen zwischen dem RSHA und den Einsatzgruppen bestanden und dass dieses Verhältnis stark von den persönlichen Beziehungen der Mitglieder untereinander geprägt wurde. Zudem offenbaren die Quellen von Erich Isselhorst, wie die verschiedenen Akteure der Wehrmacht, des RSHA und ausländische Kollaborateure mit den Einsatzgruppen im rückwärtigen Armeeund Heeresgebiet kollaborierten. Diese Erkenntnisse sind zwar nicht neu, doch konnten sie bislang auf mikrohistorischer Ebene und aus der Perspektive eines unmittelbar Beteiligten nur begrenzt dargestellt werden. Der zweite Zugang zur Biographie von Erich Isselhorst bestand in der Analyse des in den autobiographischen Quellen präsenten narrativen Selbstentwurfs. Anhand zahlreicher Ego-Dokumente wurden die Kon­ struktion der eigenen Biographie und ihre Bedeutung für die Rationalisierung und Legitimierung seiner Handlungen untersucht. Dieses geschieht freilich unter der Bedingung, dass Isselhorst nach dem Krieg als mehrfach zum Tode verurteilter Kriegsverbrecher das naheliegende Bedürfnis hatte, sein eigenes Andenken zu wahren und in ein bestimmtes Licht zu stellen. Dass Isselhorsts Memoiren angesichts seiner Schreibsituation apologetische Züge aufweisen, ist aufgrund der Nähe zwischen Autobiographien und Gerichtsreden nicht verwunderlich, sind diese doch häufig historisch wie systematisch miteinander verbunden.13 Zentral waren die Leitfragen, wie der Erzähler sich in den autobiographischen Quellen entwirft, welche Rollen er einnimmt sowie die entscheidende Frage: welche Perspektiven auf die Wirklichkeit dadurch organisiert werden, welche Ausschnitte aus der eigenen Vergangenheit herangezogen werden und welche eben nicht. Freilich müssen diese Fragen im Kontext gesehen werden, denn Isselhorst schreibt für unterschiedliche Adressaten in unterschiedlichen persönlichen Situationen. Die Kombination der autobiographischen Quellen diente dazu, einen übergreifenden narrativen Selbstentwurf zu identifizieren. In der Analyse wurde offengelegt, wie Isselhorst in seinen Narrationen einzelne Erinnerungen selektierte und unterschiedlich gewichtete. Jede autobiographische Gedächtnisleistung muss in diesem Zusammenhang als ein Konstruktionsakt gesehen werden, der aus der Schreibsituation heraus die Vergangenheit neuinterpretiert und rahmt.14 Einzelne Anekdoten etwa, die vor 1945 als Beleg für die Hingabe zum NS he­ rangezogen wurden, erhielten nach Kriegsende eine gänzlich veränderte Funktion. Um ein geschlossenes Selbstbild zu erschaffen, wurden Erfahrungen und Anekdoten von Isselhorst dazu benutzt, sein Leben und sein Wirken im NS als Teil eines kulturellen Abwehrkampfes gegenüber 13 Kremer: Autobiographie als Apologie, S. 18f. 14 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2002, S. 195.

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dem Bolschewismus zu stilisieren. Dabei konstruiert Isselhorst nicht nur seine Biographie im NS, er argumentiert vielmehr mit ihr. So kann Isselhorst auch nach dem Krieg ein überzeugter Nationalsozialist sein, ohne sich selbst zu widersprechen. In seiner Argumentation konnten zudem konkrete Rückbezüge auf Wissensmuster offengelegt werden, die Isselhorst während des NS kennengelernt hatte. Beispielhaft ist hier der explizite generationale Rückbezug auf die »Deutsche Jugend« zu nennen, zu der sich Isselhorst in seinen Memoiren bekannte und die als gesellschaftliches Konstrukt während der NS-Zeit existierte, von der NS-Ideologie aufgegriffen und geprägt wurde. In den untersuchten Ego-Dokumenten aus der NS-Zeit zeigt der Verfasser hinsichtlich seines Selbstentwurfs keinen destruktiven Charakter. Trotz der tausendfachen Morde, die er befahl, sah er in seinem Wirken eine gestaltende, eine konstruktive Kraft, um die »heiligen« Ziele der NS-Bewegung zu erreichen.15 Insofern kann Isselhorst nicht als reiner Gewalttäter gewertet werden, der in die Riege der »Karrieren der Gewalt«16 passen würde. Obgleich er durch seine Positionen einen großen Handlungsraum besaß, nutzte er diesen nicht aus, um persönlichen Gewaltphantasien nachzugehen, wie dies bei anderen Tätern der Fall war. Andererseits war Isselhorst auch kein Mahner und Verhinderer von Gewaltaktionen, wie er dies in seinen Memoiren oftmals darstellte. Dies belegt freilich die Grundannahme der neueren Täterforschung, dass die Täter vor Ort keinesfalls eine pathologische Täternatur besaßen. Isselhorst handelte genauso, wie er glaubte den Zielen des NS gerecht werden zu können. Betrachtet man die Aussagen Isselhorsts, die er nach dem Krieg während seiner Gefangenschaft über seine NS-Vergangenheit tätigte, so zeichnet sich eine andere Selbstinterpretation seines Handelns ab. Hier deutete er die zuvor als konstruktive, zur Erreichung der NSZiele notwendigen Gewalt um zu einer verteidigenden, beschützenden Gewalt, die er zugleich in das historische Bewusstsein der Nachkriegszeit einbettete. Dabei zeigt die Analyse der Aussagen, dass Isselhorst in seinen Selbstzeugnissen eine kohärente Lebensgeschichte entwickelte, die letztlich auch sein Angebot aus dem Jahr 1947 erklärt, in dem er sich der französischen Regierung als potentieller Mitarbeiter einer europäischen Polizei anbot, die gegen die weiterhin bestehende »bolschewistische Gefahr« agieren sollte.17 Für ihn persönlich war dies ein offenbar plausibler Prozess, denn anhand der privaten Briefe und Aufzeichnungen 15 Isselhorst bezeichnete bereits 1935 die Ziele des NS explizit als »heilig«, in Ablehnung der Einflussnahme katholischer Geistlicher. Vgl. RW 0725 Nr. 28 (Brief vom 15.07.1935). 16 Mallmann, Klaus-Michael u. Paul, Gerhard (Hrsg.): Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiografien, Darmstadt 2004. 17 RW 0725, Nr. 9.

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kann kaum Zweifel daran bestehen, dass er auch fernab seiner für die Öffentlichkeit bestimmten Niederschriften von diesen Aussagen überzeugt war. Wie anpassungsfähig einzelne Erfahrungen in Hinblick auf den Zeitpunkt ihrer Formulierung und Niederschrift waren, zeigen die unterschiedlichen Bewertungen dieser Erinnerungen in seinen autobiographischen Quellen. Als markantes Beispiel ist hier sein Echauffieren über die Rede Goebbels zu nennen, der 1943 dafür plädierte, die Zerstörung alter Baudenkmäler als Chance für einen der neuen Zeit angepassten Städtebau zu begreifen. In seinen Memoiren schrieb Isselhorst dazu, dass er diese Auffassung als »eine ungeheure Blasphemie« empfand.18 Die Erinnerung erhielt erst beim Schreiben seiner Memoiren nach dem Krieg eine wichtige Bedeutung, denn sie fungierte als Beleg für seine kohärente Haltung als Kulturverteidiger während der NS-Zeit. In seinem Tagebuch aus den 1940er Jahren dagegen fand weder die Rede Goebbels noch sein Unmut darüber eine Erwähnung. Der in den Memoiren analysierte Selbstentwurf schuf für Isselhorst die Möglichkeit eines identitären Transfers in das System der Nachkriegszeit, in der er sich als Kriegsverbrecher vor Gericht zu verantworten hatte. Die beschriebene Diskrepanz der Aussagen, die in den verschiedenen untersuchten Quellen dokumentiert sind und herausgearbeitet wurden, beruht auf dem Einfluss der jeweiligen sozialen Schreibsituation des Verfassers. Der Selbstentwurf von Isselhorst definierte unmittelbar dessen autobiographische Erzählung. Dieses »prominenteste Strukturmerkmal«19 der Autobiographie ist bei Isselhorst umso bedeutungsvoller, als dass der Selbstentwurf die Grundlage für sein gesamtes Lebenskonstrukt des Jahres 1947 bildete. Isselhorst zählte sich in seinen Memoiren zur Generation der »deutschen Jugend«, die als historische Gruppe einen ursprünglich pazifistischen Zukunftstraum zu erreichen versuchte. Der NS, so Isselhorst, war die politische Bewegung, die versuchte, die patriotischen Energien der »deutschen Jugend« zu bündeln und zur Wiedererstarkung des Deutschen Reiches zu nutzen. Lediglich das Ausland – hier das abendländisch-christliche Ausland – stand dieser Zukunftsvision entgegen. Getragen von der »gesendeten« Person Adolf Hitlers, wehrte sich der NS, so Isselhorst, gegen die »Einschränkungen« des Auslandes und versuchte, in einem »Existenzkampf der Völker« sich »Platz zum Luftholen« zu schaffen.20 Das eigene Mitwirken an der NS18 RW 0725 Nr. 15 (Memoiren »Begegnungen« S. 14 n. E.). 19 Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie, Stuttgart 2005, S. 8. WagnerEgelhaaf benutzt an dieser Stelle den Begriff der Identität: »Das wesentliche Moment der Autobiographie, ihr prominentestes Strukturmerkmal ist gewiss das der behaupteten Identität von Erzähler und Hauptfigur, von erzählendem und erzähltem ich.« 20 Die Begriffe werden explizit von Isselhorst verwendet: Vgl. RW 0725 Nr. 30 (Brief vom 22.07.1944); RW 0725, Nr. 15 S. 4; RW 0725 Nr. 15 (Memoiren

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Bewegung war dementsprechend eine logische Folge seiner idealistischen Überzeugungen innerhalb der »deutschen Jugend«. Seine Arbeit in der Staatspolizei, speziell sein Kampf gegen den »jüdischen Bolschewismus«, will Isselhorst dagegen verstanden sehen als Ausdruck einer Verteidigung des christlichen Abendlandes. Idealismus, Patriotismus, Nationalsozialismus und Religiosität verschmelzen in dieser kohärenten Geschichte zu einem Konglomerat, welches sein Wirken rationalisiert und legitimiert. Isselhorst benötigt diese Legitimation angesichts seiner Situation als mehrfach zum Tode verurteilter NS-Verbrecher. Sie ist Ausdruck eines konstruierten Selbstentwurfes, der sich erst nach dem Krieg entwickelte. Die Quellen aus der Kriegszeit zeigen deutlich auf, dass diese Lebensgeschichte kaum mit einer historisch-faktischen Darstellung seines Lebens übereinstimmt. Dies ist insbesondere mit Blick auf seine tiefe Religiosität nach dem Krieg zu belegen, die Isselhorst als verurteilter Gefangener offenbarte und die in seiner Zeit während des NS praktisch keine Rolle spielte. Durch diese wiedergewonnene Frömmigkeit gewinnen einzelne Erinnerungen an Bedeutung und werden als Beleg für seine enge Bindung an die Kirche herangezogen. So wurde eine kohärente Lebensgeschichte konstruiert, die dem Selbstbild entsprach, das Isselhorst während der Abfassungszeit seiner Memoiren konstruiert hatte und das für ihn selbst Sinn stiftete. Aus der Perspektive des Historikers stellt sich die Frage nach möglichen Erklärungsansätzen für die Bereitschaft und die Motivation Isselhorsts, sich für die NS-Bewegung derart bedingungslos einzusetzen. Im Gegensatz zu anderen NS-Direkttätern, wie beispielsweise Karl Jäger, der bereits im Ersten Weltkrieg im Kampfeinsatz Erfahrungen gesammelt hatte und bei dem »auch das Töten von Feinden zur selbstverständlichen Pflicht [wurde]«21, stammt Isselhorst aus einer Alterskohorte, die keine solchen Erfahrungen gemacht hatte. Vom biographischen Rahmen her gibt es keine Hinweise auf eine pathologische Täterschaft, wie sie beispielsweise bei Oskar Dirlewanger erkennbar ist. Bei Isselhorst scheint der NS aufgrund seiner Ideologie, aber auch der Ausstrahlung seiner zentralen Protagonisten, wie sie Isselhorst insbesondere bei Hitler, Goebbels und Heydrich empfand, eine immense Anziehungskraft besessen zu haben. Ein daran konstruierter generationaler Auftrag avancierte bei Isselhorst zu einem Handlungsimperativ, der vermutlich auch bei ähnlichen Lebenslaufmustern zu erkennen sein dürfte. Ein enorm wichtiger Scheidepunkt im Leben Isselhorsts war das Ende seiner Studienzeit und die daran anknüpfende unsichere Zukunftsperspektive. Zu »Begegnungen« S. 9f); RW 0725 Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 9). 21 Wette, Wolfram: Karl Jäger. Mörder der litauischen Juden, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 2012 (zuerst 2011), S. 199.

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diesem Zeitpunkt fand Erich Isselhorst im NS ein Angebot, in welchem er sein eigenes Karrierestreben mit einer eigenverantwortlichen und im Sinne des NS zukunftsgestaltenden Funktion ausüben konnte. Dass er durch seine juristische Ausbildung genau in das Anforderungsprofil der Geheimen Staatspolizei fiel, verstärkte den Faktor. In den alltäglichen Arbeitsabläufen der Gestapo erlebte Isselhorst eine zunehmende Radikalisierung des NS und war somit bei seinem Übergang zu den Einsatzgruppen für die Gewaltmaßnahmen vorbereitet. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass in den Ego-Dokumenten aus der Kriegszeit derartige »Aktionen« nur eine untergeordnete Rolle spielten und lediglich rudimentär beschrieben wurden. In dieser Phase dominierten die Hingabe zum NS und seine absolute Überzeugung von der Notwendigkeit dieser »Aktionen«, selbst wenn er sie möglicherweise auf einer abstrakt-individuellen Ebene missbilligte. Erst nach dem Krieg, als Isselhorst als Kriegsgefangener die verschiedenen Gefängnisaufenthalte und Gerichtsverfahren durchlief, wurde die Vergangenheit neu justiert. Seine Lebenserfahrungen wurden zu einer kohärenten Geschichte verbunden, mit der NS-Zeit verknüpft und in die Nachkriegszeit eingebettet. Isselhorst modifizierte an dieser Stelle den Referenzrahmen des Nationalsozialismus, um sein eigenes Selbstbild zu stabilisieren und den Sinngehalt des eigenen Handelns vor der Zäsur 1945 in die Nachkriegszeit zu prolongieren. Der überzeugte Nationalsozialist fokussierte nun die Rolle eines frommen Christen, dessen Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, durch den NS die abendländische Kultur gegen den Bolschewismus verteidigt zu haben. Dass solche Adaptionen und Veränderungen in der Selbstdarstellung ein geradezu typisches Muster in Ego-Dokumenten darstellen, veranschaulicht Steuwers Analyse von Tagebüchern aus den 1930er Jahren. Steuwer bezeichnet die weitere Entwicklung aufgrund der gravierenden politischen Veränderungen und dem Beginn des Krieges als »Herausforderungen an die Einzelnen«, die neue »Anforderungen an individuelle Selbstvorstellungen« bedeuteten.22 Durch die systemische Zäsur des Jahres 1945 gewannen diese Herausforderungen zwar an Komplexität, doch konnte Isselhorst die neue Systemwelt in seinen bestehenden Referenzrahmen integrieren. Die hierarchisierende Gegenüberstellung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit bei der Quellenbehandlung besitzt für die historische Forschung noch immer eine prägende Bedeutung.23 Unbedacht bleibt dadurch die grundlegende Annahme der neueren Wissenssoziologie, dass 22 Vgl. Steuwer, Janosch: »Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse«. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017, S. 567. 23 Vgl. Popkin, Jeremy D.: History, Historians, and Autobiography, Chicago 2005, S. 11.

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»Gesellschaft« einer doppelten Realität unterliegt, »nämlich einerseits die sich in Institutionen und Strukturen manifestierende objektive Wirklichkeit, andererseits die ganz eigene Realität der subjektiven Imaginationen der Teilnehmer an Gesellschaft über Gesellschaft«.24 Dieser doppelte Zugang lässt sich auf autobiographische Texte anwenden. Dass autobiographische Texte narrative Quellen sind, die sowohl eine räumlich und zeitlich strukturierte Welt entstehen lassen und darin ein historisches »Ich« verorten, als auch eine Perspektive auf die Welt organisieren, um diese Welt zu deuten, wird jedoch mit Blick auf neuere historisch-biographische Forschungen kaum beachtet.25 Bei Volker Depkats Studie über »Lebenswenden und Zeitenwenden«, in der er autobiographische Texte von Politikern des 20. Jahrhunderts untersucht, findet sich ein solcher doppelter Zugang zu den autobiographischen Quellen, da Depkat die Texte sowohl als ein »eigengewichtiges semiotisches System [auffasst], das eine räumlich und zeitlich strukturierte Welt durch Erzählung aufbaut« und zum anderen die Texte selbst als »Akte sozialer Kommunikation« und ihre Funktion in laufenden sozialen Selbstverständigungsprozessen untersucht.26 Auch andere Arbeiten versuchen diesen erweiterten Zugang im Umgang mit autobiographischen Quellen aufzugreifen. Hier sind insbesondere die Arbeit von Christiane Lahusen über den autobiographischen Umgang von Geisteswissenschaftlern der ehemaligen DDR mit der eigenen Vergangenheit und die weitreichende Studie von Martin Aust und Frithjof Benjamin Schenk über autobiographische Strukturen in verschiedenen Großreichen des 19. und 20. Jahrhunderts zu nennen.27 Dass andere historisch-biographische Arbeiten diesen doppelten Zugang zugunsten einer strukturgeschichtlichen Einordnung der historischen Person vernachlässigen, liegt freilich auch daran, dass entweder keine autobiografischen Quellen im engeren Sinne vorliegen oder dass die Person – mit Blick auf den NS – aufgrund ihrer Position im NS-Apparat die Strukturen unmittelbar prägten. Als Beispiel für ein solches Vorgehen kann die neuere Studie von Markus Brechtgen über Albert Speer dienen, in der Brechtgen trotz zahlreicher autobiographischer Schriften Speers den Fokus auf dahinterliegende Strukturen im Umgang mit der NS-Vergangenheit legt: »Es geht also weniger um das Individuum Albert Speer, sondern um den 24 Depkat: Autobiographie als geschichtswissenschaftliches Problem, S. 30. 25 Vgl. Ebd. S. 30. 26 Vgl. Ebd. S. 32. Vgl. Depkat, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007. 27 Vgl. Lahusen, Christiane: Zukunft am Ende. Autobiographische Sinnstiftungen von DDR- Geisteswissenschaftlern nach 1989, Bielefeld 2014 und Aust, Martin u. Schenk, Frithjof Benjamin (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Köln 2015.

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Typus des bürgerlichen Deutschen, der bewusst zum Nationalsozialisten wurde und nach 1945 nicht den Willen und die Einsicht hatte, sich über seine Taten eine ehrliche Rechenschaft zu geben.«28 Die vollzogene Analyse gerinnt somit zwangsläufig zu einer Strukturanalyse: »Speers Biographie ist mithin eine beispielhafte deutsche Geschichte, mit der wir nicht nur eine Analyse des Nationalsozialismus und seiner Verbrecher näherkommen, sondern auch den Untiefen ihrer Aufarbeitung.«29 Die Arbeiten von Depkat und Pyta zeigen, dass es im Interesse der historischen Forschung liegen muss, sich mit der narrativen Ebene von Quellen zu beschäftigen. Dies gilt insbesondere für autobiographische Texte, in denen der Autor seine Vergangenheit für die Nachwelt kon­ struiert. Diese Tendenz wird fächerübergreifend in der Literaturwissenschaft, der Soziologie und auch der Geschichtswissenschaft deutlich.30 So zeigt beispielsweise die Arbeit von Roman Kremer, der sich als Germanist mit der rhetorischen Ebene in Autobiographien beschäftigt, wie verschiedene NS-Akteure ihre Vergangenheit in der Autobiographie so konstruieren, dass sie als Apologien gelesen werden können, die freilich in einem größeren Diskurs stehen.31 Durch den Einbezug der narrativen Ebene bei der Analyse von autobiographischen Quellen werden Lebensentwürfe, Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellungen ebenso beleuchtet, wie die damit einhergehende Rationalisierung und Legitimierung der eigenen Vergangenheit. Andere Studien, die sich ebenfalls mit Ego-Dokumenten beschäftigen, verstärken die Bedeutung von subjektiven Sinnkonstruktionen, die fernab einer Abbildung tatsächlicher Vergangenheit Auskünfte über die eigene Verarbeitung von Erlebnissen und Erfahrungen geben. Eine weitere Tendenz, die sich erst in den vergangenen Jahren deutlich erkennen lässt, ist die Erweiterung des untersuchten Personenkreises für die NS-Zeit. Augenscheinlich gelangen durch vermehrte mi­ krohistorische Ausrichtung der historischen Forschung auch Personen in den Fokus, die fernab der NS-Spitzen ihre eigene Geschichte des NS erzählen. Durch den Einbezug dieser »normalen« Protagonisten gewinnt die Forschung Perspektiven, die für eine umfassende Darstellung des NS auch für den Bereich der Alltags- und Erfahrungsgeschichte unabdingbar sind. Hinsichtlich der NS-Täterforschung zeigen die Studien wie unterschiedlich die Täterschaft ausgeübt werden konnte, welche Handlungsräume entstanden und wie diese gestaltet wurden. Die Analyse von Erich Isselhorsts Selbstentwurf, wie sie in dieser Arbeit vollzogen wurde, setzt eine interpretativ-analytische Auseinandersetzung 28 Brechtgen, Markus: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 2017, S. 14. 29 Ebd. 30 Vgl. Kremer: Autobiographie als Apologie, S. 25f. 31 Vgl. Ebd. S. 49.

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mit Ego-Dokumenten voraus, welche zudem auch in einem Umfang vorhanden sein müssen, der wissenschaftlich belastbare Aussagen ermöglicht. Angesichts der rund 40 Milliarden Postsendungen im Zweiten Weltkrieg – davon 10 Milliarden ins Deutsche Reich – scheint Material vorhanden zu sein, um diesbezügliche Studien durchzuführen, auch wenn das Auffinden von qualitativ hochwertigem Quellenmaterial eine große Herausforderung darstellt, da der unerforschte Großteil der Quellen sich weiterhin in privaten Haushalten befindet.32 Jedoch werden auch in jüngster Vergangenheit neue Quellenbestände erschlossen, in denen autobiographische Materialien aus der NS-Zeit offengelegt werden. Hier sind beispielsweise die 581 Biogramme aus dem Jahr 1934 zu nennen, die von einem Preisausschreiben von Theodore Abel herrühren, der Anfang der 30er Jahre der Forschungsfrage nachging, warum so viele Deutsche zum Nationalsozialismus kamen. In den Biogrammen sollten die Teilnehmer explizit schreiben, wie sie ihre Lebensgeschichte mit dem NS in Verbindung bringen und warum sie Nationalsozialisten wurden. Die Sammlung wurde erst 2018 von Wieland Giebel herausgegeben und stellt eine außergewöhnliche Sammlung von autobiographischem Quellenmaterial dar.33 In der NS-Täterforschung erschweren allerdings einige Bedingungen eine Ausweitung des Untersuchungsrahmens, da ein Großteil der NS-Täter entweder den Krieg nicht überlebte oder so kurz nach dem Krieg starb, dass keine schriftlichen Quellen mehr produziert werden konnten. Auch gestaltet sich die persönliche Schreibsituation individuell unterschiedlich. Der verurteilte Kriegsgefangene Erich Isselhorst unterscheidet sich erheblich von Memoirenschreibern, die beispielsweise erst in den 50er und 60er Jahren ihre autobiographischen Texte produzierten und denen keine Strafverfolgung drohte. Andererseits können diese Differenzen die Auswirkungen des politischen Systems auf die eigene Selbstdarstellung in vergleichenden Studien offenlegen. Schafft man es, diese Selbstentwürfe in einen Zusammenhang zu stellen und Vergleichspunkte zu entwickeln, so könnte dies eine Perspektive auf die NS-Täter öffnen, die weit über disziplinäre Grenzen hinaus Aussagen über die subjektive Rationalisierung und Legitimierung ihrer Verbrechen zulassen. Dies wäre eine Grundlage, die sicherlich in ihrer Aussagekraft nicht nur auf die Shoah und die Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg, sondern auch auf andere Genozide anzuwenden sein dürfte. Die Subjektivität der Ego-Dokumente sollte in historischen Studien daher nicht bloß als Problem für einen Zugriff auf eine dahinterstehende faktische Realität gesehen werden. Vielmehr muss die Analyse 32 Vgl. Latzel, Klaus: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998, S. 27. 33 Giebel, Wieland (Hrsg.): »Warum ich Nazi wurde.« Biogramme früher Nationalsozialisten – Die einzigartige Sammlung des Theodore Abel, Berlin 2018.

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dieser subjektiven Selbstaussagen und Deutungen als zusätzlicher Quellenzugang gesehen werden, um Sinnkonstruktionen aufzuschlüsseln, die Einblicke in die individuelle Perzeption und narrative Verarbeitung eröffnen können. Darüber hinausreichende Aussagen, insbesondere mit Blick auf die psychologischen Hintergründe der Gewalttäter des Zweiten Weltkrieges, so wie sie beispielsweise in den frühen 90er Jahren in der Forderung nach einer »Psychohistorie« aufkamen, sind jedoch kaum zu erwarten. Denn meist herrscht gerade in der für die Psychoanalyse wie Psychologie gleichsam wichtigen Phase der Kindheit und Jugend ein ekla­tanter Quellenmangel vor.34 Dies trifft auch auf Erich Isselhorst zu, denn autobiografische Quellen, deren Niederschrift vor den 1930er Jahren datieren, sind bei ihm ebenfalls nicht überliefert. Die Ergebnisse der vorliegenden Quellenanalyse zeigen die Bedeutung autobiographischer Quellen hinsichtlich der Sinnkonstruktion von NS-Tätern. Sie verdeutlichen, dass die Hintergründe der NS-Täter nicht über einen einzigen Königsweg aufgeschlüsselt werden können, da diese nicht monokausal zu beantworten sind und durch ihre subjektive Bewertung und Rationalisierung in die Nachkriegszeit transferiert werden konnten. Erich Isselhorst bestand auch nach dem Kriegsende darauf, ein überzeugter Nationalsozialist gewesen zu sein. Gleichzeitig vollzog er jedoch eine Anpassung des Referenzrahmens von der Position eines NS-Akteurs hin zu einem Verteidiger der abendländischen Kultur. Dieser Prozess funktionierte für Isselhorst, da er für beide Komponenten Erinnerungen und Erfahrungen heranziehen konnte, die diese Selbstbilder stabilisierten. An dieser Stelle erscheint es sinnvoll, den autobiografischen Umgang Isselhorsts mit seiner Vergangenheit im NS-System mit dem anderer NS-Tätern zu vergleichen. Welche Selbstentwürfe schufen andere Direkttäter in autobiographischen Quellen? Wie gestaltete sich der Referenzrahmen dieser Konstrukte? Von Bedeutung sind die unterschiedlichen Bedingungen, die die Täter in Ihrem Handeln beeinflussten. Der Täter oder die Täterin in einem Konzentrationslager besaß andere Rahmenbedingungen als die Mitglieder der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei. Genauso müssen davon diejenigen unterschieden werden, die als »Schreibtischtäter« keinen unmittelbaren Kontakt zu den Opfern hatten. Diese mitunter erheblichen Unterschiede in den externen Faktoren müssen in der Analyse von Tätern Berücksichtigung finden. Ein weiterer Fragekomplex ergibt sich aus möglichen vergleichenden Studien von Tätern, die in anderen Genoziden handelten. Dabei besteht die Gefahr, dass die jedem Genozid innewohnenden, singulären Erklärungsmuster durch den Vergleich mit anderen Völkermorden nivelliert 34 Vgl. Pyta, Wolfram: Biographisches Arbeiten als Methode: 1. Geschichtswissenschaft; in: Klein, Christian (Hrsg.) Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 331–338, hier: S. 337.

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werden. Daher ist es von nicht geringer Bedeutung, dass Analysen von Ego-Dokumenten zwar Einblicke in die Perzeption eines Menschen gewähren, dies allerdings nicht dazu führt, dass die Erkenntnisse uneingeschränkt transferiert werden. Jeder Mensch erzählt und interpretiert seine Lebensgeschichte und Erfahrungen unter je eigenen Voraussetzungen und selbst die ausführlichste Analyse und Dokumentation eines Einzelfalls kann keine sicheren Aussagen für einen anderen Menschen bieten. An ebendiesen Punkten bedarf es strukturanalytischer Erkenntnisse, denn nur diese vermögen es, hintergründige Faktoren aufzuschlüsseln und auf Einzelpersonen und Gruppen anzuwenden. Die Strukturen des NS sind hinsichtlich des ideologischen Rahmens mit diesen Selbstentwürfen untrennbar verbunden. Selbstentwürfe gestalten sich zwar individuell unterschiedlich, doch gestalten sie sich innerhalb von Referenzrahmen in einem kumulativen Prozess der NS-Zeit, der letztlich bis zu den Massenmorden führte. Abschließend wurde der Frage nach der moralischen Einstellung von Erich Isselhorst nachgegangen. Denn eine Ausgangsfrage dieser Arbeit war es, durch empirische Befunde offenzulegen, wie Isselhorst seine Taten moralisch rechtfertigte. Nun ist kaum möglich zu entschlüsseln, warum ein Mensch Taten für gut und richtig oder für böse und falsch hält, da moralisch begründetes Handeln mitunter von Zufällen abhängt.35 Und tatsächlich scheint diese innere Haltung auch nicht ausschlaggebend zu sein für die letztliche Umsetzung einer Handlung oder ihre Nicht-Umsetzung. Doch wird der Prozess des moralischen Urteilens ausgehöhlt, wenn die subjektive Bewertung einer Handlung in einen zukünftigen Raum projiziert wird, in dem dieses Handeln erst beurteilbar wird. Dies tat Erich Isselhorst beim Schreiben seiner Memoiren als er anhand seiner persönlichen Erinnerung versuchte, den Völkermord an den Juden einzuordnen, den er auch nach dem Krieg grundsätzlich für richtig erachtete, auch wenn »das persönliche Gefühl« diesem widersprach.36 Obgleich nicht zu belegen ist, ob Isselhorst diese subjektive moralische Ebene tatsächlich wahrnahm, so muss doch davon ausgegangen werden, dass trotz der dominanten Rahmenbedingungen, in denen sich die Täter befanden, diese immer noch über eine moralische Basis verfügen konnten, die diesem Handeln entgegenstand. Die Quellen von Erich Isselhorst zeigen diese Ebene nicht. Er nahm sich als Teil einer historischen Gruppe wahr, die ihre Gestaltungskraft in der Welt unbedingt zu verwirklichen suchte und Gesellschaftskonstrukte vereinnahmte, in der Gewalt 35 Vgl. Kwame, Anthony Appiah: Experiments in Ethics, Cambridge 2009. Appiah veranschaulicht in seiner Studie die Fragilität moralischer Konzepte anhand diverser Fallbeispiele und Experimenten. 36 LAV NRW RW 0725, Nr. 16 (Memoiren »Das Elsass im Dritten Reich« S. 23).

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und Vernichtung notwendige Mittel zur Erreichung scheinbar historischer Ziele waren. In diesem Rahmen wurden individuelle Geschichten kon­struiert, in denen etwas kumulierte, was nicht hätte passieren dürfen. Denn anhand dieser Konstrukte waren die Täter in der Lage, aus Überzeugung zu morden und in den Tod zu gehen. Eine Grundlage, die in ihrer umgesetzten Radikalität und Brutalität dazu führte, dass Millionen von Opfern ihrer eigenen Geschichten beraubt wurden.

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QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

6.3 Abbildungsverzeichnis 1 Erich Isselhorst (OStubaf), undatiert, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28272, Nr. 35 . . . . . . . . . . . 2 Erich Isselhorst, undatiert, ca. 1911, LAV NRW RWB 27552, Nr. 1r. . . . . . . . . . . . . 3 Brief von Erich Isselhorst an seine spätere Frau, 19.08.1934, RW 0725, Nr. 27. . . . . . . . . . . . . 4 Adolf Hitler auf Wagen, undatiert, ca. 1938, LAV NRW R_RWB 28286, Nr. 24. . . . . . . . . . . . 5 Verleihung Totenkopfring der SS vom 12. Dezember 1939, RW 0725, Nr. 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Disziplinarischer Verweis vom 24. Februar 1941, RW 0725, Nr. 23 . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Fahrt nach Smolensk, Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 26 . . . . . . . . . . . 8 Fahrt über Warschau, Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 20 . . . . . . . . . . . 9 Fahrt über Warschau, Ende Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 23 . . . . . . . . . . . 10 Fahrt über Warschau, Ende Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 24 . . . . . . . . . . . 11 Zerstörter Panzer neben Fahrbahn nach Smolensk, Ende Januar 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 27 . . . . 12 Hauptquartier der Einsatzgruppe B in Smolensk, Frühjahr 1942, LAV NRW R_RWB 28341, Nr. 32 . . . . . . . 13 Isselhorst bei einer Schlittenfahrt bei Smolensk, Frühjahr 1942, LAV NRW R_RWB 28267, Nr. 8. . . . . . 14 Deutsche Einheiten in Smolensk, Frühjahr 1942, LAV NRW R_RWB 28267, Nr. 7 . . . . . . . . . . . 15 Isselhorst (r.) mit Führern der EG B; Außer Naumann (Oberführer, 2. v. r.) alle im Rang eines Obersturmbannführers. Darunter auch Adolf Ott (2. v. l.), LAV NRW R_RWB 28272, Nr. 15 . . . . . . . . . . . 16 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 22 . . . . . . . . . . . 17 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 19 . . . . . . . . . . . 18 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 24 . . . . . . . . . . . 19 Smolensk, Frühjahr/Sommer 1942, LAV NRW R_RWB 28276, Nr. 27 . . . . . . . . . . . 20 Straße bei St. Petersburg, Frühjahr 1943, LAV NRW R_RWB 28297, Nr. 5 . . . . . . . . . . . 21 Deutsche Soldaten auf einem Panzerkampfwagen III, Frühjahr 1943, LAV NRW R_RWB 28297, Nr. 12 . . . . . . 372

9 73 82 101 105 110 115 116 117 117 119 119 123 124

127 134 134 135 135 153 153

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

22 Isselhorsts Unterkunft in Finnland: Hotel Aulanko in Hämeenlinna, April 1943, LAV NRW R_RWB 28297, Nr. 35 . . . . . . . . . . . 23 Grubenaushebung, undatiert, LAV NRW R_RWB 28268, Nr. 26 . . . . . . . . . . . 24 Besuch des Gräberfeldes in Verdun, Frühjahr 1944, LAV NRW R_RWB 28339, Nr. 3 . . . . . . . . . . . 25 Paris-Besuch im Frühjahr 1944, LAV NRW R_RWB 28339, Nr. 13 . . . . . . . . . . . 26 Parade vor dem Arc du Triumphe beim Paris-Besuch im Frühjahr 1944, LAV NRW R_RWB 28339, Nr. 15 . . . . . . . . . . . 27 Ort Rott (Bas-Rhin) im Elsass, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28324, Nr. 22. . . . . . . . . . . . 28 Inspektion des Westwalles, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28322, Nr. 2 . . . . . . . . . . . 29 Inspektion des Westwalles, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28322, Nr. 4 . . . . . . . . . . . 30 Inspektion des Westwalles, Sommer 1944, LAV NRW R_RWB 28322, Nr. 1 . . . . . . . . . . . 31 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert. LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 27 . . . . . . . . . . . 32 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert, LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 28 . . . . . . . . . . . 33 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert, LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 29 . . . . . . . . . . . 34 Zerstörte Gebäude in Straßburg 1944, undatiert, LAV NRW R_RWB 28293, Nr. 30 . . . . . . . . . . . 35 Fahndungsaufruf Erich Isselhorst (falsches Geburtsdatum), April 1947 (nicht archiviert – Kopie aus Privatbesitz) . . . . 36 Zeitungsartikel vom 24.02.1948 über die Hinrichtung von Erich Isselhorst, LAV NRW RW_0725, Nr. 22 . . . . . . .

373

157 166 180 181 181 183 189 189 190 191 191 192 192 237 264

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

6.4 Abkürzungsverzeichnis AOK Armeeoberkommando BdE Befehlshaber des Ersatzheeres der Wehrmacht BdM Bund deutscher Mädel Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD BdS Berück Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes (Wehrmacht) Brigadeführer (Offizier im Generalsrang der SS) BrigF. Chef der Einsatzgruppe C CdZ Chef der Zivilverwaltung DBO Deutsche Bauordnung Dulag Durchgangslager EG Einsatzgruppe Eisernes Kreuz (Erster Klasse) EK 1.Kl EK Einsatzkommando FK Feldkommandaturen FS Funkspruch/Fernschreiben Ft Ferntelegramm Geheimes Staatspolizeiamt Gestapa Gestapo Geheime Staatspolizei (oft auch Stapo bezeichnet) GFP Geheime Feldpolizei GPU Sowjetische Geheimpolizei Gruppenführer (Generalsrang der SS) Gruf HJ Hitlerjugend Hptm. Hauptmann (Offiziersrang der Wehrmacht/Polizei) HSSPF / Höh. PolF Höherer SS- und Polizeiführer im Generalstab (Beispiel. Major i.G.) i.G. Ia 1. Generalstabsoffizier einer höheren Dienststelle – Leiter der Führungsabteilung Ib 2. Generalstabsoffizier einer höheren Dienststelle – Leiter der Versorgungabteilung Ic 3. Generalstabsoffizier einer höheren Dienststelle – Nachrichtenoffizier (Feindbild), Sicherheit IdS Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD Jg Jahrgang KdS Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Korück Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes (Wehrmacht) Kommunistische Partei KP Kripo Kriminalpolizei KVK I Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse KVK II Kriegsverdienstkreuz Zweiter Klasse KZ Konzentrationslager NKWD Russische Bezeichnung für das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten 374

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

NS Nationalsozialismus/nationalsozialistisch NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei OF Oberführer (Offiziersrang der SS) OGruf Obergruppenführer (Offizier im Generalsrang der SS) Oberheereskommando OHK OKW Oberkommando der Wehrmacht OP/Orpo Ordnungspolizei Obersturmbannführer (Offiziersrang der SS) OStubaf OStuf Obersturmführer (Offiziersrang der SS) Panzerabwehrkanone Pak Parteigenosse der NSDAP PG Pol. Reg. Polizeiregiment Reichsführer-SS (Heinrich Himmler) RF/RFSS RM Reichsmark Reichsicherheitshauptamt RSHA Reichsverteidigungskommissar RVK SA Sturmabteilung Special Air Service (Spezialeinheit der SAS britischen Luftwaffe) Schupo Schutzpolizei SD Sicherheitsdienst (Geheimdienst der SS) Sila Sicherungslager (Beispiel: Schirmeck-Vorbruck) SK Sonderkommando SMG Schweres Maschinengewehr SP/Sipo/Sich Po Sicherheitspolizei SS Schutzstaffel SSPF SS- und Polizeiführer Stammlager Stalag Stapo Staatspolizei Sturmbannführer (Offiziersrang der SS) Stubaf UStuf Untersturmführer (Offiziersrang der SS) VL Vernichtungslager Z.b.V. Zur besonderen Verwendung

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