Eine europäische Gesellschaft?: Beiträge zur Sozialgeschichte Europas vom 19. bis ins 21. Jahrhundert [1 ed.] 9783666311192, 9783525311196

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Eine europäische Gesellschaft?: Beiträge zur Sozialgeschichte Europas vom 19. bis ins 21. Jahrhundert [1 ed.]
 9783666311192, 9783525311196

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Hartmut Kaelble

Eine europäische Gesellschaft? Beiträge zur Sozialgeschichte Europas vom 19. bis ins 21. Jahrhundert

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Christina Morina, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding, Hans-Ulrich Wehler (1972–2011) und Jürgen Kocka (1972–2013)

Band 236

Vandenhoeck & Ruprecht

Hartmut ­Kaelble

Eine europäische Gesellschaft? Beiträge zur Sozialgeschichte Europas vom 19. bis ins 21. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Max Beckmann, Gesellschaft Paris, 1931 © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0130 ISBN 978-3-666-31119-2

Für Brigitte, Hendrik, Laure, Martin, Maxim, Jakob und Elisabeth

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Französische und deutsche Gesellschaft 1. Sozialgeschichte in Frankreich und der Bundesrepublik: Annales gegen historische Sozialwissenschaften? . . . . . . . . . . . 31 2. Französisches und deutsches Bürgertum 1870–1914 . . . . . . . . . 47 3. Die Annäherung der Wohlfahrtsstaaten in Frankreich und der Bundesrepublik im Vergleich zu den USA während der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4. Famille / Familie in Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . . 87 5. Soziale Ungleichheit in Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6. Die gesellschaftlichen Verflechtungen zwischen Frankreich und Deutschland seit 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 7. Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 . . . . . . . . . . . 129

Europäische Gesellschaft 8. Sozialgeschichte Europas seit dem späten 18. Jahrhundert . . . . . . 145 9. The 1970s in Europe: Period of Disillusionment or Promise? . . . . 171 10. Die Gesellschaften der Europäischen Union: Zusammenwachsen und Auseinanderfallen, 1957–2017 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 11. Klassengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7

12. Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945 . . . . . . . . 207 13. Geschichte des sozialen Europa: Erfolge oder verpasste Chancen? . . 223 14. Abmilderung der sozialen Ungleichheit? Das westliche Europa während des Wirtschaftsbooms der 1950er bis 1970er Jahre? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 15. Educational opportunities in the period of industrialization . . . . 255 16. History of social mobility . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Historischer Vergleich und Transfer 17. Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer . . . . 271 18. Historischer Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 19. Comparative and transnational history . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 20. Grenzen Überschreiten durch den historischen Vergleich . . . . . . 319 21. Social history is almost like a public forum. Interview by Bela Tomka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Verzeichnis der ersten Druckorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

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Vorwort Wir kam ich zur Sozialgeschichte, zu meinen Arbeitsgebieten und damit zum Schreiben der folgenden Aufsätze? Normalerweise denkt man darüber nicht genauer nach. Aber die Einleitung dieses Aufsatzbandes ist ein Anlass dazu. Nur wie schreibt man eine solche Einleitung? Ich habe mich nach einer Reihe von Versuchen dafür entschieden, keine Autobiographie zu schreiben, sondern vor allem die Entstehung der folgenden Aufsätze verständlich zu machen. Bei deren Auswahl hatte die heutige Aktualität der Themen und nicht die Dokumentation meines wissenschaftlichen Werdegangs Vorrang.1 In meiner folgenden Selbstdarstellung entsteht daher vielleicht der falsche Eindruck, als ob ich in meiner ganzen wissenschaftlichen Biographie auf die jetzigen Themen hingearbeitet und mein ganzes Leben nur aus Vorstufen zu meinen jetzigen Forschungsthemen bestanden hätte. Ich hoffe der Leser nimmt dieses Bild nicht mit, auch wenn ich ihm das ganze Mäandern und alle Sackgassen einer wissenschaftlichen Biografie nicht zumuten wollte. Einiges davon erwähne ich. Kindheit und Jugend Wenige Historiker meiner Altersgruppe stammen wie ich aus einem Dorf, auch noch aus einem Dorf im Süden Deutschlands. Das war sicher kein Startvorteil. Die Anregungen einer Stadt besaß ich nicht. Während heute die kulturellen Unterschiede zwischen Stadt und Land durch das Internet, durch das Handy und durch das Auto stark geschrumpft sind, fehlte mir in den 1950er Jahren eine Bibliothek oder eine gute Buchhandlung und der intensive intellektuelle Austausch, die Überbrückung der dörflichen Abgeschiedenheit durch Telefon oder Motorroller. Für mein späteres Leben als Historiker haben mich jedoch wahrscheinlich vier Erfahrungen meiner Kindheit und Jugendzeit beeinflusst: die besonderen Erfahrungen der Gesellschaft eines Gebirgsdorfs, die verzweigte Familie, der ländliche Wirtschaftsboom und die regionale Abgeschlossenheit. 1 Vgl. zu ähnlichen, aber stärker autobiographischen Einleitungen: K. Jarausch, Contemporary history as transnational project: autobiographical reflections on the German problem, 1960–2010, in: ders., Contemporary history as transnational project: the German problem, 1960–2010, (Historical Social Research. Supplement no. 24), Köln 2012, S. 7–52; J. Falter, Autobiographische Anmerkungen, in: ders., Zur Soziographie des Nationalsozialismus. Studien zu den Wählern und Mitgliedern der NSDAP (Historical Social Research. Supplement no.25), Köln 2013, S. 7–45. Für die Lektüre des Vorworts, für anregende Vorschläge und Gespräche danke ich Etienne Francois, Dieter Gosewinkel, Brigitte ­Kaelble, Christoph Kleßmann und Jürgen Kocka.

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In Pfalzgrafenweiler bei Freudenstadt im nordöstlichen Schwarzwald, dem Dorf, in dem ich, mit drei Jahren 1943 aus Stuttgart evakuiert, bis zu meinem 18. Lebensjahr lebte, lernte ich ganz unterschiedliche soziale Milieus kennen. Uns selbst rechnete man in diesem Dorf zu den »Herraleut« (Herrenleuten), wie der Landwirt sagte, in dessen Bauernhaus wir bis zu meinem 15. Lebensjahr wohnten. Er sagte das wohlwollend ironisch, weil die »Herraleut« bei ihm Mieter waren. Meine Geschwister und ich lebten in dieser dörflichen Gemeinschaft, gingen oft mit den Bauern der Nachbarschaft im Sommer auf das Feld, passten auf die Kühe auf, wenn die Wagen mit Heu oder Getreide vollgeladen wurden, aßen danach mit ihnen Brot und Rauchfleisch. Ich verdiente mir im Steinbruch und bei Straßenarbeiten ein Taschengeld. Ich machte die Erfahrung eines scharfen Schnitts in diesen Beziehungen zur ländlichen Gesellschaft erst, als ich mit zehn Jahren als einziger Junge meiner Klasse auf das dreiklassige Progymnasium ging, das in diesem Gebirgsdorf eingerichtet wurde und in dem alle drei Klassen gleichzeitig in einem Raum von einem Lehrer unterrichtet wurden. Von meinen früheren Schulfreunden wurde ich plötzlich gemobbt, da dieses Progymnasium zumindest in meinem Altersjahrgang von der dörflichen Gesellschaft nicht angenommen wurde. Diese Kindheit und Jugend mit dichter Erfahrung von sehr unterschiedlichen sozialen Milieus, mit ihrem sozialen Umgang und ihren sozialen Trennlinien, war eine Art von Trockenübung für Sozialgeschichte, wenn auch sicher kein klarer Pfad zum Sozialhistoriker. Auch die Erfahrung der ganz unterschiedlichen sozialen Milieus der Familie schärfte meinen Blick für soziale Unterschiede. Mein Vater war kein Akademiker, hatte nicht mehr als eine Volksschulausbildung und eine kaufmännische Lehre. Er stammte in direkter Linie aus einer Familie, die seit dem Dreißigjährigen Krieg fast immer Schuhmacher war. Sein Vater war Arbeiter in einer Schuhfabrik. Es war für mich beeindruckend, dass mein Vater sozial aufstieg und es ihm gelang, Prokurist in den späten 1940er Jahren in einer Weberei in Pfalzgrafenweiler und später Prokurist in einem nahen anderen Dorf in einer Firma zu werden, die damals durch Fischer-Dübel bekannt wurde und deren Eigentümer, Arthur Fischer, lange Zeit eine Art württembergischer mittelständischer Vorzeigeunternehmer war. Auch entfernte Verwandte meiner Mutter waren eher arm, schlugen sich in der Nähe von Calw mit dem Betreiben einer Mühle mit Landwirtschaft durch, in der wir gerne Ferien machten. Meine Mutter selbst kam aus einer bürgerlichen Notablenfamilie. Ihr Vater war Gerichtsnotar zuletzt in Tübingen. Alle ihre Brüder hatten studiert. Sie selbst besaß eine Berufsausbildung als Lehrerin. Sie und ihre Brüder waren mit einem Historiker, Martin Göhring, befreundet, mit dem ich allerdings erst als Doktorand ein längeres fachliches Gespräch hatte.2 Auch entfernte Verwandte meiner väterlichen Familie waren sozial aufgestiegen, darunter ein Fabrikdirektor in einem

2 Vgl. H. Duchhardt, Eine Karriere im Zeichen der Umbrüche. Der Historiker Martin Göhring (1903–1968) in seiner Zeit, Stuttgart 2018.

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nahegelegenen Städtchen, der mich mit erzog, und der Präsident einer Bundesforschungsanstalt in Tübingen, mit dem ich mich als Student und als Assistent oft traf. Meine Geschwister und ich verbrachten regelmäßig die Ferien in dieser weitverzweigten, größeren Familie in unterschiedlichen sozialen Milieus nicht nur auf dem Dorf, sondern auch in der Universitätsstadt Tübingen, in den Industriestädten Heilbronn, Metzingen und Balingen und in einem internationalen Hotel in Bad Nauheim, bekamen zudem als Fahrschüler zum Gymnasium die Gesellschaft der damals ambitionierten Luftkurstadt Freudenstadt am Rande mit. Diese sozialen Unterschiede waren auch familiäres Gesprächsthema. In der Familie erlebte ich nicht den angeblichen Rückzug der Adenauer Zeit auf die Kleinfamilie. Die verzweigte Familie war vor allem in der Kriegs- und Nachkriegszeit wichtig, da mein Vater erst aus der Gefangenschaft zurückkam, als ich 6 Jahre alt war und zwei Onkel meine Mutter bei der Erziehung der Kinder unterstützten. Mein späteres Interesse an der Geschichte der Familie wurde sicher auch dadurch geweckt, dass ich nicht in der abgeschotteten Kindheit einer Kleinfamilie aufwuchs, sondern meine Mutter eine kleine Hemdenfabrikation betrieb, ich deshalb in den Kindergarten ging und wir auch in der Familie immer ein junges Mädchen hatten, das sich um uns kümmerte. Ich hatte nie den Eindruck, dass mir in dieser Art von Kindheit etwas fehlte. Es kommt hinzu, dass in diesem Gebirgsdorf die Kleinfamilie mit der reinen Hausfrau sowieso kein dominantes Modell war. Abgesehen von den Kriegerwitwen, die oft berufstätig sein mussten, da die Witwenrente zu schmal war, lebten auch die Notablen des Dorfes die reine Hausfrauenehe keineswegs immer vor, weder die Pfarrersfrau, die sich in der Gemeinde engagieren musste, noch die Frau des Forstmeisters, eine Ärztin, noch die Ehefrauen der Hoteliers, die das Hotel mitleiteten. In den Bauernfamilien gab es zwar eine Arbeitsteilung zwischen Ehemann und Ehefrau, aber keine reine Hausfrauenrolle, denn die Ehefrauen kamen mit auf das Feld und hatten sich genauso wie der Ehemann um das Vieh zu kümmern. Auch die Erfahrung des Wirtschaftswunders, mit dem ich mich später als Historiker beschäftigte, war für meine Kindheit und Jugend bedeutsam. Man wird sich fragen, ob ich das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre in einem Schwarzwalddorf überhaupt mitbekam. Aus der Perspektive eines Kindes und Jugendlichen war die wirtschaftliche Entwicklung aufregend. Sie bestand in der Kanalisation und der Asphaltierung der Straßen mit Trottoirs, auch im Bau eines Wasserturms 1957. Wir waren stolz darauf. Das Wirtschaftswunder bestand natürlich aus den neuen Autos, für uns Fahrschüler auch aus neuen Bussen mit Unterflurmotoren, mit vielen Fenstern und mit Radiomusik. Ein Bus, der Silberpfeil genannt wurde, war bei uns besonders beliebt. Auch darauf waren wir stolz. Die wachsende Bevölkerung des Dorfes, die in den 1950er Jahren von 1900 Personen auf 2350 Einwohner anwuchs, hatte unsere volle Aufmerksamkeit.3 Als eine neue kleine Siedlung von anfänglich sechs Häusern etwas 3 Pfalzgrafenweiler. Vom gräflichen Jagdsitz zum lebendigen Gewerbeort, Horb 2006, S. 358.

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außerhalb des Dorfes angelegt wurde, verfolgten wir das ebenso gespannt wie die Modernisierung des Sports, zuerst den Bau einer neuen Fußballanlage mit Aschenbahn, später die Anlage von Tennisplätzen. Die Speditionen des Dorfes expandierten. Wir waren beeindruckt davon, dass am Wochenende immer mehr Lastzüge in den Höfen dieser Speditionen standen. Auch die Festkultur des Dorfes scheint sich in dieser Zeit verändert zu haben. Große Umzüge durch das Dorf wurden veranstaltet, bei denen wir Kinder immer mit zu machen hatten. Wir Jugendlichen registrierten, wie neben den vorhandenen Fabriken aus der Zwischenkriegszeit eine ganze Reihe von neuen Fabriken entstanden, meist Möbelfabriken, von denen ich eine in der Ferienarbeit kennenlernte, aber auch eine Weberei, die von einem durch die sowjetische Besatzungsmacht enteigneten Unternehmer aus dem thüringischen Greiz gegründet wurde.4 In dieser Firma war mein Vater leitender Angestellter. Wie die Firma weltweit expandierte, sah ich als Schüler an den Briefmarken, die mir mein Vater nach Hause brachte. Sie kamen aus fast allen westeuropäischen Ländern, außerdem aus Polen, aber auch aus den USA, aus Brasilien, Argentinien, Peru und Chile. Allerdings erlebten wir den Boom der 1950er Jahre nicht als Konsumrausch. In der Einliegerwohnung des Bauernhauses, in der wir bis zu meinem 15. Lebensjahr wohnten, gab es weder ein Bad noch ein Wasserklosett noch einen Gas- oder Elektroherd noch einen Kühlschrank. In dem Haus, dass meine Eltern 1955 bauten, war dies alles vorhanden, aber nicht alle Räume waren beheizbar. Mein Bruder und ich lebten in einem Raum, der nie geheizt wurde. Im Winter bildeten sich an der Wand neben unseren Betten Eisblumen aus unserem Atem, deren Formen faszinierend waren. Meine Eltern besaßen weder ein Auto noch ein Telefon, immerhin ein Radio und einen Plattenspieler. Wir kannten auch die Schattenseiten und die Verlierer des Wirtschaftsbooms. Dazu gehörte die ärmliche, inzwischen verschwundene Gebirgslandwirtschaft mit Hühnern und ein paar Schweinen, ein oder zwei Kühen, die das ganze Jahr im Stall gehalten wurden, weil sie sowohl als Milchkühe als auch als Zugtiere eingesetzt wurden, um das Heu und die Ernte einzufahren. Moderne landwirtschaftliche Maschinen oder Traktoren gab es in dieser ärmlichen Landwirtschaft selten. Gras und Getreide wurden noch oft mit der Sense gemäht, die wiederum von den Bauern selbst »gedengelt«, also geschärft wurden. Das Dengeln gehörte neben dem Krähen der Hähne, dem Kreischen der Holzsägen in den Möbelwerkstätten und den Kirchenglocken zu den wichtigsten Geräuschen des Dorfes. Natürlich wird man durch solche Erfahrungen des Wirtschaftsbooms der 1950er Jahre und seiner Grenzen kein Sozialhistoriker, aber ohne diese Erfahrungen hätte ich wahrscheinlich weniger über die Epoche der Trente glorieuses geschrieben.

4 H. Kaelble, Fotos aus einer Weberei in Pfalzgrafenweiler und Empfingen: die Firma Hans Arnold in den 1950er Jahren, in: Jahrbuch des Kreisarchivs Freudenstadt 2018, S. 94–100.

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Schließlich waren für mich auch die Erfahrungen der regionalen Isolation und des damit verbundenen Fernwehs wichtig. Fast alle Mitglieder meiner Familie, mit der einzigen Ausnahme einer angeheirateten Hotelbesitzerin in Bad Nauheim, stammten aus dem nördlichen, protestantischen Teil Württembergs. Sie waren zwar innerhalb Württembergs recht mobil, aber entwickelten keinerlei familiäre Beziehungen zu anderen Regionen Deutschlands oder gar zu Frankreich, das in der Luftlinie nur circa 60 km entfernt lag. Der Ausbruch aus dieser regionalen Isolation war für mich und meine Klassenkameraden an dem Progymnasium und auch später am Gymnasium in Freudenstadt immer ein Thema. Der Ausbruch geschah vor allem mit Fahrrädern. Am radikalsten war ein Schulfreund, der in einem Tag mit dem Fahrrad die Alpen überquerte und bis nach Genua kam. Ich fuhr von meinem 15. Lebensjahr an regelmäßig im Sommer auf Fahrradtouren mit Schulfreunden zuerst an die bayerischen Alpen, später an die Nordsee, danach nach Schweden und schließlich im letzten Schuljahr in die Niederlande. Einer der Onkel, der mich mit erzog, holte mich heraus und fuhr mit mir in das benachbarte Frankreich. In guten elsässischen Restaurants pflegte er zu sagen: »Unser heutiges Brot gib uns täglich.« Die Erfahrung anderer Länder war daher schon in meiner Jugendzeit ein ganz zentrales Bedürfnis. Für einen Dorfjungen war dieser Ausbruch vermutlich wichtiger als für einen Stadtjungen, der im kleinen Universum seiner Stadt viel mehr zu erleben glaubt. Studium und Berufseinstieg Mit dem Abitur begann für mich die übliche Zeit der Unentschiedenheit. Rasch entschieden war der Studienort Tübingen, da die familiären Bindungen zu dieser Stadt sehr eng waren. In Tübingen war mein Großvater Gerichtsnotar gewesen und meine Mutter aufgewachsen. Verwandte wohnten dort. In meinem Studium dagegen war ich noch wenig entschieden. Von der Sozialgeschichte war ich noch weit entfernt. Ich studierte Geschichte und Germanistik, wollte insgeheim Literat werden, da ich als Schüler zweitausend Seiten mit Tagebüchern vollgeschrieben hatte. Meine damaligen Studienfreunde waren fast alle Germanisten. Ein erster, für den Außenstehenden wie für mich selbst überraschender Durchlauferhitzer war die idyllische Universitätsstadt Tübingen trotzdem. Historiker zu werden, entschied ich aus drei Gründen. Ich machte erstens in Tübingen die Erfahrung der Anziehungskraft der politischen Geschichte. Ein wichtiger Anstoß war der schon früh verstorbene Historiker Waldemar Besson, der mich im Proseminar mit seiner zupackenden, engagierten, rhetorisch mitreißenden, kritischen Analyse der Weimar Republik beeindruckte und mich auch herausforderte, weil er mich in seinem Proseminar zum Tutor machte. Eine zweite, genau umgekehrte Erfahrung war das Studium in Germanistik. Mit den oft schwärmerischen, weltabgewandten, weit von den Texten entfernten Vorlesungen, die ich in Tübingen hörte, konnte ich nicht viel anfangen. Die pragma13

tische, textorientierte, gleichzeitig politisch engagierte Geschichtswissenschaft erschien mir attraktiver. Ein dritter, wichtiger Anstoß wurde danach das Studium an der FU Berlin. Ich ging 1960 nach Berlin, da mich diese kosmopolitischen, politische, aber gleichzeitig pragmatische Stadt anzog. Zwei wichtige Ereignisse politisierten mich in Berlin weiter: einerseits der Bau der Mauer 1961, der Berlin zu einem Zentrum des weltpolitischen Interesses werden ließ, andererseits die Spiegel-Affäre 1962, die in mir zuerst starke Zweifel an der Stabilität der Bonner Demokratie entstehen ließ, mich aber danach, als die Affäre überstanden war und der Spiegel wieder normal publiziert werden konnte, dann doch von der Stabilität dieser Demokratie überzeugte. 1961/62 fiel meine Entscheidung. Ich wollte Historiker werden. Mein Geschichtsstudium drehte sich vor allem um politische Geschichte, um die Geschichte der Demokratie, um Verfassungsgeschichte und um die Geschichte von politischen Ideen. Ich besuchte Seminare bei Gerhard A. ­R itter und Gerhard Oestreich, auch bei dem Mediävisten Wilhelm Berges über die Geschichte der politischen Ideen, hörte beeindruckende Vorlesungen über Demokratie von Ernst Fraenkel, hatte im Doktorandenseminar von Ritter und Fraenkel viele wichtige Diskussion mit den anderen Doktoranden, vor allem mit Karin Hausen, Jürgen Kocka und Hans-Jürgen Puhle und wurde studentischer Tutor am Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin. Ich entschied mich für eine direkte Promotion ohne vorherige Prüfungen und wählte ein Thema, das mir für die Demokratie wichtig erschien, die Rolle der Verbände im autoritären System des Kaiserreichs, schloss sie 1966 ab. Daneben studierte ich Jura, besuchte auch das Seminar für vergleichende Verfassungsgeschichte des Verfassungsrichters Martin Draht, wurde im Rigorosum in Staatsrecht von Roman Herzog geprüft, sah Jura als eine Absicherung, falls ich nach der Promotion in Geschichte keinen Job finden würde. Mein Berufseinstieg 1965 mit 25 Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter hing mit dem Zufall zusammen, dass damals an der ambitionierten Berliner Historischen Kommission eine Forschungsgruppe zur Geschichte der Frühindustrialisierung in Berlin eingerichtet wurde und mein Doktorvater, Gerhard A. Ritter, mich vorschlug. Hätte ich diese damals ungewöhnliche Chance nicht gehabt, wäre ich vielleicht Rechtsanwalt oder Justitiar geworden. Diese Gruppe von zehn jungen Historikern, darunter vier Frauen, bedeutete für mich ein Umbruch in zweifacher Hinsicht. Erstens lernte ich in einer Gruppe zu arbeiten, nachdem ich bisher in meiner Promotion ganz auf mich allein gestellt geforscht hatte. Diese positive Erfahrung einer Forschungsgruppe hat mich mein ganzes Leben begleitet und mich motiviert, schon an der FU Forschungsnetzwerke zu organisieren und mich dann vor allem an der Humboldt-Universität am Aufbau einer ganzen Reihe von Forschungsnetzwerken zu beteiligen. Über eine Forschungsgruppe in den Beruf einzusteigen, war damals sicher eine ungewöhnliche Erfahrung für einen jungen Historiker. Wie mir damals gesagt wurde, war dies die erste Forschungsgruppe, die die DFG in der Geschichtswissenschaft finan14

zierte. Ungewöhnlich war sicher auch der hohe Anteil von Frauen und die Erfahrung der gleichrangigen Zusammenarbeit mit Historikerinnen, die in dieser Gruppe keine Seitenrolle wie sonst oft in der Wissenschaft spielten. Darüber hinaus war die Forschungsgruppe für mich die entscheidende Weichenstellung für den Eintritt in die Sozialgeschichte. Ich hatte die Wahl zwischen einem eher politisch-historischen Thema, der Stadtverwaltung Berlins zwischen 1830 und 1870, und einem eher sozial- und wirtschaftshistorischen Thema, den frühindustriellen Berliner Unternehmern. Ich entschied mich für das zweite Thema, weil es bedeutsamer für die Geschichte der Industrialisierung ist, auch weil mich Hans Rosenberg, der als Berater zu uns eingeladen wurde, zur Sozialgeschichte ermutigte und mich Rudolf Braun, der Schweizer Sozialhistoriker und wissenschaftlichen Leiter der Forschungsgruppe, bei dieser Entscheidung energisch unterstützte. Dieser Wechsel zur Sozialgeschichte war für mich kein Bruch mit dem mich umgebenden Historikermilieu, also keine einsame Pionierleistung, weil schon die für uns und über uns entscheidenden Wissenschaftler der Alterskohorte davor, Gerhard A. Ritter, Wolfram Fischer, Rudolf Braun und Otto Büsch, sozialgeschichtlich arbeiteten. Auch die vielen damaligen Gespräche mit Heiner Winkler, Assistent an der FU, und Fred Marquardt, damals Doktorand bei Hans Rosenberg in Berkeley, bestärkten mich darin. Ich brach auch nicht völlig mit der politischen Geschichte, sondern entschied mich für politische Sozialgeschichte. Allerdings meinte ich damit nicht, wie damals üblich, das politische Verhalten von sozialen Schichten und Gruppen, sondern primär die gesellschaftlichen Leistungen und die gesellschaftliche Legitimität von Demokratie. Sie bestand in meinen Augen vor allem in der Herausforderung, Chancenungleichheit und soziale Ungleichheit abzubauen. Soziale Mobilität und soziale Ungleichheit sah ich als zentrale Themen einer politischen Sozialgeschichte an. Ich untersuchte in meiner Habilitationsarbeit deshalb auch die soziale Herkunft der Unternehmer und ihre soziale Stellung in der damaligen Gesellschaft neben ihrer politischen Einflussnahme und schrieb nach meiner Habilitation in den 1970er Jahren Bücher vor allem zu diesen beiden Themen der sozialen Mobilität im 19. und 20. Jahrhundert und der sozialen Ungleichheit im 19. Jahrhundert. Diese Thematik beschäftigen mich auch noch heute noch, allerdings eher im 20. Jahrhundert. Mehrere Aufsätze dieses Bandes befassen sich damit. Freie Universität Berlin Die über zwanzig Jahre, in denen ich an der FU zuerst als Assistent und ab 1971 als Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lehrte, bedeuteten für mich drei ganz grundlegende Weichenstellungen, die kaum eine andere Universität so intensiv bieten konnte. Die Freie Universität war zwar durch die Folgen der Studentenbewegung von 1968 lange Zeit tief gespalten. Die politischen Grabenkämpfe, die ich in der universitären Selbstverwaltung eingehend kennenlernte, 15

zogen mich nicht an. Aber die Freie Universität besaß aufgrund der besonderen Situation Westberlins im Kalten Krieg außergewöhnlich viele Forschungsmittel, daher viele Wissenschaftler und interessante Gesprächspartner. An der FU wurden meine Forschungen internationaler, komparativ und interdisziplinär. Zur Internationalisierung meiner Forschung wurde ich stark angeregt durch das Programm des Instituts für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, an dem ich arbeitete und das von Wolfram Fischer geleitet wurde. Er entwickelte energisch und ideenreich ein internationales Programm der Einladung zu Vorträgen, Tagungen und Forschungsaufenthalten, das sich in diesem Umfang damals wohl nur an der FU finanzieren ließ. Auf diese Weise lernte ich beste Köpfe der westlichen und der ostmitteleuropäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte kennen, David Landes, Henry A.  Turner, Peter Gay, Gerald Feldman, Robert Fogel, Charles Tilly aus den USA, Sidney Pollard, Eric Hobsbawm und Peter Mathias aus Großbritannien, Francois Crouzet, Pierre Aycoberry, Victor Karady, Henri Brunschwig aus Frankreich, Herman van der Wee aus Belgien, György Ranki aus Ungarn, Marian Biskup und Waclaw Dlugoborski aus Polen, um nur einige illustre Namen zu nennen. Zudem hatte ich die außergewöhnliche Chance, häufig zu Forschungsaufenthalten in andere Länder gehen zu können, da man in der Lehre und in den Prüfungen an der FU leicht durch andere Kollegen ersetzt werden konnte und ich darin auch von dem Direktor des Instituts unterstützt wurde, dazwischen allerdings umso intensiver prüfen musste. Ich war 1972/73 ein Jahr mit meiner Frau als Forscher an der Harvard Universität, 1976 wieder mit meiner Frau ein halbes Jahr als Forscher am St. Antony’s College der Universität Oxford, 1978/79 mit Frau und erstem Sohn ein halbes Jahr zur Forschung und Lehre an der ­Maison des Sciences de l’Homme in Paris, 1981 mit meiner Frau und zwei Söhnen ein paar Monate zur Lehre an der Universität Rotterdam und dann 1985 wieder mit der Familie und auch 1987 wieder als Forscher an der Maison des Sciences de l’Homme in Paris. Diese Forschungsaufenthalte haben mich stark beeinflusst. Auf dem Aufenthalt in den USA 1972/73 brachten mir die amerikanischen Kollegen bei, Europa als Ganzes zu sehen und mich nicht immer nur mit einzelnen Ländern zu befassen. Ohne diesen Aufenthalt wäre ich vielleicht nie zur europäischen Geschichte gekommen. Die Krise der europäischen Integration, die mir nach der Rückkehr aus den USA erst wirklich deutlich wurde, bestärkte mich noch darin. Allerdings robbte ich mich nur langsam an dieses Thema heran und begann erst in den 1980er Jahren wirklich darüber zu schreiben. In den 1970er Jahren fehlten mir dafür die Gesprächspartner und die Forschungsliteratur. Über europäische Sozilageschichte arbeiteten Historiker kaum. Ich lehrte zwar europäische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aber meine europäischen Forschungsansätze war noch zu unausgegoren und offensichtlich zu wenig anregend. In meinem Doktorandenkolloquium, das für mich in meinem ganzen Forscherdasein immer eine zentrale Anregung war und ist, saßen zwar sehr kluge junge Historiker, von denen ich mit Einigen bis heute im Gespräch bin, wie Dolores Augustine, 16

Christoph Conrad, Ruth Federspiel, Rüdiger Hohls, Antonia Humm, Oliver Janz, Thomas Lindenberger und Ludovica Scarpa. Aber sie arbeiteten fast alle über deutsche Geschichte. An dem schönen St. Antonys College in Oxford 1976 erfuhr ich wie wichtig es ist, mit Experten anderer Regionen ins Gespräch zu kommen und gleichzeitig wie groß die Distanz Großbritanniens zum europäischen Kontinent war und ist. Auf dem Lehraufenthalt in Rotterdam lernte ich die völlig andere niederländische Universität mit ihren effizienten, sehr flachen Hierarchien, auch ihren ganz eigenen Konflikten in einer Gesellschaft kennen, die in der Bildungspolitik viel mehr in wirtschaftlichen Kategorien denkt als die deutsche Gesellschaft. Auf den Aufenthalten in Paris, zu denen ich anfangs vor allem von Clemens Heller, dem ingeniösen administrateur der Maison des Sciences de l’Homme in Paris, eingeladen wurde, entwickelte ich allmählich Kontakte mit den französischen Kollegen, die über das 19. und 20. Jahrhundert arbeiteten.5 Ich lernte den anderen, französischen Blick auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts kennen, der in der Geschichtswissenschaft in Deutschland nicht sehr präsent war, baute meine bis heute sehr engen Beziehungen zu Frankreich und zur französischen Forschung auf. Ein Bericht über die damalige französische und deutsche Sozialgeschichte ist im Folgenden abgedruckt (Kap. 1). Dadurch kam ich vor allem mit Etienne Francois in Kontakt, der mich mit seinem Engagement für Doktoranden und seiner brillanten Kunst der Rede in jahrzehntelanger Freundschaft sehr beeindruckte. Als in den 1980er Jahren mein Buch über gesellschaftliche Besonderheiten und Konvergenzen Westeuropas im 20. Jahrhundert herauskam, erschien für mich völlig unerwartet ein lange Rezension in Le Monde.6 Ich kam dadurch in Kontakt mit René Girault, der mich als Partner in seine Forschungsplattform zur europäischen Integration aufnahm und mir auch in Gesprächen mit Beamten im Brüssel die Forschungspolitik der Europäischen Kommission besser verständlich machte. Ich vertrat die europäische Sozialgeschichte in seinem 1989 eingerichteten Forschungsnetzwerk »Identités europénnes« an der Sorbonne (Paris I). 1986 gründeten zudem Patrick Fridenson, Yves Lequin, Heinz-Gerhard Haupt und ich an der Maison des Sciences de l’Homme die Gruppe, die über zwei Jahrzehnte die deutsch-französischen Sozialhistorikertreffen organisierte und vor allem jungen Wissenschaftlern aus den beiden Ländern eine Plattform bot.7 Auf beides komme ich zurück.

5 Mein Eindruck von Clemens Heller, dem außergewöhnlichen Wissenschaftsverwalter: H. ­Kaelble, Die Maison Suger, in: A. Heinen u. D. Hüser (Hg.), Tour de France. Eine historische Rundreise. Festschrift für Rainer Hudemann, Wiesbaden 2008, S. 516–518. 6 H. Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas, 1880–1980, München 1987. 7 P. Fridenson, Einsprachigkeit oder Mehrsprachigkeit in den Netzwerken der europäischen Forschung. Die Erfahrung der deutsch-französischen Sozialhistorikertreffen, in: A. Chatriot u. D. Gosewinkel (Hg.), Figurationen des Staates in Deutschland und Frankreich 1870–1945, München 2006, S. 295–298.

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Diesen Schwerpunkt der deutsch-französischen Geschichte, mit dem sich das erste Drittel der Aufsätze dieses Bandes befasst, wählte ich nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen. Ich war schon durch meine Herkunft aus dem Südwesten Deutschlands vorgeprägt, da die Notablen dieser Region, darunter auch die Onkel, die in meiner Jugend Einfluss auf mich besaßen, stark auf Frankreich orientiert waren und mir die französische Kultur nahebrachten. Entscheidend war für mich außerdem, dass meine Frau Brigitte, eine Rheinländerin, mit Frankreich verbunden war, da ihre beste Freundin eine Französin war, die sie bei einem Schüleraustausch in den 1950er Jahren kennengelernt hatte und mit der wir bis heute in einer engen Beziehung stehen. Sie erschloss uns die französische Gesellschaft jenseits der Wissenschaft. Auch wissenschaftlich befasste sich meine Frau, eine Expertin der romanischen Skulptur im Rheinland, viel mit den Einflüssen Frankreichs. Schließlich heiratete unser ältester Sohn eine Französin, die zu Recht ihren Kindern die französische und die deutsche Kultur gleichermaßen zugänglich halten möchte. Unsere Enkel sprechen daher Französisch genauso gut wie Deutsch. Unsere zahlreichen Frankreichaufenthalte seit den späten 1970er Jahren verfestigten unser Gefühl eines zweiten Heimatlandes. Diese Internationalisierung meines Forschungshorizonts an der FU brachte mich auch zum internationalen Vergleich. In meiner Habilitationsschrift, die ich an der FU zu Ende schrieb und mit der ich 1971 habilitierte, begann ich mit einem kleinen Vergleich der sozialen Herkunft der Berliner Unternehmer und der französischen, englischen und amerikanischen Unternehmer des 19. Jahrhunderts. Vor allem bei meinen Forschungen über soziale Mobilität, die für mich in den 1970er Jahren im Zentrum standen, verglich ich dann auch Bildungschancen (vgl. Kap. 14), Aufstiegschancen und die soziale Herkunft anderer Teile der Eliten. Der kurze Artikel über soziale Mobilität ist eine Zusammenfassung dieser Forschungen (Kap. 15). Auch als ich in den 1980er Jahren über europäische Sozialgeschichte zu publizieren begann, stand der Vergleich im Zentrum. Meine Forschungsaufenthalte in anderen Ländern und das internationale Einladungsprogramm meines damaligen Instituts halfen mir dabei sehr. Ich machte die Erfahrung, dass man einen Vergleich nur dann wirklich schreiben kann, wenn man das verglichene Land kennt oder zumindest mit den Fachkollegen des Landes diskutiert. Ohne die vielen Gespräche mit amerikanischen, englischen, französischen, niederländischen, schweizerischen, italienischen, schwedischen, polnischen, tschechischen und ungarischen Kollegen hätte ich viel mehr Hemmungen gegenüber dem internationalen Vergleich gehabt. Allerdings zogen in den 1970er und frühen 1980er Jahren nur wenige Sozialhistoriker Vergleiche. Nur eine Handvoll vergleichender sozialhistorischer Arbeiten aus sehr wenigen Universitäten wurden damals jedes Jahr veröffentlicht, da der Vergleich vor allem für jüngere Wissenschaftler als zu aufwendig und als zu schwer finanzierbar angesehen wurde und weil man auch glaubte, dass ein Historiker den Kontext jedes Landes im Vergleich nicht genügend ausleuchten könne. Um Erfahrungen mit anderen Komparatisten auszutauschen und uns wechselseitig zu ermutigen, wurde ich in der zweiten Hälfte der 1980er 18

Jahre Mitorganisator einer standing group for comparative history, einer kleinen Gruppe von europäischen Historikern, die sich seit 1986 gelegentlich traf, sofern Geld aufzutreiben war und deren Mitglieder aus Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden, der Schweiz, den Niederlanden und der Bundesrepublik kamen. Eine stimulierende Erfahrung des organisierten historischen Vergleichs war die Beteiligung an der Forschungsgruppe »Bürgertum im 19. Jahrhundert«, die von Jürgen Kocka 1986/87 am ZiF Bielefeld organisiert wurde, Historiker aus mehreren Länder zusammenbrachte und in der ich einen deutsch-französischen Vergleich des Bürgertums vor 1914 schrieb (vgl. Kap. 2). Freilich bewegte ich mich und dachte in den 1970er und 1980er Jahren immer im westeuropäischen und atlantischen Orbit. Ich schrieb damals zudem nicht über die vergleichende Methode. Deshalb sind im dritten Teil dieses Aufsatzbands über den historischen Vergleich keine Aufsätze aus meiner FU-Zeit enthalten. Meine Forschung wurde schließlich an der FU auch interdisziplinärer. Ich arbeitete an der FU nicht mehr nur mit Historikern wie in der Forschungsgruppe an der Historischen Kommission zu Berlin, sondern immer auch mit Angehörigen anderer Fächer zusammen. Schon an dem Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte waren Assistenten nicht nur in Geschichte, sondern auch in Ökonomie, in einem Fall sogar in Philosophie ausgebildet. Mit den als Ökonomen ausgebildeten Wirtschaftshistorikern wie Rainer Fremdling, Margrit Grabas, Gerd Hardach, Carl-Ludwig Holtfrerich und Reinhard Spree treffe ich mich noch regelmäßig, leider nicht mehr mit dem verstorbenen Heinrich Volkmann. Ich lehrte und prüfte nicht nur in der Geschichtswissenschaft, sondern auch in den Wirtschaftswissenschaften. Die Zusammenarbeit mit Wirtschaftswissenschaften half mir viel beim Einstieg in die Geschichte der Einkommen- und Vermögensverteilung.8 Darüber hinaus wurde das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit einem politologischen Institut zu einem gemeinsamen Forschungsinstitut, dem Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung, zusammengelegt. Ich arbeitete ab 1971 in der Leitung dieses Instituts mit Politikwissenschaftlern zusammen und publizierte in der Reihe des Instituts. Zum Einstieg in die besonders wichtige Zusammenarbeit mit Soziologen verhalf mir der Mannheimer Soziologe Peter Flora, damals einer der wenigen europäisch arbeitenden Soziologen. Er lud mich 1977 an den Luzerner See zu einer internationalen Tagung über den westeuropäischen Wohlfahrtsstaat ein, der damals in die Kritik zu geraten begann und mich als Historiker stark interessierte. In dem Band, der 1981 aus dieser Tagung entstand, war mein Spezialgebiet die Geschichte der Bildungschancen in Europa (vgl. Kap. 14), ohne Zweifel ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, in den ich 1985 aufgenommen wurde, kam ich nicht nur regelmäßig mit anderen Sozialhistoriker der Bundesrepublik, sondern auch mit dem Soziologen Rainer Lepsius ins Gespräch, der sich in diesem Arbeitskreis stark 8 Vgl. für diese Zusammenarbeit mit Ökonomen: Y. S. Brenner, H. ­Kaelble u. M. Thomas (Hg.), Income Distribution in Historical Perspective, Cambridge 1991.

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engagierte. Diese Zusammenarbeit mit Sozialwissenschaftlern behielt für mich seitdem eine besondere Bedeutung. Humboldt Universität Berlin Die Humboldt-Universität war für meine eigenen Forschungen kein völliger Neuanfang, veränderte sie aber stark. Sie stand ganz unter der Erfahrung des säkularen historischen Umbruchs des Falls der Mauer und des Zusammenbruchs des sowjetischen Imperiums. Die Öffnung der Mauer war ein tiefes emotionales Befreiungserlebnis. Dabei wurden auch für meine späteren Arbeiten als Historiker drei Erfahrungen wichtig. Wir erlebten den Fall der Mauer als eine gemeinsame internationale Erfahrung, die Berlin wieder wie 1961, wenn auch mit genau umgekehrten Vorzeichen, in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit und in Kontakt mit Freunden und Kollegen außerhalb Deutschlands brachte. Zudem hatten wir keinerlei Verwandte oder Freunde im östlichen Teil Berlins. Wir erlebten daher den Umbruch in der Gesellschaft der DDR nicht mit, sondern erfuhren davon erst einmal nur aus den Medien, erst später an der Humboldt Universität aus Gesprächen mit Kollegen und Studenten. Nur gelegentlich hatte ich vor 1989 Konferenzgespräche und wechselseitige Vortragseinladungen mit Historikern der DDR wie Lothar Baar, Helga Nussbaum und Thomas Kuczynski gehabt. Da mir die unmittelbare Erfahrung der Gesellschaft der DDR fehlte, habe ich deshalb später auch wenig substantiell über die Geschichte der DDR gearbeitet. Schließlich erlebten wir den Fall der Mauer nicht sofort als neue Chance der nationalen deutschen Einheit. Die entscheidenden Anstöße zur nationalen Einheit kamen von außen aus dem östlichen, uns wenig bekannten Teil Deutschlands. Wir waren eher Beobachter. Die deutsche Einheit war für uns nur akzeptabel, weil sie der Kontrastfall zur Bismarckschen Einheit war und nicht im Krieg mit Nachbarn, sondern im Einverständnis mit den Nachbarländern und dem Westen zustande kam. Die deutsche Einheit war für mich daher kein Anstoß dafür, mehr über die deutsche Geschichte, sondern eher mehr über die internationale Verflechtung Deutschlands mit Europa und über die europäische Integration zu arbeiten. Ich führte unter den Anforderungen des neuen historischen Kontexts seit den 1990er Jahren die zwei bereits gewählten Achsen meiner Forschung weiter, allerdings durch 1989 verändert: die deutsch-französische Geschichte, die durch die deutsche Einheit in meinen Augen eher noch wichtiger wurde, und die europäische Sozialgeschichte, die sich der neuen Herausforderung einer gesamteuropäischen Geschichte zu stellen hatte. Zwei neue Achsen nahm ich hinzu: die Globalgeschichte und die Reflektion der Methode des historischen Vergleichs. In den dreißig Jahren seit meinen Anfängen an der Humboldt Universität arbeitete ich über diese vier Achsen. Die meisten der folgenden Aufsätze stammen aus meiner Zeit an der Humboldt Universität und befassen sich mit diesen Themen. Deshalb gehe ich auf sie näher ein. 20

Ich kam in der ersten meiner vier Forschungsachsen, der deutsch-französischen Sozialgeschichte, nicht mit einem leeren Koffer an die Humboldt-Universität. Ich hatte noch an der Freien Universität Berlin ein Buch über die deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich vom späten 19. bis zum späten 20. Jahrhundert weit vorangetrieben, für das sich der Verleger Wolfgang Beck den ingeniösen Titel »Nachbarn am Rhein« ausdachte.9 Es kam im Anfang meiner neuen Tätigkeit an der Humboldt Universität 1992 heraus. Ich war seit den 1990er Jahren zudem viel in deutsch-französische Wissenschaftsbeziehungen involviert. Ich saß in dieser Zeit in einer der vorbereitenden Kommissionen für das spätere Centre Marc Bloch, reiste seit den 1990er Jahren zudem regelmäßig mehrmals im Jahr nach Paris. Ich war häufig in dem schon erwähnten, von René Girault und später von Robert Frank geleiteten Netzwerk »identités europénnes« tätig, ging zu Forschungsaufenthalten an die Maison des Sciences de l’Homme. Ich lehrte an der Sorbonne (Paris I) und erhielt 1996 den Ehrendoktor der Sorbonne (Paris I). Die von Patrick Fridenson, Yves Lequin und Heinz-Gerhard Haupt und mir gegründete, schon erwähnte, französisch-deutsche Sozialhistorikergruppe veranstaltete bis in die 2000er Jahre regelmäßige Tagungen an französischen oder deutschen Instituten. In der Organisation dieser Tagungen arbeiteten wir bald eng mit Sandrine Kott, Alain Chatriot, Christoph Conrad, Dieter Gosewinkel und Thomas Lindenberger zusammen. Im Unterschied zu dem deutsch-französischen Historikerkomitee war diese Sozialhistorikergruppe nicht auf Vorträge der Mitglieder angewiesen und bot vor allem Doktoranden und Habilitanden eine Plattform. In den 2000er Jahren nahm ich zudem auf Vorschlag von Alain Supiot dreimal an den Auswahlprozessen des Institut universitaire de France teil, zuerst für die Junior-Stipendien, später für die Senior-Stipendien und leitete dabei zweimal diese Sitzungen als Vorsitzender der Humanwissenschaften. 2003 hielt ich den Jahresvortrag des Deutschen Historischen Instituts in Paris (vgl. Kap. 7).10 Von 2002–2006 war ich im Vorstand, zeitweise auch Vorsitzender des deutsch-französischen Historikerkomitees, bei dessen Gründung im Kloster Banz ich schon dabei gewesen war und in dem ich intensiv mit französischen und deutschen Kollegen, besonders mit dem Germanisten Jean-Paul Cahn, mit der Historikerin Chantal Metzger und dem Historiker Dietmar Hüser zusammenarbeitete. Von 2006 bis 2012 leitete ich zusammen mit Iris Schröder, Christophe Duhamel und Falk Bretschneider das deutsch-französische Doktorandenkolleg »Paris-Berlin« der deutsch-französischen Hochschule. Von 2004 bis 2016 war ich zudem neben der Romanistin Helene Harth eines der beiden deutschen, wissenschaftlichen Mitglieder des Auswahlkomitees für den deutsch-französischen Parlamentspreis. Alle zwei Jahre wurden wir dadurch über die neuesten deutschen Arbeiten zu Frankreich und zu den deutsch-französischen Beziehungen informiert. Zudem saß ich in einer ganzen Reihe von französischen Doktorats9 H.  Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991. 10 H. Kaelble, Les relations franco-allemandes de 1945 à nos jours, Ostfildern 2004.

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und Habilitationskomitees, darunter die soutenances von Bénédicte Zimmermann, von Sandrine Kott, von Hervé Joly, von Marie-Benedicte ­Vincent und von Catherine Maurer. Frankreich und dort Paris wurde für mich der wichtigste intellektuelle Bezug. Die engsten Gesprächspartner in Frankreich waren Chris­ tophe Charle, Etienne Francois (sofern er in Paris war), Robert Frank, Patrick Fridenson, Roger Chartier, Michael Werner, Hélène Miard-Delacroix, Maurice Aymard, Mustapha Saphouen, Pierre Monnet. Es war für mich eine sehr dichte Erfahrung der französischen Forschungslandschaft mit ihren anderen Konflikten, ihren innovativen Zugängen und ihrer anderen Art, Themen zu lancieren. Mit meinem Interesse für Frankreich war ich unter den Historikern sicher kein Einzelgänger. Um das Deutsche Historische Institut in Paris, um das deutsch-französische Historikerkomitee und um die deutschen Frankreich-Zentren bestand ein eng verflochtenes Netzwerk von deutschen Frankreichexperten. Sie besaßen nie beherrschenden Einfluss in der eher auf die USA und auf Großbritannien orientierten deutschen Historikerzunft, aber sie waren gut organisiert. Es war kein Zufall, dass das erste Deutsche Historische Institut nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris gegründet wurde. Meine Spezialität bestand und besteht darin, dass ich nie ein Buch ausschließlich über französische Geschichte geschrieben habe, sondern Frankreich immer nur im Vergleich untersuchte. Davon lebten auch meine Aufsätze zur deutsch-französischen Geschichte. Der erste Teil dieses Bandes enthält die in meinen Augen immer noch aktuellen Aufsätze zur deutsch-französischen Sozialgeschichte aus meiner Zeit an der Humboldt Universität: einen Aufsatz über die Annäherung der Wohlfahrtsstaaten beiderseits des Rheins (Kap. 3), einen kurzen Artikel über die weiterhin recht markanten Unterschiede zwischen französischer und deutscher Familie (Kap. 4), einen neueren Aufsatz über die sich wandelnden deutsch-französischen Unterschiede der sozialen Ungleichheit bis hin zur größeren Schärfe der Ungleichheit in Deutschland in der jüngsten Zeit (Kap. 5), einen Aufsatz über die gar nicht außergewöhnlich engen gesellschaftlichen Verflechtungen zwischen beiden Ländern (Kap. 6) und schließlich meinen Vortrag 2003 am DHI Paris über die deutsch-französischen Beziehungen von 1945 bis 2003, den ich für diesen Band in das Deutsche übertragen habe (Kap. 7). Sie lassen erkennen, dass die »Nachbarn am Rhein« für mich kein abgeschlossenes Thema sind. Die zweite Achse, die europäische Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, brachte ich ebenfalls an die Humboldt-Universität mit. Schon ein paar Jahre vor meinem Start an der Humboldt Universität hatte ich das schon erwähnte Buch über die Besonderheiten und Konvergenzen der westeuropäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert veröffentlicht, das anschließend in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Zu meinen weiteren Forschungen in dieser Achse inspirierten mich vor allem zwei Netzwerke. In der schon erwähnten Forschungsplattform von René Girault, die er Ende der 1980er Jahre eingerichtet hatte, kam ich in Kontakt mit wichtigen Experten der europäischen Geschichte, vor allem der Geschichte der europäischen Integration. René Girault war ein Diplomatiehistoriker, wollte aber die Geschichte der europäischen Integration stärker 22

gegenüber der Sozialgeschichte öffnen und dafür die finanzielle Unterstützung der Europäischen Kommission nutzen. Er wurde darin auch vom Präsidenten der Europäischen Kommission, Jacques Delors, unterstützt, der in einer Rede an der Sorbonne 1988 sich von Historikern die Behandlung der Diversitäten in Europa und der europäischen sozialen Besonderheiten erhoffte und dabei auch auf meinen Kollegen an der Humboldt-Universität, Heinz Schilling, und mich verwies.11 Die Plattform von Girault war kein Forschungsverbund, sondern vor allem ein Netzwerk zur Veranstaltung von Tagungen zur Geschichte der europäischen Integration. Ich lernte zum Thema der Geschichte der Institutionen, der Öffentlichkeit, der internationalen Beziehungen, der Wirtschaftsgeschichte und der Religionsgeschichte Europas viel von den Historikern aus anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union. Nach der Jahrhundertwende gab allerdings die Europäische Union diese Subvention von Historikernetzwerken auf.12 Historiker konnten stattdessen weit umfangreichere Mittel beim Europäischen Forschungsrat beantragen. Daneben regte mich das Berliner Kolleg zur vergleichenden Geschichte Euro­pas (1998–2008) sehr stark an, das Jürgen Kocka zusammen mit dem Russlandhistoriker Manfred Hildermeier, dem Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen, mit mir, am Ende auch mit Etienne Francois leitete und das vor allem von Arndt Bauerkämper, Christoph Conrad, Hannes Siegrist, und ­Philipp Ther gemanagt wurde. Das Ziel dieses Kollegs war, die osteuropäische und westeuropäische Expertise von Historikern zusammenzubringen und nach dem Fall der Mauer Begegnungen zwischen Historikern aus dem westlichen und dem östlichen Europa zu arrangieren. Das Kolleg wurde zuerst von der Stiftung Volkswagen, später von der Henkel Stiftung und der Hertie Stiftung finanziert. Wir organisierten eine Doktorandenschule, Vorträge von Experten in unserem Kolloquium, Gastaufenthalte in Berlin und initiierten eine Reihe von europäischen Synthesen. Dieses Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas hat mir die Augen für die Geschichte des östlichen Europas geöffnet, die ich zuvor als Westeuropahistoriker zu wenig kannte. Ich lernte, mich aus der Enge der westeuropäischen Perspektive zu lösen und Europa als Ganzes zu behandeln. Ich freue mich immer, nicht nur die genannten, einstigen wissenschaftlichen »Manager« des Kollegs, sondern auch ehemalige Doktoranden, Habilitanden 11 Discours de M. Jacques Delors, président de la Commission des Communautés Européennes, au colloque « identités nationales et conscience européenne », auditorium de la bibliothèque nationale, Paris 21 octobre 1988, S. 8 f., 12 f. 12 Vgl. M. Le Boulay, Au croisement des mondes scientifique et politique. L’écriture et l’enseignement de l’histoire de l’Europe en France et en Allemagne (1976–2007), unveröffentlichte Phil. Diss. Université Strasbourg / Humboldt Universität Berlin 2014 ; dies., Investir l’arène européenne de la recherche. Le »Groupe de Liaison« des historiens auprès de la Commission européenne, in: Politix 2010/1, n°89, p. 103–124; dies., »L’unité dans la diversité«. L’Europe comme nouvelle figure des tensions de la profession historienne autour de sa fonction politique, in: M. Affinito u. a. (Hg.), Les deux Europes / T he Two Europes, Bruxelles 2009, p. 181–194.

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und Gäste, jetzt fast alle in Professuren, wie Gunilla Budde, Markus Keller, Pavel Kolář, Michal Pullmann, Christiane Reinecke, Bernhard Struck und Jakob Vogel wieder zu sprechen. Diese beiden ganz verschiedenen Netzwerke waren das Reizklima, in dem ich versuchen konnte, eine bisher fehlende Sozialgeschichte des gesamten Europas und darüber hinaus auch eine allgemeine Geschichte Europas zu schreiben. Die Sozialgeschichte Europas seit 1945, die 2007 erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, verfasste ich nicht ohne Konkurrenz. Ein kluger schwedischer Soziologe, Göran Therborn, saß an dem gleichen Thema. Aber unsere beiden Bücher unterscheiden sich so grundsätzlich, dass man diese Konkurrenz nur als produktiv bezeichnen kann. Einige Jahre später kam die schöne, thematisch und zeitlich anders aufgebaute Sozialgeschichte Europas des ungarischen Sozialhistorikers Bela Tomka heraus, mit dem ich in längerem Austausch stehe.13 Ich wollte allerdings nicht bei der Sozialgeschichte stehen bleiben. Deshalb habe ich 2011 eine allgemeine Geschichte Europas zwischen 1945 und 1989 in einer Europareihe des Beck-Verlags veröffentlicht.14 Dieses Thema treibt mich weiter um. An der Humboldt Universität lehrte ich Sozialgeschichte Europas nicht nur in der Vorlesung und im Seminar. In den 1990er Jahren entstand auch ein Kreis von klugen, anregenden Doktoranden, die über europäische, deutsch-französische oder andere internationale Themen arbeiteten. Das Doktoranden­ kolloquium mit Habilitanden, Doktoranden und Examenskandidaten war eine Inspiration für meiner Forschungen. Bis heute treffe ich mich in einem Gesprächskreis mit ehemaligen Doktoranden und Examenskandidaten, trage ihnen auch meine eigenen Forschungsprojekte vor oder bin mit ihnen in Briefkontakt – wie mit Alexandre Bibert, Morgane Le Boulay, Thomas Fetzer, Katrin Jordan, Ivo Komljen, Anja Laukötter, Maja Loth, Jan Logemann, Gabriel Montua, Christian ­Methfessel, Jan-Henrik Meyer, Manuel Müller, Katrin Orth, Martin Rempe, Matthias Schmelzer, Richard Steinberg, Thomas Werneke, Johan Wagner und Andreas Weiß. Sie sind teils an der Universität geblieben, teils an ein Museum, zu einer Kirche, an ein Beratungsinstitut oder in die Forschungsverwaltung gegangen. Mit der Sozialgeschichte Europas befasst sich der zweite Teil des Bandes. Dieser Teil beginnt mit einem langen Überblick über die Sozialgeschichte Europas seit dem späten 18. Jahrhundert, der bisher nur in Englisch in der EOLSS, einer Internet-Enzyklopädie der UNESCO, veröffentlicht ist. Im Folgenden wird die deutsche Originalversion abgedruckt (Kap. 8). Danach folgt ein Überblick über die Krise der 1970er Jahre in Englisch, den ich als Jahresvortrag am DHI in London 2009 hielt (Kap. 9). Einen Überblick über die Entwicklung der Gesellschaften der Europäischen Union 1957–2007 aus Anlass des sechzigsten Jahrestags 13 G. Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945–2000, Frankfurt 2000; B. Tomka, A Social History of Twentieth-Century Europe, London and New York 2013; H. ­Kaelble, Sozial­ geschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007. 14 H. Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, München 2011.

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der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, schrieb ich, um die Finanzkrise 2009–2012 historisch einzuordnen und auch um die gesellschaftliche Überwindung solcher Krise zu verfolgen (Kap. 10). Daran anschließend folgen Aufsätze zu fünf zentralen Themen der europäischen Sozialgeschichte: Ein kurzer Essay zur Geschichte der Klassengesellschaft als Erinnerungsort (Kap. 11); ein für ein allgemeines Publikum geschriebener Artikel zur Geschichte des Wohlfahrtsstaats in Europa seit 1945 (Kap. 12), dazu auch ein noch nicht veröffentlichter Beitrag zur Geschichte des sozialen Europa (Kap. 13), über die ich weiter arbeiten möchte;15 ein Aufsatz zum erstaunlichen Abbau der sozialen Ungleichheit während der Phase des höchsten Wirtschaftswachstums in Europa, den 1950er und 1960er Jahren (Kap. 14), aus dem später ein Buch entstand;16 ein Ausschnitt aus einem Artikel über Chancenungleichheit in der Bildung im 19. Jahrhundert (Kap. 15) und ein kurzer Handbuchartikel zu meinem ersten Spezialgebiet in der europäischen Sozialgeschichte, zur Geschichte der sozialen Mobilität (Kap. 16). Im Rahmen der Sozialgeschichte Europas interessierte mich mehr und mehr auch die Sozialgeschichte der europäischen Integration, angeregt durch das erwähnte Netzwerk von René Girault, der leider schon 1999 verstarb. Ich arbeitete über die Themen der Geschichte der Identifizierung mit Europa, die Geschichte der europäischen Öffentlichkeit, die Geschichte der Debatten über Europa, über das soziale Europa, über die Krisen der Europäischen Union und die Überwindung solcher Krisen angesichts des französischen und niederländischen Nein von 2005 und der Finanzkrise von 2009–2012 und schließlich über die Beziehungen der europäischen Bürger zur europäischen Integration.17 Meine Aufsätze zur Geschichte der europäischen Integration sind allerdings nicht in diesem Band aufgenommen. Ich habe vor, sie in einem eigenen Band oder auf einer eigenen Webseite zugänglich zu machen. In diesem Feld begegnete ich auch stärker der Politik und der Wissenschaftspolitik als in meinen anderen Forschungsfeldern. Ich wurde nach dem Erscheinen meines ersten Buches über die Konvergenzen und Besonderheiten der europäischen Gesellschaft, das in Frankreich am meisten Aufmerksamkeit erhielt, von Jérôme Vignon, dem Leiter des Büros des Präsidenten Jacques Delors, nach Brüssel eingeladen und diskutierte einen ganzen Tag mit verschiedenen Beamten der Brüsseler Behörde. 1995 und 1996 war ich Mitglied eines Komitees der Europäischen Kommission, das einen Vorschlag für soziale Grundrechte in der Europäischen Union machen sollte. Unser Komitee ging darüber hinaus. 15 Ein erster Schritt ist ein Skript für die Fernuniversität Hagen: H. ­Kaelble, Geschichte des Wohlfahrtsstaats in Europa von den 1880er Jahren bis 2010, Kurseinheit 1–3, Fernuniversität Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften 2015. 16 H.  Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2017. 17 H. Kaelble, Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt 2019.

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Wir machten einen Vorschlag für einen europäischen Grundrechtskatalog einschließlich der sozialen Grundrechte.18 Wie auch immer unser Vorschlag aufgenommen wurde, jedenfalls wurde im Jahr 2000 von dem europäischen Gipfel in Nizza ein europäischer Grundrechtskatalog unter Einschluss von sozialen Grundrechten verabschiedet. Ich wurde darüber hinaus vom Präsidenten der Europäischen Union gebeten, eine Tagung zum europäisch-arabischen Dialog in Brüssel vorzubereiten. Zusammen mit dem Historiker Bo Stråth habe ich diese Tagung 2002 organisiert.19 Außerdem wurde ich zu den Gesprächen von Jacques Delors mit europäischen Intellektuellen eingeladen, eine beeindruckende Erfahrung, da Delors nicht wie andere Politiker selbst reden zu müssen glaubte, sondern sich Zeit nahm, um nur zuzuhören. 2004–2010 lehrte ich am Europakolleg in Brügge. Darüber hinaus war ich auf Vorschlag eines französischen Kollegen, Jacques Revel, acht Jahre lang bis 2016 Mitglied des Auswahlkomitees des Europäischen Forschungsrat für Geschichte und Archäologie (SH6). Da man in diesem Auswahlkomitee immer nur alle zwei Jahre eingesetzt wird, nahm ich an mehreren Auswahlkampagnen teil, eine intensive Arbeit von jeweils mehreren Wochen mit zahlreichen Gutachten. Auch in diesem Komitee habe ich viel darüber gelernt, wie eine europäische Geschichte aussehen könnte. Allerdings gehörte dazu auch die Erfahrung, dass ich nicht ein einziges Projekt zur Geschichte der europäischen Integration gesehen habe. Mir wurde klar, dass sich die Historiker im Unterschied zu Politikwissenschaftlern, Juristen und neuerdings auch zu Soziologen weiterhin meist auf Distanz zu dem Thema der europäischen Integration befinden und sich nur wenige Historiker mit diesem Thema befassen. Über die dritte Achse, die Globalgeschichte, habe ich erst in meiner Zeit an der Humboldt-Universität gearbeitet. Dieses Thema erlebte auch erst seit den 1990er Jahren einen Aufschwung unter Historikern. Herausgefordert wurden die Historiker zur Globalgeschichte durch die massive Globalisierung der 1980er und 1990er Jahre, die damals überall heftig diskutiert wurde. Die Global­ geschichte von Jürgen Osterhammel war eine enorme Ermutigung, weil er zeigte, wie Globalgeschichte geschrieben werden kann. In diesem Themenfeld organisierte ich allerdings vor allem Forschung, kam kaum dazu, darüber auch zu schreiben. Das bedaure ich bis heute. Die Globalgeschichte war die logische Folge meiner Beschäftigung mit der Geschichte Europas, weil mich von vornherein auch der Außenblick auf Europa und die Außenbeziehungen Europas, anfangs vor allem zu den USA, später eher zu anderen Teilen der Welt, interessierten. Bestärkt wurde ich darin durch die Einladung zu einer Reihe von Vortragsreisen nach Japan und nach China in den 2000er Jahren, auf denen ich über die immer 18 Für ein Europa der politischen und sozialen Grundrechte. Bericht des Komitees der Weisen, Europäische Kommission. Generaldirektion Beschäftigung, Arbeitsbeziehungen und soziale Angelegenheiten, Brüssel 1996. 19 Intercultural dialogue, Brussels, 20 and 21 March 2002, European Commission, directorate-general for Education and Culture, Luxemburg 2003.

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stärker nachgefragte europäische Geschichte sprach. Schließlich regte auch die Berliner Forschungslandschaft zur Globalgeschichte an, weil Experten zu fast allen Regionen der Welt zu finden waren, die allerdings, verstreut über die beiden Universitäten und diverse Fakultäten, selten miteinander kommunizierten. Aus diesem Grunde habe ich zusammen mit meinen Kollegen den schon erwähnten Sonderforschungsbereich »Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel« beantragt und 2004 bewilligt bekommen, in dem eine möglichst große Zahl von Regionen der Welt in Forschungsprojekten behandelt wurde. Mit diesem SFB, der eine Forschergruppe »Historisch-sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsvergleich« (1995–2001) fortführte und den ich zusammen mit dem Erziehungswissenschaftler Jürgen Schriewer vorbereitete, kehrte ich in den gewohnten interdisziplinären Kontext zurück, lernte auch zudem mehr als zuvor von Historikern anderer Epochen, und erfuhr außerdem, wie Globalgeschichte in der Praxis aussehen könnte. Zu der Forschergruppe bzw. zu dem SFB gehörten der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, die Ethnologen Wolfgang Kaschuba und Stefan Beck, der Russlandhistoriker Jörg Baberowski, der Afrikahistoriker Andreas Eckert, die Nahostspezialistin Ulrike Freitag, der Südostasienexperte Vincent Houben, die Zentralasienexpertin Ingeborg Baldauf, der Indologe Jürgen Lütt, der Frühneuzeithistoriker Heinz Schilling, der Mediävist Johannes Helmrath, der Althistoriker Wilfried Nippel. Die Kolloquien des Sonderforschungsbereichs waren für mich ein außerordentlicher intellektueller Stimulus, weil wir während eines Semesters oft viele Regionen der Welt durchgingen und Vorträge aus verschiedenen Fächern über Marokko, Indonesien, Afghanistan, Südchina, Argentinien, Russland und das mittelalterliche und frühneuzeitliche Europa diskutierten und auch weil rund ein Drittel der Mitarbeiter aus diesen Regionen kam. In dem SFB habe ich allmählich verstanden, was ein globalhistorischer Blick ist und wie sehr dafür Belesenheit und Gespräche mit Experten unterschiedlicher Weltregionen nötig ist. Leider habe ich es nicht geschafft, nach dieser anregenden Erfahrung ein Buch über die globale Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts zu schreiben. Der einzige Niederschlag dieser prägenden Erfahrung in meinen Veröffentlichungen: Ich habe versucht, in meinem Buch über die Geschichte Europas von 1945 bis 1989 Vergleiche mit anderen Weltregionen gezielter zu ziehen als es in Synthesen der europäischen Geschichte üblich ist. Anders war es mit der vierten Achse, dem historische Vergleich. Praktiziert habe ich den historischen Vergleich, wie gesagt, schon seit meiner Habilitationsschrift. Aber über die Methode des Vergleichs zu schreiben begann ich erst dreißig Jahre später an der Humboldt-Universität. Ich veröffentlichte zuerst 1999 eine Einführung in den historischen Vergleich für Studenten und Forscher. Das hatte zwei Gründe: Erstens war ich seit meinem Start an der Humboldt-Universität an der Leitung mehrerer, meist schon erwähnter Forschungsvorhaben beteiligt, die alle den Vergleich als zentrale Säule besaßen: das Graduiertenkolleg »Gesellschaftsvergleich in historischer, soziologischer und ethnologischer Perspektive« zusammen mit dem leider verstorbenen Ethnologen Georg Elwert, dem Sozio27

logen Martin Kohli und dem Historiker Jürgen Kocka, dem Soziologen Wolfgang Zapf und dem Historiker Etienne François, die schon genannte DFG-Forschergruppe »Historisch-sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsvergleich«, der schon behandelte SFB »Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Interkulturelle und intertemporäre Vergleiche«, das ebenfalls schon erwähnte »Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas«, und die ebenfalls schon genannte deutsch-französischen Doktorandenschule »Berlin-Paris«. Da ich in diesen Forschungsvorhaben sehr viele historische Vergleiche kennenlernte, war es nur logisch, darüber nicht nur Anträge zu schreiben, die wieder in Schubladen verschwinden, sondern auch zu publizieren. Eine zweite Herausforderung: In den 1990er Jahren begann eine immer heftiger werdende Auseinandersetzung um den historischen Vergleich, in der einige Historiker zu Recht argumentierten, dass zum Vergleich auch die Beschäftigung mit den historischen Transfers gehört und später einige Historiker der transnationalen Geschichte den Vergleich völlig ablehnten oder nur als Teil der nationalen Geschichte sahen. Ich fühlte mich herausgefordert, über berechtigte Kritik und über die starken Veränderungen des historischen Vergleichs zu schreiben, ihn aber auch gleichzeitig zu verteidigen. In einem Artikel für die Dokupedia des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung habe ich das getan (Kap. 18), danach in einem englischen Beitrag für die italienische Zeitschrift »Ricerche di storia politica« die transnationale Geschichte und den historischen Vergleich einander gegenübergestellt (Kap. 19) und in einem kurzen Beitrag für die Festschrift Armin Heinen das oft übersehene Verstehen durch den historischen Vergleich behandelt (Kap. 20). Auch an diesem Thema arbeite ich weiter.20 Welche Bedeutung der historische Vergleich für mich als Historiker besaß und besitzt, habe ich schließlich in einem Interview mit dem ungarischen Sozialhistoriker Bela Tomka behandelt (Kap. 21). Dieses Interview behandelt allerdings auch andere Themen der Sozialgeschichte. Ich habe es deshalb als Abschlusstext dieses Bandes ausgewählt. Der Vorschlag, diesen Aufsatzband zusammenzustellen, kam von den Herausgebern der Kritischen Studien, besonders von Dieter Gosewinkel. Ich bin ihnen für diese Chance zur Publikation sehr dankbar, und auch für die stimulierende Herausforderung, mich an dieses Vorwort zu setzen. Daniel Sander vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht habe ich zu danken für die Unterstützung bei der Gestaltung des Manuskripts. Ich danke den Kollegen des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität, darunter besonders auch dem Nachfolger auf meinem Lehrstuhl, Alexander Nützenadel, für Rahmen und Raum zu vielen guten Gesprächen über meine und ihre Forschungen von den 1990er Jahren bis heute.

20 Vgl. demnächst die neue Auflage von: H. ­Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung, 2. Aufl., Frankfurt vorauss. 2020.

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Französische und deutsche Gesellschaft

1. Sozialgeschichte in Frankreich und der Bundesrepublik: Annales gegen historische Sozialwissenschaften?

In den letzten zwei Jahrzehnten der Blütezeit der europäischen Sozialgeschichte war der Rhein eine schärfere Grenze als der Ärmelkanal oder gar der Atlantik. Deutsche Sozialhistoriker entwickelten sehr viel engere Beziehungen zu amerikanischen und englischen Sozialhistorikern. Die Anregungen, die aus den USA, aber auch aus England kamen, haben weit mehr zum Anstoß der deutschen sozialhistorischen Forschung beigetragen als die Ideen, die über den Rhein herüberdrangen. Umgekehrt bedeutete auch für die französische Sozialgeschichte amerikanische und englische Forschung mehr als die Forschung von bundesrepublikanischen Autoren. Der Siegeszug der Annales-Schule in den Vereinigten Staaten ließ in den letzten Jahren die Beziehungen der französischen Sozialgeschichte mit den Vereinigten Staaten sogar noch enger werden als je zuvor. Man weiß zwar in Frankreich vom Aufschwung der deutschen Sozialgeschichte, aber man kennt sie nicht. Dieses unzertrennliche Desinteresse zweier bedeutender Schulen der europäischen Sozialgeschichte aneinander ist erstaunlich. Vor allem in der Bundesrepublik hat es manche zum Nachdenken veranlasst, die sich über den eklatanten Widerspruch zwischen der Berühmtheit und unbestrittenen Anerkennung der Annales-Schule einerseits und ihrer fast gänzlichen Wirkungslosigkeit in der Bundesrepublik andererseits wunderten. Sechs Gründe sind dafür aus der Sicht der Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, auf die ich mich beschränke, immer wieder angeführt worden: 1. Als den wohl wichtigsten oder grundlegendsten Unterschied zwischen der Sozialgeschichte der Annales-Schule und der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte hat man die Beschäftigung mit unterschiedlichen Epochen ange­ sehen. Die Annales-Schule hat sich ohne Zweifel in der Masse ihrer Arbeiten und in den Schwerpunkten ihrer grundsätzlichen Diskussionen sehr stark auf die Frühe Neuzeit und das Spätmittelalter konzentriert. Schon die Gründerväter der Annales-Schule, Marc Bloch und Lucien Febvre, waren Mediävisten und Frühneuzeitler. Die heute international bekanntesten französischen Historiker wie Fernand Braudel oder Emmanuel Le Roy Ladurie befassen sich ebenfalls mit diesen Epochen und zeigten am 19. und 20. Jahrhundert nur wenig Interesse. Umgekehrt konzentrieren sich die deutschen Sozialhistoriker stark auf das 19. und 20. Jahrhundert. Die Frühe Neuzeit ist für die deutsche Sozialgeschichte bis heute eher ein Nebenschauplatz, in dem es zwar im Einzelnen hervorragende, aber doch viel weniger Historiker und Stellen gibt. Die Themen 31

der Sozialgeschichte und – wie wir gleich noch sehen werden – auch sehr viel grundsätzlichere geschichtsphilosophische Probleme stellten sich damit für französische und deutsche Sozialhistoriker jeweils anders. Sie hatten nur wenig gemeinsam. Unterhaltungen zwischen französischen und deutschen Historikern waren gleichsam Gespräche zwischen verschiedenen Stockwerken durch den Fahrstuhlschacht.1 Diese fundamentalste Erklärung für das Desinteresse von französischen und deutschen Sozialhistorikern aneinander erschien umso einleuchtender, als sie mit Besonderheiten der Geschichte der beiden Länder zu tun haben schien: Das Interesse der französischen Sozialhistoriker für die Frühe Neuzeit hatte vor allem mit dem wichtigsten Ereignis der modernen französischen Geschichte zu tun: der Französischen Revolution, mit deren sozialhistorischen Vorbedingungen und Ursachen sich die französische Sozialgeschichte häufig befasste. Umgekehrt ging die deutsche Sozialgeschichte vor allem von dem einschneidendsten Umbruch der modernen deutschen Geschichte aus: der nationalsozialistischen Herrschaft, über deren lange Vorgeschichte und Ursachen die Sozialgeschichte in Deutschland sehr stark nachdachte. Aber auch Historiker, die sich mit anderen großen Themen der letzten zweihundert Jahre befassten, wie der industriellen Revolution, der demographischen Transition, dem Bürgertum, der Arbeiterbewegung, dem Interventionsstaat, sahen sich in Frankreich und Deutschland ganz unterschiedlichen Entwicklungen gegenüber. Das Aneinandervorbeireden und Aneinandervorbeiforschen der französischen und deutschen Sozialhistoriker war also kein Zufallsprodukt, sondern eine logische und durchaus sinnvolle Konsequenz der Unterschiede der französischen und deutschen Geschichte. 2. Es hatte viel mit diesen unterschiedlichen Epochenschwerpunkten der französischen und deutschen Sozialgeschichte zu tun, wenn das Politische in diesen beiden europäischen sozialhistorischen Schulen verschieden gesehen wurde. Zumindest für viele bundesrepublikanische Sozialhistoriker sah es so aus, als ob die Bedeutung von politischen Ereignissen, Strukturen und Entscheidungen in der Sozialgeschichte des eigenen Landes viel wichtiger genommen wurde und in stärkerem Ausmaß als Ausgangspunkt für sozialhistorische Forschung diente. Stärker als in Frankreich erschien daher die sozialhistorische Forschung in der Bundesrepublik als ein neu erschlossener, moderner Weg, Politik zu erklären und besser verständlich zu machen. »Politische Sozialgeschichte«, wie man diesen Ansatz seit den 1960er Jahren nannte, erschien als eine Errungenschaft nicht nur gegenüber der älteren deutschen Geschichtsschreibung, sondern

1 Vgl. für dieses Argument etwa: D.  Groh, Strukturgeschichte als »totale« Geschichte, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 58. 1971, S. 317 ff.; M.  Erbe, Zur neueren französischen Sozialgeschichtsforschung, Darmstadt 1979, S. 21.  – Für wichtige Änderungsvorschläge habe ich mich bei Patrick Fridenson, Jürgen Kocka und Wolfgang Mager zu bedanken.

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auch gegenüber der Annales-Schule. Dagegen erschien die französische Sozial­ geschichte politikfern; sie arbeitete über Themenbereiche wie historische Demographie, später auch historische Familienforschung, Mentalität, Privatsphäre, die von politischen Entscheidungen nur wenig beeinflussbar waren und sind. Die starke regionalhistorische Orientierung der französischen Sozialhistoriker schien in einem so hoch zentralisierten Land wie Frankreich die Politikferne noch zu unterstreichen. Politik erschien selten direkt als Ausgangspunkt von Forschungen der französischen Sozialgeschichte. Ihre Ansätze und Methoden waren daher nur selten oder nur in sehr gebrochener Form für die politische Sozialgeschichte in der Bundesrepublik nutzbar. In der Kernmotivation der historischen Forschung erschien die Annales-Schule den bundesrepublikanischen Sozialhistorikern letztlich fremd  – viel fremder jedenfalls als das, was amerikanische oder englische Sozialhistoriker schrieben.2 3. Weiter hing es mit den unterschiedlichen Epochenschwerpunkten zusammen, wenn französische und deutsche Sozialhistoriker zum grundsätzlichen Problem der longue durée bzw. des sozialen Wandels völlig verschiedene Einstellungen besaßen. Der programmatische Aufsatz von Fernand Braudel über die longue durée, in dem die Erforschung der stabilen Langzeitstrukturen von Gesellschaften und Denkformen als zentrale Aufgabe des Historikers angesehen wurden, blieb nicht nur Programm. Die Annales-Schule interessierte sich auch in ihrer praktischen Forschung vielfach für solche über viele Jahrzehnte hinweg bestehenden Langzeitstrukturen und Denkformen. Kern ihres Interesses an der Sozialgeschichte war zudem oft das Fremdartige, andere Welten der Vergangenheit, die in heutigen Gesellschaften höchstens noch als Reste aufspürbar sind. Diese Ansätze hatten sicher etwas mit der Beschäftigung mit der mittelalter­lichen und frühneuzeitlichen Epoche zu tun, an der uns heute vor allem die langfristig stabilen Strukturen auffallen und die uns heute fremdartiger erscheint als spätere Epochen. Umgekehrt waren die deutschen Sozialhistoriker in stärkerem Maße an sozialem Wandel, an sozialen Veränderungen und Prozessen interessiert, die der uns näheren zeitgeschichtlichen Vergangenheit angehören, vor allem an der Entstehung der modernen Demokratie, an der Industrialisierung und ihren vielfältigen Folgen. Sie beschäftigten sich damit mit Phänomenen, die der gegen-

2 Vgl. K. E. Born, Neue Wege der Wirtschafts- u. Sozialgeschichte in Frankreich: Die Historikergruppe der »Annales«, in: Saeculum 15 (1964), S. 301 f., 307; Erbe, Sozialgeschichtsforschung, S. 136 f.; anders gewendet: ders., Historisch-anthropologische Fragestellungen der Annales-Schule, in: H. Süssmuth (Hg.), Historische Anthropologie, Göttingen 1984, S. 26; H. Lutz, Braudel, »La Méditerranée«. Zur Problematik eines Modellanspruchs, in: R. Koselleck u. a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S. 248 f. (Lutz spricht nicht von »politikfern«, sondern von »Vorstaatlichem«); C.  Honegger, Notizen zum Werdegang der »Annales«, in: dies. (Hg.), Schrift u. Materie der Geschichte, Frankfurt 1977, S. 35; solche Einschätzungen klingen auch an bei: T. Schieder, Strukturen u. Persönlichkeiten in der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 195 (1962), S. 266, 273 ff., 293.

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wärtigen Situation weit näherstanden und weit weniger fremdartig erschienen als die Themen der französischen Sozialgeschichte. Die Ansätze der französischen Sozialgeschichte erschienen den Sozialhistorikern der Bundesrepublik zu wenig am Wandel während der letzten rund zweihundert Jahre ausgerichtet und auch aus diesem Grund nur wenig nutzbar, obwohl sie für sich genommen als brillant und außerordentlich beeindruckend angesehen wurden.3 4. Als Folge davon war die Einstellung der französischen und deutschen Sozialhistoriker zu Theorien grundsätzlich verschieden. Die Annales-Schule sah es nicht als vordringlichstes Ziel einer modernen Sozialgeschichte an, Theorien anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen gründlicher kennenzulernen und sie in der historischen Forschung anzuwenden. Sicher gehörte es auch für die Annales-Schule zu den Errungenschaften moderner historischer Forschung, interdisziplinär zu arbeiten und Fragestellungen anderer Disziplinen intensiv zu diskutieren und zu übernehmen. Theorieorientierung taucht jedoch im Programm der Annales-Schule, die in der positivistischen französischen Tradition steht, selten explizit auf. Hinter der »histoire totale« theoretische Ansätze zu vermuten, stellte sich als deutsches Missverständnis heraus. Theorieorientierung war umgekehrt für die neuere deutsche Sozialgeschichte eine der wichtigsten Forderungen, mit denen sie sich gegenüber der traditionellen deutschen Geschichtswissenschaft absetzte und die sie in der modernen historischen Forschung für unabdingbar hielt. Sicher wurde hier oft mehr gefordert als wirklich eingelöst. Trotzdem haben deutsche Sozialhistoriker seit den 1960er Jahren mehr Theorien gelesen und zu verwerten versucht als Historiker jemals zuvor in Deutschland. Auch in dieser Forderung fanden sie keine Bündnispartner oder Zitiervorbilder in der französischen Annales-Schule. Auch hier erschien ein schwer überbrückbarer Unterschied zwischen französischer und deutscher Sozialgeschichte zu bestehen.4 5. Man hat weiterhin die Unterschiede zwischen der Annales-Schule in Frankreich und der modernen Sozialgeschichte in Deutschland aus den sehr unterschiedlichen politischen Bedingungen für die Geschichtswissenschaft in beiden Ländern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären versucht. Man hat darauf hingewiesen, dass die französische Geschichtswissenschaft in einer Periode demokratischer Stabilität der 1920er und 1930er Jahre in der Lage war, neue sozialhistorische Methoden zu entwickeln. Diese neuen Ansätze wurden sicher auch im damaligen Frankreich von nur wenigen Historikern getragen, waren aber nie radikal bedroht. Nicht einmal die NS-Besatzer konnten sie zerstören. Ein makabrer Beleg dafür ist das erfolgreichste Buch der Annales-Schule, das »Mittelmeer« von Fernand Braudel, das in deutscher Gefangenschaft in Lübeck

3 Schieder, Strukturen S. 266, 273 ff.; J. Kocka, Sozialgeschichte, Göttingen 1986², S. 90; Groh, Strukturgeschichte, S. 317 ff.; Born, Neue Wege, S. 302 f. 4 Born, Neue Wege, S. 307; Kocka, Sozialgeschichte, S. 91 f., 108; Honegger, »Annales«, S. 37.

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geschrieben wurde.5 Die Zwischenkriegszeit bot der neuen französischen Sozialgeschichte günstige Entwicklungschancen. Sie hat sie selbst unter widrigsten Umständen auch im Krieg gut genutzt und entwickelte ein Forschungskonzept, das dann in der Boomphase der Wirtschaft und Bildung nach dem Zweiten Weltkrieg zur Grundlage der Sixième Section der École Pratique des Hautes Études, der späteren École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) diente. Die für das westliche Europa ungewöhnliche Größenordnung dieser Institution hat viel zur internationalen Durchschlagskraft der Annales-Schule beigetragen, auch wenn innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft die ­Annales-​ Schule nie beherrschend wurde. Völlig im Gegensatz dazu die deutsche Entwicklung: Die Befangenheit der deutschen Geschichtswissenschaft in der Kriegsschuldfrage ließ schon vor 1933 für wirksame sozialhistorische Forschung nur wenig intellektuellen Platz und war eine wichtige Ursache nicht nur für den allgemeinen Niedergang der deutschen Geschichtswissenschaft, sondern auch für den schlechten Start der Sozialgeschichte. Nach 1933 tat sich in der sozialhistorischen Forschung in Deutschland vor allem durch die Zerstörung der öffentlichen intellektuellen Freiräume, aber auch durch die intellektuelle Isolation vieler Historiker in der inneren Emigration und durch die Nazifizierung sozialhistorischer Ansätze nichts mehr. Eine ganze Generation von deutschen Historikern war daher an der Sozialgeschichte vorbei ausgebildet worden und war für sie so gut wie ganz verloren. Als die deutsche Sozialgeschichte in den 1960er Jahren neu entstand, war sie von völlig anderen Bedingungen geprägt als die französische Sozialgeschichte. Sie hatte auch deshalb nur wenig mit dieser gemein. 6. Schließlich schienen tiefe Unterschiede zwischen der sozialhistorischen Forschung beider Länder in den letzten Jahren sogar neu zu entstehen. Zumindest an der Oberfläche schien in der deutschen Sozialgeschichte ein neuer Konflikt prägend geworden zu sein: der Konflikt zwischen der älteren, theorieorientierten, primär über Strukturen arbeitenden, oft quantifizierenden, generalisierenden, interventionsstaatsnahen Historischen Sozialwissenschaft und der jüngeren, vor allem am Erleben und Mitfühlen interessierten, theorieabgeneigten, am kleinen Fall arbeitenden, eher staatsfernen Alltagsgeschichte. Für diesen manchmal heftig ausgetragenen Konflikt unter Sozialhistorikern gab es in Frankreich kein Pendant. Sicher konnte man, wenn man wollte, das Aufkommen der Alltagsgeschichte in Deutschland auch als eine Wirkung der Annales-Schule ansehen. Wenn sie sich explizit methodisch begründete, nahm die Alltagsgeschichte nicht selten Bezug auf neuere sozialhistorische oder ethnologische französische Arbeiten. Man konnte sogar, wenn man wirklich wollte, den Konflikt in Deutschland als einen Konflikt zwischen ausschließ-

5 Vgl. das für sein Verhältnis zu Deutschland aufschlussreiche Interview Fernand Braudels in: Der Freibeuter Nr. 24 (1985), S. 45–50; vgl. Une leçon d’histoire de Fernand Braudel, Paris 1986, S. 166 f., 221 f.

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lich bundesrepublikanischen historischen Sozialwissenschaften und Anhängern der französischen Annales-Schule sehen. Gleichgültig, ob man einer solchen extremen Interpretation zuneigt: Auf jeden Fall war der Konflikt unter den bundesrepublikanischen Sozialhistorikern etwas, für das es jenseits des Rheins weder Analogien noch Verständnis gab.6 Es schien sich weiter zu bestätigen, dass die sozialhistorische Forschung in Frankreich und in der Bundesrepublik verschiedene Wege gingen und sich letztlich nicht viel zu sagen hatten. Diese Erklärungen haben viel für sich und sind sicher nicht wirklichkeitsfremd. Sie sind von Historikern entwickelt worden, die sich teilweise viel in Frankreich aufgehalten haben und die französische Forschung gut kennen. Es sind sicher gut begründete Urteile und keine Vorurteile. Trotzdem bleibt die Frage, ob wir tatsächlich auf dem europäischen Kontinent zwei verschiedene intellektuelle Gravitationszentren in der Sozialgeschichte haben müssen – zwei Zentren, die in einer respektvollen, oft sogar liebenswürdigen Beziehungslosigkeit nebeneinander existieren, vielleicht sogar in anderen westeuropäischen Ländern und in Amerika miteinander konkurrieren. Hat sich, so wird man fragen, nach einer ganzen Reihe von französisch-deutschen Historikertreffen, nach der Gründung einer Mission Historique Française in Göttingen und eines Deutschen Historischen Instituts in Paris, nach Austauschvereinbarungen zwischen einzelnen französischen und deutschen Hochschulinstitutionen, vor allem auch zwischen »Kaderschmieden« der Annales-Schule und der Historischen Sozialwissenschaft, der EHESS und der Bielefelder Fakultät für Geschichtswissenschaft, nach der Einrichtung einer deutschen Professur an der EHESS, nach der Entstehung von allgemeineren, auch von Sozialhistorikern genutzten Einladungs­und Austauschprogrammen der Maison des Sciences de l’Homme, des DAAD, der DFG und des CNRS, vor allem aber nach zahllosen Konferenzgesprächen, Kontakten, auch Freundschaften zwischen französischen und deutschen Sozialhistorikern an der säuberlichen Trennung der Sozialhistorikerschulen diesseits und jenseits des Rheins weiterhin nichts geändert? Ist aus der alten erbfeindschaftlichen Konfrontation und gnadenlosen Wettbewerbssituation nur diplomatische Entspannung und Respektbezeugung entstanden, die die weiterhin bestehende, tiefe Kluft zwischen zwei Kulturkreisen nur notdürftig überbrückt? Wird es auch in Zukunft keine ernstzunehmende Beteiligung der Franzosen an den zentralen Debatten der deutschen Sozialgeschichte und der Deutschen an den zentralen Debatten der französischen oder der gemeinsamen europäischen Sozialgeschichte geben, so wie wir das von amerikanischen und englischen Historikern über die französische und deutsche Geschichte inzwischen gewohnt sind und schätzen gelernt haben? Derzeit ist die Antwort ganz ohne Zweifel negativ. Es gibt kaum ein französisches sozialhistorisches

6 Vgl. den über den bundesrepublikanischen Konflikt etwas verwunderten Bericht von E. François, L’ Allemagne fédérale se penche sur son passé, in: Vingtième Siècle 2 (1985), S. 151 ff.; vgl. auch: M. Pollack, La fête d’une autre histoire à Berlin, in: Vingtième siècle 4 (1986), S. 146–148.

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Buch über Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, das in seiner Wirkung vergleichbar wäre mit den Arbeiten von David Blackbourn, Richard Evans, Gerald Feldman, Peter Gay, Vernon Lidtke, Charles Maier, Tim Mason, Arno Mayer, Barrington Moore, Fritz Ringer, Jim Sheehan, Henry A.  Turner. Diese Liste amerikanischer und englischer Autoren ließe sich fortsetzen. Nur die Arbeiten Pierre Ayçoberrys lassen sich dagegenstellen.7 Es gibt auch umgekehrt für diesen Zeitraum kaum eine deutsche sozialhistorische Arbeit über Frankreich, die sich in ihrem Einfluss vergleichen ließe mit den Arbeiten von Richard Cobb, Robert Foster, Steve Kaplan, Joan Scott, William Sewell, Antony Suthcliffe, John Merriman, Fritz Ringer, Charles Tilly, Eugene Weber, Theodore Zeldin. Auch diese Liste von amerikanischen und englischen Spezialisten der französischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ließe sich fortsetzen. Es gibt sogar nicht einmal regelmäßige Arbeitskreise von Historikern über die Geschichte des jeweiligen anderen Landes, wie sie etwa in der Bundesrepublik über nordamerikanische, englische, italienische Geschichte existieren. Obwohl deshalb der Rhein auch weiterhin als eine schwer übersteigbare kulturelle Barriere erscheint, sollte man nicht vorschnell und fatalistisch auf eine Erbgleichgültigkeit zwischen französischen und deutschen Sozialhistorikern schließen. Seit dem Aufkommen einer breiten sozialhistorischen Forschung in der Bundesrepublik vor rund zwei Jahrzehnten hat sich in beiden Ländern viel verändert. Es ist bisher noch nicht so recht in das Bewusstsein getreten, dass die

7 Vgl. für Arbeiten französischer Historiker über die deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte: G. Krumeich, Französische Arbeiten seit 1945 zur deutschen Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte im 19. u. 20. Jh., in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S. 106–133. Krumeich nennt außer Pierre Ayçoberry (Cologne entre Napoléon et Bismarck. La croissance d’une ville rhénane, Paris 1981; auch: La question nazie, Paris 1979) und Henri Burgelin, dessen Wirkung auf Frankreich beschränkt blieb (La société allemande, 1871–1968, Paris 1969), nur Arbeiten in Wirtschafts- und politischer Geschichte, jedenfalls nichts, was man der Annales­Schule zurechnen könnte. Damit hat er ohne Zweifel Recht. Ergänzend würde ich aber doch auf die Arbeiten von Joël Michel (Politique syndicale et conjoncture économique: la limitation de la production de charbon chez les mineurs européens au XIX siècle, in: Le mouvement social No. 119, avril-juin 1982; ders., L’échec de la grève générale des mineurs européens avant 1914, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 1982; seine thèse d’état zum gleichen Thema wird 1986 abgeschlossen), der in seinem nordeuropäischen Vergleich der Bergarbeiter auch die Ruhrbergarbeiter einschließt, und auf die sozialgeschichtlichen Partien der Wirtschaftsgeschichte Deutschlands von Nicole Pietri (Evolution économique de l’Allemagne du milieu du XIXe siècle á 1914, Paris 1982) verweisen. Keine dieser Arbeiten ist in der Bundesrepublik so bekannt wie die erwähnten englischen und amerikanischen Bücher. Nachdenklich macht mich allerdings eine Statistik der Themen der französischen thèses d’état und thèses du troisième cycle in Neuerer und Neuester Geschichte im Jahr 1976. Danach wurde kein anderes Land (außer Frankreich natürlich) so oft bearbeitet wie Deutschland (12 % aller Arbeiten über das Ausland). Selbst für die USA (5 %), die UdSSR (5 %), Italien (5 %), Großbritannien (8 %) gab es weit weniger Interesse. Man müsste diesen unveröffentlichten Arbeiten einmal nachgehen (vgl. lettre d’information No. 7. 1983 des institut d’histoire moderne et contemporaine).

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Sozialhistoriker Frankreichs und Deutschlands heute viel weniger trennt als noch vor zwanzig Jahren. Was vor zwanzig Jahren bei einer Reise über den Rhein überraschend war, waren die anderen, anfangs befremdenden, später vielleicht anregenden Methoden und Fragestellungen. Was heute bei einer Reise über den Rhein überrascht, ist die beträchtliche Zahl von Gesprächspartnern, die über ähnliche Themen mit ähnlichen Methoden wie in der Bundesrepublik arbeiten. Wir müssen deshalb wohl die gewohnte, eingefahrene Vorstellung von der Beziehungslosigkeit zwischen der Annales-Schule und der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte allmählich aufgeben. Die Annäherung zwischen französischer und deutscher Sozialgeschichte ist aus einer ganzen Reihe von Gründen so weit gediehen, dass sich die Chancen zu engerer Zusammenarbeit erheblich verbessert haben. Diese Annäherung hat wenig mit dem Einfluss der Annales-Schule in der Bundesrepublik oder mit dem Einfluss der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte in Frankreich zu tun. Sie ist fundamentaler und daher auch wirksamer. 1. Es ist bisher den bundesrepublikanischen Sozialhistorikern noch nicht recht klargeworden, dass die alten Unterschiede in der Epochenpriorität nicht mehr vorhanden sind. Die Zeiten, in denen bundesrepublikanische Sozialhisto­ riker des 19. und 20. Jahrhunderts jenseits des Rheins nur wenige Gesprächspartner fanden und die interessantesten Kollegen sich mit der frühen Neuzeit befassten, sind endgültig vorbei. Es gibt inzwischen in Frankreich mindestens ebenso viele, mindestens ebenso gute Sozialhistoriker vor allem des 19., aber auch des 20. Jahrhunderts wie in der Bundesrepublik. Vier neue Institute in Frankreich markieren diesen Tendenzumschwung: das Institut d’Histoire du Temps P ­ résent in Paris, das von François Bédarida geleitet wird; das Centre de Recherches d’Histoire des Mouvements Sociaux et du Syndicalisme in Paris, dessen Direktor Antoine Prost ist; das Institut d’Histoire Moderne et Contemporaine in Paris, an dessen Spitze Denis Woronoff steht, und das Centre d’Histoire Économique et Sociale de la Règion Lyonnaise in Lyon, dessen Direk­ toren Maurice Garden und Yves Lequin sind. Alle vier Institute werden von bekannten Sozialhistorikern des 19. und 20. Jahrhunderts geleitet und befassen sich in starkem Maße, wenn auch nicht ausschließlich mit der Sozialgeschichte dieser Zeit. Das einflußreiche Centre des Recherches Historiques an der École des Hautes Études en Sciences Sociales betreibt unter der Leitung von Roger Chartier eine Politik der klaren Öffnung gegenüber dem 19. und 20. Jahrhundert. Zum ersten Mal wurde ein Sozialhistoriker des 19. Jahrhunderts, Patrice Bourdelais, zum stellvertretenden Direktor ernannt. Auch in den historischen Zeitschriften ist eine klare Tendenz zur Veränderung erkennbar: Neben den alten, prestigereichen Annales sind zwei Zeitschriften des 19. und 20. Jahrhunderts für den Sozialhistoriker von großem Interesse geworden: das »Mouvement Social«, das sich seit der Mitte der 1970er Jahre der Sozialgeschichte weit geöffnet hat und in Frankreich das eigentliche Pendant zu Geschichte und Gesellschaft ist; das »Vingtième Siècle« (gegründet 1984), das ähnlich wie die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte auch sozialhistorische Beiträge zum 20. Jahrhundert 38

bringt.8 Dieser Tendenz sind die Annales selbst ebenfalls gefolgt. Man hat den Eindruck, dass die Artikel über die europäische Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in den letzten zehn Jahren spürbar zunehmen. All das ist keine blutleere Wende von oben, keine bloße Planung der Spitzen der Forschungs­ organisationen und -institute. Dahinter steht vielmehr eine breite Zahl von französischen Sozialhistorikern des 19. und 20. Jahrhunderts. Dazu gehören Namen wie Maurice Agulhon, Pierre Ayçoberry, François Bédarida, Louis Bergeron, Jean-Noel Biraben, André Burguiére, Serge Chassagne, Alain Corbin, Adeline Daumard, Jacques Dupâquier, Patrick Fridenson, Jean­Pierre Goubert, Ronald Hubscher, Yves Lequin, Michelle Perrot, Marcel Roncayolo, Antoine Prost, Denis Woronoff – um nur die »patrons« und »patronnes« der Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Frankreich zu nennen. Hinter ihnen stehen zahlreiche jüngere, kluge und anregende Sozialhistoriker. Neben ihnen gibt es eine ganze Reihe historisch stark interessierter Soziologen. Die alte und eingefahrene Vorstellung, dass die sozialhistorische Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert in der Bundesrepublik erheblich aktiver und produktiver ist als in Frankreich, ist deshalb inzwischen zu einer Täuschung geworden. Nicht nur in der Bundesrepublik gab es ein »Sozialgeschichtswunder«, einen spektakulären Aufschwung der sozialgeschichtlichen Forschung zu den letzten zwei Jahrhunderten. Nicht nur in der Bundesrepublik sitzen heute rund 30–40 Sozialhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts in festen Stellen. Auch in Frankreich hat sich – fast unbemerkt im Schatten der älteren Annales – ein ähnliches »Wunder« ereignet. Die sozialhistorische Forschung über die Zeit nach der französischen Revolution hat es nur sehr viel schwerer, aus dem Schatten der älteren, frühneuzeitlichen Annales-Schule hervorzutreten und international bekannt zu werden. 2. Es gehört zur inneren Logik der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, dass die sozialhistorische Forschung zu dieser Epoche in Frankreich Politik oft anders sieht als frühneuzeitliche Arbeiten. Die Ähnlichkeiten mit der sozialhistorischen Forschung in der Bundesrepublik sind auch hier größer geworden. Die alten Vorstellungen von einer entpolitisierten französischen Sozialgeschichte und einer politiknahen deutschen Sozialgeschichte stimmen nicht mehr. Auch die französischen Sozialhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts betreiben Sozialgeschichte zum guten Teil deshalb, weil sie dadurch politische Geschichte besser und gründlicher erklären möchten. Yves Lequins Arbeit über

8 Vgl. für die genannten Institute das »bulletin de l’institut d’histoire du temps présent« (Ende 1985 schon bei der No. 21); das »bulletin du centre de recherches d’histoire des mouvements sociaux et au syndicalisme«; den »lettre d’information« des »institut d’histoire moderne et contemporaine«; das »bulletin du centre d’histoire économique et sociale de la région Iyonnaise«, das viermal jährlich erscheint; vgl. zudem das Zeitschriftenportrait von: H.-G. Haupt, »Le mouvement social«: Eine französische Version der Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 6. 1980, S. 150–156; während des Drucks sind Roger Chartier und Denis ­Woronoff aus ihren Leitungsämtern ausgeschieden, ohne dass allerdings dadurch die genannten Tendenzen abgebrochen zu werden scheinen.

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die Arbeiter in Lyon im 19. Jahrhundert, Michel Perrots Arbeit über die Streiks in Frankreich vor 1914, Antoine Prosts Arbeit über die Anciens Combattants des Ersten Weltkriegs, Maurice Agulhons Arbeiten über das Vereinswesen und die Öffentlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts, Alain Corbins Buch über die Rückständigkeit des Limousin im 19. Jahrhundert sind sehr unterschiedliche Beispiele für diesen Ansatz. Im Kern unterscheiden sich deshalb alle diese Arbeiten nur wenig von dem, was sich in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren »Politische Sozialgeschichte« nannte oder was heute an Politikgeschichte interessierte Sozialhistoriker tun. Sicher haben die Ähnlichkeiten diesseits und jenseits des Rheins Grenzen, da die politische Geschichte wesentlich anders verlief. In Frankreich gab es vor 1914 keinen so dramatischen Aufstieg der Arbeiter­ bewegung; es gab keine Revolution von 1918/19, keine Inflation, keine so scharfe Weltwirtschaftskrise mit so schwerwiegenden Folgen wie in Deutschland, vor allem aber keinen Nationalsozialismus und keinen so tiefen Bruch von 1945. In Frankreich haben deshalb in der politisch interessierten Sozialgeschichte andere Themen Priorität. Neben der Arbeiterbewegung – ähnlich wie in Deutschland – haben Brüche und Kontinuitäten in der französischen Revolution, die Geschichte des ländlichen Frankreich, die Geschichte der bürgerlichen Honoratioren und Eliten, die Geschichte der Religion und Kirche, auch die Geschichte der Privatsphäre einen Vorrang, der für bundesrepublikanische Sozialhistoriker nicht immer leicht nachvollziehbar ist. Über den grundsätzlichen Ansatz, politische Geschichte aus der Sozialgeschichte zu erklären, kann man sich jedoch über den Rhein hinweg sehr leicht verständigen. Das umso mehr, als die Regionalisierung und »Departementalisierung« der Französischen Sozialgeschichte zurückgeht. Ganz entscheidend für diese Annäherungen der französischen und deutschen Sozialgeschichte ist freilich, dass sich auch die bundesrepublikanische Sozialgeschichte seit ihrem Aufschwung in den 1960er Jahren erheblich gewandelt hat. Sie ist heute ohne Zweifel nicht mehr nur ein Appendix der politischen Geschichte. Sie betreibt nicht mehr nur politische Analyse mit anderen Mitteln. Sie umschließt heute eine Vielfalt von Ansätzen. Das scharfe, eigenständige Profil der Geburtsjahre der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte verschwimmt damit mehr und mehr gegenüber den anderen europäischen Ländern, ohne dass deshalb Anlass zu großer Trauer bestünde. Ohne große öffentliche Debatten hat sich die bundesrepublikanische Sozialgeschichte aus mehreren Gründen von der besondersartigen »politischen Sozialgeschichte« der 1960er Jahre abgewandt, die sich für Sozialgeschichte oft nur als »Substrat« oder »Bedingung« der politischen Geschichte interessierte und daher  – das müssen wir aus der Rückschau eingestehen – manchmal eine Sozialgeschichte mit der linken Hand und aus zweiter Hand gewesen ist. Drei Reaktionen auf diese politische Sozialgeschichte der 1960er Jahre haben die Sozialgeschichte in der Bundesrepublik vor allem verändert. Erstens und vor allem anderen haben sich die Methoden der sozialhistorischen Forschung sehr rasch verfeinert. In einem Sog der sozialhistorischen 40

Qualitätsanforderungen sind die methodischen Ansprüche dramatisch gestiegen. Arbeiten, die ursprünglich als sozio-politische Analysen angetreten waren, wurden nicht selten am Ende reine, allerdings manchmal auch exzellente sozialhistorische Analysen. Besonders in der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Angestelltenbewegung gibt es eine ganze Reihe herausragender Beispiele dafür. Gerade das aber ist keine bundesrepublikanische Besonderheit. Ganz ähnliche Entwicklungen gibt es genauso auch in Frankreich oder auch in England. In Yves Lequins Arbeit über die Arbeiter in Lyon im 19. Jahrhundert oder – um ein englisches Beispiel zu nennen – in Geoff Crossicks Arbeit über die Londoner Arbeiteraristokratie wirkt die gleiche Eigendynamik der Sozialgeschichte weg vom bloßen Wurmfortsatz der politischen Geschichte. Zweitens und gar nicht so selten haben Historiker, die Sozialgeschichte betrieben, ihre Prioritäten langsam verändert. Ohne die Verbindung mit der politischen Geschichte aufgeben zu wollen, haben für sie gesellschaftliche Lebenslagen und Mentalitäten neben der Politik größeres Gewicht bekommen. Sie betreiben politische Analyse an einem sehr viel längeren sozialhistorischen Seil. Man kann nicht selten beobachten, dass solche Historiker ihr Urteil mehr an den Lebensumständen und nicht nur am Politisierungsgrad von sozialen Schichten und Klassen, mehr am Alltagsdenken und nicht nur an politischen Ideologien, mehr am Familienleben und nicht nur an der Familienpolitik, mehr an der tatsächlichen Lage von Kranken und Alten und nicht nur an der Sozialpolitik, mehr an den wirklichen Bildungschancen und nicht nur an der Bildungspolitik, mehr an der alltäglichen Lebenssituation während der NS-Periode und nicht nur an den politischen Entscheidungen der NS-Spitze messen. Auch dieser Einschluss der Lebensqualität und des Erlebens in das historische Urteil hat die deutsche Sozialgeschichte der französischen Sozialgeschichte nähergebracht. Drittens schließlich haben sich die deutschen Sozialhistoriker ganz ähnlich wie ihre französischen Kollegen schon länger auch mit Themen befasst, in denen von Politik nur wenig direkt zu spüren ist. Genauso wie jenseits des Rheins sind interessante Arbeiten zu politikfernen Themen wie der Geschichte des Städtewachstums, der Geschichte der räumlichen Wanderungen, der Massenmobilität, der Geschichte der Dienstmägde, der Seeleute, der Heimarbeiter, die in der politischen Arbeiterbewegung nie eine wichtige Rolle gespielt haben, der Geschichte der Familie und der politikfernsten Lebenszyklen wie der Kindheit oder des hohen Alters entstanden. Es wäre sehr oft ein grobes Missverständnis, diese Themenwahl als einen Abschied von der Politik anzusehen. Nicht selten geht es vielmehr darum, die Grenzen von politischen Entscheidungen und Prozessen zu testen und herauszufinden, welche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens politischen Zugriffen hartnäckig zu widerstehen vermochten und sich nach anderen Regeln wandelten. Die Politik hat daher in der Sozialgeschichte auf beiden Seiten des Rheins einen neuen Platz bekommen. Für die jüngere französische Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist sie wichtiger geworden als für die klassische französische Sozialgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Umge41

kehrt wird die Verbindung von Gesellschaft und Politik in der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte mit einem sehr viel breiteren Spektrum von Ansätzen angegangen. 3. Auch die Rolle der Theorie ist in der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte von heute nicht mehr die gleiche wie in den 1960er Jahren. In der Forderung nach mehr Theorie in der Geschichtswissenschaft drückte sich vor rund zwanzig Jahren eine Vielfalt von Veränderungswünschen in den Aufgaben historischer Forschung aus: Es ging nicht nur darum, dass sich Historiker in stärkerem Maße von soziologischen, ökonomischen und politologischen Theorien leiten ließen und damit vielseitigere, exaktere und genauer durchdachte Fragen stellten. Hinter der Forderung nach mehr Theorie steckte auch der Versuch, die bundesrepublikanische Sozialgeschichte aus ihrer jahrzehntelangen Provinzialität zu lösen und sie auf den europäischen und amerikanischen Leistungsstandard anzuheben. Die Forderung nach mehr Theorie führte weiterhin zu neuen Funktionen der Geschichtswissenschaft. Sie sollte die Geschichtswissenschaft aus dem nationalstaatlichen Rechtfertigungszwang, in den sie sich im Anschluss an den Versailler Vertrag von 1919 in Deutschland hineindrängen ließ und hineindrängte, herausführen und zu einer Sozialwissenschaft werden lassen, die langfristige gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Wandlungen kritisch erforschte. Manche dieser Überlegungen bewegen und mobilisieren heute, zwanzig Jahre danach, kaum mehr. Zum guten Teil sind die Ziele, die hinter der Forderung nach Theorie standen, inzwischen erreicht. Das gilt vor allem für die Leistungsfähigkeit der bundesrepublikanischen Sozialgeschichte, die heute nicht mehr weit hinter der amerikanischen, der englischen, französischen und schwedischen sozialhistorischen Forschung hinterherhinkt. Das gilt sicher auch – nach der Abschreibung einstiger Illusionen – für die Verbindung von Sozialgeschichte und Soziologie, die enger geworden ist. Schließlich kann man von vollzogenen Entscheidungen auch in dem Selbstverständnis der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft sprechen, in der nationalstaatlicher Rechtfertigungszwang nicht mehr vorherrscht. Zum Teil ist allerdings auch das, was hinter der Forderung nach mehr Theorie in der Geschichtswissenschaft stand, weniger zugkräftig geworden. Eine neue bundesrepublikanische oder regionale Identitätssuche hat der Geschichtswissenschaft neue Funktionen erschlossen, bei denen allgemeine Theorien nicht immer sehr hilfreich erscheinen mögen. Auch hat sich in der Forschungspraxis die Arbeitsteilung zwischen sozialwissenschaftlichen Theoriespendern und historischen Theorieverwendern als wenig sinnvoll erwiesen. Theorien ließen sich oft schwerer anwenden und erforderten von den Anwendern oft mehr Theoriefähigkeiten, als ursprünglich angenommen worden war. Was von der alten Forderung nach mehr Theorie in der Geschichte bleibt, ist immer noch sehr wichtig: die Bereicherung, Disziplinierung und genaue Reflektion der historischen Fragestellung. Trotzdem wiegt die besondere deutsche Theorieorientierung der Sozialgeschichte im Vergleich zur anderen Seite des Rheins nicht mehr so schwer. In Frankreich wird nicht selten mit der Forderung und Praxis der Interdisziplinarität der Geschichte Ähnliches erreicht. Sicher 42

sind die Darstellungsformen der bundesrepublikanischen Sozialhistoriker auch heute noch oft-wie sich Franzosen ausdrücken – »philosophischer« und weniger »analytisch« als in Frankreich. Aber die Unterschiede sind heute eher eine Frage des wissenschaftlichen Stils und nicht mehr des fundamentalen Selbstverständnisses des Historikers. 4. Zu all diesen Annäherungen der französischen und deutschen Sozialgeschichte kommen wichtige rund zwei Jahrzehnte gemeinsamer europäischer Debatten und Wandlungen der Sozialgeschichte hinzu. Beide Länder sehen auf ähnliche beherrschende Trends seit den 1960er Jahren zurück: In beiden Ländern waren oder sind heute noch in ähnlicher Weise Themen wie Sozialgeschichte der Arbeiterklasse, der Streiks, der Arbeiterminoritäten vor dem Ersten Weltkrieg, der Unternehmer und der Unternehmen, der sozialen Mobilität, der Frauen, der Familie, neuerdings auch des Bürgertums stark in der Diskussion. Die Sozialgeschichte in Frankreich und Deutschland hat ein halbes Gelehrtenleben lang ähnliche Erfahrungen und Diskussionen gehabt. Debatten über neue Themen spielen sich daher heute vor einem ähnlichen Erfahrungshintergrund ab. Diese Gemeinsamkeit gab es in den 1960er Jahren noch nicht. Was hat diese Annäherung der französischen und deutschen sozialhistorischen Forschung für Folgen? Wird es mehr gemeinsame Themen und vielleicht auch Forschungsprojekte geben? Wird die französische Sozialgeschichte demnächst stärker über die Geschichte Deutschlands und die deutsche Sozialgeschichte stärker über die Geschichte Frankreichs arbeiten? Werden französische und deutsche Sozialhistoriker vielleicht sogar an der gemeinsamen europäischen Sozialgeschichte arbeiten? Wird der Austausch über den Rhein hinweg eines Tages ebenso eng werden wie über den Ärmelkanal und den Atlantik? Oder wird umgekehrt alles so bleiben wie bisher: schwer überwindbare Barrieren der Sprache, des wissenschaftlichen Präsentationsstils und der nationalen Diskussionszirkel und ein paar Außenseiter, die über das jeweils andere Land forschen oder dort unterrichtet haben? Sicher sollte man die Erwartungen nicht zu hoch spannen. In gewisser Weise ist das Verhältnis der französischen und deutschen Sozialhistoriker der europäische Normalfall. Auch mit schwedischen oder dänischen oder holländischen oder italienischen Sozialhistorikern sind die Beziehungen der deutschen Sozialhistoriker nicht enger. Umgekehrt haben die französischen Sozialhistoriker auch keine sehr viel engeren Kontakte mit den spanischen oder italienischen oder belgischen Sozialhistorikern. Freundschaftliches Desinteresse ist das Übliche in den Beziehungen zwischen europäischen Sozialhistorikern. Sehr wenig europäische Sozialhistoriker arbeiten über ein anderes europäisches Land. Trotzdem sollte man es bei dieser resignativen Feststellung nicht belassen. Es gibt gute Gründe, in diesem Fall aus der üblichen europäischen Beziehungslosigkeit nationaler Wissenschaftszirkel auszubrechen. Selbst wenn man hochfliegenden Projekten skeptisch gegenübersteht, wird man doch wenigstens erwarten können, dass die beiden gewichtigsten sozialhistorischen Schulen auf dem europäischen Kontinent viel voneinander lernen, neue Fragestellungen, 43

neue Ansätze, neue Methoden vom andern übernehmen und damit die Leistungsfähigkeit der europäischen Sozialgeschichte insgesamt heben können. Die französischen und deutschen sozialhistorischen Schulen sind inzwischen ähnlich genug, aber immer noch verschieden genug, um voneinander zu profitieren. Es kommt hinzu, dass das Interesse an der Sozialgeschichte auf der jeweils anderen Seite des Rheins inzwischen geweckt ist und damit einmalig günstige Voraussetzungen für einen engeren Austausch bestehen. Mit realer Aussicht auf Erfolg ließe sich erheblich mehr als bisher tun: – Es fehlt erstens nicht nur für Sozialhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts ein breites Programm für Forschungsaufenthalte im jeweils anderen Land. Sicher existieren wichtige Bestandteile eines solchen Forschungsprogramms bereits: Für Doktoranden aus Deutschland gibt es Stipendien des Deutschen Historischen Instituts. Für promovierte jüngere deutsche Sozialwissenschaftler entsteht ein Austauschprogramm der Stiftung Volkswagenwerk. Kurze Forschungsaufenthalte finanzieren die Maison des Sciences de l’Homme und die DFG, kurze Lehr- und Forschungsaufenthalte bietet der DAAD an. Was als Problem bleibt und was gerade für die Beziehungen zwischen französischen und deutschen Sozialhistorikern wichtig wäre, ist der Langzeitforschungsaufenthalt von einem halben bis einem ganzen Jahr für Wissenschaftler, die in der Bundesrepublik bereits in Dauerstellen sitzen. Diese Gruppe von Sozialhistorikern, die naturgemäß die Tendenz der wissenschaftlichen Forschung in starkem Maße bestimmen, haben zwar die Chance zu längeren Forschungsaufenthalten in den Vereinigten Staaten oder in England oder in den Niederlanden, nicht aber in Frankreich. Lehraufenthalte, für die es eher eine Chance gibt, grenzen den Kreis der Interessenten auf die winzige Zahl von deutschen Historikern ein, die sich fließend im Französischen ausdrücken können und sich das zutrauen. Dagegen wird man nur von einem Programm langfristiger Forschungsaufenthalte erwarten können, dass deutsche Sozialhistoriker dauerhaftere Beziehungen zu französischen Kollegen entwickeln, vielleicht sogar mehr über Frankreich arbeiten und vor allem auch die psychologischen Sprachbarrieren hinter sich lassen. Ein solches Programm für Langzeitaufenthalte ist nicht nur für die derzeitigen Habilitierten oder für die Inhaber von Professorenstellen wichtig. Es wäre auch für die längere Zukunft unsinnig, Frankreichprogramme nur für jüngere Wissenschaftler anzubieten und ihnen dann jede Chance zu einem längeren Frankreichaufenthalt abzuschneiden, sobald sie in Professorenstellen aufgerückt sind. Schon heute besteht unter deutschen Sozialhistorikern ein starkes Interesse an längeren Frankreichaufenthalten. – Die wichtigste und effizienteste Form der Information über neue Tendenzen der Forschung ist ohne Zweifel der persönliche Kontakt. Regelmäßige Kontakte aber fehlen zwischen französischen und deutschen Sozialhistorikern in jeder Hinsicht, nicht nur unter den jüngeren Wissenschaftlern. Auch die »etablierten« Sozialhistoriker Frankreichs und Deutschlands sehen sich selten oder kennen sich überhaupt nicht. Eine dem deutschen »Arbeitskreis für die Geschichte des modernen Italiens« oder dem »Arbeitskreis deutsche Englandforschung« 44

vergleichbare Initiative gibt es unter deutschen Historikern, aber auch unter französischen Historikern nicht. In sehr speziellen Arbeitsgebieten wie der Geschichte der Streiks, der Geschichte der Frauen: der Oral History, der Geschichte der Hugenotten, der Geschichte des Kleinbürgertums entstanden zwischen den Spezialisten auf beiden Seiten des Rheins dauerhaftere Kontakte. Aber in vielen Forschungsgebieten, in denen parallel gearbeitet wird, weiß man oft nicht einmal voneinander. Ohne allzu großen organisatorischen und diplomatischen Aufwand ließen sich regelmäßige Kontakte durchaus einrichten. Wahrscheinlich wäre die beste Form die regelmäßigen kleinen Arbeitstreffen von französischen und deutschen Sozialhistorikern des 19. und 20. Jahrhunderts zu Themen, die man als aktuelle Forschungstendenzen auf beiden Seiten des Rheins ansehen kann. Es wäre wichtig, nicht nur die »etablierten« Wissenschaftler, die »patrons«, zu solchen Treffen einzuladen, sondern auch jüngere Wissenschaftler zu gewinnen. Sie stellen die Weichen in der Zukunft. Solche Treffen dürften weiter nicht nur auf den kleinen Kreis der Frankreichenthusiasten auf bundesrepublikanischer Seite und der Deutschlandkenner auf französischer Seite beschränkt sein. Für sie müssten vielmehr auch Sozialhistoriker gewonnen werden, die noch keine besonders engen Beziehungen zum Land jenseits des Rheins haben. – Schließlich ist die sozialhistorische Literatur auf der jeweils anderen Seite des Rheins oft schwer zugänglich. Neue Arbeiten, die wichtige Anstöße geben, werden auf beiden Seiten des Rheins, in Frankreich wohl mehr als in der Bundesrepublik, oft in abgelegenen oder gerade neu entstandenen Zeitschriften oder in Tageszeitungen publiziert. Neue Tendenzen der Forschung sind oft nur zu erkennen, wenn man die unpublizierten Doktorarbeiten und Habilitationen bzw. théses d’état kennt. Solche Informationen bleiben daher Insidern des jeweiligen Landes vorbehalten. Man sollte auch nicht unterschätzen, dass es für die meisten Sozialhistoriker auf beiden Seiten des Rheins mindestens sehr zeitraubend, wenn nicht ganz unmöglich ist, die Sprache des jeweils anderen Landes zu lesen. Es gibt viele Methoden, dem abzuhelfen und den Sozialhistorikern des jeweils anderen Landes komprimierte, leicht zugängliche Informationen über den sozialhistorischen Forschungsstand anzubieten. Eine wichtige, wenn auch sehr teure und immer sehr begrenzte Möglichkeit ist die Übersetzung der wichtigsten sozialhistorischen Arbeiten aus der jeweils anderen Sprache. Damit hat die Maison des Sciences de l’Homme zusammen mit dem Campus Verlag begonnen. Einige der Spitzenprodukte der Sozialgeschichte werden dadurch im jeweils anderen Land zugänglicher und hoffentlich bekannter. Eine weitere Möglichkeit sind Forschungsberichte zu Spezialthemen der Sozialgeschichte des jeweils anderen Landes, die – wenn sie rasch publiziert werden – außerordentlich nützlich sein können. Die Bosch-Stiftung finanziert solche Projekte. Sie haben freilich auch den Nachteil, dass sie rasch veralten und oft schon bei der Publikation nicht mehr auf dem neuesten Stand sind. Deshalb wäre schließlich ein Newsletter mit stichwortartigen Berichten über die neuesten Arbeiten, Forschungsvorhaben und Konferenzen auf der jeweils anderen Seite des Rheins ein sehr wichtiges Informationsinstrument. Allerdings wird man realistischerweise sagen müssen, 45

dass ein solcher Newsletter sehr arbeits- und kostenintensiv ist und es nicht leicht sein wird, jenseits des Deutschen Historischen Instituts in Paris oder der Mission Historique Française Institutionen zu finden, die ein solches Projekt tragen können. Immerhin wäre schon viel geholfen, wenn die Maisons de France in der Bundesrepublik oder die Goethe-Institute in Frankreich an Historiker regelmäßig Kopien der Inhaltsverzeichnisse der wichtigsten historischen Zeitschriften des jeweils anderen Landes verschicken und ihnen anbieten würden, von einzelnen Artikeln Kopien zu machen. Das ist eine sehr nützliche und nicht sehr kostenintensive Politik der Amerikahäuser in der Bundesrepublik, die nachzuahmen sicher lohnend sein würde. Insgesamt müssen wir heute aus der Sicht der Bundesrepublik viele gewohnte und eingefahrene Vorstellungen der 60er Jahre von der französischen Sozialgeschichte revidieren. Die französische Sozialgeschichte ist heute bei weitem nicht mehr so stark auf die frühe Neuzeit fixiert, viel stärker als früher an sozialem Wandel interessiert, keineswegs mehr so politikfern wie noch vor zwanzig Jahren. Sie ist ähnlich wie die bundesrepublikanische Sozialgeschichte von rund zwei Jahrzehnten gemeinsamer europäischer Entwicklung der Sozialgeschichte geprägt. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die französischen Sozialhistoriker uns in den letzten zwei Jahrzehnten sehr viel ähnlicher geworden sind. Gleichzeitig hat sich die bundesrepublikanische Sozialgeschichte auch auf die französische Sozialgeschichte hinbewegt. Das bedeutet nicht, dass die französische Sozialgeschichte genau die gleichen Themen bearbeitet, die gleichen Methoden verwendet und die gleichen Ansätze verfolgt. Aber sie ist heute doch nicht mehr, wie noch vor zehn Jahren, eine andere wissenschaftliche Kultur, die kennenzulernen zwar anregend ist, aber in den praktischen Problemen der eigenen Forschung nicht weiterhilft. Die Sozialhistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts jenseits des Rheins sind vielmehr oft Arbeitskollegen geworden, die sich an ähnlichen Problemen versuchen, oft aber andere Lösungen finden, aus denen man lernen kann. Die französischen Sozialhistoriker sind heute ihrer Zahl und ihrer Leistungsfähigkeit nach neben den bundesrepublikanischen und englischen Sozialhistorikern die größte Gruppe in Europa. Es erscheint daher nötig, die in Europa übliche Abgeschlossenheit der nationalen wissenschaftlichen Zirkel zwischen französischen und deutschen Sozialhistorikern aufzubrechen und zu einer engeren Beziehung zueinander zu kommen, wie sie zu den amerikanischen, englischen, österreichischen, schweizerischen, aber auch zu einzelnen schwedischen, holländischen Sozialhistorikern besteht. Mit regelmäßigen wissenschaftlichen Kontakten zu den französischen Sozialhistorikern, mit einer Schließung gravierender Lücken in den Programmen für Forschungsaufenthalte in Frankreich und schließlich in der besseren Information über die sozialhistorischen Forschungsergebnisse des jeweils anderen Landes jenseits des Rheins können wir einen wichtigen Schritt vorankommen, der freilich nicht bei einer bilateralen Kooperation stehenbleiben, sondern zu breiterer europäischer Zusammenarbeit führen sollte. 46

2. Französisches und deutsches Bürgertum 1870–1914

Auf die Deutschen des 19. Jahrhunderts hat die französische Bürgerlichkeit immer einen tiefen Eindruck gemacht. In keinem anderen großen europäischen Land erschien das damals moderne und noch neue Bürgertum gesellschaftlich und vor allem politisch so weit entwickelt. Die französische Bourgeoisie wurde als die Zukunft des deutschen Bürgertums angesehen, auch wenn man dieser Zukunft ambivalent oder ablehnend gegenüberstand. Diese Aura der besonderen Modernität umgab die französische Bourgeoisie nicht nur vor dem preußisch-französischen Krieg, in der Zeit des allgemeinen kulturellen und wirtschaftlichen Vorsprungs Frankreichs. Auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts, als Deutschland Frankreich wirtschaftlich überholt hatte, galt die französische Bourgeoisie in Deutschland als Modell. Werner Sombart etwa betrachtete Frankreich als das »Geburtsland der modernen Gesellschaftsklassen« überhaupt, darunter auch des Bürgertums, für das er bezeichnenderweise nur den Ausdruck »Bourgeoisie unübersetzbar«1 fand. Auch heutige deutsche Historiker halten das Frankreich des vorigen Jahrhunderts für bürgerlicher als das damalige Deutschland und sehen Frankreich als »die klassische Bourgeois-Nation« an.2 Zumindest nach dem Ende des Zweiten Kaiserreichs und nach der Etablierung der bürgerlichen Dritten Republik wird daher kaum ein anderes europäisches Land so stark als Messlatte für die Entwicklung Deutschlands, besonders aber des deutschen Bürgertums angesehen. War das französische Bürgertum wirklich so anders, und was war an ihm so anders? Lag es vor allem an der Politik, an der größeren politischen Macht des französischen Bürgertums und daher an einem bürgerlicheren Staat? Oder lag es eher an der Gesellschaftsstruktur? War das französische Bürgertum eine geschlossenere soziale Klasse, von inneren Spannungen, von aristokratischen Modellen und proletarischem Milieu weniger bedroht und bedrängt? Oder war es vor allem ein Unterschied der Kultur, der bürgerlicheren Lebensformen, wie sie damals dem übrigen Europa vor allem in Paris vorgelebt wurden? Auf diese Frage gibt es bisher keine abgesicherte Antwort, denn französisches und deutsches Bürgertum wurden von Historikern nie wirklich verglichen. Die ent­ wickeltere Bürgerlichkeit der französischen Bourgeoisie wurde zwar beschworen; beschwören konnte man sie aber bisher nicht. 1 W. Sombart, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. und im Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin 19194, S. 440. 2 H. A.  Winkler, Art. ›Bürgertum‹ in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. 1, Freiburg 1966, S. 949.

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Wenn wir französisches und deutsches Bürgertum im folgenden Versuch vergleichen, sollen nicht alle denkbaren Aspekte der Sozialgeschichte des Bürgertums verfolgt werden. Vielmehr stehen bei diesem Vergleich zwei Fragen im Vordergrund. Auf der einen Seite wird die Frage aufgenommen, die auch die Bielefelder ZiF-Forschungsgruppe »Bürgertum« stark beschäftigt hat: die Frage nach dem Defizit an liberaler Bürgerlichkeit in Deutschland und nach den sozialhistorischen Gründen für diesen Rückstand. Diese Frage könnte Missverständnisse hervorrufen und soll deshalb präzisiert werden: Diese Frage ist nur sinnvoll beim Vergleich mit bestimmten westeuropäischen Ländern, unter denen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Frankreich eine herausragende Rolle spielt und zu denen auch Großbritannien, die Niederlande und die Schweiz gehören. Ein generelles Defizit an liberaler Bürgerlichkeit in Deutschland im Vergleich zu allen europäischen Ländern gab es dagegen nicht. Das Defizit an liberaler Bürgerlichkeit gilt zudem vor 1914 für bestimmte deutsche Regionen nicht, die allerdings im damaligen Deutschen Reiche ein weit geringeres Gewicht hatten als in der heutigen Bundesrepublik, so z. B. für Baden, Württemberg, Bayern, die Hansestädte, oft auch die linksrheinischen Gebiete. Schließlich standen hinter diesem Defizit an liberaler Bürgerlichkeit im späten 19. Jahrhundert keine umfassenden sozial- und wirtschaftshistorischen Sonderentwicklungen Deutschlands im Vergleich zu westeuropäischen Ländern. Nur ganz bestimmte, begrenzte Mentalitäts- und Sozialstrukturunterschiede zwischen deutschem und französischem Bürgertum vermögen den Liberalitätsrückstand neben einer ganzen Reihe von wesentlichen politischen Umständen mit zu erklären. Sie herauszuarbeiten und gleichzeitig frühere wissenschaftliche Sackgassen – wie etwa die These von der besonders starken Feudalisierung des deutschen Bürgertums – zu vermeiden, ist der Hauptzweck dieses Artikels. Auf der anderen Seite ist dieser Aufsatz aus der heutigen Perspektive geschrieben, in der sich die französische und deutsche Gesellschaft weit weniger unterscheiden. Er soll zeigen, dass die europäische Zerrissenheit der Zeit der beiden Weltkriege und der konfliktgeladenen Zwischenkriegszeit nicht nur auf politischen Fehlentscheidungen beruhte, sondern dass dahinter tiefgreifende Auseinanderentwicklungen der europäischen Gesellschaften – in unserem Fall der französischen und deutschen Gesellschaft – standen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser gesellschaftlichen Entfremdung Frankreichs und Deutschlands war die Auseinanderentwicklung des französischen und deutschen Bürgertums. Wir werden hier weder versuchen zu zeigen, wie diese Auseinanderentwicklungen auf die Politik der damaligen Zeit wirkten, noch genau nachweisen, wie stark sich die europäischen Gesellschaften heute ähneln. Dieser Aufsatz soll vor allem das Faktum der Auseinanderentwicklung beschreiben.3 3 Dieser Artikel ist Teil eines größeren Vorhabens, in dem die französische und deutsche Gesellschaft im 20. Jahrhunden verglichen werden und das finanziell von der Stiftung Volkswagenwerk unterstützt wird. (vgl. H. ­Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991). Für diesen Artikel

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Diese Fragestellung ist primär auf Unterschiede zwischen französischem und deutschem Bürgertum ausgerichtet, und wir werden uns daher auch ausschließlich damit beschäftigen, was in Frankreich anders war als in Deutschland. Im Hintergrund steht freilich immer die grundlegende Einschränkung, dass wir dabei nur Unterschiede innerhalb des europäischen Bürgertums diskutieren. Unser Vergleich behandelt Unterschiede von anderem Charakter als Vergleiche Europas mit Japan oder mit den USA oder auch mit Russland. Es geht bei unserem Vergleich nur um Spielarten des gleichen europäischen Bürgertums, keinesfalls um die Existenz oder das Fehlen des Bürgertums. Diese Einschränkung ist insofern wichtig, als dass unserem Vergleich eigentlich die Grundzüge des europäischen Bürgertums vorangestellt werden müssten und wir auf die Darstellung der gemeinsamen historischen Wurzeln des Bürgertums, der Verbürgerlichung der industrialisierenden europäischen Gesellschaften, der tiefgreifenden Wandlungen des Bürgertums im 19. Jahrhundert durch Professionalisierung und Großunternehmen, der Gemeinsamkeiten in Bezug auf Adel, Staat und Arbeiterschaft, der gemeinsamen Rolle der Intellektuellen in Europa verzichten müssen. Denn eine solche Skizze könnte kaum auf vorhandene vergleichende Forschung aufbauen, sondern müsste im Grunde bei Null anfangen und würde deshalb viel zu ausführlich werden. Leider müssen wir aus Platzgründen auch darauf verzichten, hinter den Vergleich zweier Nationen zurückzugehen und die enorme regionale Vielfalt beider Länder zu behandeln. Das wäre besonders deshalb reizvoll gewesen, weil nicht nur die Einmaligkeit von Paris, sondern auch grenzüberschreitende Ähnlichkeiten zwischen dem Süden und Westen Deutschlands und dem Osten und Norden Frankreichs deutlicher geworden wären. Auch hier ist jedoch die Forschung noch nicht so weit, dass man in wenigen resümierenden Sätzen Thesen formulieren könnte. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert repräsentierten Frankreich und Deutschland gleichwohl zwei Extremfälle europäischen Bürgertums. Französisches und deutsches Bürgertum unterschieden sich enorm. Zwischen wenigen anderen europäischen Ländern waren die Gegensätze so scharf. In kaum einer anderen Epoche lagen französisches und deutsches Bürgertum so weit auseinander und waren einander so fremd. Das gilt besonders für die folgenden vier Aspekte, die eng zusammenhängen: Das Großbürgertum in Deutschland teilte die politische Macht immer noch mit dem Adel und war daher politisch deutlich schwächer als die Großbourgeoisie in Frankreich. Das deutsche Bürgertum war boten die Gespräche, Kolloquien und Tagungen der Forschungsgruppe »Bürgertum« am ZiF in Bielefeld eine für mich bisher einmalige Intensität intellektueller Anregungen, eine außergewöhnliche Leistung auch des Organisators und Inspirators Jürgen Kocka. In diesem intellektuellen Klima entstand ursprünglich ein längerer Text, der für den vorliegenden Band auf fast die Hälfte gekürzt werden musste und den ich an anderer Stelle ganz zu veröffentlichen hoffe. Für besonders eingehende Lektüre des Artikels und für Anregungen danke ich Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka und Allan Mitchell.

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in sich tiefer gespalten, das französische Bürgertum in sich stärker verflochten und eine einheitlichere soziale Klasse. Die Eingriffe des Staates in die bürgerliche Welt gingen in Deutschland tiefer und splitterten das Bürgertum stärker auf als in Frankreich. Schließlich sah sich das deutsche Bürgertum einer anderen sozialen Schichten- und Klassensituation gegenüber und blieb auch deshalb weniger liberal als das französische Bürgertum.

I. Die Machtteilung mit dem Adel Die weit größere politische Macht des Adels in Deutschland war vor dem Ersten Weltkrieg der erste, augenfälligste und bekannteste Unterschied zu Frankreich und hat sicher die beiden Länder einander besonders schwer verstehen lassen. Vor 1914 gab es im Deutschen Reich keinen einzigen bürgerlichen Kanzler und keine klare Mehrheit bürgerlicher Minister, damals Leiter von Reichsämtern genannt. Gleiches gilt für den größten deutschen Bundesstaat. Auch in Preußen wurden die Regierungen vor allem von der Aristokratie gestellt. Nicht überall waren Aristokraten einfach Strohmänner bürgerlicher Interessen. Dahinter stand in Deutschland ein mächtiger Interessenblock, eine perfekte, für damalige Verhältnisse äußerst moderne agrarische Massenorganisation, der »Bund der Landwirte«, der weitgehend von der Landaristokratie kontrolliert wurde, und die einflussreichen konservativen Parteien, in denen die Aristokraten ebenfalls das Sagen hatten.4 Dahinter stand aber auch eine zu der französischen völlig verschiedene Verfassung, vor allem ein mächtiger Kaiserhof, der für Aristokraten zugänglicher war als für Bürgerliche. Der Kaiser griff nicht nur in militärische, sondern auch in die meisten anderen zentralen politischen Entscheidungen stark ein. Die Reichsregierung war weitgehend von ihm abhängig, und er war gegenüber dem zwar überwiegend bürgerlichen, aber schwachen deutschen Reichstag im Vorteil. In Deutschland besaß die Aristokratie daher das Äußerste an politischem Einfluss, was in einer im Prinzip bürgerlichen Gesellschaft denkbar war. Schließlich genoss der Adel in Deutschland Versorgungsprivilegien für seine Söhne, die in Frankreich undenkbar geworden waren. Viel weitgehender als die französische Aristokratie besetzte der Adel in Deutschland die Spitzenränge der 4 Allgemein zur Rolle des Adels in Deutschland: A. J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848–1914, München 1984, S. 98 ff.; zum Bund der Landwirte: H.-J. Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften, Göttingen 1975, S. 68 ff. (mit weiterführender Literatur); ders., Aspekte der Agrarpolitik im »Organisierten Kapitalismus«, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute, Göttingen 1974, S. 543–564; zu den konservativen Parteien: W. Ribhegge, Konservative Politik in Deutschland. Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989; H. Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999.

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Armee und der Verwaltung. Zumindest in Preußen, aber auch im Königreich Sachsen traf man an der Spitze den Adel an. Um 1910 waren im beherrschenden deutschen Bundesstaat, in Preußen, nicht nur sieben von elf Ministern, sondern auch elf von zwölf Oberpräsidenten (Chefs der Provinzialverwaltungen), 23 von 36 Regierungspräsidenten (Chefs der Regierungsbezirke), 15 von 22 Polizeipräsidenten, ja sogar die Mehrheit der Landräte und Oberamtmänner (Chefs der Kreise) adlig, oft sogar altadlig. Die Generäle der preußisch-deutschen Armee kamen um 1910 immer noch in der Mehrheit aus dem Adel. Selbst im Offizierskorps als Ganzem stellten die Bürgerlichen noch nicht lange die Mehrheit. Noch in den 1890er Jahren war fast die Hälfte der Offiziere aus dem Adel gekommen. Trotz unverkennbarer Leistungsanforderungen in den Beamten- und Offizierskarrieren wurden die Spitzenpositionen in einem weitgehend abgeschirmten Wettbewerb der feinsten Kreise verteilt. In den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nahm der Adelsanteil in manchen Positionen sogar noch einmal zu.5 Sicher soll man dieses Bild nicht überzeichnen. In der säkularen Perspektive sank auch in Deutschland der Adelsanteil in den Spitzenpositionen, teils durch die Ausweitung der Verwaltungen, teils auch durch die massive Aufrüstung der deutschen Armee vor dem Ersten Weltkrieg. Gewiss gab es in Preußen auch bürgerliche Domänen wie die Handels- und Industrieminister, die Marine oder die höchsten Richter. Der Adel beschränkte sich vor allem auf die repräsen­tativen Spitzenpositionen im Bundesstaat, in den Provinzen, Regierungsbezirken und Kreisen, während in den zweiten Rängen, wo Fachwissen benötigt wurde, Bürgerliche dominierten. Es ist ein Faktum, dass der Süden des Deutschen Reiches Frankreich viel stärker ähnelte. Weder in Bayern noch in Württemberg noch in Baden noch in Hessen-Darmstadt drängte der heimische Adel so stark in die Spitzenpositionen der staatlichen Verwaltung wie in Preußen. Bürgerliche beherrschten im Süden längst das Feld. Auf dem Territorium der heutigen Bundesrepublik fehlten damals bereits häufig – das ist für die spätere Entwicklung entscheidend – das Abschotten der Spitzenpositionen gegenüber dem Bürgertum durch den Adel und das Beharren auf Privilegien. Aber all das waren vor dem Ersten Weltkrieg Ausnahmen. Was der Adel, vor allem jenseits der Elbe, an Traditionen, Erwartungen und Hypotheken in die deutsche Geschichte einbrachte, war vor 1914 noch beherrschend. Das fiel auch in Frankreich auf. »Das deutsche Denken«, schrieb 1907 einer der besten französischen Deutschlandkenner, »hat stets versucht, sich mit den Mächten der Vergangenheit, so gut es 5 Vgl. H. Henning, Die deutsche Beamtenschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1984, S. 37–52 (Belege für Sachsen, Preußen, Baden, Württemberg, Bayern, Hessen-Darmstadt); H. Reif, Westfälischer Adel 1770–1860, Göttingen 1979; Adelsanteile in Preußen: Stenogr. Protokolle des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 3. Sitzung, 14.1.1911, S. 104 (oft wiederabgedruckt, etwa in: W.  Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933, Stuttgart 1965, S. 170); D. Bald, Der deutsche Generalstab 1859–1939, München 1977, S. 104–113.

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konnte, in Einklang zu bringen … Anstatt einen logisch gegliederten Staat aus einem Guss zu schaffen, [hat es] der Tradition unendlich Rücksicht erwiesen, der monarchischen Autorität seinen Respekt bezeugt, nichts unterlassen, um erworbene Rechte nicht zu verletzen und die Entwicklung der Demokratie nicht zu überstürzen«.6 Einen größeren Gegensatz zu Deutschland als Frankreich gab es im damaligen Europa kaum, aus dem Blickwinkel des Ersten Weltkriegs betrachtet war er bis 1914 immer schärfer geworden. Seit der Gründung der französischen Dritten Republik hatte der Adel das, was ihm nach dem tiefen Bruch der Französischen Revolution, während der Reaktionszeit der Bourbonen, unter Louis Philippe und auch während des Second Empire Napoleons III. an politischer Macht zugekommen war, weitgehend eingebüßt. Einen Hof, an dem der Adel privilegierten Zugang besaß, gab es nicht mehr. Kaum ein Regierungschef oder Minister war seit der neuen Verfassung von 1875 adlig gewesen. Der Graf MacMahon, von der antirepublikanischen Mehrheit 1873 zum Staatspräsidenten gewählt, war der einzige politisch wirklich prominente Adlige der Dritten Republik. Er kapitulierte bezeichnenderweise vor der erstarkenden Republik und dankte 1879 als Staatspräsident ab. Der französische Adel besaß nur noch auf regionaler Ebene bestimmenden politischen Einfluss. Auf nationaler Ebene war das Bürgertum in Frankreich beherrschend. Auch ein Pendant zum mächtigen »Bund der Landwirte« gab es in Frankreich nicht.7 In dem Auseinanderdriften der beiden Gesellschaften waren der Sturz Napoleons III. und die Gründung der Dritten Republik ohne Zweifel eine wichtige Weichenstellung. Was das deutsche Bürgertum mit dem militärischen Sieg Bismarcks über Frankreich und der Reichsgründung an Machtchancen verlor, gewann das französische Bürgertum mit der Niederlage Napoleons III. und der neuen republikanischen Verfassung von 1875 hinzu. Außerdem gab es in Frankreich nicht das Versorgungsbollwerk für Adelssöhne wie in Preußen. Das galt besonders für die Armee: Während der Dritten Republik wurde selbst unter den Generälen der Adel immer stärker zurückgedrängt. Um 1878 waren noch 39 Prozent aller Generäle adlig, um 1900 nur noch 20 Prozent. Die Offiziere waren längst fast nur noch bürgerlicher, zum

6 H. Lichtenberger, Das moderne Deutschland und seine Entwicklung, Dresden 1908, S. 9 ff. 7 Für den wirtschaftlichen und politischen Einfluss des Adels in Frankreich in der Vielfalt des regionalen und lokalen Rahmens vgl. zusammenfassend: M. Agulhon, La propriété et les classes sociales, in: Histoire de la France rurale, Bd. 3: Apogée et crise de la civilisation paysanne, 1889–1914, Paris 1976, S. 87–94 (erste Hälfte des 19. Jh.); für den Adelsanteil in französischen Kabinetten und Parlamenten seit 1871: J.  Charlot, Les élites policiques en France de la llle à la Ve République, in: Archives européennes de sociologie 14, 1973, S. 78–92 (Kabinette und Parlament); J. Estèbe, Les ministres de la république, 1871–1914, Paris 1982; M. Dogan, Les filières de la carrière politique en France, in: Revue française de sociologie 8, 1967; J. G. Heinberg, Personnel of the French Cabinets, in: American Political Science Review 25 (1931), S. 389–396.

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beträchtlichen Teil schon kleinbürgerlicher Herkunft.8 Auch in den Spitzen der Verwaltung spielte der Adel in Frankreich um die Jahrhundertwende eine erheblich geringere Rolle als in Preußen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts setzte sich in der französischen Verwaltung allmählich der anonyme Wettbewerb in der Form der concours durch. Spätestens seit den 1880er Jahren ging dadurch nicht nur der Nepotismus der bürgerlichen Notablenfamilien zurück, die noch bis zum Second Empire den Zugang zu den Verwaltungsspitzen sehr stark kontrollierten. Auch die französischen Adligen mussten sich diesem Wettbewerb unterwerfen. Sicher gab es in Frankreich um 1900 immer noch vereinzelte adlige Reservate, vor allem den auswärtigen Dienst, in dem der concours besonders spät (1880) durchgesetzt wurde, aber auch das Kriegs- und Marineministerium. Sicherlich war der Adelsanteil in der französischen Verwaltungsspitze selbst um die Jahrhundertwende immer noch höher als heute. Wichtiger ist jedoch, dass er sich kaum vom Adelsanteil in denjenigen administrativen Spitzenpositionen Preußens unterschied, die nicht im Licht der Öffentlichkeit standen, also etwa den Ministerialdirektoren oder Vortragenden Räten. So waren auch in Frankreich zumindest im Second Empire immer noch 24 Prozent der Ministerialdirektoren adlig. Während der Dritten Republik scheint der Adelsanteil zwar weiter gefallen zu sein, aber der Unterschied zwischen Frankreich und Preußen war in dieser Hinsicht nicht mehr spektakulär. Unübersehbar war dagegen der Kontrast zwischen beiden Ländern in denjenigen administrativen Spitzenpositionen, die mit vielen Repräsentationsverpflichtungen verbunden waren und die bei Regimewechseln auch »gesäubert« wurden: Vor der eigentlichen Gründung der Republik war noch fast die Hälfte der Präfekten adlig; am Vorabend des Ersten Weltkriegs dagegen nur noch grob jeder Zehnte. Nicht nur die Armee, sondern auch die Verwaltung der Französischen Republik trat daher um die Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit primär durch bürgerliche Beamte in Erscheinung. Die preußische Armee und die preußische Verwaltung boten dagegen dem Adel nicht nur erheblich mehr Wirkungskreise und Versorgungsposten; sie waren vor allem auch in der Öffentlichkeit immer noch überwiegend durch Adlige repräsentiert.9 8 Vgl. W. Serman, Les officiers français dans la nation 1848–1914, Paris 1982, S. 8, 18; C. Charle, Le recrutement des hauts fonctionnaircs en 1901, in: Annales 35 (1980), S. 380–409, hier S. 387; F. Bédarida, L’armée et la République, in: Revue historique 88 (1964), S. 119–164, hier S. 151. 9 Zusammenfassend: C.  Charle, Les hauts fonctionnaires en France au XIXe siècle, Paris 1980, S. 27 ff., 33 f., 61 ff. (Adelsanteile, Nepotismus); ders., lntellectuels et élites en France (1880–1900), 2 Bde, Thèse d’état, Paris 1986; ders., La naissance d’un grand corps, in: Actes de Ja recherche en sciences sociales, Bd. 42 (1982), S. 3–17; speziellere Arbeiten: Charle, Le recrutement, S. 307; Thuillier, G., Bureaucratie et bureaucrates en France au XIXe siècle, Genf 1980, S. 334 ff. (concours und Nepotismus); für den conseil d’état: V. Wright, Le Conseil d’État sous le Second Empire, Paris 1973; für die Präfekten: B. LeClère u. V. Wright, Les préfets du Second Empire, Paris 1973; J. Siwek-Pouydesseau, Le corps préfectoral sous la Troisième et Quatrième République, Paris 1969, S. 128 (Präfekten während Regierung de Broglie); ders., Sociologie du corps préfectoral (1800 à 1940), in: J. Aubert u. a., Les préfets en France 1800–1940, Genf 1978, S. 163 bis 172; für die directeurs de ministères: V. Wright, Les directeurs et sécrétaires

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Nichts deutete am Vorabend des Ersten Weltkriegs darauf hin, dass sich dieser krasse Machtunterschied zwischen französischem und deutschem Großbürgertum in absehbarer Zeit einebnen würde. Es gab wenig Anzeichen dafür, dass das deutsche Großbürgertum gegen die Teilung der Macht aufmucken würde oder sich gar die französische Bourgeoisie zum Vorbild nehmen und die ganze politische Macht zielstrebig an sich reißen würde. Von einer kleinen oppositionellen linksliberalen Minderheit abgesehen schien das Großbürgertum mit dem Status quo der Machtteilung in Deutschland einverstanden, die offensichtlich den unternehmerischen Entscheidungsspielraum, das wirtschaftliche Wachstum und die Weltmachtstellung Deutschlands garantierten, jedenfalls nicht bedrohte. Die Mehrheit des deutschen Großbürgertums nahm die Teilung der Macht mit der Aristokratie nicht nur passiv hin, sondern stützte sie durch seine Vertreter im Reichstag aktiv in dem politischen Bündnis mit den Großagrariern. Dieses politische Bündnis stellte wichtige Weichen: Es sicherte die deutsche Weltmachtpolitik, die Aufrüstung gegen Frankreich und England und später auch die Kriegsziele von 1914 innenpolitisch ab. Es trug zur Spaltung des deutschen Liberalismus und zur konsequenten Abriegelung der Reichsregierung vor einer Mitbeteiligung der damals größten deutschen Partei, der Sozialdemokratie, bei. Es half auch mit zu verhindern, dass das veraltete Zensuswahlrecht im größten deutschen Bundesstaat, in Preußen, gelockert wurde, und dass der Reichstag einen stärkeren Einfluss auf die Reichsregierung erhielt. Ohne Zweifel durchlief dieses Bündnis zwischen Großindustrie und Landaristokratie zu Beginn der 1890er Jahre, in den Jahren nach 1905 und wiederum direkt vor dem Ersten Weltkrieg schwere Krisen und Interessenkonflikte, zu einem regelrechten Scheitern kam es jedoch nie.10 Diese Hinnahme des großen politischen Einflusses des Adels und seiner starken Präsenz in der politischen Öffentlichkeit hatte viel mit der tiefen Krise des deutschen Liberalismus seit den 1870er Jahren zu tun, verstärkt noch durch die spezifisch deutschen Bedingungen, unter denen der Adel als treibende Kraft des politischen Liberalismus schon vor dem Kaiserreich ausschied. Eine derart tiefe Krise des Liberalismus gab es in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg nicht, vor allem wenn man – worüber man streiten kann – in diesen Vergleich nicht nur die französischen libéraux, sondern auch die französischen Republikaner généraux des administrations centrales sous le Second Empire, in: Les directeurs de ministères en France, Genf 1976, S. 44 ff. (Adelsanteile); E. Chaudeau, Les inspecteurs des finances au XIXe siècle, profil social et rôle économique (1850 bis 1914), Paris 1986, S. 45 (Absinken des Adelsanteils von 12 % vor 1890 auf 9 % nach 1890); L. Bergeron, u. G. Chaussinaud-­Nogaret, Grands notables du Premier Empire, 11 Bde, Paris 1978–84; zum Adelsanteil unter den hohen Ministerialbeamten in Preußen vgl. Henning, Beamtenschaft, S. 37 ff. 10 Vgl. D. Stegmann, Art. ›Unternehmerverbände‹ in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 8, Stuttgart 1980, S. 155–170; H.-P. Ullmann, Interessenverbände in Deutschland, Frankfurt 1988; ders., Der Bund der Industriellen, Göttingen 1976; S. Mielke, Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909–1914, Göttingen 1976; H. ­Kaelble, Industrielle Interessenpolitik in der Wilhelminischen Gesellschaft, Berlin 1967.

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einbezieht. Dann waren in Frankreich die 1870er Jahre in scharfem Kontrast zu Deutschland ein genau umgekehrter Wendepunkt zum Aufstieg der Liberalen an die Macht und zum Ausscheiden der monarchistischen Strömungen aus der Macht. Für diese Entwicklungskontraste, auf die wir hier nicht näher eingehen können und für die sich ein genauerer Vergleich lohnen würde, gab es verschiedene Gründe: wichtig sind sicher die Französische Revolution als historischer Fixpunkt; die größere Fähigkeit der französischen Liberalen und Republikaner, sich als Vertreter der nationalen Belange darzustellen; auch die in Deutschland nicht vorhandene Chance der Liberalen, gegen die katholische Kirche zu mobilisieren; wohl auch die langsamere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Frankreichs, die besonders die freien Berufe, Beamten, Professoren nicht in jene tiefe Identitätskrise stürzte, in die das liberale deutsche Bildungsbürgertum besonders seit den 1870er Jahren geriet.11

II. Die geringere soziale Verflechtung des Bürgertums in Deutschland Für das Bündnis des Großbürgertums mit der Landaristokratie spielten in der Interpretation der Historiker auch sozialhistorische Entwicklungen im Bürgertum eine wichtige Rolle. Besonders die sozialgeschichtliche »Feudalisierung« des deutschen Großbürgertums wurde dabei als ein Schlüssel angesehen. Auf diese sozialhistorische Erklärung der politischen Machtverteilung im Kaiserreich möchte ich näher eingehen. Sprach man von einer gesellschaftlichen »Feudalisierung« des deutschen Großbürgertums, so dachte man an eine Unterwerfung des Großbürgertums unter Wertvorstellungen und Lebensstil des Adels und an einen Verzicht auf bürgerliche Denkvorstellungen und Lebensweisen, aber auch an eine völlige Verschmelzung von Großbürgertum und Landaristokratie in eine »feudalkapita­ listische« Oberschicht. Die differenzierteren historischen Arbeiten haben diese »Feudalisierung« sehr vielseitig und breit untersucht. Teilweise versuchten sie, eine immer engere Verflechtung der Großunternehmer mit dem Adel durch Einheirat in den Adel, durch den Eintritt der Söhne in prestigereiche, damals noch als aristokratische Domänen angesehene Berufe wie Offizier, Großgrundbesitzer, Diplomat, aber auch durch soziale Kontakte mit dem Adel bei Festen und Empfängen zu belegen. Teilweise verstand man unter Feudalisierung aber auch die Unterwerfung der Unternehmer unter eine nichtbürgerliche soziale Rangordnung. Man wies sie nach mit der demonstrativen Vorführung von Reserveoffizierspatenten durch manche Bürgerliche, mit dem Drang nach Kom11 Vgl. die vergleichenden Artikel von H.-G. Haupt, R. Hudemann, F. Lenger, G. Krumeich, J. J. Sheehan in: D. Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988; sowie ders., Liberalismus in Deutschland, Frankfurt 1988.

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merzienratstiteln und Orden, nach Nobilitierungen anstelle – wie vor der Reichsgründung im klassischen Bürgertum üblich – einer Ablehnung solcher »feudaler« Titel und der Bevorzugung bürgerlicher Ehrenämter, städtischer Ehrenbürgeroder universitärer Ehrendoktortitel. Andere Untersuchungen verstanden unter Feudalisierung auch die Imitation adligen Lebensstils durch die bürgerlichen Unternehmer, den Bau schlossartiger Villen statt einfacher Bürgerhäuser, den Kauf von Rittergütern, den Eintritt der Söhne in adlige studentische Corps statt in bürgerliche Landsmannschaften oder Burschenschaften, die Ausbildung der Töchter in feinen Pensionaten statt in Schulen mit den Töchtern des übrigen Bürgertums zusammen, einen aufwendigen, teuren, nachgemachten Lebensstil statt der älteren, einfachen, an bürgerlichen Werten der Sparsamkeit und Solidität orientierten Lebensform. In diesen Tendenzen zur Feudalisierung des deutschen Großbürgertums sahen Historiker nicht nur einen in Europa durchaus üblichen Verfall bürgerlicher Lebensweisen, sondern vor allem die soziale Grundlage des folgenreichen politischen Schulterschlusses mit dem Adel. Frankreich war dabei für die Historiker meist das historische Gegenbeispiel eines unangepassten, liberal gebliebenen und auch voll an die Macht gekommenen Bürgertums.12 Jüngere Forschungen zeigen freilich immer stärker, dass man den Gegensatz zwischen französischem und deutschem Großbürgertum lange Zeit missverstanden hat. Was bleibt, ist ohne Zweifel der scharfe Unterschied eines nur halb an die Macht gekommenen, mit der Landaristokratie politisch kollaborierenden, von den Spitzenrängen der Armee und Verwaltung teils noch ausgeschlossenen deutschen Großbürgertums und eines beherrschenden, den Adel verdrängenden, liberalen französischen Großbürgertums. Was missverstanden wurde, sind die sozialen Hintergründe, denn neuere Studien enthalten nur wenige Anhaltspunkte für eine vorherrschende sozialhistorische Feudalisierung, gleichgültig ob man sie nun als Verschmelzung mit der Landaristokratie zu einer feudalkapitalistischen Oberschicht oder als eine Unterwerfung des Großbürgertums unter aristokratische Wertvorstellungen versteht. Besonders wichtig sind dabei die sehr Reichen, die Multimillionäre unter den deutschen Unternehmern, weil sie sich eine adlige Lebensführung am ehesten leisten konnten. Untersuchungen über die Zeit direkt vor dem Ersten Weltkrieg zeigen, dass nur wenige dieser reichen bürgerlichen Unternehmer selbst in den Adel einheirateten, obwohl der Großteil dieser Multimillionäre schon in Millionärsfamilien aufwuchs und daher schon in ihrem Heiratsalter, nicht erst als ältere Männer, für den Adel attraktive Partien abgaben. Auch die Heiratskreise der Töchter verbanden diese wenigen hundert reichsten bürgerlichen Unternehmerfamilien des Kaiserreichs weit seltener mit dem Adel als man bislang annahm. Nur ungefähr jede fünfte Tochter heiratete in den Adel ein – nicht selten in frisch 12 F. Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer 1834–1879, Köln 1962; ders., Industriebürgertum in Westdeutschland, in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1970³, S. 309–341; W. Zapf, Wandlungen der deutschen Führungsgruppen 1919–1961, München 1966², S. 38 ff.

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nobilitierte Familien, nicht in den wirklich alten Adel. Umgekehrt scheint sich auch der Adel aus den bürgerlichen Heiratskreisen herausgehalten zu haben. Adel und Großbürgertum gingen daher in ihren Heiratskreisen eher getrennte Wege. Wie wenig das aristokratische Modell im Bürgertum durchschlug, zeigt sich vor allem auch in der Berufswahl der Söhne dieser bürgerlichen Multimillionäre. Sehr wenige unter ihnen – nur ungefähr jeder Zehnte – wählten einen Beruf, den man damals als aristokratisch angesehen hätte, und wurde Großgrundbesitzer, Diplomat oder Offizier. Die erdrückende Überzahl folgte dem bürgerlichen Modell und wurde wieder Unternehmer. Wenn sie das väterliche Unternehmen nicht erbten, gründeten sie selbst Unternehmen; wenn sie nicht Unternehmer blieben, wählten sie andere bürgerliche Berufe, vor allem freie Berufe, und zwar ebenso häufig wie aristokratische Berufe.13 Der Unterschied zum französischen Bürgertum lag daher nicht, wie man stets annahm, in der stärkeren Unterwerfung des deutschen Großbürgertums unter adlige Leitbilder oder in der engeren Verschmelzung der deutschen bürgerlichen Unternehmerfamilien mit dem Adel. Das bedeutete freilich nicht, dass die politische Zusammenarbeit zwischen Großindustrie und Großgrundbesitz ohne jegliche sozialen Hintergründe zustande kam. Der zweite, wesentliche Unterschied zwischen dem französischen Bürgertum und dem deutschen war weitaus wichtiger: die größere soziale Isolation der deutschen Unternehmer innerhalb des Bürgertums, und zwar weniger gegenüber den freien Berufen, den Ärzten, Rechtsanwälten und Architekten, sondern vor allem gegenüber den staatsnahen Berufen, den Verwaltungsbeamten, den Richtern, den Professoren und Pfarrern, vielleicht sogar gegenüber den Gymnasiallehrern. Diese gesellschaftliche Isolation hat nicht nur die sozialen Bindungen, sondern auch die politische Solidarität der deutschen Unternehmer mit anderen Teilen des Bürgertums nie so stark werden lassen wie in Frankreich. Das deutsche Bürgertum war weniger als das französische eine in sich geschlossene und verschmolzene soziale Klasse. Es war in sich gespaltener und zersplitterter. Der politischen Zusammenarbeit des deutschen Großbürgertums 13 Vgl. H. ­Kaelble, Wie feudal waren die deutschen Unternehmer im Kaiserreich?, in: R. Tilly, (Hg.), Beiträge zur quantitativen deutschen Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1985, S. 14S174, hier 153 ff. (andere, französische Version: ders., Le modèle aristocratique dans la bourgeoisie allemande à la fin du XIXe et au début du XXe siècle, in: Francia 16 (1988); D. L.  Augustine Perez, Heiratsverhalten und Berufswahl in den nichtagrarischen Multimillionärsfamilien in Deutschland vor 1914, Magisterarbeit FU Berlin 1983, S. 63 ff.; dies., Wealthy Businessmen in Imperial Germany, erscheint in: Journal of Social History 21 (1988). Für ähnliche Argumente bzw. Belege für die Schwerindustriellen und Textilindustriellen des Ruhrgebietes und für die Unternehmer Deutschlands im weiteren Sinn vgl. W. Stahl, Der Elitekreislauf in der Unternehmerschaft, Frankfurt 1973, S. 280 f., 306 f.; H. Henning, Soziale Verflechtungen der Unternehmer in Westfalen 1860–1914, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 23 (1978), S. 1–30, hier 18 f.; H.-J. Teuteberg, Westfälische Textilunternehmer in der Frühindustrialisierung, Dortmund 1980, S. 33 f.; T. Pierenkemper, Die westfälischen Schwerindustriellen 1852–1913, Göttingen 1979, S. 45 f., 59 f., 73 f.

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mit der Landaristokratie standen daher nicht so starke hemmende soziale Bindungen im Wege wie in Frankreich. Sicher hatte es auch in Deutschland vor 1914 deutliche Vereinheitlichungsund Verflechtungstendenzen im Bürgertum gegeben. Der alte Bildungsvorsprung der akademischen Beamten, der freien Berufe, der Hochschul- und Oberschullehrer schmolz immer mehr dahin. Die Unternehmer wurden gebildeter: Ein wachsender Anteil von ihnen waren Hochschulabsolventen, allen voran die Manager, die schon vor 1914 in ihrer erdrückenden Mehrheit an Universitäten und Technischen Hochschulen ausgebildet wurden. Wichtiger noch war, dass sich Unternehmerfamilien etwas enger mit dem Bildungsbürgertum verflochten. Um 1864 stammte nur jeder fünfundzwanzigste Professor, um 1910 schon jeder zehnte Professor aus einer Unternehmerfamilie. Unter den Spitzenbeamten Westfalens stammte im ersten Jahrhundertdrittel nur jeder dreißigste, ab der Jahrhundertwende jeder fünfte aus einer Unternehmerfamilie. Je nach deutscher Region hatte jeder fünfte bis dritte höhere Beamte, fast jeder fünfte Richter (etwa in Sachsen) diesen Hintergrund. Unternehmersöhne im Rheinland und in Westfalen gingen immer häufiger Ehen mit Töchtern aus freiberuflichen und höheren Beamtenfamilien ein. Die Trennungslinien des Bildungsbürgertums gegenüber den Unternehmern waren um die Jahrhundertwende ohne Zweifel nicht mehr so krass wie oft noch in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts.14 Im Vergleich zu Frankreich blieben aber die Trennlinien zwischen Unternehmern und dem übrigen Bürgertum auch um die Jahrhundertwende auffällig scharf. Schon in der Schule und in der Hochschule war das deutsche Bürgertum weniger geschlossen als das französische Bürgertum: In der Ausbildung gingen in Deutschland die Unternehmer besonders ab der Jahrhundertwende andere Wege als die höheren Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte, Pfarrer, Lehrer und Professoren. Die Unternehmer und ihre Söhne besuchten eher die modernen Realoberschulen oder Realgymnasien und danach die technischen Universitäten. Das Bildungsbürgertum und seine Söhne hingegen gingen eher an die Gymnasien und danach eher an die philosophischen und juristischen Fakultäten der Universitäten. In Frankreich hingegen trafen sich die Bürgersöhne viel häufiger an den gleichen Ausbildungsinstitutionen. Sie gingen eher zusammen an das lycée und waren auch danach an den grandes écoles viel weniger separiert als in Deutschland.15 Die stärkere Spezialisierung der deutschen Hochschulausbildung hat diesen Unterschied weiter verstärkt. 14 Einzelne Belege aus: Henning, Beamtenschaft, S. 111 ff.; H. ­Kaelble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 50, 76, 90 (Professoren, höhere Beamte); Berger, Ergebnisse der Landesverbandsstatistik. Allgemeine Lage und Herkunft der höheren Beamten Sachsens, in: Amt und Volk 2 (1928), S. 224 (Richter Sachsen 1922, überwiegend vor 1914 rekrutiert). 15 F.  Ringer, Education and Society in Europe, Bloomington 1979, S. 157 ff.; ders., Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland 1800–1960, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 5–35, hier S. 35; zu berücksichtigen auch: P. Lundgreen, Bildung und Besitz – Einheit oder Inkongruenz in der europäischen Sozialgeschichte, in: ebd., 7 (1981), S. 262–275.

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Noch schwerwiegender für den Unterschied zum französischen Bürgertum war die Einseitigkeit der Verflechtungen im deutschen Bürgertum. Zwar strömten immer mehr Unternehmersöhne in das Bildungsbürgertum, aber umgekehrt blieben die Unternehmer im deutschen Bürgertum recht isoliert, weit isolierter als die französischen Großunternehmer. Das deutsche Bildungsbürgertum drängte nicht in die Wirtschaft. Nur etwa jeder zehnte Großunternehmer stammte um die Jahrhundertwende aus dem Bildungsbürgertum, nicht mehr als schon im frühen 19.Jahrhundert. In Frankreich hingegen kam 1912 etwa jeder vierte Großunternehmer aus höheren Beamten- und freiberuflichen Familien. Die innere Verflechtung des französischen Bürgertums war auch in dieser Hinsicht stärker. Möglicherweise gab es in Deutschland auch tiefere Gräben in den Heiratskreisen. Nicht nur die Töchter der bürgerlichen Multimillionäre, für die ein Arzt, ein Rechtsanwalt, ein höherer Beamter keine besonders gute Partie gewesen sein mag, sondern auch die Töchter der Masse der größeren Unternehmer liierten sich selten mit dem Bildungsbürgertum. Sicherlich waren Unternehmer und Bildungsbürger vor 1914 auch in Deutschland keine getrennten Welten mehr, im Vergleich zu Frankreich hielten sich jedoch erstaunlich tiefe Gräben. Eine soziale Klasse des Bürgertums gab es in Deutschland in geringerem Ausmaß.16 Es sieht so aus, als ob vier sehr unterschiedliche Gründe für diese Hetero­ genität des deutschen Bürgertums verantwortlich sind. Auf der einen Seite gab es einen traditionellen Grund. Stärker als in Frankreich scheinen sich die Spitzenbeamten und die Bildungselite gegenüber den neuen Wertvorstellungen und Hierarchien der Industrialisierung abgeschottet und der aufkommenden industriellen Gesellschaft, dem Gewinn- und Wachstumsdenken der Unternehmer, den Industriestädten, den neuen sozialen Hierarchien, in denen Einkommen und wirtschaftliche Leistung und weniger Bildung zählten, skeptisch, wenn nicht sogar feindselig gegenübergestanden zu haben. Diese alte bürgerliche Oberschicht aus der Zeit vor der industriellen Revolution hatte in der neuen gesellschaftlichen Rangordnung erhebliches soziales Prestige und Ansehen zu verlieren. Sie sah deshalb die Industrialisierung auch als eine Krise ihrer wirtschaftlichen Lage an. Große Teile des Bildungsbürgertums reagierten in dieser Krisenangst und Anpassungsträgheit auf die Industrialisierung durch Abschottung, durch eine Verweigerung neuer Bildungsinhalte an den Oberschulen

16 Vgl. für Deutschland: Henning, Beamtenschaft, S. 122 (Heiratsverflechtungen); ­Kaelble, Wie feudal, S. 155 ff.; ders., Soziale Mobilität und Chancengleichheit, S. 104, 228 ff.; Henning, Verflechtungen; für Frankreich: M. Lévy Leboyer, Le patronat français, 1912–1973, in: ders. (Hg.), Le patronat de la seconde industrialisation, Paris 1979, S. 142; C. Charle, Les milieux d’affaires dans la structure de la classe dominante vers 1900, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Nr. 20/21 (1978), S. 87; vergleichend: Y. Cassis, Wirtschaftselite und Bürgertum. England, Frankreich und Deutschland um 1900, in: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1988, Bd. 2, S. 9–34; A. Daumard, Les Bourgeois et la bourgeoisie en France, Paris 1987.

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und Hochschulen, durch zähes Festhalten an der klassischen, humanistischen Bildung, auf der ihr Prestige aufbaute, durch soziale Verachtung der unternehmerischen Werte und Ein­stellungen, durch Modernitätsängste und eben auch durch soziale Abschließung in der Berufswahl ihrer Söhne und der Heirat ihrer Töchter.17 Diese Abschließung des Bildungsbürgertums gegenüber den Unternehmern in Deutschland fiel auch den zeitgenössischen französischen Beobachtern auf. Henri Lichtenberger, Professor an der Sorbonne, schrieb 1908 in seinem Reisebericht über Deutschland: »An Stelle der alten Geburts- und Kulturaristokratie erhebt sich ein neuer Unternehmeradel, der Verdienst und Rang nach der Geschäftskenntnis und den Erfolgen einschätzt. Selbstverständlich hat diese Entwicklung noch lange nicht ihre letzten Konsequenzen gezogen und es bestehen noch zahlreiche alte Gesellschaftsgruppen inmitten der modernen Gesellschaft ziemlich unberührt fort. So ist der Teil der Bourgeoisie, der den ›freien Berufen‹ obliegt, die Geistlichkeit, die höheren Lehrkräfte, die Beamten und Offiziere, vom Unternehmergeist noch kaum berührt«.18 Umgekehrt bemerkten auch deutsche Beobachter den Unterschied zum in sich geschlosseneren französischen Bürgertum und die geringeren Vorbehalte der französischen Bildungselite gegenüber der Wirtschaft. Der Nationalökonom Werner Sombart konstatierte, dass »die Intelligenz des Landes bei uns der Bourgeoisie viel fremder gegenübersteht als anderswo.«19 »In Frankreich«, schrieb ein damals in Deutschland viel gelesener Kenner der Gesellschaft jenseits des Rheins, »decken sich Bildung und Besitz mehr als bei uns.«20 Die engere Verflechtung von Akademikern und Unternehmern in Frankreich baute auf einem zweiten, ebenfalls eher traditionellen Grund auf: der etablierten Schicht der notables, die in Frankreich viel ausgeprägter war als in Deutschland. Die notables waren während der langen Übergangszeit zwischen Ancien régime und moderner kapitalistischer Gesellschaft die Oberschicht vor allem in der Provinz, außerhalb der eigentlichen Großstädte, auf dem Land und in den kleineren Städten. Diese Notablenschicht bestand aus sehr unterschiedlichen Sozialgruppen, aus Landadligen ebenso wie aus frühen Unternehmern, 17 Vgl. für dieses Argument: F. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983; H. Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–315; D. Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: J. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum, T. 4, erscheint Stuttgart 1989; A. Lees, Cities perceived. Urban Society in European and American Thought, 1820–1940, Manchester 1985, S. 140 ff., 181 ff., 196 ff., 311 (besonders starke, meist bildungsbürgerliche Großstadtfeindschaft in Deutschland); O. v. Simson, Der Blick nach innen, Berlin 1986 (für Innerlichkeit und Modernitätsferne bestimmter Strömungen der deutschen Malerei); W. Lepenies, Die drei Kulturen, München 1987. 18 Lichtenberger, Das moderne Deutschland, S. 56. 19 Sombart, Volkswirtschaft, S. 450. 20 O. A. H.  Schmitz, Das Land der Wirklichkeit der französischen Gesellschaftsprobleme, München 1914, S. 225.

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aus Ärzten, Rechtsanwälten und bürgerlichen Großgrundbesitzern. Charakte­ ristisch für sie war ihr Besitz, ihre Herkunft aus Notablenfamilien, ihr auf ihre Region beschränkter beruflicher Horizont, aber auch ihr Fachwissen. Ihr beherrschender politischer Einfluss beruhte teils auf dem Zensuswahlrecht, teils aber auch auf der für traditionelle Gesellschaften kennzeichnenden Hinnahme der politischen Führungs- und Machtansprüche der Oberschicht. Diese Notablen­ schicht, die sich in Frankreich während der frühen Dritten Republik aufzulösen begann, in manchen Orten aber noch bis in die Zwischenkriegszeit hinein fortbestand, war noch kein modernes Bürgertum, da die Unternehmer nicht der dynamische Kern dieser Oberschicht waren. Die Werte der Notablen waren eher traditionell, stärker auf gesicherte Besitzeinkünfte als auf Unternehmensexpansion ausgerichtet. Die notables waren allerdings auch keine Oberschicht des Ancien régime mit Bindungen an feudale Rechte. Sie waren gewiss nicht unbedingt Träger liberaler, vor allem nicht republikanischer Ideen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist aber, dass sich in dieser Notablenschicht schon seit dem frühen 19. Jahrhundert Wirtschaftsbürgertum, Akademiker und Landbesitzer sozial verflochten und politisch gemeinsam handelten, in einer Zeit, in der in wichtigen Teilen Deutschlands Unternehmer, Beamte und Landadel scharf getrennte Sozialgruppen waren. Die engere Verflechtung des modernen französischen Bürgertums hatte daher ihre Vorgeschichte schon in der engen inneren Verflechtung der notables.21 Verstärkt wurde die schärfere Isolierung der Unternehmer im deutschen Bürgertum durch eine sehr moderne Entwicklung: die Entstehung der Großunternehmen. Der klassische Unternehmer der industriellen Revolution der 1850er und 1860er Jahre war von seiner wirtschaftlichen Macht her noch ganz im städtischen Bürgertum verwurzelt. Sein Unternehmen hatte höchstens ein paar tausend Beschäftigte. Es war meist noch ein lokaler Betrieb und eng an eine einzige Stadt gebunden, seine Leitung noch relativ einfach. Das Vermögen dieser Unternehmer war höchstens im Rahmen der Stadt, in der man ansässig war, beeindruckend, selten dagegen im nationalen Rahmen. Diese Unternehmer waren daher noch fest im lokalen städtischen Bürgertum integriert, stammten aus ihm, heirateten in ihm, hatten ihre wichtigen sozialen Kontakte, das Museum, die Ressource, die Vereine mit dem übrigen städtischen Bürgertum oder Kleinbürgertum und waren oft zusammen mit anderen Mitgliedern des Bürgertums in der städtischen Selbstverwaltung aktiv. Man kann gar nicht genug unterstreichen, wie stark sich die neuen Großunternehmer, die seit den 1880er Jahren aufkamen, von diesem traditionellen Unternehmer der industriellen Revolution unterschieden. Sie leiteten Unternehmen mit zigtausend Beschäftigten, die – zusammen mit ihren Angehörigen – größer waren als die Mehrzahl der deutschen Städte. Diese Unternehmen produzierten oft an mehreren Orten. 21 Vgl. für die notables: J.-M. Mayer, Les débuts de la Troisième République 1871–1899, Paris 1973, S. 9 ff.; W. Mager, Frankreich vom Ancien Régime zur Moderne, Stuttgart 1980, S. 195 ff.; A. Jardin u. A. J. Tudesq, La France des notables, 1815–1848, Bd. 2, Paris 1973, S. 220 ff.

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Ihre Besitzer waren daher nur noch selten in bestimmte städtische Gesellschaften eingebunden. Die Leitung dieser Unternehmen war kompliziert und für das übrige Bürgertum meist schwer verständlich. Ihrer wirtschaftlichen Macht und ihrem Vermögen nach hatten diese Unternehmer nur noch wenig mit den städtischen freien Berufen, Beamten, Lehrern gemeinsam. Sie standen weit über ihnen und gehörten nun zu den Reichsten und wirtschaftlich Mächtigsten der deutschen Gesellschaft. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren diese Großunternehmer unter den Multimillionären in Deutschland schon in der Mehrheit. Dieser wachsende wirtschaftliche Abstand zwischen Großunternehmern und übrigem Bürgertum lockerte auch die sozialen Bindungen, die Heiratskreise, die Berufswahl der Söhne, die einst engen sozialen Kontakte. Die Großunternehmer selbst oder spätestens ihre Söhne entwickelten nach und nach auch einen eigenen Lebensstil, mit dem sie sich vom übrigen Bürgertum abhoben und abgrenzten. Mit schlossartigen Villen, mit glänzenden Empfängen und Soireen, mit luxuriösem Lebensstil unterschieden sie sich vom klassischen Bürgertum. Das allerdings unmittelbar als Unterwerfung unter adligen Stil zu verstehen, ist in vielen Fällen übereilt und missverständlich. Es war der sicher oft eklektizistische und zusammengewürfelte Lebensstil einer neuen bürgerlichen Oberschicht, die sich vom übrigen Bürgertum ebenso distanzierte wie vom Adel. Sie entstand sicherlich auch in Frankreich. Doch scheinen diese Großunternehmen in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg rascher expandiert und andere Größenordnungen erreicht zu haben als dort. Auch die modernen wirtschaftlichen Gründe für die Lockerung der Bindungen dieser neuen Oberschicht an das Bildungsbürgertum scheinen daher in Deutschland stärker gewesen zu sein. Auf den ersten Blick mag dieses Argument von den stärkeren inneren Spaltungen des deutschen Bürgertums erstaunlich klingen. Auch das französische Bürgertum wird immer als stark gespalten angesehen, allerdings in Formen, die es in Deutschland auf den ersten Blick so nicht gab: die Trennung verlief zwischen dem Bürgertum von Paris und dem der Provinzen und weiter zwischen katholischem und laizistischem Bürgertum. Trotzdem wogen diese Unterschiede die ganz anders gearteten Trennlinien zwischen deutschen Unternehmern und den staatsnahen Teilen des deutschen Bildungsbürgertums nicht auf, weil es zusätzlich dazu auch im deutschen Bürgertum starke kirchliche und regionale Trennlinien gab: die zwischen dem protestantischen Bürgertum, dem neuerdings in Teilen recht gut erforschten jüdischen und dem noch kaum untersuchten katholischen Bürgertum; weiter zu beachten sind die starken regionalen Unterschiede etwa zwischen Ruhrmagnaten, hanseatischen Kaufleuten, sächsischen Industriellen, die sich vor 1914 in Deutschland nicht in einem gemeinsamen Interessenverband finden konnten, aber auch zwischen einem wachsenden Prestige der Berliner Bankiers, Hochschullehrer, Spitzenbeamten, Maler und Schriftsteller gegenüber der Provinz. Diese Trennlinien mögen oft komplizierter gewesen sein als die einfacheren Gegensätze in Frankreich; sie haben das Bürgertum aber auch in Deutschland sozial und politisch über den Gegensatz zwischen Unternehmern und Bildungsbürgertum hinaus geteilt. Sicher waren sie auch in 62

Deutschland nicht stark genug, um an der Existenz einer sozialen Klasse des Bürgertums zu zweifeln, aber das deutsche Bürgertum erscheint um 1900 doch wesentlich uneinheitlicher.22

III. Die stärkere Zersplitterung des deutschen Bürgertums durch den Staat Wir kommen zum dritten Unterschied: Das Bürgertum in Deutschland war weiterhin auch deshalb keine in sich so eng verflochtene soziale Klasse wie in Frankreich, weil der deutsche Staat stärker in die Welt des Bürgertums eingriff und dabei besonders das Berufsleben und die soziale Rangordnung des Bürgertums stark reglementierte und steuerte. Auch wenn dies dem Staat nicht immer erfolgreich gelang, war das Bürgertum doch auch dadurch stärker in sich zersplittert als in Frankreich. Diese Reglementierung durch den Staat begann in Deutschland bei der für französische Verhältnisse unvorstellbaren intensiven staatlichen Kontrolle bürgerlicher Berufstätigkeit. Besonders deutlich war dies vor 1914 beim Rechtsanwaltsberuf. Rechtsanwälte wurden seit der Einführung einer einheitlichen deutschen Rechtsanwaltsordnung 1879 überall in Deutschland bei ihrer Berufstätigkeit staatlich sehr genau überwacht. Schon ihre Prüfungen legten sie vor einer staatlichen Prüfungskommission, nicht vor einer Kommission aus Universitätslehrern oder Rechtsanwälten ab. Ihre Berufsausbildung erhielten sie als staatliche Referendare, nicht in einem Rechtsanwaltsbüro. Die Zulassung zum Rechtsanwalt entschied die staatliche Justizverwaltung, nicht die zukünftigen Berufskollegen. Die Berufsausübung wurde zwar durch ein Ehrengericht aus Berufskollegen überwacht, aber selbst vor diesem Ehrengericht hatten nur Staatsanwälte Anklagerecht. Die Voruntersuchung hatte ein staatlicher Richter zu führen, Berufungsinstanz war ein staatliches Gericht. Rechtsanwälte hatten zudem in Preußen, wenn sie gleichzeitig Notare waren, einen beamtenähnlichen Status und wurden deshalb bei den Berufszählungen einfach als Beamte mitgezählt. Der Rechtsanwaltsberuf war überall in Deutschland kein wirklich »freier« Beruf. Gegen diese staatliche Kontrolle gab es unter deutschen Rechtsanwälten um die Jahrhundertwende nur begrenzt Opposition. Sie bot den Rechtsanwälten auch Vorteile; so schützte sie vor Konkurrenz, verschaffte ihnen ein sicheres Einkommen und hob ihr soziales Prestige. Zwar brachte die Rechtsanwaltsordnung 22 Zu der wachsenden Bedeutung Berlins und seines Bürgertums vor 1914 vgl. die Beiträge von W. Fischer, M. Stürmer, T. Nipperdey, W. Knopp, J. Kocka, in: Berlin und seine Wirtschaft, Berlin 1987; zu den Besonderheiten des jüdischen Bürgertums in Deutschland: W. Mosse, Jews in the German Economy. The German-Jewish Elite, 1820–1935, Oxford 1987; S. Volkov, Jüdische Assimilation und jüdische Eigenart im deutschen Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 331–348.

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von 1879 für die preußischen Rechtsanwälte eine spürbare Liberalisierung der zuvor noch rigideren staatlichen Berufskontrolle. Auf jeden Fall hat die staatliche Kontrolle der Rechtsanwälte auch noch um die Jahrhundertwende dazu geführt, dass sich ihre Berufstätigkeit nach anderen Regeln abspielte als die des übrigen Bürgertums und schon deshalb Gräben im deutschen Bürgertum gezogen waren.23 Staatliche Berufskontrolle gab es in schwächerem Ausmaß auch bei den deutschen Ärzten. Sie hatte sich zwar besonders in den 1860er Jahren stark abgemildert, war aber im späten 19. Jahrhundert wieder etwas stärker geworden. Auch hier geschah das mit Unterstützung der Mehrheit dieses Berufsstandes und auf Druck ärztlicher Interessenverbände. Auch Ärzte legten seitdem ihre Abschlussprüfungen vor einer staatlichen Kommission, nicht vor einer Kommission aus Universitätslehrern oder eigenen Berufskollegen ab. Auch bei Ärzten wurde die Zulassung zum Beruf, die Approbation, durch eine staatliche Behörde, nicht durch kollegiale Kooptation erteilt. Über ihre Berufstätigkeit wachte ein staatliches Ehrengericht, und sie waren in staatlich anerkannten Kammern organisiert. Mit Sicherheit war der Einfluss des Staates schwächer als bei Rechtsanwälten, aber auch den Ärzten verschaffte er einen Schutz vor Konkurrenz, ein gesichertes Einkommen und eine Aufwertung des eigenen Berufs. Auch hier gab es für einen bürgerlichen Beruf besondere staatliche Regeln, die ihn in gleicher Weise von den Beamten wie von den Unternehmern unterschieden und den Unterschied innerhalb des deutschen Bürgertums verschärften.24 Sicherlich ist der schärfste kontinentaleuropäische Kontrastfall zu Deutschland nicht so sehr Frankreich als vielmehr die Schweiz, in der der Staat besonders wenig in die bürgerlichen Berufe eingriff und die freie Konkurrenz daher viel stärker gemeinsames Prinzip der Berufstätigkeit und auch gemeinsame bürgerliche Ideologie blieb als in Deutschland.25 Trotzdem ist auch der Unterschied zu 23 Vgl. mit Hinweis auf weiterführende Literatur: H. Siegrist, Gebremste Professionalisierung. Das Beispiel der Schweizer Rechtsanwaltschaft im Vergleich zu Frankreich und Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: W. Conze u. J. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T. 1, Stuttgart 1985, S. 301–331; ders., Die Rechtsanwälte und das Bürgertum. Deutschland, die Schweiz und Italien, in: J.  Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1988, Bd., S. 92–123; ders., Advokat, Bürger und Staat. Sozialgeschichte der Rechtsanwälte in Deutschland, Italien und der Schweiz (18.–20. Jh.), 2 Bde., Frankfurt 1996. 24 C. Huerkamp, Ärzte und Professionalisierung in Deutschland. Überlegungen zum Wandel des Arztberufs im 19. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 6 (1980), S. 361 ff., 377 ff.; dies., Die preußisch-deutsche Ärzteschaft als Teil des Bildungsbürgertums. Wandel in Lage und Selbstverständnis vom ausgehenden 18.Jahrhundert bis zum Kaiserreich, in: Conze u. Kocka, Bildungsbürgertum, S. 379; dies., Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, Göttingen 1985, S. 254 ff.; R. Neuhaus, Arbeitskämpfe, Ärztestreiks, Sozialreformer. Sozialpolitische Konfliktregelungen 1900 bis 1914, Berlin 1986; M. Ramsey, The Politics of Professional Monopoly in 19th Century Medicine. The French Model and its Rivals, in: G. L. Geison (Hg.), Professions and the French State, 1700–1900, Philadelphia 1984, S. 254 ff., 269 ff. 25 Vgl. Siegrist, Gebremste Professionalisierung, S. 314 ff.; R. Braun, Zur Professionalisierung des Ärztestandes in der Schweiz, in: Conze u. Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum, S. 332–357.

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Frankreich in der Berufstätigkeit des Bürgertums noch erheblich. Am stärksten war der Gegensatz bei den Rechtsanwälten. Sie waren um die Jahrhundertwende in Frankreich gegenüber dem Staat weit autonomer als in Deutschland. Zukünftige Advokaten legten ihre Prüfung vor universitären, nicht vor staatlichen Prüfern ab. Ihre Berufsausbildung erhielten sie in einer stage, einem Praktikum bei Rechtsanwaltbüros und in Kursen, die von der Advokatenorganisation eingerichtet wurden, nicht durch den Staat. Über die Zulassung zum Beruf entschied ein Advokatenkollegium, keine staatliche Verwaltung. Die Berufstätigkeit wurde von einem Ehrengericht aus Berufskollegen kontrolliert. Nur in schweren Fällen – etwa dem völligen Berufsverbot – konnte dagegen vor einem staatlichen Gericht geklagt werden. Selten anderswo auf dem europäischen Kontinent waren Advokaten autonomer als in Frankreich. Trotz wiederholter Versuche des französischen Staates, die Berufstätigkeit der Advokaten stärker zu kontrollieren, hatten sie sich diese seit Louis Philippe bestehende und auf vorrevolutionäre Traditionen zurückgreifende Autonomie vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend erhalten können.26 Schwächer, aber immer noch deutlich unterschied sich um 1910 der Arzt­ beruf in Frankreich von dem in Deutschland. Auch Ärzte wurden in Frankreich weniger vom Staat kontrolliert und regelten ihre Ausbildung, ihre Berufszulassung und ihre Berufsausübung viel stärker unter sich. Sie legten ihre Examen vor universitären, nicht vor staatlichen Prüfern ab und entschieden stärker als in Deutschland über die Zulassung zum Beruf in eigenen, vom Staat kaum kontrollierten Kollegien. Sie kontrollierten ihre Berufstätigkeit selbst und waren gegenüber staatlichen Kontrollen weitgehend autonom.27 Insgesamt war das französische Bürgertum in seiner Berufsausübung autonomer und weniger vom Staat kontrolliert als das deutsche Bürgertum. Die berufliche Ausbildung, die Zulassung zu bürgerlichen Berufen, die Kontrolle der Qualität der Leistungen einzelner bürgerlicher Berufe blieb stärker in der Hand des Bürgertums selbst. Bei der Einschätzung der Wirkung der bürgerlichen Französischen Revolution muss man allerdings genau differenzieren. Sie hatte alle berufsständischen Organisationen völlig abgeschafft und vor allem bei der Advokatur, dem ältesten und damals allein voll entwickelten freien Beruf, das reine marktwirtschaftliche Prinzip ohne jegliche Kontrolle des Arbeitsmarkts und der Qualität der freien Berufe durchgesetzt. In einem klaren Bruch mit der Französischen Revolution war es dann den französischen Advokaten unter Louis Philippe gelungen, mächtige Standesorganisationen gesetzlich durchzusetzen und damit an vorrevolutionäre Traditionen anzuknüpfen. Die Advokaten­ organisation war darin Vorreiter für andere freie Berufe. Was jedoch in scharfem Gegensatz zu Deutschland in Frankreich seit der Französischen Revolution 26 Vgl. Siegrist, Gebremste Professionalisierung, S. 393 ff.; J.-L. Debré, La Justice au XIXe siècle. Les républiques des avocats, Paris 1984. 27 J.  Léonard, La vie quotidienne du médecin de province au XIX siècle, 2 Bde, Paris 1977; Ramsey, Medicine.

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blieb, war der tiefe Bruch des französischen Bürgertums mit staatlicher, an den Absolutismus erinnernder Kontrolle, gegen die es sich im ureigensten Feld der Berufsausübung weit erfolgreicher zur Wehr setzte und im Unterschied zu Deutschland auch zur Wehr setzen wollte. Auf dieser Errungenschaft der Autonomie des eigenen Berufs gegenüber dem Staat baute in Frankreich ein gemeinsames Bewusstsein des Bürgertums auf. In Deutschland dagegen fehlte es und war höchstens als mühseliger Kompromiss sehr unterschiedlicher bürgerlicher Berufsinteressen zu erreichen. Verschärfend kommt hinzu, dass um 1910 in Deutschland der Staat nicht nur viel stärker als in Frankreich in die bürgerliche Berufstätigkeit, sondern auch in die bürgerlichen sozialen Hierarchien eingriff und auch dabei das Bürgertum als soziale Klasse aufsplitterte. Vor allem durch eine Politik komplizierter Orden und Titel haben die Monarchien in Deutschland versucht, das Bürgertum in sich zu gliedern und über Vermögen und Einkommen hinaus feine, staatlich bestimmte Unterschiede zu schaffen. Eine gewisse Rolle spielten dabei Nobilitierungen von Bürgerlichen, die allerdings in Deutschland vergleichsweise selten waren und keine gewichtige Schicht von Amts- und Briefadligen schufen wie sie in Frankreich durch die Napoleonische Ära, durch die Ära Louis ­Philippes und durch das Zweite Empire entstanden war. Wichtiger war das System von Ratstiteln, mit deren Verleihung der Zugang zum Hofe geöffnet wurde, über die direkt nach 1848 und während der 1860er Jahre politische Kontrolle ausgeübt wurde und die nicht nur eine staatlich bestimmte Crème des Bürgertums heraushob, sondern auch das Bürgertum in sich teilte: Für jeden bürgerlichen Beruf gab es eigene Ratstitel. Für Mediziner den Medizinalrat, für Unternehmer den Kommerzienrat, für Juristen den Justizrat, die von jeweils anderen Ministerien verliehen wurden. Darüber hinaus entwickelte der Staat in Deutschland ein kompliziertes System von Ehrungen. Neben städtischen Ehrenämtern und universitären Ehrentiteln gab es ein vielgliedriges System von politischen Orden. Allein Preußen hatte vier verschiedene Verdienstorden, die wiederum zum Teil in mehrere verschiedene Klassen eingeteilt wurden: den Roten Adlerorden, den Schwarzen Adlerorden, den Kronenorden und den Hohenzollernorden. Diesem Beispiel folgten auch die kleineren deutschen Bundesstaaten. Sachsen etwa vergab ebenfalls dreierlei Orden: den Albrechtsorden, den Heinrichsorden und den Verdienstorden. Zwischen all diesen Orden bestand eine komplizierte Rangordnung. Einige dieser Orden wurden nur an bestimmte Personenkreise verliehen, so der preußische schwarze Adlerorden, der nur an Beamte und Militärs vergeben wurde und mit der Nobilitierung verbunden war, oder der sächsische Heinrichsorden, den nur Offiziere bekamen. Schließlich spielte zumindest in Preußen auch das Reserveoffizierspatent für die soziale Hierarchie im Bürgertum eine wichtige Rolle. Zusammengenommen gelang es dem Staat in Deutschland, die wirtschaftlichen Unterschiede mit einem komplizierten Netz von feinen staatlichen Unterschieden zu überdecken. In der deutschen Öffentlichkeit galten diese staatlich geschaffenen sozialen Unterschiede oft mehr als wirtschaftliche Leistung und Vermögen. Das fiel auch zeitgenössi66

schen französischen Beobachtern stark auf. »Die Vorliebe für Titel«, schrieb 1887 Jules Laforgue, fünf Jahre lang Vorleser für Französisch der damaligen Kaiserin, »ist einer der in Frankreich bekanntesten Charakterzüge der Deutschen … Die preußische Rangordnung zählt dreiundvierzig Kategorien (ein Abgeordneter ist in der vierzigsten Kategorie, er kommt nach den niedrigen Hofoffizieren).«28 In Frankreich hingegen war das System von staatlichen Orden und Titeln sehr viel einfacher und schwächte den Zusammenhalt des Bürgertums als sozialer Klasse weniger. Offizielle Nobilitierungen gab es in der Dritten Republik nicht mehr. Das Offizierspatent war in Frankreich nicht angesehen genug, als dass man damit feine soziale Unterschiede hätte ziehen können. Ratstitel, die das Bürgertum in verschiedene Berufsgruppen aufteilten, fehlten ebenfalls. Es gab nur einen einzigen Orden, die Legion d’honneur, die in fünf Klassen verliehen wurde. Dieser Orden wurde im Prinzip an alle Mitglieder der Gesellschaft verliehen und spaltete das Bürgertum nicht auf. Weit wichtiger als in Deutschland waren daneben die öffentlichen Wahlämter, vor allem das Bürgermeisteramt und das Amt des Parlamentsabgeordneten. Mit diesen Ämtern kam man an die Spitze der lokalen städtischen oder regionalen Gesellschaft. Auch in Frankreich galt nicht allein der wirtschaftliche Erfolg und das Vermögen, aber die feinen Unterschiede machten die Ämter, über die das Bürgertum politischen Einfluss nahm, und Orden, die bürgerlich-republikanisch waren. Diese Ehrenämter und Orden verstärkten daher eher den Zusammenhalt des französischen Bürgertums als sozialer Klasse und zersplitterten es nicht wie die Orden, Titel und Ränge in Deutschland.

IV. Andere Sozialstrukturen und andere Sozialkonflikte Die Entwicklung liberaler Bürgerlichkeit fiel um die Jahrhundertwende in Frankreich und Deutschland schließlich auch deshalb auseinander, weil das Bürgertum in Deutschland einer anderen Sozialstruktur und anderen Sozialkonflikten gegenüberstand als in Frankreich. Auch in dieser Hinsicht waren die Kontraste zwischen Deutschland und Frankreich im europäischen Rahmen schärfer als um 1850, weit schärfer als heute und schärfer als zwischen den meisten anderen damaligen europäischen Ländern ähnlicher wirtschaftlicher Entwicklung. Besonders zwei Unterschiede fallen dabei ins Gewicht: die geringere Stärke des wirtschaftlich selbständigen Kleinbürgertums und die größere Massiertheit der Industriearbeiter in Deutschland, auch die beeindruckendere organisatorische Stärke der Arbeiterbewegung; beides erklärt die geringere Ausstrahlungskraft des bürgerlichen Modells und daher die größere Resistenz der 28 J. Laforgue, Berlin, der Hof und die Stadt (1887), Frankfurt 1970, S. 60.

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Adelskultur, aber auch der Arbeiterkultur gegenüber der bürgerlichen Kultur in Deutschland. Erstens sah sich das deutsche Großbürgertum um die Jahrhundertwende einer Schichtenstruktur gegenüber, die seine soziale Situation als erheblich unsicherer und instabiler erscheinen ließ als in Frankreich, und zwar vor allem deshalb, weil das wirtschaftlich selbständige Kleinbürgertum und die selbständigen Landwirte in Deutschland vergleichsweise wesentlich schmälere Schichten waren als in Frankreich. Nur ungefähr jeder vierte bis fünfte Erwerbstätige – also eine klare Minderheit – gehörte in Deutschland zu dieser sozialen Schicht. In Frankreich hingegen umfasste diese Schicht fast die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung. Es ist wichtig, dass dabei nicht nur die selbständigen Landwirte, sondern auch das dem Bürgertum näherstehende, städtische, gewerbliche und kommerzielle Kleinbürgertum, die Handwerksmeister, die kleinen Kaufleute, die Gastwirte, die Fuhrunternehmer in Deutschland zahlenmäßig relativ schwächer waren als in Frankreich. Der Grund liegt vor allem darin, dass diese kleinbürgerliche Schicht in Deutschland mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt hielt und deshalb zwar nicht ihre Zahl, aber ihr gesellschaftliches Gewicht abnahm, während sie sich im langsameren französischen Bevölkerungswachstum durchaus hielt. Sicher lebte nur ein Teil der Selbständigen, die von den Statistischen Ämtern gezählt wurden, in wirtschaftlich wirklich sicherer bürgerlicher Existenz. Ein beträchtlicher Teil dürfte sich dagegen aus unterschiedlichen Gründen in einer Lebenslage befunden haben, die sie von Arbeitern wenig unterschied. Selbst wenn man diese statistisch schwer präzisierbare Einschränkung macht, bleibt doch das Faktum, dass in Deutschland ein wesentlich geringerer Teil der Bevölkerung seine Existenz auf wirtschaftliche Selbständigkeit gründete und dass daher auch die Ausstrahlungskraft der Mentalitäten und Umgangsformen, die sich mit wirtschaftlicher Selbständigkeit verbanden, in Deutschland wesentlich schwächer war. Das Großbürgertum konnte sich in Deutschland viel weniger als in Frankreich auf das beruhigende Sicherheitspolster eines breiten Kleinbürgertums stützen.29 Gleichzeitig stand das Großbürgertum in Deutschland um die Jahrhundertwende einer wesentlich massiveren Arbeiterschaft gegenüber als in Frankreich. Während dort nur etwa ein gutes Drittel der Erwerbsbevölkerung als Arbeiter gezählt wurde, war es in Deutschland erheblich mehr als die Hälfte. Sicher gehörten bei weitem nicht alle diese Arbeiter zum modernen Industrieproletariat, von dem sich das Großbürgertum besonders stark bedroht gefühlt haben dürfte. Nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland war ein beträchtlicher 29 Für Zahlen, die allerdings aus definitorischen Gründen nur Annäherungswerte sind: P. Flora, State, Economy and Society in Western Europe, 1815–1975, Bd. 2, Frankfurt 1987, S. 498, 514; für die These: H.-G. Haupt, Große und kleine Bürger in Deutschland und Frankreich, in: J.Kocka, Hg., Bürgeartum im 19. Jahrhundert. Deutschkand im europäischen Vergleich, München 1988, Bd. 2, S.252–275; H.-G.Haupt u. G.Crossick, Dier Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998.

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Teil dieser Arbeiter in ländliche oder städtische häusliche Abhängigkeitsverhältnisse eingebunden oder Heimarbeiter oder zumindest Arbeiter in kleinen Unternehmen des Handwerks, des Handels, der persönlichen Dienste. Alle diese Arbeiter waren nur schwer für Arbeiterparteien mobilisierbar. In industriellen Unternehmen arbeitete auch in Deutschland erheblich weniger als die Hälfte dieser Arbeiter. Trotzdem traten die Industriearbeiter in Deutschland um die Jahrhundertwende in viel massiveren Zahlen als in Frankreich auf, hatte die industrielle Beschäftigung ein weit größeres Gewicht, gab es rein industrielle Arbeiterstädte wie Gelsenkirchen oder Ludwigshafen oder Kattowitz sehr viel häufiger als in Frankreich. Auf diese massivere Zahl von Industriearbeitern wurde deshalb das Großbürgertum in Deutschland nicht nur bei der Lektüre von Statistischen Jahrbüchern, sondern auch im städtischen Alltag gestoßen.30 Dieser Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland wurde auch durch die rasch wachsenden neuen Schichten der Angestellten oder Beamten nicht abgemildert. Nichts deutet darauf hin, dass Angestellte oder Beamte in Deutschland rascher zunahmen und um die Jahrhundertwende zahlenmäßig stärker waren als in Frankreich. Die Tätigkeitsbereiche dieser Zwischenschicht mögen in Frankreich sehr viel anders ausgesehen haben als in Deutschland, sie waren aber sicher nicht seltener. Zweitens sah sich das Großbürgertum in Deutschland – u. a. wegen dieser anderen Schichtenstruktur – auch mit viel massiveren (wenn auch nicht unbedingt radikaleren) Sozialkonflikten konfrontiert und hatte gleichzeitig weniger sichere politische Bündnispartner. Allein die sozialistische Gewerkschaftsbewegung besaß in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs rund zweieinhalb Millionen Mitglieder; fast jeder sechste abhängig Beschäftigte war damit in dieser weitaus stärksten, stark zentralisierten, schlagkräftigen, wenn auch politisch wenig radikalen Gewerkschaftsrichtung organisiert, einer der höchsten Organisationsgrade in Europa. Für Frankreich hingegen schätzt man die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder um 1910 nur auf etwa eine Million (des sozialistischen CGT sogar auf weniger als eine halbe Million); nicht einmal jeder zehnte abhängig Beschäftigte war in Gewerkschaften organisiert. Ähnliches traf für die sozialistischen Parteien zu: Die verbal radikale, stark zentralisierte deutsche SPD konnte am Vorabend des Ersten Weltkriegs über vier Millionen Wähler für sich mobilisieren, ein für das damalige Europa ebenfalls recht hoher und für das deutsche Bürgertum beängstigender Wahlerfolg. Die französische SFIO war ein sehr viel lockereres Bündnis aus verschiedenen Richtungen und konnte vor dem Ersten Weltkrieg höchstens anderthalb Millionen Wähler für sich gewinnen. Das deutsche Bürgertum sah sich daher einem erheblich besser organisierten Kontrahenten gegenüber als das französische Bürgertum.

30 Vgl. Flora, ebd.; A. Przeworski u. a., The Evolution of the Class Structure in France, 1­ 901–1968, in: Economic Development and Cultural Change 28 (1980), S. 725–752.

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Sicherlich darf man diesen Unterschied nicht falsch einschätzen, denn die Sozialkonflikte waren in Frankreich nicht unbedingt schwächer: Auf dem Höhepunkt der Streikwelle, die Frankreich und Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg erlebten, und die sich in damals noch unbekannter Größenordnung ausweitete, gab es in beiden Ländern Spitzen von rund einer halben Million Streikenden und rund 8 Millionen verlorenen Arbeitstagen jährlich. Da dahinter weniger französische Industriearbeiter standen als andere Arbeiter, hieß das sogar eher mehr Protestneigung in Frankreich als in Deutschland. Repressive Gegenmaßnahmen, der Einsatz von Polizei und Militär, wurden deshalb von den bürgerlichen Regierungen Frankreichs nicht milder, sondern eher härter gehandhabt als vonseiten deutscher Regierungen. Auch mit einem so traumatischen Erlebnis wie dem Aufstand der Commune, gegen den die französische Regierung nur durch Militäreinsatz die Kontrolle über die Hauptstadt zurückgewinnen konnte, und das noch lange nachwirkte, wurde so direkt nur das französische Bürgertum konfrontiert.31 Was die Situation des deutschen Bürgertums und des französischen Bürgertums zu Beginn unseres Jahrhunderts unterschied, war daher vor allem die solidere und bedrohlichere Organisation des Konfliktgegners. Sie dürfte das deutsche Bürgertum nicht nur für Staatsintervention empfänglicher gemacht haben, sondern zwang es auch zu rigideren Arbeitgeberverbänden und zu einer stärkeren Unterwerfung des individuellen Unternehmers unter die Leitungen 31 Vgl. für die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften: Y. Lequin, La montée des antagonismes collectifs, in: ders., Histoire des française XIXe et XXe siècles, Paris 1983, S. 455 f.; S. Mielke (Hg.), Internationales Gewerkschaftshandbuch, Opladen 1983, S. 342, 445 ff.; H. ­Kaelble, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft, München 1987, S. 84 (Bezogen auf die Industriearbeiter war der Unterschied zwischen beiden Ländern nicht sonderlich groß. Für die Zeitgenossen dürfte aber die absolute Zahl der Gewerkschaftsmitglieder beeindruckender gewesen sein); für die Parteimitglieder: H. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 19776, S. 104; für Wähler vgl. T. T. Mackie u. R. Rose The International Almanach of Electoral History, London 1984, S. 132, 152; Vergleiche der Arbeiterbewegung in beiden Ländern: J. Kocka, Die Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie im europäischen Vergleich, in: ders., Europäische Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 5–20; H.-G. Haupt, Staatliche Bürokratie und Arbeiterbewegung. Zum Einfluss der Polizei auf die Konstituierung von Arbeiterbewegung und Arbeiterklasse in Deutschland und Frankreich zwischen 1848 und 1880, in: J.  Kocka (Hg.), Arbeiter und Bürger im 19.Jahrhundert, München 1986, S. 219–254; ders. u. a., Der politische Streik, in: Jahrbuch der Arbeiterbewegung 1981, S. 13–53; F. Boll, Streikwellen im europäischen Vergleich, in: W. J. Mommsen u. H. G. Husung (Hg.), Auf dem Weg zur Massengewerkschaft, Stuttgart 1984, S. 109–134; M.-L. Christadler, Die geteilte Utopie. Sozialisten in Frankreich und Deutschland, Opladen 1985, S. 11–24; S. Jauch u. a., Gewerkschaftsbewegung in Frankreich und Deutschland. Ein kontrastiver Vergleich ihrer zentralen Merkmale bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt 1984; für die recht reichhaltige, über Frankreich und Deutschland hinausgehende Literatur zum internationalen Streik- und Gewerkschaftsvergleich vgl. besonders: K. Tenfelde (Hg.), Arbeiter und Arbeiterbewegung im Vergleich, München 1986; für die Wirkung, aber auch die Grenzen des Traumas der Commune in der französischen Bourgeoisie: H.-G. Haupt u. K. Hausen, Die Pariser Kommune, Frankfurt 1979, S. 190 ff.

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solcher Verbände  – beides Entwicklungen, denen das liberalere französische Bürgertum nur zögernd folgen wollte und gegen die es sich vor 1914 erfolgreicher wehrte als das deutsche Bürgertum. Gleichzeitig besaß das liberale und republikanische französische Bürgertum in anderen sozialen Schichten erheblich mehr politischen Halt als das liberale deutsche Bürgertum. Das Kleinbürgertum in Frankreich blieb trotz mancher ökonomischer Krisenerscheinungen der republikanischen politischen Kultur fest verhaftet. Die französischen Angestellten waren ebenfalls liberaler; Organisationen der politischen Ausrichtung und des Gewichts des »Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes« gab es in Frankreich vor 1914 nicht. Bürgerliche Liberalität fand daher in Frankreich nicht nur im Bürgertum, sondern auch in der unteren Mittelschicht mehr politische Unterstützung als in Deutschland.32

V. Zusammenfassung Auf die Grundfrage der Forschungsgruppe »Bürgertum« und auch dieses Artikels, ob und warum es in Deutschland im Kaiserreich ein Defizit an bürgerlicher Liberalität gab, kann ein sozialhistorischer Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland nur eine Teilantwort geben. Sicher ist der Vergleich mit Frankreich für diese Frage essentiell: Es gab in den vier Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg einen unbestreitbaren Kontrast zwischen einer stabilen liberalen bürgerlichen Republik in Frankreich, die aufkommende monarchistische, konservative oder klerikale Gegenbewegungen unter Kontrolle halten konnte, und einer konservativ bestimmten, autoritären Monarchie in Deutschland, in der liberale Bewegungen ihren Platz, nicht jedoch die Macht hatten. Aber ohne Zweifel hängt dieser Kontrast nicht allein mit sozialhistorischen Unterschieden zwischen deutschem und französischem Bürgertum zusammen. Andere Unterschiede, die wir oft nicht einmal streifen konnten, sind ebenfalls wesentlich: die Französische Revolution als Fluchtpunkt liberaler Bewegungen in Frankreich, für die es in Deutschland nur den viel weniger eindrucksvollen Ersatz der Revolution von 1848 gab; die frühere Etablierung eines Nationalstaats, der in Deutschland nicht nur später entstand, sondern auch von einem konservativen

32 Haupt, H.-G., Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in Frankreich seit der Mitte des 19.Jahrhundens, in: H.-U. Wehler (Hg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen 1979, S. 121 ff.; G. Crossick u. H.-G. Haupt, lntroduction, in: dies. (Hg.), Shopkeepers and Master Artisans in 19th-Century Europe, London 1984, S. 21 ff.; H. A. Winkler, From Social Protectionism to National Socialism: The German Small Business Movement in Comparative Perspective, in: Journal of Modern History 48, 1976, S. 1–18; J. Kocka, Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie, Göttingen 1977, S. 323 ff.; H.-G.  Haupt, Angestellte in der französischen Gesellschaft vor 1914, in: J. Kocka (Hg.), Angestellte im europäischen Vergleich, Göttingen 1981, S. 112–141.

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Staatsmann geschaffen wurde und damit nicht als liberaler Erfolg gewertet werden konnte; die Identität von liberaler Republik und französischer Armee, die in der ­Dreyfus-Affaire zwar gestört, aber nicht zerstört wurde; die katholische Kirche, gegen die bürgerliche Liberalität in Frankreich bis in das späte 19.Jahrhundert hinein wirksam mobilisieren konnte und für die es in Deutschland kein Pendant gab; die größere Bedeutung der Intellektuellen in der französischen Öffentlichkeit und Politik, die vor 1914 ebenfalls dem Liberalismus zugutekam; die Gemächlichkeit demographischen Wachstums in Frankreich, die diesem Land manche illiberalen Staatseingriffe ersparte und bürgerlicher Liberalität mehr Spielraum und Schonung ließ. Darüber hinaus hat aber die liberalere Bürgerlichkeit in Frankreich in mehr­ facher Hinsicht auch mit der Sozialgeschichte des Bürgertums selbst zu tun, wobei sich französisches und deutsches Bürgertum für europäische Verhältnisse um die Jahrhundertwende ungewöhnlich stark unterschieden und sich beide auch in der Geschichte des 19. und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum sonst einmal so unähnlich waren. Der erste, besonders ins Auge springende Unterschied war der zwischen einem allein an der Macht sitzenden, die Spitzenpositionen der Politik, Verwaltung und Armee weitgehend allein besetzenden französischen Bürgertum und einem deutschen Bürgertum, das die politische Macht mit dem Adel teilte, massive Versorgungsprivilegien für Adelssöhne in den Verwaltungs- und Armeespitzen hinnahm und nur in den Universitäten, in der Rechtsprechung, in den Stadtverwaltungen und in den Regierungen der süddeutschen Länder sich wirklich durchgesetzt hatte. Dieser Unterschied wurde noch verstärkt dadurch, dass das deutsche Großbürgertum diese Machtteilung auf nationaler Ebene durch ein enges politisches Bündnis mit dem ostelbischen Landadel zementierte. Dieser Unterschied ist nur verständlich durch die tiefe Krise des deutschen Liberalismus besonders seit den 1870er Jahren und den Aufstieg der französischen Liberalen und Radikalen im selben Jahrzehnt. Ein zweiter wesentlicher Unterschied liegt in der engeren inneren Verflechtung und größeren Einheitlichkeit des französischen Bürgertums und der stärkeren Zersplitterung des deutschen Bürgertums in seinen sozialen Beziehungen und Lebensweisen. Vor allem zwischen dem staatsnahen Bürgertum einerseits – den Verwaltungsbeamten, den Richtern, den Professoren, den Pfarrern, den Rechtsanwälten – und dem Wirtschaftsbürgertum andererseits tat sich in Deutschland eine tiefere Kluft auf als in Frankreich. Sie hat das Bürgertum als soziale Klasse gegenüber dem Adel in Deutschland geschwächt und die Unternehmer weniger gehemmt, politische Koalitionen mit dem Großgrundbesitz einzugehen. Teils geht diese Kluft auf den Niedergang zurück, den die Industrialisierung für die alte Beamten- und Bildungselite bedeutete, teils hängt sie mit der Schwäche einer Notablenschicht in Deutschland zusammen. Einerseits hat sie mit dem außergewöhnlich raschen wirtschaftlichen Aufstieg der Großunternehmer in Deutschland und dem großen wirtschaftlichen Abstand zu tun, der sich zwischen Großunternehmern und übrigem Bürgertum auftat, andererseits aber auch mit einem dritten Unterschied, mit der Zersplitterung des deutschen 72

Bürgertums durch den massiveren staatlichen Eingriff in die verschiedenen bürgerlichen Berufe und sozialen Hierarchien. Schließlich konnte sich das französische Bürgertum um die Jahrhundertwende beruhigter auf den Polstern eines autarken, meist republikanischen, ihm auch sozial immer noch nahestehenden Kleinbürgertums ausruhen, während das deutsche Bürgertum sich einem nicht nur zahlenmäßig viel stärkeren, sondern auch besser organisierten und verbal aggressiveren Industrieproletariat gegenüber sah. Bürgerliche Werte und Lebensweisen besaßen in Frankreich mehr Ausstrahlungskraft, während sie in Deutschland zwischen einer politisch immer noch starken Aristokratie und einer hoch entwickelten Arbeitersubkultur eingepfercht und eingeschränkt waren. Sicher sollte man diese Unterschiede nicht überzeichnen. Französisches wie deutsches Bürgertum waren nur Spielarten des europäischen Bürgertums, und die Unterschiede gingen bei weitem nicht so tief wie zwischen Europa und Japan oder den USA und Russland. Es ist außerdem schwierig und vielleicht sogar müßig zu entscheiden, ob französisches Bürgertum oder deutsches Bürgertum moderner waren. Das französische Bürgertum konnte als moderner erscheinen, weil es die Machtteilung mit dem Adel weitgehend beendet hatte und ihm nur noch wenige politische Reservate beließ, weil es in sich enger verflochten war und um 1910 als eine modernere bürgerliche soziale Klasse angesehen werden konnte, auch weil die freien Berufe eher dem modernen Verständnis von sich selbst organisierenden professions entsprachen. Das deutsche Bürgertum konnte dagegen als moderner erscheinen, weil der Niedergang der Familienunternehmen und der Aufstieg der Manager in den Großunternehmen schon weiter fortgeschritten und die wohl unvermeidliche Spezialisierung der Karrieren vor allem zwischen der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft bereits rigider war, weil das Bürgertum Sozialreformen durch Staat und Kommunen stärker vorantrieb oder zumindest eher hinnahm, auch weil die bürgerlichen Interessenorganisationen zahlreicher, differenzierter und schlagkräftiger waren. In entscheidenden Punkten fällt es schließlich auch schwer, überhaupt Unterschiede zwischen französischem und deutschem Bürgertum zu erkennen, etwa in der Einstellung zu Sozialkonflikten und zum Einsatz von Polizei oder Armee bei sozialen Protesten oder in der Einstellung zum freien Wettbewerb auf dem Markt. Trotzdem bleibt es richtig, dass die Wege des französischen und des deutschen Bürgertums im europäischen Rahmen um die Jahrhundertwende recht weit auseinandergingen und zu diesen Unterschieden vor allem die liberalere Bürgerlichkeit in Frankreich, mehr Unterstützung für einen voll entwickelten Parlamentarismus, wirksamere Opposition gegen staatliche Eingriffe und Kontrolle, mehr Toleranz und daher mehr Widerstände etwa auch gegen Antisemitismus und mehr politische Wirkung für Intellektuelle gehörten.

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3. Die Annäherung der Wohlfahrstaaten in Frankreich und der Bundesrepublik im Vergleich zu den USA während der 1960er Jahre

Die Annäherung der Wohlfahrtsstaaten in Westeuropa während der wirtschaftlichen Prosperitätszeit der 1950er bis 1970er Jahre ist eine unter Historikern und Sozialwissenschaftlern anerkannte, aber nicht unbestrittene These.1 Eine deutlich andere Sicht legen Typologien nahe, die fast nur Unterschiede zwischen den europäischen Wohlfahrtsstaaten herausstellen: die 1990 veröffentlichte, immer noch viel zitierte Einteilung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten des Soziologen Gøsta Esping-Anderson in moderne, konservative und liberale Systeme oder die häufig gemachte Unterscheidung zwischen Bismarck-Systemen und Beveridge-Systemen.2 Ob diese Typologien historisch sinnvoll sind und ob Frankreich und die Bundesrepublik wirklich einem gemeinsamen, seit dem späten 19. Jahrhundert bestehenden Typus zugeordnet werden können, wird unterschiedlich beurteilt. Es lohnt schon deshalb, sich die Annäherungen und Divergenzen der 1960er Jahre, der Glanzzeit der Wohlfahrstaatsreformen, noch einmal anzusehen. Ein erneuter Blick auf die 1960er Jahre macht auch deshalb Sinn, weil sich das Verständnis von Wohlfahrtsstaat in der Forschung stark geändert hat. Das Interesse gilt oft nicht mehr nur den staatlichen Sozialversicherungen, die die persönlichen Lebenskrisen wie Krankheit, Altersarmut, Invalidität und Arbeitslosigkeit abmildern.3 Auch die bessere individuelle Vorbereitung auf solche 1 Vgl. B. Tomka, A Social History of Twentieth Century Europe, London 2013; A. Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 269–308; H. ­Miard-Delacroix, Im Zeichen der europäischen Einigung 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt 2011, S. 255 f.; G. A.  Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 20103, S. 195–200 und 258–260; M. Heidenreich (Hg.), Die Europäisierung sozialer Ungleichheit. Zur transnationalen Klassen- und Sozialstrukturanalyse, Frankfurt, 2006; S. Mau u. R. Verwiebe, Die Sozialstruktur Europas, Konstanz 2009; H. ­Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 214–230; ders., Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München, 2007, S. 332– 360. 2 G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990; vgl. für die Typisierung nach Beveridge-Systemen und Bismarck- Systemen: M. G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 20053, S. 217–232. 3 Vgl. für verschiedene Varianten des erweiterten Verständnisses von Wohlfahrtsstaat: P. Rosanvallon, La nouvelle question sociale. Repenser l’État-providence, Paris 1995; F.-X. Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich,

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Krisen durch staatliche Bildung, durch staatliche Gesundheitsvorsorge, durch staatliche Wohnungspolitik und die bessere kollektive Vorbereitung durch Arbeitsrecht und staatliche Regelung der Tarifbeziehungen wird inzwischen oft zum Wohlfahrtsstaat gerechnet. Ob sich die These von Abmilderung der innereuropäischen Unterschiede auch für einen derart breiten Begriff des Wohlfahrtsstaates halten lässt, ist eine offene Frage. Darüber hinaus hat sich die Einschätzung der Glanzzeit des modernen Wohlfahrtsstaates und der Reformen zwischen den späten 1940er und den 1970er Jahren stark geändert. Neben den Errungenschaften dieser Epoche – dem Ausbau aller vier öffentlichen Versicherungszweige, dem steigenden Anteil der Versicherten in der Bevölkerung und den wachsenden Sozialausgaben – sind auch die Fehlentwicklungen stärker herausgehoben worden: die Ausrichtung auf das Modell des männlichen Ernährers, die nationale Abgeschlossenheit der Wohlfahrtsstaaten und die fehlende Berücksichtigung von irregulären Lebensläufen, die später zunehmend wichtig wurden, sowie auch die übervereinfachte Vorstellung von sozialpolitischem Fortschritt, die nur auf die Expansion der Ausgaben und Regelungen sieht und zu wenig die Auswirkung des Wohlfahrtsstaates für die individuellen Notlagen berücksichtigt. In der jüngsten europäischen Finanzkrise wurde zudem verstärkt die Frage aufgeworfen, ob in der Glanzzeit der Wohlfahrtsstaatsreformen nicht auch schwerwiegende Divergenzen zwischen den europäischen Wohlfahrtsstaaten angelegt wurden, die dann in der jüngsten Zeit zu einer Belastung für den Euroraum geworden sind. Die Probleme des französischen Wohlfahrtsstaats mit seinen außergewöhnlich hohen Wohlfahrtsstaatsausgaben, mit seinem niedrigen Rentenalter, mit seiner hohen Jugendarbeitslosigkeit und seiner Gettoisierung eingewanderter Franzosen in Neubauvierteln werden auf längerfristige historische Entwicklungen zurückgeführt, die in den 1960er Jahren ihren Ursprung hatten. Aus dieser neuen, durch die europäische Finanzkrise ausgelösten Sicht wären die 1960er Jahre die Geburtsepoche der Belastungen des Euro durch soziale Disparitäten innerhalb des Euroraums. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist es wichtig, sich mit dem französischen und westdeutschen Wohlfahrtsstaat in den 1960er Jahren genauer zu befassen. Schließlich ist auch umstritten, ob die Abmilderung der westeuropäischen Unterschiede gleichzeitig zu verschärften Differenzen mit den USA führte. Wachsende europäisch-amerikanische Unterschiede im Wohlfahrtsstaat wurden in den öffentlichen Debatten seit den 1960er Jahren vermerkt. Auch HistoFrankfurt 2003; P. Flora (Hg.), Growth to Limits. The Western European Welfare States since World War II, 4 Bde., Berlin 1986–1988; Ritter, Sozialstaat (wie Anm. 1); C.  Conrad, Was macht eigentlich der Wohlfahrtsstaat? Internationale Perspektiven auf das 20. und 21. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013) 4, S. 555–592; I. Bode, Disorganisierter Wohlfahrtskapitalismus. Die Reorganisation des Sozialsektors in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Wiesbaden 2004; S. Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008.

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riker zeichnen solche wachsenden westeuropäisch-amerikanischen Unterschiede nach. Manche Soziologen hingegen bestreiten derartige Divergenzen implizit oder explizit.4 Aus diesem Grund macht es Sinn, noch einmal zu verfolgen, ob diese Unterschiede damals tatsächlich zunahmen. Frankreich und die alte Bundesrepublik sind zwei wichtige Testfälle für die Abmilderung der Unterschiede, da sie seit dem Beginn der verstärkten Eingriffe von europäischen Staaten in die soziale Sicherung während der 1880er Jahre zwei ganz unterschiedliche Wege des Wohlfahrtsstaates beschritten hatten. Deutschland hatte eher den autoritären Weg des Zwangs zur Sozialversicherung, zur gesundheitlichen Vorsorge durch Impfzwang oder durch strikte Schulpflicht – alles verbunden mit hohen staatlichen Ausgaben – eingeschlagen und dabei bis in die Weimarer Republik hinein eine Pionierrolle in Europa gespielt. Frankreich dagegen hatte eher den liberalen Weg der Subvention zivilgesellschaftlicher sozialer Sicherung, der individuellen Wahl in der Gesundheitsvorsorge und der sanfteren Schulpflicht mit einer geringeren Durchsetzung der acht Jahre Ele­ mentarschule gewählt. Frankreich gab für diese wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben auch einen erheblich geringeren Anteil des Staatsetats und des Sozialprodukts aus. Im Bereich des Wohlfahrtsstaates war Frankreich damals kein Modell für andere europäische Länder. Es überzeugt schon deshalb nicht, diese tiefen historischen deutsch-französischen Unterschiede in einem gemeinsamen Typus des konservativen Wohlfahrtsstaats aufgehen zu lassen. Die Abschleifung dieser beiden sehr unterschiedlichen Wege des Wohlfahrtsstaates, ein wichtiger Teil der Annäherung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten der 1960er Jahre, steht im Zentrum dieses Beitrags, in dem auch der Vergleich zu der ganz anderen Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in den Vereinigten Staaten immer wieder gestreift wird. Es wäre zu schwierig geworden, in diesem kurzen Aufsatz neben dem Kontrastfall USA auch noch den Kontrastfall der Sozialpolitik der DDR aufzunehmen, so wichtig diese andere deutsche und die ostmitteleuropäische und osteuropäische Entwicklung auch war. Was spricht für eine Annäherung der Wohlfahrtstaaten in Frankreich und der Bundesrepublik in den 1960er Jahren, gleichzeitig für wachsende Divergenzen gegenüber den USA? Dafür sollen in diesem kurzen Aufsatz nicht nur die schon öfters untersuchten staatlichen Sozialversicherungen, sondern auch die Bildung, das Wohnen und die Gesundheit angesehen werden. In diesem breiteren Verständnis wurde die Annäherung des Wohlfahrtsstaates in den beiden Ländern selten untersucht. Daneben soll verfolgt werden, ob die 1960er Jahre auch die Geburtszeit von neuen deutsch-französischen ebenso wie von neuen westeuropäisch-amerikanischen Divergenzen waren.

4 Vgl. J. Alber u. N. Gilbert (Hg.), United in Diversity? Comparing Social Models in Europe and America, New York 2010. Eher implizit geschieht dies mit der erwähnten Konstruktion des Typus des Beveridge-Systems, in dem Irland, Großbritannien und die USA zu einem sehr heterogenen Modell zusammengefasst werden.

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I. Sozialversicherungen Die französischen und deutschen staatlichen Sozialversicherungen näherten sich in den 1960er Jahren stärker als je zuvor an. In diesem goldenen Zeitalter des Aufbaus des modernen europäischen Wohlfahrtsstaats, in dem freilich auch die genannten Schwächen ihre Ursprünge hatten, kann man in mehrfacher Hinsicht von deutsch-französischen Annäherungen sprechen. Im internationalen Rahmen entstand eine neue, grundsätzliche Ähnlichkeit: In den 1960er Jahren waren weder Frankreich noch die Bundesrepublik europäische Modelle des Wohlfahrtsstaates – anders als in der Vorkriegszeit und auch noch Zwischenkriegszeit, als die Bismarcksche obligatorische Sozialversicherung als ein nicht unumstrittenes europäisches Modell galt. In beiden Ländern herrschten in den 1960er Jahren obligatorische Versicherungen vor. Darüber hinaus trieben beide Regierungen in einem breiten überparteilichen Konsens den Ausbau des Wohlfahrtsstaates in ähnlicher Weise voran, auch wenn Frankreich kurz davor keine so spektakuläre Rentenversicherungsreform wie die Bundesrepublik 1957 durchgeführt hatte, mit der das Kapitaldeckungsverfahren in Annäherung an Frankreich durch das Umlageverfahren ersetzt wurde.5 Die Altersversicherungen sollten nach den Vorstellungen der Politik in Frankreich wie in der Bundesrepublik einen eigenständigen Haushalt der Alten sichern und waren nicht mehr nur als Zuschuss zu einer Versorgung der Alten durch die Familie gedacht. Die Ausgaben der Rentenversicherungen in Frankreich wie in der Bundesrepublik näherten sich in begrenztem Maße an, wenngleich um 1970 in Frankreich immer noch nur 24 %, in der Bundesrepublik dagegen 40 % der staatlichen sozialen Sicherungsausgaben für die Rentenversicherung verwandt wurden. Dieser Unterschied wurde abgemildert durch hohen französischen Familienzuschüsse, deren Anteil freilich zurückging.6 Auch das Rentenalter glich sich in beiden Ländern an: Der Anteil der noch Erwerbstätigen sank in Frankreich wie in Deutschland im entscheidenden Alter zwischen 60 und 64 Jahren und erreichte 1970 ähnliche Werte von 41 % in Frankreich und 43 % in der Bundesrepublik, wenn man den Daten des Internationalen Arbeitsamts folgt. Damals begann sich allerdings schon die Schere zu öffnen, die heute beide Länder voneinander abgrenzt. Die Zahl der Erwerbstätigen in dieser Altersgruppe sank in Frankreich damals und in den Jahrzehnten danach etwas rascher als in der Bundesrepublik. In Frankreich fiel der Anteil zwischen 1960 und 1970 von 49 auf 41 %, in der Bundesrepublik nur von 45 auf 43 %.7

5 Tomka, Social History (wie Anm. 1), S. 168. 6 P. Flora (Hg.), State, Economy and Society in Western Europe, 1815–1975, Bd. I: The Growth of Mass Democracies and Welfare States, Frankfurt 1983, S. 490– 503. 7 Ebd., S. 490–503.

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Eine weitere Annäherung: In beiden Ländern bestand darüber hinaus am Ende der 1960er Jahren eine staatliche Arbeitslosenversicherung. Sie war in der Vorkriegszeit und in der Zwischenkriegszeit sehr unterschiedlich geregelt gewesen. In Deutschland war erst 1927 eine staatliche Arbeitslosenversicherung eingerichtet worden, die allerdings zu wenig umfassend ausgelegt war und daher in der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933 zusammenbrach. In Frankreich war eine Arbeitslosenversicherung schon sehr viel früher, nämlich vor dem Ersten Weltkrieg, eingerichtet worden, allerdings in der Form von staatlich subventionierten privaten Trägern. Die Weltwirtschaftskrise war in Frankreich nicht mit einem so spektakulären Zusammenbruch einer staatlichen Arbeitslosenversicherung verbunden, sicher auch, weil die Zahl der Arbeitslosen in Frankreich nicht so hoch war wie in Deutschland. Beide Länder besaßen in den 1960er Jahren eine staatliche Arbeitslosenversicherung, die alte Bundesrepublik in Fortführung der Arbeitslosenversicherung von 1927, Frankreich dagegen erst ab 1967 in obligatorischer Form. In den 1960er Jahren stand die Arbeitslosenversicherung in Frankreich auch noch nicht vor dem Problem einer weit höheren Jugendarbeitslosigkeit. Vielmehr war die Jugendarbeits­ losigkeit damals in Frankreich mit 14 % noch niedriger als in der Bundesrepublik mit 17 %.8 Annäherungen ließen sich in den 1960er Jahren schließlich auch in den staatlichen Sozialausgaben beobachten. In den 1960er Jahren glichen sich die Sozialausgaben Frankreichs und der alten Bundesrepublik stark an. Die großen Unterschiede der Zwischenkriegszeit, als Deutschland weit höhere staatliche Sozialausgaben tätigte als Frankreich, milderten sich ab. Sie drehten sich nach den nicht unumstrittenen Zahlen der OECD sogar um. Frankreich wurde demnach am Ende der 1960er Jahre mit Sozialausgaben von 17 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sogar zum westeuropäischen Spitzenland, lag etwas vor der Bundesrepublik mit 14 %.9 Auch der Anteil der Versicherten an den Erwerbstätigen wurde in beiden Ländern ähnlicher, hing freilich weiterhin sehr stark vom staatlichen Versicherungszweig ab. Um 1965 waren in der Invalidenversicherung in Frankreich 76 %, in Deutschland 95 %, in der Krankenversicherung in Frankreich 96 %, in Deutschland 67 %, in der Rentenversicherung in Frankreich 98 %, in Deutschland 79 %, und in der Arbeitslosenversicherung in Frankreich 61 %, in Deutschland 71 % durch staatliche Sozialversicherungen abgesichert. Die teils erheblichen Unterschiede waren in der Zwischenkriegszeit und meist auch in 8 Historical Statistics. 1960–1988, Paris: OECD, 1990, S. 45. 9 Ebd., S. 76. Nach der OECD-Definition sind social security transfers öffentliche Versicherungsleistungen für Gesundheit, Alter, Familie, Sozialhilfe, Sozialleistungen der öffentlichen Hand. Höhere Sozialausgaben für die Bundesrepublik als für Frankreich konstatiert hingegen Tomka, Social History (wie Anm. 1), S. 159–164. Er schließt allerdings aus den Sozialausgaben die Sozialleistungen für öffentliche Beamte, für Kriegsopfer und die Sozialhilfe aus.

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den 1950er Jahren noch größer gewesen.10 Solche Annäherungen hatten allerdings ihre Grenzen. Die Institutionen der staatlichen Sozialversicherungen, die Einheitlichkeit, das Mitspracherecht der Versicherten, die Finanzierung durch Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Staat und die Ausgaben sahen in beiden Ländern weiterhin verschieden aus. Deutsch-französische Annäherungen bedeuteten keinesfalls Gleichartigkeit. Gleichzeitig war in den staatlichen Sozialversicherungen der Abstand zwischen den reichen westeuropäischen Ländern wie Frankreich und der Bundesrepublik und den USA in den 1960er Jahren besonders groß. Zwar wurden unter dem demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson 1964/65 wichtige Gesetze zur Bekämpfung der Armut durchgesetzt. Aber sie betrafen vor allem die armen Bewohner der USA, nicht den Durchschnitts-Amerikaner. Um 1970 lagen daher in den USA die staatlichen Sozialausgaben laut OECD mit einem Anteil von 5 % am Sozialprodukt weit unter der Sozialausgaben Frankreichs mit 16 % und auch der Bundesrepublik mit 12 %. Das lag sicher nicht daran, dass die Probleme in den USA geringer waren. In den 1960er Jahren lag die Arbeitslosigkeit in den USA mit 4 % weit höher als in Deutschland mit 1 % und in Frankreich mit 2 %.11 Erwerbsarbeit im Rentenalter war in den USA erheblich verbreiteter. Im Alter zwischen 60 und 64 Jahren arbeiteten in den USA um 1970 53 % der Erwerbsbevölkerung, in der alten Bundesrepublik dagegen – wie gerade erwähnt – nur 43 % und in Frankreich sogar nur 41 %.12

II. Wohnen Auch die Wohnsituation näherte sich in den 1960er Jahren in Frankreich und Deutschland an. Dahinter stand die neue Annäherung der Stadtexpansion und der Stadtplanung in Frankreich und der Bundesrepublik, ausgelöst durch die sich angleichende Demographie, durch die ähnlichere Industrieentwicklung, durch eine massive französische Land-Stadtwanderung und durch eine in beiden Ländern ähnlich hohe, wenn auch im Charakter sehr unterschiedliche Zuwanderung aus anderen Ländern. In dieser Stadtexpansion wurden auch die Stadterweiterungen in beiden Ländern ähnlicher. In Deutschland wurde die schon lange bestehende Planung der Stadterweiterung fortgesetzt. In Frankreich beschränkte sich die Stadtplanung nicht mehr überwiegend auf die Innenstädte, sondern wandelte sich zu einer Pla10 Flora, State, Bd. I (wie Anm. 6), S. 460 f. 11 Historical Statistics (wie Anm. 8), S. 45 (Arbeitslosigkeit, 1964–1967) und S. 67 (soziale Sicherheitsausgaben, 1960–1967). 12 International Labour Office, Economically (wie Anm. 7), S. 47 und 164 ff.; vgl. zudem P. Flora u. A. H. Heidenheimer (Hg.), The Development of Welfare States in Europe and America, New Brunswick 1981.

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nung der Stadterweiterung. In beiden Ländern wurden ganze neue Stadtviertel und Städte geplant und gebaut. Dahinter stand in beiden Ländern der damalige Zukunftsoptimismus eines besseren, planbaren Lebens in der Stadt. Die französischen und deutschen Stadtplaner standen in engem Kontakt miteinander. In beiden Ländern wurden die oft unzureichend geplanten neuen Stadtteile wie Sarcelles bei Paris und das Märkische Viertel in Berlin oder die neuen Städte wie die Neue Vahr in Bremen und Évry bei Paris anfangs noch als Fortschritt gefeiert, allerdings später eher zu einer gesellschaftlichen Belastung umgedeutet, in Frankreich mit seinen grands ensembles noch stärker als in Deutschland. In beiden Ländern besaß der staatliche Wohnungsbau nach 1945, wenn auch in unterschiedlichen Zeiträumen, für den Wohnungsmarkt eine gewichtige Rolle, teils als Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges, teils aber auch als öffentliche Kanalisierung der Stadtexpansion und als Vermeidung von Slums.13 Während der Stadtexpansion der 1960er Jahre verbesserte sich in beiden Ländern die Wohnsituation in mehrfacher Hinsicht und in ähnlicher Weise als täglich erlebter Fortschritt. Die Qualität der Wohnung, ihre Ausstattung mit Wasser, Elektrizität, Bädern und Küchen wurde so ähnlich wie nie zuvor. Die Wohnungsgröße glich sich an. Die Ausstattung der Wohnungen mit Haushaltsgeräten stieg in beiden Ländern stark an, wenn auch in der Bundesrepublik etwas stärker als in Frankreich. Das Eigentum von Wohnungen oder Häusern nahm in beiden Ländern zu, blieb allerdings in Frankreich etwas höher als in Deutschland. Die privaten Wohnungsausgaben, die noch in den 1950er Jahren in Frankreich niedriger waren als in Deutschland, wurden in den 1960er Jahren ähnlicher. In beiden Ländern wurde eine erhebliche Verbesserung der Wohnungsausstattung und der Wohnsicherheit mit einer steigenden Belastung der privaten Haushalte durch Ausgaben für Wohnen bezahlt, die der Wohlfahrtsstaat etwas abmildern, aber nicht verhindern konnte.14

13 Vgl. F.  Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 437–513; J.-L.  Pinol (Hg.), Histoire de l’Europe urbaine, 2 Bde., Paris 2003; C.  Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, Frankfurt 1996; H. Häußermann, Die europäische Stadt, in: Leviathan 29 (2002) 2, S. ­237–255; C.  Reinecke, Laboratorien des Abstiegs? Eigendynamiken der Kritik und der schlechte Ruf zweier Großsiedlungen in Westdeutschland und Frankreich, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte (2013) 1, S. 25– 34. 14 Vgl. S. Haustein, Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Groß­ britannien im Vergleich 1945–1970, Frankfurt 2007; A. S. Deaton, The Structure of Demand in Europe, 1920–1970, in: C. M. Cipolla (Hg.), The Fontana Economic History of Europe, Bd. 5: The Twentieth Century, Teil 1, London: 1976, S. 89–131, hier S. 102 f. und 114 f.

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III. Bildung Auch in einem dritten Feld des Wohlfahrtsstaates, den Bildungschancen, wurden die beiden Länder etwas ähnlicher, wenngleich auf allen Ebenen mit den französischen Elitehochschulen, mit den französischen Einheitsschulen, mit den deutschen Berufsschulen und mit den französischen crêches und écoles maternelles die großen Unterschiede das Bild zu bestimmen schienen. Die staatlichen Bildungsausgaben waren nicht mehr, wie noch in der Zwischenkriegszeit, in Frankreich erheblich höher. Sie lagen um 1960 in Frankreich und der Bundesrepublik auf einem ähnlichen Niveau von rund 10 % der Staatsausgaben, stiegen allerdings in Frankreich im Laufe der 1960er Jahre auf 15 % an, in der Bundesrepublik dagegen nicht.15 Die Verbesserung der Bildungschancen wurde in beiden Ländern in den 1960er Jahren ein wichtiges Prinzip der Bildungspolitik, auch wenn sich die Konzepte der Elitenausbildung, der Familienpolitik und der Zentralisierung der Bildungspolitik stark unterschieden.16 Die Bundesrepublik holte im Angebot der staatlichen Ausbildung gegenüber Frankreich auf. Zwar gab es erheblich weniger Kindergartenplätze, aber der Abstand ging etwas zurück. Die Elementarschulausbildung war zwar gemessen an der Zahl der Lehrer pro Schüler in der Bundesrepublik schlechter als in Frankreich, jedoch milderte sich der Abstand etwas ab. Der Anteil der Sekundarschüler unter den Jugendlichen stieg umgekehrt in Frankreich an und lag um 1970 nicht mehr so stark hinter Deutschland zurück wie zuvor.17 Die Studentenraten, also die Zahl der Studenten gemessen an den entsprechenden Altersgruppe, die vor 1914 in beiden Ländern noch sehr ähnlich gewesen waren, aber in der Zwischenkriegszeit in Deutschland hinter Frankreich zurückfielen, wurden wieder ähnlicher. Der große Rückstand des Frauenstudiums in der Bundesrepublik, ein preußisches Erbe, wurde zwar nicht abgebaut, aber doch abgemildert.18 Leider wissen wir bisher noch nicht, ob in den 1960er Jahren auch die Bildungschancen für die zahlreichen Zuwanderer in den beiden Ländern ähnlicher wurden und ob sich der Vorsprung Frankreichs als klassisches Einwanderland abmilderte.

15 Flora, State, Bd. I (wie Anm. 6), S. 376–393 (für Bundesrepublik: Bund und Länder). 16 W. Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. IV: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, München, 2010; G. S. Papadopoulos, Education 1960–1990. The OECD Perspective, Paris 1994. 17 Flora, State, Bd. I (wie Anm. 6), S. 578–581 und 585–588. 18 R. Breen u. a., Nonpersistent Inequality in Educational Attainment. Evidence from Eight European Countries, in: American Journal of Sociology 114 (2009) 5, 1475–1521; F. K. Ringer, Education and Society in Modern Europe, Bloomington 1978; H. ­Kaelble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1983, S. 195–228; ders., Sozialgeschichte (wie Anm. 1), S. 387–411.

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IV. Gesundheit Möglicherweise glichen sich beide Länder auch in dem historisch am schlechtesten untersuchten Bereich des Wohlfahrtsstaates, im Gesundheitssektor, etwas an.19 Die Gesundheitssysteme Frankreichs und der Bundesrepublik unterschieden sich zwar nach dem Zweiten Weltkrieg sehr. Das französische Gesundheitssystem kam mit erheblich weniger Ärzten, Krankenhäusern und Krankenhausbetten pro Kopf der Bevölkerung aus als das westdeutsche Gesundheitssystem und verursachte deshalb auch weniger Kosten. In den 1960er Jahren gingen diese Unterschiede jedoch etwas zurück. Die Ärztedichte und die Zahl der Krankenhausaufenthalte stiegen in Frankreich rascher an, sodass sie sich in den 1980er Jahren nur noch wenig von der Bundesrepublik unterscheiden sollten. Gleichzeitig lagen Frankreich und die Bundesrepublik in dem härtesten, aber nicht nur von der Gesundheitspolitik beeinflussten Indikator für den Stand der Gesundheit, in der Lebenserwartung, in den 1960er Jahren nahe beieinander. Wenn es überhaupt einen Unterschied gab, dann lebten die französischen Frauen und Männer in den 1960er Jahren etwas länger.20 In den Vereinigten Staaten waren die Ärztedichte und die Dichte der Krankenhausbetten in den 1960er Jahren noch geringer als in Frankreich. Dagegen unterschied sich die Lebenserwartung kaum von Frankreich und der alten Bundesrepublik. Erst in den 1980er Jahren zeichnete sich ein deutliches gemeinsames deutsch-französisches Muster als Kontrast zu den USA ab: in ähnlicher Weise mehr Ärzte und Krankenhausbetten und höhere staatliche Gesundheitskosten als in den USA, freilich keine spürbar längere Lebenserwartung.21

V. Zusammenfassung Insgesamt standen die 1960er Jahre unter dem Zeichen der Annäherung des Wohlfahrtsstaates in beiden Ländern, bei gleichzeitiger Verstärkung der Unterschiede zu den USA, besonders im Bereich der staatlichen Sozialversicherungen. Auch wenn man von einem breiten Verständnis des Wohlfahrtsstaats ausgeht, das neben den staatlichen Sozialversicherungen auch Bildungs-, Wohnungs- und 19 Vgl. zum Überblick über wenig Forschung: J. Lepperhoff, Wohlfahrtskulturen in Frankreich und Deutschland. Gesundheitspolitische Reformdebatten im Ländervergleich, Wiesbaden, 2004. 20 P. Flora (Hg.), State, Economy and Society in Western Europe, 1815–1975, Bd. II: The Growth of Industrial Societies and Capitalist Economies, Frankfurt 1987, S.100 f.; Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften (Hg.), Sozialindikatoren für die Europäische Gemeinschaft 1960–1975, Luxemburg, 1977, S. 208 ff. 21 Statistical Abstracts of the United States 108 (1988), S. 803 f.

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Gesundheitspolitik einschließt, spricht viel für eine westdeutsch-französische gesellschaftliche Annäherung. Diese Annäherung hatte sicher ihre deutlichen Grenzen. Die Institutionen des Wohlfahrtsstaates blieben in den beiden Ländern verschieden. Tarif­verträge und Arbeitsrecht wurden nicht spürbar ähnlicher, auch wenn die Kontakte zwischen den Gewerkschaften zunahmen. Auch die Erfahrung der Zeitgenossen war in der Regel noch von den gesellschaftlichen Unterschieden geprägt. Es sind nur wenige Äußerungen überliefert, in denen Zeitgenossen die Annäherungen des Wohlfahrstaats registrierten. Man sollte außerdem berücksichtigen, dass die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates in den 1960er Jahren nicht nur Vorzüge, sondern auch Nachteile mit sich brachte. Dieser Wohlfahrtsstaat war, wie erwähnt, auf Veränderungen der Familienrollen, auf die irregulären Lebensläufe, auf eine effizientere und aktivierende Wirkung und auf internationale Öffnung schlecht vorbereitet. Ungeachtet der Bewertungen sind aus der Rückschau diese deutsch-französischen Annäherungen des Wohlfahrtstaats im Vergleich zur Zwischenkriegszeit und zur Nachkriegszeit doch beeindruckend. Zu wenig untersucht ist bisher allerdings, warum diese Annäherung in den 1960er Jahren durchgesetzt wurde. Sie war keine Folge der deutsch-französischen Zusammenarbeit im Élysée-Vertrag von 1963, da in diesem Vertrag keine Zusammenarbeit im Bereich der Sozialpolitik vorgesehen war. Sie war wohl auch keine Folge der noch jungen europäischen Integration, da die europäische Gemeinschaft erst in 1970er Jahre begann, eine soziale Dimension zu entwickeln und diese Dimension auch dann erst einmal schwach blieb. Die deutsch-französische Annäherung des Wohlfahrtsstaats war wohl auch nicht eine Folge der Ausrichtung an einem gemeinsamen Modell, etwa an dem damals führenden britischen Modell oder an dem skandinavischen Modell. Die französische Politik nahm das britische Modell zwar direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als wichtige Leitlinie, entwickelte sich aber in den 1960er Jahren in vielen Bereichen des Wohlfahrtsstaates davon weg. Die bundesdeutsche Regierung hielt eher Distanz zum britischen Modell. Entscheidend für die deutsch-französische Konvergenz dürfte vielmehr die nicht zentral gesteuerte Diffusion von wohlfahrtstaatlichen Konzepten, von Stadtplanungskonzepten, von Konzepten der Bildungspolitik und Gesundheitspolitik gewesen sein, die eng mit dem Fortschrittsoptimismus und der verbreiteten Euphorie der gesellschaftlichen Planung in der damaligen Zeit verbunden waren. Sie wurden von internationalen Organisationen wie der International Labour Organization (ILO) und der OECD propagiert und von Experten getragen, die in den 1960er Jahren einen wichtigen Aufstieg in der Politik und in der Öffentlichkeit erlebten. Der Austausch zwischen französischen und westdeutschen Experten war in einigen Bereichen phasenweise sehr intensiv. Wie diese Akteure im Einzelnen auf Regierungsentscheidungen wirkten, ist allerdings noch zu wenig untersucht. 84

Skepsis ist gegenüber dem Argument angebracht, dass in den 1960er Jahren der damals neue europäische Wohlfahrtsstaat auch die Geburtsstunde der gegenwärtigen Probleme Frankreichs gewesen sei. Nur wenige Schwierigkeiten des heutigen französischen Wohlfahrtsstaats hatten ihren Ursprung tatsächlich in den 1960er Jahren. Sicher sank seit damals das Rentenalter in Frankreich etwas rascher als in Deutschland. Aber es ist selbst in der Gegenwart umstritten, ob die tatsächliche Altersgrenze in Frankreich wirklich viel niedriger geworden ist als in Deutschland.22 Die Jugendarbeitslosigkeit war in den 1960er Jahren in Frankreich noch nicht höher als in der Bundesrepublik. Erst seit den 1970er Jahren setzte sich dieser Unterschied fest.23 Die Protestwelle französischer Jugendlicher aus Einwanderer-Milieus vor einigen Jahren lässt sich nicht allein auf die französische Stadtplanung der 1960er Jahre und auf die billig hochgezogenen grands ensembles zurückführen, sondern hat vielmehr mit den hohen Erwartungen der eingebürgerten jungen französischen Immigranten der zweiten Generation zu tun. In Deutschland blieben die Kinder von Zuwanderern oft Ausländer und erwarteten daher vom deutschen Umfeld weit weniger.24 Ob die Sozialausgaben wirklich schon in den 1960er Jahren oder erst später höher waren als in Deutschland, ist umstritten. Erst für die Zeit ab ungefähr den 1980er Jahren besteht Konsens, dass Frankreich höhere Sozialausgaben tätigte. Man sollte aber auch für diese Zeit nicht vergessen, dass die höheren Sozialausgaben in Frankreich auch höhere Ausgaben für die Familien enthielten, die wiederum eine wichtige Voraussetzung für die hohen Geburtenraten in Frankreich und damit auch für die geringeren französischen Probleme bei der Finanzierung der Altersversicherung sind. Auch die Bildungsausgaben waren seit den 1960er Jahren in Frankreich höher als in der Bundesrepublik. Hinter den höheren Sozialausgaben stand daher auch ein etwas anderer französischer Weg des Wohlfahrtsstaates, der durchaus auch Vorteile besitzt und für den in der heutigen deutschen Debatte über das Problemland jenseits des Rheins nicht immer das notwendige Verständnis aufgebracht wird. Vergleichen heißt im schlechten Sinne, den eigenen Weg dem Anderen aufdrängen, im besten Sinne, die Entwicklung eines anderen Landes besser verstehen und auch seine Vorzüge zu berücksichtigen.

22 Vgl. für den Stand 2009 eine neutrale Stelle: Demografie, aktives Altern und Renten, Brüssel: Europäische Kommission, 2012, S. 37. 23 Historical Statistics (wie Anm. 8), S. 45. 24 Vgl. I. Tucci u. O. Groh-Samberg, Das enttäuschte Versprechen der Integration. Migrantennachkommen in Frankreich und Deutschland, in: Swiss Journal of Sociology 34 (2008) 2, 307–333; I. Tucci, Immigration, intégration et diversité en France et en Allemagne, in: Informations sociales n° 163 (2011) 1, S.116–123.

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4. Famille / Familie in Frankreich und Deutschland In eine fremdartige semantische Welt führt weder die Franzosen das Wort »Familie« noch die Deutschen das Wort »famille«. Mit anderen Ausdrücken gleichen Ursprungs gerät man auf der anderen Seite des Rheins viel schneller in einen Dschungel von Missverständnissen und Unübersetzbarkeiten. »Familie« und »famille« haben eine ganze Menge gemeinsamer Bedeutung. Das hat auch viel damit zu tun, dass ähnliche Entwicklungen die Familie in beiden Ländern während des letzten halben Jahrhunderts prägten: der Wandel der Geschlechterrollen und die wachsende Berufstätigkeit besonders der Mütter; schon länger die Durchsetzung der Liebesehe und damit die völlige Selbständigkeit junger Erwachsener in ihrer Partner- und Heiratswahl, die Ehen ohne Trauschein, auch die Scheidungen; die kindzentrierte Familie, in der die Kindererziehung nicht mehr Zwängen der Familienwirtschaft folgt, sondern zur Selbstverwirklichung der Eltern wird; die moderne Konsumgesellschaft, die in prägenden Formen, in der Wohnungsgröße, in der Autogröße, in den Feriendomizilen, in den Optionen der Haushaltsausgaben, ganz auf die Kernfamilie mit zwei bis drei Kindern ausgerichtet ist und während der Elternphase wenig Spielraum für andere Familienund Haushaltsformen lässt; die Individualisierung, die zu einer Abschwächung von Bindungen an Großorganisationen wie Nation, Kirche, Gewerkschaften, Berufsorganisationen führt, aber die Familie in wichtigen Lebensphasen eher noch mehr zum Lebensmittelpunkt werden lässt. An alle diese Veränderungen denkt man auf beiden Seiten des Rheins in ähnlicher Weise, wenn man von »famille« oder »Familie« spricht. »Famille« und »Familie« sind aber in ihrer Bedeutung nicht völlig identisch. Franzosen und Deutsche denken dabei auch an Unterschiedliches. Selbstverständlich gibt es nicht die französische und die deutsche Familie. Innerhalb der beiden Länder sind familiäre Unterschiede zwischen sozialen Milieus und zwischen Regionen, zwischen Einwanderern und Nichteinwanderern groß, auch in der Sprache sichtbar. Daneben gibt es aber doch auch französisch-deutsche Unterschiede, in denen sich die Masse der französischen und deutschen Familien unterscheiden und die sich in der Sprache wiederfinden. Als erstes fällt auf, dass Franzosen und Deutsche mit »famille« und »Familie« nicht nur gemeinsame, sondern auch oft unterschiedliche Werte verbinden. Die Franzosen sehen die Familie etwas häufiger als ihren lebenslangen Lebensmittelpunkt, heiraten mehr, haben mehr Kinder, feiern mehr Familienfeste, halten im Alltag mehr Kontakt mit der Familie, aus der sie kommen. Für die Deutschen hat dagegen die familiäre Intimsphäre, die Familie als Ort der Gefühlsbindung, als emotionaler Halte- und Ruhepunkt eine besonders große Bedeutung. Deutsche – Männer wie Frauen – bleiben deshalb in der Regel deutlich skeptischer 87

als Franzosen, wenn es um die Arbeit der Mütter außer Haus, um Kinderkrippen und Kindergärten, um Ganztagsschulen, um Feriencamps für die Kinder und getrennte Ferien für Eltern und Kinder geht. Alles, was die Bindungen der Mütter oder Kinder an die Familie zu schwächen droht, widerstrebt den Deutschen mehr als den Franzosen. Die französische Philosophie, derzufolge frühe, intensive Kontakte der Kinder außerhalb der Familie gut sind, um die Fähigkeit zum sozialen Umgang zu entwickeln und auf das Leben gut vorbereitet zu sein, ist den Deutschen eher fremd. Sie glauben im Allgemeinen, dass viel und stabile Nestwärme während der Kindheit am besten auf das Leben vorbereitet und im späteren Leben Selbstsicherheit gibt. Gleichzeitig wird in Deutschland von den Eltern, vor allem von den Müttern, meist auch mehr erwartet. Sie stehen in Deutschland unter massiverem moralischem Druck bei der Erfüllung ihrer Mutterrolle und in einem schärferen inneren Konflikt zwischen der Familie und dem Beruf, den gesellschaftlichen und öffentlichen Aktivitäten. In den Familienvorstellungen der meisten Deutschen ist es deshalb schwer nachvollziehbar, dass es in Frankreich nicht nur weit mehr erfolgreiche Karrierefrauen gibt, sondern wie sie auch zwei, drei, vier Kinder haben können. Allerdings sind die gefühlsmäßigen Familienbindungen in Deutschland nicht in allen Lebensphasen stärker gefordert als in Frankreich. Nur in der Kindheit und in der Elternphase ist die deutsche Familie nach außen abgeschlossener und emotional bindender. Im jungen Erwachsenenalter dagegen wird von den Deutschen die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der jungen Erwachsenen, die Ablösung von der elterlichen Familie in der Regel wichtiger genommen als von den Franzosen. Während in Frankreich die familiäre Erziehung stärker auf moralische Pflichten und mitmenschliche Rücksichtnahme ausgerichtet ist, steht in Deutschland eher die individuelle Selbstentfaltung und Selbständigkeit im Mittelpunkt. Die Auseinandersetzung mit der elterlichen Autorität bekommt dadurch in Deutschland einen höheren Stellenwert. Es hat mit dieser ritualisierten Ablösung von der Familie zu tun, dass im Deutschen mit »Familie« in der Regel nur ihre eigene Kernfamilie, in Frankreich dagegen mit »famille« oft auch die weiteren Verwandten gemeint sind. Diese stärkere Ablösung in Deutschland bleibt auch im späteren Leben prägend. Auch zwischen Eltern und Großeltern bleibt die Distanz in Deutschland meist etwas größer. Ferien in drei Generationen, also gemeinsame Ferien von Geschwisterfamilien oder mit den Großeltern, sind in Deutschland weit weniger verbreitet als in Frankreich. In der Folge davon entwickeln auch Enkel in Deutschland im Allgemeinen ein etwas weniger enges Verhältnis zu ihren Großeltern. Franzosen und Deutsche sehen zweitens auch die Beziehungen von Familie und Politik nicht in identischer Weise. Die Franzosen lassen in der Regel vor allem mehr Staatsintervention, mehr Eingriffe des Staates, in die familiäre Sphäre zu. Die grundsätzliche Spannung zwischen Familie und Staat wird weniger scharf und der Schutz der Familie vor dem Staat als weniger dringlich angesehen als in Deutschland. Das französische Konzept der Familienpolitik ist daher auch ausgearbeiteter, enthält ein klareres Programm staatlicher Aktivitäten, zu denen 88

Erziehung über lange Teile des Tages hinweg und viele wohlfahrtsstaatliche Transfers gehören. Gleichzeitig sind die Franzosen gegenüber der staatlichen Unterstützung von Familienformen jenseits der klassischen Zwei Eltern-Familie, etwa gegenüber alleinerziehenden Müttern, offener. Das deutsche Konzept der Familienpolitik dagegen trägt den Grundwiderspruch in sich, dass letztlich die Familie, besonders die klassische Kernfamilie, vom Staat vor dem Staat geschützt werden soll. Deshalb ist der Staat in der deutschen Familienpolitik zurückgenommener und überlässt nichtstaatlichen subsidiären Organisationen oder dem Privatrecht mehr. So findet man die Kindergärten in den französischen Statistiken als Bestandteil des staatlichen Erziehungssystems aufgeführt; in den deutschen Statistiken hingegen stehen sie in einer etwas bizarren Nachbarschaft neben Kriegsopferentschädigung und Jugendfürsorge. Wenn in Frankreich private, nichtstaatliche Kindergärten oder Schulen gegründet wurden, dann nicht um die Familie vor Staatseinflüssen, sondern um das katholische Milieu vor republikanischen Einflüssen zu schützen. Die Franzosen akzeptieren auch ohne Schwierigkeiten eine staatliche Geburtenförderung, während die Deutschen ihr skeptischer gegenüberstehen, Assoziationen mit der Natalitätspolitik des NS-Regimes beschwören oder staatliche Geburtenpolitik als Übersteigerung eines sowieso zu wenig liberalen Staates ansehen oder eine noch größere Überforderung der Mütter befürchten. Etwas überspitzt gesagt, sehen die meisten Franzosen in der Familienpolitik eine breite staatliche Unterstützung von Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder, die meisten Deutschen dagegen das Bekenntnis des Staates zur Autonomie der klassischen Familie. Warum entstanden diese Unterschiede? Drei historische Erklärungen dürften besonders wichtig sein. Die französisch-deutschen Unterschiede gehen zum Teil auf längere, wenigstens bis in das 19. Jahrhundert zurückreichende historische Unterschiede zurück. Schon vor hundert Jahren hatten die französischen Ehefrauen mehr Freiräume außerhalb der Familie, in der Ausbildung, im Beruf, in der Öffentlichkeit, eine Auswirkung teils der längeren liberalen Traditionen in Frankreich, teils des wirksameren bürgerlichen Modells, auch des Modells der bürgerlichen Gesellschaftsdame, teils des frauenfreundlicheren französischen demographischen Regimes seit der französischen Revolution mit niedrigeren Geburtenraten und einem anderen Familienleben, teils auch der anderen Rolle der Frau im französischen Katholizismus, auch in manchen deutschen katholischen Regionen spürbar. Daneben sind diese französisch-deutschen Unterschiede auch eine Folge der Erfahrung mit Diktaturen in Deutschland. Die Erfahrungen mit dem NS-Regime, das über Schulen, über Kindergärten, über die Hitler-Jugend die Kinder und Jugendlichen aus den Familien herauszulösen und an den Nationalsozialismus zu binden versuchte, bestärkte die deutschen Familien in ihrer Abgeschlossenheit nach außen und in ihrem Misstrauen gegenüber staatlichen Stellen und politischen Organisationen. Die Erfahrungen mit der DDR, die in ihrer ersten Zeit sozialistische Erziehung durch Lockerung der Familienbindung der Kinder und Jugendlichen betrieb, hat die Deutschen in dieser Haltung weiter bestärkt. Die französisch-deutschen Unterschiede haben 89

aber auch mit Verschiedenheiten zwischen Frankreich und Westdeutschland in den fünfziger und sechziger Jahren zu tun. Die »trentes glorieuses« waren in Frankreich vor allem ein außergewöhnlich erfolgreicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modernisierungsschub und ließen daher auch die bestehenden politischen und familiären Autoritätsstrukturen als einen Erfolg erscheinen, stützten sie eher. In Westdeutschland dagegen war diese Zeit eher eine Periode der politischen Modernisierung, der Durchsetzung der Demokratie in der politischen Kultur des Landes. Daher standen öffentliche, aber auch familiäre Autoritäten unter erheblichem politischem Druck, vor allem die Autorität einer Generation, die oft noch in das NS­Regime verwickelt war. Die in Deutschland schon ältere Ritualisierung des Generationskonflikts bekam dadurch anders als in Frankreich eine neue politische Legitimation. Nicht nur Experten, auch die Franzosen und Deutschen, die die andere Gesellschaft jenseits des Rheins aus alltäglicher Erfahrung kennen, bewerten die Unterschiede zwischen »famille« und »Familie« oft gegensätzlich. Für die einen hinterlässt die deutsche »Familie« einen rückständigen Eindruck, für die anderen die französische »famille«. Dabei stehen sich nicht geschlossene rationale Meinungsbastionen gegenüber. Die Trennlinien in dieser Kontroverse verlaufen quer zwischen Franzosen und Deutschen. Aber auf jeden Fall ist nicht zu übersehen, dass der Vergleich zwischen »famille« und »Familie« oft einen kräftigen moralisch-politischen Beiklang hat. Die einen sehen in der französischen »famille« massive Elemente des Patriarchalismus, der unzeitgemäßen Elternautorität, der Dependenz der Kinder selbst im Erwachsenenalter, des abgewürgten, aber doch eigentlich natürlichen Konflikts zwischen Eltern und Kindern, auch der aItmodischen Großfamilie von vorgestern, in der deutschen Familie dagegen die moderne, ihren Jugendlichen gegenüber liberale Familie. Die anderen sehen in der deutschen »Familie« die Fortsetzung der traditionalen, nach außen abgeschlossenen, emotional extrem bindenden, an einem altmodischen Mutterbild haftenden und die Frauen überfordernden, immer noch entpolitisierenden Familie, in Frankreich dagegen eine moderne, liberale, die Familienangehörigen gleichzeitig stützende und ihnen Aktivitätsspielraum lassende Familie. Solche Bewertungen sind sicher einseitig. Die Debatte darüber hat aber doch einen Sinn, nicht nur weil man dadurch mehr über die Feinheiten der Übersetzung zwischen »famille« und »Familie« weiß, sondern weil Franzosen und Deutsche auch mehr über Unterschiede ihrer Lebensweisen erfahren und voneinander lernen können. Es ist dabei nicht mehr so, dass zwischen Franzosen und Deutschen – wie es Fernand Braudel 1959 in einem anderen Zusammenhang ausdrückte – »manchmal ein schlecht gewähltes Wort, eine zu rasch entwickelte These genügt, damit die Diskussion jeden Sinn verliert«. »Famille« und »Familie« sind doch so ähnlich, dass die Diskussion über die Unterschiede einen Sinn bekommt.

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5. Soziale Ungleichheit in Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert

Ist die soziale Ungleichheit wirklich ein wichtiges Thema für den historischen Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert? Zwei Gründe sprechen dafür; Die heutige Debatte über die deutsch-französischen Unterschiedeenthält widersprüchliche Deutungen: Manche Unterschiede wie die besseren Berufschancen der Frauen, die gewichtigere Rolle von Zuwanderern in Literatur, Kunst und Sport oder die weiterhin erhobene Vermögenssteuer lassen erwarten, dass es in Frankreich weniger soziale Ungleichheit gibt. Andere deutsch-französische Unterschiede wie die viel sichtbareren großstädtischen Einwandererghettos, die Elitehochschulen und die in sich abgeschlossene und vernetzte Elite lassen umgekehrt auf mehr soziale Ungleichheit in Frankreich schließen. Deshalb gehört der Widerspruch zwischen dem Prinzip der »Egalité« der Französischen Republik, die an vielen Rathäusern und Schulen eingemeißelt ist, und den ausgeprägten sozialen Hierarchien in der französischen Gesellschaft zum Standardrepertoire der deutschen Frankreichreportage in den Medien. Alle diese Unterschiede haben eine lange Vorgeschichte. Historiker sind also gefragt. Zudem gab es zumindest zwei Epochen des 20. Jahrhunderts, in denen die beiden Länder wichtige Gegensätze darstellen: im »Zeitalter der Extreme«, der Kriegs- und Zwischenkriegszeit zwischen 1914 und 1945, und dann wieder seit der 1980er Jahren, in denen einige neue, bisher noch wenig analysierte Unterschiede entstanden, die historisch einzuordnen sind. Deshalb wird dieser Artikel chronologisch vorgehen und die erheblichen Ähnlichkeiten vor 1914, dann die Divergenzen der Kriegs- und Zwischenkriegszeit, danach die Rückkehr zur Ähnlichkeit von den 1950er zu den 1970er Jahren und schließlich die neuen Divergenzen seit den 1980er Jahren behandeln. Man fängt diese Unterschiede und Ähnlichkeiten freilich nur ein, wenn man mit einem breiten Konzept der sozialen Ungleichheit arbeitet. Vier Dimensionen der sozialen Ungleichheit sollen in diesem Artikel verfolgt werden: (1) die Ungleichheiten der soziale Lagen, vor allem der Einkommen und Vermögen, der Bildung, der Gesundheit, der Stellung in der Arbeitshierarchie, Ungleichheiten, die nicht nur soziale Klassenmilieus, sondern auch Männer und Frauen, Minderheiten und Mehrheiten, Einwanderer und Indigene voneinander trennen;1 1 Allerdings wird in diesem Artikel nur auf die Einkommens-, Vermögens- und Bildungsunterschiede eingegangen. Die anderen Dimensionen der sozialen Lage werden teils mangels Forschung, teils mangels Raum nicht behandelt.

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(2) soziale Distinktionen, mit sozialen Bedeutungen aufgeladene Unterschiede im Lebensstil und im sozialen Umgang, mit denen Trennlinien zwischen sozialen Gruppen gezogen werden; (3) Ungleichheiten der sozialen Mobilität, der Chancen des sozialen Aufstiegs und der Bedrohung durch sozialen Abstieg; (4) Repräsentationen von sozialer Ungleichheit in den öffentlichen Debatten von Journalisten, Politikern, Intellektuellen, Experten und Kennern des jeweils anderen Landes, wobei in dem folgenden Vergleich vor allem von außen von der anderen Seite des Rheins herangetragene, sicher oft nicht leicht einzuschätzende Vorstellungen behandelt werden. Alle vier Dimensionen werden in diesem Artikel verfolgt, da man nicht von einer Dimension auf die anderen schließen kann, sondern sie oft in einer komplizierten Beziehung zueinanderstehen. Sie können sich alle parallel verändern und sich dadurch wechselseitig verstärken, aber sich auch im Widerspruch zueinander verändern. Sie können sich schließlich wechselseitig ausgleichen, etwa viel soziale Ungleichheit durch viel Aufstiegschancen oder scharfe soziale Trennlinien durch geringe Unterschiede der sozialen Lagen oder wenig Aufstiegschancen durch starke Wahrnehmung sozialer Trennlinien.2

I. Die Zeit vor 1914 In den Jahrzehnten vor 1914 überwogen die französisch-deutschen Ähnlichkeiten in der sozialen Ungleichheit, auch wenn dies ansonsten eher eine Epoche der Auseinanderentwicklung der französischen und deutschen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft war (vgl. Kap. 2). Die Einkommensverteilung unterschied sich in Frankreich und Deutschland nicht erheblich. Die einkommensstärksten 10 % der Bevölkerung erhielten in beiden Ländern rund 40 % des Volkseinkommens. Die Vermögen waren in den Händen weniger Reicher in ähnlichem Ausmaß konzentriert. Man schätzt, dass im Jahrzehnt vor 1914 das reichste Prozent der Bevölkerung in Frankreich rund 50–55 % der Vermögen, in Preußen rund 50 % der Vermögen besaß. In beiden Ländern stieg zudem die Vermögenskonzen­ tration an.3 Beiderseits des Rheins war die schärfste Form der Ungleichheit der 2 Vgl. als jüngere allgemeine Beiträge von Historikern zur Geschichte der sozialen Ungleichheit im 19. und 20. Jahrhundert: P. Rosanvallon, La société des égaux, Paris 2011; H.-U. Wehler, Geschichte der sozialen Ungleichheit seit den 1980er Jahren, München 2013; C. Reinecke u. T. Mergel (Hg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main 2012; H. ­Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2017; C. Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015. Ökonomen haben mehr über soziale Ungleichheit publiziert und behandeln dabei oft auch die historische Dimension. 3 Die Zahlen für Vermögen lassen sich wegen der unterschiedlichen Steuersysteme und historischen Berechnungen nur grob vergleichen. Vermögensverteilung für Frankreich: T. Piketty

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Bildung, der Analphabetismus, weitgehend beseitigt. Aber beide Länder waren von einer tiefen Ungleichheit unter den Ausgebildeten geprägt. Nur rund ein Prozent der Bevölkerung besaßen eine Hochschulausbildung und standen in einem enormen Abstand zu der großen Mehrheit der Bevölkerung, die nicht mehr als eine rudimentäre Grundschulausbildung besaß.4 In beiden Ländern wurden scharfe, in der Öffentlichkeit allen sichtbare, soziale Trennlinien des Lebensstils und des sozialen Umgangs gezogen zwischen den Spitzen der Gesellschaft, dem wohlhabenden Bürgertum, der Mittelschicht mit ihrem auskömmlichen Leben, also den Landwirten, den selbstständigen Handwerkern, Fuhrunternehmer, Händlern und der Arbeiteraristokratie und schließlich den breiten ländlichen und städtischen Unterschichten in ihrer Armut. Soziale Trennlinien wurden in beiden Ländern auch vom Staat mit Titeln und Orden vor allem innerhalb der Oberschicht und des Bürgertums geschaffen, auch wenn darin deutliche Unterschiede bestanden (vgl. Kap. 2).5 Die Ungleichheiten der Mobilitätschancen ähnelten sich in Frankreich und Deutschland ebenfalls. Wir besitzen zwar keine vergleichenden Studien zur sozialen Mobilität der Masse der Bevölkerung. Aber der Zugang zu den Oberschichten, zu den Spitzenpositionen in der Wirtschaft, in der Verwaltung, in der Politik, in der Rechtsprechung und in der Kultur war ähnlich abgeschlossen. Die Herkunft der Unternehmer war zwar gegenüber anderen Teilen des Bürgertums in Frankreich deutlich offener als in Deutschland, aber der Aufstieg aus den Mittel- und Unterschichten in die Spitzenstellungen der Wirtschaft war in beiden Ländern ähnlich begrenzt.6 Weder französische noch deutsche u. a., Wealth Concentration in  a Developing Economy. Paris and France 1807–1994, in: American Economic Review 96 (2006), S. 236–256, hier S. 248; Vermögensverteilung für Preußen: J. G. Williamson u. P. H. Lindert, American Inequality: A Macroeconomic History New York 1980 S. 50; vgl, zudem K.  Barkin, Germany and England. Economic inequality, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 16 (1987), S. 200–211, hier S. 205 f. (zitiert Berechnungen von Willford King von 1915, der ebenfalls die starke Ähnlichkeit zeigt); Zur Einkommensverteilung vgl. F. Dell, Top Incomes in Germany Throughout the Twentieth Century. 1891–1998, in: A.  Atkinson u. T. Piketty (Hg.), Top Incomes over the Twentieth Century. A Contrast between Continental European and English-speaking Countries, Oxford 2006, S. 364–425, hier S. 370 ff., sowie A. Atkinson u. T. Piketty, Towards a Unified Data Set on Top Incomes, in: dies. (Hg.), Top Incomes over the Twentieth Century. A Contrast between Continental European and English-speaking Countries, Oxford 2007, S. 531–565, hier S. 540 ff., 557 f. 4 Vgl. P. Flora, Quantitative Historical Sociology. A Trend Report and Bibliography, Den Haag 1977, S. 56 f.; H. ­Kaelble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1983, S. 200. 5 Vgl. J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988; C. Charle, Elite Formation in late 19th Century. France Compared to Britain and Germany, in: Historical Social Research 33 (2008), S. 249–261; G. Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009. 6 P.  Fridenson, Les patronats allemands et français au XXe siècle. Essai de comparaison, in: R. Hudemann u. H. Georges Henri (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19.

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Tellerwäscher wurden Millionäre. Auch die Bildungschancen waren ähnlich. Der Umfang der Sekundar- und Hochschulausbildung war, das hat zuerst Fritz Ringer nachgewiesen, in beiden Ländern vor 1914 und im europäischen Maßstab besonders ähnlich. Die Sekundar- und Hochschulen waren – bei aller Vielfalt der Schultypen, Hochschultypen und Fächer – gegenüber den Mittelschichten ähnlich begrenzt offen, gegenüber den Unterschichten ähnlich abgeschlossen.7 Das Kleinbürgertum war in ähnlicher Weise in Frankreich wie in Deutschland ein Drehkreuz der sozialen Mobilität. Die Arbeiterimmigranten, also vor allem die Italiener in Frankreich und die Italiener oder Polen in Deutschland, besaßen ähnlich schlechte Aufstiegschancen.8 Allerdings gab es doch einige erhebliche Unterschiede zwischen beiden Ländern, die auch von den Zeitgenossen oft registriert wurden. Einige soziale Trennlinien wurden in Deutschland schärfen gezogen als in Frankreich: die Trennlinie zwischen Adel und Bürgertum, da der Adel in der Monarchie Deutschlands eine größere gesellschaftliche und politische Bedeutung besaß als in der Französischen Republik; die Trennlinie zwischen der sehr reichen wirtschaftlichen Oberschicht und dem Bürgertum; auch die soziale Trennlinie, die das Kleinbürgertum und die Angestellten nach unten gegenüber den Arbeitern zogen, da das proletarische Arbeitermilieu in Deutschland politisch stärker organisiert und sozial in sich geschlossener war als in Frankreich. Wichtige Mobilitäts­ barrieren waren zudem in Frankreich deutlich niedriger. Die Aufstiegschancen für religiöse Minderheiten in die Spitzenpositionen der staatlichen Verwaltung, der Rechtsprechung, der Armee und der Wissenschaft waren in Frankreich günstiger als in Deutschland. Angehörige der protestantischen und der jüdischen Minderheit hatten in Frankreich mehr Möglichkeiten, Spitzenbeamte, Minister oder Professoren zu werden als die weit zahlreicheren Angehörigen der katholischen Minderheit und die jüdische Minderheit in Deutschland. Auch Frauen besaßen in Frankreich bessere Zugangschancen zur Hochschulausbil-

und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen / Elites en France et en Allemagne aux ­X IXème et XXème siècles. Structures et relations, Bd. 1, München 1994, S. 153–168; H. ­Kaelble, Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1983, S. 228 ff.; H. Best u. M. Cotta, Parliamentary Representatives in Europe 1848–2000. Legislative Recruit­ ment and Careers in Eleven European Countries, Oxford 2000; H. Best, Der langfristige Wandel politischer Eliten in Europa 1867–2000. Auf dem Weg der Konvergenz?, in: S. Hradil u. P.  Imbusch (Hg.), Oberschichten  – Eliten  – Herrschende Klassen, Opladen 2003, S. 369–399. 7 Vgl. F. Ringer, Education and Society in Modern Europe, Bloomington u. a. 1979, S. 113–205; H. ­Kaelble, Divergenz oder Konvergenz. Soziale Mobilität in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: G. A. Ritter u. R. Vierhaus (Hg.), Aspekte der historischen Forschung in Frankreich und Deutschland, Göttingen 1981, S. 117–135. 8 Vgl. H.-G.  Haupt u. G.  Crossick, Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts, München 1998; K. J.  Bade, Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000.

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dung als in Deutschland und besetzten schon vor 1914 die ersten akademischen Positionen in der Hochschulausbildung für Frauen.9 Die französischen und deutschen Repräsentationen der sozialen Ungleichheit besaßen vor 1914 Ähnlichkeiten. In beiden Ländern interessierte sich die politische Öffentlichkeit nur sehr begrenzt für die soziale Ungleichheit auf der jeweils anderen Rheinseite. Es waren vielmehr die USA und ihr Bild in Europa, über das Europäer diskutierten, wenn es um die Fortschritte oder Gefahren von größerer sozialer Gleichheit ging. Im Allgemeinen verstand man zudem unter sozialer Ungleichheit auf beiden Seiten des Rheins Ähnliches, auch weil es viel intellektuellen Austausch gab. Man meinte damit weniger Ungleichheit der Lebenslagen, etwa Vermögens- oder Einkommensunterschiede, sondern vor allem soziale Trennlinien zwischen Milieus, zwischen Männern und Frauen, auch zwischen Immigranten und Indigenen, daneben auch Chancen der sozialen Mobilität. Soziale Ungleichheit wurde vor allem als Einschränkung von Bewegungsräumen des Individuums angesehen und deshalb soziale Trennlinien in das Zentrum gestellt. Gleiche Lebenslagen oder gleiche Chancen für alle Bürger durch staatliche Eingriffe zu sichern, war den Politikern und der politischen Öffentlichkeit dieser Epoche im liberalen Frankreich ebenso wie im interventionistischen Deutschland weitgehend fremd. Gleichheit vor dem Recht erschien ausreichend. Verbesserte, aber nicht gleiche Lebenssituationen durch den Staat herbeizuführen wurde höchstens als eine Politik gegenüber den unteren Schichten akzeptiert, teils aus Angst vor sozialen Unruhen, teils aus Mitleid mit den Armen.10 Gewisse deutsch-französische Unterschiede bestanden in den Repräsentationen freilich doch. Generell war das Interesse der französischen Öffentlichkeit an Deutschland größer als das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an Frankreich, vor allem als Folge der für Frankreich schockierenden Niederlage in dem preußisch-französischen Krieg von 1870/71. Die französische Öffentlichkeit war dadurch nicht nur für die Gefahren, die aus Deutschland zu drohen schienen, sondern auch für die Performanz Deutschlands in wichtigen Themenfeldern, darunter auch der Bildung, sensibilisiert. Dabei geriet auch die soziale Ungleichheit in Deutschland stärker in den Blick, auch wenn sie kein zentrales Thema wurde. Darüber hinaus unterschieden sich die Repräsentationen des Anderen. Deutsche nahmen in Frankreich oft eine geringere soziale Ungleichheit als in 9 R.  Hudemann u. a. (Hg.), Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert. Strukturen und Beziehungen / Elites en France et en Allemagne aux XIXème et XXème siècles. Structures et relations, 2 Bde., München 1994–1996; Best (Anm. 6), S. 375 ff.; Charle (Anm. 5), S. 249–261; H. ­Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 53, 110 f.; E. Francois, Preußen und Katholizismus. Eine Tour d’horizon, in: R. Faber u. U. Puschner (Hg.), Preußische Katholiken und katholische Preußen im 20. Jahrhundert, Würzburg 2011, S. 21–31. 10 Zuletzt besonders anregend: Rosanvallon (Anm. 2); engl.: ders., Rethinking Equality in an Age of Inequalities, Max-Weber-Lecture 8, European University Institute, Badia Fiesolana 2011.

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ihrem eigenen Land wahr, auch wenn diese Beobachtung nicht alle Deutsche teilten. »Die Gleichheit besteht [in Frankreich] nun einmal und mit allem ihrem Luxus ist die reaktionäre Aristokratie nicht im Stande, im heutigen Paris eine ›erste Gesellschaft‹ zu bilden«11, schrieb 1881 ein deutscher Frankreichreisender. Andere Deutsche waren skeptischer. Der Ökonom Karl Hillebrand sprach sogar von dem »den Franzosen fälschlich zugeschriebenen Gleichheitsbedürfnis.«12 Umgekehrt urteilten französische Deutschlandkenner meist erheblich schärfer über die sozialen Ungleichheit in Deutschland: »Nirgends gibt es mehr Unterschiede zwischen den Klassen als in Deutschland und in Berlin«13, schrieb in der gleichen Zeit der französische, aus Deutschland eingewanderte Journalist Arman Rosental. Einen solchen Satz findet man in den Frankreichberichten von Deutschen vor 1914 meines Wissens nicht.14

II. Die Kriegs- und Zwischenkriegszeit zwischen 1914 und 1945 In den 1920er Jahren endete die Phase, in der man von weitgehenden deutsch-­ französischen Ähnlichkeiten der sozialen Ungleichheit sprechen kann. Das ist nicht überraschend. In der Zeit zwischen 1914 und 1945 kulminierten die politischen und wirtschaftlichen Gegensätze zwischen Frankreich und Deutschland: das tiefe, aus dem Krieg stammende politische Misstrauen zwischen den beiden Ländern, obwohl nun beide Republiken waren; die deutsche Schock­erfahrung der Inflation, die in Frankreich viel schwächer war; die destabilisierende Weltwirtschaftskrise, die in Frankreich ebenfalls weniger wütete; der Kontrast zwischen dem NS-Regime und der Dritten Republik; die deutsche Ausbeutungswirtschaft während des Zweiten Weltkrieges, von der Deutschland profitierte und unter der Frankreich litt. Die deutsch-französischen Unterschiede der sozialen Ungleichheit verschärften sich vor allem in vier zentralen Bereichen: in den Einkommensdisparitäten, in den Bildungschancen, im Zugang zu den Eliten und in der Erfahrung von sozialen Trennlinien. Entgegengesetzte deutsch-französische Annäherungen der sozialen Ungleichheit lassen sich dagegen selten erkennen. Allerdings wissen wir über eine ganze Reihe von anderen Bereichen, vor allem über die anderen

11 M. Nordau, Paris unter der Dritten Republik. Neue Bilder aus dem wahren Milliardenlande, Leipzig 18812, S. 28 f. 12 K. Hillebrand, Frankreich und die Franzosen, Straßburg 18863, S. 47; ähnlich K. Eberhardt, Ein Jahr in Paris. Skizzen und Kulturbilder nach den Erinnerungen und Beobachtungen eines Deutschen, Wien 1917, S. 128 ff. 13 J. Saint-Cère, L’Allemagne telle quelle est, Paris 1886, S. 227. Rosental, Journalist beim Figaro, schrieb unter dem Pseudonym Jacques Saint-Cère. 14 Vgl. H. ­Kaelble, Die vergessene Gesellschaft im Westen? Das Bild der Deutschen von der französischen Gesellschaft. 1871–1914, in: Revue d’Allemagne 21 (1989), S. 181–196.

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Unterschiede der sozialen Lage und über die Repräsentationen von sozialer Ungleichheit, bisher sehr wenig. Die Einkommensdisparitäten entwickelten sich seit dem Ersten Weltkrieg in Frankreich und Deutschland weit auseinander. Nach den Berechnungen der französischen und englischen Ökonomen Thomas Piketty und Anthony Atkinson schnellten die Einkommensdisparitäten im Ersten Weltkrieg in Deutschland nach oben, fielen dagegen in Frankreich, da der Krieg in Frankreich im Land selbst viel zerstörte und zudem überwiegend über Steuern, in Deutschland dagegen vor allem über Kriegsanleihen finanziert wurde, daher Kriegsgewinne in Deutschland weniger besteuert wurden. Die Einkommensdisparitäten milderten sich in den 1920er Jahren umgekehrt in Deutschland stärker ab als in Frankreich. Entscheidend trug dazu die Inflation bei, die in Deutschland viele mobile Vermögen entwertete und dadurch die Spitzeneinkommen schwächte. Die Einkommensdisparitäten wurden im NS-Deutschland umgekehrt wieder höher als in der späten Dritten Republik, auch weil der Rüstungsboom in Deutschland die Spitzeneinkommen in der Wirtschaft emporschnellen ließ, für die Masse der Bevölkerung aber nur die Arbeitslosigkeit sank, die Realeinkommen dagegen im Ganzen nicht stiegen.15 Deutschland war daher in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit eine Art Schocklabor der sozialen Ungleichheit: die galoppierende Inflation 1923 und die Weltwirtschaftskrise ab 1929, die soziale Ungleichheit massiv abbauten, aber für fast alle Sozialmilieus eine Zeit der Not waren; das NS-Regime, dass zwar manche soziale Trennlinien abschwächte, aber die Einkommensdisparitäten massiv verschärfte. Ein solches Schocklabor erlebte Frankreich nicht. Auch die Bildungschancen, die vor dem Ersten Weltkrieg im europäischen Vergleich noch ähnlich gewesen waren, liefen seit den 1920er Jahren weit auseinander. Der Anteil der Sekundarschüler und der Studenten an den entsprechenden Jahrgängen stieg damals in Frankreich weit rascher an als in Deutschland. Frankreich nahm eine Spitzenposition in der europäischen Rangordnung der Bildungschancen ein. Deutschland blieb dagegen seit dieser Zeit in den unteren Rängen hängen. Das hing auch damit zusammen, dass die Prioritäten des Sozialstaates in den beiden Ländern unterschiedlich gesetzt wurden. Frankreich gab relativ mehr für Bildung aus, Deutschland dagegen während der Weimarer Republik mehr für soziale Sicherung aufgrund der tieferen Not durch Inflation und Weltwirtschaftskrise, aber auch wegen des größeren Drucks der besser organisierten Arbeiterbewegung. Vom NS-Regime wurden mit der Aufrüstungspolitik die Ausgaben sowohl für Bildung als auch für die soziale Sicherung zurückgedrängt.16 Die Bildungschancen für Frauen verbesserten sich seit 15 T. Piketty, Income, Wage, and Wealth Inequality in France 1901–1998, in: ders. u. Atkinson (Anm. 3), S. 43–81, hier S. 46 ff.; Dell (Anm. 3), S. 370 ff.; Atkinson u. Piketty (Anm. 3), S. 540 ff., 557 f. 16 Vgl. G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 20103; P. Flora u. a. State, Economy, and Society in Western Europe 1815–1975. A

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den 1920er Jahren zwar auch in Deutschland. Der Anteil der Frauen unter den Hochschülern stieg zwischen 1910 und 1935 immerhin von 4 % auf 16 % aller Studierenden. Gegenüber Frankreich holte Deutschland während der Weimarer Republik sogar auf, fiel aber während des NS-Regimes noch weiter hinter Frankreich zurück als in der Vorkriegszeit.17 Die Bildungschancen von jüdischen Studenten wurden vom NS-Regime schon seit den 1930er Jahren weitgehend beseitigt, in Frankreich erst seit der deutschen Besatzung 1940. Darüber hinaus nahm die Rekrutierung vor allem der politischen Elite, weniger der Wirtschafts-, Verwaltungs- und Bildungselite, in den beiden Ländern einen verschiedenen Lauf. Einerseits näherte sich die französische und deutsche Elite an, da die deutsche Aristokratie mit der Revolution von 1918 und dem Ende der Monarchie ihre beherrschende Rolle in den Regierungskabinetten verlor und auch im Parlament stark zurückfiel. Anderseits gelangten in die deutsche politische Elite erheblich mehr soziale Aufsteiger als in Frankreich, besonders weit greifend in der Weimarer Republik, als über die SPD eine ganze Reihe Politiker aus dem Arbeitermilieu in die politischen Spitzenpositionen kamen, begrenzter in der NS-Zeit, als häufiger als vor 1918 Außenseiter und soziale Aufsteiger aus der Mittelschicht in die politischen Schaltstellen gelangten. Im Gegensatz dazu verfestigte sich die französische Besonderheit, die wachsende Bedeutung der elitären grandes écoles für den Zugang zu den sehr eng verflochtenen Politik-, Verwaltungs- und Wirtschaftselite.18 Die sozialen Trennlinien entwickelten sich in Deutschland ebenfalls errati­ scher als in Frankreich und schwächten sich stärker ab. Die allmähliche Abschwächung der Trennlinien, die die Aristokratie gegenüber der übrigen Gesellschaft zog, war schon während der Weimarer Republik und dann weiter im NS-Regime die einzige wichtige Annäherung der deutschen Gesellschaft an die französische Gesellschaft. Deutsch-französische Unterschiede brachen dagegen in den Erschütterungen der sozialen Trennlinien zwischen dem Bürgertum bzw. dem Kleinbürgertum und der übrigen Gesellschaft auf. Schon im Ersten Weltkrieg und dann in der Inflation wurden diese Trennlinien in Deutschland schockartig geschwächt. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Realeinkommen, die Grundlage der durch Lebensstil gezogenen sozialen Trennlinien, brachen schon im Ersten Weltkrieg ein, erholten sich nach 1918 für das Bildungsbürgertum, anders als für das Wirtschaftsbürgertum, nicht wieder.

Data Handbook in two Volumes, Bd. 1: The Growth of Mass Democracies and Welfare States, Frankfurt, New York 1983, S. 381, 390. 17 ­Kaelble (Anm. 6), S. 222–224. 18 H. Best u. M. Cotta, Between Professionalization and Democratization. A Synoptic View on the Making of the European Representative, in: dies., Representatives (Anm. 6), S. 493–526, hier S. 494 ff.; Best (Anm. 6), S. 345 ff.; Hudemann u. a. (Anm. 9); ­Kaelble (Anm. 4), S. 73 ff., 228 ff., 245 f. (für Stabilität der Rekrutierung der deutschen und französischen Oberschicht.); W.  Zapf, Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919–1961, München 1965, S.178 ff.; Fridenson (Anm.6), S. 163 ff.

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In der Inflation wurden die Ersparnisse und Geldvermögen, eine weitere entscheidende soziale Trennlinie des Bürgertums, weiter stark angegriffen. Die humanistische Ausbildung, ebenfalls eine essentielle soziale Trennlinie des Bürgertums, verlor durch die Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges zudem viel von ihrer moralischen Überzeugungskraft.19 Die Weltwirtschaftskrise war eine dritte Erschütterung, da wieder viele bürgerliche Haushalte sozial abstiegen oder nur mühsam die Fassade der bürgerlichen Lebensführung erhalten konnten. Das NS-Regime war schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine vierte Erschütterung, da es in seinen Organisationen solche Trennlinien nicht stützte und von Teilen des Bürgertums deshalb auch als eine Bedrohung wahrgenommen wurde, die nicht selten im Zentrum von bürgerlichen Generationenkonflikten stand. Lebensbedrohend wurde das NS-Regime für das jüdische deutsche Bürgertum. In den Transporten in die KZs wurden die bürgerlichen sozialen Trennlinien, trotz aller auch vom NS-Regime genährten Illusionen, vollkommen zerstört. Eine vierte Erschütterung der bürgerlichen sozialen Trennlinien brachte für alle Deutschen der Zweite Weltkrieg, da im Bombardement der Alliierten und in der beginnenden Flucht von Deutschen vor den sowjetischen Truppen aus den östlichen Teilen des Landes solche sozialen Trennlinien weitgehend bedeutungslos geworden waren.20 Von den meisten dieser Erfahrungen wurde das französische Bürgertum verschont. Zwar litt es ebenfalls unter dem Ersten Weltkrieg. Aber die Zerrüttung durch Inflation und Weltwirtschaftskrise blieb danach milder. Im Zweiten Weltkrieg durchlebte es zwar ebenfalls Flucht und Bombardierung, zuerst auf der Massenflucht vor der deutschen Eroberung 1940 und dann in den alliierten Bombardements der französischen Provinzstädte. Aber diese Erfahrung war doch schwächer, da die Flucht vor der deutschen Armee meist nach kurzer Zeit mit der Rückkehr endete und die Bombardements der Alliierten in Frankreich vor allem Industrien und Verkehrsanlagen traf, dagegen in weniger Städten als in Deutschland die Wohnviertel. Das französische jüdische Bürgertum machte allerdings denselben Leidensweg durch wie das deutsche jüdische Bürgertum.21 Das Verständnis von sozialer Gleichheit verschob sich in der Zwischenkriegszeit in beiden Ländern in ähnlicher Richtung. Gleichheit wurde, folgt man Rosanvallon, nicht mehr nur als Rechtsgleichheit und gleiche gesellschaftliche

19 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München 2003, S. 76 ff., 291 ff.; M.  Föllmer, Die Verteidigung der bürgerlichen Nation. Industrielle und hohe Beamte in Deutschland und Frankreich 1900–1930, Göttingen 2002. 20 J.-J. Becker u. G. Krumeich, Der Große Krieg. Deutschland und Frankreich im Ersten Weltkrieg. 1914–1918, Essen 2010; N.  Beaupré, Das Trauma des großes Kriegs 1918–1932/33, Darmstadt 2009; Föllmer (Anm. 19). 21 Vgl. zu den Bombardements in Frankreich: M. Schmiedel, »Sous cette pluie de fer«. Luftkrieg und Gesellschaft in Frankreich 1940–1944, Stuttgart 2012.

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Bewegungsfreiheit für Individuen verstanden. Kollektive Regeln für Gleichheit in der sozialen Sicherung, in der Gesundheitspolitik und im Wohnungsbau wurden für die Masse der Bevölkerung akzeptiert und immer mehr auch gesetzlich durchgesetzt, in Deutschland stärker als in Frankreich.22 Chancengleichheit wurde in den meisten Parteien ein politisches Ziel. Allerdings sind die französischen und deutschen Repräsentationen der sozialen Ungleichheit auf der jeweils anderen Seite des Rheins bisher zu wenig erforscht.

III. Der Wirtschaftsboom von den 1950er bis zu den 1970er Jahren Deutsch-französische Divergenzen in der sozialen Ungleichheit endeten nicht schon 1945, sondern erst ab den 1950er Jahren. Die neuen deutschen sozialen Ungleichheiten der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Ungleichheiten zwischen den Millionen von Flüchtlingen und den Einheimischen, zwischen den schlecht versorgten Städtern und der gut ernährten Landbevölkerung waren auch neue Unterschiede gegenüber Frankreich, die dann allerdings in den 1950er Jahren gar in wieder zurückgingen. In den 1950er bis 1970er Jahren milderte sich in Frankreich wie in der Bundesrepublik die soziale Ungleichheit in den meisten Dimensionen in ähnlicher Weise ab. Nach der galoppierenden Inflation und nach der Weltwirtschaftskrise entstand damit eine dritte Situation, in der soziale Ungleichheit im 20. Jahrhundert zurückging. Sie unterschied sich allerdings in zwei entscheidenden Aspekten: Diese Abmilderung fand diesmal nicht nur in Deutschland, sondern ähnlich auch in Frankreich statt. Nicht mehr der Unterschied zwischen beiden Ländern, sondern die Konvergenz ist das interessante historische Thema. Darüber hinaus besaß der Abbau der sozialen Ungleichheit nicht die bedrückenden Begleiterscheinungen wie in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit: Er war vielmehr verbunden mit einer einzigartigen Steigerung des Lebensstandards für die gesamte Bevölkerung Frankreichs und Deutschlands. Statt eines »Schocklabors der Grausamkeiten« entstand nun ein »segensreiches Experiment«, dessen Ursachen allerdings bis heute nicht voll geklärt sind. Das erstaunlichste an dieser Epoche war die leichte Abmilderung der Vermögens- und Einkommensunterschiede. Die Vermögenskonzentration verschwand sicher nicht, nahm aber doch in beiden Ländern wie auch anderswo in Europa etwas ab. Um 1950 besaß das reichste Prozent der Haushalte, die Vermögen besaßen, in Frankreich 31 %, in Deutschland wahrscheinlich einen ähnlichen Anteil. Bis in die 1970er Jahre sank dieser Anteil in Frankreich auf 26 %, in der

22 Vgl. Rosanvallon (Anm. 2); engl.: Rosanvallon (Anm.10).

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Bundesrepublik auf 28 % ab.23 Die Vermögenden waren nicht ärmer geworden, aber ein stark wachsender Teil der Bevölkerung konnte sich in der langen Periode der wirtschaftlichen Prosperität Vermögen in der Form von Häusern, Autos oder Lebensversicherung anschaffen. Die Einkommensunterschiede gingen ebenfalls leicht zurück. Der Einkommensanteil des einkommensstärksten Prozents der Einkommensempfänger stieg zwar in beiden Ländern in den 1950er erst einmal an, fiel dann aber ab, in Frankreich von 10 % (1961) auf 7 % (1982), in Deutschland von 12 % (1961) auf 10 % (1974). Die anderen Gruppen der Spitzeneinkommen entwickelten sich ähnlich. Beide Länder folgten damit einem globalen Trend.24 Die Veränderung dieser Einkommensanteile in der DDR kennen wir weniger genau. Sie müssen ebenfalls gesunken sein. Um 1983 war die Einkommensverteilung in der DDR nach Berechnungen des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung sogar weniger ungleich als in der Bundesrepublik, auch wenn sie mit einem Einkommensanteil von 30 % für die obersten 20 % der Einkommensempfänger nicht weit von der Bundesrepublik ablag (34 %).25 Der privilegierte Konsum der leitenden Kader und damit die Ungleichheit der Realeinkommen gehen freilich in diese Schätzungen nicht ein. Vier historische Gründe spielten in Frankreich wie in der Bundesrepublik für diesen leichten Rückgang der sozialen Ungleichheit eine ausschlaggebende Rolle. In der Prosperitätszeit verloren gewichtige Milieus mit wenig Einkommen an Bedeutung: die sich überwiegend selbst versorgenden, agrarischen Familienwirtschaften mit wenig Bareinkommen, ärmliche Familienwirtschaften von kleinen Händlern, Handwerkern und Fuhrleuten, ebenfalls mit wenig Einkommen und kärglichem Besitz und Tagelöhner ohne jeden Besitz und mit sehr niedrigen, höchst unsicheren Einkommen. Diese Milieus wurden von der Nachfrage nach Arbeitskräften aus dem modernen Industrie- und Dienstleistungssektor zum großen Teil aufgesogen. Die Vollbeschäftigung der Prosperitätszeit und die besonders große Macht der Gewerkschaften trieben zudem die Löhne und damit die unteren und mittleren Einkommen in die Höhe und vergrößerten ihren Anteil am Volkseinkommen. Der besonders massive Ausbau des Wohlfahrtsstaats stärkte die untersten Einkommen, die Empfänger kleiner Renten, die Arbeitslosen, die Sozialhilfeempfänger.

23 H. Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S.223. 24 Atkinson u. Piketty (Anm. 3), S. 557 f. 25 M. C. Sawyer, Income distribution in OECD countries. OECD Economic Outlook, Occasional papers, Juli 1976, S. 27 f.; P. Flora u. a., State, Economy and Society in Western Europe 1815–1975. A Data Handbook in two Volumes, Band 2: The Growth of Industrial Societies and Capitalist Economies, Frankfurt / Main, New York 1987, S. 641 ff.; F.  Alvaredo u. T. Piketty, The Dynamics of Income Concentration in Developed and Developing Countries. A View from the Top, in: L. Lopez-Calva u. N. Lustig (Hg.), Declining Inequality in Latin America. A Decade of Progress?, Washington 2010, S. 72–99; Materialien zum Bericht der Nation im geteilten Deutschland. 1987, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1987, S. 503.

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Auch die Ungleichheit der Bildung veränderte sich in dieser Zeit stark, ein vierter Grund für die andere Einkommensverteilung. Noch um 1950 besaßen in Frankreich und in beiden deutschen Staaten wenige Prozent der Bevölkerung eine akademische Ausbildung, die große Mehrheit hingegen nicht mehr als Grundschulausbildung. Zwischen 1950 und 1980 stieg der Anteil der Studenten in Frankreich, in der Bundesrepublik und in der DDR recht ähnlich auf rund ein Viertel der entsprechenden Altersjahrgänge, nahe bei dem europäischen Durchschnitt. Die späteren Divergenzen ließen sich damals noch nicht erkennen. Auch die mittleren Ausbildungsniveaus nahmen zu. Die Mobilitätschancen verbesserten sich ebenfalls, wenn auch bei Weitem nicht so eindeutig wie die Unterschiede der genannten Lebenslagen. Ohne Zweifel veränderten sie sich zwei Aspekte nicht erkennbar: Die Mobilität zwischen den großen sozialen Schichten, die Aufstiegsmobilität wie die Abstiegsmobilität, blieb in Frankreich wie in Deutschland ähnlich wie in den meisten anderen Ländern Europas weitgehend unverändert.26 Auch die Zugangschancen zu den politischen, administrativen, wirtschaftlichen und kirchlichen Eliten öffneten sich in diesen Jahrzehnten im Ganzen kaum.27 Neue Chancen eröffneten sich aber doch in zwei wichtigen Aspekten des Bildungssektors. Der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studenten, damals einer der wichtigen Indikatoren für soziale Öffnung, stieg in Frankreich und in der Bundesrepublik ähnlich von 4 % um 1950 auf immerhin 13–15 % um 1970. Man kann daher schätzen, dass um 1950 nur ein paar Promille der Arbeiterkinder, in den 1970er Jahren dagegen 2–5 % der Arbeiterkinder studierten. Völlig anders verlief allerdings die Entwicklung in der DDR. Der Anteil der Arbeiterkinder unter den Studenten wurde in den 1950er Jahren mit rigiden Quoten für andere soziale Milieus auf rund die Hälfte der Studenten nach oben gedrückt, wobei oft unklar ist, was sich hinter der Kategorie »Arbeiter« verbarg. Er fiel danach aber bis Ende der 1970er Jahre ab, sodass ein kleinerer Anteil der Arbeiterkinder als in Frankreich und der Bundesrepublik an die Hochschulen kamen. Darüber hinaus verbesserten sich von den 1950er bis 1970er Jahren auch die Bildungschancen von Frauen. In den 1970er Jahren waren in Frankreich wie in Deutschland in den Sekundarschulen erstmals Mädchen ähnlich häufig wie Jungen. An den Hochschulen stieg der Frauenanteil zwischen 1950 und 1980 in Frankreich an allen Hochschulen von 34 % auf 50 %, in der DDR an allen Hochschulen von 23 % auf 58 % und in der Bundesrepublik an den Universitäten im engeren Sinn von 16 % auf 41 %.28 26 Vgl. R. Breen, Social Mobility in Europe, Oxford 2004; R. Erickson u. J. Goldthorpe, The Constant Flux. A Study of Class Mobility in Industrial Societies, Oxford 1992. 27 Vgl. Best u. Cotta: Representatives (Anm. 6); M. Hartmann, Nationale oder transnationale Eliten. Europäische Eliten im Vergleich, in: Hradil u. Imbusch (Anm. 6), S. 285 f., 293 f.; Hudemann u. a. (Anm. 9). 28 Vgl. R. Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, Wiesbaden 2006 4, S. 288 ff. (DDR); H. ­Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 392 ff. (Studentenraten), 396 f. (Frauenraten unter Studenten); ­Kaelble (Anm. 6), S. 214 ff. (soziale Herkunft der Studenten).

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Die größere Gleichheit der Bildungschancen wurde in Frankreich wie in der Bundesrepublik und der DDR ein wichtiges politisches Ziel.29 Die scharfen sozialen Trennlinien innerhalb der französischen und deutschen Gesellschaft milderten sich ebenfalls ab. In vier gesellschaftlichen Feldern war dies besonders deutlich. Der Massenkonsum, der sich in den 1950er bis frühen 1970er Jahren im westlichen Europa durchsetzte, drängte die sozialen Trennlinien zurück, die vom Bürgertum, vom Kleinbürgertum und von den gelernten Arbeitern weiterhin nach unten gezogen wurden. Die Symbole des neuen Massenkonsums, das Auto, das Kino, das Fernsehgerät, die Waschmaschine, der Kühlschrank, elektrischer Strom und fließendes Wasser, das Sofa, die Schrankwand und die Ferienreise zogen keine völlig exkludierenden sozialen Trennlinien mehr, sondern wurden auch der Masse der Bevölkerung zugänglich. Der neue Massenkonsum war eine Mischung aus von oben abgesunkenen und von unten aufgestiegenen Konsumgütern. Feine soziale Unterschiede blieben allerdings bestehen.30 Darüber hinaus veränderte sich die soziale Funktion des Besitzes, der zuvor eine der gravierendsten sozialen Trennlinien war, da er auch mehr Sicherheit für die Familie, in der Krankheit und im Alter bot und nur einem kleinen Teil der Bevölkerung zugänglich war. In der Prosperitätsphase konnte sich ein erheblich größerer Teil der Bevölkerung Besitz in Form von Autos, Einfamilienhäusern oder Lebensversicherungen zulegen. Sicherheit in Krankheit und im Alter konnte zudem nicht mehr nur durch Besitz, sondern noch stärker auch durch die massiv ausgebaute staatliche soziale Sicherung erreicht werden. Besitz zog daher keine so scharfen Trennlinien mehr. Auch die akademische Ausbildung verlor weiterhin viel von ihrer Rolle als soziale Trennlinie, teils weil die Zahl der Studenten stark zunahm, teils weil die besonderen Lebensformen der Studenten, vor allem die Studentenverbindungen in Deutschland, viel von ihrer Bedeutung verloren, teils auch weil der Abstand zwischen Akademiker- und anderen Einkommen weiter absank. Schließlich milderte sich in der Prosperitätszeit und ihren Veränderungen der Arbeit auch die scharfe Trennlinie zwischen den gelernten Arbeitern mit ihrer starken Macht in der betrieblichen Hierarchie, ihrer dauerhaften Beschäftigung und ihren beständigen und höheren Einkommen und den ungelernten Arbeitern weiter ab. Alle diese Entwicklungen waren nicht völlig neu, wurden aber in der Prosperitätsphase massiv verstärkt.

29 Vgl. R. Breen u. a., Nonpersistent Inequality in Educational Attainment. Evidence from Eight European Countries, in: American Journal of Sociology 114, 2009, Heft 5, S. 1475–1521; G. S. Papadopoulos, Education 1960–1990. The OECD Perspective, Paris 1994. 30 H. Mendras, La seconde révolution française 1965–1984, Paris 1988; Victoria de Grazia: Irresistible Empire. America’s Advance Through Twentieth Century Europe, Cambridge / Mass. 2005; H.-G. Haupt, Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2003; S. Haustein, Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich 1945–1970, Frankfurt / Main 2006; S. Middendorf, Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980, Göttingen 2009.

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Der Blick auf das andere Land jenseits des Rheins veränderte sich im Vergleich zur Vorkriegszeit grundlegend, wobei die soziale Ungleichheit auch in dieser Phase nicht die Wahrnehmung des anderen Landes jenseits des Rheins beherrschte. Französische Beobachter sah nun eher Deutschland als das Land geringerer sozialer Ungleichheit: »Die Abschließung zwischen den sozialen Klassen,« schrieb ein französischer Journalist 1957, »ist in Deutschland viel weniger deutlich als in den alten Ländern. In den wieder aufgebauten Städten kann man zwischen den reichen Stadtteilen, den Stadtteilen der Mittelschichten, den Stadtteilen der Proletarier und den Armenviertel immer weniger unterscheiden. Die meisten Restaurants werden von jedem besucht und jeder bekommt ein sauberes Tischtuch, Blumen und einen beflissenen Empfang des Personals.31 Einer der klügsten Beobachter der beiden Länder, Alfred Grosser, sah in den frühen 1970er Jahren, dass die Bundesrepublik »kein eigentliches ›Establishment‹ hat wie England oder Frankreich mit seinen Eliteschulen und seiner Konzentration führender Persönlichkeiten in der Hauptstadt. […] Die soziale Mobilität ist nach wie vor begrenzt, aber sie ist stärker als in Frankreich und England. Neulinge, die nicht gerade aus den unteren Schichten, sondern aus dem Mittelstand kommen, vermögen leichter in das führende Milieu zu gelangen«.32 Aus dem Rückblick schrieb 2004 ein Journalist: »Die alte westdeutsche Bundesrepublik war, bei allen sozialen Unterschieden, eine relativ egalitäre Gesellschaft.«33

IV. Neue Unterschiede der sozialen Ungleichheit seit den 1980er Jahren Seit den 1980er Jahren verstärkte sich die soziale Ungleichheit wieder. Die Einkommensdisparitäten nahmen in Frankreich und Deutschland wieder zu. Diese Zunahme war zwar in den 1980er Jahren in Frankreich und Deutschland schwächer als in angelsächsischen Ländern oder gar in Russland und in der südlichen Hemisphäre, schlug in den frühen 1990er Jahren sogar für kurze Zeit wieder in eine Abmilderung um, zog aber seit der Mitte der 1990er Jahre wieder an.34 Auch die Vermögensverteilung wurde wieder ungleicher.35 Die Unterschiede in den Bildungschancen wurden wieder zum heißen öffentlichen Thema. Diese

31 J. Botrot, Une Allemagne toute neuve, Paris 1957, S. 179 f. 32 A. Grosser, Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München 1964, S. 269; ähnlich Ernst Fraenkel 1956 zit. nach: H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S.110. 33 N. Piper, Soziologie der Ungleichheit, in: SZ, 05.10.2004, S. 19. 34 Atkinson u. Piketty (Anm. 3), S. 540 ff., 557 f. 35 OECD: Mehr Ungleichheit trotz Wachstum? Einkommensverteilung und Armut in OECDLändern, Paris 2008; vgl. auch J. Beckert, Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts, Frankfurt 2004.

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jüngste Phase wird deshalb oft als eine Zeit erneuter Verschärfung der sozialen Ungleichheit angesehen. Die sozialen Trennlinien verschärften sich ebenfalls wieder deutlich. Jedoch wurden nicht die alten sozialen Trennlinien zwischen sozialen Milieus wieder härter gezogen. Vielmehr entstanden zwei soziale Trennlinien neu: Auf der einen Seite verschärfte sich die Trennlinie, die die neuen Armen, also Immigranten, Flüchtlinge, Arbeitslose, Ein-Eltern-Familien und Studenten von der übrigen Gesellschaft trennte. Diese Trennlinie war nicht völlig unpassierbar. Für einen erheblichen Teil der Armen, für vorübergehend Arbeitslosen, für Studenten, für manche Immigranten und Flüchtlinge war die Armut temporär. Aber nicht wenige Armen steckten in einem Getto der Armut, aus dem schwer zu entkommen war. Wie groß dieser Teil der Armen wurde, ist umstritten. Darüber hinaus entstanden in Europa neue soziale Trennlinien zwischen religiösen Milieus. Vor allem die neuen Trennlinien der religiösen Zuwandererminderheiten formten sich in einem komplizierten Prozess der Ausgrenzung durch die Mehrheiten und der Abgrenzung gegen die Mehrheiten. Diese neuen religiösen Trennlinien spiegelten nicht immer soziale Ungleichheit wider. Auch wohlhabende Immigranten lebten nicht selten einen eigenen, religiös bestimmten Lebensstil. Aber nicht selten besaßen diese Trennlinien doch die Bedeutung hierarchischer sozialer Ungleichheit. Allerdings verschärften sich nicht alle Dimensionen der sozialen Ungleichheit. Die sozialen Unterschiede in der Lebenserwartung nahmen wahrscheinlich vorerst nicht weiter zu.36 Die Mobilitätschancen wurden ebenfalls nicht einfach ungleicher. Zwischen den großen sozialen Schichten veränderte sich die sozialen Mobilitätschancen nur wenig, nahmen jedenfalls nicht ab. Für Frauen und für Zuwanderer entwickelten sich die Ausbildungschancen sogar in der Gegenrichtung. Für Frauen verbesserten sich die Ausbildungschancen und mit einer Verzögerung auch die Berufschancen langsam. Auch in der politischen Elite, in den Regierungen und in den Parlamenten nahm der Anteil von Frauen zu.37 Die Aufstiegschancen von Angehörigen der Zuwandererminderheiten erweiterten sich ebenfalls langsam. Generell verbesserten sich die Bildungschancen, da in beiden Ländern der Bildungssektor weiter expandierte. Sie führten auch zu bes-

36 J. A. A.  Dalstra u. a.: Socioeconomic Differences in the Prevalence of Common Chronic ­Diseases. An Overview of Eight European Countries, in: International Journal of Epidemiology 34 (2005), S. 316–326 (Deutschland, aber nicht Frankreich behandelt. Starke Unterschiede zwischen Einkommensgruppen, aber wenig Unterschiede zwischen Ländern); R.  Unger, Soziale Differenzierung der aktiven Lebenserwartung im internationalen Vergleich. Eine Längsschnittuntersuchung mit den Daten des Sozio-ökonomischen Panel und der Panel Study of Income Dynamics, Wiesbaden 2003. 37 Breen (Anm. 25); V. Christmas-Best u. V. Kjær, Why So Few and Why so Slow? Women as Parliamentary Representatives in Europe from a Longitudinal Perspective, in: H. Best, u. M.  Maurizio Cotta (Hg.), Democratic Representation in Europe. Diversity, Change, and Convergence, Oxford 2007, S. 77–105, hier S. 78.

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seren Berufschancen, da die Arbeitslosigkeit unter den Hochschulabsolventen weiterhin besonders niedrig blieb. Das Verständnis von sozialer Ungleichheit veränderte sich. Die Ungleichheit der sozialen Lage zwischen großen sozialen Milieus verlor ihre Dominanz in den öffentlichen Debatten. Der Prozess der Individualisierung mit seiner Vielfalt von Lebensweisen, die zunehmende Vielfalt der Arbeitsplätze und der Rückgang der »monotonen Standardisierung« der Arbeit, auch die neue Vielfalt der Lebensläufe mit vielen beruflichen Umorientierung zwang dazu, die soziale Ungleichheit zu überdenken. In den Vordergrund rückten eher gleiche Chancen für Individuen in all ihren Besonderheiten, gleiche kulturelle und politische Teilhabe und Schutz vor Diskriminierung einer Vielzahl von Gruppen, keineswegs nur der klassischen sozialen Milieus. Soziale Gleichheit wurde, folgt man wiederum Rosanvallon, nicht mehr allein als Gleichheit der Lebenslagen, sondern vorrangig als Gleichheit der Lebenschancen und als gleicher Respekt gegenüber unterschiedlichen Individuen verstanden. Die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich verstärkten sich in dieser Phase wieder. In zentralen Aspekten wurde die deutsche Gesellschaft mehr von sozialer Ungleichheit geprägt als die französische Gesellschaft. Die Einkommensdisparitäten waren in Deutschland größer. Die obersten 10 % der Einkommensempfänger besaßen in den 1960er und 1970er Jahren in Deutschland noch einen kleineren Einkommensanteil, in den 1980er und 1990er Jahren dagegen einen größeren Einkommensanteil als in Frankreich. Der Einkommensanteil des obersten Prozent der Einkommensempfänger war in der Bundesrepublik schon immer größer gewesen. Der Abstand zu Frankreich vergrößerte sich nun. Das Armutsrisiko war in Frankreich im vergangenen Jahrzehnt niedriger als in Deutschland.38 Die Bildungschancen, vor allem der Zugang zur Hochschulausbildung, waren noch um 1980 recht ähnlich. Nur die DDR blieb deutlich zurück, ein wichtiger Aspekt der Blockade der Chancen in der späten Honecker-Ära. Schon um 1995 lag dagegen die Studentenrate, also der Anteil der Studenten an den entsprechenden Altersjahrgängen, in Frankreich bei 51 %, in Deutschland nur bei 44 %. Frankreich bot mit die besten Zugangschancen in Europa, Deutschland lag im westlichen Europa in den untersten Rängen.39 In den regelmäßigen Pisa-Studien der OECD über die Schulleistungen von Jugendlichen lag Frankreich um 2000 weit vor Deutschland, hat allerdings inzwischen diesen Vorsprung eingebüßt.40 Auch Frauen besaßen in Frankreich 38 Atkinson u. Piketty (Anm. 3): S. 546 ff.; OECD: Ungleichheit (Anm. 34). Nach den OECD-­ Berechnungen lag der Gini-Koeefizient für Deutschland immer niedriger als in Frankreich, erst in den späten 2000er Jahren höher. Allerdings ist der Gini-Koeffizient für Einkommensdisparitäten weniger präzise als die Einkommensanteile der reichsten 1 % oder 10 % der Einkommensempfänger. Zum Armutsrisiko: Eurostat. Tabelle »Von Armut und Ausgrenzung bedrohte Personen« 2006–2017 ec.europa.eu / eurostat. 39 Vgl. ­Kaelble, (Anm. 6), S. 391 f. 40 C. Artelt u. a., PISA 2000. Zusammenfassung und zentrale Befunde, Berlin 2001, S. 13, 21, 28, online unter: www.oecd.org/berlin/themen/pisa2009-ergebnisse.htm (15.11.2012).

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erheblich bessere akademische Ausbildungschancen und nach der akademischen Ausbildung auch bessere Karrierechancen als in Deutschland, teils weil arbeitende Mütter im französischem Kindergartensystem besser gestützt werden, teils aber auch weil französische Mütter in Beruf und Familie andere Prioritäten setzen.41 (vgl. Kap. 4) Schließlich waren auch die Bildungschancen für Immigrantenkinder in Frankreich günstiger als in Deutschland, wenn auch daraus nicht unbedingt bessere Arbeitsmarktchancen folgten.42 Einzelne Zuwanderer stiegen in Frankreich nicht nur im Sport und in der Musik, sondern auch in der Politik, Literatur und Wissenschaft früher als in Deutschland auf, da die außereuropäische Zuwanderung in Frankreich nicht nur früher eingesetzt hatte, sondern die Zuwanderer oft auch schon Französisch sprachen. Drei französische Ministerpräsidenten, von denen einer später Präsident wurde, Bérégovoy, Sarkozy und Valls, kamen aus Einwandererfamilien, in Deutschland dagegen nur ein Außenminister, Joschka Fischer. Generell wurden Bildungsaufsteiger in Frankreich zahlreicher als in Deutschland, wenn man einer allerdings umstrittenen These der OECD folgen will.43 Sicher gab es deutsch-französische Unterschiede auch im umgekehrten Sinn, die allerdings eher symbolische Bedeutung besaßen: Der Zugang zur politischen Elite war für soziale Aufsteiger in Frankreich schwieriger als in Deutschland. In Frankreich stammten die Staats- und Regierungschefs meist aus dem Großbürgertum, in Deutschland hingegen vor allem aus der Mittel- und Unterschicht. Auch Frauen waren lange Zeit in der hohen Politik in Deutschland besser vertreten als in Frankreich. Bis vor kurzem waren im Bundestag mit einem Anteil von 33 % weit mehr Frauen als in der Assemblée nationale mit 19 %. Allerdings holte Frankreich in der jüngsten Zeit auf. In der 2012 gewählten Assemblée nationale liegt der Frauenanteil bei 27 %. Im Kabinett Hollande sind mehr Frauen als im Kabinett Merkel.44

41 A. Salles, Françaises et Allemandes entre enfant et travail. À la crèche ou chez soi?, in: Dokumente / Documents 57 (2000), Heft 4, S. 67–68; M. Veil, Wohlfahrtsstaatliche Konzepte, Kinderbetreuungskulturen und Geschlechterarrangements in Europa, in: gender politik online, 2003, online unter: http://web.fu-berlin.de/gpo/pdf/Veil/veil.pdf. (16.10.2012); H. ­Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2017, S. 137 f. 42 Vgl. I. Tucci, Les descendants des migrants en France et en Allemagne. Deux types de mise à distance sociale?, in: Revue française de sociologie 51 (2010), Heft 1, S. 3–38; H. Vermeulen, Immigrant Policy for a Multicultural Society. A Comparative Study of Integration, Language and Religious Policy in Five Western European Countries, Amsterdam 1997; H. Manfrass, Türken in der Bundesrepublik, Nordafrikaner in Frankreich. Ausländerproblematik im deutsch-französischen Vergleich, Bonn 1991; vgl. auch: S. Klinker, Maghrebiner in Frankreich, Türken in Deutschland. Eine vergleichende Untersuchung zu Identität und Integration muslimischer Einwanderergruppen in europäischen Mehrheitsgesellschaften, Frankfurt 2010. 43 OECD: Bildung 2012 auf einen Blick. OECD-Indikatoren, Paris 2012, Tab. A 6.3. 44 M. Hartmann, Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt 2007, S. 222; Christmas-Best u. Kjær (Anm. 36), S. 78; Best, Cotta: Representatives (Anm. 18), S. 499.

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Die französischen Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen blieben freilich hierarchischer.45 Durch eine neue Politisierung des internationalen Vergleichs erhielten solche Unterschiede in dieser Phase auch stärkere öffentliche Resonanz. Internationale Organisationen wie die OECD und die Europäische Union setzten den internationalen Vergleich ein, um die nationalen Öffentlichkeiten zu mobilisieren und Druck auf die nationalen Regierungen auszuüben. Zentrale Aspekte der sozialen Ungleichheit wie Ungleichheit der Bildungschancen und Einkommensdisparitäten wurden auf diese Weise durch den internationalen Vergleich politisiert. Die erste Pisa-Studie der OECD 2000, in der das deutsche Bildungssystem im europäischen und westlichen Vergleich schlecht abschnitt, stieß in Deutschland eine andauernde nationale Debatte an. Die OECD veröffentlichte 2008 einen ähnlichen Bericht zur Einkommensverteilung und Armut.46 Die Europäische Union entwickelte für diese Politik den Begriff der »offenen Methode der Koordinierung«. In diesen politischen Vergleichen standen die französisch-deutschen Unterschiede zwar selten voll im Zentrum, spielten aber doch eine wichtige Rolle, etwa in den Berufschancen für Frauen, in den Bildungschancen für Zuwanderer und neuerdings in der Einkommensverteilung.

Zusammenfassung Frankreich und Deutschland ähnelten sich in der Geschichte der sozialen Ungleichheit im 20. Jahrhundert mehr als oft angenommen wird. Vor allem in den Jahrzehnten vor 1914 und dann wieder während der trente glorieuses von den 1950er bis 1970er Jahren waren die Ähnlichkeiten vorherrschend. Deutschfranzösische Unterschiede gehörten in diesen Epochen eher zu den Nebengleisen der Geschichte der sozialen Ungleichheit. Daneben standen aber doch zwei wichtige Unterschiede.

45 Fridenson (Anm. 6), S. 163 ff.; H. Joly, Großunternehmer in Deutschland. Soziologie einer industriellen Elite. 1933–1989, Leipzig 1998; ders., Les études sur le recrutement du patronat. Une tentative de bilan critique, in: Sociétés contemporaines 68 (2007), S. 133–154; ders., Les dirigeants des grandes entreprises industrielles françaises au 20e siècle. Des notables aux gestionnaires, in: Vingtième siècle 114 (2012), S. 17–32; A. Sach, Warten auf die Gleichberechtigung. Frauen in der Politik. Trotz Absichtserklärungen sind sie in Frankreichs Spitzenpositionen unterrepräsentiert, in: Das Parlament, 16.04.2012, Heft 16/17, online unter: http:// www.das-parlament.de/2012/16-17/Themenausgabe/38597465.html (13.12.2012); R. Balmer, Regieren mit Rückenwind. Frankreich. Präsident Hollande kann sich im Parlament auf eine breite Mehrheit stützen, in: Das Parlament, 02.07.2012, Heft 27/28, online unter: http://www. das-parlament.de/2012/27-28/EuropaWelt/39710393.html (13.12.2012). 46 Informationen zur Pisa-Studie des Jahres 2000, online unter: http://www.mpib-berlin.mpg. de/Pisa (20.12.2012); OECD: Ungleichheit (Anm. 34).

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Im 20. Jahrhundert war Deutschland viel mehr als Frankreich ein einzigartiges Labor von Abmilderungen und Verschärfungen der sozialen Ungleichheit. Die deutschen Erfahrungen mit dem Abbau sozialer Ungleichheit unter negativen sozialen oder politischen Begleitumständen wie der Inflation, der Weltwirtschaftskrise oder der frühen stalinistischen DDR waren in Frankreich weit seltener, genauso auch die umgekehrten deutschen Erfahrungen massiver Verschärfung sozialer Ungleichheit wie im Ersten Weltkrieg, in der NS-Diktatur und in der Endphase der DDR. Allerdings war das Glanzbeispiel des Abbaus sozialer Ungleichheit bei gleichzeitiger Verbesserung des Lebensstandards und der Demokratiestandards, die trente glorieuses der 1950er bis 1970er Jahre, eine gemeinsame Erfahrung beider Länder, eine deutsch-französische Konvergenz. Darüber hinaus haben sich die deutsch-französischen Repräsentationen der sozialen Ungleichheit jenseits des Rheins ebenso wie die tatsächlichen deutsch-​ französischen Unterschiede der sozialen Ungleichheit im Verlauf des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt. Die Repräsentationen der französischen und deutschen Beobachter von der sozialen Ungleichheit zu beiden Seiten des Rheins drehten sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts um. Vor 1914 galt eher Frankreich, nach 1945 dagegen nicht nur die DDR, sondern auch die Bundesrepublik eher als das Land mit weniger Ungleichheit. Für diese Vorstellung sprach lange Zeit viel. Vor 1914 wurden tatsächlich die sozialen Trennlinien, ein Kern des damaligen Verständnisses von sozialer Ungleichheit, in Frankreich weniger scharf ausgezogen. Sehr verschieden war freilich die soziale Ungleichheit in ihren anderen Dimensionen vor 1914 diesseits und jenseits des Rheins nicht. Nach 1945 schienen durch das NS-Regime, durch den Zweiten Weltkrieg und durch die Umbrüche seit dem Kriegsende in Deutschland zwei neue Gesellschaften mit weniger Ungleichheit als in der verfestigten Gesellschaft Frankreichs der Vierten und Fünften Republik entstanden zu sein. Aus dem Blickwinkel eines veränderten zeitgenössischen Verständnisses von sozialer Ungleichheit, zu dem nun auch die Disparitäten der sozialen Lagen und die Aufstiegschancen gerechnet wurden, erschien vor allem die Elite Frankreichs ungewöhnlich abgeschlossen und für soziale Aufsteiger in den Spitzenpositionen der Politik deutlich weniger zugänglich als die deutsche politische Elite, auch wegen des Nadelöhrs des hierarchischen französischen Bildungssystems mit seiner schärferen Selektion. Allerdings passte diese Repräsentation seit den 1980er Jahren immer weniger zu der Realität der deutsch-französischen Unterschiede. Die deutsche Gesellschaft wurde in den letzten Jahrzehnten in wichtigen Dimensionen ungleicher als die französische Gesellschaft. Die Einkommensungleichheit und Vermögensungleichheit war in Deutschland seit den 1980er Jahren deutlich größer als Frankreich. Das Armutsrisiko lag in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt höher als in Frankreich. Die allgemeinen Bildungschancen waren in Deutschland schmaler, die Bildungsaufstiege möglicherweise seltener. Speziell für Frauen und für Zuwandererkinder waren in Deutschland die Bildungschancen ungünstiger als in Frankreich. Die Chancen zum sozialen Aufstieg waren für Frauen begrenzter, die Aufstiegschancen in kulturelle, sportliche und politische 109

Spitzenpositionen für Zuwanderer eingeengter als in Frankreich. Zwar war umgekehrt der Zugang zu der politischen Elite für soziale Aufsteiger in Frankreich schwieriger, aber doch eher symbolisch, da er die Aufstiegschancen der Masse der Franzosen nicht berührte. Insgesamt zeichnet sich in den vergangenen drei Jahrzehnten trotz starker gemeinsamer Trends diesseits und jenseits des Rheins etwas mehr soziale Ungleichheit in Deutschland ab, die allerdings in der Öffentlichkeit selten diskutiert wird.

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6. Die gesellschaftlichen Verflechtungen zwischen Frankreich und Deutschland seit 1945

Für die Versöhnung zweier Nationen nach langen Kriegen wird die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen innerhalb wie außerhalb Europas besonders oft zitiert. Sie ist ungewöhnlich aus zwei Gründen, die in der Regel zu wenig auseinander gehalten werden: Auf der einen Seite ist erstaunlich, dass Frankreich und Deutschland nach drei blutigen Kriegen zu einer Annäherung der beiden Nationen und zu einer engen politischen Zusammenarbeit, dem couple franco-allemand, zusammenfanden. Diese außergewöhnliche Versöhnung interessiert die Weltöffentlichkeit an den deutsch-französischen Beziehungen vor allem. Auf anderen Seite ist auch verwunderlich, dass diese Zusammenarbeit von inzwischen schon seit fast sechs Jahrzehnten so dauerhaft war, obwohl sich der Kontext in Europa mit dem Niedergang des französischen Kolonialreichs, mit dem Ölschock, dem Ende des internationalen Währungssystems von Bretton Woods, dem Fall des sowjetischen Imperiums, mit der deutschen Einheit und mit der Ausweitung der Europäischen Union von sechs auf siebenundzwanzig Mitglieder grundlegend veränderte. Dieser Artikel behandelt die Rolle der Gesellschaft in den deutsch-französischen Beziehungen. Sie wird in der Forschung, aber auch in der öffentlichen Debatte ganz unterschiedlich eingeschätzt.1 1 Vgl. als Auswahl von neueren allgemeinen Publikationen: C.  Albrecht, Neuere Forschungen zu den deutsch-französischen Gesellschafts- und Kulturbeziehungen nach 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte; 45 (2005), S. 499–507; M. O.  Baruch, Servir l’état français. L’administration en France de 1940–1944, Paris 1997; M.-T.  Bitsch (Hg.), Le couple France-Allemagne et les institutions européens: Une postérité pour le plan Schuman?, Bruxelles 2001; Y. Bizeul, Der aktuelle Stand der deutsch-französischen Beziehungen, in: M. Schulz u. Y. Bizeul, Die deutsch-französischen Beziehungen. Rückblick und aktueller Stand, Rostock 2000; H. M. Bock (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle derer Zivilgesellschaft am Beispiel des deutsch-französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998; J.-P. Cahn u. H. ­Kaelble (Hg.), Religions et laïcité en France et en Allemagne aux 19ème et 20ème siècles / Religiöse Kulturen und Weltlichkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert (=Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees, Bd. 5), Wiesbaden 2008; E.  Conze, Die gaullistische Herausforderung: Deutsch-französische Beziehungen in der amerikanischen Europapolitik, 1958–1963, München 1995; M. Christadler, Einleitung: Deutsch-französische Kulturbeziehungen seit 1945, in: Deutsch-französisches Institut / Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.), Deutsch-französische Kulturbeziehungen seit 1945. Auswahlbibliographie 1991–2000, Stuttgart 2001, S.1–10; E.  François u. a. (Hg.), Marianne  – Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext, 2 Bde., Leipzig 1998; E. François, Erbfreunde: Deutschland und Frankreich in Vergangenheit,

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Auf der einen Seite wird der Gesellschaft keine wichtige Rolle bei der Entstehung und Erhaltung der deutsch-französischen Zusammenarbeit zubemessen. Entscheidend waren in dieser Einschätzung die politischen Beziehungen zwischen den Regierungen und die wachsende Verflechtung der beiden Wirtschaften. Viele Darstellungen der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen behandeln deshalb die Gesellschaft überhaupt nicht oder streifen sie nur kurz. Es wird oft argumentiert, dass sich die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland seit 1945 zwar erheblich intensivierten, aber nicht enger wurden als zwischen anderen europäischen Ländern. Weder die Migra-

Gegenwart und Zukunft, in: W. Bersdorf (Hg.), Erbfreunde: Deutschland und Frankreich im 21. Jahrhundert, Weimar, 2007, S. 127–144; J. W. Friend, The Linchpin. French-German relations 1950–1990s, New York 1991; ders., Unequal partners. French-German relations 1989–2000, Westport 2001; R.  Hudemann, Die französische Besatzung in Deutschland nach 1945, in: W. Gruner u. K.-J. Müller (Hg.), Über Frankreich nach Europa. Frankreich in Geschichte und Gegenwart, Hamburg 1996, S. 443–473; P. Jardin u. A. Kimmel (Hg.), Les relations franco-allemandes depuis 1963. Documents (1963–2000), Paris 2001; I. Kolboom u. a. (Hg.), Handbuch Französisch: Studium – Lehre – Praxis, Berlin 20082 (vor allem die Artikel von Ernst Weisenfeld, Henrik Uterwedde, Hans-Manfred Bock, Michael Werner über die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen); H. ­Kaelble, Les relations franco-allemandes de 1945 à nos jours, Ostfildern 2004; ders., Die kulturellen und sozialen Beziehungen Frankreichs und Deutschlands seit dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: B 3–4 (2003), 20.1.2003, S. 40–46; U. Lappenküper, Die deutsch-französischen Beziehungen 1949–1963. Von der »Erbfeindschaft« zur »Entente élémentaire«, 2 Bde., München 2001; C. Metzger u. H. ­Kaelble (Hg.), Deutschland, Frankreich, Nordamerika: Transfers, Imaginationen, Beziehungen, München 2006; H. Miard-Delacroix u. R.  Hudemann (Hg.), Wandel und Integration. Deutsch-französische Annäherungen der fünfziger Jahre. Mutations et intégration. Les rapprochements franco-allemands dans les années cinquante, München 2005; H. Miard-Delacroix, Les relations franco-alemandes, in: S. Berstein (Hg.), Les années Mitterand, les années du changement (1881–1884), Paris 2001, S. 295–310; U. Pfeil, Die »anderen« deutsch-französischen Beziehungen: die DDR und Frankreich 1949–1990, Köln 2004; ders., (Hg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen m 20. Jahrhundert, München 2007; R. Poidevin, Péripéties franco-allemandes: du milieu du XIXe siècle aux années 1950. Recueil d’articles, Bern 1995; D. Röseberg (Hg.), Frankreich und »Das andere Deutschland«: Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen 1999; H. Rousso, Les années noires, Paris 1992; M. Schieder, Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen 1945–1959, Berlin 2005; T. Schabert, Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit, Stuttgart 2002; S. A. Schuker (Hg.), Deutschland und Frankreich. Vom Konflikt zur Aussöhnung. Die Gestaltung der westeuropäischen Sicherheit 1914–1963, München 2000; G.-H. Soutou, Alliance incertaine. Les rapports politico-stratégiques franco-allemands, 1954–1996, Paris 1996; M. Strickmann, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944–1950, Frankfurt 2004; S. Weske, Deutschland und Frankreich – Motor einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik?, Baden-Baden 2006; A. Wilkens, Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen 1945–1960, Sigmaringen 1997; O. Wieviorka, 1940–1944, Le noir de l’occupation, in: J.-P. Rioux u. J.-F. Sirinelli (Hg.), La France d’un siècle à l’autre 1914–2000. Dictionnaire critique, Paris 1999; W.  Woyke, Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem fasst wieder Tritt, Opladen 2000.

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tion noch die Heiratsverflechtungen noch die Übernahme von Konsumstilen ließ in der jüngeren Geschichte besonders enge Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern entstehen. Auch die französisch-deutschen gesellschaftlichen Unterschiede blieben auffallend groß. So klaffen bis heute in den Geburtenraten, in der Entwicklung der Gewerkschaften und der sozialen Konflikte, in der Elitenausbildung, in der Verfassung, in den Beziehungen zwischen Staat und Kirchen tiefe Gräben zwischen Frankreich und Deutschland. Beide Gesellschaften öffneten sich zwar seit dem Zweiten Weltkrieg durchaus nach außen: Man spricht aus guten Gründen von einer Amerikanisierung der westdeutschen und auch der französischen Gesellschaft. Aber von einer besonderen Offenheit gegenüber der Gesellschaft jenseits des Rheins, etwa von einer Französisierung der deutschen Gesellschaft oder von einer der Germanisierung der französischen Gesellschaft ist zu Recht nirgends die Rede. Daher – so wird argumentiert – sind die gesellschaftlichen Verflechtungen eher ein Schwachpunkt der deutsch-französischen Beziehungen. Auf der anderen Seite wird oft die These vertreten, dass die Gesellschaft in den deutsch-französischen Beziehungen eine besondere Rolle spielt. Über Jahrzehnte hinweg haben sich besonders enge und vielfältige Beziehungen zwischen der französischen und deutschen Zivilgesellschaft entwickelt. Sie beschränkten sich nicht auf enge Verbindungen zwischen Bürgern der beiden Länder. Sie verstetigten auch das politische Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland in den keineswegs seltenen Phasen der Abkühlung der Regierungsbeziehungen. Je stärker man sich der Gegenwart nähert, desto gewichtiger wurden diese zivilgesellschaftlichen Beziehungen. Zugespitzt wird aus dieser Sicht argumentiert, dass die Gesellschaft die politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland stabilisierte. Sie war daher ein starker Punkt in den deutsch-französischen Beziehungen. Wenn man etwas von dem deutsch-französischen Fall lernen will, so sollte man in dieser Sicht durchaus auf die gesellschaftlichen Beziehungen sehen. Dieser Beitrag versucht, Stellung zu diesen gegensätzlichen Einschätzungen zu nehmen. Es werden vier Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 behandelt: zuerst der gesellschaftliche Austausch und die Verflechtungen; dann die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen der französischen und deutschen Gesellschaft; danach die französischen und deutschen öffentlichen Debatten über soziale Modelle, und zwar sowohl über Modelle aus dem jeweils anderen Land jenseits des Rheins als auch über ein gemeinsames europäisches Sozialmodell; und schließlich die Entwicklung der wechselseitigen wissenschaftlichen Beobachtung. Am Ende werden die schwachen und die dichten Seiten der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland zusammengefasst.

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I. Austausch und Verflechtungen zwischen der französischen und deutschen Gesellschaft Der gesellschaftliche Austausch zwischen Frankreich und Deutschland wurde seit 1945 nicht auffallend enger als zwischen anderen europäischen Ländern, jedenfalls nicht in den Verflechtungen, über die wir Zahlen besitzen: in der Auslandsausbildung, in den Heiraten, in den Reisen, in der beruflichen Mobilität oder in der Wahl der Konsumgüter.2 Nur einige schlaglichtartige Zahlen: Die Ausbildungsmobilität war zwischen Frankreich und Deutschland nicht besonders eng. Deutsche Studenten gingen häufiger nach Großbritannien als nach Frankreich und umgekehrt gingen französische Studenten häufiger nach Belgien und Großbritannien als nach Deutschland.3 Auch die Heiratsverflechtungen waren zwischen dem couple franco-allemand nicht sonderlich dicht. Franzosen und Deutsche heirateten einander nicht ungewöhnlich häufig. Franzosen und Französinnen heirateten weit häufiger Ausländerinnen oder Ausländer aus dem Mittelmeerraum, aus Nordafrika oder aus Südeuropa, als aus Deutschland.4 Deutsche Männer heirateten um 1989 eher Italienerinnen, Holländerinnen, Österreicherinnen oder Türkinnen als Französinnen; deutsche Frauen eher Italiener, Briten, Jugoslawen, Österreicher, Türken oder Amerikaner als Franzosen. Auch andere familiäre Beziehungen hatten Deutsche häufiger zu anderen Ländern: Nicht deutsche Verwandte hatten Deutsche häufiger in Österreich, in der Türkei, in Großbritannien als in Frankreich.5 Weder für Franzosen noch für Deutsche war das Land jenseits des Rheins das bevorzugte Reise- oder Migrationsziel. Franzosen reisten 1998 eher nach Spanien oder Großbritannien als nach Deutschland. Deutsche reisten eher nach Spanien oder Italien als nach Frankreich.6 Auch die Migration in das andere Land jenseits des Rheins blieb begrenzt. In Frankreich spielte die Zahl der Deutschen in den frühen 1970er Jahren, also am Ende des großen Aufschwungs der internationalen Migration in Europa, selbst unter den europäischen Immigranten nur eine sekundäre Rolle hinter den Zuwanderern aus dem Süden, aus Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien, aber auch hinter Belgien und Polen.7

2 Ich beschränke mich auf die Verflechtungen zwischen Frankreich und der alten Bundesrepublik, da zwischen Frankreich und der DDR die Verflechtungen sowieso viel dünner waren. 3 Vgl. S. Mau, Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten, Frankfurt 2007, S. 139 4 INSEE. Recensement de la population www.insee.fr (population, famille, situation patri­ moniale) 5 Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, Jg. 1991, S. 76; Mau, Transnationale Vergesellschaftung, S. 121 6 Europäische Kommission, nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.10.1998, S. 28 7 Données sociales, édition 1981, INSEE Paris 1981, S. 47

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In der alten Bundesrepublik lebten in dieser Zeit zwar zunehmend mehr Franzosen. Ihre Zahl blieb aber nicht nur erheblich hinter den anderen Mittelmeerländern zurück, sondern auch hinter weit kleineren Ländern wie den Niederlanden oder Portugal. Umgekehrt wanderten Deutsche im Jahr 2004, als die Auswanderung auf eine außergewöhnliche Höhe von 150.000 anstieg, häufiger in die USA, in die Schweiz, nach Polen, Österreich, Großbritannien aus als nach Frankreich.8 Auch bei dem Kauf von Konsumgütern war der Nachbar am Rhein nicht unbedingt das bevorzugte Land. In einem besonders herausragenden Konsumgut, dem Automobil, wurde das jeweils andere Land jenseits des Rheins zwar zum wichtigsten ausländischen europäischen Lieferanten, für Franzosen wie für Deutsche. Aber das Automobil ist ein Sonderfall, weil sich die Produktion in Europa immer mehr auf die beiden Länder konzentrierte und man außerhalb dieser beiden Länder höchstens noch in Italien und Schweden einheimische Autos kaufen konnte. In dem zweiten, öffentlich besonders sichtbaren Konsumbereich, in den Restaurants, spielten andere Länder die wichtige Rolle. Im öffentlichen Bild Frankreichs war und ist von deutschen Restaurants überhaupt nichts zu sehen. Im öffentlichen Bild Deutschlands waren italienische oder chinesische Restaurant häufiger als französische Restaurants. Ein besonders starker französischer Einfluss lässt sich erst in jüngster Zeit in Hotelketten und in Imbissrestaurants auf den deutschen Bahnhöfen, den Baguetterien und Croissanterien, erkennen. Zweifelsohne intensivierten sich fast alle diese deutsch-französischen gesellschaftlichen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg, vor allem seit den 1980er Jahren. Aber dahinter stand keine spezielle, bilaterale deutsch-französische Entwicklung, sondern ein Prozess der Europäisierung. Die Intensivierung wurde weniger durch Vereinbarungen zwischen den beiden Regierungen, sondern vor allem durch europäische Entscheidung vorangetrieben. Mehr Warenaustausch und mehr Mobilität zwischen den beiden Ländern hatte viel mit der Schaffung des gemeinsamen europäischen Marktes, mit der Öffnung der nationalen Sozialversicherungen und Gesundheitssysteme durch die europäischen Verträge, mit der Garantie von Freizügigkeit und freier Berufsausübung in den europäischen Verträgen, mit der langsamen, wechselseitigen Öffnung von hoch bezahlten Berufen, wie etwa Rechtsanwälten oder Ärzten, mit der Mobilität der Studenten durch das Erasmus-Programm und mit der Mobilität der Wissenschaftler durch das europäische Rahmenprogramm für die Forschung, mit der Beseitigung der Grenzkontrollen durch das Schengen-Abkommen, mit der Verbilligung der Banküberweisungen und Handy-Gespräche durch Intervention der Europäischen Kommission zu tun. Sicher gab es schon seit der unmittelbaren Nachkriegszeit bilaterale deutsch-französische Programme zum

8 Statistisches Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland, Jg. 1976, S. 158; Mau, Transnationale Vergesellschaftung, S. 125

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Austausch von Studenten, von Doktoranden und von Hochschullehrern. Es wird gleich darauf zurück zu kommen sein. Aber seit den 1980er Jahren wurde durch das Erasmus-Programm der Studentenaustausch zwischen den beiden Ländern zunehmend europäisiert. Im Hochschullehreraustausch nahm die Bedeutung der europäischen Forschungsprogramme zu. Nur der Doktorandenaustausch blieb bisher weitgehend bilateral. Besonders eng waren dagegen die deutsch-französischen Verflechtungen der Zivilgesellschaften, also der bilateralen Verständigungsinitiativen und Koope­ rationen von Organisationen, Interessenverbänden, sozialen Bewegungen, Netzwerke und Projekte. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich diese bilateralen Verflechtungen allerdings erst nur zögernd. Es entstanden nur wenige Verständigungsinitiativen, vor allem angestoßen durch die Regierungen und durch eine vergleichsweise schmale Gruppe von französischen und einigen wenigen deutschen Intellektuellen und Wissenschaftlern: das 1948 gegründete »comité français d’échange avec l’Allemagne nouvelle«, das 1945 eingerichtete Bureau international de liaison et de documentation, das 1949 gegründete Deutsch-Französische Institut in Ludwigsburg und das 1951 in Mainz eröffnete Institut für europäische Geschichte. Die Kriege wirkten damals noch sehr nach. Das wechselseitige Misstrauen zwischen Franzosen und Deutschen blieb lange Zeit noch stark. Erst ab den 1970er Jahren, als das Vertrauen zu dem Land jenseits des Rheins in den öffentlichen Meinungen zu überwiegen begann, entstanden viele Initiativen zur zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der alten Bundesrepublik und Frankreich in der Form von Städtepartnerschaften und Dorfpartnerschaften, Schulpartnerschaften, Jugendaustausch, Hochschulkooperationen, Schulbuchkommissionen, Begegnungszentren, Meinungsaustausch zwischen zahlreichen Organisationen und Parteien, bilateralen wissenschaft­ lichen Kooperationen. Stärker von oben kontrolliert und organisiert entwickelten sich auch die weit weniger dichte Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der DDR.9 Ohne Zweifel dominierten auch in diesem Bereich der zivilgesellschaftlichen Verflechtungen die bilateralen Beziehungen nicht völlig. Die Europäisierung sollte man nicht unterschätzen. Schon seit den Anfängen der Europäischen Integration entstanden europäische Interessenverbände und Organisationen, in

9 Vgl. Bock, Projekt deutsch-französische Verständigung; ders. (Hg.), Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn: Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963–2003, Opladen 2003; E. François, Le manuel franco-allemand d’histoire: Une entreprise inédite, in: Vingtième siècle (2007) 94, S. 73–86; E. Droit, Entre histoire croisée et histoire dénationalisée: Le manuel franco-allemand d’histoire, in: Histoire de l’éducation (2007) 114, S. 151–162; R. Riemenschneider, Transnationale Konfliktbearbeitung: Die deutsch-französischen und die deutsch-polnischen Schulbuchgespräche im Vergleich, 1935–1997, in: C. Tessmer (Hg.), Das Willy-Brandt-Bild in Deutschland und Polen, Berlin 2000, S. 71–79; U. Pfeil, Die »anderen« deutsch-französischen Beziehungen: die DDR und Frankreich 1949–1990, Köln 2004, S. 636–647.

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denen auch französische und deutsche Interessenvertreter mitarbeiteten und die auf Entscheidungen der Europäischen Kommission, oder des europäischen Parlaments Einfluss nahmen. Vor allem seit den 1980er Jahren gab es einen großen Schub in der Entwicklung solcher europäischer Organisationen. Brüssel ist heute ein Eldorado solcher europäischer, nicht bilateraler Organisationen. Daneben entstanden unabhängig von der europäischen Integration viele internationale, nicht bilaterale, oft europäische Organisationen der Menschenrechte wie die Amnesty International, der Kirchen wie die Caritas, der sozialen Kontakte wie der Rotary Club, des Sports wie die FIFA. Auch in ihnen arbeiteten oft Franzosen und Deutsche zusammen, Insgesamt führte die europäische Integration und die Schaffung eines europäischen Marktes nicht zu ungewöhnlich engen gesellschaftlichen Verflechtungen zwischen Frankreich in Deutschland, auch wenn diese beiden Länder die Initiatoren der europäischen Integration und schon recht früh für einander der jeweils wichtigste Handelspartner wurden. Die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit führte nicht automatisch zu besonders viel gesellschaftlicher Verflechtung, weder in der Migration noch in den Reisen und Bildungsaustausch noch in den Verflechtungen des Konsums. Besonders eng waren dagegen die gewollten, zivilgesellschaftlichen Verflechtungen, die nicht vom Markt abhingen, sondern vom Willen der Regierungen und vom Willen der zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen.

II. Gesellschaftliche Konvergenzen und Divergenzen zwischen Frankreich und Deutschland Für die französisch-deutschen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg war darüber hinaus ganz entscheidend, dass sich seit den 1950er und 1960er Jahren die Gesellschaften Frankreichs und der Bundesrepublik ähnlicher wurden und die lange Auseinanderentwicklung beider Gesellschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert auslief. Die dramatische wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung Frankreichs, die von dem Soziologen Henri Mendras als »zweite französische Revolution« bezeichnet wurde, führte zu wachsenden Ähnlichkeiten mit der alten Bundesrepublik in vielerlei Hinsicht: eine ähnliche Bedeutung der Industrie und der Dienstleistungen, eine ähnliche Orientierung auf die Exportwirtschaft, eine ähnliche Entstehung von global agierenden Großunternehmen, eine ähnliche Stadtexpansion, eine ähnliche Planung der Erweiterung der Städte und Architektur, ein ähnlicher Aufbau des Wohlfahrtsstaates, eine ähnliche Bildungsexpansion, sogar Annäherungen in der Konsumkultur, in der Ferienkultur, in der Wohnkultur, im Essen und Trinken. Diese Annäherungen führten sicher nicht zu einer Gleichartigkeit beider Gesellschaften. Reizvolle, lehrreiche oder amüsante deutsch-französische Unterschiede blieben in diesen Feldern der Wirtschaft und Gesellschaft genügend oft erhalten. Aber sie waren 117

doch am Anfang des 21. Jahrhunderts erheblich weniger gewichtig als um die Mitte des 20. Jahrhunderts.10 Diese Annäherung erfasste ohne Zweifel nicht alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft. Erhebliche Unterschiede blieben vor allem in vier Bereichen erhalten: Die Familien blieben verschieden, die Geburtenraten in Frankreich weit höher als in Deutschland, die familiären Erziehungsmethoden anders, die französische Familie liberaler für die Ehefrauen und Mütter, die deutsche Familie liberaler für die jugendlichen Familienmitglieder (vgl. Kap. 4). Die sozialen Konflikte entwickelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Die Ge-

10 Vgl. H. Mendras, La Seconde Révolution française 1965–1984, Paris 1988; vgl. für Konvergenzen und Divergenzen zwischen Frankreich und Deutschland: I. Bourgeois, Médias français et allemands: Convergences et divergences dans le contexte européen, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 37 (2005)1, S. 65–86; P. Weil, France, Germany and immigration policy: A paradoxial convergence, in: D. Webber (Hg.), The Franco-German relationship in the European Union, London u. New York 1999, S. 159–166; R. Picht u. a. (Hg.), Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München 1997; H. ­Kaelble, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991; ders., Frankreich-Deutschland: Historisch-systematischer Gesellschaftsvergleich: in: Kolboom u. a., Handbuch Französisch, S. 679–685; ders., Auf dem Weg zur europäischen Konsumgesellschaft: Charakteristika in Frankreich und Deutschland im Vergleich, in: Miard-Delacroix u. Hudemann, Wandel und Integration, S. 193–200; C. Achin u. F. Matoni, Le mystère de la chambre basse: Comparaison des processus d’entrée des femmes au Parlement France-Allemagne, 1945–2000, 2005; M. Cotta u. H. Best, Between professionalisation and democratization: a synoptic view on the making of the European representative, in: H. Best u. M. Cotta (Hg.), Parliamentarian representatives in Europe, 1848–2000, Oxford 2000, S. 493–525; H. Joly, Die Säuberung der wirtschaftlichen Eliten in Frankreich und Deutschland in der Nachkriegszeit, in: T. Höpel u. a. (Hg.), 1945 – 50 Jahre danach, Leipzig 1996, S. 130–152; ders. (Hg.), Formation des élites en France et en Allemagne, Cergy-Pontoise 2005; S. Haustein, Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Großbritannen im Vergleich 1945–1970, Frankfurt 2007; J. Beckert, Unverdientes Vermögen: Soziologie des Erbrechts Frankfurt / Main 2004; C. Charle, La crise des sociétés impériales. Allemagne, France, Grande-Bretagne 1900–1940. Essai d’histoire comparée, Paris 2001; R. Brubaker, Staats-Bürger. Frankreich und Deutschland im historischen Vergleich, Hamburg 1994; D. Hüser, »Rock around the clock«. Überlegungen zur amerikanischen Populärkultur in der französischen und deutschen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre, in: C. Metzger u. H. ­Kaelble (Hg.), Deutschland – Frankreich – Nordamerika : Transfers, Imaginationen, Beziehungen (=Schriftenreihe des deutsch-französischen Historikerkomitees, Bd. 3), Wiesbaden 2006, S. 189–208; C. de Galembert, Die öffentliche Islampolitik in Frankreich und Deutschland: Divergenzen und Konvergenzen, in: A. Escudier (Hg.), Der Islam in Europa. Der Umgang mit dem Islam in Frankreich und Deutschland, Göttingen 2003, S. 46–66; Cahn u. ­Kaelble, Religions et laïcité en France et en Allemagne; F. X.  Kaufmann (Hg.), Sozialpolitik im französisch-deutschen Vergleich, Wiesbaden 1996 (Bd.1 der Sektion Sozialpolitik der deutschen Gesellschaft für Soziologie, ZSR 1996); F. Schultheis, Familie und Politik. Formen wohlfahrtsstaatlicher Regulierung von Familie im deutsch-französischen Gesellschaftsvergleich, Konstanz 1999; R. Köcher u. J. Schild (Hg.), Wertewandel in Deutschland und Frankreich, Opladen 1998; O. Bobineau, Dieu change en paroisse, une comparaison franco-allemande, Rennes 2005.

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werkschaften blieben in Frankreich weit schwächer, die Tarifbeziehungen weit instabiler, die Bereitschaft zum sozialen Protest und die Sympathien mit sozialen Protesten in Frankreich weit größer als in Deutschland. Das Prinzip des zähen Aushandelns von Kompromissen behielt in Deutschland eine höhere Priorität als in Frankreich. Auch die Eliten blieben weiterhin grundlegend verschieden. Für die Elitehochschulen, für die grandes écoles, gab es in Deutschland weiterhin kein rechtes Pendant. Die lebenslangen persönlichen Bindungen und Kameraderien der französischen Eliteschulenabsolventen entwickelten sich in Deutschland nicht. Keine deutsche Hochschule besaß ein vergleichbares, in öffentlichen Ritualen zelebriertes Prestige wie die französischen Elitehochschulen. Schließlich blieben auch Religion und Kirchen zwischen Frankreich und Deutschland erheblich verschieden. Dieser Unterschied bestand nicht nur darin, dass er mit Frankreich ein überwiegend katholisches Land mit einer starken, muslimischen, überwiegend arabischen Minderheit blieb, Deutschland dagegen ein konfessionell gemischtes Land mit einer etwas schwächeren, muslimischen, überwiegend türkischen Minderheit. Auch die grundsätzlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche blieb in den beiden Ländern unterschiedlich. Für die »laïcité« gab es in Deutschland weiterhin keine entsprechende Entwicklung, nicht einmal einen rechten Begriff. Die enge Zusammenarbeit von Staat und Kirche in Deutschland bis hin zur Eintreibung der Kirchensteuer durch den Staat blieb in Frankreich weiterhin schwer unverständlich. Allerdings vereinfacht diese kontrastive Gegenüberstellung von Frankreich und Deutschland zu sehr. Der große innerdeutsche Kontrast in der Religiosität und in der Familie kompliziert diese Unterschiede erheblich. Das östliche Deutschland war in der Religiosität und in der Familie weniger verschieden von Frankreich als das westliche Deutschland. Darüber hinaus streichen Sozialwissenschafter auch die neue Ähnlichkeit zwischen Frankreich und Deutschland in den religiösen Konflikten und in der Familie heraus, etwa im Kopftuch-Konflikt mit den muslimischen Minderheiten oder in dem Versuch der beiden Staaten, kirchenähnliche muslimischen Organisationen anzufordern oder in der neuen Familienpolitik und der neuen Definition der Väter- und Mütterrollen der jüngeren Generation der Eltern. Auch in den sozialen Konflikten sind die Ähnlichkeiten der Konfliktgegenstände nicht zu übersehen: die Deregulierung der öffentlichen Unternehmen, die Erhöhung des Rentenalters und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die neue Armut, der Rückgang der lebenslangen, sicheren Beschäftigung und die Zunahme der prekären Arbeitssituation. Insgesamt überwiegen die Annäherungen zwischen der französischen und deutschen Gesellschaft in den vergangenen fünf Jahrzehnten, auch wenn die beiden Gesellschaften verschieden genug sind, um weiterhin voneinander zu lernen. Diese Annäherungen führten auch nicht selten zu ähnlicheren Interessen und erleichterten damit die politischen Kompromisse zwischen den beiden Ländern in der Europäischen Union. Darüber hinaus gewinnt man den Eindruck, dass sich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften die Einschätzung der französisch-deutschen Unterschiede gewandelt hat. Diese Unterschiede scheinen 119

angesichts der wachsenden Bedeutung der Europäischen Union und der Globalisierung viel von ihrem Reiz verloren zu haben. Die zahlreichen gemeinsamen Probleme, mit denen die beiden europäischen Gesellschaften Frankreichs und Deutschlands konfrontiert sind, werden oft als die größere Herausforderung auch für die Wissenschaft angesehen.

III. Die Debatte über soziale Modelle Die Debatte über soziale Modelle war ein weiteres wichtiges Element der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. Sie hat zwei unterschiedliche Seiten, die sich verschieden entwickelten: auf der einen Seite die wechselseitige Wahrnehmung der beiden Gesellschaften und auf der anderen Seite die Debatte über das gemeinsame europäische Sozialmodell. Die wechselseitige Wahrnehmung der Gesellschaften Frankreichs und Deutschlands war seit dem Zweiten Weltkrieg von einer tiefen Asymmetrie geprägt. Frankreich wurde aus deutscher Sicht kaum einmal ein soziales Modell wahrgenommen. Frankreich war vor allem ein kulturelles Modell, ein Modell der hohen Kultur, der Malerei und Skulptur, der Literatur und der Autorenfilme, und auf der anderen Seite ein Modell des Lebensstils, der Mode, des Essens, der Weine, der Parfums und überhaupt des eleganten Lebensstils. Paris war das wichtigste Symbol für beide Seiten dieses kulturellen Modells. Gleichzeitig war Frankreich in der deutschen Geschichtswahrnehmung ein politisches Modell. Die französische Revolution und der Mai 1968 stehen dafür. Dieses politische Modell Frankreichs hatte auch deutliche Schattenseiten, vor allem die deutschen Ängste vor einem Führungsanspruch Frankreichs und vor einer angeblichen französischen politischen Arroganz, für die oft Napoleon als Symbol stand. Erst in den allerletzten Jahren wurde Frankreich auch ein soziales Modell in der deutschen Debatte über die Familie, über die hohen französischen Geburtenraten, über die besseren französischen Versorgungsleistungen für die Kindererziehung und über das andere, französische Verständnis der Mutterrolle. Deutschland war dagegen für Frankreich vor allem ein soziales Modell, ein Modell für starke intermediäre Gruppen, für eine hohe Dichte von Interessenverbänden, Vereinen, Netzwerken, mit denen die politischen Entscheidungen der Regierung ausführlich diskutiert wurden, bevor sie im Konsens mit der Gesellschaft gefällt wurden. Deutschland war das Gegenmodell zu den einsamen Entscheidungen der französischen Präsidenten, die nicht selten zum Dissens mit der Gesellschaft und zu riesigen politischen Demonstrationen in den großen französischen Städten führten. Zudem war Deutschland ein Modell für Kompromisse zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften, für wenig Streiks und lange Verhandlungen, für ein entwickeltes Tarifvertragssystem und moderate Lohnabschlüsse. Ein kulturelles Modell war dagegen Deutschland nicht, weder in der Literatur noch in der Malerei noch in den Autorenfilmen. Erfolge einzel120

ner Schriftsteller und Autorenfilme änderten daran nichts. Nur die deutsche Philosophie und die deutsche Musik des 18. und 19. Jahrhunderts wurden in der kulturellen Öffentlichkeit Frankreichs stark wahrgenommen, ein rein historisches Deutschland. Politisch war Deutschland vor allem ein Negativmodell. Die NS-Diktatur, die Besetzung Frankreichs durch NS-Truppen, der Genozid an den Juden, auch an den französischen Juden, prägte das Bild vom historischen politischen Deutschland. Die Demokratie in der Bundesrepublik wurde ohne Zweifel genau registriert und sehr positiv wahrgenommen, war aber kein politisches Modell für Frankreich. Nur in Expertenkreisen, nicht aber in der breiten Öffentlichkeit, wurde die Stärke des Bundestages im Vergleich zur Schwäche der assemblée nationale, das enorme Gewicht des Bundesverfassungsgerichts oder der Föderalismus modellhaft wahrgenommen.11 Man mag diese Asymmetrie beklagen, weil dadurch die Öffentlichkeiten Frankreichs und Deutschlands blind für andere Vorteile der Gesellschaft jenseits des Rheins blieben. Die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland wurden jedoch durch diese Asymmetrie eher verstärkt, weil dadurch das andere Land als Modell für eigene Schwächen diente. Hätte die französische Öffentlichkeit ihr eigenes Land als ein Land der sozialen Kompromisse und der starken intermediären Gruppen wahrgenommen, wäre für sie in Deutschland uninteressant gewesen. Hätte die deutsche Öffentlichkeit ihr eigenes Land als ein Land der Mode, der Autorenfilme, des kulinarischen Raffinesse wahrgenommen, hätte sie Frankreich kaum beachtet. Die Asymmetrie der wechselseitigen Wahrnehmung verstärkte die bilateralen Beziehungen. Die Debatte über das gemeinsame europäische Sozialmodell ist dagegen nicht so sehr eine deutsch-französische Debatte, sondern eine globale Debatte zwischen Europäern, Amerikanern, Japanern, Lateinamerikanern. In ihren globalen Ausmaßen, die freilich auch klare räumlichen Grenzen besaß, ist diese Debatte noch wenig erforscht. Beginnend schon in der Zwischenkriegszeit wurde Europa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Modell für 11 D. Hüser, Selbstfindung durch Fremdwahrnehmung in Kriegs- und Nachkriegszeiten: Französische Nation und deutscher Nachbar seit 1870, in: B.  Aschmann (Hg.), Das Bild »des Anderen«: Politische Wahrnehmung im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart, 2000, S. 55–79; R.  Hudemann, Sozialpartnerschaft oder Klassenkampf? Zu deutsch-französischen Spannungsfeldern seit dem 19. Jahrhundert, in: C. Dipper (Hg.), Europäische Sozialgeschichte: Festschrift für Wolfgang Schieder, Berlin, 2000, S. 173–184; I. Bourgeois, La modèle social allemand en mutation, Cergy-Pontoise 2005; H.-M.  Bock, Wechselseitige Wahrnehmung zwischen Frankreich und Deutschland, in: Kolboom u. a., Handbuch Französisch, S. 613–619; C. Moisel, Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher, Göttingen 2004; C. von Butlar, Das vereinigte Deutschland in der überregionalen Presse Frankreichs 1989 bis 1994, Berlin 2006; I. Kolboom, Pièces d’identité. Signets d’une décennie allemande 1989–2000, Montréal 2002; A. Hege u. a., Regards sur l’Allemagne unifiée, Les Etudes n° 5235, Paris 2006; K. Erler, Deutschlandbilder in der französischen Literatur: nach dem Fall der Berliner Mauer, Berlin 2004; F. Nies u. C. Colliot-Thélène (Hg.), Les enjeux scientifiques de la traduction: Echanges franco-allemands en sciences humaines et sociales, Paris 2004.

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den Ausbau des Wohlfahrtsstaates, der Stadtplanung, des Gesundheitssystems und der Ausbildung. Die universelle Absicherung aller Bürger gegenüber allen persönlichen Lebensrisiken durch staatliche Sozialversicherungen, die Sicherung von Bildungschancen und menschenwürdigem Wohnen durch den Staat, verbunden mit einer aktiven Beschäftigungspolitik, waren die wichtigsten Elemente dieses Modells, das freilich im Einzelnen oft nicht genau definiert wurde. Dieses Sozialmodell wurde auf der einen Seite von den Europäern, darunter auch Franzosen und Deutschen, nach dem Zweiten Weltkrieg immer häufiger als eine besondere europäische Errungenschaft, manchmal auch als besonderer europäischer Belastung angesehen. Auf der anderen Seite sahen auch viele Nichteuropäer, vor allem in den reichen Ländern wie Japan oder in den Europa besonders stark verbunden Ländern wie Nordamerika, Lateinamerika und Afrika dieses europäische Sozialmodell als Orientierungspunkt für ihre eigene Sozialpolitik an.12 Dieses europäische Sozialmodell veränderte sich in der Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg grundlegend. Es besaß eine besonders starke Ausstrahlungskraft während der 1950er Jahre bis 1970er Jahren, als in Europa die Wachstumsraten der Wirtschaft weit über dem Weltdurchschnitt lagen, nur noch von Japan überboten wurden, als die Arbeitslosenraten in Westeuropa außergewöhnlich niedrig lagen und als der Wohlfahrtsstaat in Europa expandierte. Damals gehörte der Wohlfahrtsstaat für die Europäer zu den Säulen des sozialen Fortschrittsglaubens. Seit den 1970er Jahren änderte sich das: Die wirtschaftlichen Wachstumsraten Europas sanken unter dem Durchschnitt der Weltwirtschaft. Die Arbeitslosenraten stiegen über den Durchschnitt der reichen Länder. Armut wurde zu einem wachsenden Problem. Die Schwächen des europäischen Sozialmodells wurden immer deutlicher. Die Kritik an diesem Sozialmodell nahm in Europa zu, auch wenn es nirgends dauerhaft abgebaut wurde. Die inneren europäischen Unterschiede wurden in der öffentlichen Debatte stärker herausgestrichen. Das angelsächsische Modell mit einer bloßen sozialen Grundversorgung wurde unterschieden von dem skandinavischen Modell mit besonders hohen Sozialausgaben und Steuern und dieses wiederum von dem kontinentalen »rheinischen Modell« der relativ hohen Sozialausgaben und der erheblichen Arbeitslosigkeit. Kern dieses »rheinischen Modells« waren Frankreich und Deutschland. Das europäische Sozialmodell verlor an globaler Ausstrahlungskraft gegenüber

12 E.  Rieger u. S. Leibfried, Limits to globalization. Welfare states and the world economy, Cambridge 2003; I. Bizberg, Social security in Latin America n the 20th century and the model of the European welfare state, in: H. ­Kaelble u. G.  Schmid (Hg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004 (WZB Jahrbuch 2004); Y. ­Tanaka, Between self-responsibility and social security. Japan and the European model from a historical perspective, in: ­Kaelble u. Schmid, Das europäische Sozialmodell; A. Eckert, Exportschlager Wohlfahrtsstaat? Europäische Sozialstaatlichkeit und Kolonialismus in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 32,4 (2006), S. 467–488.

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dem angelsächsischen Modell. Das »rheinische Modell« wurde für viele Europäer und Nichteuropäer zum Symbol für die kranken wirtschaftlichen Verhältnisse in Westeuropa und später in Europa. Allerdings wurde dieses Sozialmodell in Frankreich und Deutschland bisher mental nicht aufgegeben. Die Bevölkerungen in Frankreich und Deutschland hielten an dem Wert der sozialen Sicherung durch den Staat fest und waren in ihrer Mehrheit nicht bereit, sie durch private soziale Sicherungen zu ersetzen. Die Regierungen versuchten zwar nicht selten andere Prinzipien einzuführen, bauten den Wohlfahrtsstaat aber nicht wirklich ab. Die Sozialausgaben als Anteil des Sozialproduktes sanken nicht, sondern stiegen ganz im Gegenteil kontinuierlich weiter. Das »rheinische Modell« geriet daher zwar in der Öffentlichkeit in eine Defensive, wurde aber keinesfalls geschleift. Der gemeinsame europäische Sozialstaat bekam dadurch eine wichtige, wenn auch umstrittene Bedeutung für die deutsch-französischen Beziehungen.

IV. Die wechselseitige wissenschaftliche Beobachtung In der wechselseitigen gesellschaftlichen Wahrnehmung kommt der wissenschaftlichen Beobachtung eine besondere Bedeutung zu. Solange Wissenschaft nicht zum bloßen Sprachrohr von Regierungen wird oder durch Diktaturen gegängelt ist, besitzt sie eine herausragende Rolle bei der Beobachtung des anderen Landes, bei der Information über das andere Land, bei dem Abbau von Vorteilen und bei dem Austragen von Meinungsverschiedenheiten über das andere Land. Wenn Wissenschaft sich öffentlich engagiert, kann sie auch starken Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen. Die wechselseitige wissenschaftliche Beobachtung Frankreichs und Deutschlands hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg erheblich verändert. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg waren sich die Wissenschaften in Frankreich und Deutschland weitgehend entfremdet. Aus vielen Gründen hatten sich französische und deutsche Wissenschaftler nicht viel zu sagen. Das durch die beiden Weltkriege entstandene, tiefe Misstrauen wirkte auch in der Wissenschaft fort. In der jahrzehntelangen wechselseitigen Isolation der Wissenschaft der beiden Länder entstanden tiefe Divergenzen in den Theorien, den Methoden, den Forschungsinteressen und den »brennenden« Themen. An gemeinsamen europäischen Themen arbeiteten die Wissenschaftler lange Zeit nur selten. Nationale Themen blieben beherrschend. Auch Themen, die man aus internationaler Perspektive hätte behandeln können, wie die Aufklärung; die Französische Revolution, die NS-Besetzung Europas wurden primär unter dem nationalen Blick betrachtet. Die Forschung der USA, der neuen westlichen Leitwissenschaft, wirkte auf die beiden Länder sehr unterschiedlich intensiv. Die Forschung in Deutschland war weit stärker auf die USA orientiert als die französische Forschung. Das Interesse an der Wissenschaft jenseits des Rheins war 123

dagegen in beiden Ländern lähmend gering. Die deutschen Frankreichspezialisten und die französischen Deutschlandspezialisten hatten nur eine schwache Position in ihren jeweiligen Disziplinen. In dieser Situation der wechselseitigen Nichtkenntnisnahme kam den wissenschaftspolitischen Institutsgründungen, in denen Politik und Wissenschaft zusammenwirkte, eine große Bedeutung zu: dem Deutschen Historischen Institut in Paris (1959), dem Büro des DAAD in Paris (1962), der »mission historique française« am ehemaligen Max-PlanckInstitut für Geschichte in Göttingen (1977).13 Vor allem seit den 1980er Jahren nahmen dagegen die Institutionen rasch zu, die über das jeweils andere Land forschten: das Marc-Bloch-Zentrum in Berlin, das CIERA in Paris, die deutsch-französische Hochschule in Saarbrücken, die Frankreich-Zentren in Freiburg, Saarbrücken, Leipzig und Berlin, speziell für die Historiker das deutsch-französische Historikerkomitee, die regelmäßigen deutsch-französischen Sozialhistorikertreffen. Diese Institutionen entstanden in der Regel durch Initiativen von Wissenschaftlern. Durch regelmäßige Tagun­gen, Vorträge, Gastprofessuren entstand ein präzises Wissen über das jeweilige andere Land. Durch Stipendienprogramme arbeiteten viel mehr junge Wissenschaftler über das andere Land. Viele cotutelles wurden durchgeführt. Für den seit einigen Jahren vergebenen, deutsch-französischen Parlamentspreis der assem­ blée nationale und des Bundestages werden jedes Jahr rund 50 bis 60 Mono­ graphien eingereicht, entweder Arbeiten über das jeweils andere Land oder Vergleichs- und Beziehungsstudien. Das stark gewordene, wechselseitige Inte­resse der Wissenschaften beider Länder für einander ist allerdings kein Selbstläufer. Es muss immer wieder stimuliert, gefördert und an den neuen »brennenden« wissenschaftlichen Themen orientiert werden. Man muss hinzufügen, dass in einer Hinsicht die enge Kooperation völlig erfolglos war. Bisher entstand kein gemeinsamer deutsch-französischer Arbeitsmarkt für Hochschullehrer. Nur wenige deutsche Hochschullehrer lehren in französischen Professuren. So gut wie keine französischen Hochschullehrer lehren auf deutschen Lehrstühlen. In den letzten Jahren vollzog sich eine weitere wichtige Veränderung: die Forschung über das jeweils andere Land veränderte sich. Davor waren bestimmte wissenschaftliche Disziplinen zuständig für die Forschung über das jeweils andere Land: in Frankreich vor allem die Germanistik, die sich nicht nur mit Literatur, sondern auch mit civilisation, d. h. auch mit Politik, Recht, Wirtschaft und allgemeiner Geschichte befasste, und daneben die Philosophie mit ihrem Interesse für die deutsche Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts; in Deutschland vor allem die Romanistik, die einen Schwerpunkt französische Literatur besaß. Daneben gab es in beiden Ländern auch einzelne Historiker, 13 Vgl. U. Pfeil (Hg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert, München 2007; Bock, Projekt deutsch-französische Verständigung; H. ­Kaelble, ­Science and the Franco-German reconciliation since 1945, in: Technology and society 23.2001, S. 407–426; ders., La recherche française sur l’Allemagne: impressions d’un observateur extérieur, in: L’Allemagne aujourd’hui novembre 2002, S. 179–184

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Politikwissenschaftler, Juristen, Ethnologen und Soziologen, die sich auf das jeweils andere Land spezialisierten und ihr ganzes Leben darüber arbeiteten. In der jüngsten Zeit ist allerdings die französische Germanistik und offensichtlich auch die französische Expertise der deutschen Philosophie in eine dramatische Krise geraten. Die Studentenzahlen fallen. Germanistische Institute in Frankreich werden geschlossen. Auch die deutschen Studenten, die französische Literatur studieren, nehmen anscheinend ab. Allerdings hält sich die Forschung über das jeweils andere Land in anderen Disziplinen durchaus: in den Geschichtswissenschaften, in der Politikwissenschaft, in der Soziologie, in der Kunstgeschichte, in den Wirtschaftswissenschaften. Freilich ändert sich dort die Beschäftigung mit dem anderen Land: Statt einer lebenslangen Spezialisierung bearbeitet man oft nur ein Projekt, schreibt nur ein Buch über das Land jenseits des Rheins. Selbst dabei befasst man sich oft nicht mehr ausschließlich mit dem anderen Land, sondern führt einen Vergleich oder eine Beziehungsstudie über mehreren Ländern durch. Die Bindung an die eigene Disziplin wird dadurch oft stärker als die Bindung an das untersuchte Land jenseits des Rheins.

V. Zusammenfassung Haben die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich in Deutschland wirklich nicht nur zur Versöhnung und Annäherung der beiden Länder bis zum Elysée-Vertrag von 1963, sondern auch zu der Dauerhaftigkeit der Zusammenarbeit beigetragen? Ohne Zweifel hing weder die Versöhnung noch die Dauerhaftigkeit der Zusammenarbeit ausschließlich an den gesellschaft­lichen Beziehungen. Letztlich war der politische Wille der Regierungen und der Zivilgesellschaften ausschlaggebend. Daneben haben aber auch gesellschaftliche Bedingungen in den vergangenen rund fünfzig Jahren die deutsch-französische Versöhnung und Zusammenarbeit erheblich begünstigt. Es wäre freilich zu schönfärberisch, wollte man nur günstige gesellschaftliche Bedingungen erwähnen. Einige gesellschaftliche Bedingungen haben die deutsch-französische Versöhnung und Zusammenarbeit eher gehemmt, zumindest nicht wirklich gefördert. Nicht wirklich gefördert wurde die deutsch-französische Zusammenarbeit in der gesellschaftliche Verflechtung zwischen den beiden Ländern. Die deutsch-​ französische Zusammenarbeit konnte sich weder auf besonders intensive Mi­ gration zwischen den beiden Ländern, noch auf besonders viele Reisen, noch auf besonders viel Ausbildung und Studienerfahrung im jeweils anderen Land noch auf besonders dichte familiäre Bindungen durch Heiraten stützen. Alle diese gesellschaftlichen Verflechtungen nahmen zwar im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu und verbanden die beiden Länder enger als in der Zwischenkriegszeit. Aber sie nahmen nicht rascher zu als zwischen anderen europäischen Ländern und können deshalb die besonders enge deutsch-französische Zusammenarbeit nicht erklären. Die europäische Integration führte zwar zu einer besonders engen 125

wirtschaftlichen Verflechtung zwischen den beiden Ländern im Warenhandel, aber nicht zu besonders engen gesellschaftlichen Verflechtungen. Auch das gemeinsame Modell des »rheinischen Kapitalismus« kann man nur für eine begrenzte Zeit als günstigen Kontext der deutsch-französischen Zusammenarbeit ansehen. In den 1950er bis 1970er Jahren war tatsächlich dieser »rheinische Kapitalismus« mit seinen außergewöhnlich hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten, seinen Exporterfolgen, seiner niedrigen Arbeitslosigkeit, seinem starken Ausbau des Wohlfahrtsstaates, seiner intensiven Stadtplanung eine wichtige deutsch-französische Gemeinsamkeit, die damals diese beiden Länder von dem angelsächsischen und dem skandinavischen Modell unterschied. In dieser Zeit prägte der französische Ökonom Michel Albert diesen Ausdruck. Der »rheinischen Kapitalismus« war sicher ein günstiger Rahmen für die damalige deutsch-französische Versöhnung. Aber seit den 1970er Jahren verlor dieses Modell an wirtschaftlicher Dynamik und gesellschaftlichen Vorzügen. Es bietet keine rechte Erklärung für die Dauerhaftigkeit der französisch-deutschen Zusammenarbeit während der vergangenen rund drei Jahrzehnte. Darüber hinaus schwächt sich auch eine weitere Besonderheit in den Beziehungen der beiden Länder ab: die Fremdsprachenkenntnisse. Noch um 1950 sprach von der Minderheit, die damals überhaupt Fremdsprachenkenntnisse besaß, ein substantieller Teil der Franzosen Deutsch und der Deutschen Französisch. Das Französische besaß noch eine große Bedeutung als Sprache der Diplomatie und der internationalen Organisationen. Deutsch war immer noch wichtig als Wissenschaftssprache. Diese Kenntnisse der Sprache des anderen Landes waren eine bedeutsame, wenn auch im Einzelnen schwer nachweisbarer Voraussetzung für die Versöhnung zwischen den beiden Ländern. In der Gegenwart sind dagegen beide Sprachen als Fremdsprachen in Frankreich wie in Deutschland weit hinter das Englische zurückgefallen. Franzosen und Deutsche kommunizieren nicht selten in englischer Sprache. Die sprachliche Grundlage einer engen deutsch-französischen Zusammenarbeit, die Kenntnis der Sprache des jeweils anderen Landes, gerät damit in Gefahr. Daneben gab es auch entscheidende, günstige gesellschaftliche Voraussetzungen für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Am wichtigsten waren die gewollten Beziehungen zwischen den Zivilgesellschaften, die sich vor allem seit den 1970er Jahren stark entwickelten, und zwar sowohl auf der Ebene der Eliten als auch auf der Ebene der Städte, der Dörfer, der Schulen, der Universitäten, der Berufsorganisationen, der Wissenschaftler. Diese gewollte Zusammenarbeit der Zivilgesellschaften stützte nicht nur die Versöhnung zwischen beiden Ländern, sondern auch die dauerhafte Zusammenarbeit, weil sie die Spannungen zwischen den Regierungen abmilderte und ein öffentliches Klima schuf, in dem sich französisch-deutsche Regierungskonflikte nicht zu antagonistischen nationalen Spannungen auswuchsen, sondern eher als Besorgnis erregende, aber vorübergehende politische Klimastörung eingestuft wurden. Auch die öffentliche Debatte über soziale Modelle, selbst wenn sie starken Schwankungen unterworfen war, stützte eher die deutsch-französische Zusam126

menarbeit. Das jeweils andere Land wurde überwiegend als positives Modell angesehen, Frankreich in Deutschland eher als kulturelles und politisches Modell, Deutschland in Frankreich eher als soziales Modell. Die ähnlichen Debatten über das europäische Sozialmodell stützte ebenfalls eher die deutsch-französische Zusammenarbeit, auch wenn von außen die europäische und globale Kritik an dem angeblich zu exklusiven couple franco-allemand zunahm. Darüber hinaus hat sich in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem seit den 1970er und 1980er Jahren, die wissenschaftliche Beobachtung des jeweils anderen Landes erheblich intensiviert. Wissenschaftliche Institutionen, die über das jeweils andere Land forschten, nahmen zu. Forschung über das jeweils andere Land hatte den Charakter der Feindbeobachtung der Zwischenkriegszeit längst verloren. Sie brachte die beiden Länder durch präziseres Wissen über den Anderen und durch die Erklärung schwer verständlicher Entwicklungen im anderen Land einander näher. Auch sie war entscheidend für die Dauerhaftigkeit der französisch-deutschen Zusammenarbeit. Schließlich kann man die deutsch-französische Zusammenarbeit nicht nur aus bilateralen gesellschaftlichen Gründen erklären. Ganz entscheidend war die Europäisierung der deutsch-französischen gesellschaftlichen Beziehungen, der allgemeine westeuropäische und später gesamteuropäische Trend zur Abmilderung von Divergenzen, zu mehr gesellschaftlichen Verflechtungen, zu intensiven Debatten über ein gesellschaftliches Modell in einem Land anderswo in Europa, auch über ein gemeinsames europäisches Sozialmodell vor dem Hintergrund einer immer intensiveren und geographisch umfassenderen europäischen Integration, die nicht nur durch ihre Erfolge, sondern auch durch ihre Krisen und Fehlentscheidungen europäisierte. Die französische und deutsche Politik verfolgte nicht nur eine bilaterale Zusammenarbeit, sondern stand vor allem in der Verantwortung für ein größeres europäisches Projekt. Darin wurde sie von der gesellschaftlichen Entwicklung nicht immer, aber oft gestützt.

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7. Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 Das Jahr 2003 war eine zentrale Erfahrung für die deutsch-französischen Beziehungen.1 Es trug vielleicht zum Übergang in neue Beziehungen zwischen den beiden Ländern bei. Historiker sind immer misstrauisch gegenüber solchen Sätzen, aber als mich der Direktor des DHI Paris, Werner Paravicini, 2002 zu diesem Vortrag einlud, konnte man sich nicht vorstellen, was sich in der Zwischenzeit ereignete.

I. Die heutige Situation des deutsch-französischen Zusammenarbeit Auf der einen Seite war das Jahr 2003 ein Jahr der Kritik und der ungewohnten und außergewöhnlichen Angriffe auf die deutsch-französische Zusammenarbeit, die oft als zu ehrgeizig, zu exklusiv und zu rückständig angesehen wurde. Sie wurde manchmal sogar als eine Achse des Niedergangs, des alten, vergangenen und gefährlichen Europas angesehen. Der Historiker Paul Kennedy, ein bekannter englischer Spezialist der internationalen Beziehungen und Professor an der amerikanischen Yale University, hat diese Vorwürfe an das deutsch-französische Paar zusammengefasst. In seinen Augen besitzt das deutsch-franzö­ sische Paar völlig irreale Vorstellungen von seinem weltweiten Einfluss. Darüber hinaus steht es in seinen Augen für ihn ein brüchiges rheinisches Modell, dem eine flexible und moderne Wirtschaftspolitik, genügend militärischer Ausgaben und eine ausreichend hohe Geburtenrate fehlt, alles Probleme, die von den angelsächsischen Ländern, so Kennedy, besser gelöst wurden.2 Auf der anderen Seite war 2003 das Jahr der Bestätigung und der Revitalisierung der deutsch-französisches Zusammenarbeit nach einer Periode der Morosität und der Missverständnisse zwischen den beiden Regierungen. Am Anfang des Jahres 2003 wurde die Gedenkfeier für den Elysée-Vertrag sorgfältig organisiert. Der Ort der Feier war gut gewählt: das Schloss von Versailles, nacheinander der Ort der Erniedrigung das einen Landes durch das

1 Dies ist der überarbeitete Text meines Jahresvortrags 2003 am Deutschen Historischen Institut in Paris. Den Vortrag habe ich ursprünglich in Französisch geschrieben und für diesen Band in das Deutsche übertragen. 2 P. Kennedy, Taten statt Worte. »Kern«-Europa braucht keine Philosophie, in: Süddeutsche Zeitung 23.6.2003.

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andere 1871 und 1919, wurde nun ein Ort der gemeinsamen Feier. Die Setzung der französischen und deutschen Parlamentarier(innen) auf der Tribüne, immer französische Abgeordnete neben deutschen Abgeordneten, war eine ausgezeichnete symbolische Idee. Die Reden der Politiker waren bedeutender als man es erwartet hatte. Ein anderes Ereignis dieses außergewöhnlichen Jahres 2003 fand einige Wochen später statt: die erzwungene Harmonisierung der französischen und deutschen Außenpolitik angesichts der Vorbereitung der militärischen Intervention der USA im Irak. Trotz der Unterschiede der Interessen und der politischen Stile fanden die beiden Regierungen eine gemeinsame Politik gegenüber dem außergewöhnlichen Druck von Seiten der Regierung Bush. Allerdings besaßen sie die sichtbare Unterstützung eines großen Teils Europas und der USA, wie die Friedensdemonstrationen zeigten. Folgt man den Umfragen, dann war das wechselseitige Vertrauen zwischen Franzosen und Deutschen nie so groß. Noch später wurde 2003 auch das Jahr der Entscheidung über die europäische Verfassung. Sie wurde von einem Konvent beschlossen, der von einem Franzosen geleitet wurde. Eine der wichtigsten Teile, der Verfassung, der die Grundrechte behandelt, ist das Werk seines früheren Konvents, der von einem Deutschen geleitet wurde und auf den Vertrag von Nizza im Jahr 2000 zurückgeht. Die veränderte Gewaltenteilung, die von diesem Verfassungsprojekt vorgesehen ist, und dabei vor allem der Kompetenzzuwachs für das Europäische Parlament und der neue Präsident des Europäischen Rates, ist das Ergebnis eines deutsch-französischen Kompromisses. Man sollte allerdings den deutsch-französischen Bestandteil dieser Verfassung auch nicht überschätzen. Die Verfassung ist die erstaunliche und unerwartete Leistung des Konvents, der aus den Repräsentanten der ganzen heutigen und zukünftigen Europäischen Union besteht. Die Verfassung wurde nicht durch das französisch-deutsche Paar konzipiert. Aber dieses Paar spielte dabei doch wie so oft die Rolle eines Motors.

II. Die Abschwächungen und die Verstärkungen der deutsch-französischen Zusammenarbeit seit 1945 Aber wird dieser neue öffentliche Auftritt und diese wiedergefundene Stärke der deutsch-französischen Zusammenarbeit dauerhaft sein? Oder durchliefen die deutsch-französischen Beziehungen für einige Monate, von Januar bis Juni 2003, eine zwar glanzvolle, aber anormale und vorübergehende Zwischenperiode? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, werde ich als Historiker die langen Entwicklungen der Beziehungen beider Länder seit 1945 verfolgen und die widersprüchlichen Tendenzen der Abschwächung und der Verstärkung der deutsch-französischen Zusammenarbeit gegeneinander abwägen. Ich beginne mit den Abschwächungstendenzen und komme dann auf die Verstärkungstendenzen. Am Ende meines Vortrages werde ich auf die Gegenwart und auf die 130

Frage zurückkommen, ob das Jahr 2003 in historischer Perspektive ein Wendepunkt in der deutsch-französischen Zusammenarbeit war. Die Abschwächungen und Gefahren Drei Langzeittendenzen bedrohen die deutsch-französische Zusammenarbeit. Die erste Gefahr, über die man viel spricht, ist das zunehmende Desinteresse Frankreichs und Deutschlands aneinander, insbesondere der Rückgang der Kenntnisse über den anderen, seine Sprache, seine Literatur, seine Philosophie, seine Künste und seine Wissenschaften. Man denkt dabei zuvorderst an den Rückgang des französischen Sprachunterrichts an deutschen Schulen und an den sogar noch stärkeren Rückgang des deutschen Sprachunterrichts an französischen Schulen. Man denkt an die Krise der Germanistik an französischen Universitäten, an den Rückgang der Studenten und Lehrenden, an die Schließung des Centre d’Etudes Germaniques in einer symbolischen Stadt wie Straßburg, an ein gewisses neues Desinteresse in Frankreich für die deutsche Philosophie, über die früher die französische Presse oft besser unterrichtete als die deutsche Presse. Man denkt auch an die äußerste Seltenheit von Lehrstühlen über französische Landeskunde an deutschen Universitäten. Man denkt an die unveränderte Seltenheit von Übersetzungen französischer Bücher in das Deutsche und umgekehrt – 8 % bzw. 15 % aller Übersetzungen von Büchern in Frankreich bzw. in Deutschland. Man denkt schließlich auch an die Angst vor der Abschwächung der französischen und deutschen kulturellen Besonderheiten angesichts der beherrschenden, angelsächsischen Tendenzen in der Kunst, in den Medien, in den Naturwissenschaften, aber auch in den Geisteswissenschaften. Es stimmt zwar, dass die Bestandsaufnahmen über die deutsche Forschung zu Frankreich im Jahr 2002 in Berlin und über die französische Forschung zu Deutschland 2003 in Paris gezeigt haben, dass die Forschung sich über das jeweilige Nachbarland stark geändert hat, aber keineswegs zurückgeht. Sie wird immer weniger von Spezialisten der Literatur oder der Philosophie, sondern eher von Politologen, Soziologen, Juristen, Historikern und Kunsthistorikern getragen. Sie konzentriert sich auch immer weniger ausschließlich auf das jeweils andere Land, sondern wird immer mehr eine Forschung, die vergleicht und Transfers untersucht, dabei über den engen deutsch-französischen Rahmen hinausgeht und eine europäische Perspektive wählt. Trotzdem bleibt die Gefahr einer kulturellen Auseinanderentwicklung zwischen Frankreich und Deutschland immer bestehen. Eine zweite Gefahr besteht in der Rückkehr der deutsch-französischen Divergenzen und dabei eines antagonistischen Denkens. Wir sind uns alle der unveränderten politischen Differenzen in der Agrarpolitik, der Energiepolitik und der Atompolitik, auch in den militärischen Strategien insbesondere im Bereich der Nuklearwaffen und im Bereich der Berufsarmee bewusst. Wir wissen, dass unsere beiden Länder ihre geopolitischen Verantwortungen außerhalb der Europäischen Union unterschiedlich ausrichten. Frankreich beschäftigt sich 131

eher mit Afrika, mit dem Nahen Osten und mit der Karibik, Deutschland dagegen eher mit Ostmitteleuropa und mit Osteuropa. Ich erinnere zudem an die bekannten sozialen und kulturellen Divergenzen des 20. Jahrhunderts, an die Unterschiede in der Geburtenrate und der Familienpolitik, in der Säkularisierung und der laicité (ein Wort, das man nicht in das Deutsche übersetzen kann), in der Ausbildung und der Rolle der Eliten, in den Arbeitswerten und in der Leitung der großen Unternehmen, im Föderalismus und im Staatsverständnis, in den intermediären Gruppen und den Streiks, in der Rolle der Intellektuellen und in den Zugängen zu den Wissenschaften. Es ist richtig, dass es unrealistisch und im Übrigen auch langweilig wäre, auf eine völlige Auflösung von Unterschieden zwischen Frankreich und Deutschland zu setzen. Die Gefahr für die deutsch-französische Zusammenarbeit besteht auch nicht in den Unterschieden als solchen, die immer bestanden und bestehen werden, sondern In der Interpretation der Unterschiede. Man kann sie als Zeichen für eine schwierige und frustrierende Partnerschaft, für eine fortwährende Entfremdung oder sogar, wie vor den 1950er Jahren, als Zeichen eines Überlegenheitsanspruchs des Nachbarn ansehen. Man kann sie aber auch als eine Herausforderung zum Lernen vom Anderen, als eine produktive Diversität begreifen. Die Unterschiede in der Geburtenrate, die früher als eine Bedrohung angesehen wurde, werden heute in Deutschland als Teil eines französischen Modells angesehen. In einem Artikel über die deutsch-französischen Unterschiede, beschrieb die französische und Berlinische Journalistin, Pascale Hughes, die enormen Differenzen, die zwischen den Außenministern der beiden Länder: auf der französischen Seite ein konservativer Aristokrat, immer im Anzug, ein Schriftsteller und Experte von Rimbaud und Saint John Perse, Absolvent der ENA und auf der deutschen Seite ein Grüner, ohne Abitur und ohne Universitätsausbildung, Sohn eines ungarischen Metzgers, ein Straßenkämpfer, der kurzfristig das Gefängnis von Innen kennen gelernt hatte, gleichzeitig ein charismatischer Politiker. Trotzdem verstehen sie sich gut. Pascale Hughes denkt, dass der Aristokrat den früheren Straßenkämpfer dank seiner Kenntnisse von Rimbaud besser versteht. Das ist ein schönes Beispiel für das Verständnis und die Wertschätzung der deutsch-französischen Unterschiede, zumindest aus dem Blick der Journalistin, aber vielleicht auch aus dem Blick der Minister. Aber versteht sich dieses wechselseitige Verständnis von selbst? Hält es wirklich auf Dauer? Eine dritte Bedrohung besteht in dem Außenbild der Exklusivität der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Diese Exklusivität ist Gegenstand von Vorwürfen von Seiten der Regierungen anderer, großer und kleiner europäischer Länder, aber auch von Seiten der Regierung Bush. Die deutsch-französische Exklusivität und sogar Selbstisolierung war vor allem während des Irakkriegs erkennbar, als fast alle anderen europäischen Regierungen eine Deklaration zur Unterstützung der Regierung Bush unterzeichneten. Dieser Konflikt war nicht einfach Folge einer deutsch-französischen Arroganz, auch nicht Folge von Kaprizen der anderen europäischen Länder, sondern das Ergebnis eines wirklichen 132

Dilemmas. Das deutsch-französische Paar hat ohne Zweifel eine besondere Beziehung entwickelt. Sie beruht auf einem besonderen, oft auch emotionalen Vertrauen, dass sich nach einem halben Jahrhundert der Zusammenarbeit eingestellt hat, auch aus einer starken Beziehung zu Europa, teilweise auch aus der Erfahrung eines starken Einflusses des deutsch-französischen Paares auf der europäischen Ebene, manchmal sogar auf der globalen Ebene. Diese besondere Beziehung besitzt auch den Charme der Effizienz von raschen bilateralen Entscheidungen. Man kann sich auf der deutschen Seite, aber vielleicht auch auf der französischen Seite keinen besseren Partner vorstellen. Trotzdem war Exklusivität nie die Grundlage der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Die deutsch-französische Zusammenarbeit hat sich ursprünglich aus der europäischen supranationalen Zusammenarbeit entwickelt, die, das muss man sagen, definitiv eine Exklusivität ausschließt. Die berühmte Rede von Robert Schuman, die den Anfang der europäischen Integration darstellt, enthält schon die Feststellung, dass das europäische Projekt »gegenüber Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen.«3 Diese Offenheit ist unausweichlich in der Europäischen Union. In der europäischen Verteidigung beispielsweise, eine entscheidender Politikbereich für Europa seit dem Zusammenbruch der UdSSR, stößt die rein deutsch-französische Zusammenarbeit an ihre Grenzen. Ohne eine zumindest trilaterale Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland geht in diesem Bereich nichts. Das ist das Dilemma, aber auch gleichzeitig die Leistung der europäischen Integration: die enge deutsch-französische Beziehung, die viel geleistet hat und ohne Alternative blieb, ist gleichzeitig das Kernstück der europäischen Integration und sollte deshalb jede Exklusivität vermeiden. Die Verstärkungen Neben diesen Abschwächungen und Gefahren gab es seit den Anfängen in den 1950er Jahre auch Tendenzen zur Verstärkung der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Die entscheidende Grundlage für die deutsch-französische Zusammenarbeit war erstens das wechselseitige Vertrauen. Man vergisst leicht, dass dieses Vertrauen nur langsam entstand. Um diese Errungenschaft richtig einschätzen zu können, muss man noch einmal die Briefe an einen deutschen Freund lesen, die Albert Camus 1943 und 1944 schrieb. Er denkt vor allem im dritten Brief viel über die Errichtung eines neuen Europas nach der Niederlage des Nazi-Deutschland nach, aber hat dabei eine Zusammenarbeit mit Deutschland nicht im Kopf. Ich zitiere ihn: »Wir (d. h. er und sein deutscher Freund) werden

3 Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950, in: R. Hohls u. a. (Hg.), Europa und die Europäer. Quelle und Essays zu modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 453.

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uns bald wiedersehen, wenn das möglich ist. Aber trotzdem wird unsere Freundschaft beendet sein. (…) Heute bin ich Dir im Geiste nah, als Dein Feind, das stimmt, aber immer noch ein wenig als Dein Freund. (…) Morgen wird das zu Ende sein.«4 Camus war kein Sonderfall. Carlo Schmid, ein deutscher Politiker mit einer französischen Mutter, der in seinen Lebenserinnerungen die Niederlage das Nazi-Deutschland und den Einmarsch der französischen Armee im Südwesten Deutschlands 1945 beschreibt, sprach weder von Befreiung noch von deutsch-französischer Versöhnung, sondern sagte, ich zitiere ihn: »Die Franzosenzeit begann.«5 Noch in der Zeit des Elysee-Vertrags im Anfang der 1960er Jahre, also fast zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, misstraute die Mehrheit der Franzosen den Deutschen und, noch erstaunlicher, die Mehrheit der Deutschen misstraute den Franzosen. Dieses Misstrauen besaß nicht nur der Durchschnittsbürger, wie wir aus Meinungsumfragen wissen, sondern auch die oberen Schichten, auch die Historiker. 1959 schrieb Fernand Braudel: »Zwischen deutschen Historikern und französischen Historikern war der Kontakt zu lange unterbrochen worden, sodass manchmal ein schlecht gewähltes Wort oder eine zu rasche Behauptung reichte, damit die Diskussion jeden Sinn und jede Richtung verlor.«6 Erst seit den 1970er Jahren traute eine Mehrheit der Franzosen den Deutschen und umgekehrt. Dieses deutsch-französische Vertrauen beruhte auf mühsamer Arbeit, geleistet schon von den Versöhnungskomitees, die direkt nach Ende des Zeiten Weltkriegs gegründet wurden, von den Austauschprogrammen für Jugendliche, von den Städte- und Dorfpartnerschaften, von den Intellektuellen, die Brücken zwischen beiden Ländern schlugen wie etwa Alfred Grosser oder Joseph Rovan, von den vielen akademischen Austauschprogrammen, unter den Historikern von der Mission historique française in Göttingen, vom Deutschen Historischen Institut in Paris, vom deutsch-französischen Institut in Ludwigsburg, von den Frankreich-Zentren in Deutschland und den Centres d’études germaniques in Frankreich. Dieses Vertrauen hat auch viel mit der mutigen Politik der Regierung in beiden Ländern seit der Initiative von Robert Schuman 1950 zu tun. Dieses Vertrauen, das neben den Regierungen drei Arten von Akteuren aufbauten, Zivilgesellschaften, Intellektuelle und Experten, ist ein zentrale Errungenschaft. Aber dieses Vertrauen muss immer wieder erhalten werden. Deshalb war es nötig, weitere Zentren zu gründen. Neben vielen Initiativen erwähne ich nur das Centre Marc Bloch in Berlin, das CIERA in Paris, die Maison des Sciences de l’Homme und die École des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Ein zweiter Faktor für die Verstärkung der deutsch-französischen Zusammenarbeit war die Ähnlichkeit in der Modernisierung der Wirtschaften und 4 A. Camus, Lettres à un ami allemand, Paris 2003, S. 23. 5 C. Schmid, Erinnerungen, Bern u. a. 1979, S. 212. 6 F. Braudel, Sur une conception de l’histoire sociale (1959), in: ders., Ecrits sur l’histoire, Paris 1969, S. 190.

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Gesellschaften in Frankreich und Deutschland. Um diese Ähnlichkeit wirklich einschätzen zu können, muss man weiter in die Vergangenheit zurückgehen und sich an die grundlegenden Unterschiede erinnern, die die beiden Länder im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trennten: Deutschland, ein armes Land, folgte dem Modell einer raschen Industrialisierung, die auf Stahl und Kohle aufbaute, auf viel Export in die ganze Welt, auf riesige Unternehmen und auf einen raschen Wandel der Erwerbsbevölkerung. Dieses Modell der Modernisierung der deutschen Gesellschaft beruhte auf einer hohen Geburtenrate, einer raschen Verstädterung, einer starken Intervention des Staates in den Bereichen der sozialen Sicherheit, der Gesundheit, der Stadtplanung. Dieses deutsche Modell wurde auf der anderen Seite des Rheins oft als eine Bedrohung angesehen. Frankreich, ein reiches Land, folgte dagegen einem ganz anderen Modell, einer langsamen und vorsichtigen Industrialisierung, die auf einer starken Binnennachfrage, auf Konsumprodukten, auf einem begrenzten Export, auf kleinen und mittleren Unternehmen, auf einer langsamen Veränderung der Erwerbsbevölkerung und einem weiterhin gewichtigen Agrarsektor aufbaute. Frankreich folgte damit einem ganz anderen Modell der sozialen Modernisierung, das im Übrigen auf einer niedrigen Geburtenrate, einem geringen Stadtwachstum und einer starken liberalen Skepsis gegenüber dem Interventionsstaat beruhte. Es wird oft übersehen, dass beide Modelle durchaus leistungsfähig waren, keineswegs nur das uns heute vielleicht moderner erscheinende deutsche Modell. Seit der 1960er Jahren dagegen zeichnete sich eine deutsch-französische Annäherung in der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung ab, vor allem weil Frankreich nun eine einzigartige Epoche der raschen Modernisierung, der trentes glorieuses durchlief. Der dynamischste Wirtschaftssektor dieser Zeit, die Automobilindustrie, war in Frankreich genauso gewichtig wie in Deutschland. Frankreich wurde genauso wie Deutschland ein wichtiger globaler Exporteur, der auf die Ausfuhr von Industrieprodukten und nicht nur von Käse, Wein und Mode orientiert war. Es entstanden riesige Unternehmen in Frankreich wie in Deutschland. Die Geburtenrate in Frankreich war nun sogar höher als In Deutschland. Das Stadtwachstum in Frankreich beschleunigte sich. Die Erwerbsbevölkerung veränderte sich rasch. Der moderne Wohlfahrtsstaat entstand in Frankreich genauso wie in Deutschland. Trotz der Unterschiede, die ich zuvor erwähnte, beruhte die deutsch-französische Zusammenarbeit auf der grundlegenden Konvergenz der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung, die wenig untersucht und teilweise sogar ignoriert wird. Die dritte Grundlage für die deutsch-französische Zusammenarbeit ist die europäische Integration seit den 1950er Jahren. Die deutsch-französische Zusammenarbeit war, wie schon gesagt, nicht isoliert, sondern Teil und oft sogar das Herzstück der europäischen Integration. Die europäische Integration gab der deutsch-französischen Zusammenarbeit sogar erst einen höheren Sinn. Es stimmt, dass dieser europäische Rahmen manchmal die deutsch-französischen Divergenzen der Interessen besonders scharf hervortreten ließ. Aber die Politi135

ker und Politikerinnen trafen sich oft und waren gezwungen Kompromisse zu finden, weil sie für das europäische Projekt Verantwortung trugen. Nur ein Beispiel aus den 1990er Jahren während des Zusammenbruchs der jugoslawischen Föderation und des jugoslawischen Bürgerkriegs. Als die deutsche Regierung Kroatien 1991 als souveränen Staat anerkannte, standen sich die französische öffentliche Meinung und die deutsche öffentliche Meinung, ähnlich wie im Jahr 1914, diametral gegenüber: alle französischen Sympathien verbanden sich mit Serbien, das die jugoslawischen Einheit erhalten wollte; alle deutschen Sympathien verbanden sich mit Kroatien, das die nationalstaatliche Unabhängigkeit gewinnen wollte. Die Kontinuität der deutsch-französischen Antagonismen in der Balkanpolitik seit 1914 ist bedrückend. Aber weil die beiden Regierungen im Rahmen der europäischen Institutionen gezwungen waren, miteinander zu sprechen, miteinander zu verhandeln, einen Kompromiss zu finden und gemeinsam zu handeln, endete diese Konfrontation der Sympathien und Antipathien nicht in einem Krieg wie 1914, sondern nach einiger Zeit in einem gemeinsamen militärischen Friedenprojekt in Bosnien. Damit begann auch eine neue Etappe in der europäischen Integration, die deutsch-französische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene in der Friedenssicherung und in der Menschenrechtspolitik außerhalb der Europäischen Union, eine Verantwortlichkeit die nötigenfalls auch militärische Aktionen einschließt. Diese deutsch-französische Zusammenarbeit war neu. Noch in den 1980er Jahren war sie nicht vorstellbar, da es die Bundesrepublik ablehnte, sich an solchen militärischen Projekten zu beteiligen. Aber seit der 1990er Jahren, vor allem seit dem ersten Golfkrieg, hat sich die öffentliche Meinung und auch die Meinung der politischen Klasse in Deutschland verändert. In den 1990er Jahren bezog sich diese deutsch-französische Annäherung nur auf Europa, auf dem Balkan und auf das östliche Europa. Inzwischen hat sie sich auf den Nahen Osten ausgedehnt und könnte sich eines Tages auch auf Afrika beziehen. Die Debatte über das europäische Modell, die Europa oft von außen aufgedrängt wurde und sich häufig auf Frankreich in Deutschland bezieht, stellt einen vierten Pfeiler der deutsch-französischen Beziehungen da. In dieser Debatte kommen zwei verschiedenen Diskussion zusammen. Die erste Diskussion fand unter Europäern über die kulturellen, sozialen und politischen Besonderheiten Europas statt. Diese Debatte unter Europäern hat eine lange Geschichte. Sie kam in den 1980er Jahren wieder auf, als die Teilung Europas in zwei Blöcke an ihr Ende kam, die Dissidenten in Ostmitteleuropa über Europa nachzudenken begannen und als die Europäische Gemeinschaft sich eine Identität zu suchen begann. Die zweite Diskussion wurde seit kurzem außerhalb Europas, in Ländern wie Japan, Korea, Lateinamerika geführt. In dieser Diskussion wurde eine Alternative zum amerikanischen Modell gesucht. Sie findet auch in den Vereinigten Staaten statt, teilweise in der Form einer identitären Debatte, teilweise als Debatte über Alternativen zu den herrschenden Tendenzen des Landes. In diesen verschiedenen Diskussionen erscheint das europäische Modell in zahlreichen 136

Facetten. Es wird oft verstanden als ein sehr weit entwickelter Wohlfahrtsstaat, der manchmal als Trumpf, manchmal als Belastung verstanden wird. Das europäische Modell wird oft auch verstanden als eine besondere Art der internationalen Beziehungen, als die einzigartige Schaffung von supranationalen Institutionen. Das europäische Modell wird auch oft als Lebens- und Konsumstil, als eine Ästhetik, auch als ein besonderes Familienverständnis oder als Werte betrachtet, auf die ich sofortzurückkomme. Diese Debatte über das europäische Modell bezieht sich nicht allein auf Frankreich und Deutschland. Aber diese beiden Länder stellen doch meist den Kern dar. Fünftens hat die deutsch-französische Zusammenarbeit auch mit den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu tun. Die Skepsis, die in Deutschland gegenüber der gegenwärtigen amerikanischen Regierung entstanden ist, gegenüber seinen militärischen Interventionen, seiner Wirtschaftspolitik und seiner öffentlichen Verschuldung, hat den Mythos von der generösen und verständnisvollen Weltmacht beendet und stellt einen Wendepunkt da, der alle Welt überraschte. Aber diese neue Skepsis bezieht sich auch auf bestimmte amerikanische Werte, auf die Haltung der Mehrheit der Amerikaner gegenüber der Gewalt, der Todesstrafe, dem Waffenbesitz, gegenüber der Umwelt und gegenüber dem internationalen Frieden. Die Europäer haben dagegen die entscheidende Erfahrung einer europäischen Friedenssicherung gemacht, die sich nicht auf Gewalt, sondern auf Verhandlungen und auf Absprachen zwischen den europäischen Nationalstaaten und auf einem supranationalen Europa ohne Suprematie eines Landes beruht. Es ist offensichtlich, dass diese europäischen Werte der Gewaltfreiheit, des Umweltschutzes, des internationalen Friedens und des durch den Bürger kon­ trollierten Staates auch durch bestimmte politische Strömungen in den USA getragen werden. Aber die Entscheidungen und die Äußerungen der gegenwärtigen europäischen Regierung führen zu einer Konfrontation mit den europäischen Werten und zum Entstehen einer neuen europäischen Identität in Frankreich, in Deutschland und anderswo in Europa. Es handelt sich dabei um eine neue Situation, weil die Beziehung zu den Vereinigten Staaten lange Zeit eine der wichtigen Divergenzen zwischen Frankreich und Deutschland waren und zwar aus verschiedenen Gründen. Im 19. und im Anfang des 20. Jahrhunderts erklärten sich diese Divergenzen aus der unterschiedlichen Erfahrung der Auswanderung. In Frankreich war die Auswanderung nur begrenzt, während sie in Deutschland sehr massiv war und sehr enge Beziehungen mit den Vereinigten Staaten entstehen ließ. Man vergisst oft, dass die letzte große Welle der Auswanderung aus Deutschland erst direkt nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand. Die deutsch-französischen Unterschiede in der Einstellung zu USA erklärten sich auch durch die deutschen Exilanten, die durch das Naziregime aus Deutschland vertrieben wurden und oft in dem intellektuellen Leben der Vereinigten Staaten Wurzel gefasst hatten. Sie schufen enge und positive Beziehungen mit Deutschland nach dem Fall des Naziregimes. Karl W. Deutsch, Ernst Fraenkel 137

und Peter Gay sind einige wichtige Beispiele von solchen Exilanten, die sowohl das amerikanische als auch das deutsche intellektuelle Leben stark beeinflussten. Solche Exilanten als Brückenbauer in die USA waren in Frankreich viel seltener. Deshalb haben die Deutschen auch oft nicht die analytische Distanz gegenüber Amerika angenommen, für die Alexandre de Tocqueville im 19. Jahrhundert steht. Ich erwähne zwei andere historische Gründe für die deutsch-französischen Divergenzen gegenüber den Vereinigten Staaten. Der Kalte Krieg war ein weite­ rer Grund, weil Deutschland mehr als Frankreich von der Hilfe und der Unterstützung der Vereinigten Staaten abhing, aber auch weil die Rolle der Kommunisten und ihre Einstellung zu den Vereinigten Staaten in Frankreich und Deutschland sehr unterschiedlich war. Die Ablehnung des amerikanischen Modells war darüber hinaus besonders unter den Intellektuellen in Frankreich weit stärker und dauerhafter als in Deutschland. Diese historischen deutsch-französischen Divergenzen in der Einstellung zu den Vereinigten Staaten schwächten sich in der jüngeren Zeit ab. Die Auswanderung aus Deutschland, der Einfluss der Exilanten, der Kalte Krieg und der Einfluss des amerikanischen Modells scheinen einer vergangenen Epoche anzugehören. Heute unterscheidet sich das Verständnis in Frankreich und Deutschland von der einzigen Supermacht, die nach dem Fall der UdSSR und vor dem Wiederaufstieg Chinas besteht, nur wenig. Diese neue Ähnlichkeit kann man auch in den französischen und deutschen Buchhandlungen sehen, in denen man Bücher mit einer ähnlichen Tonalität über die Vereinigten Staaten findet. Manchmal sind es sogar die gleichen Autoren wie Emmanuel Todd, Peter Bender, Philippe Roger, Michael Mann und Jean-Francois Revel. Insgesamt ist die deutsch-französische Zusammenarbeit keine antiquierte und angestaubte Beziehung in einem globalisierten Europa und einer erweiter­ten Europäischen Union. Ganz im Gegenteil haben sich, so denke ich, die Bedingungen für die deutsch-französische Zusammenarbeit im Lauf des letzten halben Jahrhunderts konsolidiert. Die europäische Integration seit den 1950er Jahren, das ähnliche Modell der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung seit der 1960er Jahren, das wechselseitige Vertrauen seit den 1970er Jahren, die Vorstellung von einem gemeinsamen europäischen Modell seit den 1980er Jahren, das ähnliche Konzept von internationalen Friedensaktionen seit den 1990er Jahren und in jüngster Zeit die ähnliche Einstellung gegenüber der Politik der amerikanischen Regierung haben die deutsch-französische Zusammenarbeit verstärkt. Es stimmt, dass man die gegenteiligen Tendenzen und unvorher­sehbare Ereignisse nicht unterschätzen sollte, aber die Stärke der deutsch-französischen Zusammenarbeit ist im Jahr 2003 kein Zufall, kein kontingentes Ereignis. Sie gründet auf positiven und stabilen Bedingungen. Die deutsch-französische Freundschaft ist durch all das sicher nicht prädestiniert, sondern muss immer von neuem hergestellt werden, aber diese Bedingungen schaffen doch die günstigen Voraussetzungen. 138

III. Als ein Schluss: das Jahr 2003 eine Wende? Zum Abschluss komme ich auf die Frage zurück, ob das Jahr 2003 ein Wendepunkt in der Geschichte der deutsch-französische Zusammenarbeit war. Die Ereignisse der letzten Monate in eine lange Perspektive einzuordnen ist immer ein Risiko, vor allem für einen Historiker. Für viele von uns ist die Distanz von einem halben Jahrhundert das Minimum für eine kluge historische Analyse und das Deutsche Historische Institut in Paris hat diese Distanz fast immer gewahrt. Meine Bemerkungen über das Jahr 2003 sind deshalb an Abenteuer und ich trage sie Ihnen mit allen nötigen Vorbehalten vor. Meine beiden Vorgänger im Jahresvortrag des Deutschen Historischen Instituts sind im Übrigen dasselbe Risiko eingegangen. Das Jahr 2003 hat mehr als die vorhergehenden Jahre gezeigt, wie wichtig die deutsch-französische Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene für die Fragen des Friedens in Europa, für die Reform der europäischen Verträge und für die wirtschaftliche Dynamik Europas ist. Aber diese deutsch-französische Zusammenarbeit ist auch auf der globalen Ebene einflussreich. Es stimmt, dass diese Feststellung nicht neu ist. Man weiß seit langem, dass Frankreich und Deutschland, wenn beide Länder als eine Einheit angesehen werden, eine wichtige Rolle auf der globalen Ebene spielen. Diese beiden Länder zusammen genommen sind die Nummer eins in der Welt des Exports, aber auch in der Produktion von Büchern und im Tourismus. Sie sind die Nummer 2 bei den Nobelpreisträgern, bei der weltweiten Produktion von Automobilen und Weinen, aber auch in der Produktion von Kunststoffen. Solche statistischen Konstruktionen treffen freilich immer auf Skepsis. Das Jahr 2003 hat immerhin gezeigt, dass das deutsch-französische Paar ein wichtiger Akteur in den internationalen Entscheidungen war, vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen. Dieser Akteur konnte, das stimmt, die Entscheidung der USA für den Krieg in Irak nicht verhindern. Aber es kann sein, dass er in der Zukunft eine kreative Rolle spielt. Ich weiß freilich nicht, ob die öffentlichen Meinungen, die Intellektuellen, die Politiker und Politikerinnen auf eine solche globale deutsch-französische Politik vorbereitet sind. Wie auch immer war das Jahr 2003 einen Wendepunkt in Richtung auf neue globale Herausforderungen für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Gleichzeitig war das Jahr 2003 auch eine Wende in zwei regionalen Herausforderungen: der ostmitteleuropäischen Herausforderung und der Herausforderungen durch die islamische Welt. Im Jahr 2003 wurden die Verhandlungen über den Eintritt ostmitteleuropäischen Länder in die Europäische Union abgeschlossen. Das Tor zur Europäischen Union hat sich definitiv geöffnet. Die Grenze zwischen dem westlichen Europa und Ostmitteleuropa, die in der Vergangenheit einschneidend und schmerzhaft war, wird verschwinden. Gleichzeitig zeigte das Jahr 2003 auch, das Ostmitteleuropa eine besondere Art von Europa ist, mit besonderen Erwar139

tungen an die internationalen Beziehungen. Die Teilung Europas während des Irakkriegs ist nicht einfach das Resultat einer Manipulation der Regierungen Bush und Blair. Ostmitteleuropa ist sehr sensibel in Fragen der äußeren Sicherheit und unterhält deshalb besondere Beziehungen zu den USA. Die Übertragung von Souveränitätsrechten auf die Europäische Union bleibt zudem ein schwer zu akzeptierender Verzicht, weil die nationale Souveränität erst kürzlich nach dem Zusammenbruch der UdSSR mit großer Empathie zurückerlangt wurde. Das ist eine neue Herausforderung für die deutsch-französische Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union. Das Jahr 2003 hat auch bestätigt, dass ein großer Teil der globalen Konflikte seit dem Verschwinden des sowjetischen Imperiums in Verbindung mit der islamischen Welt steht, gleichgültig ob es sich um Bosnien, um Palästina, und Tschetschenien, um Afghanistan, um den Irak oder um den Konflikt zwischen Indien und Pakistan und um Konflikte in Südostasien handelt. Die Beziehungen der islamischen Welt mit den Ländern des nördlichen Teils der Hemisphäre stellen ein wichtiger Konfliktursache dar. Frankreich und Deutschland spielen dabei möglicherweise eine besondere Rolle, denn es sind die beiden größeren Mächte, die die größte islamische Minderheit (5 % und 4 % der Bevölkerung) besitzen, gewichtiger als in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, in China und fast so groß wie in Indien. Es handelt sich dabei nicht nur um Minderheiten von armen Einwanderern. Es entstanden auch wichtige intellektuelle Milieus, die in Frankreich eher aus der arabischen Welt, in Deutschland eher aus der Türkei kommen. Diese muslimischen Minderheiten besitzen also eine Stimme. Darüber hinaus sind Frankreich und Deutschland die wichtigsten Handelspartner für einen großen Teil der islamischen Welt. Hier stellt sich eine weitere Herausforderung für die deutsch-französische Zusammenarbeit, unerwartet und wenig analysiert in Deutschland, trotzdem eine vorrangige Herausforderung. Schließlich sprach man im Jahr 2003 mehr als jemals zuvor von dem europäischen Modell, manchmal im negativen Sinne des alten Europas, des sklerotischen rheinischen Modells, oft aber auch in einem positiven Sinne der besonderen Werte Europas, des Staatsinterventionismus, des Lebensstils, der Werte und des besonderen europäischen Zugangs zu den internationalen Beziehungen. Im Jahr 2003 müssen wir uns auch fragen, wie man auf diese neue Debatte reagieren soll. Die schlechteste Reaktion wäre, ein Propagandaprojekt zugunsten des europäischen Modells zu starten. Mir scheint vielmehr, dass die Herausforderung für die Intellektuellen in einer Analyse dieser Debatte liegt, ihrer Vorzügen und Schwächen, ihrer Handicaps und ihrer Chancen, wobei man auch die Position der anderen, also der Nordamerikaner, der Südamerikaner, der Asiaten und der Osteuropäer in Rechnung stellen sollte. Wenn die französischen und deutschen Forscher sich damit nicht beschäftigen, dann heißt es entweder Stille oder Propaganda. Ich beende meine Rede mit einer symbolischen Frage: Das deutsch-französische Paar hat nun die 50 Jahre hinter sich gebracht. Es tritt in eine Phase des Lebens, in der man sich normalerweise fragt, ob man in eine Phase der aktiven 140

Zerstreuung des Lebens eintritt, in der man von schweren familiären Verantwortungen frei wird, oder ob eine Lebensphase beginnt, in der neue Verantwortungen an der Stelle der vorhergehenden Generation zu übernehmen sind, eine diskrete Verantwortung gegenüber der nachfolgenden Generation entsteht, und auch eine Verantwortung für Großzügigkeit und Ermutigung gegenüber der Generation unserer Enkel. Ich denke, das Jahr 2003 hat uns gezeigt, dass die Zukunft der deutsch-französischen Zusammenarbeit reich und vielfältig ist vor allem in den Verantwortungen, für Politikerinnen und Politiker, aber auch für uns, die Intellektuellen, die Experten und die Bürger.

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Europäische Gesellschaft

8. Sozialgeschichte Europas seit dem späten 18. Jahrhundert

I. Fragestellungen, Räume, Epochen Im Zentrum dieses Beitrags für eine globale Enzyklopädie stehen die Besonderheiten der Sozialgeschichte Europas im Vergleich zu anderen Weltregionen, gleichzeitig aber auch die engen Verflechtungen und Austauschbeziehungen Europas mit anderen Teilen der Welt.1 Eine solche Geschichte der gesellschaftlichen Besonderheiten und globalen Verflechtung Europas sollte drei grundlegende Umstände berücksichtigen: Die gesellschaftlichen Besonderheiten Europas haben sich erstens im Laufe der Geschichte erheblich gewandelt. Was um 1800 Europa gesellschaftlich von anderen Teilen der Welt unterschied, ist inzwischen weitgehend verschwunden. Was Europa heute gesellschaftlich von anderen Weltregionen abhebt, war um 1800 noch schwer vorstellbar. Zweitens hat sich die innere Einheitlichkeit Europas im Verlauf der letzten zweihundert Jahre grundlegend verändert. Um 1900 erschien Europa weniger als Einheit als in der

1 Grundlagen für diesen sozialhistorischen Beitrag: C. A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt 2006; F.  Braudel, A History of Civilizations, New York 1993; C. Charle u. D. Roche (Hg.), L’Europe. Encyclopédie historique, Arles 2018; R. Evans, Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815–1914, München 2018; A. Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850, München 2010; M. Fulbrock (Hg.), Oxford History of Europe since 1945, Oxford 2001; E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995; T. Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2005; K. H. Jarausch, Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2018; H. ­Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945–1989, München 2011; ders., Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007; I. Kershaw, Höllensturz, Europa 1914 bis 1949, München 20173; ders., Achterbahn, Europa 1950 bis heute, München 20193; G. Mai, Europäische Geschichte 1918–1945, Stuttgart 2001; M. Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000; M. Mitterauer, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2009; J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Ein Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; J. Paulmann, Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850–1914, München 2019; R. Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011; H. Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660, Paderborn 2007; P. Stearns (Hg.), Encyclopedia of European Social History from 1350 to 2000, 6 Bde., New York 2001; B. Tomka, A Social History of 20th Century Europe, London 2013; G. Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945–2000, Frankfurt 2000; A. Wirsching, Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989, München 2014.

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Gegenwart. Von einer europäischen Gesellschaft zu sprechen erschien daher den Zeitgenossen um 1900 weniger einleuchtend als dem heutigen Betrachter. Ohne einen eingehenden Blick auf innereuropäische Divergenzen und Konvergenzen lässt sich die Geschichte der Gesellschaft Europas nicht darstellen. Schließlich haben sich auch die Verflechtungen Europas mit anderen Regionen in der Geschichte stark verschoben. Der französische Philosoph Rémi Brague hat in seinem bekannten Buch über den »römischen Weg« Europas argumentiert, dass Europa über seine ganze Geschichte hinweg eine Besonderheit besaß, die es vom römischen Reich übernommen hatte: die fortwährende Übernahme von Politikkonzepten, Philosophien, Begriffen, Kunst, Werten und Lebensstilen aus anderen Teilen der Welt und ihre Einschmelzung, nach der sie von den Europäern als ihre eigenen europäischen Konzepte und Lebensstile angesehen wurden.2 Europa besitzt daher nur wenig originelles, im Kontinent selbst entstandenes Eigenes. Es hat ganz im Gegenteil grundlegende Dinge von der Religion, dem Christentum oder die Vorstellung vom Staat bis hin zu den Zahlen, den Buch­ staben, zahllosen Nahrungsmitteln, Pflanzen und Tieren wie etwa die Kartoffel und das Pferd, ja sogar den Mythos der Europa mit dem Stier aus anderen Teilen der Welt importiert und sich daraus seine eigene, oft als originär angesehene europäische Gesellschaft zusammengebastelt. Allerdings war auch diese europäische Imitation von Anderen im Laufe der Geschichte grundlegenden Veränderungen unterworfen. In Europa wechselten sich Perioden der besonderen Offenheit mit Perioden der Abgeschlossenheit und der Autarkiepolitik ab. Die kosmopolitische Offenheit vieler europäischer Kaufleute, Techniker, Intellektueller und Wissenschaftler stand in einer heftigen Spannungen mit der europäischen oder nationalen Abschließung vieler Politiker, Industrieller, kleinen Gewerbetreibenden, Bauern und in Not geratenen Arbeiter. Dieser Artikel wird den Wandel der europäischen Besonderheiten, die innere Diversität und Konvergenz Europas und die Verflechtungen Europas mit anderen Weltregionen in der Geschichte in ihrer fortwährenden Veränderung verfolgen. Er wird vermeiden, die Geschichte Europas in drei künstliche Schubladen zu packen: eine vormoderne Schublade, eine moderne Schublade und in eine etwas hilflose, dritte, postmoderne Schublade. Dieser Artikel wird sich auf die vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte beschränken, da die gemeinsamen gesellschaftlichen Besonderheiten Europas im Mittelalter und in der frühen Neuzeit noch nicht so ausgeprägt waren wie im 19. und 20. Jahrhundert und Europa in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sozialgeschichte noch nicht ein so einzigartiger Kontinent war wie in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten. Wenn sich Europa in den Jahrhunderten davor von anderen Weltregionen abhob, dann in der Politik, in der hohen Kultur und in den Kirchen, aber noch kaum in der Gesellschaft. Ohne Zweifel lagen die Wurzeln für die gesellschaftlichen

2 R. Brague, Europe, la voie romaine. Paris 1992 (dt. Europa – seine Kultur, seine Barbarei: Exzentrische Identität und römische Sekundarität, Wiesbaden 2012).

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europäischen Besonderheiten des 19. und 20. Jahrhunderts oft schon im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Aber was später die europäische Gesellschaft als Ganzes prägen sollte, waren im Mittelalter und in der frühen Neuzeit oft nur Entwicklungen in wenigen Regionen oder in schmalen gesellschaftlichen Segmenten. Der Artikel will keinesfalls suggerieren, dass Europa in der Geschichte geographisch immer der gleiche Raum war. Auch in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten, die im Zentrum dieser Text stehen werden, veränderten sich die Grenzen Europas vor allem im Osten und Süden stark. Man kann zwar von einem relativ kontinuierlichen Kern Europas ausgehen, der für die Zeitgenossen ebenso wie für die Historiker aus den Ländern Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, die Niederlande, Deutschland, Schweiz, Österreich, Polen und den skandinavischen Ländern bestand. Selbst in einigen dieser Länder, vor allem in Großbritannien, Spanien und Portugal, schwankte allerdings die Selbstzurechnung zu Europa erheblich. Darüber hinaus haben sich die Übergangszonen zwischen Europa und anderen Weltregionen, also das Mittelmeer, der Balkan, der Kaukasus, Osteuropa im engeren Sinne stark gewandelt. Auch zwei große Länder, Russland und das osmanische Reich bzw. die Türkei veränderten sich in ihrer eigenen Zurechnung und in der Fremdzurechnung zu Europa stark. Diese dauernd wechselnden Außengrenzen und Grenzzonen waren keine Besonderheit Europas. Auch in anderen Regionen der Welt waren die Außengrenzen fortwährend im Fluss. Was schließlich ist Sozialgeschichte? Es gibt keinerlei allgemein anerkannte Definition dieses Feldes der Geschichte. Die Umschreibung des Forschungsfelds schwankt, seit es sich in den 1960er und 1970er Jahre an den westlichen Univer­ sitäten etablierte. Besonders zur Kulturgeschichte lassen sich keine klaren Grenzen ziehen. In der Gegenwart arbeiten die Sozialhistoriker vor allem über drei große Felder: Sie erforschen die Geschichte der sozialen Ungleichheit und dabei nicht nur die Ungleichheiten zwischen sozialen Klassen, sozialen Milieus oder sozialen Ständen, sondern auch die Ungleichheiten zwischen Geschlechtern, zwischen Zugewanderten und Einheimischen, zwischen Regionen, zwischen Generationen und Altersgruppen. Sozialhistoriker arbeiten zudem über die Geschichte von gesellschaftlichen Krisen und Umbrüchen und den dazwischen liegenden Perioden gesellschaftlichen Zusammenhalts, gesellschaftlicher Ordnung und Stabilität in vielen Bereichen wie der Familie, der Arbeit, des Konsums, der Werte. Sie befassen sich schließlich auch besonders intensiv mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Politik, mit gesellschaftlichen Veränderungen, die massiv auf Politik einwirkten wie soziale Bewegungen und Proteste, Konflikte und Gewalt, Repräsentationen und Symbole, Medien und gesellschaftliche Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Interessenverbände, aber umgekehrt auch mit den Auswirkungen von politischen Entscheidungen auf gesellschaftliche Bereichen wie etwa in der sozialen Sicherung, in der Bildung, in der Gesundheit, in der Stadtentwicklung oder in der Kriminalität, aber auch mit der gesellschaftlichen Seite der Repressionen von Diktaturen. Es wird nicht möglich sein, alle diese 147

Bereiche in einem kurzen Überblicksartikel zu behandeln. Aber das Feld, mit dem sich dieser Artikel befasst, ist damit grob abgesteckt. Für diesen Artikel wird ein chronologischer Aufbau gewählt, um die fortwährenden Veränderungen der europäischen Gesellschaften darstellen zu können und die übervereinfachte Einteilung der Geschichte in eine traditionelle und moderne Epoche zu vermeiden. Die Geschichte der letzten zweieinhalb Jahrhunderte wird in fünf Perioden eingeteilt, in denen sich Europa in jeweils grundlegend anderer Weise von anderen Weltregionen unterschied und verflocht: die Periode der Aufklärung und der Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts, die es beide in anderen Weltregionen nicht gab, wenn man von den Amerikas absieht; die Periode des langen neunzehnten Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, die Zeit der weltweit ungewöhnlichen europäischen Industrialisierung mit all ihren gesellschaftlichen Folgen, die gesellschaftliche Seite der Nationsbildung, aber auch des Neuaufbaus der europäischen Imperien in Afrika und Asien; die Periode der Weltkriege und der Zwischenkriegszeit, der Kriegsgesellschaften, des Terrors und der Genozide, in den Europa zum weltweit abstoßendsten Kontinent des Schreckens wurde; die Periode der trente glorieuses, der Prosperität der 1950er bis 1970er Jahren, in der Europa trotz des Kalten Krieges die wirtschaftlich dynamischste Region der Welt und gleichzeitig ein Hort des modernen Wohlfahrtsstaat wurde; schließlich die Periode seit den 1980er Jahren, in der Europa mit dem Ende des sowjetischen Imperiums und den grundlegenden Veränderungen im östlichen Teil nicht mehr geteilt war, sondern zu einer neuen Einheit und Eigenverantwortung kam, zur gleichen Zeit seine vorhergehende wirtschaftliche und demographische Dynamik verlor, aber eine gewichtige, lange unterschätzte Rolle in der Globalisierung spielte. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen aller dieser Perioden können im Folgenden nur gestreift werden. Im Zentrum wird die gesellschaftliche Entwicklung stehen.

II. Sozialgeschichte Europas in ihren Epochen Aufklärung und Revolutionen im 18. Jahrhundert Die europäischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts unterschieden sich zusammen genommen nicht klar von den Gesellschaften außerhalb Europas. Der Lebensstandard in Europa war nicht höher als in anderen Weltregionen, in Ostasien, im Nahen Osten und in Nordafrika. Luxusprodukte importierten die Europäer häufig aus anderen Weltregionen mit hohem Stand der materiellen Kultur. Europa selbst konnte umgekehrt anderen Weltregionen nur wenige Luxusprodukte anbieten. Das Leben war in Europa nicht gesünder und die Lebenserwartung war noch nicht erkennbar länger als in anderen Weltregionen, zudem innerhalb Europas sehr verschieden. Die Städte waren keinesfalls größer 148

als anderswo. Stadtwachstum war in Europa genauso wie anderswo begrenzt durch die Produktion der Landwirtschaft, die neben dem Eigenbedarf der Landbevölkerung nur eine begrenzte Zahl von Städtern ernähren konnte. Noch um 1800 lagen von den zehn größten Städten der Welt nur drei Städte, London, Paris und Neapel, in Europa. Wenn man Istanbul dazu rechnet, waren es vier. Die anderen Spitzenstädte der Welt lagen fast alle in Ostasien.3 Die landwirtschaftliche und handwerkliche Arbeit sah in Europa nicht grundlegend anders aus als in anderen Weltregionen. Manufakturen bestanden im 18. Jahrhundert nicht nur in Europa, sondern auch in Indien und in Ostasien. Die soziale Sicherung der Armen war in Europa nicht erkennbar besser oder anders geregelt als in anderen Weltregionen. Selbst die damals schon jahrhundertalte europäische Expansion, der Aufbau von weltweiten Handelsnetzen und Kompagnien, von Handelsstützpunkten und Missionen, war keine europäische Besonderheit. Vor allem die arabische Welt hat eine ähnliche globale Expansion vorangetrieben. Nur in vier gesellschaftlichen Bereichen ließen sich erste Konturen von gesellschaftlichen Besonderheiten Europas erkennen, die freilich im 18. Jahrhundert noch nicht stark hervortraten oder innerhalb Europas noch nicht sehr verbreitet waren: die europäische Familie mit ihrer eigenständigen Haushaltsgründung durch junge Verheiratete, mit ihrem späten Heiratsalter, mit ihrer niedrigen Geburtenrate, mit ihrer Seltenheit der Drei-Generationen-Familie in einem Haushalt und ihrer starken Intimität entwickelte sich bereits, war aber weitgehend auf die europäischen Oberschichten beschränken und zudem damals nur in Nordwest- und Mitteleuropa verbreitet, nicht dagegen in Südeuropa und Osteuropa. Für die europäische Universität mit ihrer internationalen Studentenschaft, ihren besonderen universitären gesellschaftlichen Umgangsformen und der Öffentlichkeit der Gelehrten und Intellektuellen gab es in anderen Weltregionen keine wirkliche Entsprechung. Universitätsangehörige machten allerdings im damaligen Europa einen winzigen Teil der Bevölkerung aus. Darüber hinaus entwickelte sich in vielen Städten Europas eine Armutspolitik, die sich nicht allein auf kirchliche Einrichtungen, auf berufliche Organisationen oder auf große Familien stützte, sondern auch in der Verantwortlichkeit der öffentlichen Kommunalverwaltungen lag. Eine solche kommunale Armenpolitik scheint es in anderen Weltregionen seltener gegeben zu haben. Allerdings wohnten damals im Ganzen nur rund ein Viertel der Europäer in Städten. Die Masse der Europäer profitierte und wusste von diesen städtischen Armutspolitiken nicht. Schließlich war die beginnende Auswanderung der Europäer in die Amerikas zwar noch weit entfernt von der Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts, begann aber doch schon die Erwartungen in England, Schottland, Spanien, Portugal, Frankreich und Deutschland zu verändern.

3 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 369.

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Die damals auffallenden europäischen Besonderheiten hatten sich vor allem jenseits der Gesellschaft im Bereich der Politik und der Kirche entwickelt: die frühe Trennung von staatlichen und kirchlichen Organisationen, der Territorialstaat und vor allem die Konkurrenz zwischen den europäischen Territorialstaaten mit ihrer spektakulären Hofkultur und ihren Residenzen, mit ihren Kriegen und überregionalen monarchischen Heiratskreisen, mit ihren Verwaltungen und Armeen; die Ständeversammlungen als Vorformen von Parlamenten; schließlich die Aufklärung mit ihrer Kritik an den Grundwerten der Monarchien und Kirchen, mit ihren neuen Werten der Bildung, der Toleranz, der kritischen Öffentlichkeit, mit ihrem nicht pessimistischen, sondern emphatischen Menschenbild, mit ihrer europäischen »république des lettres«, ihren Aufklärungsgesellschaften und Clubs, mit ihren internationalen Netzwerken durch Briefaustausch und Reisen, durch in ganz Europa verbreiteten Zeitschriften und Enzyklopädien. Diese europäischen Besonderheiten hatten sicher auch gewichtige gesellschaftliche Konsequenzen, waren aber doch primär politische und kirchliche Besonderheiten. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde schließlich die politische Revolution mit der großen internationalen Ausstrahlungskraft der französischen Revolution eine europäische Besonderheit nicht so sehr wegen des Sturzes des Monarchen, den es auch in anderen Weltregionen gab, sondern vor allem wegen ihrer Ziele, die Verfassung, Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung und darüber hinaus wegen ihrer Ausstrahlungskraft über die Kontinente hinweg. Auch die Revolution hatte wichtige sozialhistorische Seiten und Konsequenzen wie etwa die sozialen Motive und Hintergründen der Aufstände, die gesellschaftlichen Utopien, die Riten der Revolution, die Verbreitung der Revolutionsideen, aber auch die Repression der Revolutionen. Auch sie war primär ein politisches Ereignis. Freilich kann man diese politische Revolution nicht einfach als eine europäische Besonderheit betrachten. Sie bestimmte keineswegs überall in Europa die Geschichte und fand weder in Großbritannien, noch in Norden Europas, noch im Zarenreich oder im europäischen Teil des osmanischen Reichs Anklang. Noch wichtiger war, dass ihr eine Revolution mit ähnlichen Zielen in den USA voranging. Das Zeitalter der Revolutionen war eher eine atlantische als eine europäische Besonderheit. Das achtzehnte Jahrhundert war eine Epoche tiefer gesellschaftlicher Unterschiede in Europa. Europa war religiös geteilt in katholische, protestantische und orthodoxe Regionen. Diese religiösen Trennlinien wurden auch gesellschaftlich wichtig genommen, da die Erinnerungen an die Religionskriege vor allem in England, Frankreich und Deutschland immer noch wach waren. Europa war zudem wirtschaftlich geteilt in Regionen mit eher bäuerlicher Wirtschaft oder Großgrundbesitz und Regionen mit Gutsherrschaft. Europa war geteilt in Länder mit starker Anbindung an die Weltwirtschaft und Länder, deren Wirtschaften nur lokal oder regional ausgerichtet waren. Die schon erwähnten Familienformen unterschieden sich innerhalb Europas grundlegend. Die öffentliche Aufmerksamkeit für die inneren Unterschiede in Europa war erheblich. Der 150

Reisebericht über andere Länder Europas begann seine literarische Karriere. Die Sichtachse der inneren Aufteilung Europas begann sich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu drehen. Man hörte allmählich auf, Europa in den Süden und Norden einzuteilen: den kultivierten, Europa oft vorantreibenden Süden, in dem sich die Renaissance, der Humanismus, die damals moderne Musik und Malerei, eine zentrale Institution des Kapitalismus, die Banken, auch eine gefürchtete kirchliche Institution, die Inquisition, entwickelte und auch anfänglich die europäische Expansion ausgegangen war; dagegen der Norden, der kulturell weit weniger Ausstrahlungskraft besaß, aber gleichzeitig Herrschaftsansprüche über Europa erhoben hatte und inzwischen ein gewichtigeres Zentrum der europäischen Expansion geworden war. Stattdessen begann man Europa in den Westen und Osten einzuteilen, wobei in dieser damals neuen Sicht der Westen der wirtschaftlich, kulturell und politisch überlegene Teil Europas war. Die Beziehungen Europas zu anderen Teilen der Welt hatten im Ver­gleich zum Mittelalter stark zugenommen, waren aber doch weit schwächer als in der Zeit danach. Die Auswanderung in andere Teile der Welt legte für spätere Entwicklungen wichtige Weichen, war aber damals noch weit weniger umfangreich als im 19. Jahrhundert. Aus England, einem damals besonders wichtigen Auswandererland, gingen im 18. Jahrhundert nur ein Zehntel so viele Auswanderer nach Amerika wie während des Höhepunkts der Auswanderung im späten 19.Jahrhundert. Der Warenaustausch mit anderen Weltregionen, vor allem mit Nordafrika, dem Nahen Osten und Indien, waren für die europäischen Wirtschaften von großer Bedeutung. Der Handel mit Luxusgütern, aber auch der Beginn des Exports von textilen Massengütern, verband Europa mit anderen Weltregionen. Gleichzeitig führte damals Europa wichtige Pflanzen aus Übersee ein, die für die europäische Wirtschaft von großer Bedeutung haben sollten. Trotzdem lag der Umfang dieses europäischen Handels mit anderen Weltregionen weit hinter dem Umfang des 19. oder gar 20. Jahrhunderts zurück.4 Der wissenschaftliche und künstlerische Austausch vor allem mit der benachbarten arabischen Welt war sicher nicht gering, hatte aber für Europa an Bedeutung verloren. Dieser Austausch begann zudem allmählich aus dem Blick der Europäer eine neue Qualität zu erhalten: mit der Aufklärung begannen sich der Europäer gegenüber allen anderen Weltregionen überlegen zu fühlen. Der englische Publizist und Historiker John Campbell schrieb 1750 ähnlich wie andere damalige europäische Autoren: »Europe is indeed the most happiest, the most powerful, and in respect of arms, arts, and trade, by very far the most considerable portion of the globe.«5 Die öffentlichen Debatten über andere Weltregionen schwächten sich daher langsam ab.

4 A. Maddison, The world economy. A millennial perspective, Paris 2001, 35 (Auswanderung), 95 (Außenhandel). 5 J. Campbell, The present state of Europe, London 1750, S. 13–14.

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Das lange 19. Jahrhundert Das lange 19. Jahrhundert von der Französischen Revolution bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden wir etwas ausführlicher behandeln als die anderen Epochen, da es bis heute das Bild Europas besonders stark prägt. Die europäischen Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert begannen sich allmählich durch drei Entwicklungen deutlich von anderen Weltregionen mit der Ausnahme Nordamerikas abzuheben: durch die Entstehung der Industriegesellschaft mit ihrer neuartigen Arbeit, ihren rasch wachsenden Städte, ihren langsamen Verbesserungen des Lebensstandards und ihren sozialen Klassenmilieus; durch den Aufbau von Nationalstaaten und ihren gesellschaftlichen Umgangsformen; durch die europäischen Kolonialgesellschaften in Asien und Afrika und ihren Rückwirkungen auf die europäischen kolonialen Muttergesellschaften. Man kann nicht genug betonen, dass es sich dabei um einen sehr langsamen Prozess handelte, der in unterschiedlichen Teilen Europas ganz verschieden aussah. Eine erste große Besonderheit Europas des 19. Jahrhunderts war die Industrialisierung. Zwar konzentrierte sie sich überall in Europa auf bestimmte Regionen, aber in den meisten europäischen Länder entstanden solche Industrieregionen, nicht nur in England, Belgien, den Niederlanden, der Schweiz, Deutschland und Frankreich, sondern auch in Spanien, Italien, in der Habsburger Monarchie, im Zarenreich und Nordeuropa. Es wird oft übersehen, dass zu dieser europäischen Pionierrolle auch die ganz ungewöhnliche Langsamkeit der Industrialisierung in Europa gehörte. Erst ganz am Ende des langen 19. Jahrhunderts war das wirtschaftliche Gewicht des Industriesektors in Europa ähnlich groß wie die des Agrarsektors. Als Beschäftigungssektor wurde der Industriesektor sogar erst nach der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts der größte Beschäftigungssektor. Außerhalb Europas lief die Industrialisierung in der Regel später, aber auch weit schneller ab. Die europäische Industrialisierung hatte eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Folgen. In den europäischen Industriegesellschaften entstanden neue Arten von Industriearbeit, die damals in anderen Weltregionen kaum zu finden war, wenn man von den USA absieht. Sie war noch keine voll durch Maschinen bestimmte, völlig durchrationalisierte Arbeit wie im zwanzigsten Jahrhunderts, sondern meist noch eine Mischung aus Handarbeit und Maschinen, die in der Regel in kleinen Gruppen durch Meister oder Vorarbeiter organisiert war, allerdings nicht selten in Unternehmen mit tausenden von Beschäftigten vor allem in Bergwerken, in der Eisen- und Stahlindustrie, in Webereien, später in der Chemieindustrie und in der Elektroindustrie. Diese Industriearbeit war daher meist noch nicht durch straffe Befehlshierarchien von oben organisiert, sondern durch scharfe soziale Trennlinien in eine Hierarchie von vier Gruppen aufgeteilt: die ungelernten, oft nur kurzzeitig unter schlechten Bedingungen beschäftigten, schlecht bezahlten, männlichen oder weiblichen Arbeitern; die gelernten, oft dauerhaft beschäftigten, mit verantwortlichen Aufgaben betrauten, besser bezahlten, in der Regel männlichen Facharbeitern; die erst in der zweiten Jahr152

hunderthälfte massenhafter aufkommende, damals noch meist männlichen, in Büros arbeitenden Angestellten der großen Industrieunternehmen und Eisenbahngesellschaften, die oft andere Arbeitszeiten, andere Bezahlungsformen, ein anderes Berufsethos, nicht selten auch eine größere Nähe zum Chef besaßen und sich oft auch bewusst von den Arbeitern abzusetzen versuchten; schließlich die Unternehmensleiter, teils Besitzer des Familienunternehmens, teils im späten 19. Jahrhundert auch schon Manager, die sich durch ihre Zeitdisposition, ihre strategischen Entscheidungen, ihr Einkommen und ihren Lebensstil, in wachsendem Maße auch durch ihre akademische Ausbildung von den übrigen Beschäftigten deutlich abhoben. Die Industrialisierung, anfangs oft noch ländlich, führte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem außergewöhnlichen Stadtwachstum, zu einer massiven Zunahme von städtischen Industrie-, Bahnhofs- und Hafenvierteln, von ganzen Industriestädten und zur Ausweitung von Hafenstädten. Dieses Stadtwachstum war vor allem ein europäisches und nordamerikanisches Phäno­ men. Die Liste der größten Städte der Welt veränderte sich daher. Die größten Städte der Welt waren um 1900, nicht mehr mehrheitlich asiatisch, sondern überwiegend europäisch. Nur noch eine bis heute der größten Städte der Welt, Tokio, war asiatisch. Zwei der größten Städte, New York und Chicago, waren nun amerikanisch. Allerdings wuchsen in Europa anders als in den USA nicht nur die Millionenstädte, sondern auch die mittelgroßen Städte, die auf eine jahrhundertalte Geschichte zurückblickten. Die Bewohner der Mittelstädte besaßen sogar in den europäischen Gesellschaften ein weit größeres Gewicht als in den Vereinigten Staaten. Auch die ländlichen Gesellschaften in Europa, in denen selbst um 1914 noch die Mehrheit der Europäer lebten und die durch einen tiefen gesellschaftlichen Graben von den Städten getrennt waren, veränderten sich durch das starke Stadtwachstum durch die Beziehungen zu den in die Städten abgewanderten Familienmitglieder, durch die Anpassung der Landwirtschaft an die Produktion für den städtischen Konsum, durch den Einfluss des städtischen Konsums auf dem Land, aber auch durch die ländlichen Ängste vor den expandierenden Großstädten. Der Lebensstandard in Europa begann sich durch die Industrialisierung ganz allmählich von anderen Weltregionen in den drei Kernaspekten Einkommen, Bildung und Lebenserwartung zu unterscheiden, wiederum mit der Ausnahme Nordamerikas. Die Masseneinkommen in Europa überstiegen allmählich die Einkommen der anderen Weltregionen, freilich bei gleichzeitiger Zunahme der sozialen Ungleichheit. Die Bildungschancen nahmen in Europa seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu. Die Analphabetenraten sanken. Die Studentenzahlen wuchsen. Die Lebenserwartung stieg in Europa stärker an als anderswo. Dies alles entwickelte sich freilich mit großen innereuropäischen Unterschieden, auf die zurückzukommen sein wird. Am stärksten von anderen Weltregionen hob sich Europa durch die Entstehung von sozialen Klassenmilieus während der Industrialisierung ab. Fünf Milieus entwickelten sich allmählich während des langen 19. Jahrhunderts 153

oder orientierten sich während dieser Zeit um. Das Bürgertum verband Berufsgruppen, die in anderen Weltregionen weitgehend voneinander getrennt waren. Unternehmer, freie Berufe, Spitzenbeamte, Professoren, Pfarrer und Lehrer verflochten sich durch gemeinsame akademische Ausbildung, durch gemeinsame Vereine und Clubs, durch gemeinsame Theater-, Konzert- und Museumskultur, durch Heiratskreise, zumindest in West -und Mitteleuropa eng miteinander. Das Bürgertum grenzte sich im frühen 19. Jahrhunderts besonders scharf gegenüber dem Adel ab, ging dagegen im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts in Lebensstil und Heiratskreisen teilweise eine stärkere Verbindung mit dem Adel ein, brachte vor allem eine eigenständige, sehr reiche Wirtschaftselite hervor (vgl. Kap. 2). Der Adel wiederum grenzte sich mit seinem Anspruch auf Vorrang vor allem bei Besetzung von Spitzenpositionen in Politik, Militär, Diplomatie und Verwaltung, auch mit seinem besonderen Wertekanon ähnlich wie in anderen Weltregionen nach unten ab. Allerdings passte sich der Adel gleichzeitig in Europa an die neue Industriegesellschaft an, übernahm familiäre Werte aus dem Bürgertum, verflocht sich mit ihm und versuchte teilweise auch in wirtschaftliche Spitzenpositionen zu gelangen. Das neue Industriearbeitermilieu, dass in anderen Weltregionen selten zu finden war, entwickelte eine besondersartige europäischen Arbeiterkultur, Solidarität in persönlichen Krisensituationen, besondere Arbeiterorganisationen und Arbeiterparteien. Das Kleinbürgertum, das sich wie in anderen Weltregionen stark auf Familienbetriebe und ein familiäres Ethos stützte, hatte sich ebenfalls mit dem neuen mächtigen Bürgertum zu arrangieren und mit der zunehmend stark organisierten Arbeiterklasse zurechtzukommen. Die Angestellten, die vor allem in den Industrieunternehmen, in Kaufhäusern und in Handel im späteren 19. Jahrhundert immer zahlreicher wurden, besaßen in Europa ebenfalls ein stärkeres gesellschaftliches Gewicht als in den meisten anderen Weltregionen außerhalb Nordamerikas. Diese Berufe und sozialen Klassen bestanden oft auch in anderen Weltregionen. Aber aus ihren wechselseitigen Abgrenzungen, Spannungen, Verflechtungen und Abhän­ gigkeiten entstand doch eine besondere europäische Ordnung von sozialen Klassenmilieus, die die verschiedenen Viertel der großen europäischen Städte in besonderer, bis heute in Überresten sichtbarer Weise prägte. Mit der Entwicklung von Nationalgesellschaften hob sich Europa im 19. Jahrhundert ebenfalls mehr und mehr von anderen Weltregionen ab, die das Modell des Nationalstaates häufig erst in der Zeit der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen. Die Nationalgesellschaften waren im Europa des 19. Jahrhunderts meist nicht nur in der Politik und im Recht, sondern auch in der Gesellschaft ähnlich konstruiert, da sie einander imitierten, auch wenn sie gleichzeitig oft in Konflikt miteinander standen. Jedes Land gründete eigene nationale Vereine, Assoziationen und Zivilgesellschaften, Berufsorganisationen und Interessenverbände. Jedes Land entwickelte in der Regel eine eigene Nationalsprache und versuchte, nationale Werte und die Identifikation mit der Nation in der Schule, über den Rekrutendienst in der Armee und in den Medien durchzusetzen. Jedes Land entwickelte eine Hauptstadt, eine gesellschaftliche 154

Hierarchie zwischen Hauptstadt und Provinz, stattete die Hauptstädte mit Nationalbibliotheken, nationalen Museen, nationalen Opern, Konzerthäusern und Theatern, nationalen Regierungsgebäuden, Schlössern und Parlamenten, nationalen Denkmälern und Symbolen, nationalen Flaniermeilen und Bahnhöfen, Banken und Wirtschaftsverwaltungen aus. Jedes Land entwickelte seine eigenen sozialen Hierarchien, seine eigene Oberschicht und eigenen nationale Intellektuellen. Jedes Land baute zudem seine eigenen Grenzregionen und Grenzkontrollen auf, entwickelte seine Antagonismen gegen bestimmte, andere europäische Nationen, auch seine Orientierungen an bestimmten europäischen Modellnationen. Das 19. Jahrhundert war allerdings nicht einfach das Jahrhundert des Nationalstaats in Europa. Nationalstaaten entwickelten sich im 19. Jahrhundert nur sehr allmählich. Selbst in Frankreich, das als das Modellland des Nationalstaates gilt, wurde die Nationalsprache durch Schule und Militär erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt. Noch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren die meisten europäischen Staaten keine Nationalstaaten strengen Sinn, auf deren Territorium nur Angehörige der eigenen Nation wohnten. Das Zarenreich und das Habsburger Reich waren Vielvölkerstaaten. Frankreich, Großbritannien, Deutschland, die Niederlande, Belgien, Portugal, Spanien waren Kolonialreiche, zu deren Bürgern rechtlich oft auch die endogene Bevöl­ kerung der Kolonien gehörte, die allerdings der Nationalsprache keineswegs immer mächtig waren und als Wähler oder als Rechtskläger letztlich doch nicht zur Nation gerechnet wurden. Das Deutsche Reich umfasste auch Territorien, die von Polen, Dänen oder Franzosen bewohnt wurden. Letztlich lebte nur ein kleiner Teil der Europäer, in einem Nationalstaat im strengen Sinn. Der Nationalstaat war eher ein in Europa erfundenes Modell als schon eine volle gesellschaftliche Realität. Er begann sich gleichzeitig schon im 19. Jahrhundert auch außerhalb Europas vor allem in den Vereinigten Staaten und in Lateinamerika durchzusetzen, und fand auch in Ostasien, in Japan und China Anklang. Schließlich entstanden als dritte europäische Besonderheit im Verlauf des 19. Jahrhunderts die europäischen Kolonialgesellschaften in Afrika und Asien. Am Anfang des 19. Jahrhunderts schienen nach der Unabhängigkeit der USA und der ehemals spanischen Kolonien in Südamerika die europäischen Kolonialreiche in einer tiefen Krise zu stecken. Erst allmählich im Verlauf des 19. Jahrhunderts gelang es den Europäern, aus alten Bestandteilen der Kolonialreiche und neuen Eroberungen neue Kolonialreiche in Asien und Afrika aufzubauen. Sie waren allerdings meist – mit wenigen Ausnahmen wie Algerien, Rhodesien (heute Simbabwe), Australien oder Neuseeland – keine Siedlungskolonien mehr wie zuvor die Amerikas und sahen daher auch gesellschaftlich ganz anders aus. Für diese Kolonialgesellschaften des 19. Jahrhunderts war das Nebeneinander der Stadtviertel der Europäer und der Stadtviertel der indigenen Bevölkerung typisch für viele Städte von Shanghai über Neu-Delhi bis Tunis. Koloniale Kontrolle, die im Einzelnen von Imperium zu Imperium völlig verschieden aussah, bedeutete darüber hinaus Herrschaft über eine sprachlich, religiös, ethnisch 155

und oft auch wirtschaftlich den Europäern völlig fremde Bevölkerung, die ihren Eigensinn auch dann behielt, wenn die Europäer ihre Gesellschaft mit Schulen, Verwaltung, Missionen und Recht zu durchdringen oder mit Kolonialkriegen und Genoziden sogar zu zerstören versuchten. Zu den europäischen Kolonialgesellschaften gehören allerdings nicht nur die überseeischen Kolonien, sondern auch die massiven gesellschaftlichen Rückwirkungen auf die europäischen Metropolen. Die Europäer konsumierten in wachsendem Maße Produkte aus den Kolonien. Kolonialwaren begannen Teil des europäischen Alltags zu werden. Die jungen Europäer orientierten sich in wachsendem Maße an den Karrierechancen in den Kolonialverwaltungen und in der Kolonialwirtschaft. Die Europäer entwickelten einerseits ein rigides Überlegenheitsbewusstsein, das sich am Ende des 19. Jahrhunderts von einer kulturellen Überlegenheit zu einer rassischen Überlegenheit verschob und meist nicht als nationale, sondern europäische Überlegenheit verstanden wurde. Diese Überlegenheitsvorstellungen wurden nicht nur in den Medien in Europa verbreitet. Europäer begannen auch, die indigene Kolonialbevölkerung in Europa selbst in Völkerkundemuseen, im Zirkus, in speziellen Kolonialshows neben Tieren in zoologischen Gärten auszustellen und zu primitiven Wilden herabzustufen, Andererseits entwickelte sich auch die Selbstkritik und die Dekadenzängste der Europäer, die in den Kolonien eine heile, nicht kommerzielle und nicht industrialisierte Welt sahen. Europäer exotisierten Nichteuropäer in der Literatur, in der Malerei, in den Völkerkundemuseen, versuchten sie aber auch nicht selten in den Philologien und Sozialwissenschaften besser zu verstehen und die Überlegenheit der eigenen Kultur zu relativieren. Europa, nicht nur die Kolonien, war zudem nicht selten auch der Ort der Begegnung, der Diskussionen und Kontroversen über Europa mit Wissenschaftlern, Intellektuellen, Literaten und Geschäftsleuten aus anderen Weltregionen, darunter auch aus den Kolonien. In diesen Begegnungen entstan­den unter Nichteuropäern auch die Erwartungen auf Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Nationsbildung, die die Kolonialverwaltungen nicht erfüllten und die daher nach dem Zweiten Weltkrieg zu den kolonialen Unabhängigkeitsbewegungen beitrugen. Kolonialimperien blieben zudem keine exklusive europäische Besonderheit. Auch Japan baute schon vor 1914 durch Eroberung von Taiwan und Südkorea und in der Zwischenkriegszeit von Teilen des kontinentalen China ein großes, allerdings rein regionales, nicht globales Imperium auf. Die Vereinigten Staaten verzichteten im Allgemeinen auf den Aufbau von Kolonien, stützten aber ihre globalen Ambitionen in Mittelamerika und auf den Philippinen doch durch formalisierte Kolonialherrschaft ab. Diese japanischen und amerikanischen Kolonien waren allerdings in ihren Dimensionen nicht vergleichbar mit dem britischen oder französischen Weltreich. Paradoxerweise prägten sich nicht nur die gesellschaftlichen Besonderheiten, sondern auch die inneren gesellschaftlichen Divergenzen in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker aus. Ein erster Grund dafür war wiederum die Industrialisierung, die Europa immer mehr spaltete auf der einen Seite in 156

Industrieländern mit hohem Lebensstandard und viel Reichtum, mit expandierender Bildung, mit starker Zuwanderung aus den Agrarregionen, mit Export von Investitionskapital und auf der anderen Seite in Agrarländer und -regionen mit hohen Analphabetenraten, mit viel Armut und Subsistenzwirtschaft, mit scharfer sozialer Ungleichheit und mit viel Auswanderung in die europäischen Industrieregionen und nach Amerika. Ein weiterer Grund für wachsende innere Divergenzen waren die entstehenden Nationalstaaten, die auf Unterschiede zu anderen europäischen Nationen setzten und Trennlinien zogen mit ihrer Bindung an die Nation, an die Nationalsprache, an den nationalen Bildungskanon und die nationale Militärausbildung, an die nationalen Kultureinrichtungen wie Museen, Theater, Opern, Universitäten und Bibliotheken, an nationalen Währungen, an die zunehmend schärfer kontrollierten und illiberalen Grenzregime. Ein dritter Grund waren die Kolonialimperien, die immer mehr die Aufmerksamkeit der Bewohner der Metropole auf sich zogen, aber für unterschiedliche europäische Länder eine ganz unterschiedliche Bedeutung besaßen und das ebenfalls europäische Divergenzen hervorriefen. »Der Kontinent war uns etwas Fremdes,« schrieb der Historiker Tony Judt über seine Kindheit in England sogar noch in den 1950er Jahren, »in der Schule lernte ich wesentlich mehr über Neuseeland oder Indien«.6 Die wachsenden internationalen Verflechtungen innerhalb Europas durch Eisenbahnen, durch Telegraphen und seit dem späten 19. Jahrhundert das Telefon, durch Reisen und durch europäischen Migration nicht nur von Arbeitern, sondern auch von Angestellten und Unternehmersöhnen haben diese neuen innereuropäischen Divergenzen nicht wirklich kompensiert. Die Verflechtungen mit außereuropäischen Gesellschaften wurden im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts immer enger, und zwar nicht nur im atlantischen Raum, sondern auch mit verschiedenen Teilen Asiens und Ozeaniens. Die Migration aus Europa in andere Weltregionen erreichte das bislang größte Ausmaß. Millionen von Europäern verließen den Kontinent vor allem Richtung Amerika. Gleichzeitig kamen in dieser Zeit viele Besucher, Experten, Studenten, Wissenschaftler und Intellektuelle aus den Amerikas und aus Asien und Afrika nach Europa, um von Europa zu lernen und sich mit der industriellen Effizienz, dem Nationalstaat, der öffentlichen Verwaltung, dem Recht und dem Militär in Europa auseinanderzusetzen. Die globale Kommunikation verdichtete sich. Die interkontinentalen Briefsendungen nahmen im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark zu. Telegraf und Telefon verstärkte die Kommunikation weiter. Reisen in anderen Weltreligionen wurden häufiger und Reiseberichte wurden noch häufiger gelesen.

6 T. Judt, Das Chalet der Erinnerungen, München 2012, S. 79.

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Der dunkle Kontinent 1914–1945 In den Jahrzehnten zwischen dem Beginn des Ersten Weltkrieges und dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Europa zum Schreckenskontinent, dem Kontinent der blutigsten Kriege und der grausamsten ethnischen Säuberungen und Genozide der damaligen Welt. Europa wurde in Namen von Ideologien und verhängnisvollen Visionen zur Schaffung eines neuen Menschen ein abschreckendes Versuchsfeld für sechs neue Gesellschaftsformen: die Kriegsgesellschaft, mit der männlichen Gewalterfahrung und Gewaltverherrlichung, mit Millionen von Toten und Verwundeten nicht nur unter Männern an der Front, sondern auch unter Frauen und Kindern, mit dem Rückgang des Lebensstandards für große Teil der Bevölkerung, mit den vaterlosen Familien und den von der Front traumatisiert zurückkehrenden Vätern, auch mit anderen Frauen- und Mutterrollen, mit den besonderen Solidaritäten der Opfer, aber auch der rüden Ellbogen­ gesellschaften, mit stark zunehmenden, aber in der Regel feindlichen Begegnungen mit anderen Europäern; die Diktaturgesellschaft mit Überwachung und Denunziation, mit Verschleppungen und Verfolgungen, mit Aufmärschen und schönem Schein, mit straffen Organisationen und mit Fremden- und Minderheitenhass, mit dem angeblichen neuen Menschen, mit der Instrumentalisierung von Schule und Kirchen, mit Korruption und moralischem Verfall; die Lagergesellschaft, mit ihrer Gewalt und Brutalität, mit dem Abbruch der gewohnten zivilen Lebenszusammenhängen und Zukunftserwartungen, mit den andersartigen Hierarchien und Vorschriften, mit den mörderischen Arbeitsregeln und dem miserablen Lebensstandard bis hin zu den industrialisierten Massenmorden in den KZs, auch mit eigenen Solidaritäten der Lagerinsassen; die Besatzungsgesellschaft mit der rücksichtslosen Ausbeutung der besetzten Gebiete, mit Erschießung von Geiseln, Verschleppungen, Zwangsarbeit, Foltergefängnissen und Attentaten, mit Kollaboration und Widerstand, mit Unterdrückung der Kultur und brüchigen kulturellen Freiräumen; die Gesellschaft der Flucht, der Vertreibungen und ethnischen Säuberungen mit Massenmorden und jämmerlichen Sterben im schlimmsten Fall, dem Ende der Privatsphäre und der mühsamen Überleben im milderen Fall; die Gesellschaft des Exils mit der Entwertung der bisherigen beruflichen und sozialen Fähigkeiten und dem Zwang zum Aufbau neuer Existenz, mit der gesellschaftlichen Isolation und der Trauer über den Verlust der Heimat, mit neuen Solidaritäten der Exilanten, mit der Konfrontation mit einer unbekannten Gesellschaft und oft schwer verständlichen, fremden Bürokratien. Sicher lebte der Großteil der Europäer erst in den frühen 1940er Jahren, noch nicht in den 1920er und 1930er Jahren in solchen Gesellschaften. Aber diese Gesellschaften waren damals wichtige europäische gesellschaftliche Besonderheiten, die auch außerhalb Europas Verbreitung fanden. Diese Epoche war für die europäische Wirtschaft außergewöhnlich düster. Die Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft in den 1920er Jahren war schwierig. Die europäische Wirtschaft fanden nur mit großer Mühe zur Leis158

tung der Wirtschaft vor 1914 zurück. Nach einer kurzen Erholung von wenigen Jahren in der zweiten Hälfte der 1920er Jahr traf die Weltwirtschaftskrise ab 1929 Europa schwer, auch weil die Regierungen dieser Krise oft hilflos gegenüberstanden und sich häufig für falsche Wirtschaftspolitiken entschieden. Die europäische Wirtschaft schrumpfte dramatisch. Der Zweite Weltkrieg schließlich ruinierte die Wirtschaft Europas, die am Ende des Kriegs am Boden lag. Europa fiel in dieser Epoche in seinem Anteil an der Leistung der Weltwirtschaft und in seinem Anteil auf den internationalen Exportmärkten stark zurück. Neben den Grausamkeiten der Kriege und der Diktaturen war dies der zweite Grund für den Niedergang des globalen Ansehens Europas. Europa war als Gesellschaft nie so tief gespalten wie in dieser Zeit. Es stand vor einer tiefen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilung in Industriegesellschaften und Agrargesellschaften, in überwiegend ländliche und überwiegend städtische Gesellschaften, in Gesellschaften mit und ohne Analphabetismus, mit viel Zuwanderung und viel Abwanderung, in Ländern mit weit entwickelten Sozialstaat und Ländern ohne nennenswerten Sozialstaat, in Kolonialgesellschaften und bloße Nationalstaaten, in Ländern mit internationalen kulturellen Zentren als Hauptstadt und Ländern, die ausschließlich kulturelle Provinz war, in global verflochtene und völlig isolierte Regionen. Darüber hinaus durchzogen Europa in der Politik tiefe Gräben, die wiederum einschneidende gesellschaftliche Konsequenzen hatten: tiefe Gräben zwischen Demokratien, die sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Europa durchzusetzen schienen, aber seit der Übernahme des Faschismus in Italien in einem Land nach dem anderen zurück gedrängt wurde, bis in den frühen 1940er Jahren nur noch eine kleine Minderheit von etwa jedem sechsten Europäer in einer Demokratie lebte; daneben die rechten autoritären Regimen und Diktaturen, die mit ihren rechtsextremen Programmen immer stärker auf dem Vormarsch waren und schon in den 1930er Jahren in Europa das Übergewicht besaßen; schließlich das einzige kommunistische Land, der UdSSR, die damals in Europa noch weit gehend isoliert war und sich auch selbst isolierte. Gegen diese Spaltungen gab es auch Gegentendenzen: die europäische Bewegung, die Europa zu einen versuchte und in der europäischen politischen und kulturellen Elite viel Zuspruch fand, aber in der Zwischenkriegszeit keine politischen Erfolge aufzuweisen hatte und sich in dem Gegensatz zwischen Demokratien und Diktaturen aufrieb; die neuen internationalen Organisationen, vor allem der Völkerbund und das Intrenationale Arbeitsamt, die eigentlich keine europäischen, sondern globale Organisationen waren, aber in den 1920er und 1930er Jahren doch weitgehend von europäischen Experten bestimmt waren; darüber hinaus im Zweiten Weltkrieg auch das militärisch erzwungene, auf Ausbeutung der besetzten europäischen Ländern ausgerichtete Europa des NS-Regimes, das für eine kurze Frist von knapp vier Jahren den Großteil Europas beherrschte, brutal unterdrückte, aber nicht wirklich einte, kein dauerhaft tragfähiges Konzept für ein Herrschaftsimperium besaß und Europa an den Rand des völligen Zusammenbruchs brachte. 159

Die gesellschaftlichen Verflechtungen mit der außereuropäischen Welt nahmen in dieser Epoche der Deglobalisierung ab. Die Auswanderung aus Europa ging zurück, auch weil die USA die Einwanderung aus dem verarmten Europa einschränkte. Der Handel mit anderen Teilen der Welt nahm ab, da in Europa ebenso wie außerhalb Europas oft das Heil der Wirtschaftspolitik in Zollmauern und einer autarken Wirtschaft gesucht wurde. Die europäischen Investitionen außerhalb Europas sanken ebenfalls, da Europa in seiner schlechten wirtschaftlichen Lage immer weniger Kapital für Auslandsinvestitionen zur Verfügung hatte. Europa verlor seine Vorkriegsattraktivität als zivilisatorisches Modell für außereuropäische Länder aufgrund der Grausamkeiten der Weltkriege und der moralischen Diskreditierung Europas. Studenten, Intellektuelle, Experten, begannen eher nach USA oder Japan als nach Europa zu reisen. Wenn sie nach Europa reisten, dann mit weit mehr Skepsis und geringerer Bereitschaft zur Übernahme von europäischen Konzepten und zur Verflechtung mit Europa. Sicher zeigten sich in dieser Zeit auch Gegentendenzen. Mit der Gründung von zum Teil schon genannten internationalen Organisationen entstanden neue Verflechtungen. Eine eng verflochtenes, internationales Netzwerk von Experten entwickelte sich, das einen erheblichen, oft unterschätzten Einfluss besaß. Paris, London, Berlin wurden oder blieben Zentren der internationalen Kunst, Intellektuellen und Wissenschaften. Daneben entstanden neue Verflechtungen als Folge von Diktaturen und Kriegen. Das durch politische Unterdrückung erzwungene Exil von Europäern vor allem in Nord- und Südamerika, aber auch in der Türkei, in Persien und in Ostasien stellte eine erzwungene neue Verbindung mit nichteuropäischen Gesellschaften her. In beiden Weltkriegen wurden zudem Soldaten aus den Kolonien, aus dem Maghreb, aus Schwarzafrika und aus Südasien in Europa eingesetzt, kämpften auf den europäischen Schlachtfeldern und verflochten damit ebenfalls Europa mit anderen Teilen der Welt. Insgesamt war dies trotzdem eine Epoche des Niedergangs der freiwilligen, gesellschaftlichen Verflechtungen Europas mit der übrigen Welt. Die trente glorieuses. Das dynamische Europa der 1950er Jahre bis 1970er Jahre Seit den 1950er Jahren entstand ein völlig anderes Europa. Europa wurde zur wirtschaftlich dynamischsten Region der Welt. Die Wachstumsraten der westund osteuropäischen Wirtschaft lagen weit über denen der Vereinigten Staaten oder Ostasiens und auch weit über den Wachstumsraten der Welt als Ganzem. Nur die japanische Wirtschaft wuchs noch schneller. Die europäische Wirtschaft, vor allem die westeuropäische Wirtschaft, gewann viel von der großen Bedeutung als Exportwirtschaft wieder zurück, die sie vor dem Ersten Weltkrieg besessen und seitdem verloren hatte. Die Einkommen in Europa schnellten in dieser Zeit nach oben. Die Arbeitslosigkeit sank auf ein Niveau wie nie zuvor oder danach. Die damals besonders emphatisch bewerteten Indikatoren für 160

Wohlstand, der Besitz von Autos, von Kühlschränken, von Bädern, von Häusern, von Telefonen, von Radios, Fernsehern und Zeitungen gingen in Europa, vor allem in Westeuropa, rasch nach oben. Allerdings wurde Europa in den anderen Weltregionen trotzdem nicht zu als wirtschaftliches Modell angesehen, weil es durch die beiden Weltkriege weit hinter die USA zurückgefallen waren und mit dieser außergewöhnlichen wirtschaftlichen Dynamik nur den Rückstand gegenüber den USA aufholte, aber sie nicht überholte. Die USA blieb das Modell wirtschaftlicher Modernität. Die gesellschaftlichen Besonderheiten Europas veränderten sich in dieser Epoche. Ältere Besonderheiten gingen zurück oder veränderten sich. Die Industriegesellschaft erlebte zwar in Europa ihren Höhepunkt, da in dieser Zeit auch die europäische Peripherie im Süden und Osten Europas industrialisiert wurde. Aber schon in den sechziger Jahren begannen die klassischen Zweige der Industrialisierung, die Textilindustrie und die Eisen- und Stahlindustrie in eine Krise zu geraten, bevor dann in den siebziger Jahren Dienstleistungen immer stärker die europäische Wirtschaft prägten. Zudem entstanden nun auch in anderen Weltregionen Industriebetriebe und lokale oder regionale Industriegesellschaften. Die Industriegesellschaft blieb keine europäische oder atlantische Besonderheit. Europa erlebte zwar in dieser Zeit noch einmal ein starkes Stadtwachstum vor allem im Süden und Osten des Kontinents. Aber auch in anderen Weltregionen setzte ein rasches Wachstum der Städte ein, dass noch schneller war als in Europa. Unter den größten Städten der Welt waren daher in dieser Epoche die europäischen Städte in der Minderheit. Allerdings blieb das starke Gewicht der mittelgroßen Städte weiterhin eine europäische Besonderheit. Auch der hohe Lebensstandard, der im 19. Jahrhundert Europa von anderen Weltregionen unterschied, blieb keine europäische Besonderheit mehr. Durch die beiden Weltkriege war Europa in seiner wirtschaftlichen Leistungskraft und seinem Lebensstandard so weit zurückgefallen, dass es in den 1950er Jahren gegenüber einer ganzen Reihe von asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern wie Japan oder Argentinien keinen Vorsprung mehr aufwies, von den USA und Kanada ganz zu schweigen. Die europäischen Kolonialgesellschaften verfielen mit der Entkolonialisierung besonders zwischen den späten 1940er und frühen 1960er Jahren. Spuren dieser Kolonialgesellschaften blieben in Europa zwar weiterhin erkennbar: die Zuwanderung aus den ehemaligen Kolonien begann überhaupt erst jetzt; europäische Sprachen blieben in einer ganzen Reihe von Ländern in Afrikas Amtssprache; das besonders starke Interesse für Afrika und Asien blieb in den ehemaligen Metropolen erhalten und Intellektuelle in den Zuwanderermilieus aus den ehemaligen Kolonien spielten eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit. Trotzdem verblasste diese europäische Besonderheit allmählich. Auch nationale Gesellschaften blieben keine europäische oder atlantische Besonderheit, da mit der Unabhängigkeit Kolonien überall in Afrika und Asien Nationalstaaten gegründet und gesellschaftlich fundiert wurden. Die europäi161

schen Nationalgesellschaften veränderten sich allerdings, da stärker als außerhalb Europas nicht nur Bürgerpflichten wie Schule, Rekrutendienst und Steuer, sondern auch der Wohlfahrtsstaat zum Legitimationskern des Nationalstaats zu gehören begann. Gleichzeitig entstanden neue gesellschaftliche Besonderheiten und alte Besonderheiten bekamen eine neue Dimension. Eine erste, neue, international auch besonders stark diskutierte Besonderheit war die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates nach den grundlegenden Reformen seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit damals waren in Europa erheblich mehr Bürger durch staatliche Versicherungen abgesichert, die Sozialausgaben umfangreicher und die Erwartungen der Bürger an die soziale Sicherung durch den Staat größer als anderswo. Der Wohlfahrtsstaat war damals in Europa Teil der optimistischen Zukunftsvision einer stark von oben geplanten Wohlstandsgesellschaft. Eine zweite, neue europäische Besonderheit war der Umbruch der europäischen internationalen Migration. Europa erlebte direkt nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal einige Jahre starker Auswanderung vor allem in die Amerikas. Seitdem durchlief Europa einen tiefen Umbruch: die Auswanderung ging zurück, aber gleichzeitig nahm die bisher unbekannte Zuwanderung aus anderen Weltregionen zu, und zwar nicht nur in den ehemaligen Kolonialmetropolen, sondern auch in den anderen Industrieländern wie der Schweiz, Schweden oder der Bundesrepublik. Einen solchen Umbruch von einem Auswandererkontinent zu einem Zuwandererkontinent erlebte keine andere Weltregion, auch nicht die großen Industrieländer USA und Japan. Erhalten blieb in dieser Epoche weiterhin eine dritte Besonderheit: das im 19. Jahrhundert entstandene System der europäischen Klassenmilieus. Es bekam zwar vor allem in den industriellen Krisenregionen seine ersten Risse und war auch in Länden geschwächt, die eine Rechtsdiktatur durchlitten hatten. Aber sein Verblassen erfolgte erst in der nächsten Epoche. Zudem erhielt sich in dieser Epoche auch die lange Tradition der europäischen Familie mit ihren eigenständigen Haushalten der jung Verheirateten, mit ihren seltenen Drei-Generationen-Haushalten, mit ihrem späten Heiratsalter von Männern und Frauen, mit ihrer strikten Rollenteilung zwischen dem außer Haus arbeitenden Ehemann und der für den Haushalt und Kindererziehung verantwortlichen Ehefrau und mit ihrer starken Abgeschlossenheit und Intimität der Familie. Nach den Auflösungserscheinungen der europäischen Familie unter den Zwängen der Nachkriegszeit waren die 1950er und 1960er Jahren eine Rückkehr zu dieser klassischen Familie, auch wenn die Entwicklungen, die diese Familie verändern sollten, wie die bessere Ausbildung der Mädchen, die häufigere Berufstätigkeit der Frauen, das verhinderte Frauenbild schon spürbar waren. Schließlich entstand am Ende dieser Epoche eine neue Besonderheit vor allem im Westen Europas: die Durchsetzung postmaterieller Werte. Am Ende der langen Prosperitätsepoche sahen viele Europäer die höchsten Prioritäten nicht mehr im materiellen Wohlstand, in der inneren oder äußeren Sicherheit, in den Erziehungszielen des Gehorsams, der Sparsamkeit und der Religiosität, 162

sondern in den individuellen Rechten, in der Selbstverwirklichung, in den Erziehungszielen der Toleranz und der Rücksichtnahme auf den Anderen. Damalige Umfragen zeigten, dass es zwar in keiner Gesellschaft einen vollen Konsens in diesen Werten gab, aber dass diese Werte doch unter Westeuropäern einen erheblich stärkeren Anklang fanden als unter Amerikanern, unter Japanern und unter Europäern im östlichen Europa. Die trente glorieuses waren im Kontrast zur vorhergehenden Epoche auch eine Zeit außergewöhnlicher gesellschaftlicher Konvergenzen. Der Umfang der großen Beschäftigungssektoren der Landwirtschaft, der Industrie und der Dienstleistungen wurde weniger verschieden. Die alten Kontraste zwischen Agrar- und Industrieländern milderten sich ab. Die Unterschiede in den Bildungsqualifikationen gingen zurück. Nicht nur der Analphabetismus wurde im Süden und Osten Europas abgebaut, nachdem er im nördlichen Teil schon im 19. Jahrhundert weitgehend zurückgedrängt worden war. Auch die scharfen Gegensätze der Verstädterung hielten sich nicht. Die Städte im bislang überwiegend ländlichen Süden und Osten Europas wuchsen besonderes rasch. Wohlfahrtstaaten begannen sich überall in Europa durchzusetzen. Staatliche Rentenversicherungen, Krankenversicherungen, Arbeitslosenversicherung wurden überall in Europa, nicht nur im nördlichen Teil eingeführt. Die enormen Unterschiede in der Wohnqualität wurden abgebaut. Diese Konvergenzen hatten allerdings damals noch drei klare Grenzen. Sie wurde im kommunistischen östlichen Teil Europas ganz anders durchgesetzt als im westlichen Teil Europas. Zudem glichen sich nur die Leistungen von staatlicher Intervention an, dagegen blieben die Institutionen der staatlichen Bildung, des Wohlfahrtsstaats, der staatlichen Wohnungspolitik und der Stadtverwaltungen oft sehr verschieden. Diese Konvergenz wurde schließlich nicht durch die transnationalen Organisationen, durch die Europäisch Gemeinschaft im Westen oder durch den RGW im östlichen Teil Europa durchgesetzt, sondern durch die nationalen Regierungen, die im Westen in engen Austausch miteinander standen, im östlichen Teil Europas gezwungen wurden, dem sowjetischen Modell zu folgen. Die globalen Verflechtungen Europas nahmen im Vergleich zur Epoche des dunklen Kontinents rapide zu. Der Handel mit anderen Kontinenten stieg an, in Westeuropa vor allem mit den reichen Industrieländern USA und Japan, aber auch mit der damals sogenannten Dritten Welt, im östlichen Europa vor allem mit der UdSSR und mit dem kommunistischen Teil der Welt. Reisen der Eliten in andere Teile der Welt nahmen zu. Internationale Eliteverflechtungen verstärkten sich. Die Autarkiepolitik wurde beendet. Allerdings hatte diese globale Verflechtung auch klare Grenzen. Die Auslandsinvestitionen blieben weit geringer als in der Epoche danach. Die globale Handelsverflechtung erreichte nur langsam wieder den Stand der Zeit vor 1914. Die Handelsverflechtungen zwischen den europäischen Staaten nahmen allerdings noch rascher zu als die Verflechtung nach außen. Die Auswanderung von Europäern in andere Kontinente ging zurück und blieb weit unter dem Niveau des 19. Jahrhunderts. Die neue Zuwanderung aus anderen Kontinenten blieb begrenzt und wurde als temporäre 163

Zuwanderung aufgefasst, nicht als dauerhafte Verflechtung mit anderen Kontinenten. Internationale Heiratskreise waren noch selten. Die Medien blieben weitgehend national, Film und Rundfunk ebenso wie das neue Fernsehen Die heutigen internationalen medialen Verflechtungen entstanden erst später. Eine volle Rückkehr der Globalisierung setzte noch nicht ein. Die Deglobalisierung der Epoche der Weltkriege wirkte immer noch nach. Die neue Rolle Europas in der Globalisierung seit den 1980er Jahren Europa durchlebte in den 1970er Jahre eine schwierige Umbruchzeit mit den Ölschocks und dramatischen Preissteigerungen des Rohstoffs Öl, mit dem Zusammenbruch des westlichen Währungssystems von Bretton Woods und dem Ende der festen Wechselkursen, mit dem scharfen Rückgang der zuvor außergewöhnlich hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten ab Mitte der 1979er Jahre und mit dem Umbruch des vorherigen Zukunftsoptimismus. Europa wurde seit den späten 1970er und 1980er Jahren zu dem Kontinent des weltweit niedrigsten wirtschaftlichen Wachstums neben Afrika, zum Kontinent der Arbeitslosigkeit, der Stagnation der Einkommen und der niedrigen Geburtenraten. Europa stürzte ab vom wirtschaftlich dynamischsten Kontinent der Welt zu einer stagnierenden problematischen Weltregion. Seit den 1980er Jahren veränderten sich damit auch die gesellschaftlichen Besonderheiten Europas. Wichtige frühere Besonderheiten verblassten. Die früheren, schon geschilderten sozialen Klassenmilieus verloren viel an Bedeutung. Das klassische proletarische Arbeitermilieu verlor seine Kohäsion, teils wegen der massiven internationale Zuwanderung, vor allem aber wegen der sozialen Absicherung durch den Wohlfahrtsstaat, wegen der Auflösung reiner Arbeiterwohnviertel durch die Stadtexpansion und die Stadterneuerung, wegen der Ausweitung der Bildungschancen, die auch Arbeitertöchtern und Arbeitersöhnen mehr Chancen eröffnete und schließlich wegen der Durchsetzung des Massenkonsums, der die einst scharfe Trennung von sozialen Milieus durch den Konsum abmilderte. Das bäuerliche Milieu verlor durch die Modernisierung der Landwirtschaft viel von seinem besonderen Lebensstil. Auch das Bürgertum verlor seine einstige Exklusivität mit der enormen Expansion der akademischen Ausbildung und mit der veränderten Bedeutung des Besitzes, blieb gleichzeitig als soziales Klassenmilieu in seinem kulturellen und politischen Einfluss noch am ehesten intakt. Auch der Wohlfahrtsstaat veränderte sich als europäische Besonderheit. Zwar wurde in Europa weiterhin ein erheblich größerer Anteil der Bevölkerung als anderswo durch den Sozialstaat abgesichert. Die Sozialausgaben blieben in Europa deutlich höher als in anderen Weltregionen. Aber der Wohlfahrtsstaat verlor seine Bindung an optimistische Zukunftsvisionen. Er wurde in den nationalen Öffentlichkeiten Europas und in einem großen Teil der Weltöffentlichkeit heftig kritisiert und verlor erheblich an globaler Attraktivität. Gleichzeitig ging der Abstand der USA und Japans in der Höhe der Sozialausgaben gegenüber 164

Europa ein Stück weit zurück, auch wenn die grundsätzliche Einstellung zum Staat anders blieb. Die europäische Familie, eine andere europäische Besonderheit, verlor ebenfalls ihren besonderen Charakter, weil auch in anderen Weltregionen die eigene Haushaltsgründung durch die jungen Ehepaare üblich wurde und dadurch das Heiratsalter höher und die Drei-Generation-Haushalte seltener wurden. Sicher blieben erhebliche Unterschiede zwischen Europa und anderen Weltregionen in den Beziehungen zwischen den Generationen, zwischen den Ehepartnern und zwischen Eltern und Kindern, auch in der Bedeutung der Familie für die soziale Sicherung und in den Geburtenraten erhalten. Aber der stärkste Ausdruck der Besonderheit der europäischen Familie, der eigene Haushalt der jungen Ehepaare und damit ihre Trennung von der elterlichen Familie, blieb keine europäische Besonderheit mehr. Darüber hinaus schwächten sich auch die Besonderheiten der Arbeit in Europa, vor allem die scharfe Trennung von Arbeit und Nichtarbeit, die Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit, die langen jährlichen Ferien und die Verkürzung der Lebensarbeitszeit durch längere Ausbildung und durch frühere Verrentung, auch die begrenzte Frauenarbeit allmählich ab. Sie standen auch in der Kritik der globalen Öffentlichkeit, die hohe Frauenarbeit und längere Lebensarbeitszeit positiv bewertete. Schließlich gingen auch die Besonderheiten der europäischen Werte, die sich vor allem in Westeuropa entwickelt hatten und die im von damaligen Sozialwissenschaftlern als postmaterielle Werte bezeichnet wurden, deutlich zurück. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, der niedrigen Wachstumsraten, der geringen Zunahme der Realeinkommen und der steigenden Arbeitslosigkeit, orientierten sich viele Europäer wieder stärker an materiellen Werten der Einkommenssicherheit und der Arbeitsplatzsicherheit, ohne freilich die Bedeutung der eigenen Lebensstile, der Menschenrechte und der individuellen Meinungsfreiheit aufzugeben. Andere europäische gesellschaftliche Besonderheiten traten dagegen seit den 1980er Jahren stärker hervor und wurden intensiver diskutiert. Eine wichtige gesellschaftliche Besonderheiten Europas entwickelte sich in der Einstellung zur Gewalt in ihren verschiedenen Formen: in der Einstellung zur staatlichen Gewalt durch die Todesstrafe, die in einem Land nach dem anderen abgeschafft wurde; in der Einstellung zum Krieg als Instrument der Ausländersetzung zwischen Nationen, in den frühen 1980er Jahren und wieder Anfang der 1990er Jahre Thema großer Friedensdemonstrationen; in der Einstellung zur Anwendung von Gewalt in der Familie und in der Schule; in der Einstellung zum Waffenbesitz; schließlich auch in der Einstellung zum politischen Terrorismus, der während der 1970er in Europa stark zugenommen hatte. Anders als in den Vereinigten Staaten, aber auch anders als andere Weltregionen drängten die Europäer auf eine Reduzierung des staatlichen und privaten Einsatzes von Gewalt. Darüber hinaus wurde sich Europa eines schon erwähnten Umbruchs erst jetzt bewusst, den wie schon gesagt keine andere Weltregion durchlebte und der 165

schon in der Epoche zuvor eingesetzt hatte: der Umbruch von einem Kontinent der Auswanderung, die seit der frühen Neuzeit bis zu den 1950er Jahren für Europa von großer Bedeutung gewesen war, aber seitdem weitgehend zurückgegangen war, zu einem der wichtigsten Kontinente der Zuwanderung. Die Zuwanderung aus anderen Weltregionen, vor allem aus der arabischen Welt und dem Nahen Osten, aber auch aus Ostasien, war für Europa eine neue Erfahrung. Im Unterschied zu den USA verstand sich die europäischen Staaten nicht als Einwanderungsgesellschaften und stellten sich nur mühsam auf die neue Situation von Zuwandererminderheiten ein. Die Zuwanderung aus anderen Weltregionen war in den 1950er und 1960er Jahren primär eine Erfahrung der ehemaligen europäischen Kolonialmächte, vor allem Großbritanniens, Frankreichs, der Niederlande und Belgiens gewesen. Sie wurde aber seit den 1990er Jahren eine Erfahrung fast aller europäischen Länder, auch Südeuropas, das bis dahin primär Auswandererregion geblieben war. Die Begegnung mit anderen Weltregionen verschob sich damit grundlegend. Sie fand nicht mehr in den europäischen Kolonien und in den europäischen Kolonialstädten, sondern in den Städten des Kontinents selbst statt. Vor diesem Hintergrund wurde die europäische Säkularisierung, vor allem der Rückgang der Mitgliedschaft in den Kirchen, des Kirchenbesuchs, des geschwächten sozialen Gewichts der Priester und Pfarrer, der Bindung an dem kirchliche Gemeinde, immer mehr als eine europäische Eigenart wahrgenommen, die gewisse Parallelitäten in der ganz anderen Säkularisierung in Ostasien besaß, aber sich von den meisten Weltregionen, von den Amerikas, von Afrika, von Südasien und Südostasien unterschied. Diese Säkularisierung führte zu spezifischen Problemen der Einwanderer nach Europa aus anderen Weltregionen, vor allem mit den muslimischen Einwanderern, die sich in der säkularisierten europäischen Gesellschaft oft schwer zurechtfanden und daher ihre Religiosität besonders stark betonten. Schließlich entwickelten die Europäer auch zu den transnationalen Beziehungen mit anderen Ländern des eigenen Kontinents eine andere Einstellung. Die Konkurrenz und Koexistenz vieler Staaten in einem Kontinent, ihre Kriege, aber auch ihr Völkerrecht prägte zwar die europäische Geschichte seit Jahrhunderten und unterschied Europa im Übrigen auch nicht grundsätzlich von anderen Kontinenten mit vielen Staaten wie Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Oste und Südostasien. Die europäische Umgang mit dieser Situation wurde jedoch zunehmend als europäische Besonderheit angesehen: die regionale Integration in einer supranationalen Institution, der Europäischen Union, die seit den 1990er Jahre neben den wirtschaftlichen auch breite politische Kompetenzen erhielt und nach dem Ende des Kalten Kriegs mit ihren Mitgliedsländern fast den ganzen Kontinent zu umfassen begann, fußte in starkem Maß auf gesellschaftlicher Verflechtung, auf einer wachsenden Zusammenarbeit der Eliten, auf Städtepartnerschaften, auf Auslandsstudium und Auslandreisen, auf internationalen Heiraten und internationalen Familien. Diese sehr weit vorangetriebene regionale Inte­ gration wurde in der globalen Öffentlichkeit immer mehr als eine Besonderheit 166

und ein Modell angesehen, das allerdings durch die Finanzkrise 2009–2012 und den Brexit seit 2016 an Anziehungskraft verlor. Die gesellschaftlichen Konvergenzen zwischen den europäischen Gesellschaften verstärkten sich weiterhin. Auch wenn die politischen Institutionen und Politiken weiterhin verschieden blieben, näherten sich die Leistungen des Sozialstaats, die Ausbildungsqualifikationen und Bildungschancen, die Erwerbsstrukturen, die Verstädterung und die Morphologie der Städte weiter an. Auch die großen innereuropäischen demographischen Unterschiede in den Geburtenraten, den Heiraten und Scheidungen, auch in der Lebenserwartung milderten sich ab. Der fortwährende Austausch zwischen den politischen Entscheidern, der zielgerichtete Einsatz des internationalen Vergleichens durch die internationalen Organisationen und die Europäische Union, das intensive Kennlernen anderer europäischer Gesellschaften durch Auslandsaufenthalte, der starke Einfluss des internationalen Massenkonsums und der internationalen Unternehmen waren entscheidende Gründe für diese gesellschaftlichen Konvergenzen. Konvergenzen entstanden vor allem durch mehr politische, soziale und wirtschaftliche Verflechtung. Auch die globale Rolle Europas veränderte sich grundlegend. Europa hatte keinerlei Chance, seine alte Rolle als imperiales politisches Zentrum der Welt wiederzugewinnen. Auch in der Spätphase des Kalten Krieges wurden die globalen Weichenstellungen durch die USA und die UdSSR und nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem durch die USA, aber auch zunehmend durch China gestellt. Europa besaß zwar in manchen der ehemaligen Kolonien weiterhin einen starken wirtschaftlichen, kulturellen und teilweise auch militärischen Einfluss. Aber global blieb der Einfluss Europas begrenzt und weit geringer als vor der Entkolonialisierung. Für ein globales Imperium fehlten Europa nicht nur die militärischen Mittel und die kulturelle Ausstrahlung, sondern vor allem der eigene Wille und die eigene globale Vision. Die globale Position Europas endete jedoch nicht, sondern verschob sich durch die Globalisierung seit den 1990er Jahren. Auf der einen Seite war Europa ein zentraler Akteur der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung: Es blieb weiterhin ein erstrangiger wirtschaftlicher Exporteur und Importeur. Die Zahl europäischer Unternehmen nahm unter den größten Unternehmen der Welt sogar deutlich zu. In den Auslandsinvestitionen stieg Europa insgesamt zum wichtigsten Akteur der Welt auf und überholte die USA. Die Militärausgaben waren in Europa zusammengenommen zwar niedriger al in den USA, aber höher als in Russland und China. In der globalen Kultur war das Gewicht Europas groß, da es in der globalen Hochschulausbildung eine fast ebenso große internationale Bedeutung wie die USA besaß und fast ebenso viele Studenten von außerhalb des eigenen Kontinents anzog. In der Buch- und Zeitschriftenproduktion, aber auch in den Übersetzungen lag Europa weiterhin global an der Spitze. Auch in der globalen politischen Gouvernanz, in der Einrichtung der G20, spielte Europa eine wichtige Rolle. Die Stimme Europas in der Welt zu verstärken, setzte sich in der Öffentlichkeit zunehmend als Argument für die Rechtfertigung der europäischen Integration durch, was 167

immer man unter Stimme in der Welt verstehen mochte. Andererseits war die globale Außenpolitik Europas weiterhin wenig entwickelt. Europa war weiterhin in militärischen Interventionen und in der Bewältigung von regionalen Konflikten in und außerhalb Europas so stark an die USA gebunden, dass manche Sozialwissenschaftler den Kontinent als einen Teil des amerikanischen Imperiums einordnen. Gleichzeitig verstärkte sich vor allem nach der Jahrhundertwende das wirtschaftliche Gewicht des globalen Südens. Der wirtschaftliche Abstand zwischen Norden und Süden verringerte sich. Das Dreieck aus den USA, Japan und Europa verlor an Gewicht, damit auch das globale Gewicht Europas. Die Finanzkrise hat das globale Misstrauen gegen Europa erheblich verstärkt und die globale Gewicht Europas erheblich geschwächt. An der oft unterschätzten und zu wenig druchdachten Rolle Europas als global glayer änderte das jedoch nur wenig. Gesellschaftlich hatte diese verstärkte Globalisierung erhebliche Konsequenzen vor allem in drei Richtungen. Die europäischen Gesellschaften wurden vor allem in den Großstädten weit internationaler, vor allem auch interkontinentaler. London, Paris, Berlin wurden noch mehr als zuvor kosmopolitische Städte, Orte der globalen Begegnungen und der globalen Verhandlungen, aber auch Orte von Zuwanderungsminderheiten aus allen Teilen der Welt. In der Alltagskultur, im Essen, Trinken, im Reisen, in der Mode, in den Möbeln, in der Musik, in der Kunst nahm diese kosmopolitische Orientierung deutlich zu. Auch die Universitäten wurden globaler, die Studentenschaft internationaler. Man kann allerdings nicht übersehen, dass diese Entwicklung auch zu einer Reorientierung der rechtsradikalen Parteien geführt hat, die diese Kosmopolitisierung Europas bekämpfen zu müssen glaubten und in einem Segment der europäischen Gesellschaften dafür auch Anhänger fanden. Darüber hinaus entstanden unter den hoch qualifizierten Europäern ebenso wie unter den hoch qualifizierten anderer Kontinente verstärkt internationale Karrieren. Für die persönliche Karriere wurde es zunehmend als wichtig angesehen, in einem anderen Land und oft auch in einem anderen Kontinent über längere Zeit beruflich tätig gewesen zu sein. Nicht nur die internationalen Unternehmen, sondern auch die europäische Forschung, die europäischen Hochschulen, die großen Rechtsanwalts- und Architekturbüros, und die europäischen Kultureinrichtungen, Museen, Opern, Theater und Orchester fragten nach diesem internationalen Typus des Hochqualifizierten. Diese internationalen beruflichen Karrieren führten oft zu internationalen Ehen und verstärkten damit auch die Sensibilität für andere Kontinente über die familiäre Alltagserfahrung. Diese Internationalisierung der Hochqualifizierten hat auch dazu geführt, dass sich das Bild des außereuropäischen Fremden grundlegend änderte. Er war nicht nur arme, vor der wirtschaftlichen Not oder der Diktatur im eigenen Land Flüchtende, sondern oft auch gut ausgebildete, wohlhabende, manchmal sogar sehr reiche Zuwandernde, Hausbesitzer, Firmenchefs oder Investoren. In der Mehrheit der Europäer hat die Kosmopolitisierung Europas auch dazu geführt, dass zumindest bei Befragungen die Toleranz gegenüber Minderheiten aus anderen Weltregionen, 168

Religionen anderer Weltteile stabil blieb und darüber hinaus sich die Einstellung zu Globalisierung änderte, Europa nicht nur als Opfer einer bedrohlichen Globalisierung angesehen wurde, sondern auch die bedeutende Rolle Europas als Akteur in der Globalisierung stärker wahrgenommen und die Globalisierung dadurch positiver bewertet wurde.

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9. The 1970s in Europe: Period of Disillusionment or Promise?

Most people see the 1970s as a decade of popular music, films and design, as the time of Michael Jackson, Bob Marley, Mireille Mathieu, and A Clockwork Orange. But those historians who are now starting to work on the 1970s often discuss other topics, even though they may have adored this popular music as youngsters. In  a recent lecture in Berlin, David Ellwood, an Italo-British historian of the Cold War, called the 1970s the most shocking decade in Europe since the Second World War. Konrad Jarausch, a German-American historian, gave his book on the 1970s the less spectacular, but still depressing title ›The End of Confidence?‹ (Das Ende der Zuversicht?). Gabriele Metzler, called her recent book ›A Crisis of Governing since the 1970s‹? and likewise Antonio Varsori, an Italian historian, speaks of ›the crisis of the 1970s‹ (›la crisi degli anni settanta‹). Conversely, Philippe Chassaigne, a French specialist on British history, chose the subtitle Beginnings of our Modernity (origine de notre modernité) for a recent book on the 1970s. And the British author Alwyn Turner, seemingly in contradiction to Gabriele Metzler and Antonio Varsori, gave his book on the 1970s the title Crisis? What Crisis? So at the moment when the archives are opened and historians take over the decade of the 1970s, two interpretations emerge: the dark interpretation of decline, of crisis, of disillusionment on the one hand, and the bright interpretation of the beginnings of our modernity, of new realism (Tony Judt) or even of promise on the other.1

1 P. Chassaigne, Les années 1970: Fin d’un monde et origine de notre modernité, Paris 2008; Die 1970er-Jahre in Westeuropa, Themenheft Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), Nr. 2; A. Doering-Manteuffel u. L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; P. Eitler, »Wende zur Welt?« Öffentliche Auseinandersetzungen um die Politisierung der Religion in der Bundesrepublik Deutschland 1965–1975, in: ­J.-P. Cahn and H. ­Kaelble (Hg.), Religiöse Kulturen und Weltlichkeit in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2008, p. 137–150; European Responses to the Crisis of the 1970s and 1980s, Sonderheft Journal of Modern European History Vol. 9, No. 2, 2011; B.  Faulenbach, Die Siebzigerjahre  – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), p. 1–38; W. Faulstich (Hg.), Die Kultur der 70er Jahre, München 2004; E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, München 1998; J. Hürten u. G. E. Rusconi (Hg.), Die bleiernen Jahre. Staat und Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland und Italien 1969–1982, München 2010; H. James, Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, München 2004; K. H. Jarausch (ed.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; T. Judt, Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005; M.  Mazower, Dark Continent. Europe’s

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This debate among historians will be the topic of my lecture at the GHI London which looks at the 1970s not as a specific era, but as a major turning point or turning period of the 20th century. I shall first present the dark view, then I shall present to you the bright interpretation of the 1970s, and at the end, in a long conclusion, I shall ask how important the 1970s are as a turning point, in what way the 1970s are a very special turning point, different from most others, in what way this is a European turning point, and which view is in the end more convincing, the dark view or the bright view. But why the 1970s, why not another decade? In my view the debate on the 1970s among historians is emerging for four reasons. Firstly, the 1970s have a special charm as a turning point. This primarily covers economics and culture and to a far lesser degree politics and international relations as was the case for most other turning points such as 1789, 1815, 1848, 1914, 1945 and 1989. In the 1970s no war or revolution broke out and no empire broke down (except the Portuguese colonial empire). Secondly the 1970s are particularly attractive because of the burning topics of this era: the oil shocks; the breakdown of the Western currency system of Bretton Woods; the slowdown of Keynesianism and state intervention; the massive criticism of the interventionist state; the upheaval in values; the new social movements and dissident groups; the new debate on environmental and energy policies; political violence; contrasts between secularism and the rising importance of religion in politics; the new impetus in European integration and in Cold War détente. Thirdly the debate on the 1970s is stimulated by contrasting views from different generations of historians: those who lived in the trente glorieuses and saw the deplorable end of this period in the 1970s, and the younger historians, now also established, who experienced only the post-boom situation and see it as normal. A fourth and more general reason why historians discuss decades such as the 1970s is one of their obsessions – their passion for discussing upheavals and turning points and for singling out historical eras. Ranke’s famous Twentieth Century, London 1998; T. Mergel, Die Sehnsucht nach Ähnlichkeit und die Erfahrung der Verschiedenheit. Perspektiven einer Europäischen Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), p. 417–425; G. Metzler (ed.), Krise des Regierens seit den 1970er Jahren. Deutsche und westeuropäische Perspektive, Paderborn 2007; M. Reich-Ranicki, Entgegnung: die Literatur der 1970er Jahre, München 2002; A.  ­Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990, München 2004; A.  Schildt, »Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten«. Zur konservativen Tendenzwende in den Siebzigerjahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), p. 449–479; A. Schmidt-Gernig, Ansichten einer zukünftigen »Weltgesellschaft«. Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer transnationalen Expertenöffentlichkeit, in: H. ­Kaelble u.  a. (eds.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main 2002; B. J.  Schulman, The Seventies: The Great Shift in American Culture, Society and Politics, New York 2001; A. W. Turner, Crisis? What Crisis? Britain in the 1970s, London 2008; A. Varsori (ed.), Alle origini del presente. L’Europa occidentale nella crisi degli anni settanta, Mailand 2007; K. Weinhauer u. a. (eds..), Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt / Main 2006; E. Wolfrum, Die 70er Jahre. Republik im Aufbruch, Darmstadt 2007.

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and bold dictum ›Every epoch is immediate to God‹ (›Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott‹) even tries to use God for this passion. The passion is perhaps the major reason why historians are different from social scientists and cultural scientists, who are more interested in typologies and model-building. Historians love to discuss questions such as ›What is Victorian about the Victorian period?‹ or ›Is there a long 19th century from 1789 to 1914 or a short 20th century from 1914 until 1989?‹. This passion is also behind the debate on whether the 1970s are the major turning point between the end of the Second World War in 1945 and the end of the division of Europe in 1989. I want, as I said, to raise this question with a special accent: I am asking the question not for a specific country, say Britain or Germany, but for the whole of Europe.

I. The Dark View of the 1970s I shall start with the main arguments of the dark view, which – as you will see – is not homogeneous in the sense of  a theory,  a political direction or  a specific national view. 1. In this view the 1970s are shocking, first of all, because of the emerging political violence in Europe: the terrorism in Spain carried out by the Basque ETA, the violent RAF in West Germany, the even more violent Italian brigadi rossi, and also the violence in Northern Ireland between Protestants and Catholics. This was and still is shocking, since a crucial and astonishing achievement of the years after World War II was the end not only of international, but also of domestic political violence in Europe, in contrast to the post-war years after World War I, when political violence was widespread in many continental European countries. The post-Second World War achievement of non-violent domestic politics was endangered in the 1970s in four major European countries. 2. A second shock was economic: the two oil shocks in 1973 and 1979 with the rise of the oil price from about 3 dollars per barrel to almost 25 dollars and even almost 50 dollars in 1980. Today some historians say that the oil shocks were helpful, since the Europeans became aware of the costs of this type of energy. However, historians who take the dark view argue with good reason that the oil shocks had very negative effects on the European economies. They contributed to high inflation during the 1970s, which was stopped later. They also contributed to the reduction of economic growth rates in Europe and, hence, to the end of a quarter of a century of exceptionally high rates of economic growth and low rates of unemployment. As a consequence, the extraordinary increase in real incomes, the affluent public budgets and the generous public spending also came to an end. The first oil shock was also accompanied by the breakdown of the international currency system of Bretton Woods with its fixed exchange rates. Bretton Woods had been helpful for international trade and had given much of the responsibility for the international currency system to one single actor, the 173

American government, rather than to groups of rich countries which are, in a pessimistic view, often unable to make good common decisions. 3. In a pessimistic view closely related to the economic change was a cultural change: the end of the optimistic view of a future with continuously rising incomes and living standards, a continuous improvement through urban planning and  a continuous decline in sicknesses due to progress in medical research. The grand visions of the future presented by futurology, the new scientific discipline, became less accepted. Scepticism about economic and social prospects increased, expressed in a radical way by the slogan ›no future‹. In this context postmodernism, starting at the end of the 1970s, is often criticized in the dark view because of its exclusive focus on crisis, on chaos, on contingency, and on the misjudgements and errors of enlightenment and rationality. The rise of pop art in the 1970s is also seen as negative because of its forced proximity to trivial mass consumption and publicity, and because of its rejection of classic optimist aesthetics. Literary critics such as Marcel Reich-Ranicki deplore the obvious lack of programmatic groups of writers in the 1970s. In history and the social sciences the 1970s brought new concepts mainly from cultural sciences and philosophy, replacing social science concepts such as modernization, which is seen as a deplorable trend by the dark view, disregarding the arrival of new topics such as gender, consumption, work, intellectuals, elites, and disregarding new approaches such as international comparison. What is more, the positive image of the United States as the harbinger of modernity, democracy and high living standards changed substantially. The Vietnam War and the impeachment of the American President made it more negative. There were fears of American cultural predominance in Europe, reinforced by the new dominant position of American film in Europe, the seemingly influential role of American fast food in European food culture, and also the rise of the PC which was often seen as part of the American culture. The agreements in diplomatic relations between Western Europe and the US government became less easy, and the American Secretary of State called the year 1973, originally planned as the year of Europe in the USA, ›the year that never was‹. 4. In the dark view the 1970s were also disillusionment because they marked the end of the golden years of the welfare state in a dual sense. From the 1970s onwards the welfare consensus disappeared and scepticism became more important in the public debate on social security state, but also on urban planning, on the health service and on education. Criticism came from various political quarters: from the neo-liberal side because of the high costs of the welfare state and the threat to individual initiative; from the new social movements because of the immobile social bureaucracies and the overly exclusive coalition between state, big business and the big trade unions; and finally also from the supporters of the welfare state because of its apparent inadequacies, especially for the new poor, also for women who did not work outside the household, and for people in the fourth age. In addition, the nature of welfare reforms also tended to change. Reforms increasingly did not extend welfare services and payments, but were 174

aimed at reducing costs, increasing efficiency and encouraging self-help. This was not  a sudden and brutal change, but  a gradual transition, brought about mainly by the less affluent public budgets. This happened in social security, in health, in education, and in urban planning. 5. A further disillusionment was the decline in the governability of the European democracies parallel to  a decline in the legitimacy of the Eastern European regimes. Governability declined not only because of the economic difficulties just mentioned. The decline was also related to the shrinking of the Christian Democratic, Conservative, and Social Democratic electorate, the rise of the one-issue-parties and new social movements, to the new volatility of voters. Some historians argue that the problems of governability, along with the new political violence, led to particularly rigid divisions in political culture during the 1970s with less chances of governing by compromise and broad consensus. These rigid differences between left and right could be observed in many spheres: in foreign policy, in domestic security policies, in education, welfare and health policies, even in consumption, in music and restaurants, in clothing and haircuts, in raising families. 6. One might add  a different disillusionment: During the 1970s belief in secularization as part of modernization became less sure. The role of religion and the churches also changed, with religion regaining some of its importance. To be sure, the most spectacular event was outside Europe, the mullah revolution in Iran, which was a mysterious sort of revolution for many Europeans, so different from normal European revolutions. But it was clear that the importance of religion was growing not only in the Near East, but also in Europe. The election of Pope John Paul II in 1978 was  a sign of things to come. I remember very well Fernand Braudel, who was clearly a laicist French historian, foretold in his seminar in 1978 that religion would become a major future topic in politics and therefore also in history. If this forecast had been given by a British or German historian, nobody would remember. But in France, with its strong laicist values, it was an indicator of change. 7. The 1970s were also a disappointment after some hope in three important spheres of international relations: in European integration, in détente during the Cold War, and in the Euro-American relationship. All projects of European integration during the years of hope at the beginning of the 1970s either failed or did not meet expectations. The project of a European currency and economic union, the Werner Plan of 1973, a response to the end of Bretton Woods, failed because of the enormous contrasts in budgetary and currency policies between the member states. The project of the Political Union, presented by the Tindemans report of 1974, also did not meet expectation, because the decision by the heads of governments of the member states was limited to a few actions such as the direct election of the European Parliament and the painful coordination of the foreign policy of the member states. One success was the enlargement of the European Economic Community, through the inclusion of Britain, Denmark, and Ireland, in 1973. However, it was a long time before the conflict with Britain 175

over the budget question was resolved. Détente in the Cold War during the 1970s seemed to proceed well with negotiations between the USA and the USSR on disarmament, especially of nuclear weapons, and also in the negotiations of the Helsinki Agreement of 1977. The West German government’s Ostpolitik also seemed to have reached its goals. However, at the end of the 1970s the Cold War returned with the USSR’s invasion of Afghanistan and the rearmament policies of NATO and the Warsaw Pact. Connected with the dark view is the idea, that the 1950s and 1960s were a glorious period: part of the trente glorieuses, as the French economist Jean Fourastié called it, the Wirtschaftswunder or miracolo economico as it was called at the time in Germany and Italy, the golden age in the words of Eric Hobsbawm, who was referring to both Western and Eastern Europe. It is important that these notions are used only by historians of Europe. Notions with a similar meaning cannot be found in works in the USA, or Latin America or China or India or Africa. They do have golden ages, but not in the 1950s and 1960s. The period of the 1950s and 1960s is seen as bright for several reasons: the continuous high growth, almost Chinese growth in our eyes to-day; the enormous rise in real wages, which in 1975 were about four times as high as in 1950 in France, three times in Germany and Sweden, more than twice as high in Britain and Italy; the huge increase in public budgets, which in 1975 were between ten and twenty times as high as in 1950 in nominal terms; the golden age of the welfare state, of city and highway planning, of improved health services, of educational expansion; belief in the continuous progress of mankind through planning and state intervention, in both Western and Communist variants, and finally also the advancement in international co-operation instead of war, increased European economic integration, but also transatlantic integration in the military sense of NATO, and indeed in the economic sense through the World Bank and the GATT negotiations; in other words the pax americana, and for Eastern Europeans, the guarantee of peace by the Soviet bloc. Often connected with the dark view is a pessimist view of the period since the 1980s as a consequence of the 1970s, the continuous increase in unemployment and poverty, the stagnation of real income and living standards, the rising inequality of incomes, and difficulties in entering the labour market for young graduates on all levels, including members of the middle classes. Dark in this view were not only the 1970s, but also the period since.

II. The Bright View of the 1970s There is also  a bright view of the 1970s. This contrasting view is also not homogeneous. Here are the main arguments: 1. The 1970s are seen, firstly, as a reinforcement of democracy. Some historians even call it the second democratization of Europe. It happened, however, in 176

different ways for different regions of Europe. In Western Europe, the 1970s were the golden age of the new social movements, the new women’s movement, the regional movement (which started in the 1960s), the environmental movement, the human rights’ movement, the Third World movement and finally also the peace movement. These movements were different in geography, methods, supporters, and goals, but they all led to new ways of participation for the citizens in Europe and hence to more democracy. In Southern Europe the right-wing authoritarian regimes were transformed into Western democracies, mainly by domestic forces and men, also with help from other European countries, but without military intervention from outside. The Franco regime, the Salazar regime, and the Greek dictatorship of the military generals came to an end. The heavy burden of dictatorships in the Western part of Europe was gone. European democracy became  a more powerful model. In the Eastern part of Europe new circles of dissidents emerged who were in fundamental opposition to the regime and who did not share the Communist principles. Especially in Poland the so-called KOR group opposition emerged, as well as Charta 77 in Czechoslovakia. The milieus of artists in Central Eastern Europe often tried to become more autonomous because of their fundamental disillusionment with the Communist regimes. Beyond the small groups of explicit opposition, confidence in the regimes generally declined. This is why Adam Mishnik, former dissident and now liberal newspaper editor in Poland, believes that 1989 started in the 1970s. 2. The second argument of the bright view of the 1970s is economic liberalization and thus the mobilization of economic potentials. Liberalization was introduced, on the one hand, at the international level with the end of Bretton Woods, that is, with the end of fixed exchange rates that were only changed in conflicts and difficult negotiations between governments. The new free floating of currencies, which was strongly advocated by the neo-liberal economists of the Mount Pèlerin Society around Friedrich von Hayek, reflected more directly the changing economic strengths and weaknesses of the nations. It also gave more responsibility to the Europeans and the Japanese for the global currency system, rather than giving sole responsibility to the government of the USA. At the same time the 1970s were also a period of greater liberalization in domestic economic policies. The fight against inflation of up to 25 % by means of greater public budget discipline was successful. The rising influence of monetarists and neo-liberals in public debates, in government policies, especially in Britain, and the rise of private media paved the way for deregulation, while de facto deregulation only emerged from the 1980s onwards in public enterprises, in public services, in welfare services, and in urban planning. 3. As  a consequence, the optimism of the trente glorieuses, regarded as naïve, was gradually replaced by a sceptical pragmatism, which could see more clearly the negative side of the trente glorieuses, to which we will return in a moment. Planning became a routine operation rather than an exciting political adventure. The collective benefits, very much at the centre of earlier visions in 177

East and West, were replaced by a stronger sensitivity to individual situations and liberties. Power came back as a topic instead of grand visions with power left out. Contingencies were taken as seriously as general social rules. Futurology lost much of its impact. 4. The bright view regards the 1970s as a transition towards more social and cultural options for the individual. The conformism of the period before was gradually given up. Let me give two examples, one from family history and another from the history of social classes. The former predominant standard European family model with the mother as housewife and the father as breadwinner gave way to a variety of family models: besides the former main model the model with both parents active as breadwinners, the stable family with no formal marriage, the single-parent family, the patch-work family, and the couple choosing not to have children, also new models of family life with more equal roles for men and women. The former predominant conformist class consumption dissolved and gave way to an individual mix of consumption styles combining upper class and lower class elements: football with wine, jeans with pearl necklaces, pizza with playing golf. The pressures towards conformism of the period before gave way to new pluralities of individual lifestyles. The individualization process started in the 1970s. So did the sociological theory of individualization. 5. International relations were not dominated by failure as much as the pessimistic view believes. The new upswing in European integration in the early 1970s, which failed, was still important in setting the expectations for the future by the three general goals mentioned before. From the 1970s onward European integration was only accepted by its supporters if first the European currency and the economic policy, and secondly the political unity of the European Union advanced, and also if thirdly the European Union were enlarged to include, if desired, the other parts of the Europe. Substantial parts of these three goals were reached in the next quarter of a century in the spirit of the early 1970s, though the common European economic policy and European political union are still on the agenda. The same is true of détente. Even if détente seemed to have failed in the short run with the return of the Cold War at the end of the 1970s, the Helsinki Agreement had important long-term consequences, since the hope for human rights in Eastern Europe was encouraged. In part, the return to democracy in Eastern Europe was the result of détente and the new human rights policy of the 1970s. Moreover, the image of the USA in Europe was not simply a story of decline. At the same time political and cultural bonds intensified because of the new international social movements, because of the rising interconnectedness of scientific research, and because of the growing impact of the American film in Europe which provoked crucial debates, for instance on the film Holocaust. The response to the introduction of the PC in Europe was not only negative; it also became an essential part of life for younger Europeans. This bright view of the 1970s, which is also not homogeneous and includes Eastern and Western views, left and right-wing arguments, is often connected 178

with a more sceptical view of the 1950s and 1960s and a greater awareness of the shortcomings of this period: the ›limits of growth‹; the waste of energy; the threat to the environment; the shortcomings of the welfare state for the new poor, for immigrants, for housewives, and for the fourth age; the mis-planning and shortcomings of health services, of urban planning and of mass education; the lack of feeling for costs and efficiency, but also the lack of interest in badly organized social groups. The 1970s are seen as having positive developments in all these spheres.

III. Conclusion Let me finish with  a long conclusion by asking how important, how special, how European this turning point of the 1970s was, and whether it represented disillusionment or promise. 1. The 1970s were undoubtedly an important turning point in terms of the reduced rates of growth and rising unemployment; the farewell to Keynesian policies and the arrival of neo-liberal approaches; the beginnings of deregulation in the media; rising inequality; new social movements and the decline of classical trade unions; new options in family life and in consumption;  a new understanding of immigration to Europe as permanent; a different Americanization of consumption manifested in burger restaurants, mass movies and the new PC; new views of the future in high culture, in popular culture, as well as in the human sciences; a return of religion; a new attempt at détente and the new role of human rights in international relations;  a new approach in European integration; a new test of the governability of Western European democracies. Most of these tendencies persist until the present. This is why many writers take the turning point of the 1970s as an element for the organization of their books: Eric Hobsbawm as well Harold James, Tony Judt as well Marc Mazower. 2. The turning point of the 1970s has a very special, even unique character in 20th century history: it was not a turning point imposed by revolutions or by wars or by the breakdown of empires such as in 1918, 1945, 1989, but by rapid economic changes and by cultural upheavals. It was  a ›silent revolution‹, an upheaval beyond spectacular political events, a soft turning point. In some ways this turning point is an alternative to 1989. During the 1970s the centre of change was in Western Europe with strong effects in Eastern Europe. In 1989 the centre of change was in Central and Eastern Europe with strong effects in Western Europe. The turning point of the 1970s shows up in historiography, but it is not remembered in memorial days. It is rarely the topic of speeches by politicians. There is no single photo that can be seen as the most telling one for the 1970s. It is also difficult to find eyewitnesses for the 1970s as a major general turning point. I personally did not understand the 1970s at that time. To be sure, social scientists and perhaps even some historians were aware of the fundamental 179

change. But they could not find a comprehensive term which would grasp the turn in all its dimensions. By contrast, in 1989 everybody was aware of a dramatic turning point. 1989 is at the centre of commemorative events, of speeches by politicians and historians. There are some photos which are usually taken as symbols of 1989, especially the one with young adults standing on the wall around the Brandenburg Gate. Eyewitnesses for 1989 are constantly interviewed on TV. To be sure, a contrast exists between a bright and a dark view of 1989 similar to that of the 1970s. These views sometimes even cover similar developments. But it seems to me that the bright view clearly predominates for 1989, though perhaps less clearly in the Eastern part of Europe because of the economic upheaval thereafter. 3. The 1970s were in fact  a European turning point. It was  a specifically European turning point, since it was more distinct in Europe than elsewhere in the world. The economic turning point was to a large extent more brutal in Europe, since the rate of economic growth before had been far higher in Europe than elsewhere, with the exception of Japan. The other element of the economic turn, the breakdown of the Bretton Woods system, was admittedly a Western rather than a European event. However, it affected the countries of Europe in a special way. It was a push towards more European responsibility for international currency policies. This responsibility was much more difficult for Europe as a whole than for Japan, because the hugely contrasting national economic policies in Western Europe were a major obstacles for a new European currency system. The cultural upheaval was also a special European turn, since the rise of the so-called post-materialistic values had been more distinct in Western Europe than in most other parts of the world, and so the move towards more materialistic values, due to the economic difficulties, was also more distinct in Europe. The much more difficult question: Is it in fact a turning point for the whole of Europe or does it exclude the Eastern part of Europe, the Southern part and also Britain? Is this a regional rather than a European turning point? To put it another way: is it only a Rhenish turning point from the Rhenish model to the Rhenish sickness, a European history through Rhenish eyes? I shall start with the Eastern part of Europe. Here, in fact, the 1970s were also a turning point. The economic dynamics also slowed down. However, this did not yet manifest itself in a slowdown of growth rates, but in a rising scarcity of consumer goods and in increased international debt. The cultural upheaval was also distinct, but in a different way. The Communist regimes started to lose their attractiveness. Not only did more Western visitors return disappointed from the USSR. More importantly, the opposition in Eastern Europe started to change, as has already been mentioned. In Southern Europe the 1970s were also a time of upheaval, but in a different sense. In Spain, Portugal and Greece this was a return of democracy, in many ways also modernization of the economies and the societies, above all a definite opening towards the West, which was previously limited to the elites, to migrants and to the tourism economy. These two 1970s, the Western European one and 180

the Southern European one, are not two totally independent turning points, but are connected by the increasing economic difficulties, by détente, by the growing attractiveness of European integration, by the new social movements, and by political interconnections, which contributed to the fall of dictatorships in Southern Europe. At first glance, Britain was different. Economic growth was reduced to a far lesser extent, since wealthy Britain was far less involved in the earlier trente glorieuses, a glorious period for the impoverished continental European countries. But Britain played an important role in the 1970s in various ways. It was not only important for the popular music and life-style of that decade. It also took part in the new social movements, perhaps more so than in the student movement of the late 1960s. Britain was especially important for the change in European economic policies, for the decline of Keynesianism and the rise of monetarism, and deregulation. Hence Britain provided an important momentum for the 1970s in Europe. 4. Were the 1970s in the end a period of disillusionment or promise? They were a strong disillusionment in two respects: they shattered the hope of permanently strong economic growth with a continuous rise in salaries and public budgets, with continuous full employment, and the expectation of a continuous expansion of welfare and health services and continuous improvement of the housing situation by urban planning. In three other respects, however, the 1970s did not represent disillusionment: political violence did not persist and, what was very important, the governments did not overreact and did not substantially reduce civil liberties. European integration did not constantly fall short of the aims of the early 1970s and the period of détente did not simply end, but had long-term effects. Were the 1970s a period of promise? They were not a period of new promises in the sense of grand visions, but a positive turn in three respects: a period of reinforcement of democracy, almost as important as 1945 and 1989; a period of a new pragmatism and efficiency instead of grand visions of a new society in international relations as well as in domestic policies, and also a period of more options for the individual. Hence in the end, promises prevail.

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10. Die Gesellschaften der Europäischen Union: Zusammenwachsen und Auseinanderfallen, 1957–2017

Im sechzigsten Jahr der Unterzeichnung der Römischen Verträge stecken die europäische Gesellschaften in einem tiefen Widerspruch. Sie erlebten einerseits Jahrzehnte des Zusammenwachsens und der Verflechtung der nationalen Gesellschaften, wie man sie sich bei der Vertragsunterzeichnung 1957 kaum vorstellen konnte. Andererseits frisst sich eine jahrelange, tiefe, wirtschaftliche und politische Krise der europäischen Integration in die europäischen Gesellschaften hinein und bedroht das Zusammenwachsen. Der Artikel zieht deshalb eine doppelte Bilanz: Er resümiert zuerst die Jahrzehnte des Zusammenwachsens und fasst dann zusammen, was an gesellschaftlicher Spaltung durch die Finanz- und Eurokrise ausgelöst wurde. Am Ende wird eine Antwort auf Frage gesucht, was mehr wirkte, sechzig Jahre gesellschaftlichen Zusammenwachsens oder mehrere Jahre gesellschaftlicher Spaltung. Der Artikel konzentriert sich dabei auf die schwere Finanz- und Eurokrise 2009–2012, da sich die gesellschaftlichen Folgen der alljüngsten Krisen, der Flüchtlingskrise 2015/2016 und Brexit-Entscheidung 2016 noch nicht genügend abschätzen lassen.

I. Das Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaften Wie stark wuchsen die europäischen Gesellschaften seit den 1950er Jahren wirklich zusammen und wo liegen die Grenzen? Die Antwort hängt stark von unserem Blick auf die europäischen Gesellschaften ab. Es gibt keine umfassenden Theorien oder auch nur einen festen Konsens darüber, wie dieses Zusammenwachsen aussehen sollte. Aber in den gegenwärtigen politischen Debatten werden vor allem vier Aspekte angesprochen: gesellschaftliche Verflechtungen; wirtschaftliche und gesellschaftliche Konvergenz; die Herausbildung gemeinsamer Werte und das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union. Auch wenn Mängel im Zusammenwachsen angeprangert werden, dann geht es meist um zu große Unterschiede, um zu geringe Verflechtung, um zu gegensätzliche Werte und um zerrüttetes Vertrauen der Bürger in die Europäische Union. Der Kommissar Pierre Moscovici sprach 2017 durchaus für die ganze Europäische Kommission, als er die Krise der Europäischen Union vor allem in den wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern, im antieuropäischen Populismus, in der Enttäuschung der Bürger über die Europäische Union und in 185

der technokratischen Distanz der europäischen Institutionen sah.1 Er sieht damit aus guten Gründen die gesellschaftliche Fehlentwicklung der Europäischen Union als einen Kern ihrer jüngsten Krise. Gerade in der heutigen, ambivalenten Situation sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Geschichte des gesellschaftlichen Zusammenwachsens der Europäischen Union aus zwei Gründen kein kontinuierlicher, pflanzenhafter Prozess war, sondern in Schüben und Krisen ablief. Einerseits forderte fast jede Erweiterung der Europäischen Union das gesellschaftliche Zusammenwachsen neu heraus. Drei Entscheidungen warfen besonders harte gesellschaftliche Herausforderungen auf. Man vergisst leicht, dass schon die Römischen Verträge 1957 gesellschaftlich sehr unterschiedliche Länder zusammenbrachten: das Agrarland Italien, das sich immer noch ländlich verstehende Frankreich mit seinen agrarischen Kolonien, dagegen die Industrieländer Belgien, die Bundesrepublik, Luxemburg und das Dienstleistungsland Niederlande. Die nächste Herausforderung an das Zusammenwachsen war die Süderweiterung der 1980er Jahre, die Aufnahme der in Diktaturen geschädigten Länder Spanien, Portugal und Griechenland. Die dritte Herausforderung war die Osterweiterung 2004/2007, die viele neue Mitgliedsländer nicht nur mit ganz anderen politischen Erinnerungen und Erwartungen, sondern auch mit ganz anderen Gesellschaften in die Europäische Union brachte, auch wenn sie zum Zeitpunkt des Beitritts die schwierige Transition von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft meist schon bewältigt hatten. Alle dreißig Jahre veränderte sich auf diese Weise der geographische Rahmen des Zusammenwachsens. Darüber hinaus geriet das Zusammenwachsen der Europäischen Union auch in Wirtschaftskrisen ins Stocken. In der besonders schweren Krise der 1970er Jahre schlugen die gesellschaftlichen Konvergenzen in Divergenzen um. Dieser Artikel konzentriert sich auf die gesellschaftlichen Folgen der Finanz- und Eurokrise 2009–2012. Es lässt sich auch nicht übersehen, dass das gesellschaftliche Zusammenwachsen ungleich war. Es war geographisch ungleich. Einige Länder waren enger mit Europa verflochten als andere, Belgien mehr als Ungarn. Noch wichtiger ist, dass die einzelnen Unionsbürger sehr unterschiedlich international verflochten wurden und sie die zunehmende europäische Verflechtung teils als eine unverzichtbare Chance, teils als eine Bedrohung auffassten. Dadurch entstanden tiefgehende Spaltungen der europäischen Gesellschaften, die sich nicht nur in antieuropäischen Parteien im Europaparlament und in nationalen Parlamenten, sondern auch in heftigen politischen Auseinandersetzungen vor den oft knapp ausgehenden Referenden niederschlugen. Am spektakulärsten waren Frankreichs knapp ausgehendes Referendum über den europäischen Verfassungs­ vertrag 2005 und das fast ebenso knapp ausgehende britische Brexit-­Referendum 2016.

1 P. Moscovici, Le Monde, 25.02.2017

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Trotzdem wuchsen die Gesellschaften der Mitgliedsländer der Europäischen Union und auch Europas als Ganzem in den vergangenen sechs Jahrzehnten zusammen. Das gilt für alle zuvor erwähnten Dimensionen, an die man bei ge­sellschaftlichem Zusammenwachsen Europas meist denkt. Auf jede dieser Dimensionen kann nur kurz eingegangen werden. Andere Dimensionen, die Sozialwissenschaftlern, Ethnologen, Ökonomen, Juristen und Historiker ansprechen, können nur gestreift werden.2 Die sichtbarste Seite des Zusammenwachsens war die Verflechtung der europäischen Gesellschaften. Sie ist gleichzeitig als Ganzes auch besonders wenig untersucht worden. Nur wenige Soziologen wie Steffen Mau und wenige Historiker wie Andreas Wirsching haben dieses Thema nicht nur angesprochen, sondern sich auch den Mühen der empirischen Untersuchung unterworfen. Die europäischen Gesellschaften verflochten sich in vielfacher Weise: Das aktive Kennlernen anderer europäischer Gesellschaften durch Schüleraufenthalte und Auslandsstudium, durch Migration, durch Ferienreisen, durch Arbeitsaufenthalte und internationale Karrieren, durch internationale Heiraten, durch Städte- und Dorfpartnerschaften, durch Alterssitze im Ausland nahm in den vergangenen Jahrzehnten, vor allem seit den 1990er Jahren massiv zu. Man hätte sich in den 1950er Jahren nicht vorstellen können, wie viele Europäer an anderen europäischen Universitäten studieren, wie viele Europäer anderswohin nach Europa migrieren, wie viele in Ferien oder beruflich in andere Länder Europas reisen, wie leicht man mit anderen europäischen Ländern kommunizieren und wie intensiv der Austausch in europäischen Städte- und Dorfpartnerschaften werden würde. Aber auch das passive, weniger intensive Kennlernen anderer europäischer Länder im eigenen Land durch importierte Konsumgüter wie Nahrungsmittel, Spielsachen, Kleider, Möbel, Autos, durch Restaurants und Imbisse, durch Filme, Bücher, Schallplatten und CDs, durch andere europäische

2 Vgl. als Überblicke mit europäischen Gesellschaften im Blick: S. Mau u. R. Verwiebe, Die Sozialstruktur Europas, Konstanz 2009; S. Immerfall u. G.  Therborn (Hg.), Handbook of European societies, Berlin 2008; M.  Heidenreich (Hg.), Krise der europäischen Vergesellschaftung, Wiesbaden 2014; G. Schuppert u. a. (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005; T. Risse, A Community of Europeans?: Transnational Identities and Public Spheres, Ithaca 2010; M. Jachtenfuchs u. B. Kohler-Koch (Hg.), Europäische Integration, Wiesbaden 20062; P. Verley, Convergence and divergence, in: Palgrave dictionary of transnational history, London 2013, S. 208–215; G. Thiemeyer, Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Stuttgart 2010; C.  Shore, Building Europe. The cultural politics of European integration, London u. New York 2000; A. Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; M. Schulze Wessel, Konvergenzen und Divergenzen in der europäischen Geschichte seit dem Prager Frühling, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017), S. 92–109; E. Francois u. T. Serrier (Hg.), Les lieux de mémoire européens, 3 Bde., Paris 2017; B. Tomka, A social history of 20th century Europe, Milton Park 2013; C.  Charle u. D.  Roche (Hg.), L’Europe. Encyclopédie historique, Arles 2018; H. ­Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007.

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Radio- und Fernsehsender, auch durch Besucher und Zuwanderer aus anderen europäischen Ländern, nahm stark zu.3 Es wird oft argumentiert, dass die Verflechtung in der Europäischen Union weit hinter den USA zurückbleibe. Man macht das meist an der inneren Migration fest und behauptet, dass die Migration zwischen den amerikanischen Bundesstaaten sich um Welten von der Migration zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union unterscheide. Tatsächlich kamen in den USA um die Jahrhundertwende jährlich etwas über 3 Millionen der Amerikaner aus anderen Bundesstaaten der USA. Diese Zuwanderung in die Bundestaaten war zwei- bis dreifach so hoch wie die Zuwanderung in der EU aus anderen Mitgliedsstaaten 2014 (also nach der Finanzkrise).4 Das ist ein deutlicher, aber kein fundamentaler Unterschied in der amerikanischen und europäischen Verflechtung vor allem, wenn man bedenkt, dass die Grenzen zwischen den amerikanischen Bundesstaaten schon seit über zweihundert Jahren offen sind, die Grenzen zwischen den europäischen Staaten dagegen erst seit rund zwanzig Jahren und außerdem die USA fast doppelt so viele Bundestaaten hat wie die EU Mitgliedsstaaten und auch deshalb viel mehr Migration erfasst. Der Abstand zu den USA wäre zudem geringer, wenn man die Zuwanderung aus europäischen Nichtmitgliedsländern der EU, vor allem aus der Schweiz, aus Norwegen und aus der Türkei mitberücksichtigte. Auch die Konvergenzen zwischen den europäischen Gesellschaften verstärkten sich seit den 1950er Jahren. Die großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union wurden abgemildert. Nicht nur die Unterschiede in der Wirtschaftsleistung wurden im Binnenmarkt abgesenkt. Auch zentrale gesellschaftliche Unterschiede wurden weniger scharf. Die Verschiedenheiten in der Arbeit, in der Arbeitslosigkeit, im Ausbildungsniveau, in den Leistungen des Wohlfahrtsstaats, in der Verstädterung, im Konsum, in der sozialen Ungleichheit und sogar in der Familie, in den Heiraten, den Geburtenraten und Lebenserwartungen gingen deutlich zurück, auch wenn sich die europäischen Gesellschaften sicher nicht völlig anglichen. Diese gesellschaftlichen Konvergenzen fanden sich vor allem in den Resultaten, also in der Erwerbstruktur, im Ausbildungsniveau, in den Leistungen des Wohlfahrtsstaats, in der Versorgung mit Wohnungen, in Geburten3 Vgl. S. Mau u. S. Büttner, Horizontale Europäisierung und europäische Integration, in: M. Eigmüller u. S. Mau (Hg.), Gesellschaftstheorie und Europapolitik. Sozialwissenschaftliche Ansätze zur Europaforschung, Wiesbaden 2010, S. 274–320; S. Mau u. S. Büttner, Transnationality, in: Immerfall u. Therborn, Handbook of European societies; S. Mau, Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten. Frankfurt / Main u. New York 2007; Wirsching, Der Preis der Freiheit, S. 269–307; H. ­Kaelble, Eine europäische Gesellschaft?, in: Schuppert u. a., Europawissenschaft, S. 304–308. 4 R. S. Franklin, Domestic Migration Across Regions, Divisions, and States: 1995 to 2000, issued 2003, https://www.census.gov/prod/2003pubs/censr-7.pdf. Der zeitlich versetzte Vergleich zwischen USA und EU ist nötig, da für die USA zu 2014 noch keine Daten erschlossen werden konnten und Eurostat zur EU für die Zeit um 2000 keine Daten bietet.

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raten und der Lebenserwartung, während die Institutionen, die Unternehmen, die Schulen und Universitäten, die Sozialstaaten, die Wohnungspolitik und die Familienpolitik unterschiedlich blieben.5 Diese Konvergenz hielt mit den geographischen Erweiterungen in der europäischen Integration durchaus Schritt. Die wirtschaftlichen Abstände milderten sich ab. Nicht nur zwischen den Gründungsmitgliedern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurden die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unterschiede abgemildert, mit Italien als dem spektakulärsten Beispiel des erfolgreichen Aufholens. Auch Spanien, Portugal und Griechenland, bauten nach ihrem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft in den 1980er Jahren ein gutes Stück der belastenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abstände ab. Schließlich gelang dieses Zusammenwachsen auch mit den ostmitteleuropäischen Ländern und in geringerem Ausmaß auch mit den osteuropäischen Ländern Bulgarien und Rumänien. Auch sie reduzierten die großen wirtschaft­lichen und gesellschaftlichen Rückstände gegenüber den älteren Mitgliedsländern ein ganzes Stück weit, obwohl sie dafür vor der Finanzkrise nur wenige Jahre hatten. Bis zur Eurokrise 2010–2012 erwies sich daher die Europäische Union im Ganzen als Erfolgsmodell zum Abbau der von gesellschaftlicher Rückständigkeit in Europa. Diese Konvergenz entwickelte sich in einem günstigen globalen Kontext. Der Abbau der wirtschaftlichen und sozialen Disparitäten und das Aufholen ärmerer Gesellschaften gehört global zu einer der bedeutsamsten Entwicklungen seit den 1980er Jahren. Auch in den Werten hatten sich bis 2008, also direkt vor der Finanz- und Eurokrise, die europäischen Gesellschaften stark angenähert. Die entscheidende und weitgehendste Annäherung fand in den liberalen Werten der Menschenrechte, der Friedenssicherung und des Schutzes des menschlichen Lebens statt. In fast allen Mitgliedsländern der Europäischen Union sahen die Bürger sie als die wichtigsten europäischen Werte an. Das war kein selbstverständlicher Konsens. Die damals nicht lange zurückliegenden Diktaturen in Griechenland, Spanien, Portugal und im östlichen Europa, aber auch die schon länger beseitigten Diktaturen in Deutschland und Italien hätten stärker nachwirken können. Entscheidend war, dass in fast allen Mitgliedsländern zudem eine Mehrheit der Meinung war, die Europäer seien sich in diesen Werten nahegekommen. Diese Gemeinsamkeit der Werte war also nicht nur eine Feststellung sozialwissen5 Vgl. Wirsching, Der Preis der Freiheit, S. 269–307; Ph. Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; M. Heidenreich, Die Europäisierung sozialer Ungleichheiten zwischen nationale Solidarität, europäischer Koordinierung und globalem Wettbewerb, in: M. Heidenreich (Hg.), Die Europäisierung sozialer Ungleichheit, Frankfurt 2006, S. 24 ff.; V. Kaitila, Transnational Income Convergence and National Income Disparity: Europe, 1960–2012, in: Journal of Economic Integration 29 (2014), S. 343–371; ­Kaelble, Sozialgeschichte Europas, S. 415 ff.; ders., Eine europäische Gesellschaft?, in: Schuppert u. a., Europawissenschaft, S. 302 ff.; gleichartige »Basisinstitutionen« mit unterschiedlichen »institutionellen Arrangements«: Mau u. Verwiebe, Die Sozialstruktur Europas, S. 53 ff., 62 ff.

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schaftlicher Forschung. Die Europäer sahen selbst diese Gemeinsamkeit. Direkt vor der Krise wurde dieses Bewusstsein der Gemeinsamkeit sogar noch stärker geworden. Noch 2006 sahen nur 48 % der Europäer in der Europäische Union diese Gemeinsamkeit der Werte, 2008 sogar eine knappe Mehrheit von 54 %.6 Auch der Wert der Solidarität mit anderen europäischen Gesellschaften wurde breit vertreten.7 Die Vorstellung von einer Wertegemeinsamkeit hing vermutlich auch mit der damaligen politischen Situation zusammen, mit der erfolgreichen Übereinkunft im Vertrag von Lissabon nach der Ablehnung des europäischen Verfassungsvertrags 2005 in Frankreich und den Niederlanden. Allerdings bestand dieser Konsens nicht in allen Werten. Solche Gemeinsamkeiten gab es zwar, wie die Europäische Wertestudie zeigt, auch in vielen Familien-, Arbeits- und Erziehungswerten, auf die nicht näher eingegangen werden kann. Dagegen lagen die Europäer besonders in drei Werten, die später in der Krise politisch stärker in den Vordergrund treten sollten, weit auseinander: In den religiösen Werten, in der Bindung an die Nation und in der damit zusammenhängenden Bewertung von Immigration. Schon in den 1980er und 1990er Jahren lagen die religiösen Werte in den damaligen und zukünftigen Mitgliedsländern weit auseinander. In Polen, Österreich, Spanien, Portugal, Irland war die Religiosität noch sehr stark. In Schweden, in der DDR, in Tschechien und in Bulgarien hielt dagegen an solchen religiösen Werten nur noch in eine Minderheit der Bevölkerung fest. Nationalstolz wurde in Großbritannien und Österreich noch von der Hälfte der Bevölkerung, in Griechenland, Polen und Irland sogar von zwei Drittel oder mehr empfunden, in den Niederlanden, Deutschland und in Ungarn nur höchstens von einem Viertel der Bevölkerung. Gegenüber der Immigration gingen Vorbehalte zwar immer mehr zurück, aber sie waren je nach Land doch sehr unterschiedlich. Alle diese Disparitäten der Werte folgten freilich weder den Nord-Süd-Unterschieden, noch den Ost-West-Trennlinien des Kalten Kriegs. Auf jeden Fall war Europa nicht durchweg der säkularisierte, postnationale und weltoffene Kontinent, für den es manche zeitgenössischen Beobachter hielten, sondern in wichtigen Werten eher noch uneinig, freilich auch nicht uneiniger als heutige Großgesellschaften wie die USA.8 Nur waren Religion, Nation und Immigration, in denen sich die Werte der Unionsbürger unterschieden, vor der Finanz- und Eurokrise selten kontroverse Themen der europäischen Politik. Was damals in der Politik zählte, waren vor allem 6 Eurobarometer Nr. 69, Spring 2008, S. 6. 7 J. Gerhards u. H. Lengfeld, Wir, ein europäisches Volk. Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischer Bürger, Wiesbaden 2013. 8 Vgl. H. Joas u. K. Wiegandt (Hg.), die kulturellen Werte Europas, Frankfurt 2005; J. Gerhards, Kulturelle Unterschiede in der Europäischen Union. Ein Vergleich zwischen Mitgliedsländern, Beitrittskandidaten und der Türkei, Wiesbaden 2005; D.  Pollack (Hg.), Religion und gesellschaftliche Differenzierung: Studien zum religiösen Wandel in Europa und den USA III., Tübingen 2016; ­Kaelble, Sozialgeschichte Europas, S. 136 ff.; European Value Study. Official Homepage; S. Ashford, S. u. N. Timms, What Europe Thinks. A Study of European values, Aldershot 1995.

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die Errungenschaft gemeinsamer demokratischer Werte nach dem Ende des Kalten Kriegs. Schließlich war auch die Unterstützung der immer kompetenzstärkeren Europäischen Union durch die Bürger ein wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenwachsens. Die Europäische Union wurde vor der Finanz- und Eurokrise 2009–2012 in fast jedem Mitgliedsland von einer Mehrheit der Bürger unterstützt. Besonders breit war diese Mehrheit in den südlichen Mitgliedsländern, dort besonders in Portugal und Spanien. Aber auch in den neuen Mitgliedsländern Ostmitteleuropas und Osteuropas war sie meist hoch. Die einzigen bedeutenden und dauerhaften Ausnahmen waren aus ganz unterschiedlichen Gründen Großbritannien, in dem die Europagegner oft stärker waren als die Europabefürworter, aber auch in Österreich und Ungarn. Zudem wurde die Unterstützung der Europäischen Union seit dem Fall des Eisernen Vorhangs etwas schwächer als in den 1980er Jahren, als die Unterstützung kontinuierlich bis auf über 70 % um 1990 angestiegen war. Der Rückgang der Unterstützung danach in den 1990er Jahren hatte viel mit der Normalisierung der europäischen Politik zu tun, da die Europäische Union seit dem Maastricht-Vertrag stärker in das Alltagsleben der Bürger eingriff und deshalb unvermeidbar war, dass sie ähnlich wie nationale Regierungen unter den Unionsbürgern stärker auf Kritik stieß. Darüber hinaus wurden aber auch die hochfliegenden Erwartungen der Unionsbürger nach dem Maastricht-Vertrag durch unpopuläre oder auch ausbleibende Entscheidungen der Union enttäuscht. Die Europäische Union wurde trotzdem weiterhin von meist etwas mehr als der Hälfte der Unionsbürger als nützlich und als vertrauenswürdig eingeschätzt. Die Gegner überstiegen selten 15 %. Die Europäische Union erhielt meist auch ein höheres Vertrauen als die nationalen Regierungen.9 Auch deshalb konnte 2007 am fünfzigsten Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge von der Europäische Union als einer außergewöhnlichen Errungenschaft und einem Modell für globale regionale Zusammenschlüsse anderswo in der Welt gesprochen werden. Das Zusammenwachsen hatte sicher auch deutliche Grenzen. Nationen und Regionen blieben ein wichtiger Bezugspunkt der Identität. Starke Unterschiede in bestimmten Werten blieben, wie gesagt, erhalten, vor allem in der Religion, im Nationalbewusstsein, aber auch in manchen familiären und sexualmora­ lischen Themen. Gemeinsame europäische Sozialversicherungen wurden nicht ge­schaffen. Die nationalen Sozialpolitiken beeinflussten sich zwar wechselseitig stark, lernten gezielt viel voneinander, blieben aber national und gingen auch durchaus unterschiedliche Wege. Eine europäische Sozialpolitik entstand nur

9 Vgl. für Langzeitüberblicke und Länderunterschiede: Eurobarometer Nr. 32, Okt. 1989, S. 7 f.; Eurobarometer Nr. 53, Mai 2000, S. 7 f.; Eurobarometer Nr. 70, Okt. / Nov. 2008, S. 138 ff. http://ec.europa.eu/COMMFrontOffice/publicopinion (gesehen 13.2.2017); vgl. H. ­Kaelble, Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt 2019.

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in schmalen Feldern (vgl. Kap. 13).10 Auch Arbeitskonflikte und industrielle Beziehungen blieben sehr verschieden und wurden weiterhin national oder auf Betriebsebene, kaum dagegen europäisch geregelt. Europäische Tarifverträge oder europäische Streiks entstanden nicht, trotz des Aufkommens von europäischen Unternehmen.11 Schließlich baute die europäische Integration auch nicht auf einer europäischen Bewegung von unten auf. Die europäische Integration war – wie in der Regel auch die Nationsbildung – ein von oben durchgesetztes und auch in den Eliten durchaus umstrittenes Projekt. Sie blieb allerdings in den vergangenen Jahrzehnten kein reines Elitenprojekt, sondern wirkte vor allem seit den 1980er Jahren tief in das Alltagsleben der Bürger hinein und bot im Übrigen auch umgekehrt den Bürger umfangreiche politische Einflussmöglichkeiten.12 Das Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaften besaß verschiedene Gründe. Es hatte nur teilweise mit den Entscheidungen der Europäischen Union zu tun, mit der Schaffung des europäischen Binnenmarkts, mit dem Ende der Grenzkontrollen im Schengenraum, mit dem Abbau der horrenden internationalen Gebühren für Telefonate und Banküberweisungen, mit der Einführung des Euro und dem Ende des teuren Geldwechselns, mit der Schaffung eines Studien- und Forschungsraums durch das Erasmusprogramm und durch die europäischen Forschungsprogramme, überhaupt mit der direkten und indirekten Politik der Harmonisierung der Europäischen Union und der Schaffung eines europäischen Rechts. Ausschlaggebend war zudem, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg ein gemeinsames gesellschaftliches Modell der Arbeit, der Familie, des Individuums, der Ausbildung, des Konsums, des Wohlfahrtsstaats und des Abbaus sozialer Ungleichheit in Europa durchsetzte. Es besaß viele nationale Varianten und auch tiefe östliche und westliche Gegensätze, aber doch gleichzeitig so starke gemeinsame Züge, dass sich Europäer des westlichen und östlichen Europa nach 1989 gesellschaftlich relativ rasch verständigen konnten. Ein weiterer, allerdings globaler Grund für das Zusammenwachsen waren technologische und wirtschaftliche Entwicklungen wie das leichtere Reisen durch schnellere Züge und die enorme Verbilligung der Flüge, die leichtere interna10 Vgl. C. Offe, Europa in der Falle, Berlin 2016; M. Eigmüller, Europeanization from below: the influence of individual actors on the EU integration of social policies, in: Journal of European Social Policies 23 (2013), S. 363–378; J.-C. Barbier, La longue marche vers l’Europe sociale, Paris 2015; H. ­Kaelble, Geschichte des sozialen Europa. Erfolge oder verpasste Chancen?, in: G. Metzler u. M. Werner (Hg.), Europe neu besehen / L’Europe revisitée. Geistes- und sozialwissenschaftliche Einblicke / Regards croisés des sciences humaines et sociales, Frankfurt vorauss. 2020 (Wiederabdruck als Kap. 13). 11 Vgl. B. Ebbinghaus u. J. Visser, The societies of Europe. Trade unions in Western Europe since 1945, New York u. London 2000; T. Fetzer, Europäische Strategien deutscher Gewerkschaften in historischer Perspektive, in: M. Knodt u. a. (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft, Wiesbaden 2005; S. 299–318; W.  Kaiser u. B.  Leucht (Hg.), Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem, Wien u. a. 2009; J. Mittag, Gewerkschaften zwischen Europäisierung und Stagnation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 13–14 (2010), S. 40–46. 12 Vgl. ­Kaelble, Der verkannte Bürger.

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tionale Kommunikation durch das Satellitenfernsehen und die Privatisierung von Fernseh- und Rundfunkanstalten, das automatische Telefon und das Fax und dann vor allem die Entstehung des Internet und das rapide Anwachsen des globalen Austauschs von Waren und Dienstleistungen. Schließlich war ein oft übersehener Grund die globale Bildungsinnovation des Lernens von Fremdsprachen nicht mehr nur in schmalen Eliten, sondern in der Mehrheit der Europäer. Das Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaft verlief durchaus parallel zu globalen Verflechtungen und Konvergenzen. Aber es ging darüber hinaus. Besonders dicht verflochten sich die europäischen Gesellschaften untereinander in wichtigen Dimensionen wie dem Auslandsstudium, der Migration, den Geschäftsreisen und den Ferienreisen, den Städte- und Dorfpartnerschaften. Das Zusammenwachsen hatte auch damit zu tun, dass die Gründe für Divergenzen wegfielen: Die enormen Disparitäten, die die Industrialisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Europa (und in der Welt) hervorgerufen hatte, wurde durch die Industrialisierung der europäischen Peripherie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgemildert. In Europa geschah das schon seit den 1960er Jahren, nicht erst seit den 1980er Jahren wie in der Welt als Ganzem. Die enormen Disparitäten, die die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise in Europa ausgelöst hatten, wurden in der langen Friedenszeit seit 1945 ebenfalls langsam abgeschliffen. Die scharfen politischen Gegensätze zwischen Ost und West, die während des Kalten Krieges aufgebaut wurden, gingen allmählich nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und nach der schwierigen Transition der frühen 1990er Jahre zurück.

II. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Finanzkrise 2009–2012 Die wirtschaftliche und politische Krise der Europäischen Union seit 2009 wirkte sich auf das gesellschaftliche Zusammenwachsen der Europäischen Union in vielfacher Hinsicht aus: auf die Verflechtungen zwischen den europäischen Gesellschaften, auf die Konvergenz zwischen ihnen, auf die Werte und auf das Vertrauen der Unionsbürger in die Europäische Union. Der Rechtspopulismus, der sich gegen das Zusammenwachsen stellte, nahm zu. Wie bedrohlich wurden diese gesellschaftlichen Auswirkungen der Krise? Wurden sie wirklich zu einer Gefahr für das gesellschaftliche Zusammenwachsen Europäische Union? Sehen wir uns diese gesellschaftlichen Krisensymptome in der Finanzkrise genauer an.13 13 Vgl. zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Krise: Heidenreich, Krise der europäischen Vergesellschaftung?, S. 31–51; Offe, Europa in der Falle; J. Gerhards u. H. Lengfeld, European Citizenship and Social Integration in the European Union. London New York 2015; H. ­Kaelble, Steckt die Europäische Union in der schwersten Krise seit 1950?, in: G. Stock u. a. (Hg.), Zukunftsort Europa, Berlin 2015, S. 111–120.

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Die wirtschaftliche Konvergenz der weit auseinanderliegenden Wirtschaften der Mitgliedsländer und das wirtschaftliche Aufholen der ärmeren Mitgliedsländer, ein zentrales Ziel der Europäischen Union, kam während der Finanzkrise 2009–2012 in der Europäischen Union zum Stillstand. Die ärmeren Mitgliedsländer holten nicht mehr weiter auf. Für die südlichen Mitgliedstaaten schlug die Konvergenz sogar in Divergenz um. Sie fielen hinter das Wachstum der Wirtschaft der Europäischen Union zurück. Das Bruttosozialprodukt sank in Griechenland kontinuierlich, erholte sich in Spanien, Portugal und Italien in den Krisenjahren nicht. Umgekehrt setzte in einer Reihe von wohlhabenden Ländern, wenn auch nicht überall, das Wirtschaftswachstum rasch wieder ein.14 Daher wurde befürchtet, dass während der Krise die bisherigen Konvergenzen zwischen den Mitgliedsländern in langfristige Divergenzen umschlugen und die Europäische Union ihr Versprechen der Konvergenz und des Aufholens der ärmeren Mitgliedsländer nicht mehr einhalten könne. Ein wesentlicher Bestandteil der Erfolgsgeschichte der Europäischen Union schien damit verloren. Manche Autoren sahen den entscheidenden Grund in der Austeritätspolitik der Europäischen Union, die vor allem auf die südlichen Mitgliedsländer angewandt wurde und deren wirtschaftliche Entwicklung bremste. Andere Forscher suchten die Gründe in den unterschiedlichen Wachstumsblockaden jedes einzelnen südlichen Landes. Die Blockaden in Italien und Griechenland wurden für besonders gravierend gehalten.15 Einige Jahre nach der Eurokrise sieht es allerdings eher nicht nach einem neuen dauerhaften Trend der Auseinanderentwicklung der europäischen Wirtschaften gemessen am Bruttosozialprodukt aus, auch wenn die Krisendivergenzen ein beunruhigender Einbruch waren. Sicher ist der Abstand zur Eurokrise noch zu kurz, um einen Trend sicher festzumachen. Aber man sollte doch zwischen drei Wirkungen der Krise unterscheiden, wobei sich dieser Artikel auf die Unterschiede im Bruttosozialprodukt pro Kopf zwischen ärmeren und wohlhabenderen Mitgliedsländern beschränken muss. Die Krise riss ohne Zweifel neue wirtschaftliche Divergenzen zwischen den wohlhabenden und den südlichen Mitgliedsländern auf. Diese neue Nord-Süd-Divergenz entwickelte sich

14 Alle ärmeren Länder der EU zusammengenommen konnten ihren Abstand zum Durchschnitt des BSP der EU zwischen 2008 und 2012 nur von 56 % auf 59 %, also nicht mehr nennenswert verbessern. Der Abstand der Südländer (unter ihnen auch das wohlhabende Italien) fiel von 78 % auf 72 % ab. Berechnet nach den Angaben von Eurostat http://appsso. eurostat.ec.europa.eu (15.2.2017). 15 Vgl. M. Dauderstädt, Konvergenz in der Krise. Europas gefährdete Integration, FES Internationale Politikanalyse September 2014; H. Goecke, Europa driftet auseinander. Ist dies das Ende der realwirtschaftlichen Konvergenz?, in: Iw-Trends Köln 2013 (aufgerufen 10.2.2017): O. N.  Hishow, Divergenz statt Konvergenz in der Wirtschaft- und Währungsunion? Ein währungstheoretisch begründetes Plädoyer für eine andere Währungsunion, Berlin 2013; A. Filipetti u. A. Peyrache, Is the convergence over? Labour productivity and the technology gap in the EU, in: Journal of Common market Studies 51 (2013), S. 1006–1022.

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allerdings nach der Krise sehr unterschiedlich. Die Divergenzen nahmen für Griechenland und Italien tatsächlich weiter zu. Der Abstand zur Wirtschaftsleistung der Europäischen Union wurde auch nach der Krise immer größer, wobei dies das ärmere Griechenland härter traf als das wohlhabende Italien. Für Spanien und Portugal waren dagegen die Divergenzen nach der Krise beendet. Die wirtschaftlichen Abstände zum europäischen Durchschnitt wurden zwar noch nicht wieder abgebaut, aber auch nicht weiter verschärft.16 Darüber hinaus sind in der Europäischen Union als Ganzer (also einschließlich der ostmittel- und osteuropäischen Mitgliedsländer) während der Krise und nach der Krise keine Divergenzen zwischen allen wohlhabenden und allen ärmeren Mitgliedsländern zu erkennen. Die Krise hatte zur Folge, dass der Rückstand nicht mehr spürbar abgebaut wurde. Während der Krise und seit der Krise ging er nur noch minimal zurück. Die Konvergenz ist praktisch zum Stillstand gekommen. Aber die Europäische Union büßte ihre vorhergehenden Errungenschaften in der Krise nicht völlig ein. Die Krise hat keine dauerhaften, neuen Divergenzen zwischen reicheren und ärmeren Mitgliedsländern ausgelöst.17 Schließlich gibt es auch für die Eurozone, die als Währungszone gegenüber wirtschaftlichen Disparitäten besonders sensibel ist, keine Anzeichen für eine dauerhafte wirtschaftliche Auseinanderentwicklung. Während der Krise kam es sicher zu einem beunruhigenden Einbruch der Konvergenz und zu neuen Divergenzen zwischen den wohlhabenderen Mitgliedsländern und den neun ärmeren Mitgliedsländern am Mittelmeer, an der Ostsee und in Ostmitteleuropa. Aber schon in der kurzen Zeit seit der Krise holten diese ärmeren Länder zusammen genommen in der wachsenden europäischen Wirtschaft einen erheblichen Teil des neuen Rückstands wieder auf.18 Die Europäische Union steht allerdings seit der Krise vor drei neuen Pro­ blemen. Die Konvergenzen zwischen wohlhabenderen und ärmeren Mitgliedsländern tendieren inzwischen gegen null. Zwei südliche Länder, Italien und Griechenland, sehen sich darüber hinaus tatsächlichen neuen Divergenzen gegenüber. Neue Divergenzen entstanden schließlich auch zwischen den wohlhabenden Ländern, die sehr unterschiedlich aus der Krise herausgekommen sind. Entstanden durch die Krise neue gesellschaftliche Disparitäten, die das Bruttosozialprodukt pro Kopf nicht erkennen lässt? Auch in wichtigen gesellschaftlichen Dimensionen, in der Arbeitslosigkeit, in der Armut, in den Lohneinkommen und in der Bildung trieb die Krise die Divergenzen zwischen den 16 Berechnet nach OECD https://data.oecd.org/gdp/gross-domestic-product-gdp.htm (14.2.17). 17 Berechnet nach ebd.; vgl. auch V.  Kaitila, Transnational income convergence and national income disparity: Europe, 1960–2012, in: Journal of Economic Integration 29 (2014), S. ­343–371. 18 2010 lag das BSP der ärmeren Länder bei 78 % des Durchschnitts der Eurozone, 2012 nur noch bei 73 %, 2015 wieder bei 75 %. Berechnet nach OECD https://data.oecd.org/gdp/grossdomestic-product-gdp.htm (14.2.17). Vgl. ­Kaelble, Der verkannte Bürger, S. 44 ff.

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Mitgliedsländern in die Höhe. Auch diese Divergenzen setzten sich aber nach der Krise nicht mehr weiter fort.19 In der Arbeitslosigkeit nahmen die Divergenzen innerhalb der Europäischen Union während der Eurokrise stark zu. Noch um 2008 lag die Arbeitslosigkeit der ärmeren Länder im Durchschnitt gleichauf mit den wohlhabenden Ländern. Die Krise trieb die Arbeitslosigkeit fast überall in der Europäischen Union nach oben. Sie stieg dramatisch von 7 % auf 11 %, ging aber in den ärmeren Ländern noch krasser von 7 % auf 13 % nach oben, vor allem in Griechenland und Spanien. Nach der Krise fiel die Arbeitslosigkeit bis 2015 in der ganzen Europäischen Union auf 9,5 %, in den ärmeren Ländern auf 11 % ab. Der Abstand verringerte sich damit wieder, fiel aber bis 2015 noch nicht auf das Niveau vor der Krise zurück. In der engeren Eurozone eine ähnliche, wenn auch etwas ungünstigere Entwicklung: Vor der Krise, 2008, lag die Arbeitslosigkeit in der Eurozone bei 8 %, in den ärmeren Mitgliedsländern sogar noch etwas darunter. 2012 litt die Eurozone unter starken Disparitäten mit über 11 % Arbeitslosigkeit in der ganzen Eurozone und 15 % in den ärmeren Mitgliedsländern. Bis 2015 fiel die Arbeitslosigkeit auf knapp unter 11 % in der ganzen Eurozone und auf 12 % in den ärmeren, teilweise neuen Mitgliedsländern, also ein schwacher Rückgang der Arbeitslosigkeit, aber ein deutlicher Rückgang der inneren Disparitäten. Man muss allerdings hinzufügen, dass auch wohlhabendere Mitgliedsländer der Eurozone wie Frankreich, Italien, Finnland und Österreich seit 2012 keinen wirklichen Rückgang der Arbeitslosigkeit erlebten.20 Ganz ähnlich die Konvergenz der Lohneinkommen. Auch sie setzte während der Krise aus. Noch bis 2008 waren die Lohneinkommen in den 14 ärmeren Mitgliedsländern auf 45 % des Durchschnitts der Europäischen Union angestiegen. Sie fielen während der Krise bis 2012 auf nur noch 38 %, stiegen aber danach bis 2015 wieder auf 42 % an.21 Die Armut entwickelte sich ebenfalls in dieser Richtung. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern in der Armut, verstanden als materielle Deprivation, verschärften sich während der Krise. Nach der Krise ging der Rückstand Ostmitteleuropas gegenüber Durchschnitt der Europäischen Union wieder zurück und der Abstand der südlichen Länder stieg nicht mehr weiter.22 Die Unterschiede in der Bildungsbeteiligung verschärften sich ebenfalls während der Krise. In den meisten ärmeren Ländern der Europäischen Union sanken die Schüler19 Vgl. dazu auch ­Kaelble, Der verkannte Bürger, Frankfurt 2019, S. 44–50 20 Eurostat. Arbeitslosendaten nach Geschlecht und Alter – Jahresdurchschnitte. http://appsso. eurostat.ec.europa.eu (16.2.17) Nach den noch unvollständigen Daten für 2016 ging die Arbeitslosigkeit und der Abstand der ärmeren Länder zum Durchschnitt der Europäischen Union weiter zurück und näherte sich der Situation von 2008 an. Bei der Berechnung der Divergenzen der Eurozone wurden der jeweilige Mitgliedsstand zugrunde gelegt. 21 Berechnet für den besonders flexiblen Nettojahresverdienst für Alleinstehende ohne Kinder von Eurostat http://appsso.eurostat.ec.europa.eu (15.2.17). 22 Z. Darvas u. G. B. Wolff, An anatomy of inclusive growth in Europe, Brüssel 2016, S. 46 ff.; vgl. auch H. ­Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Geschichte der sozialen Ungleichheit im 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2017, S. 117 ff.

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und Studentenzahlen, in den meisten wohlhabenden Ländern stiegen sie, weil genügend private finanzielle Reserven vorhanden waren, um die Schwäche des Arbeitsmarktes durch Ausbildung zu überbrücken.23 Die ärmeren Länder verloren daher ein wichtiges wirtschaftliches und gesellschaftliches Zukunftspotential. Leider bieten die Statistiken der EU derzeit noch keine Antwort darauf, ob sich auch diese Disparitäten in der Ausbildung nach der Krise wieder abmilderten. Insgesamt weist daher Vieles darauf hin, dass die gesellschaftlichen Divergenzen, die die Finanz- und Eurokrise hervorrief, sich allmählich wieder abschwächen und sich das aus der Krise der 1970er Jahre bekannte Muster wiederholte, dass Wirtschaftskrisen vorübergehend zu Divergenzen führen, die aber in normalen Konjunkturzeiten wieder in Konvergenzen umschlugen. Dieser Umschlag in Konvergenzen lässt sich bisher nur teilweise festmachen, aber die Zeit der heißen Divergenzen scheint vorerst beendet zu sein. Ob die Flüchtlingswelle von 2015/16 und die Brexit-Entscheidung 2016 die Verflechtung der Mitgliedsländer durch Migration wieder massiv abbauen werden, lässt sich derzeit nicht abschätzen. Die Verflechtungen zwischen den europäischen Gesellschaften schwächten sich in der Krise ebenfalls ab. Am spürbarsten war dies in der Zuwanderung. Sie ging in den meisten europäischen Ländern während der Krise zwischen 2008 und 2012 zurück, in den ärmeren ebenso wie in den wohlhabenderen Mitgliedsländern, allerdings mit der politisch folgenreichen Ausnahme von Frankreich und Polen. Man kann davon ausgehen, dass damit auch die Zuwanderung aus den anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union zurückging und daher die Verflechtung in der Europäischen Union während der Krise abnahm, freilich mit großen Unterschieden zwischen den Mitgliedsländern. Gleichzeitig ging die Abwanderung in den meisten europäischen Ländern (mit Ausnahme Deutschlands und Österreichs) in die Höhe. Allerdings war diese Abschwächung der europäischen Verflechtung nicht von Dauer. Nach der Krise stieg die Zuwanderung oft wieder auf das alte Niveau oder noch weiter an, wieder mit großen Unterschieden zwischen den Mitgliedsländern. Die Abwanderung ging zumindest teilweise wieder zurück.24 Erst für 2013 und 2014 lässt sich wirklich nachverfolgen, ob die Zuwanderung aus der Europäische Union oder von außerhalb der Union kam. Nach der Krise wanderten 2014 rund 1,3 Millionen Unionsbürger aus anderen Ländern der Europäischen Union zu, ungefähr ein Drittel aller 3,7 Millionen Zuwanderer. Damit dürften die Migrationsverflechtungen vor der Krise, die wie gesagt gegenüber den USA oft unterschätzt werden, wieder erreicht worden sein.25 23 Eurostat. Schüler und Studenten 2001–2012 http://ec.europa.eu / eurostat/(16.2.2017). 24 Eurostat. Einwanderung, 2003–2014; Auswanderung 2003–2014 http://ec.europa.eu/eurostat (17.2.17). 25 Eurostat. Einwanderung nach Geschlecht, fünfjährigen Altersgruppen und Staatsangehörigkeit 2013–2014 http://appsso.eurostat.ec.europa.eu (17.2.17). Vor der Krise 2009 wanderten rund 3 Millionen in die Europäische Union ein.

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Allerdings gibt es keine Hinweise, dass die Verflechtungen auch in anderen Dimensionen während der Krise zurückgingen und danach wieder anstiegen. Die Verflechtung durch das Auslandsstudium wurde während der Krise nicht erkennbar abgebremst. Die Zahl der Erasmus-Studierenden stieg zwischen 2008 und 2012 in gleichem Tempo wie zuvor an.26 Ferienreisen und Geschäftsreisen innerhalb der Europäischen Union wurden durch die Krise ebenfalls nur sehr kurz angebremst.27 Insgesamt hat sich also die Verflechtung durch Migration in der Krise etwas abgeschwächt. Sie war in der Europäischen Union als Ganzem nicht von Dauer, freilich mit der Ausnahme vor allem der südlichen Mitgliedsländer. Auch die Divergenzen in den Werten der Europäer wurden in der Krise stärker. Jedenfalls standen die Unionsbürger der Gemeinsamkeit der Wette am Ende der Krise etwas skeptischer gegenüber als vor der Krise. 2008 glaubten noch 54 % an die Gemeinsamkeit der Werte, 2012 nur noch 49 %. Auch diese etwas größere Skepsis entstand in dem neuen Nord-Süd-Gegensatz. Die Skepsis stieg seit 2008 besonders scharf im Süden, in Spanien, in Portugal, in Griechenland, in Italien, daneben auch in Frankreich und Belgien. Im Norden dagegen, in Deutschland, in Österreich, in Finnland, in Großbritannien, auch in Polen, nahm sie eher ab. Bei der genaueren Nachfrage den Werten, die nicht mehr gemeinsam geteilt wurden, stellte sich heraus, dass bei den von den Bürgern als am wichtigsten angesehenen europäischen Werten, Sicherung des Friedens in Europa, Wahrung der Menschenrechte, Schutz des menschlichen Lebens, weiterhin starke Gemeinsamkeiten bestanden. Große Unterschiede der Antworten gab es dagegen bei der Frage nach den Vorzügen der Immigration. Die Europäer waren 2012 gespalten. 49 % sahen Immigration als nützlich an, 43 % lehnten das ab.28 Auch die Schuldenpolitik der Europäischen Union spaltete die Unionsbürger.29 Insgesamt blieben die liberalen Freiheitswerte eine wichtige Gemeinsamkeit. Aber die Divergenzen in der heftig diskutierten Bewertung der Immigration und der Schuldenpolitik nahmen in der Krise zu und erhielten sich auch nach der Krise.30 Auf die Unterstützung der Europäischen Union durch die Unionsbürger hatte die Krise auf den ersten Blick nur eine vorübergehende Auswirkung. Die Unterstützung der Europäische Union brach in der Eurokrise 2010–2012 ein. 26 Erasmus. Facts, Figures and Trends. The European Union support for student and staff exchanges and university cooperation in 2013–20, http://ec.europa.eu/dgs/education_culture/ repository/education/library/statistics/erasmus-plus-facts-figures_en.pdf (23.2.2017). 27 Vgl. für den deutschen Fall: M. Szibalski, Inlandstourismus 2011 – das Wachstum setzt sich fort, in: Statistisches Bundesamt, Wirtschaft und Statistik, April 2012, S. 320–331 (behandelt auch Auslandstourismus und das große Gewicht der Europäer unter den Reisenden aus dem Ausland). 28 Eurobarometer Nr. 66, Herbst 2006, S. 32: Eurobarometer Nr. 69, Frühjahr 2008, S. 4 ff.; Eurobarometer Nr. 77, Frühjahr 2012, passim (17.2.17). 29 Eurobarometer Nr. 79, Frühjahr 2013, S. 31 (23.2.17). 30 Vgl. Eurobarometer Nr. 83, Spring 2015, S. 153 f. (Immigration), 206 f. (Schuldenpolitik) (23.2.17).

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Die Gegner der Europäischen Union waren 2012 sogar ebenso zahlreich wie die Befürworter. Aber schon Ende 2013 begann die Unterstützung für die Europäische Union wieder zu überwiegen und kehrte Anfang 2015 auf das Niveau von 2009 zurück. Sie sank im Übrigen während der Flüchtlingskrise 2015/16 in der Gesamtheit der Europäischen Union wieder ab, allerdings nicht so stark wie in der Finanz- und Eurokrise, und stieg im Herbst 2016 wieder an. Aber es gab doch dauerhafte Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise. Die Zahl der Gegner der Europäischen Union blieb nicht nur etwas größer als vor der Krise. Es entstand zudem eine neue Geographie der Unterstützung und Ablehnung. Vor der Krise unterstützte der Süden Europas die Europäische Union, während der Norden, Skandinavien und Großbritannien besonders skeptisch war. Diese Geographie der Unterstützung hat sich gewandelt. Der Süden unterstützt die Europäische Union weit weniger. Am zahlreichsten sind die Gegner in Griechenland und Zypern, gewichtig sind sie auch in Italien, weniger stark eingebrochen in Portugal, gar nicht in Spanien. Der nördliche und östliche Teil, der Europäischen Union stützt die Europäische Union. Größer wurde die Unterstützung in Skandinavien. In speziellen Fall Großbritanniens überwogen nach dem Brexit im Herbst 2016 sogar erstmals seit langem die Befürworter der Union. Auch in Ostmitteleuropa und Osteuropa blieb die Unterstützung der Europäischen Union hoch, in Polen ebenso wie in den meisten baltischen Staaten und in Rumänen und Bulgarien. Nur in Österreich, in Tschechien und Ungarn überwog die Skepsis. Im Westen der Europäischen Union, in Frankreich, Belgien, Niederlanden, Deutschland hat die Gegnerschaft zwar zugenommen, aber die Befürworter blieben meist in der Mehrheit. In Deutschland sackte die Unterstützung kurzfristig während der Flüchtlingskrise im Frühjahr 2016 dramatisch ab. Inzwischen ist die Unterstützung der Union in Deutschland wieder eine der höchsten in Europa. Nach der Eurokrise wurde eher der nördliche und östliche Teil Europas die Bastion der Unterstützung der Europäischen Union.31

III. Schlussbetrachtung Was war stärker, Zusammenwachsen oder Krisendivergenzen? Das Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaften in den vergangenen sechzig Jahren war beeindruckend. Die europäische Gesellschaft verflochten sich wie nie zuvor in modernen Zeiten. Die wirtschaftlichen und sozialen Konvergenzen waren 31 Für die generelle Entwicklung und für die einzelnen Länder: Eurobarometer Nr. 69, Frühjahr 2008, Nr. 80, Herbst 2013, Nr. 86, Herbst 2016; für Deutschland: Eurobarometer 85, Frühjahr 2016, S. 19 (Positives und negatives Bild der EU gleichauf bei 29 %); Eurobarometer 86, Herbst 2016, S. 17 (Positives Bild der EU 37 %, negatives Bild 21 %); Parlemeter 2016, Sept / Okt 2016, S. 16 f. (Wieder starke Unterstützung durch 71 % und Ablehnung durch 9 % bei etwas anderer Frage als bei Eurobarometer). Vgl. ­Kaelble, Der verkannte Bürger, S. 69 ff.

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substantiell. Der wirtschaftliche und soziale Abstand der ärmeren Mitgliedsländer verringerte sich spürbar. Die gemeinsamen Werte waren weit stärker als im 19. Jahrhundert. Unterstützung der europäischen Institutionen durch die europäischen Bürger war breit, ohne dass sie deshalb ihre nationalen und regionalen Identitäten aufgaben. Dieses gesellschaftliche Zusammenwachsen stieß sicher auch an klare Grenzen in den Werten der Nation, der Immigration, der Religion und auch der Sexualmoral, in den Streiks und Tarifbeziehungen, in der europäischen Sozialpolitik und auch in den europäischen sozialen Bewegungen. Trotzdem gehörte das europäische Zusammenwachsen in den vergangenen sechzig Jahren zur Lebensweise großer Teil der Bevölkerung. Dieses Zusammenwachsen war beeindruckend im Vergleich zu den europäischen Gesellschaften vor 1945. Nur eine schmale Elite war damals internationalisiert, reiste vor 1914 ohne Pässe durch Europa, sprach mehrere Sprachen und heiratete international. Dagegen war die Masse der europäischen Bevölkerung durch die disparate Industrialisierung, durch den Aufstieg der Nation und durch regionale und lokale Bindung, später durch die Weltkriege tief gespalten. Die europäische Verflechtung der letzten sechzig Jahre hingegen ging weit tiefer als damals, verflocht auch große Teile der Bevölkerung, näherte die europäischen Gesellschaften aneinander an, schuf gemeinsame Werte und brachte eine breite Unterstützung in den Bevölkerungen für europäische Institutionen, die es vor 1914 nicht gab. Ohne Zweifel wurde dieses gesellschaftliche Zusammenwachsen durch die Finanz- und Eurokrise 2009–2012 verändert. Diese Krise änderte nicht nur die Politik, verstärkte die europafeindlichen Parteien in den Parlamenten, verhalf dem Brexit im Referendum 2016 zu Stimmen und stimulierte die unionsfeindlichen Regierungen in Polen und Ungarn. Sie verlangsamte auch das gesellschaftliche Zusammenwachsen Europas, bremste das wirtschaftliche Aufholen der ärmeren Mitgliedsländer aus, hemmte die Verflechtung durch Migration, brachte die Gegensätze in den Werten der Europäer wieder nach vorne und schwächte die Unterstützung der Bürger für Europa. Aber sie konnte das erreichte gesellschaftliche Zusammenwachsen Europas nicht zerstören oder auch nur massiv zurückdrängen. Der Rückstand der ärmeren Mitgliedsländer wurde nicht dauerhaft verschärft, von Italien und Griechenland abgesehen. Die Verflechtung vor allem durch Migration nahm nach der Krise ihre alte Dynamik wieder auf. Andere Dimensionen wie das Auslandsstudium wurde durch die Krise kaum berührt. Die liberalen politischen Grundwerte und die meisten Werte der Arbeit und der Familie liefen durch die Krise nicht auseinander. Die Unterstützung der Europäischen Union unter den Bürgern verstärkte sich nach der Krise wieder. Die gesellschaftlichen Auswirkungen der Finanz- und Eurokrise waren tief und sind keineswegs voll überwunden. Aber Krise gefährdete das gesellschaftliche Zusammenwachsen Europas nicht im Kern.

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11. Klassengesellschaft Von Klassengesellschaft und von Klassenkämpfen spricht man in Europa seit den 1980er Jahren immer weniger. Auch die damit zusammenhängenden Ausdrücke wie Bürgertum, Kleinbürgertum oder Arbeiter gehen im geschriebenen Deutsch, Französisch, Italienisch, wohl auch Polnisch, auch im durch außereuropäische Gesellschaften mit geprägten Englisch und Spanisch zurück und werden in jüngster Zeit oft durch Ausdrücke wie Prekariat, Personal, Management, Armut und Reichtum ersetzt. Auch in den großen sozialwissenschaftlichen Umfragen zu den Gesellschaften Europas wird nach Klassenkonflikten, Klassenstolz, bewusst gezogenen Klassentrennlinien meist nicht mehr gefragt. Gerät die Klassengesellschaft, allmählich in Vergessenheit? Verblassen die Erinnerungen an die sozialen Klassen und Klassenkonflikte, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa entstanden und durch die sich Europa bis in die 1970er Jahre von den modernen außereuropäischen Gesellschaften, den USA und Japan, unterschied? Oder steckt in unseren Erinnerungen immer noch mehr von Klassengesellschaft als die Sprache verrät? In scharfem Kontrast zur Sprache begegnen uns weiterhin im Alltag überall Erinnerungstücke an die Klassengesellschaft. Sie hat ihre Orte. Die Stadtzentren erinnern überall in Europa an das europäische bürgerliche Zeitalter, das Museum, die Oper, das Schauspielhaus, die Börse, der Bahnhof, das Kaufhaus, die Gymnasien, die Cafés, der städtische Park, die Plätze, die Denkmäler und Brunnen, in manchen Städten auch die Universität und die Kirche, die im 19. Jahrhundert auf ganz eigene Weise restauriert wurde. Nicht nur viele Fabrikgebäude und Unternehmervillen, sondern auch Arbeiterviertel in vielen früheren europäischen Industriestädten stehen oft noch und haben die Weltkriege und die Abrisswut der 1960er Jahre überlebt. Rote Fahnen, gereckte Fäuste und große Transparente auf Demonstrationen sind immer noch in unserer Erinnerung, wachgehalten auch durch manche Straßennamen. Wir halten weiterhin den 1. Mai als Feiertag, organisieren Streiks, tragen weiterhin Anzüge wie das Bürgertum und Mützen wie die Arbeiter, trinken weiterhin proletarische Schnäpse und bürgerliche Weine, manchmal sogar aus den Gläsern von einst, essen bürgerliche Butter und proletarisches Schmalz, sehen proletarischen Fußball und bürgerliches Tennis. Diese Überreste von anderen Lebensweisen gehören immer noch zu unserem Alltag. Sind sie nur leere Gehäuse, die mit anderen Inhalten gefüllt werden oder transportieren sie auch Erinnerungen an die Klassengesellschaft?

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Positive Erinnerungen Wenn man genau hinsieht, ist die vergangene europäische Industrie- und Klassengesellschaft keineswegs vergessen oder verdrängt, sondern lebt positiv in unseren Erinnerungen. Ohne als Klassengesellschaft bezeichnet zu werden, bleiben viele Elemente der Industriegesellschaft aus der Zeit vor den 1970er Jahren in nostalgischer Erinnerung und werden in der öffentlichen Debatte immer wieder mobilisiert: die starken Gewerkschaften und eine gut ausgebildete, zukunftssichere, auf ihre Arbeit und ihr eigenes Milieu stolze Arbeiterschaft; die Eigentümerunternehmer, die für ihren Betrieb Verantwortung übernahmen statt der nur an Karriere und hohem Gehalt orientierte Manager; ein Bürgertum, das sich durch eine gemeinsame Lebensweise und durch gemeinsame Werte in Familie, in der Arbeit, in der Kultur und Kunst wiederfand und gleichzeitig abgrenzte; das klassische, an seinem Beruf und dem Dienst an der Allgemeinheit orientierte, noch nicht kommerzialisierte Bildungsbürgertum; die gedruckte Zeitung und der für Printmedien schreibende, ordentlich verdienende Journalist; der normale Erwerbslebenslauf mit lebenslanger Bindung an einen Beruf und lebenslangem Auskommen für Arbeiter und Zukunftssicherheit für die Nachkommen des bürgerlichen Mittelstands; die steigenden Löhne und Einkommen und der stetig verbesserte Lebensstandard; die klassische Familie mit wenigen Scheidungen und vielen Kindern; die geringe Immigration; Kirchen als Lebensmittelpunkt; die solide Sicherung im Alter und im Krankheitsfall durch staatliche Sozialversicherungen; die klassischen staatlichen, nicht deregulierten und zuverlässigen Dienstleistungen der Bahn, der Post, der städtischen Sparkassen, der städtischen Verkehrsbetriebe und Elektrizitätswerke; die festen Wählermilieus und stabilen Parteien mit steigenden Mitgliederzahlen; der weitgehend souveräne Nationalstaat, aber auch die breit akzeptierte europäische Integration. Was von diesen immer wieder beschworenen Vorstellungen in der Vergangenheit wirklich Realität war, bleibe dahingestellt. Aber diese lange Liste der guten Seiten der europäischen Industriegesellschaft zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1970er Jahren in der heutigen Erinnerung ließe sich noch verlängern.

Negative Erinnerungen Erinnerungen sind keine Geschichtsschreibung. Sie greifen aus der Geschichte das heraus, was ihnen als Sehnsuchtsreserve im Kontrast zur Gegenwart wichtiger scheint. Für das Europa vor den 1970er Jahren blenden sie vor allem drei Dinge aus. Sie lassen vergessen, dass die Europäer sehr oft von Ängsten vor gesellschaftlichen Umbrüchen und Zukunftsoptimismus getrieben waren. Zukunftssicherheit war oft kein prägendes Gefühl. Die Erinnerungen lassen auch 202

vergessen, dass große Teile der Europäer lange Zeit nicht an diesen schönen Erinnerungen partizipierten, viele Europäer bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in bitterer ländlicher Armut lebten, auswanderten, das Bürgertum oft schweren Krisen gegenüberstand, staatliche Sozialversicherungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts oft nur wenig leisteten und halfen, normale Erwerbslebensläufe bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts keineswegs die Regel waren, hohe Immigration und Konflikte um Immigration in Europa eher der Normalfall war. Die Erinnerungen leiden zudem an dem tiefen Widerspruch, dass sie eigentlich unvereinbar sind mit anderen, weiterhin lebhaften Erinnerungen an die düsteren Zeiten Europa vor den 1970er Jahren, an die Weltkriege, an die Weltwirtschaftskrise, an die Inflation besonders in Deutschland und an die bürgerkriegsartigen Zustände in der Zwischenkriegszeit und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, auch an die internationalen Spannungen und Atomkriegsängste des Kalten Krieges. Viele Erinnerungen haben vor allem die Prosperitätszeit der 1950er und 1960er Jahre vor Augen, die in der rund hundertjährigen Geschichte der Industriegesellschaft alles andere als die Normalität waren. Diese Erinnerungen sind allerdings nicht in allen Ländern, nicht in allen politischen Richtungen und nicht in allen sozialen Milieus der europäischen Gesellschaften dieselben. Es gibt keinen europäischen Erinnerungskonsens in den Details. Erinnerungen werden in vielen Ländern Ostmitteleuropas und Osteuropas eng mit dem kommunistischen Regime und seinen sozialen Klassen, seiner Machtelite und seinen Arbeitern verbunden, in Westeuropa dagegen eher mit Demokratie. Sozialdemokratische, liberale oder christlich-konservative Erinnerungen wählen sich unterschiedliche Erinnerungsthemen aus. Aber gemein­ sam sind doch die nostalgischen europäischen Erinnerungen an diese vergangene Zeit. Vergangenheitsvergessene Zukunftsvisionen sind selten geworden.

Gründe für diese Erinnerungen Warum diese Nostalgie der vergangenen Industriewirtschaft mit ihrer Klassengesellschaft? Man muss dazu zuerst festhalten, dass diese Erinnerungen meist keine individuellen Lebenserinnerungen sind. Nur noch die Minderheit der heute über 60jährigen kennt diese Gesellschaft aus eigener Erfahrung als Jugendliche und junge Erwachsene. Für die meisten Europäer sind die europäischen Gesellschaften vor den 1970er Jahren vergangene Geschichte, die sie nur aus Büchern, Museen, dem Fernsehen und Erzählungen der Älteren kennen. Sie sind eine kollektive Erinnerung, in der das Veto der individuellen Erfahrung keine große Rolle mehr spielt und die sich vor allem in der öffentlichen Debatte und in der kollektiven Erfahrung neuer Ereignisse wandelt. Überhaupt gibt es keine fest umrissenen gesellschaftlichen oder politischen Gruppen, die diese Erinnerung mobilisieren. Diese Erinnerungen an die Industrie- und Klassengesellschaft können deshalb von ganz unterschiedlichen Akteuren eingesetzt werden. 203

Einen entscheidenden Grund haben allerdings diese Erinnerungen: Sie werfen einen kritischen Blick auf die Gegenwart und werden ins Gedächtnis gerufen, um Schwächen der gegenwärtigen Gesellschaft aufzudecken, und zwar je nach politischen Blickwinkel unterschiedliche Schwächen: der Niedergang einer selbstbewussten, zukunftssicheren, kohärenten Industriearbeiterschaft und die Entstehung des Prekariats; die unsicheren Zukunftsaussichten einer dramatisch expandierenden Akademikerschaft; ein krisenhafter Wohlfahrtsstaat mit brüchigen Renten; wachsende soziale Ungleichheiten in den Vermögen, in den Einkommen, im Wohnen und in der Gesundheit; die Schwächung des Nationalstaates durch die Globalisierung, aber auch die Krisen und umstrittenen Entscheidungen der Europäischen Union.

Eine Klassengesellschaft? Für die positiven Erinnerungen mit ihrem Beiklang des Abschieds gibt es keinen rechten Begriff. In den Ausdrücken der Industriegesellschaft, des Kapitalismus 2.0, des organisierten Kapitalismus, der Wissensgesellschaft oder der Individualisierung wird meist wenig an den Verlust und den Bruch der 1970er Jahre gedacht, der die Erinnerungen prägt. Warum sagt man nicht doch einfach Klassengesellschaft? Ein Grund: Das Europa zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1970er Jahren passte selten voll in eine Theorie der revolutionären Klassengesellschaft. Die Interessengegensätze zwischen Arbeit und Kapital waren sehr einflussreich, aber meist nicht unüberbrückbar und nicht kompromissresistent. Es drohte nicht jedes Jahr der Ausbruch einer sozialistischen Revolution. Große Teile der Gesellschaft ließen sich nicht einfach entweder dem Kapital oder der Arbeit zuordnen, weder die Bauern noch die Dienstboten noch viele kleine Händler, Transporteure, Handwerker, noch die kleinen Beamten. Regierungen, Gerichte und staatliche Verwaltungen wurden nicht einfach durch die Kapitalbesitzer gesteuert. Auch das Bildungsbürgertum, Journalisten, Schriftsteller und Professoren vertraten nicht einfach Interessen der Kapitalbesitzer. Klassengesellschaft drückt zudem viel zu wenig die positiven Erinnerungen der vergangenen Industriegesellschaft aus. Klassengesellschaft besaß und besitzt überwiegend, allerdings nicht ausschließlich negative Konnotationen. Dazu ein kurzer Blick in die Geschichte dieses Begriffs. Als er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert vom Bildungsbürgertum entwickelt wurde, schilderte er eine negative Zukunftsgesellschaft. In jenem Zukunftsszenario standen vom Bürgertum abgetrennt die unteren Klassen: auf der eine Seite die bemitleidenswerten, letztlich guten, unverschuldet durch damals neue Entwicklungen in Not geratenen Armen, die durch bessere Lebensführung, durch Bildung und durch wechselseitige Unterstützung und Vereine wieder aus der Armut herauskommen konnten und sogar in das Bürgertum aufsteigen 204

konnten, aber doch vor der Gefahr standen, in ihrer pauperisierten Klasse hängen zu bleiben; auf der anderen Seite der Pöbel, die aufsässigen, unberechenbaren, wilden, zerstörerischen, unzivilisierten Unterschichten, die gefährlichen sozialen Klassen, die als Bedrohung angesehen wurden. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Klassengesellschaft zu einer Gegenwartsbeschreibung, blieb dabei aber meist negativ. Erst jetzt wurden die Industriebarbeiter in Fabriken in das Zentrum der Unterschichten gerückt, wiederum entweder als bemitleidenswerte Arme oder als Aufrührer. Dieser Begriff des Bildungsbürgertums wurde von Marx zu einem revolutionären Verständnis weiterentwickelt, in dem die Konflikte zwischen den sozialen Klassen im Kapitalismus zu einer Revolution und zu der Abschaffung von sozialen Klassen führen mussten. Das negative Verständnis von Klassengesellschaft verlor sich erst, als Indus­ triegesellschaften voll entstanden waren. Soziale Klassen als Begriff zur Beschreibung von bestehender Gesellschaft ohne Bezug auf unvermeidbare gesellschaftliche Krisen oder gar Revolutionen wurde am Ende des 19. Jahrhunderts von Sozialwissenschaftler wie Werner Sombart, Maurice Halbwachs, Max ­Weber, in anderer Weise etwa von Vilfredo Pareto und Thorstein Veblen verwandt. Max Weber unterschied neben Ständen vier soziale Klassen, die Klasse der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten, das Kleinbürgertum und die – wie er sagte – besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit, und die Arbeiterschaft. Seit dem Ersten Weltkrieg veränderte sich das Verständnis von Klassengesellschaft wieder. Alle drei scharf miteinander konkurrierenden politischen Richtungen in Europa, der Kommunismus, die demokratischen Parteien und der Faschismus benutzten den Begriff der Klassengesellschaft negativ wertend. Mit gegensätzlichen Visionen verfolgten sie das Ziel, die Klassengesellschaft entweder abzuschaffen oder zumindest abzumildern. Diesen negativen Sinn behielt der Begriff nach dem Zweiten Weltkrieg im Kalten Krieg bei. Es war in den politischen und intellektuellen Auseinandersetzungen während des Kalten Kriegs schwierig, zu dem rein wissenschaftlichen Begriff der sozialen Klassen des späten 19. Jahrhunderts zurückzukehren. All das wirkt immer noch nach. Es sieht jedenfalls gegenwärtig nicht nach einer Rückkehr zu der neutralen Verwendung wie im späten 19. Jahrhundert oder gar nach positiven Erinnerungen an die Klassengesellschaft aus. Eine neutrale Verwendung ist nur im Englischen durchaus üblich, wird aber in anderen Sprachen nicht übernommen Insgesamt ist Klassengesellschaft ein Erinnerungsort, der sich zwar oft besichtigen, aber nicht leicht in Worte fassen lässt. Wir verändern unsere Sprache, aber unsere Erinnerung an die Vergangenheit folgt nicht einfach der neuen Sprache. Einerseits geht dieser Ausdruck mit einer ganzen Familie eng damit verbundener anderer Worte in unserer Sprache zurück. Andererseits leben wir weiterhin in den oft liebevoll restaurierten Gebäuden und Anlagen und mit den Kleidern, dem Essen, den Getränken, den Filmen, Gemälden, Fotos und Romanen jener Zeit. Wir tragen diese positiven kollektiven Erinnerungen an diese vergangene Gesellschaft mit uns herum und in die öffentlichen Debatten hinein. Diese 205

Erinnerungsstücke und kollektiven Erinnerungen lassen sich aber am ehesten noch im englischen, aber viel weniger in anderen Sprachen in einem neutralen Begriff der Klassengesellschaft fassen. In der Regel haben wir für diese Erinnerungen kein rechtes Wort. Gleichzeitig machen dieser Erinnerungsorte einen wichtigen Sinn, da sie einerseits den unvermeidbaren Abschied von der Industrie- und Klassengesellschaft in sich tragen, aber gleichzeitig an die schwachen Seiten der heutigen Gesellschaft erinnern, an ihre soziale Unsicherheit, an ihre sich verschärfenden sozialen Ungleichheiten, an den instabilen Regierungen und an die ständigen Herausforderungen der grundsätzlichen gesellschaftlichen und politischen Neuorientierung. Sie sind ein wichtiger Erinnerungsort, der freilich noch keinen rechten Namen gefunden hat.

Einige wenige Literaturhinweise Boch, R., Fabriken, in: P. den Boer u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., Bd. 2: Das Haus Europa, München 2011, S.535–542. Chauvel, L., Le retour des classes sociales, in: Revue de l’OFCE, oct 2001. Eley, G. u. K. Nield, The Future of Class in History: What’s Left of the Social?, Ann Arbor 2007. Kocka, J., Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Berlin 2015. Pleinen, J., Klasse, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 10.3.2015, URL: http:// docupedia.de / zg / K lasse?oldid=106314. Tilly, C., Social class, in: Encyclopedia of European social history, vol. 3, New York 2001, S. 3–18.

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12. Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945

Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945 ist bisher ungeschrieben. Es gibt weder ein Buch noch einen richtungsweisenden Handbuchartikel zu diesem Thema. Der Grund dafür ist nicht, dass es an Historikern oder Soziologen mangelt, die dieses Buch oder diesen Artikel schreiben könnten.1 Man kann auch nicht behaupten, dass es diesem Thema an Wichtigkeit fehlt. Die staatliche soziale Sicherung ist schon seit Jahrzehnten ein wichtiges Element des europäischen Selbstverständnisses. In den Augen vieler Europäer und auch vieler europäischer Intellektueller unterscheidet sich Europa mit seinem weit ausgebauten Wohlfahrtsstaat nicht nur von den Schwellenländern, sondern auch von den anderen Industrieländern. Das europäische Sozialmodell war längere Zeit Thema von öffentlichen Debatten. Die Europäische Union brachte schon seit den 1970er Jahren immer wieder das soziale Europa als eines ihrer zentralen 1 Vgl. als anregende Vergleiche und Überblicke zu anderen Zeiträumen oder Räumen: J. Alber u. N. Gilbert (Hg.), United in diversity? Comparing social models in Europe and America, Oxford 2010; P. Baldwin, The Politics of social solidarity. Class bases of the European welfare state, Cambridge 1994; G. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990; P. Flora (Hg.), Growth to limits. The Western European welfare states since World War II, 5 vols., Berlin 1986 ff.; R.  Hauser, Soziale Sicherung in westeuropäischen Staaten, in: S. Hradil, u. S. Immerfall (Hg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 521–545; E. P. Hennock, History of the welfare state, in: N. J. Smelser u. P. B.  Baltes (Hg.), Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, Amsterdam 2001, Bd. 8, S. 16439–16445; H. G. Hockerts (Hg.), Drei Wege deutscher Sozialpolitik: NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, München 1998; H. ­Kaelble, Das europäische Sozialmodell – eine historische Perspektive, in: ders. u. G. Schmid (Hg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004 (WZB Jahrbuch 2004) S. 31–50; H. ­Kaelble, Geschichte des Wohlfahrtsstaats in Europa von den 1880er Jahren bis 2010, Kurseinheit 1–3, Fernuniversität Hagen, Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften 2015; F. Kaufmann (Hg.), Sozialpolitik im französisch-deutschen Vergleich, Wiesbaden 1996; J. Schmid, Wohlfahrtsstaaten im Vergleich, Opladen 1996; L. Magnusson u. B. Stråth (Hg.), A European Social Citizenship? Preconditions for Future Policies from a Historical Perspective, Brussels 2004; E. Rieger u. S. Leibfried, Limits to globalization. Welfare states and the world economy, Cambridge 2003; G. A. Ritter, Der Sozialstaat: Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 2010; M. G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 20053; A. Supiot (Hg.), Tisser le lien social, Paris 2004; B.  Tomka, Western European welfare states in the 20th ­century: convergences and divergences in the long-run perspective, in: International Journal of Social Welfare 12 (2003), S. 249–260; C. Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015.

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politischen Ziele ins Gespräch. Seit der Finanzkrise gehört umgekehrt der Zusammenbruch des europäischen Wohlfahrtsstaates zu einem beängstigenden Element europäischer Niedergangsszenarien. Wahrscheinlich ist es eher ein Zufall, dass sich nicht im richtigen Moment der richtige Experte an den Schreibtisch setzte und eine umfassende Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates seit dem Zweiten Weltkrieg schrieb.

I. Drei Narrative des Wohlfahrtsstaats Für eine Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945 kann man sich drei sehr unterschiedliche Narrative vorstellen. Man kann die Geschichte des Wohlfahrtstaates in Europa erstens als eine Geschichte des Niedergangs und des Abbaus des modernen Wohlfahrtsstaates, als eine Geschichte der schwierigen und letztlich erfolglosen Verteidigung dieses Wohlfahrtsstaates gegen seine Kritiker und Gegner auf nationaler, europäischer und globaler Ebene schreiben. Der zentrale Ausgangspunkt dieses Narrativs wäre der moderne Wohlfahrtsstaat, der in den 1950er und 1960er Jahren im westlichen Europa und ganz anders auch im östlichen Europa geschaffen wurde und mit dem die heutigen hohen Sozialstaatsausgaben, aber auch die heutigen hohen sozialen Sicherheitserwartungen entstanden. Der Niedergang dieses Wohlfahrtsstaates begann nach diesem Narrativ nicht erst mit der Finanzkrise 2009–2012, sondern schon mit den gravierenden Konstruktionsschwächen des klassischen Wohlfahrtsstaates der 1950er und 1960er Jahre, setzte sich fort mit der Ölkrise, der Inflation und der Disziplinierung der öffentlichen Haushalte ab den 1970er und 1980er Jahren, mit der Auflösung staatlicher sozialer Sicherung während der Transformationskrise nach 1989/90 im östlichen Europa und drohte einen neuen Schub nach unten mit der Finanzkrise zu erreichen. Ein zweites Narrativ: Die Geschichte des Wohlfahrtstaates in Europa kann man auch als eine Geschichte der Konsolidierung durch fortwährende Anpassung an neue Situationen schreiben und versuchen, die scharfen Kontraste der Situationen, denen der Wohlfahrtsstaat seit 1945 gegenüber stand, zu beschreiben: zuerst in der Nachkriegszeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrer besonderen Anforderungen an Wohlfahrtsstaat durch die Zerstörung Europas, aber auch durch die Versprechungen im Zweiten Weltkrieg für einen Neuaufbau des Sozialstaates; dann in der Zeit der wirtschaftlichen Prosperität mit einmalig hohen Wachstumsraten und ungewöhnlich hohen Steuereinkommen, aber auch mit Verlierern der Prosperität von der 1950er Jahren bis zu den frühen 1970er Jahren; danach in der Epoche des Rückgangs der Wachstumsraten, der Ölkrisen, der Inflation und später der wachsenden Arbeitslosigkeit, aber auch der veränderten Zukunftsvisionen zwischen der Mitte der 1970er Jahre und den späten 1980er Jahren; schließlich in der Epoche seit der Auflösung des sowjetischen Imperiums, der Globalisierung und der Finanzkrise 2009–2012 bis zur Gegenwart. 208

Diese mehrfachen Umbrüche des europäischen Wohlfahrtsstaates zu behandeln und damit auch die Sensibilität für den Umgang mit einem erneuten Umbruch zu schärfen, wäre das Hauptziel dieses Narrativs. Mit diesem Ansatz kann man die Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa als eine Geschichte der Wurzeln des heutigen Wohlfahrtsstaates, aber gleichzeitig auch als historische Situationen beschreiben, die die meisten heutigen Europäer nicht mehr erlebt haben und in die man sich erst wieder einmal hineindenken muss. Ein drittes Narrativ schließlich könnte die Europäisierung der nationalen Wohlfahrtstaaten in Europa behandeln. Ausgangspunkt wären die enormen Unterschiede nicht nur zwischen den westlichen marktwirtschaftlichen Wohlfahrtsstaaten und den östlichen kommunistischen staatlichen sozialen Sicherung, sondern auch die meist vergessenen Sozialstaatsunterschiede zwischen den nördlichen Industrieländern und den weiterhin stark agrarisch geprägten südlichen Ländern Europas noch in den 1950er und 1960er Jahre, aber auch die damalige Abgeschlossenheit der nationalen Sozialstaaten gegenüber anderen Europäern. Dieses Narrativ würde verfolgen, wie stark sich seit den 1960er Jahren die Unterschiede innerhalb Europas abmilderten und wie weit sich die nationalen Sozialstaaten öffneten. Es würde auch verfolgen, was die Gründe und Grenzen der Europäisierung des Wohlfahrtsstaats waren und welche Rolle die Europäische Union dabei spielte. Die folgende kurze Skizze der Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates seit 1945 ist chronologisch. Die historische Entwicklung wird in vier Epochen verfolgt, deren scharfe Kontraste schon skizziert wurden. Für jede Epoche wird im Folgenden zuerst der Kontext des Wohlfahrtsstaates geschildert und dann auf die europäischen Entwicklungen des Wohlfahrtstaates eingegangen. Am Ende werden die drei Narrative für die Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates wieder aufgenommen und die Frage zu beantworten versucht, welches Narrative am ehesten Sinn macht. Für diese Skizze der Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa ist es sinnvoll, mit einem breiten Verständnis dieses Begriffs zu arbeiten, nicht nur die staatlichen Sozialversicherungen und staatliche Sozialhilfen, sondern auch die Bildungspolitik, Gesundheitspolitik, die Stadt- und Wohnungsplanung zu behandeln, da diese Bereiche seit dem Zweiten Weltkrieg unter wohlfahrtstaatlichen Zielsetzungen eng miteinander verflochten wurden. Wohlfahrtsstaatspolitik bedeutete schon seit damals Stabilisierung des Lebensstandards in unverschuldeten persönlichen Krisen wie Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeitslosigkeit, Bildungsdefizite, Wohnungslosigkeit und Gefährdung der kulturellen Teilhabe durch staatliche Interventionen zur Absicherung vor allem in den vier Feldern der Einkommen, des Wohnens, der Bildung und der Gesundheit.

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II. Die Nachkriegszeit Die unmittelbare Nachkriegszeit der ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war von einem heute nur noch schwer verständlichen Paradox geprägt: einerseits von einer tiefen Krise durch die katastrophalen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges, die unvergleichlich tiefer war als die Finanzkrise 2009–2012, und andererseits von einem starken politischen Willen der Regierungen zu grundlegenden Sozialreformen und zur Gründung eines modernen Wohlfahrtsstaates in einem Bruch mit der bisherigen öffentlichen und privaten sozialen Sicherung. Krisen waren seit den 1970er Jahren oft mit einer Rhetorik des Abbaus des Wohlfahrtstaats verbunden. Die Krise der Nachkriegszeit hingegen verband sich mit einer Zukunftsvision für einen neuen Wohlfahrtsstaat. Es sei nur daran erinnert, wie tief die Krise in der Nachkriegszeit ging. Große Teile der europäischen Städte und der europäischen Verkehrssysteme, teilweise auch der Industrie, waren zerstört. Der Wiederaufbau der Wirtschaft erschien wenig aussichtsreich. Viele Europäer litten unter großer persönlicher Not, unter Nahrungsmittelknappheit, unter der Knappheit der Wohnungen und der Heizmittel und unter den zusammengebrochenen öffentlichen Dienstleistungen, auch sozialen Dienstleistungen. Es war eine Zeit extremer physischer und psychischer Belastungen. Viele Familien hatten Tote zu beklagen, litten unter schweren physischen und psychischen Krankheiten und mussten oft überhaupt erst einmal wieder zusammenfinden. Viele Europäer lagen auf der Straße, waren zusammen mit vielen Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge, Kriegsgefangenen und entlassenen Soldaten, nachhause zurückkehrenden Evakuierten und Deportierten, Fremdarbeitern und Exilanten erzwungen und auf einem stark zerstörten Verkehrssystem unterwegs. Aus allen diesen Gründen waren die staatlichen Sozialausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung in keiner Epoche so hoch wie in der Nachkriegszeit. Erstaunlicherweise war die Nachkriegszeit trotz dieser tiefen Krise gleichzeitig eine Epoche grundlegenden Sozialreformen, die Europa auf lange Zeit prägen sollten. Im westlichen Europa wurde vor allem unter dem Einfluss zweier Pionierländer, Großbritanniens und Schwedens, der moderne Wohlfahrtsstaat entwickelt und in Reformen durchgesetzt. Der britische Beveridge Report hatte schon während des Kriegs 1943 grundlegende Vorschläge für einen neuen Wohlfahrtsstaat entwickelt, der in der Folgezeit nach fünf Prinzipien aufgebaut wurde: die Garantie eines Minimums des Lebensstandards, also der Einkommen, des Wohnens, der Gesundheitsversorgung und der Bildung; der sozialen Sicherung für alle Bürger, nicht nur für bestimmte Gruppen wie etwa Arbeiter oder Beamte; das Recht auf soziale Leistungen, die nicht mehr im karitativen Ermessen von öffentlichen Behörden liegen sollten; ein Zentralisierungsschub, der zu mehr Kompetenzen für zentrale staatliche Stellen führte; ein neues Konzept der Altersrente, die nicht mehr als Zuschuss zu den Familien oder zu einer Stiftung konzipiert war, sondern als finanzielle Grundlage für einen eigenen Haushalt 210

alter Menschen. Schon in den späten 1940er Jahren wurde dieses Konzept durchgesetzt, in Großbritannien vor allem mit dem national insurance act von 1946 und in Schweden mit der allgemeinen Volksrente 1946. Andere europäische Länder, vor allem Frankreich, Belgien, die Niederlande, Irland und Finnland führten ähnliche Reformen durch. Eng mit diesen Reformen der öffentlichen Sozialversicherungen verbunden wurden auch Reformen des Bildungssystems und des Gesundheitssystems. Auch die Stadtplanung und die keynesianischen Wirtschaftspolitik der Vollbeschäftigung waren Teil dieser Sozialreformen.2 Im östlichen Teil Europas wurden ebenfalls neue öffentliche soziale Sicherungen, allerdings nach dem sowjetischen Modell aufgebaut. Sie besaßen gewisse oberflächliche Ähnlichkeiten mit den Sozialreformen in Großbritannien und Schweden. Sie beruhten ebenfalls auf gleichen Beiträgen und auf gleichen Leistungen der öffentlichen Sozialversicherungen. Sie zielten auch auf einen offeneren Zugang der Sekundar- und Hochschulausbildungen und auf ein für alle zugängliches Gesundheitssystem. Gleichzeitig unterschieden sie sich ganz erheblich von den westeuropäischen Reformen. Sie zogen andere soziale Trennlinien und versicherten Selbstständige und die Intelligenz getrennt von den abhängig Beschäftigten. Sie waren noch stärker zentralisiert und dadurch der staatlichen Kontrolle unterworfen. Sie waren stark betriebszentriert. Viele soziale und auch kulturelle Dienste wurden über den Betrieb organisiert. Die offiziellen Gewerkschaften waren zum Teil Träger der Sozialversicherungen. Zu dem sowjetischen System der sozialen Sicherung gehörten auch massive Subventionen der Grundnahrungsmittel, der Mieten und der Transportkosten, die später zu einer erheblichen Belastung der öffentlichen Haushalte werden sollten. Die Sozialpolitik wurde zudem der Wirtschaftspolitik untergeordnet. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung, der für die Wirtschaft nicht relevant war, wie Alte, Behinderte und Hausfrauen, wurden weit schlechter versorgt als im westlichen Teil Europas, wo der moderne Wohlfahrtsstaat als Ausgleich der negativen Folgen der Marktwirtschaft konzipiert worden war. Zwar gab es zwischen den nationalen Wohlfahrtsstaaten des östlichen Europas erhebliche Unterschiede. Aber diese Prinzipien des sowjetischen Systems wurden überall durchgesetzt. Trotz der Gemeinsamkeit der Reformanstrengungen waren während der unmittelbaren Nachkriegszeit die innereuropäischen sozialpolitischen Unterschiede sehr groß. Von einem gemeinsamen europäischen Weg des Wohlfahrtsstaats sprach deshalb damals kaum Jemand. Abgesehen von den vielfältigen nationalen Besonderheiten, auf die in dieser kurzen Skizze nicht eingegangen werden kann, entstanden oder bestanden vor allem drei Unterschiede: Innerhalb des westlichen Europa entstanden neue Unterschiede unter den Industrieländern: zwischen Staaten mit den erwähnten Reformen der öffentlichen sozialen Sicherung, der Bildung und des Gesundheitssystems, die von 2 Vgl. für diese und die folgenden Passagen über die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats neben der zuvor genannten Literatur auch vgl. H. ­Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, Kap 11–13.

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Großbritannien und Schweden angeführt wurden, und den Industrieländern, die um die Mitte des 20. Jahrhunderts keine Sozialreformen durchführten, teils weil sie zuvor Pioniere der Sozialreformen gewesen waren und glaubten, dass ihre Sozialsysteme weit genug entwickelt waren wie der westliche Teil Deutschlands und Österreich, teils weil sie wie die Schweiz eine starke liberale Skepsis gegenüber Wohlfahrtsstaat besaßen. Deutschland verlor in dieser Epoche die führende Rolle in der Sozialpolitik, die es noch nicht in der Zwischenkriegszeit besessen hatte, an die neuen der Pionierländer Großbritannien und Schweden. Daneben entstanden neue, gerade erwähnte Unterschiede zwischen dem westlichen, marktwirtschaftlich orientierten Europa und dem kommunistischen Europa in dem Machtbereich der Sowjetunion. Allerdings beherrschte dieser OstWest-Gegensatz der sozialen Sicherung noch nicht völlig das Bewusstsein, weil die großen Unterschiede innerhalb Westeuropas gleichfalls vor Augen standen. Dazu gehört auch ein dritter, um die Mitte des 20. Jahrhunderts schon älterer Unterschied zwischen den nördlichen Industrieländern und den agrarischen, höchstens in einzelnen Regionen industrialisierten Ländern des südlichen Europa. Im nördlichen Europa hatte der Staat in den vorhergehenden Jahrzehnten immer mehr Aufgaben der sozialen Sicherung übernommen. Dieses Modell war auch über die internationale Arbeitsorganisation (ILO) schon seit der Zwischenkriegszeit international verbreitet worden. In den südeuropäischen Ländern, also Portugal, Spanien, Italien, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei, blieb dagegen die staatliche soziale Sicherung schwach. Großfamilien oder translokale Verwandtschaftsbeziehungen, Berufsorganisationen oder lokale Stiftungen, im lateinischen Teil des Mittelmeers auch die katholische Kirche blieben in diesen Ländern, die während der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg durch Diktaturen oder autoritäre Regime mit ganz unterschiedlichen Sozialpolitiken beherrscht wurden, die Hauptnetze der sozialen Sicherung. In manchen Ländern wie dem Spanien Francos oder der kemalistischen Türkei wurde der Großfamilie in der offiziellen Propaganda sogar eine zentrale Rolle in der sozialen Sicherung zugewiesen. Im faschistischen Italien hatten daneben offizielle Parteiorganisationen der faschistischen Diktatur gewichtige soziale Aufgaben übernommen und damit über Italien hinaus internationale Aufmerksamkeit erregt. Nur sehr zögernd hatten einige dieser Länder seit den 1930er Jahren in der Gesetzgebung Elemente der staatlichen Sozialversicherungen der Industrieländer übernommen, aber nirgends wirklich durchgesetzt. Deshalb sah die soziale Sicherung dieser südeuropäischen Länder um die Jahrhundertmitte ganz anders aus als im nördlichen Europa. Sie schienen in der Regel auch viel zu arm und teilweise auch zu abgewandt von Europa, als dass sie die Unterschiede zum nördlichen Europa aufholen hätten können.3 Noch in den 1980er Jahren 3 Vgl. M. Ferrera (Hg.), Welfare State Reform in Southern Europe, London 2005; M. J. Calic, Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941. Der aufhaltsame Fortschritt während der Industrialisierung, München 1994; C. Dinc, Sozialstaat als Produkt einer Staatselite: Die Türkei im

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blieben diese Länder deshalb in den soziologischen Typologien des Wohlfahrtstaats gänzlich unbeachtet.4 Unterschiede der sozialen Sicherung hatte es in Europa immer gegeben. Aber die programmatischen Gegensätze in der Wohlfahrstaatspolitik erreichten um die Mitte des 20. Jahrhunderts einen Höhepunkt, obwohl die Internationale Arbeitsorganisation schon in der Zwischenkriegszeit energisch versucht hatte, gemeinsame Regeln der staatlichen Sozialversicherung durchzusetzen.5

III. Der Wirtschaftsboom der 1950er bis frühen 1970er Jahre Der Wohlfahrtsstaat stand von den 1950er Jahren bis zu den frühen 1970er Jahren in einem völlig anderen Kontext als in der Nachkriegszeit. Die europäische Wirtschaft erlebte rund ein Vierteljahrhundert lang außergewöhnliche Wachstumsraten von rund 5 % jährlich und wurde neben Japan die dynamischste Region der Welt, besaß ein stärkeres Wachstum als die Vereinigten Staaten. Als Folge dieser ungewöhnlichen wirtschaftlichen Dynamik erlebte Europa eine außergewöhnliche Steigerung der Einkommen, eine nie wieder erlebte Reduzierung der Arbeitslosigkeit und ganz ungewöhnliche Ausweitungen der Staatshaushalte, ein wirtschaftlicher Kontext, von dem die europäischen Politiker heute nur noch träumen können. Gleichzeitig war dieses Vierteljahrhundert geprägt von einem starken Zukunftsoptimismus, einer Planungseuphorie und einer wachsenden Bedeutung der Experten im Bereich der Wirtschaft und Gesellschaft. Zukunftsoptimismus und Planungseuphorie prägten auch den Wohlfahrtsstaat. Soziale Sicherung, Stadtplanung, Bildungsplanung und Gesundheitsplanung waren zentrale Bestandteile der optimistischen Zukunftsvisionen im westlichen wie im östlichen Europa, freilich verbunden mit ganz gegensätzlichen politischen Konzepten von Diktatur und Demokratie. Diese Epoche war schließlich auch südeuropäischen Vergleich, Wiesbaden 2009; M. Rhodes (Hg.), Southern European welfare states between crisis and reform, London 1997; D. Liebscher, Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit- und Sozialpolitik des faschistischen Italien und des NS-Regimes, Köln 2009. 4 Vgl. Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism; ders., Social foundations of post-industrial economies, Oxford 1999; anders etwa: P. Kosonen, European welfare state models: converging trends, in: International Journal of Sociology 4, 1995, S. 81–110. 5 S. Kott, Constructing a European Model: the fight for social insurance in the interwar period, in: J. van Daele u. a. (Hg.), ILO histories. Essays on the International Labour Organisation and its impact on the world during the 20th century, Bern 2010; S. Kott, Les organisations internationales, terrain d’études de la globalisation. Jalon pour une histoire socio-historique, in: Critique internationale juillet-septembre 2011; G. Rodgers u. a., The International Labour Organization and the quest for social justice, 1919–2009, Genf 2009, vgl. auch T. A. Glootz, Alterssicherung im europäischen Wohlfahrtsstaat. Etappen ihrer Entwicklung im 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main 2006.

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geprägt vom Kalten Krieg und seiner scharfen Konkurrenz nicht nur auf militärischem Gebiet, sondern auch auf dem Gebiet der Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft, darunter auch der sozialen Sicherung. Im westlichen wie im östlichen Teil Europas trieb diese Konkurrenzsituation und die Beobachtung der jeweils anderen Seite auch die Wohlfahrtsstaatspolitiken voran. In der Folge dieses völlig veränderten Kontextes erlebte der Wohlfahrtsstaat von den 1950er Jahren bis zu den frühen 1970er Jahren eine Zeit der starken Expansion, weit stärker als jemals danach und davor. Die Sozialausgaben wuchsen in dieser Epoche sehr rasch, sogar weit rascher als die Wirtschaft. Laut OECD nahmen sie allein von den 1960er bis zu den frühen 1970er Jahren jährlich im westeuropäischen Durchschnitt um 8 % zu. Laut Peter Flora haben sich zwischen 1950 und 1973 in den skandinavischen Ländern, in Frankreich und den Niederlanden die Sozialausgaben verdreißigfacht, in den zögernden Ländern wie Großbritannien, Deutschland, Italien, Belgien und der Schweiz immer noch mindestens verzehnfacht. Die staatlichen Sozialversicherungen wurden auf neue Bevölkerungsgruppen ausgeweitet und näherten sich einer universalen Versicherung für alle Bürger an. Die Arbeitslosenversicherung wurde im westlichen Teil Europas aufgebaut (im östlichen Teil Europas gab es offiziell keine Arbeitslosigkeit). Die Bildung erlebte eine rasche Expansion auf allen Ebenen von den Kindergärten bis zu den Universitäten, in den 1950er Jahren besonders rasch im östlichen Teil Europas, ab den 1960er Jahren nach dem Sputnik-Schock dann rascher im westlichen Teil Europas. Die Zugangschancen zu den Sekundarschulen und den Hochschulen wurden verbessert, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Methoden und Ergebnissen im östlichen und westlichen Teil Europas. Die Städte expandierten in diesem Vierteljahrhundert besonders rasch. Viele neue Stadtviertel oder sogar ganz neue Städte entstanden. Das Gesundheitssystem wurde rasch ausgebaut. Die Zahl der Krankenhausbetten und der Ärzte nahm stark zu, mit dem Erfolg eines starken Rückgangs der Kindersterblichkeit. Eine wichtige Auswirkung des Aufbaus des modernen Wohlfahrtsstaates war der Abbau der sozialen Ungleichheit, die Abmilderung der Einkommensdisparitäten und ein höherer Anteil der unteren Einkommen am Volkseinkommen, ein starker Rückgang der Analphabeten vor allem in Süd- und Osteuropa, bessere Zugangschancen zu der Sekundar- und Hochschulausbildungen, eine erhebliche Verbesserung der Wohnungsqualität und eine Verlängerung der Lebenserwartung. Die großen Unterschiede in den Leistungen der nationalen Wohlfahrtsstaaten milderten sich etwas ab, auch wenn bleibende Ost-West-Kontraste und auch starke Nord-Süd-Gegensätze vor allem gegenüber den Diktaturen und autoritären Regimen im Süden Europas, in Portugal, Spanien Griechenland und der Türkei erhalten blieben.6 Der westeuropäische Wohlfahrtsstaat besaß 6 Vgl. zur beginnenden Abmilderung der Leistungsunterschiede: B. Tomka, Welfare in East and West. Hungarian social security in an international comparison 1918–1990, Berlin 2004; B. Tomka, European integration and social policy from the East Cemtral European perspective, in: A. Bauerkämper u. H. ­Kaelble (Hg.), Gesellschaft in der europäischen Integration

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vor allem in dieser Epoche eine starke globale Ausstrahlung zumindest im westlichen Teil der Welt, in Japan, in Lateinamerika, in Afrika über die europäische Kolonial- und eine Modernisierungspolitik, auch in den USA. Er wurde zwar nirgends voll nachgeahmt, war aber doch ein bedeutsames Thema in der globalen Debatte über den Sozialstaat.7 In diesem seinem goldenen Zeitalter besaß der moderne europäische Wohlfahrtsstaat auch eine Reihe von Schwächen, die oft übersehen wurden. Seine Zielgruppe waren vor allem Industriearbeiter. Er war daher auf die Hilfe für die neuen Typen von Armen, auf Immigranten, Einelternfamilien, Arbeitslose und Drogenabhängige schlecht vorbereitet. Mit den Herausforderungen des vierten Alters, also der intensiven Pflegebedürftigkeit alter Menschen war der klassische Wohlfahrtsstaat ebenfalls überfordert. Sie wurde mit der wachsenden Lebenserwartung ein immer gravierenderes Problem, blieb aber an den damit schwer belasteten Familien hängen. Der Wohlfahrtsstaat baute vor allem auf lebenslänglicher Beschäftigung auf und brachte zu wenig Leistungen für Frauen, die nur vorübergehend erwerbstätig gewesen waren oder während ihres ganzen Lebens Hausfrauen blieben, aber auch für Männer, deren berufliche Lebensläufe unterbrochen wurden. Die massive Expansion des Wohlfahrtsstaates ließ Erwartungen auf immer weiter zunehmende Leistungen des Wohlfahrtsstaates entstehen, die auf die Dauer im Kontext von normalem wirtschaftlichen Wachstumsraten nicht erfüllbar waren. Für die europäischen Schwellenländer im südlichen Europa war darüber hinaus der Wohlfahrtsstaat der Industrieländer nur schwer finanzierbar und blieb daher eine unerreichbare und politisch unrealistische Option, die gleichwohl eine drängende Herausforderung war, auch weil viele Bürger dieser Länder als temporäre Auswanderer den Wohlfahrtsstaat im nördlichen Europa erlebten.

seit den 1950er Jahren, Wiesbaden 2012, S. 123–132; H. ­Kaelble, Europäische Vielfalt und der Weg zu einer europäischen Gesellschaft, in: Hradil u. Immerfall, Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, S. 42 ff. 7 Vgl. A. Eckert, Exportschlager Wohlfahrtsstaat? Europäische Sozialstaatlichkeit und Kolonialismus in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S.467–488; ders., Wohlfahrtsmix, Sozialpolitik und »Entwicklung« in Afrika im 20. Jahrhundert, in: G. Melinz u. a. (Hg.), Sozialpolitik in der Peripherie. Entwicklungsmuster und Wandel in Lateinamerika, Afrika, Asien und Osteuropa, Wien u. Frankfurt / M 2001, S. 99–116; Y.  ­Tanaka, Between self-responsibility and social security. Japan and the European social model from  a historical perspective, WZB-Jahrbuch 2004, S. 176–214; Rieger u. Leibfried, Limits to globalization; I. Bizberg, Social security systems in Latin America in the 20th century and the model of the European welfare state, WZB-Jahrbuch 2004, S. 141–166

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IV. Haushaltsdisziplinierung und Arbeitslosigkeit der späten 1970er und der 1980er Jahre Seit den 1970er Jahren entstanden völlig neue Kontexte und ganz andere Herausforderungen für den europäischen Wohlfahrtsstaat. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten brachen in den meisten westeuropäischen Ländern ein. Das westliche Europa gehörte neben Afrika ab den 1970er Jahren plötzlich zu den am wenigsten dynamischen Weltregionen. Im östlichen Europa wuchs zwar die Wirtschaft nach den offiziellen Statistiken unverändert weiter, aber Versorgungsengpässe und staatliche Verschuldung wurden zunehmend spürbar. Das Symbol dieser wirtschaftlichen Wende, die Ölschocks, die schlagartige Erhöhung dieses zentralen Rohstoffs von rund 3 $ auf rund 20 $ zwischen 1973 und 1979, waren nur ein Grund für diesen Rückgang der wirtschaftlichen Dynamik. Andere Gründe kamen dazu, darunter vor allem eine Normalisierung des europäischen Wirtschaftwachstums nach der historisch völlig aus dem Rahmen fallenden Periode der Wirtschaftswunder. Als Folge dieser Dämpfung des wirtschaftlichen Wachstums nahmen die Einkommen nur noch langsam zu. Die Arbeitslosigkeit stieg in den späten 1970er Jahren und den 1980er Jahren an. Die Spielräume der öffentlichen Haushalte wurden enger, da die Steueraufkommen nicht mehr so sprudelten wie in der Epoche davor. Neu war auch die Verschiebung der Werte und die Abschwächung des Zukunftsoptimismus, der Rückgang der Planungseuphorie und des Glaubens an die Planbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft, die wirtschaftlichen Verunsicherung zuerst durch Inflation, später durch die Arbeitslosigkeit, die wissenschaftliche Verunsicherung des Vertrauens in Wissenschaft und Technik durch medikamentös erzeugte Krankheiten wie die Conterganverkrüppelungen und durch den Reaktorunfall von Tschernobyl 1986. Gleichzeitig verschoben sich die leitenden Wirtschaftskonzepte. Der Keynesianismus erlebte einen Niedergang, der Monetarismus und Marktliberalismus mit seinen Prinzipien der Deregulierung und des Rückzugs des Staates aus der Gesellschaftsintervention einen Aufstieg. Aufgrund der schwachen wirtschaftlichen Dynamik, aber auch aufgrund des Aufstiegs der Dienstleistungsgesellschaft änderten sich schließlich auch die Erwerbslebensläufe. Lebensläufe, in denen die Erwerbstätigkeit durch Arbeitslosigkeit, durch Weiterbildung, durch Familienauszeit oder durch Auslandsaufenthalte unterbrochen wurde, wurden häufiger. Dahinter standen auch eine Veränderung der Werte und eine höhere Priorität der Selbstverwirklichung durch Arbeit, Lebensläufe und Werte, auf die der Wohlfahrtsstaat damals nicht eingestellt war. In diesen neuen Kontexten geriet der europäische Wohlfahrtsstaat in eine krisenhafte Situation. Er sah sich drei unterschiedlichen Krisen gegenüber: Er hatte eine politische Krise in der wachsenden öffentlichen Kritik am Wohlfahrtsstaat seit den späten siebziger Jahren durchzustehen, eine wachsende Kritik an den hohen Kosten der staatlichen Sozialversicherungen, an den Massenuniversitäten, an den Fehlern der Stadtplanung und der unzureichenden 216

Gesundheitspolitik. Diese Kritik kam nicht, wie oft angenommen, ausschließlich aus dem marktwirtschaftlichen Lager. Auch von den neuen sozialen Bewegungen wurde der Wohlfahrtsstaat wegen seiner schwerfälligen Sozialbürokratie, wegen zu großer Krankenhäuser und Universitäten, wegen am Bürger vorbei gehender Stadtplanung kritisiert. Darüber hinaus kam die Kritik auch aus den Reihen der Anhänger des Wohlfahrtsstaates, die ihn wegen seiner mangelnden Effizienz angriffen. Daneben stand der europäische Wohlfahrtsstaat einer Finanzierungskrise gegenüber, da mit den sinkenden wirtschaftlichen Wachstumsraten auch die Steuereinnahmen weniger wuchsen oder stagnierten, die Verschuldung der europäischen Staaten zunahm und daher die Sozialausgaben nicht mehr in dem Maße wachsen konnten wie in der Epoche zuvor. Schließlich geriet der europäische Wohlfahrtsstaat auch in eine Leistungskrise. Die schon genannten Defizite des Wohlfahrtsstaates wurden in der neuen Situation geringen wirtschaftlichen Wachstums erst recht manifest und in der Öffentlichkeit stärker diskutiert. Diese Defizite wurde noch verstärkt durch die demographische Entwicklung, durch die Zunahme der Lebenserwartung und damit der Rentner, und gleichzeitig durch den Rückgang der Geburtenrate und damit auch den sinkenden Anteil der Erwerbstätigen, über die der Wohlfahrtsstaat finanziert wird. Diese Defizite wurden auch offenkundiger angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit, der erwähnten neuen Erwerbslebensläufe und der neuen Herausforderung der Integration der Millionen von Immigranten. Die Wirkungen dieser Krise auf den europäischen Wohlfahrtsstaat waren allerdings anders als man es erwarten würde. Einerseits hatte diese Krise eine ganze Reihe gravierende Auswirkung: Die Sozialreformen sahen seit den frühen 1970er Jahren meist anders als in der Epoche davor, waren nicht mehr auf Ausweitung der Sozialleistungen, sondern stärker auf Effizienz und Kostenersparnis ausgerichtet. Deregulierung, die zentrale Forderung der marktwirtschaftlichen Positionen, wurden auch im Wohlfahrtsstaat durchgesetzt, nicht nur im Bereich des Wohnungsbaus, sondern auch im Gesundheitssektor, in der Stadtplanung, teilweise auch in den staatlichen Sozialversicherungen, in die private Elemente eingefügt wurden. Der europäische Wohlfahrtsstaat war immer weniger glänzender Bestandteil einer glänzenden Zukunftsvision, sondern wurde zunehmend als eine graue, komplizierte, schwer durchschaubare Materie angesehen. Der Wohlfahrtsstaatskonsens zwischen den politischen Parteien wurde brüchiger. In der globalen Öffentlichkeit verlor das europäische Sozialmodell seine einstige Attraktivität. Auch die positiven Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates gingen zurück. Im westlichen Europa nahmen seit den 1980er Jahren die Einkommensdisparitäten zu. Der Zugang zu den Sekundarschulen verbesserte sich nur noch wenig. In Osteuropa begann die Lebenserwartung für Frauen zu stagnieren, für Männer sogar zu sinken. Die Ost-West-Kontraste in der Sozialpolitik verschärften sich zudem. Im östlichen Europa setzten die Regierungen auf eine Verbesserung des Lebensstandards über Sozialpolitik und über Subventionen. Die Sozialpolitik erhielt ein neues Gewicht gegenüber der Wirtschaftspolitik, war 217

allerdings auch ein wesentlicher Grund für die verhängnisvolle Verschuldung der Staaten im östlichen Europa. Im westlichen Europa dagegen erhielten Haushaltsdisziplin und das Abbremsen der wohlfahrtstaatlichen Ausgaben stärkere Priorität. Wirtschaftliche Gesichtspunkte erhielten ein stärkeres Gewicht in der Sozialpolitik. Gleichzeitig entwickelte sich der europäische Wohlfahrtsstaat in zwei Richtungen, die angesichts der Krise überraschen. Die Sozialausgaben sanken trotz der politischen Rhetorik des Abbaus des Sozialstaates nicht oder höchstens für wenige Jahre ab. In der langen Sicht der 1970er und 1980er Jahre stiegen die Sozialausgaben als Anteil des Sozialprodukts sogar an. Darüber hinaus verstärkte sich die Konvergenz innerhalb Westeuropas in den Leistungen des Wohlfahrtsstaats (nicht in den Institutionen), also in den Transferleistungen, im Bildungsniveau, in den Wohnstandards und der Lebenserwartung weiter. Die Krise führte innerhalb Westeuropas nur kurzfristig zu neuen Disparitäten. Ein Grund dafür: Stärker als in der vorhergehenden Epoche entwickelte sich zudem ein Advokat des Wohlfahrtstaats: das Milieu von Sozialwissenschaftlern, Sozialarbeitern, Sozialmedizinern, Sozialrichtern und Sozialrechtsanwälte, freien Wohlfahrtsverbänden und Armutsexperten, Bildungs- und Gesundheitsexperten, Stadtplanern, Journalisten und Politikern, die in der Öffentlichkeit den Wohlfahrtsstaat verteidigten.8

V. Nach dem Ende des Kalten Krieges Die entscheidenden Neuentwicklungen dieser Epoche waren das Ende des Kalten Krieges und damit auch das Ende der Konkurrenz zwischen westlichen und östlichen Wohlfahrtsstaaten; der Aufstieg der neuen Wirtschaftsmächte China, Indien, Brasilien, Russland mit schwachen oder völlig fehlenden Wohlfahrtsstaaten; der Kompetenzzuwachs der Europäischen Union in einer Serie von vier Vertragsreformen und die Einführung des Euro mit hohen Anforderungen an niedrige Staatsverschuldung und niedrige Inflation und mit wichtigen Auswirkungen auf die Wohlfahrtsstaaten. Wirtschaftlich brachte diese Epoche für Europa keine grundsätzlich neuen wirtschaftlichen Wachstumsschübe. Von einem kurzen Boom während der frühen Neunzigerjahre abgesehen blieben die wirtschaftliche Dynamik weiterhin weit hinter der Prosperität der 1950er und 1960er Jahre zurück. Allerdings waren die 1990er Jahre eine Epoche eines Globalisierungsschubs, einer stärkeren Einbindung Europas in die Weltwirtschaft, die auch Auswirkungen auf den Wohlfahrtsstaat hatte.

8 Vgl. etwa L. Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193.

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In der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates liefen die Tendenzen der Epoche davor weiter. Die Debatte über den Wohlfahrtsstaat blieb kritisch. Die Deregulierung wurde verstärkt weitergeführt. Sozialreformen blieben an Effizienz und Kostenreduzierung orientiert, dienten stärker als zuvor der Reaktivierung, Weiterbildung und Rückführung in das Berufsleben. Der Wohlfahrtsstaat wurde stärker an die neue demographische Situation angepasst, die Erwerbstätigkeit im erwerbsfähigen Alter stimuliert und das Rentenalter hinausgeschoben. Gleichzeitig setzte sich die innereuropäische Konvergenz fort. Trotz aller wohlfahrtsstaatlichen Kritik sank zudem der Anteil der Sozialausgaben am Sozialprodukt weiterhin nicht. Der Wohlfahrtsstaat gewann weiterhin nicht die Wirkungsmacht der Prosperitätszeit zurück. Einkommensunterschiede stiegen weiter. Die Armut nahm weiter zu. Die Bildungschancen verbesserten sich nicht. Drei neue Entwicklungen gab es in dieser Epoche. Nach der Transformationskrise und dem Verfall des kommunistischen Sozialstaates in den frühen neunziger Jahren wurde im östlichen Europa ein neuer Wohlfahrtsstaat aufgebaut, der sich zwar oft erratisch und ohne dauerhafte politische Leitlinien der Regierungen entwickelte, sich aber doch im wesentlichen an den westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten orientierte und mehr als nur eine minimale soziale Sicherung anbot. Die Regierungen in Ostmittel- und Osteuropa antworteten damit auf das hohe soziale Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung, das nicht nur ein Erbe der kommunistischen Ära, sondern in den ostmitteleuropäischen Ländern auch eine Erbe der Zwischenkriegszeit war. Eine Wiederannäherung der Sozialpolitik in Europa nach einer langen Ost-West-Teilung setzte ein.9 Darüber hinaus wurde der Sozialstaat vor allem seit der Jahrhundertwende wieder ein heißes politisches Thema. Das Rentenalter, die Ausbildung der zweiten und dritten Generation der Immigranten, die Zweiklassenmedizin, die Arbeitslosigkeit und die Bildung als Instrument für die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit, die verstärkte Familien- und Kinderarmut, auch die wachsende soziale Ungleichheit aufgrund der immer höheren Gehälter besonders im Finanzsektor wurden in der politischen Öffentlichkeit intensiv diskutiert. Zeitweise wurde auch das europäische Sozialmodell Thema der öffentlichen Debatte. Zudem erhielten die Wohlfahrtsstaaten in Europa weitere internationale Elemente durch die Europäische Union. Neben den schon in den Gründungsverträgen der 1950er Jahre festgelegten Öffnung der nationalen Sozialstaaten für Bürger aus anderen Mitgliedsländern, dem europäischen Abbau der Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen und dem Europäischen Sozialfonds nutzte die Europäische Union die neuen Kompetenzen zur Intervention in die Arbeitsbedingungen und in den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz, die sie in den 1980er Jahren mit der Einheitlichen Akte erhalten hatte. Zudem wurden im Vertrag von Nizza 2000 soziale Grundrechte eingeführt, die oft detaillierter oder

9 Tomka, Welfare in East and West; ders., European integration, in: Bauerkämper u. ­Kaelble, Gesellschaft in der europäischen Integration, S. 123–132.

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weitergehender waren als in den Verfassungen der Mitgliedsländer. Nationales Sozialrecht wurde dadurch ergänzt. Mit der indirekten Methode der Koordinierung mobilisierte die Europäische Kommission die nationalen Öffentlichkeiten und erzeugte Druck auf die Regierungen der Mitgliedsstaaten zur Anpassung ihrer Sozialpolitik an die besonders weit entwickelten nationalen Regelungen in der Europäischen Union. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg traf wichtige sozialrechtliche Entscheidungen.10 Die Finanzkrise 2009–2012 könnte schließlich eine neue Epoche des euro­ päischen Wohlfahrtsstaates eingeläutet haben. Auf den ersten Blick erscheint das nicht zwingend, weil sich auch bei niedrigem Wirtschaftswachstum die hohen und steigenden staatlichen Sozialausgaben in Europa in den vergangenen Jahrzehnten finanzieren ließen, ohne dass daraus eine Krise der öffentlichen Schulden entstand. Die entscheidenden Ursachen für die Finanzkrise in Europa waren nicht die Wohlfahrtsstaaten, sondern die extrem riskanten, krisenauslösenden Derivate der Banken und die enormen Summen, die von den europäischen Regierungen für die Rettung der Banken aufgebracht werden mussten. Trotzdem gefährdete die Finanzkrise den Wohlfahrtsstaat, weil Vielen die hohen euro­päischen Sozialausgaben als der optimale Steinbruch für den Abbau der öffentlichen Ausgaben Europa erschienen.

VI. Zusammenfassung Wie schreibt man die Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945 am besten: als ein Niedergang, als eine fortwährende Anpassungsleistung an die vier geschilderten, jeweils völlig neuen Situationen in Wirtschaft und in Politik oder als eine Europäisierung des Wohlfahrtsstaats? Manches spricht für Europäisierung als ein Narrativ der Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945. Die großen Unterschiede zwischen den europäischen Wohlfahrtsstaaten, die nationalen Sonderwege, die Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd, aber auch zwischen Reform10 Vgl. B.  Schulte, Die Entwicklung der europäischen Sozialpolitik, in: H. A.  Winkler u. H. ­­Kaelble (Hg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, Stuttgart 1993, S. 261– 287; ders., »Europäisches Sozialrecht«: ›Acquis‹ und Zukunftsperspektive, in: A. Bauerkämper u. H. ­­Kaelble (Hg.), Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren, Wiesbaden 2012; U. Becker, Der Sozialstaat in der Europäischen Union, in: U. Becker u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland, Berlin 2010, S. 313–338; B. Strat, Die enttäuschte Hoffnung auf das soziale Europa, in: Bauerkämper u. ­Kaelble, Gesellschaft in der europäischen Integration, S. 23–42; H. ­­Kaelble, Geschichte des sozialen Europa. Erfolge oder verpasste Chancen?, in: G.  Metzler u. M.  Werner (Hg.), Europe neu besehen / L’Europe revisitée. Geistes- und sozialwissenschaftliche Einblicke / Regards croisés des sciences humaines et sociales, Frankfurt 2019.

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staaten und reformunwilligen Staaten wurden im Laufe der Jahrzehnte abgemildert. Die Verflechtung und der Austausch wohlfahrtstaatlicher Konzepte zwischen den europäischen Staaten nahm zu, vor allem weil der Austausch zwischen Demokratien leichter wurde als zwischen gegensätzlichen politischen Regimen. Dieser Austausch zwischen den Regierungen war in Europa sicher nicht neu, intensivierte sich aber in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg. Schließlich spricht für Europäisierung auch der zunehmende Einfluss der Europäischen Union auf die nationalen Wohlfahrtsstaaten. Die Öffnung der geschlossenen nationalen Sozialstaaten gegenüber Zuwanderern, die Erhöhung des Standards der sozialen Sicherung und die Verstärkung der sozialen Grundrechte waren wichtige Ziele der Europäischen Union. Trotzdem kann die Europäisierung nur eine unter mehreren Leitlinien für die Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945 sein, vor allem weil die staatliche Rente, Gesundheitsversorgung und Arbeitslosenabsicherung in der Verantwortung der nationalen Regierungen blieb. Soziale Transferleistungen stammten weit überwiegend von nationalen Wohlfahrtsstaaten und verstärkten die Legitimität des Nationalstaates unter den Europäern. Auch für den Niedergang des Wohlfahrtsstaates als leitendes Narrativ spricht manches. Die Glanzzeit des klassischen Wohlfahrtsstaates zwischen den 1950er und den frühen 1970er Jahren, die Politik eines rapiden Ausbaus der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, ist ohne Zweifel in den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union schon lange zu Ende, und damit auch die Erwartungen der Bürger an eine immer mehr ausgebaute staatliche soziale Sicherung und an einen Wohlfahrtsstaat als Perle in einer glänzenden Zukunftsvision. Trotzdem kann man die Geschichte des Wohlfahrtsstaates seit den 1970er Jahren nicht einfach als Niedergang beschreiben. Der klassische europäische Wohlfahrtsstaat der trente glorieuses besaß durchaus auch Defizite, die seit den 1970er Jahren wenigstens teilweise abgebaut wurden, etwa die Absicherung des vierten, pflegebedürftigen Alters oder die Anpassung des Wohlfahrtsstaates an vielfach unterbrochene Erwerbslebensläufe oder die Verbesserung der Bildung, Stadt­planung und zur Gesundheitsversorgung. Darüber hinaus nahmen die Sozialausgaben seit den 1950er Jahren gemessen am Sozialprodukt keineswegs ab, sondern stiegen ganz im Gegenteil weiterhin an. Das Milieu, das den europäischen Wohlfahrtsstaat politisch stärkt, die Sozialexperten, Sozialarbeiter, Sozialpolitiker, Sozialmediziner, Sozialrichter und Vertreter der privaten Wohlfahrtsverbände hat an politische Durchschlagskraft nicht verloren. Der Wohlfahrtsstaat blieb ein wichtiges Element der Identifikation mit dem Staat in Europa. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten wandelten sich sicher stark, waren aber nicht einfach im Verfall begriffen. Daher könnte die Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates im 20. Jahrhunderts schon eher als eine Geschichte von Anpassung an ganz gegensätzliche historische Herausforderungen geschrieben werden. Dafür spricht Vieles. Der europäische Wohlfahrtsstaat hatten seit 1945 ganz unterschiedliche Situationen zu bewältigen: zuerst die Notsituation der unmittelbaren Nachkriegszeit, dann 221

die außergewöhnliche wirtschaftlichen Prosperität von den 1950er bis frühen 1970er Jahren, aus der nicht alle Europäer als Gewinner, sondern auch als Verlierer herauskamen, dann die Probleme der Inflation, der Limitierung der öffentlichen Haushalte und die sinkenden Geburtenraten seit der Mitte der 1970er Jahre, seit den 1980er Jahren die wachsende Arbeitslosigkeit und Armut, auch die Herausforderungen der Globalisierung, in den 1990er Jahren die Transformationskrise im östlichen Teil Europas und schließlich die Finanzkrise 2009–2012. Der Wohlfahrtsstaat in Europa hatte mit diesen immer neuen, unvorhersehbaren Herausforderungen zurechtzukommen. Eine solche Synthese kann sich freilich nicht völlig auf diese gegensätzlichen Herausforderungen beschränken. Sie hat auch auf Konstanten einzugehen, die über diese Epochen hinweg für die Entwicklung des europäischen Wohlfahrts­ staates grundlegend waren: die Pfadabhängigkeit der Institutionen, die Dauerhaftigkeit und schwierige Reformbarkeit von Wohlfahrtsstaatsinstitutionen, sobald sie einmal eingerichtet sind; das starke, einflussreiche Milieu zur Stützung des Wohlfahrtsstaates, das soeben erwähnt wurde, das allerdings kein reines Verteidigungsmilieu war, sondern oft durchaus sensibel für Anpassung des Wohlfahrtsstaates war; die Besonderheit eines Großteils der europäischen Exportwirtschaft, die Qualitätsprodukte exportiert, dafür hoch qualifizierte Arbeiter, Ingenieure, Techniker, Verkaufsexperten und EDV-Experten benötigt, die alle nicht von einem Tag auf den anderen ausgebildet werden können und die der Wirtschaft nur durch eine wirkungsvollen soziale Sicherung erhalten werden können; die hohe Priorität der Europäer für die staatliche soziale Sicherung, die sowohl durch den westeuropäischen als auch durch den osteuropäischen Wohlfahrtsstaat gestützt wurde und deshalb nach 1989/90 eine europäische Gemeinsamkeit war; schließlich, woran man nicht unbedingt denkt, auch die klassische europäische Kernfamilie, die anders als die Großfamilie nur begrenzt soziale Sicherung bietet und vor allem für die Lebensphase des jungen Erwachsenen und des Alters eine außerfamiliäre soziale Sicherung braucht. Diese europäische Kernfamilie hat schon im 19. Jahrhundert entscheidend zur Entstehung des Sozialstaates in Europa beigetragen und erfordert bis heute einen ausgebauten Sozialstaat. Insgesamt spricht daher wenig für eine reine Niedergangsgeschichte. Manches spricht für die Geschichte der Europäisierung des Wohlfahrtsstaats mit ihren Grenzen. Vieles spricht für eine Geschichte des Wohlfahrtsstaats, der seit dem Zweiten Weltkrieg auf grundlegend unterschiedliche Herausforderungen zu reagieren hatte, teils überfordert war, aber überwiegend mit ihnen zurechtkam.

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13. Geschichte des sozialen Europa: Erfolge oder verpasste Chancen?

Man spricht wieder vom sozialen Europa, unter Politikern ebenso wie unter Experten. Allerdings fällt auf, dass diese Diskussion vor allem im französischund deutschsprachigen Europa, viel seltener in Englisch oder in anderen euro­ päischen Sprachen stattfindet. Das Thema passt auch deshalb zu Saisir l’Europe. Dabei wird die Geschichte des sozialen Europa ganz unterschiedlich gesehen. Dieser Artikel wird zuerst sehr knapp die Unterschieden der Forschungs­ positionen ansprechen, danach ausführlicher eine etwas andere, eigene Interpretation der Geschichte des sozialen Europas vortragen und am Ende kurz auf die Chancen dieses europäischen Politikfelds eingehen.

Die Forschungskontroverse Die Forschung zur Geschichte des sozialen Europas, die vor allem in Frankreich und Deutschland von Historikern, Soziologen und Juristen geschrieben wird, folgt zwei unterschiedlichen Narrativen von der Geschichte des sozialen Europa. Auf der einen Seite wird sie als eine Geschichte der verpassten Chancen eines supranationalen europäischen Wohlfahrtsstaats geschrieben. Wann diese Chance verpasst wurde, wird verschieden eingeschätzt. Teils wird die verpasste Chance vor allem in den frühen 1970er Jahren im von Willy Brandt inspirierten Pariser Gipfel von 1972 und dem nicht eingelösten europäischen Sozialprogramm von 1974, teils in der Präsidentschaft Delors mit ihrer starken Orientierung auf den Binnenmarkt und auf die europäische Währung, teils in der Umorientierung der europäischen Sozialpolitik auf Bildung und Beschäftigung seit dem Anfang des 21. Jahrhunderts, teils in der sozialpolitischen Folgenlosigkeit der Finanz- und Eurokrise 2008–2012 gesehen. In einem historischen Überblick sieht beispielsweise Jean-Claude Barbier nach zögernden Anfängen des sozialen Europa zwischen den Römischen Verträgen und der Einheitlichen Akte (1986) zwar eine günstige Zeit des sozialen Europa während der Kommissionspräsidentschaft von Jacques Delors bis 2003, aber eine Schwächung des sozialen Europa seit der Osterweiterung. Die heutige Europäische Union besitzt in seinen Augen zwar durchaus eine soziale Dimension, aber die Dynamik zu einer europäischen sozialen Sicherheit löste sich auf.1 1 J.-C. Barbier, La longue marche vers l’Europe sociale, Paris 2015, S.79ff, 259 ff.; vgl. zudem B. Stråth, Die enttäuschte Hoffnung auf das soziale Europa, in: A.Bauerkämper u. H.Kaelble

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Über die Gründe für die verpasste Chance eines sozialen Europa gibt es unter den eher skeptischen Forschern keinen Konsens. Man sieht sie in der Widerständigkeit der nationalen Wohlfahrstaaten und in der Diversität Europas oder in den unzureichenden europäischen Institutionen, der Übermacht des Europäischen Rates, der nationale Interessen festschreibt und nicht gewillt ist, der Europäischen Union ein eigenes Sozialbudget zuzugestehen, oder in der deutschen Übermacht und in dem Austeritätsprogramm, das Deutschland der Europäischen Union auferlegte, oder in der zu engen Bindung der Europäischen Union an kapitalistische Interessen. Die andere Position der Forschung betrachtet das soziale Europa als ein bedeutsames Projekt schon seit den Anfängen der europäischen Integration. Diese Richtung der Forschung vertritt die These, dass wichtige Elemente einer europäischen Sozialpolitik nach und nach entstanden, auch wenn es bisher nicht zu einem europäischen Wohlfahrtsstaat kam. Für dieses soziale Europa in kleinen, nicht kontinuierlichen Schritten hat Peter Becker eine andere Periodisierung als Jean-Claude Barbier vorgeschlagen: Auch er sieht die Gründerzeit der europäischen Integration als einen verhaltenen Beginn, dann in den 1970er Jahren eine erste Blütezeit, in den 1980er Jahren eine Zeit der Stagnation, zwischen 1989 und 2000 eine weitere Konsolidierung der sozialen Dimension des Binnenmarkts und dann ab der Jahrhundertwende keinen Niedergang, sondern eine Politik der sozialen Flankierung.2 Monika Eigmüller hat jüngst eine anregende andere (Hg.), Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren. Stuttgart 2012, S. 23–42; B. Stråth, The foundation, the failure and future of social Europe, in: R. Hohls u. H.Kaelble (Hg.), Geschichte der europäischen Integration seit 1990, Stuttgart vorauss. 2020; F. Denord u. A. Schwartz, L’Europe sociale n’aura pas lieu, Paris 2009; C. Offe, Europa in der Falle, Berlin 2016; A. Chevalier u. J. Wielgohs (Hg.), Social Europe: A Dead End. What the Eurozone Crisis is Doing Europe’s Social Dimension, Kopenhagen 2015; P. Brandt, Einführung, in: P. Brandt (Hg.), Soziales Europa? Berlin 2009, S. 7 ff.; M. G.Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 20053, S. 245–254. 2 P. Becker, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, in: W. Weidenfeld u. W. Wessels (Hg.), Europa von A bis Z, Baden-Baden 2011, S. 333 f.; ähnlich: B.  Schulte, Europäisches Sozialrecht. ›Acquis‹ und Zukunftsperspektiven, in: A.  Bauerkämper u. H. Kaelble (Hg.), Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren. Stuttgart 2012, S. 143 ff.; E. Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa. Von der sozialen Frage bis zur Globalisierung, München 2007; M. Eigmüller, Europeanization from below: the influence of individual actors on the EU integration of social policies, in: Journal of European Social Policies 23.2013, S. 363–378; M. Eigmüller (Hg.), Zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, Sozialpolitik in historisch-soziologischer Perspektive, Weinheim 2012; G. A.  Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 20103 (insbesondere das Vorwort); O. Quintin, L’Europe sociale. Enjeux et réalités, Paris 1999, S.16 ff.; B. Schulte, Die Entwicklung der europäischen Sozialpolitik, in: H. A. Winkler u. H. Kaelble (Hg.), Nationalismus – Nationalitäten – Supranationalität, Stuttgart 1993, S. 261–287; H. Kaelble u. G. Schmid (Hg.), Das europäische Sozialmodell. Auf dem Weg zum transnationalen Sozialstaat, Berlin 2004 (WZB Jahrbuch 2004), S. 31–50; P.Becker, Europas soziale Dimension, Die Suche nach der Balance zwischen Europäischer Solidarität und nationaler Zuständigkeit, SWP Studie,

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Periodisierung des sozialen Europa vorgeschlagen. Sie versucht zu zeigen, wie das soziale Europa aus der Sicht der Bürger aussah und sieht zwischen den 1950er bis 1980er Jahre den europäischen Wirtschaftsbürger im Zentrum der europäischen Integration, dann ab den 1980er Jahre den europäischen Konsumbürger und schließlich seit dem Vertrag von Maastricht den europäischen Sozialbürger.3

Die Erfolge und Grenzen des sozialen Europa Soweit eine sehr knappe Skizze des Stands der Forschung. Wie sehen die Erfolge und verpassten Chancen des sozialen Europa aus, wenn man den Blick etwas verschiebt und nicht nur die gescheiterte Durchsetzung eines supranationalen europäischen Wohlfahrtsstaats oder die Geschichte der sozialpolitischen europäischen Kompetenzen in Gipfelerklärungen, Verträgen, Direktiven und Aktionsprogrammen verfolgt, sondern daneben auch die Auswirkungen der europäischen Sozialpolitik auf die soziale Sicherheit der Unionsbürger abzuschätzen versucht? Das ist sicher alles andere als leicht zu beantworten, weil die soziale Sicherheit der Europäer nicht allein von der Europäischen Union abhing. Es entstand jedenfalls eine ziemlich dauerhafte, wenn auch keineswegs unveränderbare Arbeitsteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, die sich nicht auf eine einfache Formel wie den Unterschied zwischen distributiver und regulativer Sozialpolitik zurückführen lässt. Die Mitgliedsländer besaßen ihre unterschiedlichen nationalen Sozialstaaten mit umfangreichen Sozialbudgets, standen in lebhaftem Austausch untereinander, führten daneben aber auch eine regulative Sozialpolitik.4 Die Europäische Union betrieb überwiegend regulative Sozialpolitik, finanzierte aber auch internationale soziale Transfers. Sie konzentrierte sich auf sieben Sozialpolitikbereiche, die in verschiedenen historischen Konstellationen entstanden, nie nach einem Masterplan entwickelt wurden und deshalb nicht in eine Systematik gebracht werden können. Wir gehen diese sieben sozialpolitischen Felder durch und versuchen, ihre Wirkung und damit auch den Erfolg des sozialen Europas abzuschätzen. Das kann in einem kurzen Aufsatz allerdings nur kursorisch geschehen. Zuerst die Felder der europäischen Sozialpolitik, die schon in den Römischen Verträ-

Stiftung für Wissenschaft und Politik, Berlin 2015; U. von Alemann u. a. (Hg.), Ein soziales Europa ist möglich. Grundlagen und Handlungsoptionen, Springer Wiesbaden 2015, S. 25–41; A.Varsori, Development of European social policy, in: W. Loth (Hg.), Experiencing Europe. 50 years of European Construction 1957–2007, Baden-Baden 2009, S. 169–192; J.  Cuesta Bustillo, A social Europe (1970–2006)?, in: ibid., S. 193–216. 3 Vgl. Eigmüller, 2013, S. 363–378. 4 Vgl. G. A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 3. Aufl., München 2010; Schmidt, 2005.

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gen festgelegt wurden, dann die Felder, über die in den 1980er und den 1990er Jahren entschieden wurde. (1) Die Beschäftigung als Mittel gegen soziale Notlagen war von Anfang an ein erstes wesentliches Ziel der europäischen Sozialpolitik. Schon in den Römischen Verträgen wurde dafür der europäische Sozialfonds vorgesehen. Er war nie als ein Baustein für einen europäischen Wohlfahrtsstaat gedacht. Er zahlte nie Renten oder Sozialhilfe oder Arbeitslosengelder, sondern finanzierte Projekte zur Ausbildung und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Er besaß für den Zeitraum 1961–1971 ein relativ schmales Budget von umgerechnet ca. 550 Millionen Euro, also jährlich etwas über 50 Millionen Euro. Es war nicht vergleichbar mit den Budgets der Wohlfahrtsstaaten der Mitgliedsländer. Allein die Bunderepublik gab um 1960 jährlich umgerechnet ca. 4 Milliarden Euro für staatliche soziale Sicherung aus. Der europäische Sozialfonds wurde vor allem in den 1980er und 1990er Jahren während der Zeit des Kommissionspräsidenten Jacques Delors angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit in der Europäischen Union ausgeweitet. Sein Budget wurde für die Periode 1989–1993 auf über 20 Milliarden Euro, also jährlich auf ca. 4 Milliarden, aufgestockt. Für die Periode von 2015–2020 erhielt er ein jährliches Budget von über 10 Milliarden Euro. Das Budget wuchs also erheblich, lag aber weiterhin weit unter den Budgets der nationalen Wohlfahrtsstaaten. Die Mittel des europäischen Sozialfonds flossen anfangs vor allem nach Italien und in die Bundesrepublik, gehen in jüngster Zeit an alle Mitgliedsländer, aber überproportional stark an südliche und östliche Mitgliedsländer, nach Spanien und Portugal, Polen, Ungarn, Rumänen und Estland.5 Der Europäische Sozialfonds war auch deshalb nie ein Baustein für einen europäischen Wohlfahrtsstaat, weil er von Anfang an anders als die Agrarpolitik ganz der Regie der einzelnen Mitgliedsstaaten unterstellt und durch das jeweils zuständige nationale Ministerium, nicht durch eine europäische Behörde verwaltet wurde. Europäisch war am europäischen Sozialfonds lange Zeit nur der Transfer von finanzielle Mitteln zwischen den Mitgliedsländern. Erst seit der Präsidentschaft Jacques Delors kontrollierte die Europäische Kommission wenigstens die Kriterien für die Vergabe der wachsenden Mittel des Europäischen Sozialfonds und drängte auf eine stärkere Konzentration der kofinanzierten Mittel für bedürftige Regionen und Sozialgruppen, seit den 1990er Jahren vor allem auf mehr Beschäftigung von Jugendlichen, Frauen und älteren Arbeitnehmern. Die Vergabekriterien wurden in jüngster Zeit auf der europäischen Ebene nicht nur mit den Mitgliedstaaten, sondern auch mit der Zivilgesellschaft ausgehandelt. Allerdings wurden die finanziellen Mittel weiterhin von den nationalen Ministerien verwaltet. In regelmäßigen Berichten, den cohesion reports, wurde 5 Vgl. 6. Cohesion Report 2014, in: http://cor.europa.eu/en/events/Documents/6th-cohesionreport-presentation; European Social Fund. 50 years investing in people, Luxemburg 2007;​ http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docoffic/official/reports/cohesion6/index_en.​ cfm (28.34.17).

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seit 1996 auch über die Kriterien und die Mittelvergabe des Europäischen Sozialfonds berichtet. Die Wirkung der Ausgaben des Sozialfonds auf die Notlagen der Unionsbürger, auf Armut, Arbeitslosigkeit und Chancenungleichheit in der Europäischen Union wird freilich nicht im Überblick verfolgt.6 Seit den 1990er Jahren setzte die Europäische Union für ihre Beschäftigungs- und Bildungspolitik mehrere Fonds ein, neben dem dezentralen Europäischen Sozialfonds auch von ihr gesteuerte Fonds, das Europäische Programm für Beschäftigung und soziale Innovation (2013) mit einem Budget von rund einer Milliarde Euro, den Europäischen Globalisierungsfonds (2012) mit einem jährlichen Budget von 150 Millionen Euro und den Sonderfonds zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit mit 6 Milliarden Euro.7 Insgesamt liegt der Umfang dieser europäischen Transfers mit rund 50 Milliarden Euro nicht mehr ganz so weit hinter den nationalen Wohlfahrtsstaaten zurück. Rumänien, das ärmste Land in der Union, erhielt allein aus dem europäischen Sozialfonds für die Zeit 2014–2020 fast 5 Milliarden Euro, gab für seinen eigenen Wohlfahrtsstaat 2014 22 Milliarden Euro aus.8 Die Transfers des europäischen Sozialfonds sind daher durchaus ein Element einer europäischen Solidarität. Die Wirkungen und Erfolge des Europäischen Sozialfonds sind schwer einzuschätzen. Nach Angaben der Europäischen Kommission soll er zwischen 2007 und 2014 über 9 Millionen Europäern bei dem Eintritt in den Arbeitsmarkt und fast 9 Millionen bei der Ausbildung geholfen haben. Bei rund 20 Millionen Arbeitslosen in der Europäischen Union wäre das eine beachtliche Leistung. Aber um wie viele Prozent der Europäische Sozialfond die Arbeitslosigkeit der Europäischen Union senkte, lässt sich aus dem Bericht der Europäischen Kommission nicht erkennen. Er gibt nur an, dass das Wirtschaftswachstum durch den Europäischen Sozialfonds um ein Viertel Prozent erhöht worden sei, zu wenig, um die Arbeitslosigkeit spürbar zu senken.9 (2) Die Öffnung der abgeschlossenen nationalen Sozialstaaten für Zuwanderer war ebenfalls immer ein erstrangiges Ziel der europäischen Integration. Dieses Ziel hatte eine hohe Priorität, da dadurch die Mobilität der Arbeitskräfte im gemeinsamen Wirtschaftsmarkt erleichtert werden konnte. Es war deshalb schon in den Römischen Verträgen von 1957 (Art. 121 EWG-Vertrag) enthalten und

6 Vgl. European Social Fund. 50 years investing in people, Luxemburg 2007, S. 21 ff.; https:// cohesiondata.ec.europa.eu/EU-Level/EU-Level-Achievements/3ux5-zvua; Europäische Kom­ mission (Hg.), Soziales und Integration. Generaldirektion Beschäftigung; Innovation durch den europäischen Sozialfonds: Förderung von Beschäftigung und Chancengleichheit 2011. Auch die »ex-ante-conditionality« prüft die Effizienz der Verwaltung, nicht die sozialen Auswirkungen. (http://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docoffic/official/reports/ cohesion6/index_en.cfm). 7 Becker, 2015, S.21 f. 8 http://ec.europa.eu/esf/main.jsp?catId=443&langId=en (ESF-Zahlungen an Rumänien; http://appsso.eurostat.ec.europa.eu (Sozialausgaben Rumäniens). 9 http://ec.europa.eu / esf / home.jsp.

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wurde sehr früh durch Verordnungen ausgestaltet.10 Es ist auch Bestandteil des nicht verhandelbaren Essentials der freien Mobilität der Arbeitskräfte in der Europäischen Union. Die Öffnung der nationalen Sozialstaaten war nicht leicht durchzusetzen, ist bis heute lückenhaft und umstritten. Sie hat jedoch entscheidend dazu beigetragen, dass die Mobilität der Erwerbstätigen innerhalb der Europäischen Union erheblich zunahm. 1959, also in der Zeit der Unterzeichnung der Römischen Verträge, stammten rund 0,6 Millionen der erwerbstätigen Einwohner in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus anderen Mitgliedstaaten, 1974 in der Europäischen Gemeinschaft schon 1,7 Millionen, 1981 nach dem Ende des Wirtschaftsbooms immer noch 1,1 Millionen. Im Jahr 2013 lag allein die Zahl der Zuwanderer (also nicht der Einwohner) aus anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union bei 1,3 Millionen. Wie stark die Zunahme der Mobilität war, lässt sich an einzelnen europäischen Ländern mit besser vergleichbaren Zahlen deutlicher zeigen: In die Bundesrepublik wanderten 1959 mitten im Boom rund 180.000 Menschen aus anderen Teilen Europas zu, 2015 dagegen in Deutschland kurz nach der Krise 460.000 aus anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union.11 Diese Arbeitsmigration innerhalb der Europäische Union wird oft unterschätzt, weil sie im Schatten der umfangreicheren und sichtbaren Zuwanderung aus Ländern außerhalb der Europäischen Union liegt. Sie kommt aber durchaus an die Dimensionen der amerikanischen Mobilität heran, die oft als Modell angesehen wird. Sie war in der jüngsten Zeit immerhin fast halb so hoch wie die Mobilität zwischen den Bundestaaten der USA mit jährlich etwas über 3 Millionen.12 Dieser Unterschied erscheint noch geringer, wenn man bedenkt, wie viel größer die Kultur- und Sprachbarrieren zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union sind, wie neu die Aufhebung der Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist, auch wie viel weniger zahlreich die Mitgliedsländer der Europäischen Union sind. Diese Mobilität in der Europäischen Union hat sicher mehrere Gründe, aber ohne die Öffnung der nationalen Sozialstaaten wäre sie höchstwahrscheinlich geringer geblieben. (3) Das Abschleifen der Unterschiede zwischen den europäischen Wohlfahrtsstaaten war und ist ein drittes wichtiges Ziel der europäischen Integration, da eine möglichst hohe soziale Sicherung in allen Mitgliedsländern ein Grundziel 10 Vgl. Schulte, 2012, S. 139 ff. 11 H. Werner u. I.König, Ausländerbeschäftigung und Ausländerpolitik in einigen westeuro­ päischen Industriestaaten, Nürnberg 1984, Tabelle 8; Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1967, S. 67; Eurostat. Einwanderung nach Geschlecht, fünfjährigen Altersgruppen und Staatsangehörigkeit 2013–2014 http://appsso.eurostat.ec.europa.eu (17.2.17). 12 R. S.Franklin, Domestic Migration Across Regions, Divisions, and States: 1995 to 2000, issued 2003, https://www.census.gov/prod/2003pubs/censr-7.pdf. Der zeitlich versetzte Vergleich zwischen USA und EU ist nötig, da für die USA zu 2014 noch keine Daten erschlossen werden konnten und Eurostat zur EU für die Zeit um 2000 keine Daten bietet.

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der europäischen Integration war und da zu große Unterschiede in den Sozialausgaben und im Sozialschutz ein Hindernis für den gemeinsamen europäischen Wirtschaftsmarkt gewesen wären. Auch dieses Ziel war deshalb schon in den Römischen Verträgen (Art.117 EWG-Vertrag) enthalten. Es kollidierte zwar mit einer zweiten, in den Verträgen festgeschriebenen Zielsetzung, der eigenständigen Entwicklung des nationalen Wohlfahrtsstaats in jedem Mitgliedsland. Trotzdem verstärkte sich die Konvergenz der europäischen Sozialstaaten im Verlauf der europäischen Integration. Die Unterschiede vor allem in den wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gingen zurück.13 In den Anfangsjahren der europäischen Integration lagen die Sozialausgaben selbst in der wohlhabenden Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft noch weit auseinander. Um 1950 waren die staatlichen Ausgaben für soziale Sicherung in den Niederlanden mit 7 Prozent des BSP weniger als halb so hoch wie in der Bundesrepublik, die damals mit 15 Prozent Spitzenreiter war. Westeuropa war in zwei Lager geteilt. Die skandinavischen Länder, auch Irland (erst später Mitglied) und Italien lagen nahe bei den Niederlanden, dagegen Frankreich, Belgien und Österreich nahe bei der Bundesrepublik. Anfang des 21. Jahrhunderts dagegen unterschieden sich die Wohlfahrtsstaaten zwischen den Mitgliedsländern der weit größeren Europäischen Union erheblich weniger. 2010 gaben die meisten west-, süd- und ostmitteleuropäischen Länder zwischen 20 Prozent und etwas über 30 Prozent des Bruttosozialprodukts für soziale Sicherung aus. Entscheidend dabei war dabei, dass die Sozialstaaten der Mitgliedsländer nicht auf das Niveau der schwächsten Sozialstaaten abgesenkt wurden, sondern die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen überall anstiegen. Um 1950 gaben die Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 9 Prozent, um 1970 18 Prozent, 2010 hingegen die Mitgliedsländer der Europäischen Union 29 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für wohlfahrtstaatliche Ausgaben aus.14 Diese Konvergenz war sicher nicht allein eine Auswirkung der Sozialpolitik der Europäischen Union und ihrer Vorläufer. Sie hatte auch viel mit dem intensiven direkten Austausch und der Aufholpolitik zwischen den Mitgliedsländern zu tun. Die Konvergenz der Wohlfahrtsstaatsausgaben lag zudem im globalen Trend. Die Europäische Union beschleunigte jedoch mit zwei Methoden diese Konvergenz: Sie verabschiedete Sozialprogramme, Empfehlungen des

13 Vgl. M. Heidenreich, Die Europäisierung sozialer Ungleichheiten zwischen nationaler Solidarität, europäischer Koordinierung und globalem Wettbewerb, in: M. Heidenreich (Hg.), Die Europäisierung sozialer Ungleichheit, Frankfurt 2006, S. 24 ff.; H. Kaelble, Eine europäische Gesellschaft?, in: G. F. Schuppert, I. Pernice u. U. Haltern (Hg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005, S. 302 ff.; gleichartige »Basisinstitutionen« mit unterschiedlichen »institutionellen Arrangements«: S. Mau u. R.Verwiebe, Die Sozialstruktur Europas. Konstanz 2009, S. 53 ff., 62 ff. 14 Vgl. B.  Tomka, A social history of 20th century Europe, London 2013, S. 160; Eurostat. Sozialindikatoren für die europäische Gemeinschaft 1960–1975, Luxemburg 1977, S. 184 f.; Expenditure main results 2005–2014, Eurostat.ec.europa.eu: (angesehen 17.4.17).

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Europäischen Rats und Vertragsregelungen zur Sicherung eines Minimums an staatlicher sozialer Sicherung. Darüber hinaus beeinflusste sie im vergangenen Jahrzehnt mit der indirekten Methode der offenen Koordinierung, mit Benchmarking und sozialen Modellen, die Öffentlichkeiten und die Entscheidungen der Regierungen der Mitgliedsländer.15 Diese Konvergenz der Wohlfahrtsstaaten stieß allerdings auch auf mehrere Grenzen. Zwischen den Regierungen der Mitgliedsländer entstanden zumindest seit den 1970er Jahren starke Gegensätze und heftige Kontroversen um den Wohlfahrtsstaat, von denen man freilich nicht auf Divergenzen der tatsächlichen Leistungen des Wohlfahrtsstaats schließen kann. Darüber hinaus bestand die Konvergenz der europäischen Wohlfahrtsstaaten vor allem in einer Annäherung der finanziellen Leistungen, viel weniger in einer Angleichung der Institutionen und Finanzierungen. Zudem verschärften sich die Divergenzen in den Krisen wieder. Die Folgen der Finanz- und Eurokrise 2008–2012 für die Divergenzen der Sozialausgaben sind noch nicht überwunden. Zumindest bis 2014 fielen die Sozialausgaben in den armen Mitgliedsländern, besonders in Rumänien und in den baltischen Staaten, auf rund 15 Prozent des Bruttosozialprodukts. Gleichzeitig stiegen sie in manchen wohlhabenden Ländern wie Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und Finnland aus unterschiedlichen Gründen auf über 30 Prozent.16 Die Divergenzen waren wieder fast so hoch wie um 1950 in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Man wird sehen müssen, ob die Sozialausgaben wieder zu dem alten Trend der Annäherung zurückkehren und sich die Folgen der Finanz- und Eurokrise, die belastenden neuen sozialen Divergenzen, wieder abschwächen wie es sich in der Armut, der Arbeitslosigkeit und den Lohneinkommen schon abzeichnen (vgl. Kap. 10).17 (4) Der soziale Dialog war ein viertes bedeutsames Element der europäischen Sozialpolitik. Der Ausdruck ist irreführend, da es nicht um bloße Ge­ spräche zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern geht, im Übrigen auch nicht um Tarifverhandlungen, sondern um eine Mitwirkung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Sozialpolitik der Europäischen Union, teils trilateral in der Form der Mitwirkung an Entscheidungen der Union, teils aber auch in eigenen autonomen bilateralen Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern. Der soziale Dialog war schon in den Römischen Verträgen vorgesehen. Seit den 1960er Jahren wurde der Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dreiseitige beratende Ausschüsse mit Vertretern von Kommission, von Arbeitgebern und von Arbeitnehmern zu bestimmten Themen wie die soziale Situation der Zuwanderer oder die Beschäftigung eingerichtet. Einen wichtigen Schub erhielt der soziale Dialog durch den Vertrag von Maastricht. In diesem Vertrag wurde auch der zweiseitige soziale Dialog 15 Schulte, 2012, S. 143ff; Becker, 2015, S. 12 ff. 16 Expenditure main results 2005–2014, in: Eurostat.ec.europa.eu (angesehen 17.4.17). 17 Vgl. H. Kaelble, in: Die Gesellschaften der Europäischen Union: Zusammenwachsen und Krise, 1957–2017, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 14.2017, S. 156–172.

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zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vorgesehen. Schon in den 1990er Jahren wurden Regelungen zum Elternurlaub, zur Teilzeitarbeit und zu befristeten Arbeitsverträgen zuerst zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt und danach durch Ministerratsbeschluss rechtskräftig entschieden. Autonome zweiseitige supranationale Regulierungen durch Gewerkschaften und Arbeitgeber wurden seit 2002 im Rahmen des Ausschusses für sozialen Dialog etwa über Telearbeit oder über lebenslanges Lernen verabschiedet. Zahlreiche Fachausschüsse wurden eingerichtet. In diesem sozialen Dialog, wurden nicht allein solche rechtlich wirksamen Vereinbarungen, sondern auch zunehmend weiche, rechtlich nicht verbindliche, nur empfehlende Vereinbarun­gen getroffen. Gleichzeitig wurde aber auch der dreiseitige soziale Dialog der Verhandlungen zwischen Europäischer Kommission, Gewerkschaften und Arbeitgebern weitergeführt. Seit dem Lissabonner Vertrag kamen am Vortag des Europäischen Rats immer der dreiseitige »Gipfel für Wachstum und Beschäftigung« zusammen.18 Die Wirkungen dieses sehr komplexen sozialen Dialogs auf die Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union sind schwer einzuschätzen. Die vorhandenen Untersuchungen konzentrieren sich auf die Politik, das Recht und die Aktionen, behandeln aber selten auf die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen. (5) Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz durch Mindestvorschriften war eine weitere wichtige Kompetenz der Europäischen Union. Die Union erhielt sie erst in der Einheitlichen Akte von 1986. Mindestvorschriften konnten im Europäischen Rat von da an mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden. Auf dieser Grundlage wurde schon 1989 die wichtige Rahmenrichtlinie zum Arbeitsschutz verabschiedet.19 Die Wirkung der europäischen Regelungen des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz ist komplex und wurde bisher kaum untersucht. Es fällt jedoch auf, dass der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz in der Europäischen Union besser aussah als anderswo. Dazu der harte Indikator der Zahl der Toten durch Arbeitsunfälle: Er lag 2003 nach den Angaben des ILO in der Europäischen Union im Durchschnitt deutlich niedriger als in den europäischen Ländern außerhalb der Europäischen Union und zudem deutlich niedriger als in den USA und in Australien. 2003 waren bei Arbeitsunfällen pro 100.000 Erwerbstätige in den erfassten Mitgliedsländern der Europäischen Union 3 Tote, in den europäischen Ländern außerhalb der Union 7 Tote, in einem südamerikanischen Land wie Chile 12 Tote, in den USA und in Australien 4 Tote, nur in Kanada ähnlich wie

18 U. Preis u. A. Sagan, Europäische Sozialpolitik nach Lissabon, in: U. von Alemann u. a. (Hg.), Ein soziales Europa ist möglich. Grundlagen und Handlungsoptionen, Wiesbaden 2015, S. 56 f.; W. Platzer, Sozialpolitische Integration als Grundbaustein der europäischen Integration, in: U. von Alemann u. a. (Hg.), Ein soziales Europa ist möglich. Grundlagen und Handlungsoptionen, Wiesbaden 2015, S.33 ff. 19 Schulte, 1993, S. 264; Becker, 2011, S. 333.

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in der Europäischen Union 3 Tote zu beklagen, also insgesamt eine etwas bessere Situation in der Europäischen Union.20 (6) Eine weitere wichtige Kompetenz der Europäischen Union waren Vorschriften für Arbeitsbedingungen. Die Europäische Gemeinschaft erhielt diese Kompetenz ebenfalls erst mit der Einheitlichen Akte 1986 (Art.21) und nutzte sie mit der Arbeitszeitrichtlinie von 1993. Der Europäische Rat kann seit dem Lissabonner Vertrag darüber mit qualifizierter Mehrheit entscheiden.21 Allerdings besaß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft schon seit den Römischen Verträgen die Kompetenz, die Einkommensunterschiede zwischen weiblichen und männlichen Arbeitskräften abzubauen (Art.119 EWG-Vertrag). Auch die Auswirkungen dieser sozialpolitischen Kompetenz wurden bisher kaum verfolgt. Die Arbeitsbedingungen scheinen sich in der Europäischen Union ebenfalls günstiger als in anderen Teilen Europas und in außereuropäischen Industrieländern entwickelt zu haben. Nur zwei Indikatoren: Die Arbeitszeiten sind laut ILO in der Europäischen Union spürbar kürzer als im Europa außerhalb der Europäischen Union, kürzer auch als in den USA und Japan. In der Europäischen Union lag sie um 2010 bei 36 Stunden pro Woche, in den europäischen Ländern außerhalb der Europäischen Union bei 41 Stunden (ohne Schweiz und Norwegen, die sehr mit der Europäischen Union verbunden sind), in den USA und in Japan bei 39 Stunden.22 Ein zweiter Indikator: Die Einkommensunterschiede zwischen Frauen und Männern entwickelten sich in der EU ebenfalls günstiger als in den Vereinigten Staaten oder in Japan. Nach den unbereinigten Daten der ILO erhielten die Frauen im Durchschnitt der Europäischen Union 80 Prozent der Männerlöhne, in den USA 77 Prozent, in Argentinien und Brasilien 75–76 Prozent, in Ostasien noch weniger, in Japan 69 Prozent und in Korea 65 Prozent.23 Sicher wird man diesen Vorsprung der Europäischen Union im »Pay gap« nicht allein auf die europäische Politik zurückführen können. Er hing auch mit sektoralen Wirtschaftsstrukturen, Ausbildung und Geschlechterrollen zusammen, die nur wenig durch Politik beeinflusst werden konnten. Die Union musste zudem hinnehmen, das zeitweise in den 1980er und 1990er Jahren in einer ganzen Reihe von Mitgliedsländern der pay gap sogar zunahm.24 Aber die Entwicklung der Arbeitsbedingungen spricht doch eher für einen Erfolg der Einflussnahme der Europäischen Union. (7) Europäische soziale Grundrechte sind ein siebtes, wesentliches Element des sozialen Europa. Sie wurden 1996 von einem europäischen Komitee vor20 Berechnet nach: Ilostat. Fatal occupational injuries per 100.000 workers, in: www.ilo/ord/ ilostast (21.4.17). 21 Becker, 2015, S. 16; Schulte, 2012, S. 144 f. 22 Berechnet nach Ilostat. Hours of Work, in: www. Ilo.org/ilostat (21.4.17). 23 Berechnet nach: Ilostat. Mean nominal monthly earnings of employees, in: www. Ilo.org/ lostrat (22.4.17); ähnliche Ergebnisse bei der OECD: http://www.oecd.org/gender. 24 Vgl. H. Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2017, S. 108.

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geschlagen, das unter der Leitung der früheren portugiesischen Ministerpräsidentin Maria Pintasilgo noch während der Präsidentschaft von Jacques Delors eingesetzt worden war. Soziale Grundrechte wurden daraufhin vereinzelt schon im Amsterdamer Vertrag aufgenommen, danach vollständiger in die Grundrechtscharta von Nizza 2000 eingefügt und schließlich mit der Aufnahme in den Lissabonner Vertrag 2007 rechtskräftig. Diese sozialen Grundrechte umfassen die Nichtdiskriminierung, die Rechte auf Anhörung, Kollektivverhandlungen und Zugang zur Arbeitsvermittlung, den Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung, angemessene Arbeitsbedingungen, das Recht auf Arbeit, das Verbot von Kinderarbeit und den Schutz von Jugendlichen am Arbeitsplatz, soziale Sicherheit, Gesundheitsschutz, den Schutz der Familie und den Zugang von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse.25 Die europäischen sozialen Grundrechte waren eine wichtige Errungenschaft, auch wenn sie teilweise nur deklaratorisch sind. Sie gehen über die meisten Verfassungen der Mitgliedsländer hinaus und sind daher nicht einfach eine Wiederholung von nationalen Rechten auf europäischer Ebene. Sie fehlen auch in den Verfassungen vieler Ländern außerhalb der Europäischen Union und außerhalb Europas. Die Schaffung des Unionsbürgers mit seinen sozialen Grundrechten steht nicht nur auf dem Papier, sondern wurden in Prozessen vor dem Europäischen Gerichtshof genutzt, die überwiegend auf Beschwerden von Unionsbürgern zurückgehen. Damit blieben die sozialen Grundrechte kein bloßes Projekt von Politikern und Experten, sondern wurden auch ein Projekt von Bürgern.26 Insgesamt hatte das soziale Europa also durchaus Erfolge vorzuweisen: erhebliche, oft unbekannt gebliebene finanzielle soziale Transfers zwischen den Mitgliedsländern, die Öffnung der abgeschlossen Sozialstaaten, die Konvergenz nicht durch Anpassung an die schwachen Wohlfahrtsstaaten, sondern in steigenden Sozialleistungen, eine im globalen Vergleich spürbare Verbesserung des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz und der Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeit und Löhne und die Durchsetzung justiziabler sozialer Grundrechte in den europäischen Verträgen, die auch von den Bürgern genutzt werden. 2015 hatte die Europäische Union und ihre Vorläufer über 100 Verordnungen, über 80 Direktiven und über 25 Durchführungsverordnungen zur Sozialpolitik und Freizügigkeit von Arbeitnehmern verabschiedet. 27 Die sozialpolitischen Kompetenzen der Europäischen Union blieben nicht ein Appendix des Aufbaus des Wirtschaftsmarktes, sondern erhielten eine eigenständige Bedeutung. Die Europäische Union gewann zudem sozialpolitisch Spielraum, weil Mehrheitsentscheidungen des Europäischen Rats zumindest in einigen Bereichen der Sozialpolitik wie der Gesundheit am Arbeitsplatz, Arbeitsbedingungen, beruf25 Becker, 2015, S. 21 ff.; Schulte, 2012, S. 146; vgl. auch Für ein Europa der politischen und sozialen Grundrechte. Bericht des Komitees der Weisen, Luxemburg 1996. 26 M.  Eigmüller, »Europäisierung der Sozialpolitik. Der Einfluss individueller Akteure auf Integrationsprozess«, in: Zeitschrift für Sozialreform, 58 (3) 2012, S. 263–287. 27 Vgl. auch Becker, S. 19.

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liche Eingliederung in den Arbeitsmarkt und Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern möglich wurden. In einer sozialpolitischen Querschnittsklausel (Artikel 9 AEUV) wurde festgelegt, dass sich die Entscheidungen der Europäischen Union generell auch an sozialen Kriterien orientieren müssen. Diese Erfolgsbilanz des sozialen Europa kann sich sehen lassen. Das soziale Europa war keine komplett verpasste Chance und keine Fehlanzeige, wie manche Politiker meinen. Die drei wichtigsten Schübe erlebte das soziale Europa bisher in der Gründerzeit der den Römischen Verträgen; in den frühen 1970er Jahren, als in der Endzeit des großen Wirtschaftsbooms und in der Entspannungsphase des Kalten Kriegs ein Wettbewerb zwischen den internationalen Organisationen, zwischen OECD, Europarat, ILO und Europäischer Gemeinschaft um die internationale soziale Europa entstand und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft das Programm eines sozialen Europa anbieten musste; und schließlich in der Epoche der Vertragsreformen zwischen den späten 1980er und den 2000er Jahren, als die Legitimation der Europäischen Union durch die wachsende Arbeitslosigkeit und durch das Ende der Wohlstandszuwächse, auch durch die beschleunigte Globalisierung bedroht war und sie um ihre Bürger werben musste. Diese Erfolgsbilanz hat sicher auch deutliche Grenzen. Wie die Sozialtransfers auf Arbeitslosigkeit und Armut wirkten, wissen wir nicht genau. Die Öffnung der Sozialstaaten für Zuwanderer fand statt, ist aber politisch umstrittener denn je. Die Krise von 2008–2012 bremste die Konvergenz der nationalen Sozialstaaten auch in den Jahren danach aus und es ist noch nicht abzusehen, wann diese neue Divergenz enden wird. Tarifbeziehungen auf der europäischen Ebene entstanden nicht. Überhaupt ist das soziale Europa den Unionsbürgern wenig bekannt und hat bisher keine erkennbaren Bindungen der Bürger an die Europäische Union entstehen lassen ähnlich den Bindungen an die nationalen Wohlfahrtsstaaten. Die Europäische Union konnte ihre sozialpolitischen Kompetenzen nur in enger Abstimmung mit den Mitgliedsländern einsetzen. Im Lissabonner Vertrag wurde wieder bestätigt, dass die Europäische Union in der Sozialpolitik die Mitgliedsländer nur »unterstützt und ergänzt« und dass sie »die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien der sozialen Sicherheit festzulegen«, nicht berühren darf (Artikel 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union von 2007, früher Artikel 137 des Vertrags der Europäischen Gemeinschaft).28 Vor allem schaffte es die Europäische Union bisher nicht, einen europäischen Wohlfahrtsstaat mit umfangreichen finanziellen Transfers aufzubauen. Warum entstand anders als immer wieder gefordert kein internationaler europäischer Wohlfahrtsstaat mit europäischen Renten, europäischem Gesundheitssystem und europäischer Sozialhilfe? Es gab vier entscheidende Gründe für diese Arbeitsteilung: 28 Vgl. Becker, 2015, S. 12 ff.

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Die nationalen Regierungen wünschten, gleichgültig ob sie konservativ, liberal oder sozialistisch und sozialdemokratisch waren, keine Kompetenzen der Europäischen Union in diesem Bereich des Wohlfahrtsstaates. Das hatte entscheidend damit zu tun, dass die nationalen Wohlfahrtsstaaten nicht als Belastung gesehen wurden, sondern nach der tiefen Krise durch den Zweiten Weltkrieg die nationalen Loyalitäten der Bürger stabilisierten. Die nationalen Regierungen wollten auf diese Legitimation keinesfalls verzichten. Es kommt hinzu, dass in den hochentwickelten Sozialstaaten des westlichen und nördlichen Europas nicht nur bei den Regierungen, sondern auch bei den Bürgern die Angst bestand, dass das Niveau der sozialen Sicherung in einem europäischen Wohlfahrtsstaatstaat abgesenkt werden müsste, weil im östlichen und südlichen Europa ein Wohlfahrtstaat auf dem hohen Niveau Nord- und Westeuropas nicht finanziert werden könnte. Ein internationaler europäischer Wohlfahrtsstaat drohte deshalb in den Augen Vieler ein ausgedünnter Wohlfahrtsstaat werden. Darüber hinaus besaß die Europäische Union nie die Einnahmen, um einen europäischen Wohlfahrtsstaat zu finanzieren. Eigene Einnahmen in den dafür nötigen Größenordnungen wurden ihr immer von den Regierungschefs im Europäischen Rat quer durch alle politischen Parteien verweigert, weil dies ein Kontrollverlust des Europäischen Rats und eine massive Aufwertung des Europäischen Parlaments, des demokratischen Kontrolleurs eines solchen Budgets, bedeutet hätte. Der Europäische Rat wollte nicht eine Art Bundesrat werden. Natürlich kann man nicht übersehen, dass darüber hinaus in den meisten Generaldirektionen der Europäischen Union sehr oft marktliberale Positionen dominierten. Aber einen europäischen Wohlfahrtsstaats gegen den Europäischen Rat aufzubauen, wäre auch dann sehr schwierig gewesen, wenn in der Europäischen Kommission andere politische Positionen vorgeherrscht hätten. Die Arbeitsteilung zwischen Europäischer Union und den Nationalstaaten hat zudem eine längere, wenig bekannte Vorgeschichte. Einerseits wurden in fast allen europäischen Ländern zwischen den 1880er Jahren und 1914 staatliche Sozialversicherungen eingerichtet, auf denen die heutigen nationalen Wohlfahrtsstaaten oft aufbauen, auch wenn sie sich damals in sehr schmalen finanziellen Größenordnungen bewegten. Andererseits entwickelten die europäischen Regierungen schon vor 1914 eine internationale Sozialpolitik, die ihren Schwerpunkt auf den Arbeitsschutz legte, sich eher zweitrangig auch mit Sozialversicherungen und Bildung befasste. Sie bereiteten den Weg für die 1919 vom Völkerbund gegründete ILO, deren wichtigstes Tätigkeitsfeld ebenfalls der Arbeitsschutz war und die wiederum nach dem Zweiten Weltkrieg die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft beriet. In anderen Kontexten begann daher die heutige sozialpolitische Arbeitsteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsländern schon vor 1914. Sicher entstand daraus keine unausweichliche Pfadabhängigkeit. Aber diese Geschichte hat die Einrichtung eines internationalen europäischen Wohlfahrtsstaates eher entmutigt als ermutigt. Es fehlte dadurch das historische Beispiel von funktionierenden effektiven internationalen Sozialstaatstransfers. 235

Auch in der jüngsten Geschichte gab es keine Anzeichen dafür, dass ein europäischer Wohlfahrtsstaat mit internationaler Rente, Gesundheitsabsicherung und Sozialhilfe im Entstehen begriffen ist. Niemand fordert das. Allerdings zeigt die Geschichte des sozialen Europa auch, das im Laufe der Geschichte wichtige und wirkungsvolle sozialpolitische europäische Institutionen jenseits der Sozialversicherungen eingeführt wurden. Ob aus den Krisen der jüngsten Geschichte ein weiterer Ausbau des sozialen Europa entstehen wird, ist noch offen. Das könnte eine ergänzende europäische Arbeitslosenversicherung für Mitgliedsländer mit sehr hoher Arbeitslosigkeit, aber auch ein umfangreiches Programm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit sein. Gegen einen solchen Ausbau des sozialen Europa stehen wichtige Hemmfaktoren: die vier anderen, drängenden neuen Prioritäten der Europäischen Politik, die äußere Sicherheit, die Beziehungen zu Russland, zur arabischen Welt und der Aufbau einer europäischen Verteidigung; die europäische Migrations- und Asylpolitik und die europäische Sicherung der Außengrenzen der EU; die europäische Währung und der Aufbau einer Finanzunion; schließlich die Neuverhandlung der Beziehung zu Großbritannien und überhaupt der Status von Nichtmitgliedern im europäischen Binnenmarkt; zudem das prognostizierte günstige Wirtschaftswachstum des Europas der 27, das Arbeitslosigkeit abbauen könnte; auch die Rückkehr des Nationalstaats in der europäischen Politik. Andere Faktoren begünstigen einen solchen Ausbau eines sozialen Europa: Die gesellschaftlichen Folgen der Krisenjahre sind noch nicht überwunden. Sie harren einer Lösung. Die Europäische Union ist noch weit davon entfernt ist, das alte Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, das sie vor der Krise besaß. Der Ausbau des sozialen Europa könnte ein Weg zum Wiedergewinnen des Vertrauens sein. Das soziale Europa findet unter den europäischen Bürgern auch durchaus Unterstützung. Jürgen Gerhards und Holger Lengfeld haben in einer Untersuchung kurz vor der Eurokrise in Spanien, Polen und Deutschland gezeigt, dass die große Mehrheit dieser Europäer durchaus zu internationaler europäischer Solidarität bereit ist.29 Mit dem prognostizierten Wirtschaftswachstum und Wohlstand lässt sich ein Ausbau des sozialen Europa auch eher finanzieren. Schließlich verlässt mit dem Brexit, falls er kommt, ein traditioneller Gegner des sozialen Europa die Europäische Union. Gleichzeitig gewinnt Frankreich, ein Befürworter des Ausbaus des sozialen Europa, an Einfluss. Die Zukunft wird zeigen, ob die kommenden Jahre eine Periode des Ausbaus des sozialen Europas wie die 1950er, die 1970er Jahre und die 1989er/1990er Jahre oder eine Zeit der ungenutzten Chancen sein werden.

29 J. Gerhards u. H. Lengfeld, Wir, ein europäisches Volk. Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischer Bürger, Wiesbaden 2013; dies. u. a., European solidarity in times of crises. Insights from a thirteen-country survey, Abingdon 2020.

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14. Abmilderung der sozialen Ungleichheit? Das westliche Europa während des Wirtschaftsbooms der 1950er bis 1970er Jahre?

Der Kapitalismus verschärft soziale Ungleichheiten, die durch staatliche Intervention abgemildert, aber nicht in ihrem Grundcharakter verändert werden können. Diese Kritik an der Marktwirtschaft nimmt besonders seit der Finanzkrise zu und wird auch in den häufiger werdenden Büchern über den Kapitalismus angesprochen.1 Für diese Kritik sprechen sicher breite historische Entwicklungen. Während der kapitalistischen Industrialisierung nahm im nordatlantischen Raum im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Einkommens- und Vermögensungleichheit überall zu. In den heutigen Schwellenländern, in China ebenso wie in Indien oder Indonesien, verschärft sich die Einkommens- und Vermögensungleichheit ebenfalls. Auch in den alten Industrieländern Europas und Amerikas sind wir seit den 1980er Jahren mit einer Zunahme der sozialen Ungleichheit konfrontiert. Allerdings steht dieser These eine Epoche der europäischen Geschichte entgegen, in der hohes Wirtschaftswachstum und eine Abmilderung der Einkommensunterschiede zusammenfielen: die Epoche des außergewöhnlichen Wirtschaftsbooms in Europa, die Trente glorieuses von den späten 1940er bis zu den 1970er Jahren, in der Europa mit an der Spitze der wirtschaftlich dynamischen Regionen der Welt stand. Die Einkommens- und Vermögensunterschiede nahmen in Westeuropa ebenso wie kommunistischen östlichen Teil Europas spürbar ab. Es ist keineswegs ausgemacht, dass diese Abmilderung der Einkommens- und Vermögensunterschiede im westlichen Europa vor allem auf staatliche Interventionen zurückging. Zwar waren die 1950er und 1960er Jahre auch im westlichen Europa eine Zeit der besonders massiven und besonders emphatisch entwickelten Staatsintervention, der staatlichen Investitionsplanung, des modernen Wohlfahrtsstaates und des raschen, staatlich induzierten Wachstums der Bildung. Trotzdem wird der Rückgang der Einkommens- und Vermögensunterschiede auch auf andere Gründe zurückgeführt. Der Nobelpreisträger Simon Kuznets argumentierte schon in den 1950er Jahren, dass auch wirtschaftlicher Struktur1 Vgl. J.  Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013, S. 126 f.; J.  Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit. Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, Berlin 2012; L. Boltanski u. E. Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; W. Streeck, Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013; J. Fulcher, Kapitalismus, Stuttgart 2011, S. 87; H. Rosa u. a. (Hg.), Soziologie – Kapitalismus – Kritik: Eine Debatte, Berlin 2009, S. 56, 65 f., 125.

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wandel entscheidend zu dieser Abmilderung der Einkommens- und Vermögensunterschiede beitrug. Folgt man ihm, dann müsste damals der Kapitalismus aus sich selbst heraus, nicht nur durch staatliche Korrekturen, ein Momentum zur Abmilderung von sozialer Ungleichheit entwickelt haben.2 Inzwischen ist diese Epoche in die Hände der Historiker übergegangen. Wirtschaftswissenschaftler interessieren sich immer weniger für diese ihnen ferne Zeit. Es liegt immer mehr an den Historikern, diese grundsätzliche Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kapitalismus und sozialer Ungleichheit am Beispiel dieser Epoche zu untersuchen. Sie haben sich freilich damit wenig beschäftigt. Hans-Ulrich Wehler ist eine der wenigen, überzeugenden Ausnahmen.3 Bislang sind vor allem drei historische Fragen zu wenig geklärt. Wir wissen immer noch nicht genau, wie verbreitet diese Abmilderung der Einkommensunterschiede in Europa war und ob sie sich tatsächlich in ganz Europa, nicht nur in einzelnen Ländern durchsetzte. Schon in Deutschland war diese Abmilderung, wie auch Hans-Ulrich Wehler betont, nicht sonderlich ausgeprägt. Es ist darüber hinaus wenig untersucht, ob diese Abmilderung der Unterschiede auf die Einkommens- und Vermögensdisparitäten beschränkt blieb oder ob sie auch in anderen Bereichen der sozialen Ungleichheit, auf die Verteilung der Bildung, der Gesundheit, des Wohnens und der Mobilitätschancen durchschlug. Es ist auch immer noch nicht voll geklärt, was die Gründe für diese Abmilderung der Unterschiede waren, ob politische Faktoren, darunter die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaats, die Steuerpolitik, die außergewöhnliche Stärke der Gewerkschaftsmacht, auch die Politik prägende, ökonomische Konzepte, besonders der Keynesianismus, ausschlaggebend waren oder ob wirtschaftliche Strukturveränderungen die entscheidende Erklärung bieten. Diese Erklärungen betreffen allerdings das westliche Europa, nicht das kommunistische östliche Europa, das in diesem Artikel deshalb nur gestreift wird und eine eigene Untersuchung benötigt.

2 S. Kuznets, Economic Growth and Income Inequality, in: The American Economic Review, Vol. 45, No. 1 1955, S. 1–28; vgl. als Überblick über spätere Forschung Y. S. Brenner (Hg.), Income Distribution in Historical Perspective, Cambridge: Cambridge University Press 1991. 3 H.-U. Wehler, Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013; vgl. auch W. Süß, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft. Armut als Problem der deutschen Sozialgeschichte 1961–1989, in: U.  Becker u. a. (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 123–139; genereller: T. Mergel, Gleichheit und Ungleichheit als zeithistorisches und soziologisches Problem, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10 (2013), Heft 2; C. Reinecke u. T. Mergel, Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaftliche Beobachtung und gesellschaftliche Ungleichheit, Frankfurt u. New York 2012; H. ­­Kaelble, Soziale Ungleichheit in Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert, in: J.  Leonhardt (Hg.), Vergleich und Verflechtung. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 221–240 (vgl. Kap. 6 dieses Bandes); H. ­­Kaelble, Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Frankfurt 2017.

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Es wäre zudem sicher genauso wichtig zu verfolgen, warum diese Abmilderung der Einkommens- und Vermögensunterschiede in den 1980er Jahre im westlichen Europa in eine Wiederverschärfung umschlug, ob sie eine Rückkehr in die kapitalistische Normale war oder ob auch sie an temporären Ursachen hängt, die irgendwann wieder aufhören zu wirken und einer neuen Abmilderung Platz machen könnten. Darauf kann ich hier nicht eingehen und auch nicht verfolgen, ob der grundlegende Wandel der herrschenden, auch die Politik prägenden, ökonomischen Konzepte, oder ob eher politische Faktoren, darunter die Abschwächung der Gewerkschaftsmacht, die heftige öffentliche Kritik am Wohlfahrtsstaat, der Abbau der Steuern für hohe Einkommen und der Rückgang der Bildungsinvestitionen oder ob Strukturveränderungen, vor allem die außergewöhnliche Expansion des Finanzsektors mit seinen hohen Einkommensdisparitäten überzeugende Erklärungen sind.

I. Ein Arbeitskonzept für die Geschichte der sozialen Ungleichheit Bevor die drei Fragen zu beantworten versucht wird, soll sehr knapp auf das Arbeitskonzept eingegangen werden, das diesem Artikel zu Grunde liegt. Verzichtet werden muss auf einen ausführlichen theoretischen Abriss über die Grenzen der Erträglichkeit von sozialer Ungleichheit, die durch die Leistungsfähigkeit von Politik und Wirtschaft, aber auch durch soziale und politische Kohäsion und durch Gerechtigkeitswerte gesetzt sind. Nur eine konzeptionelle Frage soll erörtert werden: Die Ökonomen und Wirtschaftshistoriker, die in diesem Themenfeld beherrschend sind, beschränken sich in der Regel auf Einkommens- und Vermögensunterschiede, meist gemessen an statistischen Kategorien wie dem Gini-Index oder der Aufteilung der Einkommen und Vermögen nach Quintilen oder Dezilen. Auf diese Forschung kann man keinesfalls verzichten. Sie geht aber meist implizit davon aus, dass Einkommen und Vermögen andere Bereiche der sozialen Ungleichheit entscheidend prägen und mit Einkommen der harte Kern der sozialen Ungleichheit erfasst ist.4 Aus drei Gründen, die auch einige Ökonomen durchaus sehen, ist dieses Verständnis von sozialer Ungleichheit zu eng. Es wird erstens übersehen, dass sich andere Dimension der sozialen Ungleichheit wie Bildung, Wohnen, Gesundheit und Mobilitätschancen keineswegs immer parallel zu den Einkommens- und Vermögensunterschieden verändern, sondern durchaus andere Trends entwickeln können. Deshalb werden in diesem Aufsatz auch diese vier anderen Dimensionen verfolgt. Zweitens wird oft nicht genügend berücksichtigt, dass die Geschichte der sozialen Ungleichheit mit der quantitativen Beschreibung von Einkommens-

4 Ein besonders rigider Zusammenhang wird gesehen bei: R. Wilkinson u. K. Picket, The spirit level. Why equality is better for everyone, London 2010.

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und Vermögensunterschieden nicht voll erfasst wird. Es fehlt ein zentraler Aspekt, der den Alltag der sozialen Ungleichheit entscheidend prägt: die sozialen Trennlinien, die durch Konsum und Lebensstil, durch soziale Verflechtung und Ausgrenzung, durch Sprache und durch soziale Sicherheit zwischen verschiedenen sozialen Gruppen gezogen werden und die ebenfalls keineswegs allein von Einkommen und Vermögen abhängen. Insgesamt geht es nicht um buchhalterische Vollständigkeitsambitionen. Diese verschiedenen Dimensionen der sozialen Ungleichheit beeinflussen sich vielmehr wechselseitig und werden im Zusammenhang miteinander beurteilt. So können große Einkommensdisparitäten durch günstige Aufstiegschancen oder scharfe soziale Unterschiede in der Bildung durch milde Unterschiede der Gesundheitsvorsorge kompensiert werden. Drittens bleibt eine Geschichte der sozialen Ungleichheiten unvollständig, wenn nicht auch die zeitgenössischen Diskurse über soziale Ungleichheit berücksichtigt werden, die sich schon deshalb nicht aus der Einkommens- und Vermögensverteilung ableiten lassen, weil die Zeitgenossen von dieser Verteilung weniger wussten als die heutigen Historiker. Diese zeitgenössischen Diskurse erschließen sich im Übrigen nicht über die klassischen Abrisse der Ungleichheitskonzepte der großen Denker. Es ist vielmehr nötig, das Ungleichheitsverständnis in der breiteren politischen Öffentlichkeit zu erfassen.5 In diesem kurzen Artikel kann auch auf die historische, gesellschaftliche und politische Einbettung der sozialen Ungleichheit nicht weiter eingegangen werden. Es sei nur daran erinnert, dass die wirtschaftliche Prosperität für die Einbettung der sozialen Ungleichheit ungewöhnliche Voraussetzungen schuf. Die ganz außergewöhnliche Steigerung der Realeinkommen ließ eine Verfestigung oder eine Verschärfung von sozialer Ungleichheit in einem milderen Licht erscheinen lassen als dies stagnierende oder zurückgehende Einkommen getan hätten. Auch die Erfahrung von Gleichheit in der Betroffenheit durch die Weltwirtschaftskrise und die Weltkriege blieb in der Erinnerung haften und wirkte sich auf die Einschätzung sozialer Ungleichheit aus. Die Zuwanderung veränderte die Einschätzung sozialer Ungleichheit. Darüber hinaus hat auch die Wiedereinführung von politischen Demokratien mit ihrer größeren politischen Gleichheit einen anderen Rahmen für soziale Ungleichheit gesetzt als die repressive politische Ungleichheit in den Diktaturen und Besatzungsregimen bis 1945. Diese soziale und politische Einbettung der sozialen Ungleichheit war nicht nur für die Einschätzung der Zeitgenossen, sondern ist auch für das Urteil der Historiker von großer Bedeutung.

5 Für ein ähnlich breites Konzept der sozialen Ungleichheit: Wehler, Die neue Umverteilung.

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II. Wie europäisch war der Rückgang der Einkommensund Vermögensunterschiede während des Booms? Die Abmilderung der Einkommensunterschiede während der Trente glorieuses zwischen den späten 1940er Jahren und den frühen 1970er Jahren im west­ lichen Europa wurde durch eine ganze Reihe von Untersuchungen belegt. Es ist bedeutsam, dass diese Abmilderung an beiden Enden der Einkommensskala nachgewiesen wurde. Am obersten Ende der Einkommensskala sank der Anteil der Spitzeneinkommen am Volkseinkommen, um einige Prozentpunkte ab. Das gilt für das oberste Prozent ebenso wie für die obersten zehn oder zwanzig Prozent der Einkommensempfänger. Die Einkommen der höheren Schichten gingen sicher nicht zurück, stiegen aber etwas langsamer an als die Durchschnittseinkommen. Am unteren Ende, unter den ärmsten zwanzig Prozent, nahm der Anteil der Einkommen am Volkseinkommen etwas zu. Es handelt sich sicher nicht um einen grundstürzenden Umbruch. Deshalb wird hier nur von Abmilderung, nicht von Abbau oder Rückgang der Einkommensunterschiede gesprochen. Immerhin geht es jedoch um eine Umkehr des vorhergehenden Trends zu immer größeren Einkommensunterschieden. Wie ähnlich oder wie verschieden die Kuznets-Kurve in den verschiedenen Ländern des westlichen Europa aussah, ist keineswegs klar. Sie ist zwar im Grundsatz für einen Großteil des westlichen Europa, aber für Spanien und Portugal nur für das oberste Prozent der Einkommen belegt. Für Italien, Belgien und Griechenland scheinen Untersuchungen bisher völlig zu fehlen. Für die südlichen europäischen Länder wissen wir generell zu wenig über die unteren Einkommensgruppen. Darüber hinaus fand der Rückgang der Einkommensunterschiede nicht überall zur gleichen Zeit statt: In vielen Ländern lässt er sich schon seit den frühen 1940er Jahren unter dem Einfluss des Zweiten Weltkriegs, in anderen Ländern auch oder eher in den 1960er und 1970er Jahren beobachten. Schließlich war das Ausmaß der Abmilderung der Einkommensunterschiede sehr unterschiedlich, in Skandinavien erheblich stärker als anderswo in Europa. Um 1970 waren unübersehbare Hierarchien zwischen den einzelnen Ländern entstanden. Zumindest für die Anteile der Spitzeneinkommen von einem Prozent der Einkommensempfänger zeigt Thomas Piketty, dass in Deutschland der Einkommensanteil dieser Gruppe besonders hoch war, jedenfalls erheblich höher als in Schweden, Dänemark, Frankreich und sogar in Spanien.6 Es ist also 6 Vgl. vor allem für das oberste Prozent der Einkommen: A. Atkinson u. T. Piketty, Top incomes over the 20th century, Oxford 2006; T. Piketty, Capital in the Twenty-First Century, Cambridge Mass.2014 (französ.: Le Capital au XXIe siècle, Paris 2013; dt.: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014); World top income date in: http://topincomes.parisschoolofeconomics.eu (05.06.2014); ders., The evolution of top incomes: a historical and international perspective, in: American Economic Review Papers and Proceedings 96 (2006), S. 200–205; für die obersten 10 % der Einkommen: ­­Kaelble, Mehr Reichtum, S. 67; vgl. zudem: I. Becker u. R. Hauser, Anatomie der Einkommensverteilung. Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichproben

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noch viel Platz für interessante vergleichende Untersuchungen. Auf jeden Fall kann man festhalten, dass für alle bisher untersuchten europäischen Länder ein Rückgang der Einkommensunterschiede belegt ist und die bisher untersuchten Länder den gewichtigeren Teil Westeuropas umfassen. Ein völlig gegenteiliger Trend der Zunahme der Einkommensunterschiede ist bisher für kein Land im westlichen Europa nachgewiesen worden. Diese Abmilderung war keine rein europäische Entwicklung. Dieser Rückgang der Einkommensunterschiede fand auch in den USA statt, freilich schon in den 1930er und 1940er Jahren. Die Untersuchungen von Anthony Atkinson und Thomas Piketty über die weltweite Entwicklung der Einkommensanteile des reichsten Prozents zeigen zudem, dass auch im Süden der Welt, in Indien, Indonesien, Argentinien und Südafrika zwischen den 1940er und 1970er Jahren ähnliche Tendenzen zum Rückgang der Einkommensungleichheit wie in Europa bestanden. Man sollte daher bei der Analyse der Ursachen für die Abmilderung der Einkommensungleichheit nicht zu sehr auf besondere europäische Faktoren abstellen.7 Die gut belegte These, dass in Europa die Epoche der 1940er bis 1970er Jahre, eine besondere Zeit der Abmilderung der Einkommensunterschiede war, wird noch verstärkt durch die Abnahme der Vermögensunterschiede. Sicher wird damit nur ein schmälerer Ausschnitt aus der Bevölkerung erfasst, da ein erheblicher Teil der Bevölkerung keine Vermögen besitzt und deshalb in der Vermögensverteilung überhaupt nicht auftaucht. Aber in der Zeit der Wirtschaftsprosperität, mit der wir uns befassen, weiteten sich durch dauerhafte Konsumgüter, durch Hausbesitz und Autobesitz, auch durch Sparkonten und Lebensversicherungen, der Anteil der Besitzenden an der Bevölkerung aus. Der Rückgang der Vermögensunterschiede betraf deshalb einen begrenzten, aber wachsenden Teil der Bevölkerung. Auch wenn wir über die innereuropäischen Unterschiede der Vermögensverteilung noch zu wenig informiert sind und wiederum kaum etwas über die Entwicklung im südlichen Teil Europas wissen, erscheint doch auch diese Seite der Abmilderung der wirtschaftlichen Unterschiede recht gut belegt.8 1969–1998, Berlin 2003; D. K. Jesuit u. V. A. Mahler, Comparing Government Redistribution Across Countries: The Problem of Second-Order Effects, in: Social Science Quarterly 91, 2010, S, 1390–1404; R. Hauser, The Personal distribution of income in an international perspective, Berlin 2000; P. Flora u. a., State, Economy and Society in Western Europe 1815–1975. A Data Handbook in two Volumes, Band 2: The Growth of Industrial Societies and Capitalist Economies, Frankfurt / Main u. New York 1987, S. 641 ff. 7 Atkinson u. Piketty, Top incomes over the 20 th century; Piketty, Capital in the Twenty-First Century, S. 326 ff.; F. Alvaredo, The dynamics of high incomes over the last century, in: Perspectives. Journal du réseau français des instituts d’études avancés, No 5 (2011), S. 12–13; F.  Alvaredo u. T. Piketty, The Dynamics of Income Concentration in Developed and Developing Countries. A View from the Top, in: L. Lopez-Calva u. N. Lustig (Hg.), Declining Inequality in Latin America. A Decade of Progress?, Washington 2010, S. 72–99. 8 T. Piketty u. a., Wealth concentration in a developing economy: Paris and France, 1807–1994, American Economic Review 2006, S. 236–256; H. ­­Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart München 2007, S. 221.

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Man muss allerdings hinzufügen, dass sich die historische Bedeutung der Kuznets-Kurve, wie die Wirtschaftswissenschaftler diese Trendumkehr gerne bezeichnen, seit den 1980er Jahren völlig verändert hat. Wirtschaftswissenschaftler um Anthony Atkinson wiesen in der Luxemburg-Studie 1996 nach, dass die Abmilderung der Einkommensunterschiede an ihr Ende gekommen war und in eine erneute Verschärfung umschlug.9 Die Kuznets-Kurve erscheint uns daher nicht mehr als ein Endpunkt der historischen Entwicklung, sondern nur noch als ein historischer Zwischenakt. Immerhin beschreibt sie einen gewichtigen jahrzehntelangen Trend in der sozialen Ungleichheit. Man kann zudem drei Grenzen der Kuznets-Kurve nicht übersehen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass es während der Trente glorieuses auch eine Kuznets-Kurve der Einkommensdisparitäten zwischen den Geschlechtern gab. Eine breite Abmilderung des Einkommensrückstands von Frauen ist nicht erkennbar. Auch die Einkommensunterschiede zwischen Einwanderern und der indigenen Bevölkerung entwickelten sich in dieser Epoche nicht im Sinn der Kuznets-Kurve. Schließlich milderten sich auch die Einkommensunterschiede zwischen Nationen damals noch nicht ab, sondern verschärfte sich während der Trente glorieuses noch.10 Angesichts der wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschiede im heutigen Europa besteht insgesamt kein Zweifel, dass diese Epoche der 1940er bis 1970er Jahre eine Herausforderung darstellt: Wachsende Einkommens- und Vermögensunterschiede sind in kapitalistischen Gesellschaften keine zwangsläufige Entwicklung, sondern haben sich in einer bestimmten, nicht allzu fernen Epoche der europäischen Geschichte gegenteilig entwickelt. Dabei wiegt besonders schwer, dass die Abmilderung der Einkommensunterschiede nicht nur in der wirtschaftlichen Ausnahmesituation des Zweiten Weltkriegs, sondern auch in der Prosperitätszeit der 1950er bis 1970er Jahren stattgefunden hat.

III. Ging die Ungleichheit auch in anderen Dimensionen zurück? Verliert diese Epoche ihren herausfordernden Charakter, wenn man auch andere Dimensionen der sozialen Ungleichheit berücksichtigt, die vielleicht keine solchen Abmilderungen der Ungleichheit verzeichneten? Wir werden dafür die anderen wichtigen Dimensionen der sozialen Ungleichheit, Bildung, Wohnen und Gesundheit, Mobilitätschancen, danach die sozialen Trennlinien zwischen den verschiedenen sozialen Milieus und den politischen Diskurs über soziale Ungleichheit durchgehen. Dabei muss man berücksichtigen, dass die Forschung 9 A. B. Atkinson u. a., Income distribution in the OECD countries, Paris 1996. 10 Vgl. für die letztere Dimension: B. Milanović, A short history of global inequality. The past two centuries, in: Exploration in Economic History 48 (2011), S. 494–506; ders., Die ungleiche Welt. Migration, das eine Prozent und die Zukunft der Mittelschicht, Berlin 2016.

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in diesen Dimensionen soziale Ungleichheit nicht zwischen den statistischen Gruppen der Einkommens- und Vermögensverteilung, sondern zwischen oft größeren Sozialgruppen untersucht. Schon die soziale Ungleichheit in der Bildung folgte nicht einfach der Abmilderung der Einkommensunterschiede. Auf den ersten Blick schien sich allerdings die soziale Ungleichheit in dieser Dimension der abgeschwächt zu haben. Nicht nur aus der historischen Retrospektive, sondern auch für die Zeitgenossen verbesserten sich die Bildungschancen deutlich sichtbar. Im südlichen und östlichen Europa öffneten sich die Elementarschulen für alle Teile der Bevölkerung. Die Analphabetenraten wurden unter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich abgebaut. Die Zugangsmöglichkeiten zu den stark ausgebauten Sekundarschulen wurden für die Unterschichten ebenso wie für Mädchen erheblich erweitert. Der Zugang zu den stark ausgebauten Hochschulen verbesserte sich ebenfalls. Kinder aus Arbeiterfamilien, die an Hochschulen gingen, blieben zwar weiterhin sehr selten, nahmen aber zu. Der Anteil von Frauen unter den Studenten stieg erheblich an. Mit großen Unterschieden zwischen den verschiedenen Teilen Europas stiegen daher die Bildungschancen auf allen Ebenen überall in Europa an. Auch im öffentlichen Diskurs über die Bildungspolitik besaß die Verbesserung der Bildungschancen eine hohe Priorität. Diese These von der Verbesserung der Bildungschancen während der 1950er bis 1970er Jahre in Europa ist zwar in der Forschung nicht unumstritten, wird aber in der jüngeren Forschung überwiegend vertreten.11 Sieht man allerdings genauer hin, dann dauert es zwei bis drei Jahrzehnte, bis sich solche Veränderungen der Bildungschancen an Schulen und Universitäten auch in den Bildungsunterschieden der gesamten Erwachsenenwelt durchset­zen. Tatsächlich änderte sich in den 1950er und 1960er Jahren erst einmal noch wenig an den scharfen Bildungskontrasten der europäischen Gesellschaften zwischen der schmalen, privilegierten, meist gut bezahlten, prestigereichen Akademikerschicht, der deutlich dahinter zurückstehenden Masse der Elementarschul­ absolventen und den vielen Analphabeten vor allem in Südeuropa und Osteuropa. Ein spürbarer Abbau von Bildungsunterschieden ähnlich den Abmilderungen der Einkommens- und Vermögensunterschiede lässt sich also in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht erkennen. Auch die sozialen Unterschiede in der Gesundheit und vor dem Tod scheinen sich seit den 1950er Jahren nicht abgemildert zu haben. Ganz im Gegenteil 11 R.  Breen u. a., Nonpersistent Inequality in Educational Attainment: Evidence from eight European Countries, in: American Journal of Sociology 114 (5), 2009, S. 1475–1521. Y. ­Shavit u. H.-P. Blossfeld (Hg.), Persistent inequalities: Changing educational stratification in thirteen countries, Boulder 1993; W. Rüegg (Hg.), Geschichte der Universität in Europa. Band 4: Vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, München 2010; OECD. Education 1960–1990. The OECD Perspective, Paris 1994; Charle, C., Histoire des universités, ­X IIe–XXIe siècles, Paris 2012; ­K ­ aelble, Sozialgeschichte Europas, Kap. 13 (mit weiteren Literaturverweisen).

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vertritt der Gesundheitsforscher Johan P.Mackenbach die These, dass sich nach Jahrzehnten der Abmilderung die sozialen Unterschiede der Lebenserwartung seit den 1950er Jahren trotz der modernen Wohlfahrtsstaaten und der modernen Gesundheitsdienste bei großen Unterschieden zwischen den europäischen Ländern wieder verschärften. In den skandinavischen Ländern mit ihrem besonders stark ausgebauten Wohlfahrtsstaat waren die Unterschiede in der Gesundheit und vor dem Tod weit größer als es die begrenzten und sinkenden Einkommensunterschiede erwarten ließen. Mackenbach erklärt sich diese sozialen Unterschiede aus der epidemiologischen Transition, also der Verschiebung der vorherrschenden Krankheiten und Todesursachen. Er sieht die großen sozialen Unterschiede in den immer wichtigeren, kardiovaskulären Todesursachen für die hier untersuchte Epoche als besonders prägend an. Sie hatten viel mit den sozialen Unterschieden des Rauchens und Alkoholkonsums, auch der Ernährung, die nicht nur vom sozialen Status, sondern auch von der sozialen Herkunft bestimmt wurden. Mackenbach stützt sich auf recht gut ausgewählte west-, süd-, nord- und ostmitteleuropäische Länder, behandelt allerdings Deutschland, Österreich und die Schweiz nicht. Auf jeden Fall scheinen die sozialen Unterschiede in der Gesundheit und Lebenserwartung in den von ihm untersuchten Ländern nicht dem Trend der Einkommensverteilung gefolgt zu sein.12 In der sozialen Ungleichheit des Wohnens lässt sich ebenfalls keine eindeutige und durchschlagende Abmilderung der sozialen Unterschiede erkennen. Die Entwicklung ist gemischt. Einerseits gingen harte, sichtbare soziale Unterschiede in der Qualität der Wohnungen, in der Versorgung mit Frischwasser, Abwasser und Elektrizität und in der Ausstattung der Wohnungen mit Bad, modernen Küchen, Waschmaschinen, Kühlschränken, getrennten Wohn- und Schlafzimmern deutlich zurück. Im modernen Wohnstandard, der sich in der raschen Expansion der Städte und durch den außergewöhnlichen Anstieg der Einkommen durchsetzte, wurde das Wohnen sichtbar ähnlicher. Auch die Unterschiede im Besitz von Wohnungen oder Häusern zwischen verschiedenen sozialen Milieus milderten sich in den 1950er bis 1970er Jahren etwas ab. Andererseits verschärften sich die sozialen Unterschiede in der Belastung der privaten Haushalte mit den Ausgaben für Mieten bzw. für die Bauschuldzinsen. Zumindest im westlichen Europa nahm diese Belastung nicht nur zu. In dieser wachsenden Belastung durch Wohnungskosten scheinen auch die sozialen Unterschiede in den 1950er bis 1970er Jahre zugenommen oder zumindest gehalten zu haben. Gerade in diesem sensiblen, aber nicht sofort sichtbaren Aspekt der Unterschiede

12 J. P. Mackenbach u. a., Socioeconomic inequalities in health ion Europe, in: M. Bakker u. J. P. Mackenbach (Hg.), Reducing Inequalities in Health: A European Perspective, London 2002, S. 3 ff.; J. P. Mackenbach u. a., Introduction, in: ders., Successes and Failures of Health Policy in Europe: Four Decades Of Divergent Trends And Converging Challenges, Maidenhead 2013.

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des Wohnens schlug also der Rückgang der Einkommens- und Vermögensunterschiede nicht durch.13 Auch die Aufstiegsbarrieren in den europäischen Gesellschaften wurden meist nicht niedriger. Die Entwicklung der sozialen Mobilität in Industrie- und Agrarländern, in Westeuropa und im kommunistischen Osteuropa, ist recht genau untersucht, wenn auch nicht für die südeuropäischen Länder und leider auch meist für Männer, nur sehr selten für Frauen. In der Forschung herrscht ein Konsens darüber, dass ein spürbarer Abbau der Unterschiede der Berufsund Aufstiegschancen während der 1950er bis 1970er Jahre nicht stattfand. Es gab zwar Ausnahmen von diesem Trend. Soziale Aufstiege aus dem bäuerlichen Milieu wurden in vielen Ländern etwas weniger selten. In Agrarländern wie Irland und Polen nahmen daher im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft die sozialen Aufstiege zu. Aber insgesamt waren die europäischen Gesellschaften in dieser Zeit zwar sicher nicht immobil, boten aber nicht mehr soziale Aufstiege.14 Auch der Aufstieg in die Eliten änderte sich langfristig wenig. Er berührt zwar die Aufstiegschancen der Durchschnittsbürger kaum, besitzt aber eine große symbolische Bedeutung. Im westlichen Teil Europas unterschied sich die Herkunft der politischen Elite erheblich zwischen Ländern mit sozial geschlossenen politischen Eliten wie Großbritannien, Frankreich oder Spanien und Ländern mit mehr Aufsteigern in die hohe Politik wie etwa Schweden, Österreich oder der Bundesrepublik. Generell wurden jedoch die sozialen Aufsteiger in die politische Elite ebenso wenig häufiger wie die Frauen. Das galt auch für die Wirtschafts- und Verwaltungseliten, in denen die innereuropäischen Unterschiede weit geringer waren.15 Abgemildert hat sich dagegen die soziale Ungleichheit in den vielfältigen sozialen Trennlinien zwischen den sozialen Milieus der europäischen Gesellschaften. Diese sozialen Trennlinien zwischen dem Bürgertum, dem Adel, dem Kleinbürgertum, den Angestellten, der Arbeiterschicht und den Bauern waren ein besonderes Charakteristikum der europäischen Gesellschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewesen. Soziale Trennlinien verschwanden seit den 1950er Jahren keineswegs völlig, aber sie verwischten oder verfeinerten sich. Im 13 Vgl. Sozialindikatoren für die Europäische Gemeinschaft 1960–1975, hg. v. Statistischen Amt der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1977, S. 240 ff.; H.-H. Noll u. E. Wiegand (Hg.), System sozialer Indikatoren für die Bundesrepublik Deutschland. Zeitreihen 1950 bis 1991. Tabellenband., Zuma Mannheim 1993 S. 163 ff.: vgl. zudem I. Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens, 5 Bde., Bd. 5, 1945 bis heute, Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999; G. Schulz (Hg.), Wohnungspolitik im Sozialstaat: Deutsche und europäische Lösungen 1918–1960, Düsseldorf 1993. 14 R.  Erikson u. J. H.  Goldthorpe, The constant flux. A study of class mobility in industrial societies, Oxford 1992, S. 65–85; R. Breen, Social Mobility in Europe, Oxford 2004; über Frauen: R. Federspiel, Soziale Mobilität in Berlin des 20. Jahrhunderts, Berlin 1999. 15 M. Hartmann, Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt 2007, S. 222; M. Cotta u. H. Best (Hg.), Democratic Representation in Europe: Diversity, Change, and Convergence, Oxford 2007.

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Konsum war diese Abmilderung der sozialen Trennlinien besonders deutlich. Die harten, exklusiven sozialen Trennlinien, die man durch Autobesitz, durch Hut und Kostüm, durch Kühlschrank und Radio, durch Fleischgericht und Wein, durch Wohnzimmer und Ferienreise nach unten zog, wurden allmählich für einen größeren Teil der Gesellschaft durch weniger ausschließende, feine soziale Trennlinien wie die Marke des Autos, des Kühlschranks oder des Radios, der Jahrgang des Weins, die Art der Schrankwand und der Sofaecke, das Ziel der Ferienreise ersetzt. Im Städtebau verloren soziale Trennlinien zwischen den Milieus ebenfalls ihre alte Bedeutung. In den zahlreichen neu gebauten Stadtvierteln mischten sich unterschiedliche soziale Milieus, auch wenn der Gegensatz zwischen reichen Vororten und weniger reichen Wohnvierteln weiter erhalten blieb. In der sozialen Sicherung nahmen die Unterschiede mit dem Aufbau des modernen europäischen Wohlfahrtsstaats ebenfalls ab, da er den weniger gut gestellten sozialen Milieus mehr Sicherheit bot und in manchen europäischen Ländern der öffentliche Gesundheitsdienst allen Bürgern offen stand. In der Werbung wurden soziale Trennlinien ebenfalls weniger herausgestellt. Dienstboten wurden aus der Werbung mehr und mehr herausgenommen. Die Werbung appellierte weniger an soziale Distinktionen und arbeitete seltener mit der Illusion, der Käufer gehöre zur feinen Gesellschaft. Allerdings ist diese Abmilderung der sozialen Ungleichheit nicht unumstritten. Die meisten Historiker und einige Soziologen arbeiten sie heraus, ohne ihre Grenzen zu übersehen. Andere Soziologen wie Pierre Bourdieu dagegen betonen vor allem die Kontinuitäten der Trennlinien.16 Vor diesem Kontext liefen die politischen Diskurse über soziale Ungleichheit ab, die in den letzten Jahren für Europa besonders von Pierre Rosanvallon untersucht wurde. Er argumentiert, dass zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den 1970er Jahren soziale Gleichheitsvorstellungen im politischen Diskurs ein besonderes Gewicht besaßen. Ein breiter politischer Konsens herrschte darüber, dass durch den Wohlfahrtsstaat nicht nur mehr soziale Sicherheit, sondern auch eine Umverteilung und mehr soziale Gleichheit erreicht werden sollte. Auch die Steuerpolitik verfolgte dieses Ziel mit ihren hohen Steuersätzen für Wohl16 Vgl. H.-G. Haupt, Konsum und Handel, Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2003, S. 118–152; P. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt 19843; V. de Grazia, Irresistible empire. America’s advance through 20 thcentury Europe, Cambridge / Mass. 2005; H. Siegrist u. a. (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt 1997; S. Haustein, Vom Mangel zum Massenkonsum. Deutschland, Frankreich und Großbritannien im Vergleich 1945–1970, Frankfurt 2006: C. Pfister (Hg.), Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern 1995; W. König, Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft: Konsum als Lebensform der Moderne, Wiesbaden 2013; A. Chatriot u. a. (Hg.), Au nom du consommateur. Consommation et politique en Europe et aux Etats Unis au XXe siécle, Paris 2004; H. Mendras, La seconde révolution française 1965–1984, Paris 1988; S. Middendorf, Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880–1980, Göttingen 2009.

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habende. Den Bruch mit dem politischen Liberalismus sieht Pierre Rosanvallon in Europa zwar schon am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Einführung der Einkommensteuer, mit den staatlichen Arbeiterversicherungen und mit der Anerkennung von Gewerkschaften in kollektiven Tarifverhandlungen. Allerdings wurde in seinen Augen soziale Gleichheit zu einem vorrangigen politischen Ziel erst nach 1945, erst durch die Erfahrung der Entwertung sozialer Hierarchien im Zweiten Weltkrieg und durch die Konkurrenz zweier egalitärer Politikkonzepte im Kalten Krieg. Pierre Rosanvallon hätte allerdings durchaus breiter ansetzen und weitere Felder des politischen Diskurses in seine These einbeziehen können: die Bildungspolitik mit ihrem damals breit diskutierten Ziel der Gleichheit der Chancen, die Gesundheitspolitik mit ihrem Ziel gleicher Gesundheitsversorgung, die kommunalen Versorgungsleistungen mit ihrem Ziel der gleichen Versorgung, etwa im Nahverkehr durch Abschaffung der Klassen in der U-Bahn, in der Volksbildung durch Schaffung vieler öffentlicher Bibliotheken und Volkshochschulen, auch die staatlich Unterstützung des Massenkonsums etwa durch die Einrichtung öffentlicher Fernsehanstalten oder durch den öffentlichen Autobahnbau. Einen Bruch mit diesen Gleichheitszielen sieht Pierre Rosanvallon im öffentlichen Diskurs erst in den 1970er Jahren.17 Wir wissen bisher wenig darüber, wie sich die Wahrnehmung der vorhandenen sozialen Ungleichheit in den europäischen Gesellschaften während der 1950er bis 1970er Jahre veränderte und ob sie die Veränderung des politischen Diskurses über soziale Gleichheit in den 1970er Jahren beeinflusste. Die Klassen- und Schichtungsspezialisten in der Soziologie, die wie Martin Bolte, Ralf Dahrendorf, Pierre Bourdieu und John Goldthorpe diese Vorstellungen am genauesten beobachteten, entwickelten in den 1960er und 1970er Jahren eine Reihe von sehr unterschiedlichen, immer wieder verwandten Modellen. Sie stellten zwar alle nicht direkt eine Abmilderung der sozialen Ungleichheit dar, betonten aber meist eine Ausdifferenzierung in den sozialen Klassenmilieus, in der Unterschicht ebenso wie in der Oberschicht und dort die Entstehung einer neuen, wachsenden Dienstklasse.18 Das ist freilich nur ein schmaler Lichtstreifen auf den Wandel der Wahrnehmung vorhandener sozialer Ungleichheit, der genauer untersucht werden müsste. Insgesamt waren die 1950er bis 1970er Jahre eine Zeit geteilter Abmilderung der sozialen Ungleichheit. Auf der einen Seite ging soziale Ungleichheit in einer weiteren Dimension neben den Einkommen und Vermögen etwas zurück: in den sozialen Trennlinien zwischen verschiedenen sozialen Milieus, zwischen Bürgertum und Kleinbürgertum, zwischen Angestellten und Arbeitern, zwischen Stadt und Land. Die scharfen sozialen Trennlinien der ersten Jahrhunderthälfte 17 P. Rosanvallon, La société des égaux, Paris 2011, S. 227–284 (dt. Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013). 18 Vgl. die Zusammenstellung in S. Hradil, Soziale Ungleichheit in Deutschland, Wiesbaden 20058, S. 64 ff., 354 ff., 362 ff.; allerdings dort nicht abgedruckt das Modell Bourdieus: Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 212–213.

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wurden vor allem durch den Massenkonsum, durch den Städtebau und den Massenwohnungsbau, durch den modernen Wohlfahrtsstaat und durch die Werbung abgemildert. Auf der anderen Seite milderte sich in anderen Dimensionen die soziale Ungleichheit nicht erkennbar ab. In der Bildung erweiterten sich zwar die Chancen für Jugendliche und junge Erwachsene, aber in der gesamten Erwachsenenwelt blieben erst einmal die alten Bildungskontraste zwischen Akademikern, Volksschülern und Analphabeten weit gehend erhalten. In der Gesundheit und Lebenserwartung scheinen sich ebenfalls soziale Ungleichheiten erhalten zu haben. Die sozialen Unterschiede des Wohnens milderten sich zwar in der sichtbaren Ausstattung der Wohnungen ab, erhielten oder verstärkten sich aber in der weniger sichtbaren, wachsenden Belastung der Privathaushalte mit Wohnkosten. In der sozialen Mobilität erweiterten sich die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs nicht erkennbar, höchstens in den Gesellschaften, die von der Agrar- zur Industriegesellschaft übergingen. Die Aufstiege in die Eliten nahmen langfristig nicht zu. In den politischen Debatten besaß daher der Abbau der sozialen Ungleichheit eine hohe Priorität. Im Ganzen greift man für die Geschichte der sozialen Ungleichheit zu kurz, wenn man nur die Unterschiede der Einkommen und Vermögen ins Auge fasst, wie dies oft geschieht. Man versteht die Akzeptanz sozialer Ungleichheit erst, wenn man alle diese Dimensionen betrachtet. Erst durch den Rückgang der Einkommensunterschiede und durch die Abschleifung der groben sozialen Trennlinien wurden die weiter bestehenden Unterschiede in der Bildung, im Wohnen, in der Lebenserwartung und in den Aufstiegsmöglichkeiten, auch die unveränderte Abgeschlossenheit der Eliten für große Teile der Gesellschaften akzeptabel. Damit verliert diese Epoche manches von ihrer Außergewöhnlichkeit nicht nur im Vergleich zur Vor- und Zwischenkriegszeit, sondern auch zu der Zeit seit den 1980er Jahren. Man muss sich trotzdem der herausfordernden Frage stellen, warum sich die soziale Ungleichheit in mindestens zwei wichtigen Dimensionen abschwächte und warum sie sich gleichzeitig in anderen Dimensionen nicht änderte.

IV. War die staatliche Intervention ausschlaggebend für die Abmilderung der sozialen Ungleichheit während des Booms? Auf den ersten Blick scheint man sich die teilweise Abmilderung der sozialen Ungleichheit während der 1950er und 1960er Jahre und ihre Grenzen gut aus der Politik erklären zu können. Die europäischen Regierungen setzten die drei wichtigsten Instrumente zum Abbau von Einkommensungleichheit ein: hohe Steuern auf hohe Einkommen, den Ausbau des modernen Wohlfahrtsstaats und die Ausweitung der Bildung auf allen Ebenen. Die 1950er bis 1970er Jahre waren in Europa das Musterlabor für solche Forderungen heutiger Ökonomen 249

wie Joseph Stiglitz zur Reduzierung sozialer Ungleichheit.19 Die Steuern auf hohe Einkommen waren in den meisten westeuropäischen Ländern hoch, oft höher als in der Zwischenkriegszeit und auch häufig höher als in der Zeit seit den 1990er Jahren. Die Vermögenssteuern wurden ebenfalls erhöht, in manchen Ländern sogar erst eingeführt. Zudem wurde teils schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit, teils in den 1950er und 1960er Jahren der moderne Wohlfahrtsstaat mit der Absicherung eines breiten Teils der Bevölkerung, mit dem Ausbau der Arbeitslosenversicherung und mit einer massiven Steigerung der Sozialausgaben in den meisten westeuropäischen Ländern mit großen Unterschieden aufgebaut. Schließlich expandierte in dieser Epoche auch das Bildungssystem besonders rasch und auf allen Ebenen, von den Kindergärten über die Elementarschulen, die Sekundarschule bis hin zu den Hochschulen. Die Bildungsausgaben der meisten europäischen Länder waren (gemessen am Sozialprodukt) vor allem nach dem Sputnik-Schock besonders hoch, ebenfalls höher als in der Zwischenkriegszeit und höher als den 1980er und 1990er Jahren. Neben dem Staat sorgten auch die Gewerkschaften in dieser Glanzzeit ihrer Macht dafür, dass die unteren Einkommen einen größeren Einkommensanteil erhielten. Überall in Europa gingen zwar die Streiks zurück. Aber im Wirtschaftsboom war die Marktmacht der Gewerkschaften so stark, dass sie allein mit der Androhung von Streiks höhere Löhne durchsetzen konnten.20 Diese Erklärungen wirken auch deshalb überzeugend, weil sie zudem die Gründe für die Grenzen der Abmilderung der sozialen Ungleichheit erfassen lassen. Die verbleibenden sozialen Unterschiede vor allem im Bereich der Gesundheit und des Wohnens haben viel mit den Grenzen wohlfahrtstaatlicher Intervention in Westeuropa zu tun. Der moderne Wohlfahrtsstaat beschränkte sich damals auf staatliche Interventionen vor allem über Sozialversicherungen und in die Bildung, die in Europa überwiegend staatlich war. Dagegen zog oder hielt sich der Staat im Bereich der Gesundheit und des Wohnungsbaus in den 1950er und 1960er Jahren oft zurück. Die Wohnungswirtschaft, die während des Krieges in vielen europäischen Ländern stark reglementiert war, wurde in den 1950er und 1960er Jahren oft wieder dereguliert. Staatliche Investitionen wurden zurückgefahren. Im Gesundheitssektor wurde nur in wenigen westeuropäischen Ländern wie Großbritannien und erst 1980 in Italien für alle Bürger ein kosten­loser staatlicher Gesundheitsdienst eingerichtet. In den meisten westeuropäischen Ländern blieb der Gesundheitsdienst privat.21 19 Vgl. Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit. 20 Vgl. B. Ebbinghaus u. J. Visser, Der Wandel der Arbeitsbeziehungen im westeuropäischen Vergleich, in: S. Hradil u. S. Immerfall (Hg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 475–376; B. Ebbinghaus u. J. Visser (Hg.), The societies of Europe. Trade Unions in Western Europe since 1945, New York 2000; Ebbinghaus u. Visser, Der Wandel der Arbeitsbeziehungen, in: Hradil u. Immerfall, Die westeuropäischen Gesellschaften, S. 475–376. 21 Vgl. P. Flora (Hg.), Growth to limits. The Western European welfare states since World War II, Bd. 4, Berlin 1987, passim.

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Trotzdem lässt sich die Abmilderung der sozialen Ungleichheit und ihre Grenzen nicht in ihrer Gänze mit diesen Instrumenten des staatlichen Eingriffs und mit dem Einfluss der Gewerkschaften erklären. Steuerpolitik, Sozialpolitik, Bildungspolitik und Gewerkschaftsmacht waren in den verschiedenen westeuropäischen Ländern viel zu uneinheitlich, um einen überall in die gleiche Richtung gehenden Trend zur Abmilderung der sozialen Ungleichheit hervorzurufen. Die Steuern auf hohe Einkommen wurden nicht in allen Ländern gleichermaßen hoch angesetzt. Auch die Sozialausgaben lagen weit auseinander, stiegen nicht in allen Ländern gleich massiv an. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften war sehr unterschiedlich. Ob sich die Expansion der Bildung in so kurzer Zeit auf die Einkommensverteilung auswirkt muss man, wie erwähnt, grundsätzlich bezweifeln. Hier setzen andere Erklärungen ein, die teilweise schon in der Zeit selbst entwickelt wurden und die Abmilderungen der Einkommensunterschiede nicht nur aus der Intervention des Staates, sondern aus Veränderungen der Wirtschaft erklärten. Dabei geht es nicht um eine Uminterpretation des Grundcharakters des Kapitalismus, sondern um temporäre wirtschaftliche Strukturveränderungen, von denen manche soziale Ungleichheit eher abmildern, andere eher verschärfen. Diese Erklärungen setzen an verschiedenen Enden der Einkommensskala an. Für die höheren Einkommen hat der niederländische Ökonom Jan Tinbergen schon 1978 das Argument vorgetragen, dass die Expansion der Hochschulen zu einem Überangebot an akademisch ausgebildeten Arbeitskräften führte. Infolgedessen blieben die Einkommen von Akademikern zwar weiterhin hoch, stiegen auch an, nahmen aber nicht so rasch zu wie das Durchschnittseinkommen der Gesamtbevölkerung und verloren daher ein paar Prozentpunkte ihres Anteils am Volkseinkommen.22 Man muss allerdings hinzufügen, dass sich diese Auswirkung der Expansion der Hochschulausbildung auf die Einkommensverteilung seit den 1980er und 1990er Jahren veränderte. Vor allem mit der Expansion des Finanzsektors entstand für einen Teil der Hochschulabsolventen ein sehr lukrativer, sehr hoch bezahlter Arbeitsmarkt, während ein anderer Teil der Akademiker immer noch Einkommensanteile verlor. Dadurch hielt sich der Trend zu einem Rückgang der Einkommensanteile der höheren Einkommen nicht mehr. Für die unteren Einkommen haben die Wirtschaftshistoriker Peter Lindert und Jeffrey Williamson argumentiert, dass die Verbesserung der Einkommensanteile der Unterschichten vor allem mit zwei Faktoren zu tun hatten: mit der Verbesserung der Einkommen der Landwirte in dem rasanten Wachstum der Landwirtschaft, das damals noch höher war als das der Industrie und viele Landwirte in einen Fahrstuhl von den niedrigsten Einkommen zu mittleren Einkommen setzte; mit der Zurückdrängung des Analphabetismus im südlichen

22 J. Tinbergen, Einkommensverteilung. Auf dem Weg zu einer neuen Einkommensgerechtigkeit, Wiesbaden 1978.

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Europa, wodurch die sehr schlecht bezahlten Analphabeten seltener wurden und auch deshalb die untersten Einkommen Einkommensanteile zugewannen.23 Diese beiden Strukturveränderungen der Wirtschaft waren allerdings zeitlich begrenzt. Die Anpassung der Einkommen in der Landwirtschaft an die in der übrigen Wirtschaft war in den 1970er Jahren weit gehend abgeschlossen. Die Analphabetenraten in Südeuropa wurden zwischen den 1950er und den 1970er Jahren stark zurückgedrängt. Vor allem die jüngeren Arbeitskräfte, die in ungelernten Tätigkeiten besonders stark gesucht sind, waren alphabetisiert. Die Auswirkung auf die Einkommensverteilung ließ daher nach. Solche temporären Strukturveränderungen verschärften umgekehrt die sozialen Ungleichheiten des Wohnens und der Gesundheit. Die sozialen Unterschiede des Wohnens wurden von den 1950er bis 1970er Jahren massiv beeinflusst durch die zweite große Welle des Städtewachstums in Europa, die teilweise durch massive, nationale und internationale Wanderungen vom Land in die Städte ausgelöst wurde. Sie führte in den Städten oft zu einem sehr angespannten Wohnungsmarkt und daher auch zu einer Verschärfung der Ungleichheiten in den Wohnkosten. Dieses Städtewachstum flachte allerdings seit den 1970er und 1980er Jahren wieder ab. Die sozialen Unterschiede der Gesundheit wurden nach der These von Mackenbach durch die epidemiologische Tradition, durch das Vordringen der Gefäßkrankheiten verstärkt, in denen die sozialen Unterschiede stark ausgeprägt waren. Auch diese Entwicklung war zeitlich begrenzt, da bis zu den 1950er Jahren andere Krankheiten mit anderen sozialen Ungleichheiten vorherrschend waren. Aber auch diese Erklärungen durch Strukturwandel erfassen nicht den gesamten Prozess der historischen Abmilderung der sozialen Ungleichheit. Ein dritter Grund wirkte auf den Wandel der Distinktionen zwischen sozialen Milieus. Mit diesem Thema befassen sich die wirtschaftlichen Analysen der Einkommensverteilung und die Mobilitätsuntersuchungen nur wenig, obwohl soziale Distinktionen ein zentraler Bereich der sozialen Ungleichheit sind. Die Instrumente der sozialen Distinktion verschoben sich von den 1950er bis 1970er Jahren erheblich, auch wenn sich das Bedürfnis nach sozialer Abgrenzung nicht grundlegend änderte. Mit der Durchsetzung des Massenkonsums wurden der Oberschicht und der Mittelschicht viele Instrumente der sozialen Abgrenzung nach unten aus der Hand genommen, da weite Bereiche ihres Lebensstils einem größeren Teil der Gesellschaft zugänglich wurden. Die erwähnten groben sozialen Abgrenzungen durch Besitz von langlebigen Konsumgütern, von Bildungstiteln und von sozialer Sicherheit ließen sich oft nicht mehr als Mittel der sozialen Distinktion einsetzen. Die soziale Distinktion verfeinerte sich. Die hohe Priorität sozialer Gleichheit im politischen Diskurs mag sich manchmal zudem auf den Lebensstil der höheren Schichten ausgewirkt und zu einer Rück-

23 P. Lindert u. J. G. Williamson, Growth, Equality and History, in: Explorations in Economic History, 22.1985, S. 341–377.

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nahme scharfer, öffentlich sichtbarer, sozialer Trennlinien motiviert haben. Auch die Abgrenzung der Mittel- und Unterschichten nach oben wandelte sich mit der außergewöhnlichen Steigerung der Einkommen und der Expansion des Bildungssektors. Die Mittelschichten mussten ihr Aufstiegsbedürfnis mit einem anderen Lebensstil und besseren Bildungsabschlüssen beweisen und passten sich den milderen, verfeinerten sozialen Abgrenzungen an. Die Unterschichten waren weniger zu einem abgegrenzten, prekären, aber solidarischen Lebensstil gezwungen, da sie durch die steigenden Einkommen und den modernen Wohlfahrtsstaat etwas mehr Spielräume in ihrem Lebensstil gewannen. Allerdings setzten sich diese Abschwächungen der sozialen Trennlinien innerhalb des westlichen Europas nur mit sehr großen Unterschieden zwischen den einzelnen Ländern durch. Vergleichende Untersuchungen sind selten. Diese Abmilderungen der sozialen Trennlinien waren zudem auf die Trente glorieuses beschränkt, da seit den 1980er Jahren die Einkommen weit weniger oder gar nicht mehr zunahmen, die Bildungsabschlüsse durch drohende Arbeitslosigkeit oft entwertet erschienen und der Standardisierungsdruck im Massenkonsum durch flexiblere Produktionsmethoden nachließ.24

V. Zusammenfassung Die Abmilderung der sozialen Ungleichheit während der 1950er bis 1970er Jahre im westlichen Europa bleibt eine Herausforderung für Historiker und für historisch arbeitende Sozialwissenschaftler. Auch wenn mehr Forschung nötig ist, steht die These von der Abmilderung der Einkommens- und Vermögensunterschiede auf einem recht soliden Boden: In wichtigen europäischen Ländern sanken die Einkommensanteile der höheren Einkommen, auch die Vermögensanteile der großen Vermögen, und stiegen gleichzeitig die Einkommensanteile der unteren Einkommen. Ob es davon Ausnahmen in Europa gibt, wann genau diese Abschwächung stattfand, muss zukünftige Forschung klären. Vor allem über das südliche Europa, aber auch über das hier nicht behandelte, kommunistische östliche Europa wissen wir noch zu wenig. Schon jetzt ist allerdings absehbar, dass diese Abschwächung der sozialen Ungleichheit nicht in allen Dimensionen stattgefunden hat. Das wurde bisher übersehen. Nur die sozialen Trennlinien im Lebensstil der sozialen Milieus schwächten sich ebenfalls ab und verfeinerten sich. Dagegen nahmen in der Bildung nur die Bildungschancen für Jugendliche und junge Erwachsene, vor allem für Frauen, zu. In der Erwachsenenwelt dagegen veränderten sich die Bildungs24 Vgl. A. Spellerberg, Soziale Differenzierung durch Lebensstile, Berlin 1996; Sozialstruktur und Lebensstile, Frankfurt 1992; G.  Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt 20052; Bourdieu., Die feinen Unterschiede; Haupt, Konsum und Handel, S. 118–152.

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unterschiede noch wenig. Im Wohnen gingen zwar die sichtbaren Unterschiede in der Wohnqualität etwas zurück, aber in der steigenden Belastung mit den Wohnkosten stabilisierten oder verschärften sie sich oft. In der Gesundheit nahm die soziale Ungleichheit ebenso wenig spürbar ab wie in der sozialen Mobilität. Angesichts dieser Grenzen der Abmilderung sozialer Ungleichheit hielt sich im politischen Diskurs die hohe Priorität für soziale Gleichheit. Sie geriet erst in den 1970er Jahren ins Wanken. Es ist auch noch nicht klar, wie diese Abmilderung der sozialen Ungleichheit und ihre Grenzen zu erklären sind. Die These dieses Artikels: Die gegenwärtig viel diskutierten Instrumente der Staatsintervention, die Erhöhung der Steuer für Wohlhabende, die Bildungspolitik und der Ausbau des Wohlfahrtsstaates hatten an dieser Abmilderung der sozialen Ungleichheit sicher ihren gewichtigen Anteil, erklären sie aber keineswegs voll. Wirtschaftliche Faktoren der Zeit, vor allem das Überangebot an Hochschulabsolventen, aber auch der Abbau der Einkommensdisparitäten zwischen Landwirtschaft und Industrie und der Rückgang der sehr schlecht ausgebildeten Ungelernten, im Süden Europas oft noch Analphabeten, haben ebenfalls viel zu dieser Abmilderung der sozialen Ungleichheit beigetragen. Man sollte deshalb aus dieser Epoche keine zu vorschnellen optimistischen Schlüsse auf die Wirkung von staatlicher Intervention ziehen. Darüber hinaus wurde ein wesentlicher Teil der Abmilderung sozialer Ungleichheit, die Abmilderung der sozialen Trennlinien im Lebensstil zwischen den sozialen Milieus, weder durch staatliche Intervention noch durch wirtschaftlichen Strukturwandel hervorgerufen. Er hatte mit Anpassungen des Lebensstils der verschiedenen sozialen Milieus an die Durchsetzung des Massenkonsums, des Massenwohnungsbaus, der Bildungsexpansion und des Wohlfahrtsstaats während des Wirtschaftsbooms zu tun. Insgesamt wurde die soziale Ungleichheit in Westeuropa in dieser Epoche also nicht allein durch staatliche Intervention, sondern auch durch ganz bestimmte, temporäre wirtschaftliche Strukturveränderungen und durch den Wandel der Lebensstile abgemildert.

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15. Educational opportunities in the period of industrialization

Educational opportunities in nineteenth-century Europe have attracted the interest of  a growing number of scholars in recent years. Stimulated by the debate on present educational systems in Europe, the studies have dealt with the causes and consequences of the long-term expansion of secondary and higher education, with educational crisis, and with the social structure of the educators and educated. Relating socioeconomic factors and interests in educational policy to decisions and non-decisions of governments in this field, they have complemented the hitherto one-sided intellectual and institutional history of education. For the first time, we have an idea of the long-term structures and changes of educational opportunities in industrializing Europe. So far, however, most of the research has had a very limited scope in space and time. On the one hand, the comparative perspective was almost always neglected. Scholars dealing with one European country rarely knew about the studies even from neighbouring parts of Europe.1 On the other hand, the research rarely touched the debates on long-term change of educational opportunities in the framework of economic development, on changes of social structures and mentalities, and on long-term alterations of the political power structure and the rise of the welfare state. Departing from these shortcomings, this chapter tries to place the findings of the available studies in an intra-European comparative

1 The most important exception seems to be F. Ringer, Education and society in modern Europe, Bloomington 1978. As I saw only a small section of the manuscript, the conclusions of the book are not reflected in this essay. A very interesting step in the same direction is J. Kocka, Bildung, soziale Schichtung und soziale Mobilität im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der gewerblich-technischen Ausbildung, in: B. J. Wendt et al. (eds.), Gesellschaft und politisches System, Bonn 1978, p. 297–314. For the comparative investigation of one major component of educational opportunity, the enrolment figures in secondary and higher education, see P. Flora, Indikatoren der Modernisierung. Ein historisches Datenhandbuch, Opladen 1975. For an important effort to bring some current projects into relation with each other, see L. Stone, Schooling and society, Baltimore 1976. For a summary of the studies of educational opportunities in West Europe during the 19th and 20th centuries see H. ­­Kaelble, Historische Mobilitätsforschung. Westeuropa und USA im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt 1978. For the beginnings of a comparative discussion on early modern times, see R. Chartier and J. Revel, Université et société dans l’Europe Nouvelle, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 25. 1978; very valuable comments on earlier versions of this paper came from Peter Flora, Roy Hay, Arnold Heidenheimer, Jürgen Kocka, Peter Lundgreen, Bo Öhngren and Konrad Jarausch.

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context, and to put forward a concept of long-term development of educational opportunities in the context of social change in nineteenth-century Europe. The chapter is divided into three sections. The first section contains a sketch of  a historical conception of the development of educational opportunities, including the relationship to the main topic of the volume  – the rise of the welfare state. The second section (omitted in this volume) describes the common European characteristics of opportunities in higher education and the related parts of secondary education.2 The third section (also omitted here)  tries to explain why these common characteristics existed, and to what degree this was due to the emergence of the welfare state.

A Conceptual Framework for the Development of Educational Opportunities Current historical and sociological research on nineteenth-century educational opportunities in Europe has reached the point at which it can benefit from a conceptual framework covering the definition and general determinants of educational opportunities and long-term changes in the pattern of educational opportunities during the nineteenth and twentieth centuries. Since these theoretical components are closely intertwined, all of them are dealt with briefly at the outset. The term educational opportunities can be variously employed. With regard to post-primary education, it seems most appropriate to define it in terms of the proportion of children of different social or occupational classes obtaining secondary or higher education; similar definitions could be used for the regional, sexual, or ethnic distribution of educational opportunities not covered here. Relevant to this definition, therefore, are both the origin of students and the overall development of the enrolment levels in post-primary education. Educational opportunity thus defined also embraces closely related structural changes that are often neglected in historical studies.3 The only disadvantage of 2 Other sections of secondary education that did not lead to university studies have been largely omitted in this essay, since a comparison turned out to be very difficult. 3 Two structural components are very often omitted in historical investigations of educational opportunities: on the one hand, enrolment figures are frequently not related to the respective age cohorts and so might lead to mistaken conclusions about the historical changes or differences between countries; on the other hand, the social origin of students usually is not related to the social structure of a society; so changes of the social origin that might be mere consequences of changes of the social structure can be considered erroneously as alterations of educational opportunities. The definition put forward above avoids these shortcomings. It has been introduced by sociologists dealing with present education such as Bourdieu, Westergaard, Bühl, Anderson (see P. Bourdieu and J.-C. Passeron, Les héritiers, Paris 1964, pp. 136 ff.; A. Little and J. Westergaard, The trend of class differentials in educational opportunity in

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the definition is the reduction of a very complex phenomenon to a few numbers. Therefore, two distinct dimensions of educational opportunities are employed in this essay: the social distribution of educational opportunities (the social origin of students in relation to the social structure of a society) and the magnitude of educational opportunities (the volume of enrolment figures in relation to respective age cohorts). Four determinants warrant examination for their role in shaping the magnitude and distribution of educational opportunities in modern societies. They are: 1. Variations in the demand for highly trained manpower due to economic development and the growth of public bureaucracy, with its attendant impact on the social prestige of education and occupational mobility; 2. Variable class perceptions of the utility of higher education as a guarantor of social status, shaped by class differentials in the financial resources and in information available for education, as well as by the prevalent cultural values and their conformity with educational inequality; 3. The permeability of educational institutions to a broad social range of students, the availability of financial support for them, and the related social consequences stemming from competition and conflict over the social distribution of post-primary education; 4. The changing role of the government, its educational goals and underlying interests, and its capacity to implement them. Obviously, a brief essay can touch only lightly upon such complex determinants, but it is clear that their impact on educational opportunities varied widely in the course of the historical development of modern society. For the purpose of historical analysis, in fact, these determinants operated to produce a definable pattern, constituting three successive eras of educational opportunities.4

England and Wales, in: British Journal of Sociology 15 (1964), p. 301–316; W. Bühl, Schule und gesellschaftlicher Wandel, Stuttgart 1968; C. A. Anderson, Access to higher education and economic development, in: A. Halsey et al. (eds.), Education, economy and society, New York 1965, p. 253). 4 Apart from the special studies to which references are made in the next sections the general works most stimulating for the following conception were Ringer, Education, 1978; G. Rimlinger, Welfare policy and industrialization in Europe, America and Russia, New York 1971; the essays by J. Kocka and by H-U. Wehler in: H. A. Winkler (ed.), Organisierter Kapitalismus, Göttingen 1974; C. S. Maier, Recasting Bourgeois Europa: stabilization in France, Germany, and Italy in the Decade after World War I, Princeton 1975; and the essays by Arnold Heidenheimer and Hugh Heclo in P. Flora and A. J. Heidenheimer (eds.), The development of the welfare states in Europe and America, New Brunswick 1981.

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A. The Era of Charity Opportunities Although industrialization may have commenced, European post-primary education during this period was rarely linked to economic development. lndustrial innovation was not usually triggered by scientific research, nor was the qualified labour force in the economy trained in institutions of secondary and higher education. The major traditional markets for university graduates were the church, some professions, and public administration; this market was small in relation to the total workforce and showed no long-term expansionary tendencies. Therefore, only a very small proportion of a given age cohort attended secondary and higher education. The chief variable governing cross-national differences in the social prestige of higher education and its role in facilitating occupational mobility was the status of the higher civil service. The European nobility and the traditional elites recognized higher education as  a channel for mobility into top positions in the church and partly also in public administration. This awareness might have increased the demand for higher education in the long run. In lower and lower middle class families, limitations in information and income precluded substantial investments in the secondary or higher education of children. However, an uncoordinated charity system for low income students did exist, sustained by churches, small private foundations, individual notables, family connections, and university members. At some universities, the job market for students was quite favourable. Weak competition in secondary and higher education inhibited the formalization of the educational system, making it easier to transfer between educational institutions. To be sure, in the absence of systematic government intervention in favour of nonprivileged groups, educational opportunities were of limited magnitude,  a matter of chance and charity. Nevertheless, depending on the strength of demand for higher education from the nobility and the educated classes, this environment could produce a relatively high proportion of students from families below the middle classes, such as master artisans, dependent artisans, traditional white collar employees, and farmers. B. The Era of Competitive Opportunities This transitional era could be divided into two periods, the first characterized by fluctuating enrolment, followed by a second period of gradual long term growth. To simplify this short sketch, however, I shall join the two periods into a single category. During this era, the links between education and the industrialization process intensified. Scientific research began to contribute to industrial innovation, especially in iron and steel manufacture, but later in the chemical and electronics industries as well. Even more important was the rising industrial demand for university graduates. The proportion of university graduates rose steadily among 258

both executives, and to a lesser extent, white collar employees. In some countries, this demand for university graduates was reinforced by the expansion of public administration and the higher ranks of the civil service. Therefore, enrolment figures in relation to the population and educational investments started to rise slowly in the later part of this era, though the proportion of respective age cohorts attending secondary and higher education remained small before 1914. The demand for higher education among the traditional upper classes increased in response to the growing recognition of education as a gateway to well-paid and prestigious positions, and perhaps also because of rising relative family size. Secondary and higher education began to gain recognition as a transmitter of social status, though it was still not as important as in the second half of the twentieth century relative to other instruments such as property and family. The demand for higher education among the lower middle class expanded as well, partly because of declining economic prospects for small artisans and partly in response to the expansion of the lower ranks of the civil service. Rising demand made secondary and higher education more competitive. This was one reason for the greater formalization of access to post-primary education, especially regarding separation of primary and secondary education, and the declining permeability of institutions of post-primary education. Even where the relevant policy was not tightened, scholarships for gifted students from the lower classes became scarcer because of stronger competition or, later on, because of rising enrolments. Government policy aimed primarily at financing expansion of secondary and higher education, upgrading the quality of teaching and research, and modernizing the curricula to meet new social and economic needs. The nonprivileged social classes lacked sufficient political influence to counteract the growing trend toward educational inequality. All these factors led to static or deteriorating educational opportunities for the Iower classes. Educational opportunities improved mainly for the petit bourgeoisie and sometimes for the lower white collar workers. This limited growth in educational opportunities was a by-product of rising student enrolments, rising standards of Iiving, and changing occupational prospects for the lower middle classes, rather than a result of purposeful government reforms. C. The Era of Welfare Opportunities This era is one of transition characterized by growing government intervention and by a further increase in the demand for university graduates in business. Gradually, university graduates came to dominate managerial and executive positions, at least in large corporations. Among white-collar employees, new markets emerged for university credentialed skills in such fields as scientific management and marketing. The expansion of public administration and professional services further reinforced demand for highly educated manpower, 259

causing student enrolments to rise more sharply than before. As university graduates became a significant part of the labour force, filling well-paid, secure and prestigious positions, secondary and higher education gradually became the major access to the upper middle class and to the elite. Hence it became the main instrument of status inheritance and social ascent, although the pattern varied from country to country. Broad social and political awareness of this development intensified competition for secondary and higher education, particularly inasmuch as educational institutions were still characterized by the high formalization of access and low permeability typical of the era of competitive opportunities. The most important characteristic of the era of welfare opportunities is the change in political structure and in educational policy goals. Political systems emerged from a long and contradictory period of transition with decision-making processes dominated by three groups: the bureaucracy, organized labour, and organized big business. In contrast to former eras, some politically influential groups were composed of members who were not highly educated. Such prospective or actual changes in the power structure generated three new and interrelated educational policy goals, all tied to the issues of welfare state policy. The first was a policy of active provision for sufficient educational facilities through the expansion of educational investment and teaching staffs. The two additional goals centered on the reduction of educational inequality, either by extending, modernizing, and equalizing basic education or by enhancing the institutional permeability of post-primary education through scholarship programs, tuition reduction, and more flexible access rules. In contrast to the unsystematic educational options of the era of charity opportunities, the new educational entitlements were often recognized as constitutional or at least legal rights. Even so, educational opportunities improved only slowly, the magnitude of educational opportunity usually changing more measurably than did social distribution. Changes in access were most noticeable in secondary education, much less so in higher education, and least of all in entry to the professions. Indeed, the emergence of welfare opportunities in education was a very slow and sometimes even strongly regressive process. The range of contrasting Western European political systems during the first half of the twentieth century assured that the era of transition to welfare opportunities was a period of highly variable educational policy in which a common pattern of educational opportunities was hard to discern.

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16. History of social mobility

I. General questions Social mobility was one of the important themes of social history during ist beginnings in the 1960’s and the 1970’s. Historians explore social mobility for various reasons. First, they want to study the general question of the history of equality of social opportunities. The question whether modern societies enlarged or reduced chances of social ascent for men as well as for women was attractive for historians. The rising openness or reinforced exclusiveness of modern elites, the rising or declining opportunities of upward social mobility for men and women from the lower classes, from immigrant background, from poor families, from ethnic groups, the broadening or reduced access to channels of social ascent such as education, careers in business or public bureaucracies, in politics, in arts and sports, the role of family networks were central topics. Secondly, historians discuss the history of social mobility in  a comparative view. European and American historians explore the myth of the opportunities for social ascent in America which were to be unique compared to Europe. Historians also investigated the myth of unblocked social mobility in communist countries before 1989/91 compared to Western Europe. Social mobility was a historical theme to which major contributions did not only come from historians, but also from sociologists and political scientists.

II. Definitions and Sources Studying the history of social mobility, historians usually investigate only the social mobility of individuals. They usually do not explore under the heading of social mobility the grading up or grading down of entire social groups or entire social classes. Moreover, the study of social mobility primarily focuses upon mobility in social structures and hierarchies rather than upon geographical mobility of individuals as the term might suggest. It also mostly concentrates upon occupational mobility. If investigating career mobility (or intragenerational mobility), historians trace the mobility of individuals between different occupational positions or their persistence in the same occupation throughout the life. If they investigate mobility between generations (or intergenerational mobility), they compare the occupation of the father and / or the mother (sometimes also the ancestors) at specific points of their life with the occupations of a historical 261

individual. Occupation is usually seen as the crucial indicator of the situation of an individual in a historical society. To be sure, historians are fully aware of the fact that the activity of an individual in history more often than to-day might comprise a variety of occupations at the same point of time or might include professions which still are in the making. Historians often insert the occupation in a more or less sophisticated scheme of historical social stratification and in this way explore upward and downward social mobility of an individual. Historians of social mobility work to link various historical sources and to trace individual persons through marriage license files, census materials, tax files, last wills, records of churches and public administrations, autobiographical sources. The competence of historians in linking various sources has grown distinctly. During recent years, the study of social mobility has become highly sophisticated. Individual careers are more frequently explored in micro studies of as many details as possible. These studies investigate  a few richly documented individual cases rather than all members of  a local society. They often use autobiographical materials difficult to analyze quantitatively. This type of micro study rarely concentrates only on social mobility, but covers a large variety of aspects. At the same time, the international and interregional comparative study of the history of social mobility has become somewhat more frequent, using the rich results of about 30 years of historical research in this field.

III. Three main debates A first debate on social mobility by historians covers the increase of social mobility during the last 200 years. This debate is sometimes confusing, since the rise of social mobility has various meanings. It sometimes means a more meritocratic recruitment, especially for the few most prestigious, most powerful, and best paid positions. It sometimes means more mobility between occupations, upward mobility as well as downward mobility, job mobility in the same occupation as well as mobility between occupations in the same social class. Sometimes, the increase of social mobility also includes the chances of both genders and of minorities. Sometimes it means a clear increase of the opportunities of the lower classes compared to the opportunities of the upper and middle classes and not just more social mobility for everybody. One has to make sure what meaning is used by individual authors. In this debate, one can find, roughly speaking, two opposite positions, the argument of the rise of mobility and the argument of the stability or even decline of social mobility in the long run. The advocates of the rise of social mobility usually think of a general increase of mobile people, but often also of a rising number of upwardly mobile persons since industrialization. They argue that various major social changes should have led to more social mobility and to more social ascent: The general decline 262

of the fertility rate during the late 19th and early 20th centuries made it possible for parents not only to invest more in the individual help and education of their children, but also to promote their own professional careers. The rapid expansion of secondary and higher education especially since the end of the 19th century enlarged the chances for better training. The rapid increase of geographical mobility since the second half of the 19th century led to a widening of the labor market and to a greater variety of new chances. The fundamental changes of the active population from the predominance of agrarian work up to the 19th and early 20th centuries to the predominance of service work especially since the 1970s generated substantial social mobility between occupations. The distinct increase of the sheer number of occupations in all modern societies since the industrial revolution also must have led to more social mobility. The general change of mentalities, the weakening of the emotional identification with specific professions, social milieus, and also with specific local milieus, and the rising readiness for job mobility and for lifelong training further enlarged the number of socially mobile persons. The rise of the welfare state, the mitigation of individual life crisis and the guarantee of individual social security clearly improved the chances for further training and for the purposeful use of occupational chances. Deliberate government policies of enhancing educational and occupational opportunities for lower classes, for women, for ethnic and religious minorities, and for immigrants also should have had an impact on social mobility. In sum, a substantial list of factors in favor of an increase of social mobility during the last 200 years can be put forward from this side of the debate. The advocates of stability or even decline in social mobility are a heterogeneous group. Arguments stem from very different ideas of social developments. It is sometimes argued that 19th and early 20th century industrialization not only led to a rising number and a fundamental change of occupations, but also to a class society in which the major social classes, the middle class, the lower middle class, the working class, the peasants, and in some societies also the aristocracy tended to reinforce the demarcation lines to other social classes and, hence, to reduce rather than to enlarge the number of mobile persons. Other advocates of the skeptical view argue that the fundamental upheaval of modern societies during industrialization led to  a unique rise of social mobility, of upward as well as downward mobility, and that modern societies thereafter became more closed since the generation of pioneers in business ended, as most occupational careers became more formalized and more dependent on formal education, as modern bureaucracies emerged and as mentalities adapted to the modern, highly regulated job markets. Still others argue for the stability of social mobility rates in a different and much more narrow sense: They argue that the long term change of social mobility from the industrial revolution until the present was mostly structural, that is, it depended almost exclusively upon the redefinition of the active population rather than on the reduction of social, cultural, and political barriers. In this view social mobility remained stable if one abstracts from the changes simply induced by alternations in occupational structure 263

(as peasants, for example, became workers, i. e. a real change, but not necessarily a case of upward mobility). Still other advocates of the long-term stability of social mobility posit a stable inequality of educational and occupational chances of lower classes or of women or of minorities in comparison with the educational and occupational chances of the middle and upper class, of the male population, or of the ethnic majority, respectively. This long debate has led since the beginning of quantitative studies of social mobility after World War II to  a large number of historical studies of social mobility and to a wide range of results. To sum up briefly, three main results ought to be mentioned. First, only in very rare cases could a clear decline of social mobility rates be found. Most studies show either stable or increasing rates of social mobility, depending upon the type of community and country and the generation and the period under investigation. There is no overwhelming overall evidence, neither for stability nor for increase, of social mobility rates. Secondly, changes of overall social mobility rates do in fact depend to a large degree on changes in occupational and educational structure. So one can say that modern societies became more mobile to a large degree because education expanded so much and because occupational change became so frequent and normal. Finally, there is much evidence that the increase of educational and social mobility of lower classes and of women did not increase to the detriment of the educational and occupational chances of the middle and upper classes and of the men. Except for the Eastern European countries in some specific periods, social mobility was usually not a zero numbers game. (2) A second debate covers the more advanced social mobility in the United States. This old debate dates at least from the early 19th century, when the French social scientist Alexis de Tocqueville argued that the American society offered more opportunities of social ascent than did Europe. Various evidence was presented in favor of the American lead. Some empirical studies by sociologists demonstrated that in some crucial aspects  a clear American lead could be shown. This was especially true for the mobility into the professions. Higher education was more extensive and offered more chances than in Europe. Hence, the social ascent from the lower classes into the professions that are based on higher education was clearly more frequent than in Europe. In addition, comparative historical studies on late 19th- and early 20th century American and European cities showed that in a special sense a modest American lead existed during that period: Unskilled workers in fact moved up into white-collar positions in American cities somewhat more frequently than in European cities. Finally, historians demonstrated that the important difference between American and European societies could be found in the American creed in more opportunities in America than in the closed European societies. Other recent comparative studies tend to argue that  a general lead of the American society no longer exists in comparison with Europe. According to this view industrialization and modernization led to about the same opportunities everywhere. This was shown for the 19th century in studies on urban 264

social mobility as well as in studies of the business elites. For the 20th century various international comparisons of social mobility rates support this view and demonstrate that the overall rates were not distinctly higher in the US than in old societies such as Western Europe or Japan. The lead of communist countries in social opportunities especially in the USSR during the 1920’s and 1930’s and in the Eastern European communist countries in the late 1940’s and 1950’s is the topic of a less intensive, but important debate. Some historical studies of social mobility demonstrate that during these periods rates of upward social mobility into the higher ranks of social hierarchy were substantial compared to Western European societies. This was true partly because of the rapid expansion of higher education, partly also because of the communist abolition of the middle class, partly because of the rapid change of the employment structure due to rapid industrialization. However, the rise of social opportunities in communist countries was, if it rose at all, largely limited to the period of the system upheaval. Most comparative studies of the 1970’s and 1980’s show that rates of social mobility were not distinctly higher in Eastern Europe compared to Western Europe. This was partly because the communist political and administrative elite became exclusive and gentrified, partly also because social change slowed down, partly because in several communist countries the expansion of higher education was reduced. (3) Gender contrasts in social mobility were explored only by a small number of studies by historians. A debate among historians was not yet started. But gender contrasts undoubtedly will add new important aspects to the general debate about long-term trends in social mobility. Four conclusions can be expected from the few studies. First, in a more radical sense than in the study of male mobility, female mobility raises the question whether social mobility should in fact be centered around occupational mobility or whether other factors such as marriage and unpaid or partially paid work in emerging professions is to be taken in account much more than so far. Secondly, the question of a rise of downward mobility during the transition to modern society, i. e. during the rise of female activity outside the family sphere is to be explored. A study of female social mobility in 20th century Berlin demonstrates  a high rate of intergenerational declassement of active women during the early parts of our century. Thirdly, the study of the social mobility of women demonstrates much more clearly than that of males the effects of economic crises and fundamental transitions on social mobility. Opportunities for women seem to have depended strongly on economic prosperity, on long-term social stability. In periods of economic crisis, rapid transitions such as the upheaval of 1989/91 women more than men belonged to the losers. Here again the study of female mobility might draw the attention of the historians to a more general aspect of mobility which was not enough investigated. Finally, social mobility of women also demonstrates that definite changes of social opportunities can only be reached in a long-term perspective. It was shown that even when important channels of upward social mobility such as education offered equal chances to women, this did not lead to a 265

parallel improvement of occupational chances for women. Besides the study of institutions and policies, the historical study of the experience of social mobility and the perception of social mobility will become crucial.

IV. The future historical research on social mobility During the last two decades social mobility was much less frequently investigated by historians. The declining interest in social mobility has partly to do with the rising research standards which are more and more difficult to match by projects limited in time and financial resources. Moreover, the initial questions asked in this field lost the former attraction because it became widely accepted that the social mobility rates were about the same in most societies and did not rise distinctly during 19th and 20th centuries industrialization and modernization. Finally, the general thematic trends in historical research made social mobility not look as a modern theme. The future of the study of social mobility is that of a normal theme among many others in history rather than  a top theme in an expanding branch of history as in the 1960’s and 1970’s. One can hope for four sorts of studies of neglected aspects of social mobility. A first future aspect is the historical study of social mobility in Eastern Europe, but also outside Europe, and thereafter the international comparisons reaching beyond Western Europe and the US. The question of the particularities of social mobility in Europe might then be answered differently. A second future aspect of social mobility are gender contrasts of social mobility. We need a well reflected number of case studies of contrasting countries, different female activities, contrasting general conditions such as prosperity and economic depression, peace and war periods, stability and transitions. A third future theme are to be specific factors of social mobility such as religion, types of family, immigration, unemployment and poverty and more general the impact of social milieu background. It seems that historians will explore these contexts of social mobility often in looking at a limited number of individuals and that they will include also the subjective experience of social mobility. The fourth future topic is to be the history of the debate on social mobility, as an aspect of the history of identities, e.g. the European or American identity. The debate among historians was inspired by this debate and this topic will help us to understand better why historians became interested in this theme about forty years ago.

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Historischer Vergleich und Transfer

17. Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer

Was bewegt die Sozial- und Geisteswissenschaftler, die über Disziplingrenzen hinweg über den Vergleich diskutieren? Was ist kontrovers? Welche Disziplinen stehen sich in dieser Debatte gegenüber, normative Wissenschaften versus empirische und erklärende Wissenschaften oder hermeneutische gegen analytische Wissenschaften oder modellorientierte gegen induktive Wissenschaften oder Kulturwissenschaften gegen Sozialwissenschaften? Oder gehen die wichtigen Gegensätze mitten durch die Disziplinen?1 Von einer gemeinsamen Debatte über den Vergleich unter den fast zehn Disziplinen dieser Beiträge zu sprechen, wäre allerdings unrealistisch und illusionär. So viel Interdisziplinarität gibt es nicht, so viele Disziplinen tauschen sich nicht über die gleichen Fragen des Vergleichs aus. Sie sprechen nicht einmal alle eine gemeinsame Sprache, in der sie eine solche Debatte führen könnten. Für einen Juristen stellen sich die Grundfragen des internationalen Vergleichs anders als für einen Literaturwissenschaftler, für einen Ökonomen anders als für einen Historiker. Allerdings sollte man diese gemeinsame Debatte über den Vergleich auch nicht zu eng fassen. Man kann zwei verschiedene Arten von Debatten unterscheiden: auf der einen Seite den explizit interdisziplinären Dialog, auf der anderen Seite die parallelen Debatten in unterschiedlichen Disziplinen. Explizite interdisziplinäre Dialoge über den Vergleich, in denen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen einander zitieren und kommentieren, gibt es in der Regel nur zwischen einigen wenigen geistes- und sozialwissenschaftlichen 1 Dieses Nachwort wurde zu einem Band geschrieben, in dem führende oder junge Vertreter von neun Disziplinen der Kultur- und Sozialwissenschaften um eine Analyse zur Verwendung des Vergleichs in ihrem Fach gebeten wurden. Ursprünglich waren mehr Fächer vorgesehen, aber nur zu diesen neun Fächern konnten Beiträge eingeworben werden: Ethnologie, Erziehungswissenschaften, Geschichtswissenschaften, Jurisprudenz, Literaturwissenschaften, Politikwissenschaften, Psychologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften. Besonders bedauerlich war, dass für Sprachwissenschaften, die ein Pionier des Vergleichs waren, in dem gegebenen Zeitraum kein Beitrag zu erhalten war. Das folgende, gekürzte Nachwort vergleicht die Antworten dieser Disziplinen und spricht die Transfers zwischen diesen Disziplinen an. Dieser über fünfzehn Jahre alte Überblick ist ohne Zweifel ein Kind seiner Zeit. Leider wurden aber in der Zwischenzeit solche überdisziplinären Überblicke nicht fortgeführt. Vgl. H. ­Kaelble u. J. Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Campus 2003 (auf die einzelnen Beiträge wird im Folgenden nur noch bei etwas längeren Zitaten verwiesen).

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Fächern. Man kann unter den Beiträgen deutlich sehen, zwischen welchen Disziplinen solche Dialoge im Gang sind: vor allem zwischen der Soziologie, der Ethnologie, den Politikwissenschaften, den Erziehungswissenschaften, den Geschichtswissenschaften, den Literaturwissenschaften, manchmal auch nur zwischen zwei dieser Disziplinen wie etwa die Debatte über den Transfer, die gleich vorgestellt werden wird. Auch die Reichweite dieses Dialogs innerhalb der Fächer sollte man nicht überschätzen. Nur die kleine Gruppe von Wissenschaftlern, die über die Methode des Vergleichs schreiben, führen diesen Dialog in vollem Sinn. Die meisten Praktiker des Vergleichs bleiben dagegen weitgehend auf ihr Fach bezogen. Sie sind allerdings doch über die Methodiker ihres Faches, die sie wiederum lesen, indirekt an den interdisziplinären Dialog angeschlossen und gehen deshalb nicht völlig in einer Isolation ihres Faches verloren. Der explizite interdisziplinäre Dialog ist zudem nicht immer ein wirklicher Austausch, sondern geht nicht selten nur in eine Richtung, ist ein Transfer von Ideen nur von einem Fach in andere Fächer, etwa von der Soziologie in andere Disziplinen, aber oft nicht in der Gegenrichtung. Allerdings verschieben sich im Laufe der Zeit solche Einseitigkeiten der Ausrichtung des Dialogs zwischen den Disziplinen. Auf die Dauer sendet nicht immer nur eine Disziplin, empfängt nicht immer nur eine andere. Daneben sollte man allerdings die parallelen Debatten nicht ausschließen, wenn man den Dialog zwischen Disziplinen behandelt. Damit sind Debatten gemeint, die sich in unterschiedlichen Disziplinen über die gleichen Themen des Vergleichs drehen, aber nur innerhalb der jeweiligen Disziplin ohne Bezug­ nahme auf andere Disziplinen, ohne interdisziplinäre Zitiernetzwerke und ohne ausdrücklich benannte Ideentransfers aus anderen Disziplinen. Sie werden daher in jeder beteiligten Disziplin oft in ganz eigenen Begriffen und Sprachen geführt. Solche parallelen Debatten über den Vergleich sind in der Regel kein Zufall, sondern erklären sich entweder aus den gleichen wissenschaftsgeschichtlichen Ursprüngen oder aus einem nicht mehr erkennbaren oder nicht ausgesprochenen interdisziplinären Transfer oder aus einer parallelen Konfrontation mit den gleichen Problemen in verschiedenen Disziplinen. Deshalb sollte man solche parallelen Debatten und Sprachen über den Vergleich mitberücksichtigen, wenn man die interdisziplinäre Debatte über den Vergleich vorstellt. Unter den Beiträgen gibt es eine ganze Reihe solcher Hinweise auf parallele Debatten. Nur ein Beispiel: Wenn der Literaturwissenschaftler Michel Espagne oder der Historiker Osterhammel »Transfer« oder »Austausch« sagen, spricht der Politikwissenschaftler Dirk Berg-Schlosser von »Diffusion« oder »Interdependenz,« der Ethnologe Wolfgang Kaschuba ebenfalls von »Diffusion,« der Jurist Filippo Ranieri von »Rezeption,« der Romanist Peter Brockmeier von »Intertextualität,« die Psychologen Lutz H. Eckensberger und Ingrid Plath drücken dasselbe mit dem Begriff »Galtonsches Problem« aus. Alle meinen im Kern Ähnliches. Die Debatten, die hier geschildert werden, sollten nicht missverstanden werden. Lebhafte interdisziplinäre Debatten über den Vergleich sind nicht unbedingt ein Hinweis auf eine interdisziplinäre Krise oder auf einen inter­ 272

disziplinären Umbruch in der Komparatistik, sondern eher ein Anzeichen für die Vitalität dieser Methode und des Austauschs zwischen Disziplinen. Komparatisten diskutieren den Vergleich fortwährend, verändern ihn, geben ihm neue Ziele und denken sich neue Verfahren aus, da der Vergleich wie alle wissenschaftlichen Arbeitsmethoden eine große Variationsbreite von Möglichkeiten besitzt und dauerndem Wandel unterworfen ist. Gegenwärtig drehen sich die interdisziplinären Debatten über den Vergleich vor allem um drei Themen: (1) um das Verhältnis von Vergleich und Transfer; (2) um die Tendenzen zum generalisierenden oder zum individualisierenden Vergleich; (3) um die Vergleichseinheiten, also um die Frage, ob die im Vergleich und Transfer üblichen Nationen weiterhin üblich bleiben sollen, oder ob auch andere Vergleichseinheiten, Zivilisationen, Regionen und Orte, aber auch transnationale Institutionen und Prozesse, oder auch Einzelpersonen gewählt werden sollen. In diesem Nachwort soll versucht werden, die Antworten der Autoren auf diese Fragen zusammenzufassen.

I. Vergleich oder Transfer? Die Debatte über den Vergleich und den Transfer lässt sich aus dem vorliegenden Band am leichtesten erschließen. Sie gab dem Band seinen Titel. Zwei tragende Teilnehmer der Debatte über Transfer und Vergleich, Michel Espagne und Jürgen Osterhammel, sind in diesem Band mit Beiträgen vertreten.2 Diese lebhafte Debatte über Vergleich und Transfer fand bislang vor allem unter Historikern und Literaturhistorikern statt. Auch wenn an dieser Debatte andere Disziplinen bisher noch wenig beteiligt sind, soll sie hier doch vorgestellt werden, weil es, wie schon angedeutet, parallele Debatten oder zumindest eine Sensibilität für diese Fragen auch in anderen Disziplinen gibt. In dieser Debatte versteht man unter Vergleich im allgemeinen nur die Gegenüberstellung von mehreren Vergleichsfällen zur Analyse und Typisierung der Unterschiede und der Gemeinsamkeiten. Unter Transfer versteht man dagegen vor allem die Verwandlungen von Konzepten, Werten, Normen, Einstellungen, Identitäten bei der 2 Vgl. M. Espagne, Sur les limites du comparatisme en histoire culturelle, in Genèses 17 (1994) (dt.: ders., »Kulturtransfer und Fachgeschichte,« in: M. Middell, Kulturtransfer und Vergleich, Leipzig 2000); J. Osterhammel, »Kulturelle Grenzen in der Expansion Europas, Saeculum 46 (1995); ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zur Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001; vgl. zudem: J.  Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S.649–685; S. Conrad, u. R.  Shalini (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt / Main 2002; M. Werner u. B. Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft. Band 28 (2002), S. 607–636.

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Wanderung von Personen und Ideen zwischen Kulturen und bei den Begegnungen zwischen Kulturen. Die Debatte über den Vergleich und Transfer wurde vor allem von Michel Espagne, von Jürgen Osterhammel, von Michael Werner, und Bénédicte Zimmermann angestoßen. Die erste Position, die den Vergleich im genannten engeren Sinn bevorzugt, wurde oft in methodischen Aufsätzen vertreten und wird bis heute häufig praktiziert.3 Die Gegenüberstellung der Vergleichsfälle hat die Priorität. Die Untersuchung von Transfers bleibt in der Regel deutlich nachgeordnete Methode, wird vor allem in der speziellen Situation von einander besonders nahen Gesellschaften mit besonders vielen Transfers vorgenommen. Im Extremfall wird der Transfer sogar im Sinne des »Galtonschen Problems« nur als Störfaktor der notwendigen Unabhängigkeit der Vergleichsfälle angesehen, den man aus technischen Gründen mit in Rechnung stellen muss. Der Vergleich wird in dieser Position oft als ein Königsweg der sozialwissenschaftlichen und historischen Ursachenanalyse angesehen, und zwar aus mehreren, ganz unterschiedlichen Gründen. Keine andere Methoden kommt der stringenten naturwissenschaftlichen Ursachenanalyse so nahe wie der Vergleich. 3 Zum Vergleich vgl. W. Arts u. L. Halman (Hg.), New directions in quantitaive comparative sociology, Leiden 1999; K. von Beyme, Der Vergleich in der Politikwissenschaft, München 1988; M. Detienne, Comparer l’imcomparable, Paris 2000; J. Hartmann, Vergleichende Politikwissenschaft, Frankfurt 1995; H.-G.  Haupt u. J.  Kocka (Hg.), Geschichte im Vergleich. Frankfurt 1996; H.-G. Haupt, Comparative History, in: International Encyclopedia of the social and behavioral sciences, Amsterdam 2001; S. Immerfall, Einführung in den europäischen Gesellschaftsvergleich, Passau 1994; H. ­Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main 1999; ders., Comparative European Social History, in: P. Stearns (Hg.), Encyclopedia of European Social History, New York 2001, S. 113–121; H. ­Kaelble, Der historische Vergleich, in: S. Jordan (Hg.), Geschichtslexikon, Stuttgart 2002; J. Kocka, Assymetric historical comparison: the case of the German Sonderweg, in: History and theory 38 (1999); C. Lorenz, Comparative historiography: problems and perspectives, in: History and theory 38 (1999), S.25–39; ders., Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Köln 1997; J. Matthes, The Operation Called ›Vergleichen‹, Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Soziale Welt, Sonderband 8, hg. v. dems., Göttingen 1992; D. Rothermund, Methoden und Themen des historischen Vergleichs, Hagen 2001; E. K.  Scheuch, Theoretical implications of comparative survey research: why the wheel of cross-cultural methodology keeps on being reinvented, in: International Sociology  4 (1989), S. 147–167; J.  Schriewer, Vergleich und Erklärung zwischen Kausalität und Komplexität, in: H. ­Kaelble u. J. Schriewer, Diskurse und Entwicklungspfade. Gesellschaftsvergleiche in Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt / Main 1999; F. H. Tenbruck, Was war der Kulturvergleich, ehe es den Kulturvergleich gab?, in: J. Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen 1992; L.  Valensi, Retour d’Orient. De quelques usages du comparatism, in: H. Atsma u. A. Burguière (Hg.), Marc Bloch aujourd’hui. Histoire comparée et sciences sociales, Paris 1990; T. Welskopp, Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschafts­ geschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte  25 (1995); spätere Literatur vgl. Abschnitt 3.2. und 3.3.

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Der Vergleich eignet sich gleichzeitig aber auch zum besseren Verständnis anderer Kulturen, weil er über präzise Ähnlichkeiten und präzise Unterschiede handfeste Hinweise darauf gibt, wo eine andere Gesellschaft leicht zugänglich, wo sie schwer verständlich ist und viel Eindenken erfordert. Der Vergleich ist auch ein guter Weg zur Diskussion von Identitäten, für die oft wilde Behauptungen von historischen Einzigartigkeiten konstruiert werden und zu denen der Historiker über den Vergleich die nötige Distanz herstellen kann. Der Vergleich ist sicher auch mehr als nur die Methode einer Handvoll von Historikerexperten. Auch die Zeitgenossen, die von Historikern untersucht werden, haben häufig verglichen. Der vergleichende Blick des Historikers nimmt daher oft den vergleichenden Blick der Zeitgenossen auf, kommt zwar zu anderen Ergebnissen, aber drängt der Geschichte nicht einen Blick auf, der ihr völlig fremd war. Diese Position des klassischen Vergleichs der Gegenüberstellung von Vergleichsfällen wird in diesem Band von einer ganzen Reihe von Autoren vertreten oder vorgestellt. Will Arts und Loek Halman konzentrieren sich in ihrem Überblick über die vergleichende Soziologie ganz auf den Vergleich in diesem Sinn. Ebenso erwähnt Lars Mjöset in seinem ausführlichen Artikel über die vergleichende historische Soziologie Vergleiche nur im Sinne des engeren klassischen Vergleichs. Auch Dirk Berg-Schlosser nimmt diese Position in seinem Bericht über die vergleichende Politikwissenschaft ein, räumt dabei allerdings ein, dass durch Diffusion und Interdependenz – damit meint er Transfers – die für den Vergleich notwendige Unabhängigkeit der Vergleichfälle bedroht sein kann. Lutz H. Eckensberger und Ingrid Plath stellen für die vergleichenden Psychologie ebenfalls fest, dass diese meist Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen kulturellen und ethnischen Gruppen untersucht und nur selten empirisch den Transfer von psychologischen Merkmalen und die wechselseitige Beeinflussung von kulturellen Gruppen verfolgt, auch wenn sie sich des »Galtonsche Problems« der unsicheren Unabhängigkeit von Vergleichseinheiten durchaus bewusst ist. Auch Claude Diebolt erwähnt in seinem Bericht über die vergleichenden Wirtschaftswissenschaften ausschließlich den klassischen engeren Vergleich zwischen nationalen Wirtschaften, gelegentlich zwischen dem Norden und Süden oder dem Osten und Westen. Die zweite, entgegengesetzte Position: Die Untersuchung des Transfers ist dem klassischen Vergleich von Unterschieden und Parallelen vorzuziehen. Sie hat – so wird argumentiert – eine ganze Reihe von Vorzügen dort, wo der Vergleich Schwächen hat. Die Transferuntersuchung ist erstens eine grundsätzlich andere Methode als der Vergleich. Sie ist nicht auf vorhergehende Konstruktionen von nationalen oder anderen Einheiten angewiesen wie der Vergleich. Sie muss daher nicht wie der Vergleich mit konstruierten Kategorien arbeiten, in die Werte und Präferenzen der Kultur des jeweiligen Historikers eingehen und den Blick verstellen, sondern schließt unmittelbar an die Erfahrungen der untersuchten Personen in ihrer Transfersituation an. Die Nation, die Vergleichseinheit der meisten komparativen Untersuchungen, wird als eine Untersuchungseinheit durch Transferstudien eher problematisiert, weil sie zeigen, dass eine Nation 275

oft erst durch Transfers aus anderen Nationen entsteht. Die Transferstudie erschließt auch stärker als der Vergleich die Grauzonen zwischen Nationen oder Zivilisationen, die individuellen Strategien gegenüber den Zwängen zweier Identitäten, der eigenen und der fremden, die Doppeldeutigkeiten von Identitäten. Sie erfasst vor allem auch die Vermischungen von Kulturen, die in internationalen Unternehmen, internationalen Organisationen und Behörden, internationalen Familien, Grenzzonen oder Zwischenstaaten entstehen und ihre eigene Logik besitzen. Der klassische Vergleich – so das Argument – ist für diese hybriden Kulturen weitgehend blind. Er setzt die Nation meist unreflektiert voraus, nimmt sie als gegeben an und verfestigt sie. Ein weiterer Vorzug der Transferuntersuchung: Sie stellt bestimmte historische Dimensionen wie die Erfahrung, die Normen, die Werte, die Erfindung oder Veränderung von Identitäten, die in der jüngeren Kulturgeschichte privilegiert wurden, viel stärker in das Zentrum der Analyse als der klassische Vergleich. Die Erfahrung anderer, fremder Gesellschaften, die abrupte oder subtile Änderung von Normen und Werten und die Umdeutung von Identitäten in der neuen Situationen einer Begegnung mit einer anderen Kultur steht im Kern dieses Zugangs des Transfers. Der Vergleich erschließt sie oft nicht. Darüber hinaus untersucht der Transfer, so weiter das Argument, stärker als der Vergleich historische Veränderungen. Der Transfer ist seiner Natur nach immer eine Veränderung in der Zeit, er untersucht Anpassungen und Anver­ wandlungen von Werten, Normen, Bildern, Sprachen, Denkweisen bei der Wanderung einer Ausgangsgesellschaft in eine Ankunftsgesellschaft. Die Zeit ist unablösbarer Teil des Transfers. Die Transferuntersuchung ist ihrer Natur nach diachronisch. Viele Vergleiche untersuchen dagegen Parallelitäten und Unterschiede zum gleichen Zeitpunkt. Sie sind oft nur synchronisch. Ihnen fehlt – so wird zugespitzt formuliert – ein wesentliches Element der Geschichte, die Zeit. Schließlich erschließt – immer noch weiter das Argument – der Transfer auch eine zentrale Erklärung für Ähnlichkeiten und Unterschiede. Alle Ähnlichkeiten zwischen Kulturen, die der klassische Vergleich analysiert, auch zwischen geographisch weit auseinander liegenden Kulturen, kamen – so wird angenommen  – in der Moderne durch Transfers zustande. Transfers entstanden nicht nur zwischen benachbarten, sondern auch zwischen weit auseinanderliegenden Ländern oder Zivilisationen. Umgekehrt erklären sich auch viele Unterschiede entweder durch Veränderungen von Normen und Werten in Transfers oder als Gegenreaktion gegen Transfers. Zumindest sollte immer diese Erklärung von Parallelen und Unterschieden in Betracht gezogen werden. Dem klassischen Vergleich wird vorgeworfen, dass er für diese Erklärung von Ähnlichkeiten und Unterschieden keinen Sensus hat und daher auch nicht dazu motiviert, intensive Transferuntersuchungen anzustellen. Allerdings wird aus diesem Verständnis heraus der Vergleich – wie Osterhammel und Espagne in ihren Beiträgen betonen – nicht völlig abgelehnt. Es wird nur ein Mangel an Sensibilität für die »Gefahrenzonen« (Michel Espagne) des klassischen engeren Vergleichs konstatiert, für die Transferuntersuchungen den Blick stärker öffnen. 276

Diese Position nehmen unter den Beiträgen besonders durchdacht und gleichzeitig mit Untersuchungsbeispielen illustriert Jürgen Osterhammel und Michel Espagne ein. Jürgen Osterhammel stellt die Untersuchung der Transfers zwischen Zivilisationen dem Zivilisationsvergleich gegenüber. Er sieht im Zivilisationsvergleich erhebliche Gefahren: Die Grenzen solcher Zivilisationen werden dabei von Historikern willkürlich konstruiert, nicht wirklich untersucht. Zivilisationskonstruktionen wie etwa »Südostasien« oder das »subsaharische Afrika« seien in keiner Weise sozialhistorisch verwendbaren Analyseeinheiten. Auch das Selbstverständnis und die Selbstdefinition solcher Zivilisationen sei zu schwach und diffus, als dass sie sich durch den Historiker auf diese Weise festlegen lassen. In der Transferuntersuchung sieht Osterhammel dagegen die Möglichkeit, die wechselseitige Beeinflussung zwischen Zivilisationen bis hin zu neuen, hybriden Gesellschaften zu erschließen. Osterhammel plädiert durchaus für eine Verbindung von Vergleich und Transfer. Der Vergleich bedarf in seinen Augen in ganz entscheidender Weise des Transfers und die Zukunftschancen des Vergleichs liegen vor allem in der Erweiterung durch die Transferunter­suchung. Die Transferuntersuchung dagegen braucht den Vergleich nur am Rande, nur um überhaupt Differenzen der Kulturen wahrzunehmen, zwischen denen Transfers ablaufen. Sie unterscheidet sich methodisch vom Vergleich. Sie ist ganz auf den Kontext der absendenden und empfangenden Kultur ausgerichtet, während der Vergleich in den Augen Osterhammels dekontextualisert. Es führt von der Transferuntersuchung »kein direkter Weg zum Vergleich.«4 Auch Michel Espagne will keineswegs auf den Vergleich verzichten. In seinem Beitrag geht es ihm jedoch um die Grenzen des Vergleichs. Er sieht vier Schwächen des Vergleichs: Der Vergleich reflektiert zu wenig seine Methoden. Er drückt den verglichenen Gesellschaften zu sehr eine Hierarchie von Modernität und Zurückgebliebenheit auf. Er relativiert zu sehr die Einmaligkeit historischer Gegenstände durch abstrakte Vergleichsbegriffe. Er lässt sich unbewusst zu sehr von Begrifflichkeiten lenken, die einseitig auf die eigene Nation oder die eigene westliche Kultur bezogen sind, und projeziert diese auf die verglichene Gesellschaft. Der Transfer dagegen hat vor allem den Vorzug, dass er der Gefahr entgeht, künstliche Unterschiede zwischen den verglichenen Gesellschaften zu konstruieren und die Vermischung zwischen Kulturen zu übersehen und zu verdrängen.5 Die dritte, vermittelnde Position möchte dagegen den klassischen Vergleich und die Transferuntersuchung nicht trennen, sondern kombinieren. In diesem Verständnis analysiert und typisiert der Vergleich sowohl Ähnlichkeiten und 4 Vgl. auch: J. Osterhammel, Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zur Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2000. 5 Vgl. dazu auch: S. Conrad, What time is Japan? Problems of comparative (intercultural) historiography, in History and theory 38 (1999); M. Middell, Kulturtransfer und historische Komparatistik. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: ders. (Hg.), Kulturtransfer und Vergleich, Leipzig 2000. Spätere Literatur vgl. Abschnitt 3.2. und 3.3.

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Unterschiede als auch Transfers und Abschließungen zwischen mehreren Untersuchungsfällen. In einer besonderen Weise hat einer der Auslöser dieser Debatte, Michael Werner, diese Position zusammen mit Bénédicte Zimmermann in seinem Konzept der »histoire croisée« entwickelt.6 Aus dieser Sicht gibt es keine grundlegenden Unterschiede zwischen dem Vergleich und den Transferuntersuchungen. Die Konstruktion von Vergleichseinheiten, also von Zivilisationen, von Nationen, von Regionen oder Orten stellt sich bei dem klassischen Vergleich und bei den Transferuntersuchungen im Wesentlichen in gleicher Weise als Problem. Nicht nur der Vergleich stellt die Vergleichsfälle einander gegenüber und neigt dabei zu vereinfachenden Konstruktionen. Auch die Transferuntersuchung muss vorweg klarstellen und möglichst auch untersuchen, was die Werte, Normen, Identitäten in der Gesellschaft waren, in der der Transfer seinen Ausgang nahm, und wie sie in der Ankunftsgesellschaft aussahen, in die der Transfer führte. Bei Transferuntersuchungen wie beim Vergleich entsteht daher die gleiche Gefahr von konstruierten Vergleichseinheiten. Der Kontext wird nicht nur in den historischen Transferuntersuchungen einbezogen, sondern gehört auch unverzichtbar zum historischen Vergleich. Die Einbeziehung oder Ausblendung des Kontextes unterscheidet nicht Vergleich und Transferuntersuchung, sondern die historische und individualisierende Methode und die am naturwissenschaftlichen Experiment orientierte Richtung sozialwissenschaftlicher Vergleiche. Der qualitätvolle historische Vergleich wird darüber hinaus auch geradezu darauf gestoßen, die Erfahrungen und Vergleichskonstrukte der Zeitgenossen vom Anderen in die Untersuchung mit­ einzubeziehen. In diesem Sinne haben in jüngerer Zeit zahlreiche vergleichende Forschungen zur Geschichte des Bildungssystems, des Wohlfahrtsstaats, des Sports, der militärischen Rituale – um nur einige Themen zu nennen – auch die zeitgenössischen Vorstellungen von entsprechenden Einrichtungen anderer Länder als Quellenmaterial intensiv genutzt. Auch der Unterschied zwischen der diachronen Transferuntersuchung und dem synchronen Vergleich ist keine Grundsatzfrage, sondern spiegelt eher eine Situation der Forschung wider. Es ist zwar richtig, dass historische Vergleiche häufig nur Zustände in gleichen Zeiträumen einander gegenüberstellen und in diesem Sinn synchron sind. Es ist aber ebenso richtig, dass Vergleiche häufig auch Divergenzen, nicht nur Unterschiede, und Konvergenzen, nicht nur Parallelitäten untersuchen. Standardfragen des Vergleichs wie die zahllosen Untersuchungen zu Modernisierungsrückständen, die Abkehr Deutschlands vom westeuropäischen Muster, die Abmilderung der Unterschiede zwischen den europäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg sind solche diachronische Fragen. Nicht nur Transferuntersuchungen, auch Vergleiche können daher diachronisch sein und waren es auch häufig. 6 M. Werner u. B. Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung: Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636.

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Darüber hinaus brauchen die beiden Ansätze einander. Die Transferuntersuchung kommt ohne den Vergleich nicht aus. Die Unterschiede zwischen Ausgangsgesellschaft und Ankunftsgesellschaft, zwischen denen Transfers stattfinden, lassen sich nur durch den Vergleich erschließen. Um den Transfer wirklich zu verstehen, muss man wissen, wie tief die Unterschiede zwischen Ausgangs- und Ankunftsgesellschaften waren und wie viel an Unterschieden und Fremdheit der Transfer zu überbrücken hatte, wie weit der Transfer wirklich eine große oder nur eine minimale Veränderung bedeutete. Das kann man nur durch den Vergleich herausfinden. Durch den Vergleich kann die Transferuntersuchung auch deutlicher erkennen, wie die Zeitgenossen, die Transferleistungen hervorbrachten, ihre Ausgangsgesellschaft und ihre Ankunftsgesellschaft interpretierten, ob sie sie idealisierten oder selektiv wahrnahmen. Umgekehrt kann auch der Vergleich von der Transferuntersuchung nur gewinnen, und zwar aus mehreren, meist schon genannten Gründen. Unterschiede oder Ähnlichkeiten zwischen den Fällen eines Vergleichs hängen oft mit Transfers zusammen. Aus Transferuntersuchungen ergeben sich deshalb oft wichtige Erklärung für die Ergebnisse eines Vergleichs. Darüber hinaus stellen Zeitgenossen, die selbst einen Transfer erfahren haben, oft ausgezeichnete oder zumindest anregende eigene vergleichende Beobachtungen an. Auswandererbriefe oder Reiseberichte sind eine sehr anregende Quelle für Vergleiche zwischen zwei Gesellschaften. Schließlich lassen sich aus Transferuntersuchungen auch die Unschärfen und fließenden Übergänge zwischen den Gesellschaften erkennen, die in einem Vergleich einander gegenübergestellt werden und vielleicht in der Gegenüberstellung zu sehr konstruiert wurden. Diese Position einer Verbindung von Vergleich und Transfer nehmen unter den Beiträgen ebenfalls mehrere Autoren ein. Die Historikerin Christiane Eisenberg plädiert für eine Verbindung von Transferanalyse und Komparatistik, trennt sie, setzt sie aber nicht in Gegensatz zueinander. Sie argumentiert vor allem, dass die Forschung über den Kulturtransfer ohne Vergleich nicht auskommt, da sie zuerst die Unterschiede der Kulturen, zwischen denen Transfers stattfinden, also die Differenz zwischen »eigener« und fremder Kultur untersuchen muss, bevor sie Transferprozesse verfolgen kann. Der Vergleich im engeren Sinn ist in ihren Augen das Bindemittel und das Kontrollinstrument der Transferforschung. Für den Historiker Hannes Siegrist hat der historische Vergleich den Zweck, der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Kulturen in Raum und Zeit zu verstehen und zu erklären. Der Vergleich ist aber in seinen Augen darauf angewiesen, dabei auch das Ausmaß der Austausch-, Rezeptions- und Einflussbeziehungen zwischen den verglichenen Kulturen zu untersuchen, die von der Abgeschlossenheit bis zur hybriden Vermischung gehen können. Darüber hinaus stellt er an den vergleichenden Historiker auch die Forderung nach »Interkulturalität,« die nicht von rein nationalen Begrifflichkeiten ausgeht und sie auf den Anderen anwendet, sondern den Vergleich und die Transferanalyse in voller Kenntnis des Anderen zieht und gemeinsame, »interhistorische« Geschichtsbilder herzustellen anstrebt. Der Transfer ist daher für Siegrist nicht nur 279

ein Störfaktor des historischen Vergleichs, ein »Galtonsches Problem,« sondern Grundlage der Reflektion über den Vergleich. Die Erziehungswissenschaftlerin Gita Steiner-Khamsi sieht ihre Untersuchung von Transfers in der Bildung als einen Vergleich an. Die Untersuchung der verschiedenen Schritte des Transfers von der Orientierung auf ein ausländisches Modell (sie nennt es Externalisierung) über die Übernahme der ausländischen Konzepte (sie nennt es Rekontextualisierung) bis zur völligen Vereinnahmung und Einordnung als eine inländische Institution (sie nennt es Internalisierung) setzt ihrer Ansicht nach den Vergleich und die Feststellung von Unterschieden voraus, da der Prozess der Umwandlung des importierten Konzepts sonst gar nicht beschrieben werden könnte. Der Romanist Peter Brockmeier trennt in seinem Bericht über die vergleichenden Literaturwissenschaften sogar überhaupt nicht zwischen Vergleich und Transfer. In der Intertextualität, dem Vergleich zwischen einzelnen Autoren, der in der vergleichenden Literaturwissenschaft immer wichtig gewesen ist, vermischt sich untrennbar der Blick für Nachahmung, also für Transfers, und der Blick für Unterschiede. Nur der Vergleich zwischen Nationalliteraturen, dem Brockmeier skeptisch gegenübersteht, ist eine reine Kontrastierung der Vergleichsfälle und damit ausschließlich ein Vergleich im engeren Sinn. Auch der Zivilrechtler Filippo Ranieri geht nicht auf diese Unterscheidung ein. Der Grund dürfte darin liegen, dass sich der juristische Vergleich besonders stark mit dem Transfer verbindet: Transfers zwischen nationalen Rechtssystemen sind häufig. Vor allem aber ist es die Absicht des Rechtsvergleichs, Lösungen aus anderen nationalen Kontexten aufzuspüren und sie in das eigene Rechtssystem zu integrieren, also Transfers auszulösen.7

II. Generalisierender oder individualisierender Vergleich? Eine zweite Debatte, die in letzter Zeit nicht mehr so lebhaft geführt wurde, aber jederzeit wieder aufleben kann: Seit den Anfängen des wissenschaftlichen Vergleichs im 18. Jahrhundert standen und stehen sich zwei grundsätzliche Vergleichsperspektiven gegenüber: auf der einen Seite der eher individualisierende Vergleich, der die Besonderheit eines Falls, seine eigene innere Logik, seine besonderen Kontexte und Voraussetzungen, seine Individualität herausarbeitet, gleichgültig ob es sich um eine Zivilisation, eine Nation, eine Gemeinde, eine Familie oder eine Person handelte; auf der anderen Seite der generalisierende Vergleich, der nicht Besonderheiten, sondern allgemeine Entwicklungen verfolgen will, manchmal nur für zwei oder drei Personen, manchmal für viele Länder, manchmal für die ganze Welt. In bestimmten Phasen der Geschichte der Sozial7 Vgl. auch J.  Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18.bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998).

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wissenschaften stand dahinter der Ehrgeiz, Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens ähnlich der naturwissenschaftlichen Gesetze zu ergrün­ den. Aber das war eine extreme Erwartung eines in der Regel weniger ehrgeizigen Vergleichs, der das Allgemeine verfolgt und deshalb oft als der generalisierende Vergleich bezeichnet wird. Jedes Fach hat andere symbolische Namen von Wissenschaftlern, mit denen dieser Gegensatz ausgedrückt wird: für die Soziologie ist es der Gegensatz zwischen Max Weber und Emil Durkheim, für die Ethnologie der Gegensatz zwischen Bronislaw Malinowski und Claude Lévi-Strauss; für die Historiker der Gegensatz zwischen Ranke oder Bloch oder Braudel oder Weber auf der einen Seite und Toynbee oder Lamprecht oder Marx auf der anderen Seite. Es gibt kaum gemeinsame transdisziplinäre und internationale symbolische Namen für diese beiden Blickrichtungen, aber in der Regel ist das Gleiche gemeint. Die Methodiker, die in den vergangenen drei oder vier Jahrzehnten über den Vergleich nachdachten und schrieben, haben versucht, von der simplen Gegenüberstellung des individualisierenden und generalisierenden Vergleichs wegzukommen. Sie argumentierten, dass es wichtige Mischformen zwischen generalisierendem und individualisierendem Vergleich gibt und diese Mischformen viel häufiger praktiziert werden als der reine generalisierende oder der reine individualisierende Vergleich. Die bekannteste Kategorisierung stammen von Charles Tilly, der vier Arten von Vergleichen unterscheidet: den reinen individualisierenden Vergleich, bei dem es vor allem auf die individuellen Besonderheiten weniger Fälle ankommt; den einschließenden Vergleich, bei dem einige individuelle Fälle in Bezug auf eine größere Einheit verglichen werden, zu der sie alle gehören und die sichert, dass sie alle etwas Gemeinsames, aber nicht unbedingt Universales, besitzen, also etwa ein Vergleich der Mitgliedsländer der Europäischen Union; weiter den Variationen suchenden Vergleich, der einen allgemeinen Prozess in seinen vielfältigen unterschiedlichen Ausprägung verfolgt, also etwa die weltweite Industrialisierung in ihren verschiedenen Entwicklungsformen in Großbritannien, der UdSSR und Brasilien; und schließlich den generalisierenden oder – wie Tilly sagt – universalisierenden Vergleich, der allgemeine Regeln menschlichen Handelns oder weltweite Kommunikation, Organisationen und Bewegungen untersucht.8 Ob man in solchen oder ähnlichen Formen des Vergleichs eher die individualisierende oder die generalisierende Blickrichtung vorziehen soll, ist eine Frage, die unter Komparatisten umstritten ist und auch die Autoren dieses Bandes trennt. Heute geht der Trend im allgemeinen eher in die Richtung des individualisierenden Vergleichs, nicht nur in der Mikrogeschichte, sondern auch in der Weltgeschichte, in der Konzepte wie das der multiplen Modernität starken Anklang finden.9 Aber es gibt auch 8 Vgl. C.  Tilly, Big structures, large processes, huge comparisons, New York 1984, insbes. S. 82 ff., 145 ff. 9 Vgl. etwa S. N. Eisenstadt, Multiple modernities, in: Daedalus 129, (2000), 1, S. 1–29; D. Sachsenmaier u. a. (Hg.), Reflections on multiple modernities: European, Chinese and other interpretations, Leiden 2002.

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unverkennbare Gegentendenzen, die sich dem universalisierenden Vergleich zuwenden, häufig im Konzept der »global history« und der »Weltgesellschaft.«10 Die amerikanische Debatte zwischen Weltsystemtheoretikern und ihren Opponenten hat viel mit dem Gegensatz zwischen diesen beiden Trends zu tun.11 Dieser Unterschied ist auch in den Beiträgen dieses Bands deutlich spürbar, aber wieder gibt es keine gemeinsame Sprache. Die Soziologen Will Arts und Loek Halman sehen einen wichtigen Gegensatz, der mitten durch die vergleichende Soziologie hindurch geht, in dem Kontrast zwischen dem – wie sie es nennen  – »variablenorientierten,« eher generalisierenden Ansatz und dem »fallorientierten,« eher individualisierenden Ansatz. Den gleichen Gegensatz behandelt der Soziologe Lars Mjöset in seinem Aufsatz über die vergleichende historische Soziologie. Er sieht einen Grundgegensatz in den Sozialwissenschaften zwischen dem »kognitiven Optimismus,« der unreflektiert generalisierende Gesetzmäßigkeiten nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in den Sozialwissenschaften annimmt und das Hauptziel der Forschung in der Erarbeitung solcher Gesetzmäßigkeiten sieht, und dem »kognitiven Pessimismus,« der stärker die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit und des Wandels von sozialwissenschaftlichen Fragestellungen sieht, und schon kürzere historische Prozesse und eine begrenzte Zahl von Gesellschaften für untersuchungswert hält, ohne gleich an Gesetzmäßigkeit zu denken. In der aktuellen Situation sieht er als eine Hauptströmung des generalisierenden kognitiven Optimismus den Multiple-Choice-Ansatz an. Er stellt ihm verschiedene aktuelle Richtungen des kognitiven Pessimismus gegenüber, die er als »Sozialtheorie,« »Poststrukturalismus« und »Interaktionisten« bezeichnet. Sie alle beanspruchen nicht, ein umfassendes generelles Wissen des menschlichen Handelns erarbeiten zu können, sondern begnügen sich mit der Untersuchung von einer begrenzten Zahl von Gesellschaften und von historischen Prozessen in begrenzten Zeiträumen. Alle drei Ansätze stehen der Geschichte nahe, arbeiten über die Geschichte und mit individualisierender Geschichtswissenschaft zusammen, sind alle Varianten einer historischen Soziologie. Unter diesen drei Richtungen sind übrigens in den Augen Mjösets die Interaktionisten am vielversprechendsten. Wiederum ganz ähnlich unterscheidet auch der Politikwissenschaftler Dirk Berg-Schlosser zwischen zwei Ansätzen in den Politikwissenschaften, dem »statistischen,« eher generalisierenden Vergleich möglichst vieler Gesellschaft über wenige Variablen und der vergleichenden Methode im eigentlichen Sinn von wenigen Fällen in ihrer ganzen Komplexität. Berg-Schlosser steht eher auf der Seite des letzteren, 10 Vgl. etwa: B.  Mazlish, An introduction to global history, in: ders. u. R.  Buultjens (Hg.), Conceptualizing global History, Boulder 1993, S. 1–24; R. Stichweh, Zur Genese der Weltgesellschaft. Innovationen und Mechanismen, in: ders., Theorie der Weltgesellschaft, Frankfurt / Main 2000, S.  245–264; J. W. Meyer u. a., World society and the nation-state, in American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144–181. 11 P. Pomper u. a. (Hg.), World History, Ideologies, structures and identities, Oxford 1998; ders. u. a. (Hg.), World Historians and their Critics, in: History and Theory 5 (1995).

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individualisierenden Vergleichs. Die Psychologen Lutz H.Eckensberger und Ingrid Plath unterscheiden in ihrem Bericht über die vergleichende Psychologie ebenfalls zwischen psychologischen »Generalisierungstudien«, die die transkulturelle Stabilität von universellen Prozessen verfolgen und dabei auf den kulturellen Kontext kaum achten, und psychologischen »Differenzierungsstudien,« die den Einfluss individueller Kulturen auf bestimmte psychologische Merkmale untersuchen. Eckensberger und Plath plädieren für den kulturvergleichenden Ansatz in der Psychologie, der nicht nur kulturelle Unterschiede in den Erfahrungen der Menschen, sondern auch die kulturelle Gebundenheit von psychologischen Theorien und Methoden berücksichtigt und dafür sensibilisiert. Die Erziehungswissenschaftlerin Gita Steiner-Khamsi unterscheidet in der vergleichenden Erziehungswissenschaften ebenfalls zwischen einem generalisierenden und individualisierenden Ansatz, auch wenn auch sie diese Begriffe nicht verwendet: Auf der einen Seite sieht sie normativ ausgerichtete Globalisierungsmodelle, die davon ausgehen, dass sich durch wachsende Diffusionen die verschiedenen Erziehungssystem immer mehr angleichen und sich letztlich ein einziges generelles Erziehungssystem durchsetzen wird. Auf der anderen Seite sieht sie einen erziehungswissenschaftlichen Vergleich, in dem die Übernahme ausländischer Konzepte aus einer jeweiligen kritischen politischen Lage einer Bildungsreform heraus verstanden wird und nur die genaue lokale Analyse von Übernahmen ausländischer Konzepte nicht nur die Angleichungen, sondern ebenso stark auch das lokale Resistente herausarbeiten kann. Diesen zweiten, eher individualisierenden Vergleich wendet sie selbst an. In diesen vier Fächern, in der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Psychologie und den Erziehungswissenschaften geht offensichtliche die Trennung zwischen generalisierender und individualisierender Methode mitten durch das jeweilige Fach hindurch. Der Romanist und vergleichende Literaturwissenschaftler Peter Brockmeier stellt seinen Beitrag über die Literaturwissenschaften zwar nicht in diese sozialwissenschaftliche Debatte, verwendet diese Begriffe auch nicht. Trotzdem leuchtet auch bei ihm diese gleiche Unterscheidung durch. Er kommt immer wieder auf zwei gegenläufige Vergleichsabsichten zu sprechen, auf die eher ältere Vergleichsabsicht, die auf allgemeine Qualität des Literarischen, auf das Auffinden und Anlernen eines literarischen Geschmacks durch Vergleichen, als auf einen eher generalisierenden Vergleich ausgerichtet ist, und auf der anderen Seite der Vergleich, der die Individualität eines einzelnen Autors oder auch die Eigenarten einer nationalen Literatur herausarbeitet. Besonders scharf erscheint der Gegensatz zwischen generalisierendem und individualisierendem Vergleich zwischen den Beiträgen zur Wirtschaftswissenschaft und zur Ethnologie. Ganz auf den generalisierenden Vergleich ausgerichtet ist der Bericht des Ökonomen Claude Diebolt über die vergleichenden Wirtschaftswissenschaften. Sie sind in seinem Verständnis primär an Theorien, an Modellbildung interessiert, nicht an der Erfassung der Realität. Sie sind die am stärksten generalisierende Disziplin in diesem Buch. Sie wollen, wie sich Diebolt ausdrückt, »mit größter Annäherung möglichst umfassende Erscheinungen 283

voraussehen und beherrschen.« Die individualisierende Methode interessiert sie dagegen wenig, da »die Komplexität der Phänomene […] jeden Wissenschaftsfortschritt« erschwert. Umgekehrt stellt der Ethnologe Wolfgang Kaschuba den ethnologischen Kulturvergleich völlig in Gegensatz zum generalisierenden Vergleich. Er sieht den generalisierenden Vergleich für die Ethnologie als eine Falle an, weil er die auf Herder zurückgehende Grundannahme der Ethnologie, dass jede Kultur, jede Ethnie eine Welt für sich sei, massiv bedroht. Er schildert zwar, dass die Ethnologie in ihrer früheren Geschichte durchaus generalisierende Vergleiche von bestimmten Riten betrieb, aber inzwischen von ihr völlig aufgegeben wurde. Es sagt viel aus, dass in einer ganzen Reihe von anderen Beiträgen dieser Gegensatz zwischen individualisierendem und generalisierendem Vergleich überhaupt nicht vorkommt, weil sich die Debatte über den Vergleich in den entsprechenden Fächern völlig im Bannkreise der individualisierenden Methode bewegt. Grundsätzlich anders sieht allerdings der Frühneuzeithistoriker Heinz Schilling den Unterschied zwischen diesen beiden Vergleichsansätzen. Er betrachtet in seinem Beitrag zum Vergleich in der alteuropäischen Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit diese beiden Zugänge nicht als Gegensatz. Er hält dem die Beobachtung entgegen, dass sich in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Forschungspraxis der individualisierende Vergleich, der die Besonderheit des lokalen Einzelfalls verfolgt, und der generalisierende Vergleich, der allgemeine Muster der alteuropäischen Gesellschaft behandelt, miteinander verbinden. Darüber hinaus plädiert Schilling auch nicht für einen »universalistischen« Vergleich im soeben beschriebenen Sinne Charles Tillys, sondern eher für den »einschließenden« Vergleich, der aus Einzelfälle auf generelle Tendenzen in einer größeren Einheit, in diesem Fall in Alteuropa, schließt. Schilling nimmt dabei keine isolierte Position ein. Eine ganze Reihe von anderen bedeutenden Frühneuzeithistorikern wie Fernand Braudel oder Jack Goody haben für diese Epoche sogar über Europa hinausweisende, generelle Vergleiche gezogen.12 Hannes Siegrist, Spezialist der Kultur- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, nimmt im Prinzip eine ähnliche Position ein. Für ihn hat der historische Vergleich zwei Ziele, die durchaus miteinander verbunden sind. Der Vergleich besitzt einerseits ein Interesse an der Generalisierung, am Allgemeinen, an der Universalität eines Phänomens, auch an der Entlokalisierung einer Entwicklung, und andererseits ein Interesse an der Individualisierung, an 12 F. Braudel, Geschichte der Zivilisation, München 1971 (französisch: Grammaire des civilisations, Paris 1987; J. Goldstone, Revolution and Rebellion in the Early Modern World, Berkeley, Los Angeles 1991; J. Goody, The Oriental, the Ancient and the Primitive: Systems of Marriage and the Family in the Pre-Industrial Societies of Eurasia, Cambridge 1990); B. S. Silberman, Cages of Reason: The Rise of the Rational State in France, Japan, The United States and Great Britain, Chicago 1993; K. D. Brown, Britain and Japan. A comparative economic and social history since 1900, Manchester 1998.

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historischen Unterschiede, am Besonderen, an der Einbettung eines Phänomens in lokale Sinngebungen und an der Bindung der Akteure an lokale Zusammenhänge. Er sieht daher den Vergleich als eine Seilakt zwischen der abstrahierenden, deduzierenden Methode und der konkreten, induktiven Methode. Eine ähnliche Verbindung von eher individualisierendem und generalisierendem Vergleich bietet der Bericht des Zivilrechtlers Filippo Ranieri über Rechtsvergleich. Der Rechtsvergleich hat für Ranieri einen doppelten Zweck. Er soll für den Juristen, »eine neue universelle Argumentationsebene,« einen größeren Vorrat an Lösungen neben dem gewohnten nationalen Rechtskodex, eine Option zur Übernahme von Rechtsregelungen aus anderen nationalen Kontexten eröffnen. Darüber hinaus soll der Rechtsvergleich auch allgemeine Grundsätze des Rechts erschließen und damit gemeinsame internationale Rechtsregelungen in Europa vorbereiten und der Rechtsprechung nahe zu bringen. Im Bericht Ranieris wird deutlich, wie stark der Vergleich in der Jurisprudenz anders als in jeder anderen Disziplin unmittelbare Auswirkungen auf Rechtsprechung und Gesetzgebung haben kann und deshalb auch viel stärker unter praktischen Erwägungen gezogen wird.

III. Welche Vergleichseinheiten? Die Debatte über Vergleichseinheiten wurde bisher nicht so explizit ausgetragen wie die Debatte über Vergleich und Transfers oder über individualisierenden und generalisierenden Vergleich, sondern spielt sich eher in der Praxis des Vergleichs und in den Begründungen für die Wahl von Vergleichseinheiten ab. Sie wird auch unter den Autoren dieses Bandes oft eher implizit geführt. Trotzdem soll auf die Argumente und Gegenargumente eingegangen werden, die in dieser Debatte normalerweise angeführt werden. Für den Nationalstaat als Vergleichseinheit werden in der Regel mehrere Argumente angeführt. Erstens wird die Forschungspraxis angeführt. Es wird argumentiert, dass in vielen Fällen das Material und die Untersuchungsobjekte der empirischen Forschung – Statistiken oder Diskurse oder Erfahrungsräume oder Organisationen – überwiegend nur auf der Ebene von Nationalstaaten zu finden ist und deshalb aus ganz praktischen Gründen Vergleiche zwischen ganzen Zivilisationen oder Vergleiche zwischen kleineren geographischen Einheiten als die Nation sehr viel schwieriger durchführbar sind. Es wird auch angeführt, dass sich die Forschungsliteratur häufig auf die Nation als Untersuchungseinheit bezieht und es viel schwerer ist, über ganze Zivilisationen, aber auch über Regionen und Orte genügend Literatur zu finden. Zweitens wird die Nation als eine relativ leicht abgrenzbare Einheit mit klar definierten Grenzen und einer klaren Selbstdefinition angesehen. Zivilisationen haben dagegen viel unklarere, weichere Grenzen und sind auch im Selbstver285

ständnis ihrer Bürger viel weniger scharf definiert. Das gleiche gilt für Regionen, vor allem dann, wenn man von Verwaltungsregionen mit ihren oft zufälligen Grenzziehungen absehen und Wirtschafts- oder Kulturregionen untersuchen will. Der Vergleich und die Transferuntersuchungen braucht in der Regel Untersuchungseinheiten mit einigermaßen klaren Grenzziehungen. Sicher enden auch historische Vergleiche von Nationalstaaten, deren Grenzen sich häufiger verändern, in weichen Vergleichseinheiten. Aber der Nationalstaat ist doch immer noch die relativ am besten handhabbare Vergleichseinheit. Schließlich wird als wohl stärkstes Argument für den Nationalstaat als bevorzugte Vergleichseinheit vorgetragen, dass nur er ein Akteur im vollsten Sinn des Wortes ist, als Regierung, Gesetzgeber und Verwaltung, als Bezugspunkt von kultureller und politischer Identifizierung, als Diskurs- und Erfahrungsraum, als soziales Netzwerk der Bürger und schließlich auch im wirtschaftlichen Sinn als primärer Markthorizont der meisten Unternehmen und als wirtschaftliche Einheit mit eigenen Regeln und Politiken. Zivilisationen sind ebenso wie Regionen oder Orte weniger Akteure in diesem vollen Sinn und lassen sich deshalb immer nur mit Vorbehalten als Einheiten ansehen, die man vergleichen kann. In diesem Band (auf den sich das Kapitel wie anfangs gesagt bezieht) benutzen deshalb eine ganze Reihe von Autoren die Nation als die übliche, selbstverständliche Vergleichseinheit. Sie äußern gewisse Zweifel an dieser Vergleichseinheit, weil viele Nationen durch verstärkte Transfers und wechselseitige Abhängigkeiten ein Stück ihrer profilierten Besonderheiten verlieren, aber nicht weil die Nationen durch andere, größere oder kleinere Vergleichseinheit, also durch den Vergleich von Zivilisationen oder Regionen ersetzt werden müssten. Die Soziologen Will Arts und Loek Halman, der Politikwissenschaftler Dirk Berg-­Schlosser, der Nationalökonom Claude Diebolt, auch die Historikerin Christiane Eisenberg und der Jurist Filippo Ranieri gehen in diesem Sinn von der Nation als üblicher, häufigster Vergleichseinheit aus. Sie haben ihre guten Gründe dafür. Unter Komparatisten ist aber immer auch gegen eine vorbehaltlose Verwendung des Nationalstaats als Vergleichseinheit argumentiert worden. Vor einer zu raschen Festlegung auf den Nationalstaat als Vergleichseinheit warnen erstens immer wieder Sozial- und Kulturwissenschaftler, die einen internationalen kultur-, wirtschafts- oder sozialhistorischen Prozess untersuchen wollen und Zweifel haben, dass der Nationalstaat dafür die geeignete Vergleichseinheit ist. Historiker der Industrialisierung haben immer argumentiert, dass die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts in Europa ein inselartiger regionaler Prozess war, der nie das Territorium ganzer Nationalstaaten erfasste und selbst in einem kleinen Land wie Belgien nur einen Teil des Landes im Süden erfasste, den agrarischen Norden dagegen weitgehend unberührt ließ. Gleichzeitig war die Industrialisierung auch ein internationaler Prozess, der diese Industrialisierungsinseln in verschiedenen Ländern oft stärker miteinander verband als mit den Regionen derselben Nation. Religiositätsforscher argumentieren ganz ähnlich. Unterschiede der Religionsausübung halten sich überhaupt nicht an nationale Grenzen. Religiöse Regionen und areligiöse Regionen haben etwa in 286

Europa eine völlig andere Geographie als die nationalstaatlichen Grenzen und müssen deshalb auf regionaler Ebene untersucht werden. Man könnte viele andere Prozesse anführen wie die demographische Transition, der Wandel der Familie, die Urbanisierung, der Wertewandel, die Individualisierung. Der Nationalstaat ist also keineswegs für jedes Thema des internationalen Vergleichs die geeignete Vergleichseinheit. Zweitens wenden vor allem Transferforscher ein, dass gerade das nicht eindeutig Zuordenbare, die fließenden Grenzen, die Grau- und Übergangszonen zwischen politischen Einheiten durch den breiten Vergleich, der den Transfer einschließt, erschlossen werden müsste, das Französische an Deutschland, das Asiatische an den USA, oder der fließende Übergang Europas zu den vorderasiatischen Kulturen von »hinter Wien,« wie manchmal ironisch gesagt wird, bis Anatolien. Diesen Zugang verschließt man sich, wenn man den Nationalstaat als einzige Vergleichseinheit ansieht. Drittens argumentieren Historikern und Spezialisten außereuropäischer Kulturen, dass der Nationalstaat mit seiner besonderen Qualität als politischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Akteur räumlich und zeitlich nur begrenzt weit reicht. Selbst im 19. Jahrhundert, in der Epoche der Durchsetzung des Nationalstaates, waren beträchtliche Teile der europäischen Landkarte von ganz anderen Arten von Staaten und Herrschaften belegt, von Vielvölkerstaaten wie dem Habsburgermonarchie, dem Zarenreich und dem osmanischen Reich, die man nur schwer als Ganzes mit Nationalstaaten vergleichen kann. Man kann sich sogar fragen, ob die angeblich klassischen Nationalstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Portugal, die Niederlande, Belgien im 19. Jahrhundert durch ihre Kolonialreiche und durch die Ausweitung der Erfahrungshorizonte auf die imperialen Territorien ohne Weiteres als reine Nationalstaaten angesehen werden können. Darüber lassen sich auch viele heutige Staaten Afrikas oder Asiens nicht einfach als Nationalstaaten im europäischen oder amerikanischen Sinn ansehen. In einer Reihe von Disziplinen wird darüber hinaus gegen den Vergleich zwischen Nationen angeführt, dass regionale oder lokale Vergleiche leistungsfähiger sind. Sie erlauben es viel besser als nationale Vergleiche, die Lebenszusammenhänge über die Familien, die Schulen, die Arbeitsplätze, die sozialen Netzwerke und lokalen Organisationen, die alltäglichen Erfahrungshorizonte, die direkt von den Bürgern getragenen politischen Initiativen, die direkten Auswirkungen von staatlicher und kommunaler Intervention zu untersuchen und zu vergleichen. Nationale Vergleiche sind nicht selten zu abstrakt, reduzieren zu viel Vielfalt regionaler Unterschiede auf einen künstlichen Durchschnitt, blenden die alltäglichen Erfahrungshorizonte und Handlungsräume zu sehr aus. Schließlich wird auch argumentiert, dass internationale Einheiten für den Vergleich ebenso wichtig sein können wie der Nationalstaat, internationale Kirchen, die großen multinationalen Unternehmen, einflussreiche internationale Organisationen wie die Europäische Union, die Weltbank, die UNO, internationale zivilgesellschaftliche Organisationen. 287

Daneben spielen in jüngerer Zeit auch Zivilisationen oder Weltregionen eine zunehmend wichtige Rolle als Vergleichseinheit. Eine Renaissance alter Kategorien ist sie jedoch aus drei Gründen nicht. Mit solchen Zivilisationen werden nicht mehr dauerhafte, kaum veränderbare Mentalitäten verbunden, die nicht selten unter Begriffen wie Rasse subsumiert wurden, sondern Gesellschaften untersucht, deren Eigenarten sich rasch ändern und die sich vor allem auch massiv gegenseitig beeinflussen (vgl. Kap. 8). Mit der Einteilung der Welt in Zivilisationen wird auch nicht mehr an eine Hierarchie gedacht, in der Europa und der Westen an der Spitze stehen. Schließlich gehen die Kontroversen um diese Zivilisationen heute in ganz andere Richtung als in der Vor- und Zwischenkriegszeit. Die Hauptkontroverse unter den Sozialwissenschaftlern dreht sich heute darum, ob der Zivilisationsvergleich auf neuartige Weltkonflikte aufmerksam machen soll, wie es etwa Huntingtons vergleichende Zivilisationsanalyse vorexerziert hat, oder ob dieser Vergleich die multiple Modernität untersuchen soll, d. h. die verschiedenen Spielarten der Moderne auf dem heutigen Globus, wie es Eisenstadt vorschlägt.13 Zu diesem Zivilisationsvergleich gehört nicht nur die Transferuntersuchung (vgl. Kap. 8). Er ist auch nicht auf die Makroebene des Vergleichs ganzer Zivilisationen festgelegt, sondern kann auch als Vergleich von Regionen und Orten in verschiedenen Zivilisationen angelegt werden. In dem vorliegenden Band nehmen mehrere Beiträge eine solche skeptische oder ablehnende Haltung Position gegenüber dem Vergleich zwischen Nationen ein. Heinz Schilling argumentiert in seinem Beitrag zum Vergleich über Alteuropa, dass der Vergleich zwischen Nationalstaaten und nationalen Gesellschaften für Alteuropa keinen Sinn macht, weil Nationalstaaten damals noch nicht existierten, und daher der Vergleich zwischen Städten und Dörfern, zwischen Regionen, aber auch zwischen Konfessionskulturen und zwischen ganzen Zivilisationen üblich ist und sich bewährt hat. Er macht deutlich, dass für viele soziale und kulturelle Themen auch der Vergleich zwischen den damaligen Staaten, nicht selten Vorläufer der späteren Nationalstaaten, nicht möglich ist, weil keine überörtlichen Materialien existieren und der Vergleich von unten nach oben, von lokalen Vergleichsfällen ausgehen muss. Jürgen Osterhammels Beitrags steht ebenfalls für die transnationale Perspektive. Er erwähnt in seinem Beitrag zwar den zwischennationalen Vergleich als ein wichtiges Motiv für den historischen Vergleich, konzentriert sich aber in seinem Artikel ganz auf die Transfers zwischen Zivilisationen, besonders auf den Ferntransfer zwischen nicht benachbarten Zivilisationen, warnt dabei eindringlich vor zu konstruierten Vorstellungen von rigiden Grenzen beim Vergleich zwischen solchen Zivilisationen. Hannes Siegrist sieht die Beschäftigung mit Räumen als eine der Stärken der vergleichenden Geschichtswissenschaft an, die allerdings konzeptionell noch zu 13 S. P.  Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik, Wien 19975; S. N.  Eisenstadt, Multiple modernities, in: Daedalus  129 (2000), S. 1–29; ders., Vielfältige Modernen, in Zeitschrift für Weltgeschichte 2 (2001), S. 9–33.

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wenig ausgearbeitet ist. Für ihn ist es selbstverständlich, dass sich der Vergleich ganz unterschiedlicher Dimensionen des Raums, der lokalen, regionalen, nationalen Dimension wie der Dimension der Zivilisation und der ganzen Welt öffnet. Andere Beiträge in dem genannten Band sprechen sich für Vergleichseinheiten unterhalb der Nation aus. Michel Espagne wählt in seinem Beitrag die Region Sachsen, um die Nation als Untersuchungseinheit zu relativieren und um die teleologische Einordnung von Regionen in Nationen zu kritisieren. Er zeigt, dass die innovativen Transfers Sachsen keineswegs primär mit anderen Regionen Deutschlands, sondern oft mit Regionen außerhalb Deutschlands verbanden. Gita Steiner-Khamsi plädiert in ihrem Vergleich von Bildungstransfers ebenfalls dafür, von den Vergleichen ganzer und vieler Nationen, bei denen der Kontext nicht berücksichtigt werden kann, abzukommen. Sie argumentiert, dass nur die minutiöse Lokalanalyse von Debatten über ausländische Bildungskonzepte und über Bildungsentscheidungen erlaubt, internationale Angleichungsprozesse und lokale Resistenzen gegeneinander abzuwägen. Wolfgang Kaschuba diskutiert in seinem Bericht über die vergleichende Ethnologie die Nation nicht als eine Vergleichseinheit des Kulturvergleichs, weder im ablehnenden noch im emphatischen Sinn. Die Vergleichsfälle des ethnologischen Kulturvergleichs, also Kulturen, können sich, so kann man seinem Bericht entnehmen, manchmal mit Nationen überschneiden, sind aber meist eher kleinere, regionale oder lokale Einheiten oder Ethnien. Peter Brockmeier distanziert sich in seinem Überblick über den Vergleich in der Literaturwissenschaft ebenfalls deutlich vom Vergleich zwischen Nationen, und zwar auf zwei Weisen. Er historisiert ausführlich den Vergleich, sieht als einen frühen roten Faden den Vergleich zwischen Autoren, die Intertextualität, die zuerst eher die Nachahmung herausragender Autoren, dagegen ab dem 19. Jahrhundert im Geniekult eher die Absetzung von früheren Autoren verfolgt. Er sieht die Anfänge des überindividuellen Vergleichs im Vergleich zwischen den Literaturen Griechenlands und Roms. Erst spät, erst im 19. Jahrhundert setzte in seiner Darstellung der Vergleich von nationalen Literaturen ein, der die psychologischen Wesenszüge jeder Nation, den »Volksgeist« herauszuarbeiten versuchte und in dem »verhängnisvollen Spiegelverhältnis« zwischen französischer und deutscher Literaturwissenschaft einen negativen Höhepunkt fand. Dieser nationale Vergleich stand auch im 19. Jahrhundert in den Literaturwissenschaften weiterhin in einer Spannung zu dem Vergleich zwischen einzelnen Autoren, zur Intertextualität. Brockmeier historisiert nicht nur, er urteilt auch sehr deutlich, wenn er sagt, dass der Komparatist der Originalität des einzelnen Autors nie gerecht wird, sobald er sich allein auf den nationalsprachlichen Kontext einlässt.

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IV. Schlussbetrachtung In diesem Artikel wurden Beiträge aus fast zehn wichtigen, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen durchgegangen, die in ihrem Zugang zum Vergleich weit auseinanderliegen und zwischen denen insgesamt wenig gemeinsame Debatten über den Vergleich ablaufen. Dieser Beitrag stellt die unterschiedlichen Positionen der Autoren aus verschiedenen Disziplinen in drei besonders intensiv diskutierten Fragen des Vergleichs vor: in der Debatte über den Vergleich und den Transfer, in der Debatte über den individualisierenden und den generalisierenden Vergleich und in der Debatte über die Vergleichseinheiten, also über Nationen, Regionen, Orte, aber auch Zivilisationen. Es erweist sich, dass alle Autoren dieses Bandes und wohl auch alle in diesem Band vertretene Disziplinen an ähnlichen Fragen des Vergleichs sitzen und ähnlichen Grundproblemen gegenüberstehen, auch wenn daneben jede Disziplin ihre eigenen Zugänge zum Vergleich, auch ihre eigene Sprache besitzt und auf diese Grundprobleme verschiedene Antworten gibt. Eine explizite Debatte über Vergleich und Transfer führen zwar bisher nur Literaturwissenschaftler und Historiker, aber auch die anderen Disziplinen äußern sich dazu, oft ohne diese Debatte zu kennen. Die Frage des generalisierenden und individualisierenden Vergleichs spaltet in einer langen Debatte zwar nur einen Teil der hier betrachteten Disziplinen, vor allem die Soziologie, die Politikwissenschaften, die Psychologie, die Erziehungswissenschaften. Aber auch die anderen Disziplinen nehmen dazu entweder explizit wie die Wirtschaftswissenschaften und die Ethnologie oder eher implizit wie die ein Teil der Historiker Stellung. Die Frage der Vergleichseinheit, die Vielfalt von Ansätzen und Positionen zum Vergleich zwischen Orten, Regionen, Nationen oder Zivilisationen, wird von den meisten Disziplinen diskutiert, auch wenn die meisten Disziplinen nicht die Stellung der meisten anderen Disziplinen kennen. Schließlich enthalten die Beiträge auch gegensätzliche Stellungnahmen zur Verbindung von Vergleich und Transferuntersuchung, Unterstützungen ebenso wie Skepsis. Sie lassen keine gemeinsame Debatte darüber zwischen den fast zehn Disziplinen erkennen, aber doch viel Paralleles. Der Schluss drängt sich auf, dass es den meisten in diesem Band vertretenen Disziplinen guttun würde, mehr auf andere Disziplinen zu hören und von anderen Disziplinen eigene unhinterfragte Positionen kritisieren zu lassen. Damit soll nicht pauschal Interdisziplinarität propagiert werden, denn man sollte genau hinsehen und genau beschreiben, worin sie nützlich ist. Ein nützliches Ergebnis des Durchgangs durch die Beiträge liegt darin, dass die interdisziplinäre Debatte über den Vergleich in jeder beteiligten Disziplin zu einer stärkeren Auseinandersetzung von verdrängten oder nicht bewussten oder zu schnell aufgegebenen Fragen des Vergleichs führen kann, weil andere Disziplinen diese Fragen oft stellen. Soziologen und Politikwissenschaftler, auch Wirtschaftswissenschaftlern könnten die Historiker fragen, ob der generalisierende historische Vergleich 290

angesichts einer langen Geschichte der Globalisierung, die die Historiker selbst oft behandeln, wirklich so uninteressant ist. Historiker und Soziologen könnten die Ethnologen fragen, ob ihre Skepsis gegenüber dem Vergleich wirklich so schwer wiegt und die Fallen der vergleichenden Methode wirklich so gefährlich sind. Soziologen, Historiker und Erziehungswissenschaftler könnten die Wirtschaftswissenschaftler fragen, ob die Konstruktion von Modell wirklich so wichtig ist, dass der Vergleich zwischen wirtschaftlichen Institutionen, Diskursen und Einstellungen uninteressant wird. Die Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologen könnten die Literaturwissenschaften fragen, ob der internationale Vergleich auch heute unter ganz anderen Vorzeichen als in der Zeit des nationalistischen Missbrauchs immer noch so rigide abzulehnen ist. Eine solche interdisziplinäre Debatte kann einen vorschnellen Konsens innerhalb einzelner Disziplinen aufbrechen und die Augen für alternative Optionen öffnen.

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18. Historischer Vergleich Der historische Vergleich hat sich in den vergangenen vierzig Jahren stark verändert. Das gilt für seinen Stellenwert innerhalb der Geschichtswissenschaft ebenso wie für die Forschungspraxis, für die Vergleichsräume ebenso wie für Vergleichszeiträume, für die Themen von historischen Vergleichen ebenso wie für die Methoden und die Zugänge, für die Anstöße aus anderen Wissenschaftsdisziplinen ebenso wie für die wissenschaftstheoretische Verankerung. Der Artikel beginnt mit der Definition des historischen Vergleichs, behandelt seinen Wandel, skizziert danach die Debatten und Forschungen über den historischen Vergleich und fasst am Ende zusammen.

I. Was ist der historische Vergleich? Unter dem historischen Vergleich versteht man üblicherweise die systematische Gegenüberstellung von zwei oder mehreren historischen Einheiten (von Orten, Regionen, Nationen oder Zivilisationen, auch historische Persönlichkeiten und Ereignisse), um Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Annäherungen und Auseinanderentwicklungen, Verflechtungen und wechselseitige Bilder zu erforschen, nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären und Typologien zu entwickeln. Der oft zitierte, grundsätzliche Gegensatz von John Stuart Mill zwischen der Methode der Differenz und der Methode der Übereinstimmung, d. h. der Analyse von Unterschieden oder der Analyse von Parallelen, schärft sicher unseren Blick, wird aber in dieser Grundsätzlichkeit vom historischen Vergleich nicht übernommen.1 Er umfasst beide Zugriffe. Allerdings befasste sich der historische Vergleich in der Praxis sehr oft eher mit Unterschieden. Große Debatten von Historikern etwa über den American exceptionalism, über die exception française, über die Sonderentwicklung Großbritanniens, über die Besonderheiten der Wirtschaft Japans oder über den deutschen Sonderweg drehten sich ganz um Differenzen. Manchmal ist daraus sogar der Schluss gezogen worden, dass der historische Vergleich seinem Wesen nach auf Unterschiede ausgerichtet sei.2 In letzter Zeit tritt dieses Argu1 J. S. Mill, A System of Logic, Ratiocinative and Inductive. Being a Connected View of the Principles of Evidence, and the Methods of Scientific Investigation, London 1843. 2 J.  Kocka, Asymmetrical Historical Comparison. The Case of the German Sonderweg, in: History and Theory 38 (1999), S. 40–51; ders., Historische Sozialwissenschaft heute, in: M.  Hettling u. a. (Hg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 5–24;

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ment zurück, wozu auch der Trend zur Globalgeschichte und zur Geschichte der Globalisierung, aber auch der veränderte bilaterale innereuropäische Vergleich im Zuge der Europäisierung beigetragen haben. Die beiden großen Bücher zur Globalgeschichte des langen 19. Jahrhunderts von Jürgen Osterhammel und Christopher A. Bayly sind beeindruckende Beispiele für die vergleichende Suche nach Unterschieden, aber auch nach Gemeinsamkeiten. Die neuesten Bände der deutsch-französischen Geschichte sind weniger von der Auseinandersetzung mit nationalen Unterschieden geprägt als die Forschung vor dreißig Jahren.3 Der historische Vergleich ist nicht uniform und schließt eine große Vielfalt von Zugängen ein. Dabei kann der historische Vergleich Fälle aus derselben Epoche, aber auch aus unterschiedlichen historischen Epochen untersuchen. Er kann international sein, aber auch innerhalb eines Landes Regionen, Orte, auch Familien oder Persönlichkeiten vergleichen. Er kann sich auf Fälle derselben Kultur beschränken, wie dies der Altmeister des historischen Vergleichs Marc Bloch forderte,4 aber auch Fälle aus ganz unterschiedlichen Zivilisationen gegenüberstellen, wie dies etwa in der großen Debatte über den Aufstieg Europas und das Zurückbleiben Chinas im 18. und 19. Jahrhundert geschieht.5 Er kann die Vergleichsfälle in gleicher Intensität untersuchen oder aber im asymmetrischen Vergleich einen Fall in das Zentrum stellen und nur kurze vergleichende Blicke auf andere Fälle werfen. Er kann nur zwei Fälle oder eine größere Zahl von Fällen vergleichen, die allerdings in der Regel doch dadurch begrenzt ist, dass sich Historiker darum bemühen, jeden Vergleichsfall in seinen historischen Kontext einzuordnen. Wenn man mit einem vergleichenden historischen Projekt beginnt, ist es wichtig, sich die Vielfalt der Optionen zu vergegenwärtigen. Es ist versucht worden, Unterschiede zwischen Vergleichen zu typologisieren. Die Intentionen bei historischen Vergleichen kann man in drei Typen fassen: den A.  Bauerkämper, Geschichtsschreibung als Projektion: Die Revision der »Whig Interpretation of History« und die Kritik am Paradigma vom »deutschen Sonderweg« seit den 1970er Jahren, in: S. Berger (Hg.), Historikerdialoge: Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-englischen kulturellen Austausch, Göttingen 2003, S. 383–483; B. Weisbrod, Der englische »Sonderweg« in der neueren Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 233–252; P. Baldwin, The Narcissism of Minor Differences: How America and Europe Are Alike, Oxford 2009. 3 J.  Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009; C. A. Bayly, Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780–1914, Frankfurt / Main 2006. Der veränderte Zugang zum deutsch-französischen Vergleich wird besonders deutlich in: H. Miard-Delacroix, Deutsch-französische Geschichte. 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt 2011. 4 M. Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes (1928), in: ders., Mélanges historiques, Bd. 12, hg. von C.-E. Perrin, Paris 1963, S. 16–40. 5 Vgl. K.  Pomeranz, The Great Divergence: China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton 2001; A. G. Frank, ReOrient: Global Economy in the Asian Age, Berkeley 1998; J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, Ein Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, Kap. 12

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analytischen Vergleich, der Erklärungen für ein historisches Phänomen durch die vergleichende Analyse unterschiedlicher Fälle entwickelt; den kontrastiven aufklärenden Vergleich, der sich etwa mit der Entwicklung der Demokratie oder den Menschenrechten befasst, ihre historische Durchsetzung in den einen Ländern, das historische Scheitern in anderen Ländern gegenüberstellt und erklärt; den verstehenden Vergleich, der andere Länder durch den historischen Vergleich mit dem eigenen Land besser zu verstehen versucht und damit auch das historische Selbstverständnis des eigenen Landes aus anderer Perspektive sieht und revidiert.6 Eine andere Typologie geht von dem Grundgegensatz zwischen dem individualisierenden Vergleich, der den Einzelfall in das Zentrum stellt und von den meisten Historikern betrieben wird, und dem generalisierenden Vergleich aus, dem es um generelle Entwicklungen geht. Der Sozialwissenschaftler Charles Tilly hat dazu in einer inzwischen klassischen, oft zitierten Typologie vier Vergleichstypen unterschieden: den individualisierenden Vergleich, der die Besonderheiten zweier oder weniger Fälle herausarbeitet; den einschließenden Vergleich, der Teile eines größeren Ganzen wie etwa die Kolonien eines Imperiums vergleicht; den Variationenvergleich, der sich auf die Varianten eines allgemeinen universellen Prozesses wie etwa der Industrialisierung oder der demografischen Transition konzentriert, und schließlich den generalisierenden Vergleich, dem es nur um das Aufspüren allgemeiner Regeln geht.7 Dieser klassische historische Vergleich ist ergänzungsbedürftig und auf verschiedene Weise offen. Man sollte diese Öffnungen nicht zu rasch schließen, sondern sie produktiv weiterdenken. Drei besonders wichtige Öffnungen seien erwähnt. Eine erste Öffnung des historischen Vergleichs ist in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden: die Unterschiede gegenüber den anderen Zugängen der transnationalen Geschichte, also gegenüber Transfers, gegenüber inter­ nationalen Verflechtungen, gegenüber internationalen Bewegungen und Organisationen, gegenüber Bildern des Eigenen und des Anderen. Diese Öffnung des Vergleichs hat sich durchgesetzt, weil sich Historiker / innen in der Regel mit der Gegenüberstellung von Fällen in historischen Vergleichen nicht begnügen. Sie interessieren sich in aller Regel auch dafür, welchen Einfluss die verglichenen Fälle aufeinander hatten, wie stark sie verflochten waren und wie die Zeitgenossen die Unterschiede oder Ähnlichkeiten zwischen den Vergleichsfällen sahen. Ob eine transnationale historische Untersuchung das Gewicht auf den Vergleich, auf Verflechtungen oder eher auf wechselseitige Bilder legt, oder ob sie alle diese Zugänge gleichermaßen behandelt, hängt vor allem von der Fragestellung, den Eigenheiten des Falls und den Quellen des jeweiligen Projekts, dem

6 Vgl. dazu H.-G. Haupt, Comparative History, in: International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, Amsterdam, 2001, Bd. 4, S. 2397–2403; H. ­Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1999, S. 48 ff. 7 C. Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons, New York 1984, S. 82 ff., 145 ff.

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Zeitbudget des Forschungsprojekts, aber auch von intellektuellen Zeitströmungen ab.8 Eine zweite, kaum diskutierte Offenheit des historischen Vergleichs ist der Vergleich zwischen aufeinanderfolgenden Epochen einer territorialen Einheit. Er wird von Historikern sehr häufig praktiziert, jedoch normalerweise von ihnen nicht als Vergleich bezeichnet. Auf den ersten Blick ist der Unterschied zum Vergleich nicht leicht nachzuvollziehen, weil es um ganz ähnliche Analyseverfahren geht wie beim historischen Vergleich. Was als Umbruch zwischen Epochen untersucht wird, ähnelt den Unterschieden zwischen Vergleichsfällen. Was als Kontinuitäten zwischen Epochen angesehen wird, ähnelt den Gemeinsamkeiten zwischen Vergleichsfällen. Historiker / innen rechnen solche Zäsuren- und Epochenvergleiche trotzdem nicht zum historischen Vergleich, weil die historische Entwicklung auf der Zeitachse einen grundsätzlich anderen Charakter hat als die Gegenüberstellung zweier räumlich und vielleicht auch zeitlich getrennter Fälle. Die historische Entwicklung schafft zwischen aufeinanderfolgenden Epochen desselben Landes oder desselben Ortes eine dichte und unverwechselbare Beziehung aus Kausalitäten, Erfahrungen und Erinnerungen, die zwischen unterschiedlichen Orten oder Ländern derselben Epoche, die man vergleicht, nicht denkbar ist. Trotzdem sind die Grenzen zum Vergleich fließend. Vergleiche zwischen geografisch und zeitlich weit auseinanderliegenden Fällen desselben Kontinents wie etwa der Französischen Revolution von 1789 und der europäischen Revolution von 1848 werden doch als historische Vergleiche angesehen. Auch diese schwierige Abgrenzung des historischen Vergleichs zu diskutieren, kann zu interessanten neuen Überlegungen führen. Eine dritte, ebenfalls kaum diskutierte, aber gleichzeitig oft verwandte Methode von Historikern ist die historische Darstellung internationaler Entwicklungen, in der viele und oft sehr unterschiedliche Länder behandelt und meist nur kurz gestreift werden. Sie unterscheidet sich vom historischen Vergleich nicht immer klar. Europäische oder globalgeschichtliche Handbücher, aber auch viele Monografien über internationale Prozesse, Institutionen oder Ideen ent8 Vgl. M. Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999; H. ­Kaelble u. J. Schriewer, (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt / Main 2003 (daraus Kap. 18); H. ­Kaelble, Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?, in: H-Soz-u-Kult, Berlin 2005, http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/forum/id=574&type=artikel; engl: Between Comparison and Transfers – and what now?, in: H. Haupt u. J. Kocka, (Hg.), Comparative and Transnational History. Central European Approaches and new Perspectives, New York / Oxford 2009, S. 33–38; M. Middell, Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ 10 (2000), S. 7–41; J. Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 649–685; H. Siegrist, Comparative History of Cultures and Societies. From Cross-Societal Analysis to the Study of Intercultural Interdependencies, in: Comparative Education 42 (2006), S. 377–404; M. Werner u. B. Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636.

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halten solche Darstellungen. Sie sind meist nicht im strengen Sinn vergleichend, weil es ihnen vor allem um den gemeinsamen Trend geht und auf Unterschiede oft nur unsystematisch eingegangen wird. Aber die Grenze zum historischen Vergleich ist im Einzelfall oft nicht präzise zu ziehen.

II. Wandel des Vergleichs Der historische Vergleich erlebte seinen großen Aufschwung seit den 1970er Jahren vor allem in der Sozial- und in der Wirtschaftsgeschichte, aber auch in der politischen Geschichte. Er besaß damals in der Geschichtswissenschaft ein relativ großes Prestige, wurde sogar als »Königsweg« bezeichnet. Komparatisten sahen sich manchmal als Pioniere einer internationalen Öffnung der Geschichtswissenschaft, die thematisch viel umfassender und vielfältiger als die Diplomatiegeschichte oder die internationale Ideengeschichte sein konnte. Historische Komparatisten waren allerdings eine sehr schmale Gruppe. Nicht nur Historiker / innen, die sich mit der Geschichte ihres eigenen Landes befassten, sondern auch die Spezialisten anderer Länder oder anderer Weltregionen verglichen kaum. Selbst aus den beiden wichtigsten europäischen Institutionen für außereuropäische Regionen, der EHESS in Paris und der School for African and Asian Studies in London, kamen wenige historische Vergleiche. Allgemein galt der historische Vergleich für Dissertationen und Habilitationen als riskant. Wichtige Anstöße für den historischen Vergleich kamen vor allem von amerikanischen historischen Sozialwissenschaftlern wie Charles Tilly, Karl Deutsch, Reinhart Bendix, Barrington Moore, aber auch von europäischen historischen Sozialwissenschaftlern wie Stein Rokkan oder Peter Flora.9 Mit ihnen standen die frühen vergleichenden Historiker oft in direktem persönlichen Kontakt. Gleichzeitig konnte der historische Vergleich auch auf europäische Wurzeln in der historischen Soziologie, dort vor allem auf Max Weber, aber auch auf Historiker wie Marc Bloch, Henri Pirenne, Otto Hintze, teils auch auf Karl Lamprecht verweisen.10 9 Vgl. R.  Bendix, Herrschaft und Industriearbeit, Untersuchungen über Liberalismus und Autokratie in der Geschichte der Industrialisierung, Frankfurt / Main 1960; B. Moore, Social Origins of Dictatorship and Democracy: Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966; Tilly, Big Structures, Large Processes, Huge Comparisons; S. Rokkan, Vergleichende Sozialwissenschaft: Die Entwicklung der inter-kulturellen, inter-gesellschaftlichen und inter-nationalen Forschung, Frankfurt / Main u. a. 1972; dazu auch: P. Flora u. E.  Fix (Hg.), Stein Rokkan. Staat, Nation und Demokratie in Europa. Die Theorie Stein Rokkans aus seinen gesammelten Werken, Frankfurt / Main 2000. 10 Vgl. Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes (1928); O. Hintze, Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, Bd. 2, Göttingen 19642, S. 251. Vgl. als Beispiel für einen klassischen sozio­ logischen Vergleich Max Webers H. Bruhns u. W. Nippel (Hg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich, Göttingen 2000.

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Die wichtigste theoretische Anbindung des historischen Vergleichs war die Modernisierungstheorie. Historisch zu vergleichen hieß entweder, die ver­ glichenen Fälle in unterschiedliche Grade von Modernisierung einzuordnen, oder unterschiedliche Wege der Modernisierung herauszuarbeiten oder Widersprüche zwischen politischer und wirtschaftlicher Modernisierung aufzuzeigen. Der Reiz des historischen Vergleichs lag nicht einfach in dem Nachweis von Modernisierung, sondern auch in der Diskussion von Sperrigkeiten der historischen Entwicklung gegenüber den Modernisierungstheoremen. Der Raum des historischen Vergleichs war Europa, manchmal unter Einschluss der USA, als Maßstab der Moderne. In Europa konzentrierte sich der Vergleich weitgehend auf Frankreich, Großbritannien und Deutschland mit gelegentlichen Blicken auf Schweden oder die Schweiz als besonders moderne Länder oder auf Italien und das östliche Europa als wenig moderne Teile des Kontinents. Vergleiche mit außereuropäischen Ländern blieben selten. Thematisch häufte sich der Vergleich in einigen wenigen Themenfeldern wie Wohlfahrtsstaat und Bildungssysteme, Bürgertum, Arbeiter und Mittelschicht, soziale Proteste und Revolutionen, Industrialisierung und Unternehmen. Seit den 1990er-Jahren wandelte sich der Vergleich. Einerseits wuchs die Skepsis in der methodischen Debatte über den Vergleich, auf die gleich zurückzukommen sein wird. Die Historiker / innen wurden sich der Probleme des Vergleichs stärker bewusst: der starken Bindung des Vergleichs an den Nationalstaat; der Überschätzung der Entwicklungen, die sich am Ende durchsetzten, und der Unterschätzung der schwach gebliebenen Alternativen; der Unterschätzung der inneren Diversität der Vergleichsfälle, die den Vergleich komplizierten; der Abhängigkeit der Auswahl der Vergleichsfälle von Quellenlagen und Sprachkenntnissen des vergleichenden Historikers; die Befangenheit in nationalen Denkweisen und die bloße Selbstbestätigung durch den historischen Vergleich; die oft unausgesprochenen Annahmen über Normalität oder sogar Überlegenheit eines der Vergleichsfälle, manchmal des eigenen Landes, manchmal anderer Länder. Auf der anderen Seite normalisierte sich der Vergleich. Er verlor seinen Pioniercharakter, indem immer mehr Historiker / innen mit einer vergleichenden Perspektive arbeiteten. Vergleichende Dissertationen und Habilitationen zu schreiben blieb kein Sonderfall mehr. Nicht nur Historiker / innen, die über ihr eigenes Land forschten, brachen öfters aus der Enge der eigenen nationalen Geschichte aus. Auch europäische Experten anderer europäischer oder außereuropäischer Länder verglichen nun häufiger. Der historische Vergleich traf zudem auf günstigere finanzielle Bedingungen, da er durch SFBs, Graduiertenkollegs, Auslandsinstitute, EU-Programme und internationale Historikernetzwerke gefördert wurde. Es begann sich auch die Erkenntnis durchzusetzen, dass ein historischer Vergleich die Karrierechancen verbessern konnte, da man Experte nicht nur eines einzigen Landes blieb und sich damit auf unterschiedliche Lehrstühle bewerben konnte. Im historischen Vergleich spiegelten sich darüber hinaus auch die Internationalisierung des europäischen Alltags durch Reisen, internationale 298

Bildungs- und Arbeitsaufenthalte und Migration, aber auch durch die dadurch entstandenen zahlreichen privaten internationalen Verbindungen wider. Darüber hinaus erweiterten sich allmählich die Vergleichsräume, Vergleichszeiträume und Vergleichsthemen. Die Zeit seit 1945 wurde ein neues Eldorado für den historischen Vergleich. Die Eurozentrik des Vergleichs von europäischen Historikern milderte sich etwas ab, während der Vergleich mit außereuro­ päischen Ländern jenseits der USA etwas zunahm. Die veränderte weltpolitische Situation, das Ende des Kalten Kriegs und die Entstehung einer Welt mit mehreren Machtzentren begann sich auch auf den historischen Vergleich auszuwirken. Die europäischen Experten außereuropäischer Länder spielten eine wichtige Rolle bei der stückweisen globalen Öffnung des historischen Vergleichs. Neben dem Vergleich zwischen Nationen erhielten der lokale Vergleich und der globale Vergleich etwas mehr Gewicht. Freilich blieb und bleibt der europäische historische Vergleich weiterhin zu europazentrisch. Vergleiche mit der benachbarten arabischen Welt sind ebenso viel zu selten wie mit anderen, entfernteren Weltregionen jenseits des nordatlantischen Raums.11 Thematisch war der Vergleich nicht mehr erkennbar eingeschränkt. Er wurde in den meisten Themenfeldern der Geschichte gezogen, in der Strukturgeschichte ebenso wie in der Erfahrungs- und der Ideengeschichte, in der Kulturund Politikgeschichte ebenso wie in der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Das Modernisierungsparadigma nichtmarxistischer und marxistischer Provenienz verlor einiges an Einfluss auf den historischen Vergleich. Der historische Vergleich diente nicht mehr nur der Einordnung in modernisierende Entwicklungen, sondern auch dem besseren Verständnis des Anderen und damit oft auch des Eigenen. Vergleichen hieß häufiger, den Anderen auch besser verstehen zu wollen und nicht mehr ausschließlich die Durchsetzung der Moderne zu verfolgen. Der Einfluss der Sozialwissenschaften, vor allem der nordamerikanischen Soziologie und Politikwissenschaften, auf den historischen Vergleich ging zurück. Die Beziehungen mit den amerikanischen historischen Komparatisten blieben zwar eng, aber die amerikanische Forschung verlor ihren Modellcharakter für den europäischen historischen Vergleich  – nicht nur, weil er sich europaweit etabliert hatte, sondern auch, weil amerikanische Historiker / innen nicht selten von anderen Prämissen bei der Wahl von Vergleichsfällen und Vergleichsräumen, auch in der Bewertung des Vergleichs, ausgingen.12

11 Vgl. als Gegenbeispiele D. Sachsenmaier, Global Perspectives on Global History. Theories and Approaches in a Connected World, Cambridge 2011; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt; Bayly, Die Geburt der modernen Welt. 12 Vgl. Sachsenmaier, Global perspectives, S. 59 ff., 110 ff., 122 ff.

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III. Debatten über den historischen Vergleich Eine lebhafte Debatte über den historischen Vergleich entwickelte sich seit den 1990er-Jahren vor allem unter französischen und deutschen Historikern und Literaturwissenschaftlern. Diese Debatte folgte allerdings nicht einfach der Forschungspraxis, sondern ging ihr teils voraus, teils hinkte sie hinterher. Eine ganze Reihe von Publikationen versuchte nach rund zwei Jahrzehnten der intensiveren Erfahrung, dem historischen Vergleich in der Geschichtswissenschaft einen anerkannten Platz zu verschaffen, ihn zu verfeinern, aus anderen Disziplinen Anregungen zu übernehmen, seine Stärken und Grenzen auszuloten.13 Seit Mitte der 1990er-Jahre geriet der historische Vergleich freilich auch in die Kritik. Der französische Literaturwissenschaftler Michel Espagne, ein Experte der deutsch-französischen Beziehungen, kritisierte den historischen Vergleich, weil er den Forscher zwinge, künstlich homogene nationale Einheiten zu konstruieren und daher in das Zeitalter der oft verhängnisvollen Bindung der Geschichtswissenschaften an nationale Identitäten zurückführe. Darüber hinaus lasse sich, so Espagne, der historische Vergleich nur für Strukturanalysen verwenden und blende die Erfahrungen und Handlungen des einzelnen Individuums aus. Er plädierte deshalb dafür, den historischen Vergleich durch die historische Transferuntersuchung, also die Untersuchung der Übertragung von Ideen und Werten, des Austauschs von Waren, der Migration von Menschen von einer Gesellschaft zur anderen zu ersetzen, die die Geschichtswissenschaft für internationale kulturelle Verflechtungen und für die Kulturgeschichte von Erfahrungen und Handlungspraxen öffne. Espagne blieb keine Einzelstimme.14 Ein weiterer Einwand gegen den historischen Vergleich kam von Globalhistorikern. Der historische Vergleich mit außereuropäischen Ländern betone zu sehr, so ihr Argument, die Überlegenheit Europas, besonders die Europäisierung der nichteuropäischen Welt, und die Rückständigkeit außereuropäischer Regionen

13 M. Detienne, Comparer l’incomparable, Paris 2000; Espagne, Les transferts culturels franco-allemands; Haupt u. Kocka (Hg.), Geschichte und Vergleich; ­Kaelble, Der historische Vergleich; J.  Kocka, Comparison and Beyond, History and theory 42 (2003), S. 39–44; ders., Asymmetrical Historical Comparison; Lorenz, Comparative Historiography; Middell, Kulturtransfer und Historische Komparatistik; J. Osterhammel, Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich. Zu künftigen Möglichkeiten komparativer Geschichtswissenschaft, in Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 143–164; Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer; S. Randeria, Geteilte Geschichte und verwobenen Moderne, in: J. Rüsen u. a. (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der Veränderung, Frankfurt / Main 1999, S.  87–96. 14 Vgl. Espagne, Les transferts culturels franco-allemands; Middell, Kulturtransfer und Historische Komparatistik; ­Kaelble, Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt? Vgl. auch Kap. 17 und 18 dieses Bandes.

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seit dem späten 18. Jahrhundert. Er vernachlässige deshalb die »shared history« (»geteilte Geschichte«) oder »entangled history«, also den Einfluss der nichteuropäischen Welt auf Europa nicht nur indirekt über die außereuropäischen Erfahrungen von Europäern, sondern auch direkt durch Transfers außereuropäischer Waren, Kunst, Wissen, Pflanzen und Tiere zur Ernährung nach Europa. Einige Globalhistoriker / innen stellen daher ebenfalls solche Transfers in das Zentrum ihrer Untersuchungen. Andere möchten sich ganz auf globale Institutionen, Bewegungen, Öffentlichkeiten, Konflikte und Umbrüche konzentrieren. Sie interessieren sich kaum mehr für historische Vergleiche.15 Eine Synthese bietet das Konzept der »histoire croisée« (überkreuzte Geschichte) von Michael Werner und Bénédicte Zimmermann. Sie anerkannten auf der einen Seite den historischen Vergleich als eine unverzichtbare Methode der Geschichtswissenschaft, forderten andererseits aber einen grundlegenden Wandel des historischen Vergleichs ebenso wie der Transferuntersuchung durch den überkreuzten Blick: das fortwährende Hineindenken und Hineinversetzen in die andere, verglichene Kultur und die fortwährende Überprüfung des Bildes von der eigenen Kultur schon bei der Formulierung von Fragestellung und Forschungsdesign.16 Eine andere Herausforderung für den historischen Vergleich entstand durch die transnationale Geschichte (vgl. auch Kap. 19). Sie gewann viel Dynamik und wird vor allem als Abschied von der rein nationalen Geschichte und als Internationalisierung von Forschungsthemen verstanden, ohne dass dahinter ein ausgefeiltes Konzept oder gar eine Theorie steht. Anstöße zur transnationalen Geschichte kamen aus ganz verschiedenen Richtungen: aus der Diplomatiegeschichte, die sich mehr für den breiten sozialen und kulturellen Kontext der internationalen Beziehungen interessiert; von den Historikern der europäischen Integration, die die rein politische Entscheidungsgeschichte erweitern; von der außereuropäischen Geschichte, die sich vom regionalwissenschaftlichen Konzept löste und stärker mit den Historikern anderer Weltregionen zusammenarbeiten möchte; von der postkolonialen Geschichte; von der Globalgeschichte; von der Sozial- und Kulturgeschichte, die sich stärker internationalisiert. Entscheidend für den historischen Vergleich ist hierbei, dass in den neuen programmatischen Texten zur transnationalen Geschichte der historische Vergleich nicht angegriffen wird, sondern im Gegenteil meist unbeachtet bleibt – so etwa bei Akira Iriye und Pierre-Yves Saunier, die mit der transnationalen Geschichte

15 Vgl. als Überblicke: S. Conrad u. S. Randeria, Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in der Geschichte der Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt / Main 2002; Randeria, Geteilte Geschichte und verwobene Moderne; D.  Sachsenmaier, Global History, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, https://docupedia.de/zg/ Global_History?oldid=75519; S. Conrad, Globalgeschichte: Eine Einführung, München 2013; R. Wenzlhuemer, Globalgeschichte schreiben, Konstanz u. München 2017. 16 Werner u. Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung.

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vor allem Verflechtungen und Transfers von Ideen, Menschen und Waren über nationale Grenzen hinweg meinen.17 Insgesamt ist der historische Vergleich heute keine frühe Stufe der trans­ nationalen Geschichte, die noch zu viel von Nationalgeschichte in sich trug und die zuerst durch die Transferuntersuchung, später durch die transnationale Geschichte überwunden wurde, wie manchmal zugespitzt formuliert wird. Der historische Vergleich ist im Gegenteil ein fester, bis heute wichtiger Bestandteil der transnationalen Geschichte. Er verband sich, nachdem er als historische Methode etabliert war, in der jüngeren Zeit oft mit anderen Zugängen wie der Transferuntersuchung, der Verflechtungsuntersuchung oder der Untersuchung der historischen Repräsentationen des Eigenen und des Anderen, ging aber in diesen anderen Zugängen nicht einfach auf. Er verlor zwar seine Neuigkeitsaura, blieb aber – wie das in jüngster Zeit etwa Heinz-Gerhard Haupt, Jürgen Kocka und Thomas Welskopp herausstreichen18 – aus vier Gründen ein wichtiger Ansatz der transnationalen Geschichte: Erstens missversteht man den historischen Vergleich, wenn man ihn ausschließlich als rigide Konstruktion von nationalen Besonderheiten oder gar als Brutkasten nationaler Vorurteile sieht. Es gab sicher historische Vergleiche dieser Art vor allem in internationalen Spannungs- und Kriegszeiten, in denen Forschung über andere Länder als »Feindwissenschaft« betrieben wurde und oft eher aus historischer Spekulation als aus ernsthafter Forschung bestand. Der eingehende historische Vergleich führt aber im Normalfall den Historiker zu einem intensiven Eindenken in das verglichene andere Land, in seine Geschichtsforschung, in seine Sprache und Denkweise, in seine Institutionen und Normen, in seine historischen Erinnerungen. Der Vergleich internationalisiert den Forscher daher fast unausweichlich. Zweitens bergen die erwähnten, unbestreitbaren, methodischen Probleme, mit denen sich der historische Vergleich auseinandersetzen muss und die gegen

17 A. Iriye u. P.-Y. Saunier (Hg.), The Palgrave Dictionary of Transnational History, Houndmills / New York 2009, S. VIII; vgl. zudem G. Budde u. a. (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006; M. Herren u. a., Transcultural History. Theories, Methods, Sources, Heidelberg u. Berlin 2011; W. Kaiser, Integration als Europäisierung. Transnationale Netzwerke und grenzüberschreitende Interaktion, in: A. Bauerkämper u. H. ­Kaelble (Hg.), Europa als Gesellschaft, Wiesbaden 2012, S. 43–62; W. Loth u. J. Osterhammel (Hg.), Internationale Geschichte. Themen  – Ergebnisse  – Aussichten, München 2000; K. Patel, Transnationale Geschichte, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010–12–03, http://www.ieg-ego. eu/patelk-2010-de; M.  Pernau, Transnationale Geschichte, Göttingen 2011; A.  Wirz, Für eine transnationale Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 489–498. 18 Vgl. Haupt / Kocka (Hg.), Comparative and Transnational History; Haupt, Comparative History; T. Welskopp, Comparative history, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010–12–03, http://www.ieg-ego.eu/ welskoppt-2010-en.

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ihn angeführt werden, oft auch Gefahren für andere Zugänge der transnationalen Geschichte. Auch für Transfer- und Verflechtungsuntersuchungen muss man sich die Einheiten, zwischen denen Transfers oder Verflechtungen bestehen, konstruieren oder nach Konstruktionen der Zeitgenossen suchen – und überschätzt sie dann vielleicht. Transferuntersuchungen konnten durchaus auch Teil der »Feindwissenschaften« sein: etwa die »Westforschung« der NS-Zeit über die angeblichen germanischen Transfers in den Norden Belgiens und Frankreichs, die These der europäischen Kolonialwissenschaften von der segensreichen Europäisierung der Kolonialbevölkerungen oder manche im Kalten Krieg entwickelten Thesen von der völligen Sowjetisierung Ostmitteleuropas.19 Der Vergleich bleibt drittens auch deshalb eine wichtige Methode der Historiker / innen, weil die Gesellschaft, in der die heutigen Historiker / innen arbeiten, zunehmend in Vergleichen denkt. Internationale Organisationen wie die OECD oder die Europäische Union nutzen den internationalen Vergleich zur Mobilisierung der Öffentlichkeit. In der intensiver gewordenen, persönlichen Begegnung und Erfahrung mit anderen europäischen und außereuropäischen Kulturen im eigenen Land oder auf Auslandsreisen werden fortwährend Vergleiche gezogen und Urteile gefällt. In dieser Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Anderen wird oft auch die Hilfe oder Kritik des vergleichenden Historikers gebraucht. Wenn sich die Öffentlichkeit fragt, warum Japaner auf Katastrophen anders reagieren als Europäer, warum das Nachbarland Frankreich einen derart allmächtigen Präsidenten und weit weniger Vertrauen in unabhängige Verfassungsgerichte, Zentralbanken und Medien als Deutschland besitzt oder aus welchen Gründen die USA und China ihre Stellung in der Welt ganz anders sehen als Europa, dann ist auch die Antwort der vergleichenden Geschichts­w issenschaft gefragt. Historische Vergleiche aufgeben, hieße, sich einer wichtigen Verantwortung der Geschichtswissenschaft nicht mehr zu stellen. Viertens wurde der Wissenschaftskontext für den historischen Vergleich in den letzten Jahren eher noch günstiger. Die historische Forschung wurde stark internationalisiert. Es ist viel leichter geworden, historische Forschung in anderen Ländern zu betreiben. Die schon erwähnten internationalen Austauschprogramme, internationale Doktorandenkollegs und Sonderforschungsbereiche, auch die Deutschen Historischen Institute in anderen Ländern ermutigen und unterstützen den historischen Vergleich. Internationale historische Recherchen wurden durch das Internet erheblich erleichtert. Der historische Vergleich wurde daher trotz der nicht immer ermutigenden Methodendebatte weiter praktiziert

19 Vgl. P. Schöttler, Die historische »Westforschung« zwischen »Abwehrkampf« und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt / Main 1997, S.  204–226; K.  Ditt, Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri (1903–1993), in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 73–176; K. Jarausch u. H. Siegrist (Hg.), Amerikanisierung und Sowjetisierung in Deutschland 1945–1970, Frankfurt a. M. u. New York 1997.

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und besitzt in Dissertationsprojekten ebenso wie in den historischen Publikationen einen festen Platz.

IV. Zusammenfassung Der historische Vergleich hat sich in den vergangenen vierzig Jahren als eine regelmäßig verwandte, ausgearbeitete Methode der Geschichtswissenschaften etabliert und kann auf bedeutende Vorläufer unter Historikern und Sozialwissenschaftlern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückblicken. Gleichzeitig hat sich der historische Vergleich in den vergangenen Jahrzehnten auch stark gewandelt: Er hat sich in der Forschungspraxis routinisiert und veralltäglicht, hat seine Pionieraura verloren, ist selbstkritischer und reflektierter geworden, hat seine Vergleichsräume etwas, freilich bei weitem nicht genügend, erweitert, sich auf viele Themen ausgedehnt, seine ursprünglich enge Bindung an die historischen Sozialwissenschaften und an Modernisierungstheorien gelockert, ist nicht mehr ausschließlich ein Instrument zur Einordnung in die Moderne, sondern daneben auch eine Methode zum Verstehen des Anderen geworden. Der historische Vergleich wurde vor allem seit den 1990er Jahren intensiv diskutiert und kritisiert. Er ist heute Bestandteil der transnationalen Geschichte und somit auch ein Pfad der Herauslösung der Geschichtswissenschaft aus der ausschließlichen Nationalgeschichte.

Empfohlene Literatur zum Thema Arndt, A. u. a. (Hg.), Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, Göttingen 2011. Bloch, M., Pour une histoire comparée des sociétés européennes (1928), in: C-E. Perrin (Hg.), Mélanges historiques. Bd. 12, S. E. V. P. E. N., Paris 1963, S. 16–40. Haupt, H.-G. u. J. Kocka (Hg.), Comparative and transnational history. Central European approaches and new perspectives, New York u. Oxford 2009. ­Kaelble, H., Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt / Main 1999, 2. Aufl. vorauss. 2021. Middell, M., Kulturtransfer und Historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis, in: Comparativ. Bd. 10 (2000), S. 7–41 (online). Osterhammel, J., Sozialgeschichte im Zivilisationsvergleich. Zu künftigen Möglichkeiten komparativer Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft. Bd. 22 (1996), S. 143–164 (online). Pernau, M. Transnationale Geschichte, Göttingen 2011. Siegrist, H., Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur, Raum, in: H. ­Kaelble u. J. Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Kom-

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paratistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt / Main 2003, S. 263–97. Welskopp, T., Comparative History, in: European History Online (EGO). 12.03.2010 (online). Zimmermann, B. u. M. Werner, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft. Bd. 28 (2002), S. 607–636 (online).

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19. Comparative and transnational history Transnational history and comparative history at first glance look closely related, since both approaches make an effort to go beyond national history. But historians often see them as opposing concepts. Comparative history is regarded as looking to history exclusively through the eyes of national history and constructing differences between countries. Quite to the opposite, transnational history is seen as an approach, which strictly avoids and overcomes history through national eyes. But are transnational and comparative history in fact necessarily in strict contradiction to each other? I shall treat and discuss first transnational history and thereafter comparative history.

I. Transnational history Transnational history has become an important and productive perspective of historical research on the period of the nation state during the 19th and 20th centuries. Its main focus is to overcome the limits of the narrow national history. Transnational history as a notion made a spectacular career since the 1990s in the writings in the important languages.1 To be sure, transnational history in fact was written long before especially in economic and cultural history. Topics with  a transnational scope such as industrialisation, capitalism, urbanisation, population growth, epidemics, styles in the arts, language, change of values, imperialism and the history of civilizations was treated in a transnational perspective. But they were seen as topics for specialists. They did not inspire historians to invent a new term for the entire discipline. Only since the 1990s transnational history was seen as a reorientation of the discipline. It

1 Ngram. cf. for different views on the rise of international history: P.-Y. Saunier, Transnational history – introduction, London 2013, introductory section; J. Kocka, Global History: Opportunities, Dangers, Recent Trends, in: Culture and history digital journal 1(1) June 2, Transnational012, p. 1–6; M. Del Pero and G. Formigoni, Storia internazionale, Transnazionale, globale. Una discussione, special issue of Ricerche di storia politica, 2/2016; J. Osterhammel, A »Transnational« History of Society: Continuity or New Departure?, in: H.-G. Haupt and J. Kocka (eds.), Comparison and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives, New York and Oxford 2009, S. 39–51; C. Maier, Designing the 20th century to history: alternative narratives for the modern era, in: American Historical Review 105, 2000, p. 807–831; P. Finney, Introduction: what is international history?, in P. Finney (ed.), Palgrave Advances in International History, London 2005, pp. 1–35.

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was not suddenly followed by all historians, but became a widely accepted and discussed focus of books and conferences. This new orientation is not simply a hope. It was reassured by highly successful books, which are partly mentioned later. Transnational history is often proposed by historians of none-European cultures, who want to dialogue with historians of Europe, but also by experts of European countries, who are unhappy with pure national history. It is often encouraged by transnational scientific settings with experts of many cultures in large universities and cities. It is inspired by more international careers and experience of historians. It also reflects general trends such as economic globalisation since the 1980s and 1990s, the increasing elite and mass migration, the rise of international digitalisation in everyday life since the 1990s, but also rising international criminality, civil wars and terrorism. Transnational history is driven by the different motivations. Historians expect to understand the globalised world since the early modern period better by transnational history than by narrow national history. They hope that the history of international problems such as migration, environment, financial markets, digitalisation, epidemics, refugees, organised criminality or terrorism help us to discern major challenges and imminent threats also for individual nations. By transnational history historians also want to overcome the trap of national history, which might force historians into the logic of nationalism, into the construction of national superiority and into nationalist interpretation of history and which makes us forget, that the critique of national governments by historians often is based on international exchange, on international comparisons and on the study of international transfers. Historians also hope that the history of international organisations, movements and exchange contribute to our understanding of the making of peace and the solution of imminent international problems. To be sure transnational research usually is not driven by utilitarian direct application to politics. But these motivations play a role in the purpose of the enlightenment of the public. Transnational history, however, is not a homogenous approach. It does not only change its meaning because national history is changing continuously. It also comprises  a variety of complementing and sometimes conflicting approaches and methods, such as history of transfers, comparative history, global history, history of international regions (i. e. regions such as Europe or South East Asia) and history of international relations. Hence, transnational history is not a specific program of historical research, but an attitude in designing research in the best case, a wishful thinking in the worst case.2 2 A selection of articles: K. K. Patel, Transnational history, in: Europäische Geschichte Online (EGO), ed. by the Leibniz Institut für Europäische Geschichte (Mainz), 2011; id., Überlegungen zu einer transnationalen Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004); P. Gassert, Transnationale Geschichte, Version: 2.0, in: Docupedia Zeitgeschichte; Osterhammel, A »Transnational« History of Society, in: Haupt and Kocka, Comparison and Transnational History, p. 39–51; M.  Pernau, Transnationale Geschichte, Göttingen 2011;

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Transnational history is not a fully consistent and clear term especially for four reasons. They ought to be kept in mind, even though they are not fundamental obstacles in the use of the term. First in a strict sense it is confined to the period of the predominance of nation states during the 19th and 20th centuries. Only in this period the term »transnational« makes sense. This, however, is a relatively short part of history. No doubt, the idea behind the term »transnational«, the history of interconnections between states and cultures, is also highly attractive for other eras. Secondly, the term transnational history even for the 19th and 20th centuries has the disadvantage, that the nation state never became reality in all parts of the globe, even though it gradually became the prevailing model. Transnational history in the strict sense of the word does not cover empires, an important form of the state in the 19th century, i. e. neither the Czarist empire nor the Habsburg empire nor the Ottoman empire nor the European empires overseas. It also does not cover the weak states of the 20th century, which are not able to control the territory as the nation state usually does. The third shortcoming of the term: It might make us believe that all interconnections between nations have  a basically similar character. However, transnational interconnections within an empire e.g. between the USSR and Poland in the Soviet empire or even postcolonial relations between Portugal and Mozambique are fundamentally different from the Franco-German transnational interconnections between two countries on equal terms. Transnational interconnections in trade and consumption in the 1950s between the economically powerful US and the importing Latin American countries are different from the interconnections between more equal countries such as Japan and Britain after World War II. The term »transnational« does not push to reflect the highly unequal interconnections between nation states. Finally, transnational history is changing, because the line between national and transnational history is changing. The closer it comes to the present, the more national history of the 19th and 20th century is obliged to cover trans­ national interconnections not only because of the World Wars and because of international organisations such as the European Union, but also because of A. Iriye and P. Y. Saunier (eds.), Palgrave Dictionary of Transnational History, London 2003; Saunier, Transnational history – Introduction; C. Conrad, Vergleich und Transnationalität in der Geschichte, in: A. Wirsching (ed.), Oldenbourg Geschichte Lehrbuch. Neueste Zeit, München 2006, p. 317–332; G. Budde et al. (eds.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Goettingen 2006: H. Siegrist, Transnationale Geschichte als Herausforderung der wissenschaftlichen Historiographie, in: geschichte.transnational, 21.12.2004, geschichte-transnational.clio-online.net/forum/id=575&type=artikel; M.  ­Middell, Transnational challenges to national history writing, Houndmills / New York 2013; B. Struck et al., Space and scale in transnational history, The International History Review. 2011, p. 573–84; J.-H. Meyer, Transnationale Geschichte. Eine Perspektive, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 36 (2013); J.  Dülffer and W.  Loth (Hg.), Dimensionen internationaler Geschichte, München 2012.

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rising international economic and cultural interconnections. Especially for the period since World War II the traditional border line between national and international history is blurred. For the historian, the national territory has become, according to Charles Maier, »a problematic basis for collective political security and increasingly irrelevant for economic activity.«3 One can observe four meanings of transnational history. A first and most general meaning of transnational history comprises studies which transgress intellectually national borders and treat more than a single nation state, empire or political territory within its borders.4 This meaning includes international comparison. A study which treats exchanges France with Britain or  a study which covers all South East Asian countries in comparison or a global history which explores modern changes in the family in all countries of the world will be seen as transnational, even though the nation state is kept as the main unit of research. Transnational history in this first meaning also includes studies on one single country, provided the interconnections outside the territory are investigated. For this type of research the term transnational was used first in the 1860s by Georg Curtius, who argued, that all national languages are importing important notions from other languages and integrate these notions with a specific meaning in the national language.5 In a similar perspective, an innovative study for transnational history, the book by Sebastian Conrad on the outside interconnections of Bismarck empire and on nationalism as  a consequence of rising outside interconnections, belongs to this type of transnational research.6 The French philosopher Rémi Brague called this the Roman method: borrowing as much as possible from other countries and integrating this into the national or local culture and society.7 Most societies use the method in a more or less intensive way. So, this transnationalised study of individual nations can be applied to most countries. Studies on global connections of villages or towns in a similar way of thought try to demonstrate that local history is not necessarily a history of a national periphery, but can also be transnationalised.8 3 C. S.  Maier, Transformations of territoriality, in: Budde et al., Transnationale Geschichte, Goettingen 2006, p. 48. 4 Cf. examples for the use of the term in the broad sense: C. Charle, Jalons pour und histoire transnationale des universités, in: Cahier d’histoire. Revue d’histoire critique 121 (2013), p. 21–42; F. Bensimon (ed.), Pour une histoire transnationale du travail, Le mouvement social no. 241, 2014; J. Beckert et al. (eds.), Transnationale Solidarität: Chancen und Grenzen, Frankfurt 2004. 5 G.  Curtius, Philologie und Sprachwissenschaft: Antrittsvorlesung gehalten zu Leipzig am 30. April 1862, Leipzig 1862, p. 9, cited in: Saunier and Iriye, Palgrave Dictionary of Transnational History, p.1047. 6 S. Conrad, Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, Munich 2006. 7 R. Brague, Europe, la voie romaine, Paris 1992. 8 Cf. M. Kearny, The local in the global: the anthropology of globalization and transnationalism, in: American Review of Anthropology 24 (1995), p. 547–565.

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Transnational historical studies in this first meaning include also an equally promising field of research, i. e. studies on international regions or cultures (comprising, as defined before several or many countries). Transnational historical studies on international regions face specific challenges. They go into two directions. On the one hand, they treat the internal diversities and commonalities of regions and have to cover usually not bilateral, but multilateral transfers and differences. The study by Christophe Charle on European theatres is  a successful recent example.9 On the other hand, impressive studies cover the external comparison and transfers between transnational regions.10 Jürgen Osterhammel has discussed this second direction in an exemplary way. He is also saying that this transnational history of cultures inevitably ends in a mixed research on differences, on transition zones, mutual influence and hybrid forms of life.11 This broad meaning of transnational history, which includes historical comparison, comprises  a large variety of studies. Not all of them call themselves »transnational«. This broad meaning was criticised for being too vague and for including too many different approaches without a common method. But it reflects a widely shared, not highly theorised interest in history beyond national history. Besides this broad meaning of transnational history three more specific ways of understanding are proposed, though they are not always clearly being separated from each other. A second, specific meaning of transnational history covers research on inter­ connections between countries beyond policies of governments. Transnational history is conceived in contrast to international history, i. e. in contrast to interconnections between governments as diplomatic history or history of international relations. This meaning of transnational history can be found especially in studies on cultural history and does not necessarily exclude comparison between countries. A third, still more specific meaning is regarding transnational history as a contrast to a history using the nation as a unity of research. Transnational history in this strict sense means the transcendence of national history. Transnational history means giving up completely the nation as a unit of research. A geographic scale larger than the nation state is chosen, such as the history of the Alpes or

9 C. Charle, théâtres en capitales. Naissance du spectacle à Paris, Berlin, Londres et Vienne, Paris 2008. 10 Cf. as widely red examples of global history: J. Osterhammel, The Transformation of the World: A Global History of the Nineteenth Century, Princeton 2014; C. A. Bayly, The Birth of the Modern World 1780–1914. Global Connections and Comparisons, Oxford 2004. 11 J. Osterhammel, Transkulturell vergleichende Geschichtswissenschaft, in: id., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, p. 11–45; cf. also Osterhammel, A »Transnational« History of Society, in: Haupt and Kocka, Comparison and Transnational History, p. 39–51.

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the Mediterranean Sea, or the history of a commodity such as salt or horses or motor cars, or the history of an intellectual and political concept such as the parliament or liberalism or the history of a concept in the arts such as such as surrealism or rock music. This meaning of transnational history by definition excludes comparisons between nations and nation states. A fourth more specific meaning, which is close to the third one, is transnational history as transfers between countries, sometimes seen as progress. The editors of the Palgrave dictionary of transnational history, Akira Irye and Pierre-Yves Saunier, introduced this meaning of transnational history. In their view transnational history means »links and flows«, i. e. »people, ideas, products, processes and patterns that operate over, across, through, beyond, above, under, or in-between polities and societies«12 A similar view holds Mathias Middell, who runs  a digital section called »Geschichte. transnational (history trans­ national)«. He presents the section as »specialist forum on the history of cultural transfer and the interweaving of transnational relationships in Europe and the world.«13 This meaning of transnational history also definitely does not include historical comparison, especially if the comparison is aiming only at differences between countries

II. Comparative history Comparative history is partly regarded by some advocates of transnational history as  a variation of national history, since the units of comparison are frequently still nations and comparative history is often focussing on differences between nations, hence a continuation of the predominance of national history. As a consequence, comparative history is sometimes simply not treated in articles of transnational history or seen in the best case as an early first step of transnational history, which was overcome in the meantime. But is this realistic? To be sure the classical definition of historical comparison might at first glance corroborate the impression. Historical comparison is usually regarded as a systematic confrontation of two or several historical units (localities, regions, nations, civilisations, personalities, institutions or eras) for exploring differences and commonalities, divergences and convergences not only by describing, but also by explaining and typologizing. In addition,  a crucial goal of historical comparison always was the inclusion of the wider historical context, different contexts as well as common contexts.14 12 A. Iriye and P.-Y. Saunier, Introduction, in: id., The Palgrave Dictionary of Transnational History, p. XVIII.; cf. also Saunier, Transnational history – introduction. 13 geschichte.transnational.clio-online.net. 14 Cf. as a selection of mostly recent publications in English on the method of historical comparison: M. Bloch, A contribution towards a comparative history of European society, in: id.,

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The definition of historical comparison is above all a summary of the research by historians rather than a normative rule. Hence the validity of the definition very much depends on the trends in actual research rather than on theoretical conclusions. In fact, three recent tendencies of research are to be taken into account. First, historians often investigate differences between few cases, preferably only between two cases, since the exploration of sources and the extensive inclusion of the historical context often renders difficult the feasibility of the historical comparison of more than two or three cases. Differences between nation states or national cultures and societies clearly predominate. This is why historical comparison is partly excluded from transnational history. In addition, recent historical comparisons not only look for differences, but also for interconnections, since intensive flows of ideas, persons or commo­ di­ties can explain weak differences and the refusal of exchange can explain rising differences. Hence for understanding and explaining commonalities and differences interconnections play a crucial role and receive a high priority. It is important to investigate not only flows, but also interruptions and rejections of flows. When the historical comparison was first conceptualised by Marc Bloch, he believed that historical comparison should be confined to neighbouring societies, which are closely intertwined. For Bloch interconnection was a key to historical comparison.15 This is a heritage, which counts. Moreover, in contrast to the preference for few cases an above mentioned, different type of comparison of many cases emerged, i. e. the historical comparison of the substantial number of countries in international regions such as Europe or Latin America or Africa and in global history comparing several empires or many nations. They were perhaps not sufficiently theorised, but they are done. For studies on international regions multilateral interconnections are also an important dimension on the regional as well as on the global level. On the whole the two contrasting tendencies, the concentrating on two or few cases and the coverage of many countries, does not create conflicts, but make it more difficult to find an overarching definition. Is comparative history falling behind transnational history? Comparative history remains an important historical method. Before all else, the historical comparison simply continues to be done. Important comparative books appear Land and work in Medieval societies, New York 1969, p.44–81 (original French version: Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Revue de synthèse historique 46.1928, p. 15–50); H.-G. Haupt, Comparative history, in: N. J. Smelser u. P. B. Baltes (eds.), International encyclopedia of the social and behavorial sciences, Amsterdam 2002, vol. 4, p. 2397–2403; H.-G. Haupt and J. Kocka (eds.), Comparative and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives, Oxford and New York 2011; T. Welskopp, Comparative History, in: EGO, European history online http://ieg-ego.eu; H. ­Kaelble, Historischer Vergleich. https://docupedia.de / zg / Historischer_Vergleich. 15 M. Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, in: Revue de synthèse historique 46.1928, p. 26 ff.

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on the global level, on the regional level as well as the national and local level. Internationally oriented historians continue to compare. A look at leading journals such as the French Annales, the Italian Ricerche di storia politica, the British Past & Present, the American Historical Review, the German Geschichte und Gesellschaft or a leading digital book review platform such as HSK shows, that comparative articles and books are published continuously or sometimes even more frequently. Among the highly prestigious projects by historians financed by the European Research Council, many projects are comparative.16 Comparison also is not a method of the older generation. Among the current dissertation projects in Germany for instance, a substantial number is comparative.17 So, the actual trend is not in disfavour of historical comparison. To be sure historical comparison is continuously reflected, rethought and redefined as  a method. It changed substantially since the 1970s. It also has lost the character of an adventure, of a new orientation, of a start-up of historical research. However, in the end, it is not on the decline, but a well-established method frequently chosen by established researchers as well as doctoral students. Moreover, historical comparison is an answer to the challenge by the rise of international comparison in politics and in everyday life. International organizations such as the OECD, the European Union, the UNESCO, the ILO, but also national governments push international comparisons in public debates for political goals. PISA for instance, which compares educational national performance across the globe, initiated many political debates and policies. So, did the indirect method of coordination by the EU in various fields of politics. Moreover, rising international professional careers and international travelling stimulate the comparison of the own country with others countries in everyday life. A new challenge for historical comparison emerges. So, historians are asked for explaining the striking differences in educational performance or for making understand the historical reasons for the British Brexit in comparisons with continental Europe or for discussing the historical causes for the differences between the Southern and the Northern part of Europe in tax paying and welfare state. Another challenge for comparative historians is the historical comparison by social sciences. In fact, already during the upswing of historical comparison in the 1970s and 1980s books by historical sociologists and political scientists such as Reinhard Bendix, Barrington Moore, Charles Tilly, Shmuel Eisenstadt, Stein Rokkan and Peter Flora were models and a major encouragement for historians who wanted to compare. Social scientists continue to write the important studies in fields such as the international history of educational opportunities or of chances of health during the 20th century, or the international history of social mobility and elites in the 20th century. At the same time the comparative

16 https://erc.europa.eu/projects_and_results (section SH6 for history and archaeology). 17 http://www.historikerverband.de / nachwuchs / promotio.html.

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research by historians can not be replaced. Historians can give answers which others will not give. Comparisons by historians often include more intensively the historical context. Historians often use sources differently and see the novelty of trends and the rise of new eras in a special way. If comparison by historians would decline, history as a discipline renounces an important scientific potential. As historical comparison is kept, it is part of transnational history for various reasons, which were already put forward in the concept of histoire croisée by Michael Werner and Bénédicte Zimmermann.18 The differences between transnational history and historical comparison are not as large as it is believed now and then. 1. A fundamental trench is seen sometimes between the historical comparison corroborating the construction of the nation and the history of transfers overcoming the framework of national history. But is this trench really so clear? The historian who compares, has to transgress intellectually the borders of his nation, not only because he has to visit foreign archives and read sources with unknown historical notions, but also because he has to understand the research, the special terms and the debates of foreign historians, also the different historical comparisons in other countries. Comparison means immersion in a foreign context. Comparison is to finish, as Marc Bloch put it, »with the endless chat from one national history to the other, without any comprehension, (…) a dialogue between the deaf.«19 Comprehending another country is an opportunity especially in those historical comparisons, which are confined to one or two other countries with a high standard of contextualisation. The immersion into the research of another country often leads to a revised view and understanding of the history of one’s own country. In this way, the historical comparison does not simply lead to  a construction, but often also to  a deconstruction of a locality, a nation or an international region. Hence understanding the other and redefining the self is  a major impetus of historical comparison. This is a similar cognitive process as in the history of transfers, which can deconstruct the nation in showing that many ideas, terms, commodities, persons, which are seen as crucial part of a national culture, in fact came from outside. 2. A second trench is seen between the historical comparison, which is to confront two national cases, and transfer studies which observe the flows and links between countries. Again, this is an oversimplifying caricature. As has been said before, complete historical comparison should not look only for differences, but must also explore commonalities. It also can not neglect interconnections, even if it does not always explore them with the same intensity of archival work. At the same time, a complete history of transfers can not totally neglect the differences between the society of departure and the society of arrival of transfers. Hence, most transfer studies are related to geographic entities, to nations, to regions, to 18 M. Werner and B. Zimmermann, Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory, vol. 45 (2006), p. 30–50. 19 Bloch, Pour une histoire comparée des sociétés européennes, p. 49 (translated by H. K.).

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localities, to civilisations or continents. This is also true for most articles of the Palgrave dictionary of transnational history. One should also not forget, that the most important initial contribution to the history of transfers came from specialists of transfers between two nations, between France and Germany.20 So, the difference between historical comparison and historical transfer studies is not a deep trench in the use of totally different geographical units, but a different accentuation in the use of the same units. 3. In addition  a third important trench is seen in the hybridization, the métissage (Serge Gruzinski), a cultural innovation, which adheres neither to the country of departure nor to the culture of arrival of transfers and which is grasped only by the study of the history of transfers, not by historical comparison.21 To give an example: One can argue that only transfer history will recognize, that the modern welfare state, which was first introduced by the Bismarck government in Germany, became  a hybrid international concept under the influence of the ILO dominated by French experts in the interwar period, and after World War II was taken as a standard model for many countries. This transfer would not be grasped by historical comparison, which normally stresses the national Bismarck continuities of the German social policies. However, what historical comparisons could see are the differences between the concept of the Bismarck insurances and the interwar ILO concept and in addition the consequences of the hybridization, the convergence of the European welfare states, which includes also the German welfare state. Once again transnational history and historical comparison stand not in opposition to each other, but they complement each other in exploring hybridization. 4. Finally transnational history as well historical comparison face traps and perils, which the historian ought to recognize and try to overcome. It is true, comparative history is not simply enlightening and improving the understanding of the other. Like all methods, it also has its shortcomings and errors. Comparisons of entire nations often underestimate the internal differences within nations and hence construct and overestimate national differences. Comparisons might also start from untranslatable national terms and end up in dead ends when applying them in comparison. The erroneous application of the English or German term of university to 19th century France has been mentioned frequently. The main danger: Comparisons of nations can be used for the corroboration of national prejudices and for nationalistic propaganda. But the same is true for the history of transfers of flows of men, ideas and commodities. A history inspired by the positive impact of international flows and transfers might not take into account or misunderstand the refuse of transfers as blind parochialism and might misinterpret enforced and imposed transfers. History of transfers was also misused by governments. One known example is the so 20 M.  Espagne and M.  Werner (eds.), Transferts. Les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988. 21 S. Gruzinski, Les quatre parties du monde. Histoire d’une mondialisation, Paris 2004.

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called »Westforschung« (research on Western Europe), established by the Nazi regime especially during World War II, which was to demonstrate the history of Germanic transfers into the actual France during the middle ages. Reflections on political dangers and scientific fallacies are necessary for all historical methods, for historical comparison as well as for historical studies of transfers.

III. Summary The main argument of this article is that it does not make sense to separate artificially the historical comparison from the investigation of flows and transfers between countries. They are both based on the same motivation of writing history beyond the nation state. They both do not fully give up the nation state as an entity of research, but do not depend on it. They both are approaches which are to be combined in  a complete transnational study. The historical comparison should not be done without exploring flows and interconnection. At the same time the study of flows and interconnections can not be done fully without investigating differences and commonalities. The larger public also is interested in both approaches. It will not understand why differences or flows ought to be excluded. Hence a comprehensive notion of transnational history ought to include comparative methods as well as the study of interconnections.22

22 For a similar view: Pernau, Transnationale Geschichte, p. 53 ff.; H.-G. Haupt and J. Kocka, Comparison and beyond, in: H.-G.  Haupt and J.  Kocka (eds.), Comparative and Transnational History: Central European Approaches and New Perspectives, New York / Oxford 2009, S. 18 ff.; J.  Paulmann, Internationaler Vergleich und interkultureller Transfer. Zwei Forschungsansätze zur europäischen Geschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), p. 649–685; in a special way: Saunier, Transnational history – introduction, p. 11.

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20. Grenzen Überschreiten durch den historischen Vergleich

Überschreiten wir Grenzen, wenn wir international vergleichen? Begeben wir uns in neue Situationen, in denen unsere gewohnten Begriffe und Konzepte in unsicherem, neuem Gelände ins Schwanken geraten, sie umdefiniert werden müssen und wir einen neuen Blick auf das Eigene bekommen? Oder mauern wir uns beim Vergleich ein, weil wir im Vergleich nur das Eigene suchen wollen, den Anderen nur als Projektionsfläche benutzen, das konstruierte Eigene dem konstruierten Anderen gegenüberstellen und damit gleichsam den kleinstmöglichen Grenzverkehr, aber keine Grenzüberschreitungen suchen? Es gibt durchaus den internationalen Vergleich ohne wirkliche Grenzüberschreitung. Wir verfügen in unserer Sprache über Bezeichnungen für Internationales, mit denen keine solchen Grenzüberschreitungen vorgenommen werden: Der Ausdruck der Europäisierung, wie er noch bis vor rund zwanzig Jahren verwandt wurde, konnte in einen Vergleich ohne Grenzüberschreitung hineinführen. Europäisierung bedeutete damals Europäisierung der Welt, also die Verbreitung europäischer Wertvorstellungen, Konzepte und Technologien in der ganzen Welt. Vergleichen hieß, die gewohnten europäischen Konzepte in der Welt außerhalb Europas zu suchen und sich zu vergewissern, dass das europäische Eigene auch außerhalb Europas zu finden war. In einer Weltgeschichte um 1960 wurde dieser Vergleich ohne Grenzüberschreitung besonders radikal so ausgedrückt: »Weltgeschichtliche Betrachtung verlangt etwas anderes als eine möglichst große Zahl von Einzeltatsachen. Ihr Objekt ist nur das universalhistorisch Bedeutsame. (…) Von unserem heutigen Standpunkt aus können wir die Geschichte ganzer Kulturvölker ignorieren, wie beispielsweise die vor­ spanischen Kaiserreiche in Mittel- und Südamerika oder die indischen und ostasiatischen Kulturen.«1 Dieses Verständnis des Ausdrucks Europäisierung ist heute weitgehend aufgegeben, aber in Ausdrücken wie Kolonialismus, Konsumrevolution oder Amerikanisierung kann dieser Vergleich ohne Grenzüberschreitung immer noch fortleben. Alle diese und andere Ausdrücke für weltweite Prozesse können suggerieren, dass ein Konzept an einer Stelle der Welt entwickelt und dann kaum verändert überall auf der Welt übernommen wurde. Der Vergleich besteht dann darin, dass anderswo in der Welt koloniale Herrschaftskonzepte oder Konsum-

1 Karl Meyer, Weltgeschichte im Überblick, Zürich 1961, S. 21

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gegenstände jenseits des europäischen oder amerikanischen Ausgangspunkts gesucht und aufgefunden werden. Allerdings ist der historische internationale Vergleich in der Regel doch grenzüberschreitend, und zwar aus vier Gründen: 1. Historiker sind es gewohnt, in ihrem ureigenen Feld fortwährend Grenzen zu überschreiten. Sie müssen die Grenzen zwischen der eigenen Zeit und der Epoche, die sie untersuchen, passieren. Sie sind es gewohnt, diese Grenze zu reflektieren und zu respektieren, nicht einfach Fragen und Begriffe der Gegenwart auf die vergangene Epoche anzuwenden, sondern die untersuchte Epoche aus ihrem eigenen Kontext zu verstehen. Sie wissen, dass trotz derselben Worte eine Universität, ein Handwerksbetrieb oder eine Familie um 1800 ganz anders funktionierte als eine Universität, ein Handwerksbetrieb, eine Familie um 2000. Historiker kennen auch die Spannungen, die sich aus dieser Grenzüberschreitung ergeben, den Balanceakt zwischen dem Aufwerfen von Fragen der eigenen Zeit und den ganz anderen Grundfragen der fremden, anderen Epoche. Sie sehen sich regelmäßig vor die Frage gestellt, ob sie eher die Begriffe der eigenen Zeit oder eher die Begriffe der historischen Epoche verwenden, die sie untersuchen. Sie haben meist die Erfahrung gemacht, sich in den untersuchten, ihnen fremden, früheren Epochen erst einmal zurechtfinden zu müssen. Das gilt sogar für vergangene Epochen, die Historiker selbst erlebt haben. 2. Historiker sind an Grenzüberschreitungen auch durch ihre Quellenarbeit gewohnt. Sie wissen aus den schriftlichen und bildlichen Quelle, die sie benutzten, dass die historische Sprache und die historischen Bilder andere Bedeutungen haben als in der eigenen Gegenwart, man sich in die Sprache und die Bildzeichen der Quellen eindenken muss und sich dadurch auch der Blick auf die Gegenwart verändern kann. Sie wissen, dass Quellenarbeit Übersetzen im doppelten Sinne des Worts ist, einerseits Übersetzen im Sinne des Dolmetschens, anderseits aber auch Übersetzen im Sinnen des Übergangs an ein anderes Ufer. 3. Historiker sind trainiert, bei internationalen Vergleichen nicht nur einzelne Aspekte einander gegenüberzustellen, sondern auf die unterschiedlichen Kontexte der verglichenen Gesellschaften zu achten. Sie stellen nicht nur die Jahre der Abschaffung der Todesstrafe einander gegenüber, sondern versuchen auch heraus zu bekommen, welche Bedeutung die staatlichen Exekutionen in der Geschichte des Landes besaßen und wie überhaupt Bürger und Staat zu einander stehen, um die unterschiedlichen Kontexte der Todesstrafe und ihrer Abschaffung herauszuarbeiten. Dahinter steht die oft gar nicht mehr überprüfte Vorstellung, dass jedes Land eine Welt für sich ist und deshalb gleiche Sachverhalte unterschiedliche Bedeutungen bekommen, die man erst einmal ausleuchten muss. Der Vergleich bedeutet deshalb für Historiker normalerweise das Überschreiten der Grenze von einer Welt zur anderen Welt. 4. Im historischen Vergleich versuchen Historiker meist erst einmal mit der Methode des Verstehens zu arbeiten und zu begreifen, wie eine andere Gesellschaft funktioniert, welche anderen inneren Spannungen, Konsense und Prioritäten sie besitzt. Zu diesem Verstehen gehört auch, den Austausch zwischen den 320

verglichenen Gesellschaften zu untersuchen, teils um über die Veränderungen von Bedeutungen beim Transfer die Unterschiede zwischen zwei Gesellschaften besser zu begreifen, teils aber auch um sich von Beobachtungen kluger Zeitgenossen über von ihnen erlebte Transfers anregen zu lassen. Diese Methode des Verstehens ist kein Alleinstellungsmerkmal der Historiker. Auch andere Disziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften verwenden diese Methode. Aber sie prägt die Grenzüberschreitung der Historiker im internationalen Vergleich erst einmal. Das schließt nicht aus, dass Historiker im historischen Vergleich auch analysieren und die Gründe für Unterschiede herausfinden versuchen. Es schließt auch nicht aus, dass Historiker über den historischen Vergleich Urteile über bessere oder schlechtere Gesellschaften fällen. Aber ein verständnisloser historischer Vergleich wird bei den Fachkollegen in der Regel auf Kritik stoßen. Die Analyse und das Urteil sollten durch das Bad des vorhergehenden Verstehens gelaufen sein, also durch die Grenzüberschreitung, die auch die eigene Gesellschaft anders aussehen lässt. Insgesamt bedeutet der historische Vergleich zwar nicht immer Grenzüberschreitung, aber die Ausbildung und Tätigkeit als Historiker sichert in der Regel, dass der internationale historische Vergleich am Ende meist doch eine Grenzüberschreitung ist und zu einem neuen Blick auf das Andere und auf das Eigene führt. Der historische Vergleich ist daher ein zentraler Bestandteil der transnationalen Geschichte.

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21. Social history is almost like a public forum. Interview by Bela Tomka

Could you tell us about the start and the major stages of your career? Social history for me always was society with politics left in. I started in the early 1960s as student with  a strong interest in the history of political ideas, constitutional history, and the political decision-making in democracies. I believed that interest groups are  a difficult, but essential part of democracy. Therefore I wrote my dissertation on the largest interest group of industrial firms in Germany before 1914, i. e. on a period in which democracy was still in the making. Writing the dissertation I became convinced as many other young historians during the trente glorieuses that the foundation of stable democracy lies in the society. Hence I was satisfied to work as a social historian and to enter in 1965 a research group on the industrialization in Berlin with a project on the social history of the Berlin business elite 1830–1870, the title of my second book with a comparative chapter on the social origins of the business elites in Europe and the US. This chapter inspired my interest in the history of social mobility in the 19th and 20th centuries and as a consequence also in the history of social inequality, the topics of three books in the 1970s and 1980s. During that time I taught as professor at the Free university of Berlin at the institute for social and economic history with an excellent international library. I had stimulating research stays at Harvard University (1972–73), at the St. Antony’s College Oxford (1976) and at the Maison des Sciences de l’Homme in Paris (1978). In the early 1980’s, in the time of the eurosclerosis, I started to work on the topic, which fascinates me until today, the emergence of  a European society, with  a research stay in Rotterdam and numerous research stays in Paris. I wrote a book on the West European society between 1890 and 1980, another book on the comparative history of French and West German society since the late 19th century, and a third book on the representations of European society by Europeans since the late 19th century. After the fall of the wall and the politicization of Europe during the 1990s and the early 2000s, when I moved to a chair for social history at the Humboldt University, I enlarged the scope of my study of European society in including the Eastern part of Europe. This was one reason why I took part, together with Jürgen Kocka, Holm Sundhaussen and Manfred Hildermeier, in the foundation of the centre for comparative history of Europe (Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, later Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas), which promoted the comparison between Eastern and Western Europe. It helped 323

me very much in writing two syntheses of the history of entire Europe, the history of European society since 1950 and the general history of Europe between 1945 and 1989. For obvious reasons my interest in democracy reemerged. I wrote a book on the democracy in Europe during the 19th and 20th centuries. Moreover, I started in this period to reflect more intensively on the method of comparison. I published a small book for students on the historical comparison, a contribution to the vivid debate on that topic. For the same reason I participated in the direction of a doctoral school on historical comparison besides the research centre which I just mentioned. The fall of the wall also opened our eyes for the world outside the North Atlantic space. Hence I became much interested in global history and initiated in 2004 a research centre on representations which brought together experts of regional studies of Africa, the Near East, Central Asia, East Asia, South Asia, and Latin America. I never made it to write a book on global social history, because the administration of this research centre together with the other centers took much of my time. After my retirement in 2008 I continued to teach at the Humboldt University as senior professor. I also was stimulated by the recent European crisis to work on the history of crisis of European integration, on the sometimes difficult, but much needed and appreciated cooperation between France and Germany, on the rising social inequality, and also on the new challenges and critiques of the welfare state, an important European particularity. What were the most important intellectual and other influences that directed your research and who were those teachers / scholars who had the most significant impact on your work? Remembering the influence from others is always arbitrary. I remember that I was influenced by five groups of scholars: (1) by scholars in exile during the Nazi period, who either came back to Germany or visited Germany regularly, especially the social historian Hans Rosenberg and the political scientist Ernst Fraenkel; (2) by the generation of historians who started their career after World War II, who became professor in an early age and who were very open towards the Anglo-Saxon scientific world, especially Gerhard A. Ritter, an early comparativist, who supervised my dissertation in 1966, and the two evaluators of my habilitation in 1971, Wolfram Fischer, an economic historian, and Rudolf Braun,  a social and cultural historian, also more on geographical distance Hans-Ulrich Wehler; (3) by comparative social scientists, mostly American, such as Charles Tilly, Reinhard Bendix, Karl Deutsch, and Peter Flora, (4) by French historians such as Fernand Braudel, René Girault, Maurice Aymard, Christophe Charle, Etienne François, Michael Werner, Robert Frank, Patrick Fridenson; (5) also by the colleagues and friends of my own generation with whom I worked together in running research centers in Berlin such as the historian Jürgen Kocka, the ethnologist Georg Elwert, the sociologist Martin Kohli, the social scientist Jürgen Schriewer, the historian of the USSR Jörg Baberowski, the political scientist Herfried Münkler, the ethnologist Wolfgang Kaschuba, the 324

historian of the Near East Ulrike Freitag, the historian of Africa Andreas Eckert, and the historian of South East Asia Vincent Houben. When did you turn to historical comparisons? In the late 1960s, when the history in Germany became again more open towards the international research after the self-isolation during the Weimar period and the Nazi period. [Could you add some more sentences to this answer? It would be interesting to hear about the distinct approaches you and your colleagues applied to comparisons, how you assess the achievements of comparative historians in Germany and elsewhere etc.] In retrospective I remember three motivations for comparative research with the West in the late1960s. A first motivation was political. We had the impression that we could explore the origins of the Nazi seizure of power, a hot topic for historians since the early 1960s, only by comparing Germany with the stronger and more solid long-term democratic traditions in Western countries, especially with Britain, France, Scandinavia, and with the US. We were perhaps too optimistic and naive in believing to find good answers in the comparison with the liberal West, but this was an inspiring idea for research. A second motivation was more scientific. Since my participation in the research group on early industrialization in Berlin, I was continuously confronted with and finally convinced by the idea that the rise, backwardness or total lack of industrialization and industrial societies can be analysed only by comparing contrasting cases. It is not astonishing that this idea looked particularly convincing working on a regional project. I also had the privilege to work with a very good international library on social and economic history with an impressive budget at the Free University of Berlin and to meet many visiting scholars from other countries. Very few universities in Germany had international libraries with this quality in my field and this intensive exchange with foreign guests. For all these reasons I did not find it attractive to continue to work exclusively on German history. You were the co-founder and one of the directors of the Centre for Comparative History of Europe (Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, ZVGE) in 1998 and the succeeding Berlin College for Comparative History (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas, BKVGE) which has qualified as one of the major centres of comparative historical research for  a long period of time. The BKVGE, however, ceased to exist some years ago. Was this fact a result of a changing place of comparative history in German academic life? Not really. The main goal of the BKVGE was the stimulation of historical comparisons between Eastern and Western Europe. It was successful, since the idea was taken over by other scholars. Because of the success the BKVGE lost its uniqueness. Hence unfortunately foundations did not continue to finance the centre for a new generation of directors after our retirement. At the same time, I 325

do not see a decline of comparative studies in the practical research in Germany. In a leading journal like Geschichte und Gesellschaft the number of comparative articles even rose in the 2000s compared to the late 20th century. The social integration of Europe, that is, the problem of convergences and divergences on the continent, has become a major focus of your research since the 1980s. What were the most significant trends in 20th century Europe in that respect? A core topic of the research on the social history of European integration is in fact the divergence of European societies during the 19th century until the middle of the 20th century and the convergence since the 1950s, first separately and in very different ways in the Western and Eastern part of Europe, and then as a common convergence of both parts of Europe since the 1990s. Before 1990 this was an unplanned, unintended and often even unobserved social integration by policies from above and by civil societies in Western Europe, and a planned, intended, highly regulated, and more opposed social integration from above in the Soviet empire. Several questions are open for further research in my view: (1) How deep was the divide between societies in the Western and Eastern part of Europe between 1945 and 1989 or did the rivalry of Cold War also lead to convergences, an old question? (2) Who exactly were the actors of social integration in governments, administrations, civil societies, and business firms? How can we explain the unplanned, unintended and often even unobserved, but effective and lasting social integration in Europe? (3) What was the impact of the short lived, failed, violent, repressive, racist social integration and disintegration by the Nazi regime in the occupied European countries: did it become a major cause for the totally different social integration in Western Europe or are there important continuities? (4) Is social integration of Europe a peculiar development without any parallels in history or has it imperial characteristics, either as part of a larger American empire, or as an empire of its own with many parallels to investigate for historians in European empires in the past? Social integration as a complement to political and economic integration of Europe always was more than the reduction of structural social divergences of European societies. Important further aspects of social integration were the international social interconnections by migration, by travelling, by communication, by exchange of ideas, by international organisations and movements, by marriage, by knowledge of foreign languages and translations. Social integration also always had much to do with the encounters between Europeans from different countries in very different ways, and important and often ­neglected topic. Social integration also always consisted of the representation of European society by Europeans, also the dialog on European society with nonEuropeans. During the crisis in recent years we learned that a neglected topic of social integration is the awareness of mutual interdependence and the solidarity. We might investigate more the historical change of solidarity reaching from the international solidarity between individuals, to the institutional solidarity 326

organised by the European Union and its precursors since the beginnings of European integration in the 1950s. This research might be motivated by the irritating actual contradiction between the strong supports by Europeans for international solidarity between members of the European Union shown in social science research and by the highly controversial public debate on financial transfers in the actual European crisis. How do you assess the impact of the present crisis on these developments? This question seems to be quite relevant since many observers think that the crisis affects European integration as well. So can we also talk about the crises of European social integration? So far I do not see an opposite trend towards rising social divergences and hence towards European structural social disintegration since the beginning of the crisis in 2008. The convergences continue. The divergences in hot topics such as unemployment or social expenditures for instance are now rather smaller, not larger than in the 1980s. But what has changed quite dramatically during the recent crisis is the evaluation of social divergences. Economists often argue that the economic and social divergences within the Euro zone are too large and dangerous for a common currency. They usually do not take into account that divergences are mostly as large in the US and much larger in other big currency zones such as China, India, Brazil or Russia. In addition in the heavy disputes between Northern and Southern European media and politicians social divergences are often used for attacking the other side. In the Northern part of Europe, social divergences in high social expenditures, in the early age of retirement, in excessive numbers of state employees or in nepotism are seen as major deficits of Southern European societies. These Northern critiques are not always based on solid facts. Even if they are so, these factual divergences are not new. But they are seen in a different way because of the conflict between different regional interests about the financial politics of the European Union and the new awareness of mutual dependency of the Union members. Southern Europe is now seen by Northern Europeans as deviant and not any more as excitingly exotic. This type of regional interest conflict is normal in national politics, but new on the European level and hence frightening for many people. For these reasons I see a new situation for history experts of European convergences and divergences: they work in a much more politicized context than before and I personally see a new task in warning of excessive interpretations of social divergences in Europe. How do you see the current situation of social history in Europe? It is an important part of history. A substantial number of dissertations – in Germany about a fourth to a third depending on the definition of the field – are written in social history. At the same time social history is not a much formalized professionalised subdiscipline of history. There are very few chairs in social history, very few leading institutes, and few organisations such as the International 327

Social History Association, few regular gatherings, various journals, but few recent syntheses and no generally accepted definition of the field. Social history is almost like a public forum, which historian visit during parts of the career, but in which few historians work permanently. Social history has changed strongly since the 1960s when I joined the field. It is not any more primarily a history of social classes and, and in addition, which is often forgotten, a history of the family and the welfare state as in the 1960s. Today social history is thematically a much diversified field and has no common hot topics. A simple definition of the field has become extremely difficult. I would see three major dimensions: the history of social inequality in a broad sense; the history of the pillars of life such as family, work, consumption, values and representations; and the history of the interaction between society and politics. But this is a personal view besides many others. Social history now is also less theoretically oriented, less influenced by sociology, less quantitative than in the 1960s, but perhaps more interdisciplinary. It is now closer to the new cultural history, has much profited from this vicinity, but it is unfortunately more on distance towards economic history than in the 1960s. Social historians in the 1960s were particularly happy, as Eric Hobsbawm put it in his memoirs. Social history was an attractive, innovative, exciting, new field opposing mainstream history. Today social history is an established field, still exciting and hopefully innovative, but not with particular happiness. Does the advance of global history and the related broader approaches have  a significant impact on the discipline of social history in Europe and worldwide? I wish it does so, since social history was more tied to the national or the local framework than economic history and also political history with its diplomatic history branch. Hence global history is a particular challenge for social history. This might be  a reason why the international association for social history came so late. I do not expect a large number of historians, writing on global social history. In the best case I expect three impacts. I hope for the inclusion of more global perspectives in national and local studies. Moreover I would expect more exchange between social historians of non-European regions and social historians of European countries. This exchange does not happen automatically. It much depends on institutions, history departments, research centres, institutes for advanced studies, doctoral schools, in which experts of different regions work together. This exchange could make more clear what categories such as the »European century«, i. e. the long 19th century, actually mean for non-European countries und how Europe was influenced by non-­ European societies and vice versa. Finally I hope that this cooperation will not simply emerge between experts with European and American passports, but will be also an encounter between historians originating from different regions of the world.

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You have written several historical syntheses for the past couple of years. What are your further scholarly plans? If time and health is given to me, I want to write syntheses on the history of social inequality in 20th century Europe, on the history of the welfare state in Europe since the late 19th century, on the social history of European integration and on the history of 20th century Europe in general.

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Verzeichnis der ersten Druckorte 1. Sozialgeschichte in Frankreich und Deutschland. »Annales« gegen Historische Sozialwissenschaft?, in: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 77–93. 2. Französisches und deutsches Bürgertum, 1870–1914, in: J.  Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1, München 1988, S. 107–140. 3. Die Annäherung der Wohlfahrtsstaaten in Frankreich und der Bundes­ republik im Vergleich zu den USA während der 1960er Jahre, in: J. Großmann u. H. Miard-Delacroix (Hg.), Deutschland, Frankreich und die USA in den »langen« 1960er Jahren, Stuttgart 2018, S. 71–81. 4. Artikel »Famille / Familie in Frankreich und Deutschland«, in: R. Picht u. a. (Hg.), Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert, München 2002, S. 87–92 (© 1997 Piper Verlag GmbH, München). 5. Soziale Ungleichheit in Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert, in: J. Leonhard (Hg.), Vergleich und Verflechtung. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 221–240. 6. Die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland seit 1945, in: Frankreich-Jahrbuch 2008, S. 133–150. 7. Les relations franco-allemand de 1945 à nos jours, Ostfildern 2004. 8. Social History of Europe. EOLSS 6.97.38 (2015) (deutsche Originalfassung). 9. The 1970s in Europe. A period of disillusionment or promise? German Historical Institute London. The Annual Lecture, London 2010. 10. Die Gesellschaften der Europäischen Union: Zusammenwachsen und Krise 1957–2017, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften 15 (2017), S. 156–172. 11. Société de classes, lutte de classes: écho du passé, in: E.  Francois u. Th. Serrier (Hg.), Europa. Notre histoire, Paris 2017, S. 433–439. (deutsch in: E. Francois u. Th. Serrier (Hg.), Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte, Darmstadt: wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2019, S. 459–466) (deutsche Originalfassung). 12. Geschichte des Wohlfahrtsstaates in Europa seit 1945, in: Sozialer Fortschritt 61 (2012), Heft 5, S. 79–85. 13. Geschichte des sozialen Europa. Erfolge oder verpasste Chancen?, in: G. Metzler u. M. Werner (Hg.), Europa neu gesehen / L’Europa revisitée: Geistes- und Sozialwissenschaftliche Einblicke / Regards croisés des sciences humaines et sociales, Campus Frankfurt, vorauss. 2020. 14. Abmilderung der sozialen Ungleichheit? Das westliche Europa während des Wirtschaftsbooms der 1950er und 1960er Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 591–609. 331

15. Educational opportunities and government policies in Europe in the period of industrialization, in: P. Flora u. A. Heidenheimer (Hg.), The development of welfare state in Europe and America, London 1981, S. 239–244 (Ausschnitt). 16. History of social mobility, in: Encyclopedia of Social and Behavioral Sciences, Amsterdam 20152, S. 426–429. (Reprinted with permission from Elsevier.) 17. Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: H. ­Kaelble u. J. Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2003, S. 469–493. 18. Historischer Vergleich, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 14.8.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Historischer_Vergleich?oldid=}7 Version: 1.0. 19. Transnational and comparative history, in: Ricerche di storia politica, special issue, Okt. 2017, S. 15–24. 20. Grenzen Überschreiten durch den historischen Vergleich, in: A.  Fickers u. a. (Hg.), Jeux sans frontières. Grenzgänge der Geschichtswissenschaft, Bielefeld: transcript 2017, S. 157–160. Wiederverwendung mit Genehmigung durch den transcript Verlag. 21. Social history is almost like a public forum. Interview with Bela Tomka, in: ISHA (International Social History)-Newsletter vol. 3 (2013) No. 2, S.13–17.

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