Einübung in die Ewigkeit: Julius Kaftans eschatologische Theologie und Ethik 9783666563515, 9783525563519, 9783647563510

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Einübung in die Ewigkeit: Julius Kaftans eschatologische Theologie und Ethik
 9783666563515, 9783525563519, 9783647563510

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz

Band 124

Vandenhoeck & Ruprecht

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Christina Costanza

Einübung in die Ewigkeit Julius Kaftans eschatologische Theologie und Ethik

Vandenhoeck & Ruprecht

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Meinen Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56351-9

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zur Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Julius Kaftan: Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Julius Kaftan in der theologischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. „Ruhelos ist unser Herz …“ – Das eschatologische Wesen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Das Wesen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Frage nach dem Wesen der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das Verlangen nach Leben und seine Grenzen . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 „Alle Lust will Ewigkeit“ – Das Verlangen nach dem höchsten Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.2.4 Gott und das höchste Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2.3 Die christliche Religion: Das Reich Gottes als höchstes Gut . . . . 72 77 2.3.1 Protestantisches Schriftprinzip und neutestamentliche Theologie 2.3.2 Das Wesen des Gottesreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.3.3 Die Wirklichkeit des Gottesreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.3.4 Die Teilhabe am Gottesreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.3.5 Dogmatischer Ertrag: Eine evangelische Erlösungslehre . . . . . . 106 2.4 Fazit: Religion und Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3. „Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Hinführung: Moral ohne Gott? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Konflikt und Korrelation: Zum Verhältnis von Religion und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Das Verhältnis von Religion und Moral: Eine Typologie . . . . . 3.2.2 Die Geschichte der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Erziehung zur Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Christentum als ethische Erlösungsreligion . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Das Reich Gottes als höchstes sittliches Gut . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Sünde und Sündenvergebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Die Rechtfertigungslehre als kritisches Prinzip des

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Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

3.3.4 Gott und das Werden der menschlichen Persönlichkeit . . . . . . . 210 3.4 Fazit: Das höchste Gut und das gute Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . 232

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Inhalt

4. „Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube . . . . . . . . . . . 4.1 Das Wesen der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Kirche als Reich Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Der Glaube an die Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Die Kirche als Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Der Grund der Kirche und der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Die Gleichursprünglichkeit von Kirche und Glaube . . . . . . . . . . 4.2.2 Glaube als Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Glaube und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Glaube und die Einheit des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Glaube als geistige Selbstbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.6 Glaube und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der Auftrag der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Kirchliches Handeln als Erziehung zum Glauben . . . . . . . . . . . 4.3.2 „Das neue Dogma“ – Zur kirchlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . 4.4 Fazit: Erlösung und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Schriften Julius Kaftans in chronologischer Reihenfolge . . . . . . . . . . 357 Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370

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Vorwort

Religion ist die Suche des Menschen nach dem, was ihn im Angesicht von Sterben und Tod leben lässt. So lässt sich Julius Kaftans Antwort auf die Frage, was Religion eigentlich ist, zusammenfassen. Der Versuch, vor diesem Hintergrund das Wesen der christlichen Religion zu beschreiben, führt Kaftan mitten hinein in die christliche Eschatologie und stellt deren zentrale Bedeutung für den Glauben deutlicher heraus, als dies für einen der klassischen Vertreter des sogenannten Kulturprotestantismus zu erwarten gewesen wäre. Dabei ist das Bemerkenswerte an Kaftans Wesensbestimmung der christlichen Religion, dass sie Eschatologie und Ethik – die Hoffnung auf Erlösung von der Welt und die Herausforderung zur Gestaltung der Welt – untrennbar zusammendenkt. Diesem eschatologisch-ethischen Denken Kaftans und damit der Frage, wie gerade der christliche Glaube an ein ewiges Leben ethische Weltgestaltung begründet, geht die vorliegende Arbeit nach. Sie entstand als Dissertation an der Theologischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen, eingereicht im Februar 2008 unter dem Titel Einübung in die Ewigkeit. Zum Verhältnis von Eschatologie und Ethik in der Theologie Julius Kaftans (Rigorosum am 28. Mai 2008). Angeregt wurde sie durch Frau Prof. Dr. Christine Axt-Piscalar, an deren Lehrstuhl ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet habe. Mein herzlicher Dank an Frau Prof. Dr. Axt-Piscalar bezieht sich allerdings nicht nur auf die mir so ermöglichte Finanzierung der Promotionszeit, sondern vor allem darauf, dass die gut vier Jahre des Lesens und Schreibens nicht in Isolation geschehen sind, sondern in einer inspirierenden und oft auch geselligen Atmosphäre geistigen Austauschs am von ihr geleiteten Institut. Ich danke Frau Prof. Dr. Axt-Piscalar besonders für die konstruktive Begleitung der Arbeit, für die Erstellung des Erstgutachtens sowie für das Verständnis, das ich als Mutter zweier kleiner Kinder von ihr erfahren habe. Ihr und Herrn Prof. Dr. Gunther Wenz danke ich außerdem für die Aufnahme der Arbeit in die Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie. Zum erwähnten inspirierenden und geselligen Arbeitsumfeld haben neben Frau Prof. Dr. Axt-Piscalar meine „Doktorbrüder“ Herr Claas Cordemann, Herr Dr. Alexander Heit, Herr Bernhard Knoblauch und Herr Wolf Leithoff beigetragen. Ihnen danke ich manch anregendes Gespräch und manch hitzige Diskussion über theologische Fragen sowie hilfreiche Rückmeldungen zu meiner Arbeit.

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Vorwort

Der Austausch im Doktorandenkolloquium der Fakultät wurde für mich durch Herrn Prof. Dr. Joachim Ringlebens Engagement bereichert, dessen Rückfragen und Impulse meine Arbeit an vielen Stellen weitergebracht haben. Ihm danke ich außerdem herzlich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Für theologischen Austausch und freundschaftlich-kollegiale Beratung danke ich weiter den Kollegen und Kolleginnen im Doktorandenkolloquium sowie Frau Dr. Susannah Ticciati und Herrn Dr. Burkhard von Dörnberg. Frau Miriam Hesse sei Dank für die Durchsicht der Druckvorlage. Dass ich diese Arbeit überhaupt zu Ende schreiben, einreichen und zur Veröffentlichung bringen konnte, beruht zu einem großen Teil auf der Unterstützung durch Vertreter der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Die Landeskirche hat mich zwei Jahre lang über die Repetentinnenstelle am Institutum Lutheranum Göttingen (Lehrstuhl Prof. Dr. AxtPiscalar) gefördert sowie einen erheblichen Teil der Druckkosten getragen. Die Förderung wissenschaftlichen Arbeitens durch die Landeskirche fand auch Ausdruck im Verständnis meiner Mentoren im Vikariat, Frau Jutta Guntau und Herr Jürgen Kemper. Sie haben der Vikarin Zeit am Schreibtisch und in Bibliotheken eingeräumt, wofür ich ihnen danke. Von Herzen danke ich schließlich meinem Mann, dass er manch nervenzerreibende Schreibphase geduldig ertragen hat – und vor allem dafür, dass er mit mir die sehr anstrengende und sehr glückliche Arbeit des Kinderhabens teilt, so dass ich Zeit für Vorhaben wie dieses Buch finde. Mein tiefster Dank freilich gebührt meinen Eltern. Ihr Beitrag zu der vorliegenden Arbeit reicht weit hinter einen großzügigen Zuschuss zu den Druckkosten sowie das regelmäßige Betreuen der Enkelsöhne zurück und beginnt dort, wo ich begonnen habe, die Welt zu begreifen. Ihnen sei diese Arbeit deshalb gewidmet. Hannover, im Juli 2009

Christina Costanza

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1. Einleitung Einleitung Zur Fragestellung

1.1 Zur Fragestellung „Ein moderner Theologe sagt: das eschatologische Bureau sei heutzutage zumeist geschlossen“, so meint Troeltsch in seinen als Glaubenslehre veröffentlichten Vorlesungen einen Konsens der Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts wiedergeben zu können. Die Themen der Eschatologie und die Eschatologie als Ganze könnten dem modernen Menschen nicht als genuiner Ausdruck des eigenen Selbst- und Weltverständnisses begreifbar gemacht werden.1 Ein halbes Jahrzehnt später stellt von Balthasar in seiner Einführung in die Eschatologie fest, das „eschatologische Bureau“ mache „seit der Jahrhundertwende Überstunden“.2 Diese Wiedereröffnung, das heißt: die Wiederentdeckung der Eschatologie als zentralen Themas der modernen christlichen Theologie wird gemeinhin in den durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Krisenerfahrungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verortet,3 und ohne Frage ist sowohl für das Ausmaß an theologischer Beschäftigung als auch für die existentielle Kraft der theologischen Sprache für diese Zeit eine Hoch-Zeit der Eschatologie festzustellen. Mit dem Zusammenbrechen der kulturellen, gesellschaftlichen und staatlichen Welt des 19. Jahrhunderts wurde auch die bezeichnenderweise als Kulturprotestantismus4 verstandene einflussreiche Theologie der vermittelnden und der ————— 1 Ernst TROELTSCH, Glaubenslehre, nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, München/Leipzig 1925, 36. 2 Hans Urs von BALTHASAR, Eschatologie, in: J. Feiner/J. Trütsch/F. Böckle (Hg.), Fragen der Theologie heute, Einsiedeln 1957, 403–421, hier 403. Vgl. zum eschatologischen Denken im 20. Jh. den Überblick Christoph SCHWÖBEL: Die Letzten Dinge zuerst? Das Jahrhundert der Eschatologie im Rückblick, in: ders., Gott in Beziehung. Studien zur Dogmatik, Tübingen 2002, 437–468. 3 Vgl. z.B. Hermann FISCHER, Systematische Theologie. Konzeptionen und Probleme im 20. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 1992, 20–46, 60–67; SCHWÖBEL, Eschatologie, 441. 4 Bekanntlich ist für den Begriff Kulturprotestantismus weder eindeutig ein Urheber noch eine klar umrissene Gruppe von Bezeichneten auszumachen (vgl. Manfred SCHICK, Kulturprotestantismus und soziale Frage. Versuche zur Begründung der Sozialethik, vornehmlich in der Zeit von der Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges (1890–1914), Tübingen 1970, 1; vgl. zur allerdings fraglichen Herleitung aus der Polemik der Dialektischen Theologie Hermann TIMM, Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht Ritschls und Wilhelm Herrmanns. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des Kulturprotestantismus, Gütersloh 1967, 13). Hier wird er einfach als Bezeichnung derjenigen theologischen Richtungen verwendet, welche – vor allem in der Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs – die Vermittlung zwischen christlichem Glauben und moderner Kultur als wesentliches theologisches Anliegen

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Einleitung

liberalen Richtungen in Frage gestellt. Die Nachkriegstheologie stößt sich von jenen Richtungen bekanntlich dadurch ab, dass sie ausdrücklich nicht die selbsttätig-freiheitliche Gestaltung der Welt durch den Menschen als Thema der Theologie begreift, sondern die Konfrontation des menschlichen In-der-Welt-Seins durch die göttliche Wirklichkeit. Die Eschatologie als die klassische Lehre von den letzten Dingen, das heißt: von der christlichen Hoffnung auf die zukünftige Vollendung des Menschen und der Welt durch Gott, rückt damit in eine prinzipielle Stellung ein und wird in einem umfassenden Sinne verstanden. Sie thematisiert, wie die Wirklichkeit Gottes als totaliter aliter der Weltwirklichkeit diese – je nach Konzeption – hic et nunc durchwirkt oder durchbricht. Für das 19. Jahrhundert und insbesondere für die so genannte Schule Ritschls als eine der prägenden Größen dieses Jahrhunderts wird hingegen zumeist festgestellt, was Troeltschs Ansage der verminderten Öffnungszeiten des „eschatologischen Bureaus“ zum Ausdruck bringt: Die Eschatologie werde als Schlusskapitel oder gar Anhängsel der Glaubenslehre marginalisiert oder aber trete in der transformierten Gestalt einer Besinnung auf die Zukunft der Menschheit auf. Als letztere sei sie stärker vom Entwicklungsund Fortschrittsdenken als von den klassischen Hoffnungsbildern der christlichen Eschatologie bestimmt und rücke dementsprechend das menschliche Handeln in den Vordergrund oder invertiere die Transzendenz der Vollendung in die weltimmanente Wirklichkeit.5 Und in der Tat ist es bei Ritschl als dem großen Vertreter des so genannten Kulturprotestantismus wie bei seinem berühmtesten Schüler Herrmann die Ethik als eine Theorie endlicher Freiheit und Weltbewältigung, welche sowohl die Exposition der theologischen oder religionstheoretischen Problemfelder als auch die Durchführung der theologischen Konzeption – einschließlich der Symbole christlicher Hoffnung wie vor allem der Gottesreichsvorstellung – bestimmt. Angesichts der Bedeutung, welche das ethische Thema in der Ritschl-Schule und von dort ausgehend in der liberalen Theologie der Jahrhundertwende einnimmt, fällt der Abbruch überdeutlich auf, welchen die Krisenerfahrung des Ersten Weltkriegs in der Theologiegeschichte darstellt. So gewinnt der ————— betrachten. Dass als herausragendes Exempel für eine solche Theologie gerne A. Ritschl angeführt wird (vgl. SCHICK, Kulturprotestantismus, 2f und dann 15–32; weiter TIMM, Theorie und Praxis, 13 und dann 29–87), ist an anderer Stelle zu diskutieren, begründet aber, warum auch Kaftans Theologie auf ihre kulturprotestantischen Elemente hin befragt wird. Vgl. zu den Fragestellungen des so genannten Kulturprotestantismus insgesamt den Aufsatzband: Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, hg. v. Hans Martin MÜLLER, Gütersloh 1992. 5 Vgl. SCHWÖBEL, Eschatologie, 438–441 zur „Wende zur Zukunft“ (a.a.O., 438 und 441; Hervorhebung von C.C.), welche das Selbst- und Weltverständnis im 19. Jahrhundert im Unterschied zu den vorangegangenen, durch die Beziehung auf eine jeweilige Überlieferung bestimmten Epochen ausmacht und damit die Eschatologien des 20. Jahrhunderts vorbereitet.

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Zur Fragestellung

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eschatologisch durchwirkte Neuansatz der Nachkriegstheologie, insbesondere der so genannten Dialektischen Theologie, ein scharfes Profil.6 Vor dem Hintergrund dieser theologiegeschichtlichen Rekonstruktion ist es überraschend, dass Julius Kaftan, üblicherweise und nicht ohne Grund als Vertreter der Ritschl-Schule verstanden, ein Gesamtwerk vorlegt, welches durchgängig von einer Rhetorik der Weltkritik und Kulturskepsis geprägt ist,7 und welches, so die These dieser Arbeit, die Eschatologie als Leitgedanken der Dogmatik und als Bestimmungsgrund der Ethik entfaltet. Sowohl der dezidiert religionstheoretische Ansatz, die Wesensbestimmung des Christentums als auch die dogmatische Durchführung der christlichen Theologie Kaftans zeigen, dass die Frage nach den letzten Dingen, freilich in bestimmter Weise verstanden, die Grundfrage aller Religion ist und von ihrer spezifischen Beantwortung her die christliche Dogmatik und Ethik zu entwerfen sind. Kaftan legt allerdings keine ausformulierte endgeschichtliche Eschatologie oder Jenseitseschatologie vor, wie denn auch bei ihm die Eschatologie rein äußerlich als Schlusskapitel der Dogmatik nur knapp umrissen wird.8 Aber es kann gezeigt werden, dass Kaftan das Wesen des christlichen Glaubens vom Bewusstsein der Gegenwart des Ewigen in der Zeit – oder eher: vom Bewusstsein des Enthobenseins aus der Zeit in ————— 6 Das hier skizzierte theologiegeschichtliche Modell zeigt sich in typischer Form bei Ulrich SAMSE, Der Zusammenhang von Eschatologie und Ethik bei Paul Tillich, Bonn 1980. So meint Samse: „Unsere Fragerichtung weist […] auf die theologische Diskussion der zwanziger Jahre, die in ihrem radikalen Bruch mit dem Kulturprotestantismus und dessen im wesentlichen immanent orientierten Geschichts- und Ethikverständnis zu einer völligen Neuorientierung aufbrach im Blick auf das menschliche Selbst-Welt-Verständnis angesichts der göttlichen Wirklichkeit.“ (A.a.O., 1; vgl. 78.) 7 So schreibt Kaftan über seine religiös-theologische Grundhaltung, durch welche er sich in gewisser Nähe zur pietistischen Frömmigkeit weiß: „Ich weiß aus eigenster Erfahrung, daß man gegen vieles, was sie [manche Denker der Gegenwart] in der modernen Welt ungeheuer wichtig nehmen und als ein erhabenes Kulturinteresse preisen, in der Gefolgschaft des himmlischen Meisters recht gleichgiltig wird. Ist das kulturfeindlich? Nun, dann sind wir eben Kulturfeinde. Aber ehe ihr tadelt – vergeßt nicht, daß der Herr und seine Apostel sich gar nichts aus der Kultur gemacht haben: ihr werdet diesen Zug mit aller Kunst nicht aus dem Evangelium zu tilgen vermögen. […] Ich lobe mir nur die Weltoffenheit, die sich zur rechten Zeit in entschlossene Weltverneinung zu wandeln weiß.“ (Ders., Ein neues Dogma, 23f. – Zitate Kaftans werden in der ursprünglichen Schreibweise wiedergegeben.) In seiner späten Selbstdarstellung (posthum erschienen in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 4, hg. v. E. Stange, Leipzig 1928, 1–32 [= 201–232]) betont Kaftan gegenüber Missverständnissen seiner frühen programmatischen Schrift Die Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben (Basel 1879), dass der Titel keinesfalls „eine Anpassung des Evangeliums an das moderne Geistesleben“ (ders., Selbstdarstellung, 218) ankündigt: „Gerade im Gegenteil: als die herrschenden Mächte in ihm [dem modernen Geistesleben] bezeichne ich diesseitige Kulturseligkeit und Autoritätslosigkeit, im Gegensatz dazu solle die Predigt des Evangeliums das ewige Leben und den Gehorsam des Glaubens verkündigen.“ (Ebd.) Zur positiven Bedeutung der evangelischen Predigt für den Selbstvollzug und das Weltverhältnis des modernen Menschen nach der programmatischen Frühschrift vgl. unten Kapitel 4. 8 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 662–673 („Siebentes Lehrstück: Von der christlichen Hoffnung“).

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Einleitung

die Ewigkeit – her bestimmt und damit die Eschatologie als Prinzip der Theologie entwirft. Grundlegend für jene Denkfigur – welche eben bewusst in terminologischer Anlehnung an die so genannte Dialektische Theologie formuliert wurde,9 weil sie deren unterschiedliche Konzeptionen in gewissen Zügen vorweg nimmt –, ist die Aktualisierung der urchristlichen Endzeitfrömmigkeit als wesentliches Moment auch des gegenwärtigen Frömmigkeitsbewusstseins. Durch diese Aktualisierung gewinnt Kaftan ein besonderes Profil in der Debatte um die neutestamentliche Theologie, wie sie durch die exegetischen Arbeiten Weiß’ und Schweitzers ausgelöst und durch die Religionsgeschichtliche Schule weiter genährt wurde. Im Unterschied zu Weiß und Schweitzer zieht Kaftan aus der Einsicht in den radikal eschatologischen Charakter der Gottesreichverkündigung Jesu aber „konstruktive[...] Schlussfolgerungen“10 für die Theologie, indem er das Wesen des Christentums im positiven Anschluss an die eschatologische Gottesreichpredigt Jesu entfaltet.11 Kaftans Religionstheorie und Theologie ist nun freilich weiterhin dadurch bestimmt, dass er wie Ritschl und die meisten anderen der RitschlSchule zugerechneten Theologen die Besonderheit – und soviel sei vorweg genommen: die Vollkommenheit – der christlichen Religion in dem spezifischen Weltverhältnis sieht, in welches der Glaubende qua Glauben eingestellt wird. Auch für Kaftan ist die christliche Religion die vollendet ethische Religion. Damit aber stellt sich ihm das Problem der Vermittlung von Eschatologie und Ethik in besonderer Weise, und eben hierin ist seine Theologie bleibend interessant. Denn die systematische Theologie – nicht erst in der Moderne, aber seitdem in radikaler Weise – steht vor der Herausforderung, die absolute Bestimmtheit menschlicher Existenz durch die göttliche Wirklichkeit, welche durch die eschatologische Theologie in ihren ————— 9 Vgl. Paul TILLICH zum Durchbruch des „Unbedingten“ in die historischen Bedingtheiten (ders., Eschatologie und Geschichte, ChW 1927, 1034–1042, hier: 1039), Rudolf BULTMANN zum entweltlichenden „Augenblick“ der Begegnung mit der göttlichen Entscheidungsforderung (ders., Theologische Enzyklopädie, hg. v. E. Jüngel/K.W. Müller, Tübingen 1984, z.B. 47–50; ders., Die Eschatologie des Johannes-Evangeliums [1928], GuV I, 134–152) und Karl BARTH zu der Konfrontation der Zeit mit dem Ewigen im Christusgeschehen (ders., Der Römerbrief, Bern 1919, v.a. 218–263). 10 SCHWÖBEL, Eschatologie, 442. 11 Dass damit die systematisch-theologische Würdigung der Eschatologie nicht erst durch die Dialektische Theologie erfolgt, sondern sich bereits früher – eben beispielsweise bei Kaftan – anbahnt, wird verständlicherweise von jenen nicht gesehen, welche selber maßgeblich durch die Dialektische Theologie geprägt sind. Vgl. z.B. Willi ÖLSNER, Die Entwicklung der Eschatologie von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Gütersloh 1929, v.a. 103f. Zu Kaftan äußert sich Ölsner nur in einem knappen Abschnitt, welcher zwar entscheidende Momente dessen Denken nennt – die Absetzbewegung von Ritschls Ewigkeitsverständnis, die kosmologisch-ekklesiologische Ausweitung der individualisierten Eschatologie (vgl. a.a.O., 72f), daraus aber keine theologiegeschichtlichen Schlüsse zieht.

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Zur Fragestellung

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Konsequenzen exponiert wird, mit der Idee und der Erfahrung menschlicher Selbstbestimmung als Grundlage ethischer Weltgestaltung denkend zu vereinen.12 Kaftan versteht das Gottesreich als die Vorstellung, welche die christliche Hoffnung vollumfänglich ausdrückt – aber weder einfach als das „Endziel“ der Geschichte noch lediglich als „höchstes Gut […], das im menschlichen Tun seine Verwirklichung findet“, wie Walther in seiner Arbeit zur neuzeitlichen Eschatologie die konzeptionellen Alternativen vorführt.13 Vielmehr begründet er in der Bestimmung des Gottesreichs als zukünftiger, überweltlicher und dem Menschen unverfügbarer Wirklichkeit eine Theorie der Moral, welche gerade in der Vorstellung der Weltenthebung die Bestimmung zur Weltgestaltung begründet sieht. Damit sind es nicht die klassischen dogmatischen Themen wie Tod, Parusie Christi, Gericht und individuelle sowie allgemeine Auferstehung, die Kaftans Eschatologie bestimmen, sondern die Frage, inwiefern der christliche Erlösungsglaube als Grund endlicher Freiheit zu bestimmen ist. Die Vermittlung von Eschatologie und Ethik, wie sie in Kaftans Theologie vorliegt, soll deshalb in der vorliegenden Arbeit in zweifacher Weise gegenwartsorientiert interpretiert werden: Zum einen wird gefragt, wie die Dogmatik als christliche Lehre vom Glauben in ihrer Bedeutung für den Lebensvollzug des Menschen entworfen werden kann. So kann in der historisch-systematischen Rekonstruktion eine Apologie des christlichen Glaubens gegenüber jenen Kritikern durchscheinen, welche in den eschatologisch zugespitzten Aussagen eine welt- und lebensnegierende oder auf das Jenseits vertröstende Ideologie erblicken. Zum anderen wird die Ethik in ihrer genuin theologischen Begründung bedacht, das heißt: im eschatologischen Zusammenhang des Glaubens an Gott als alles bestimmender Wirklichkeit, wobei sich von Kaftan her zeigen wird, dass neben dem Gottesbe————— 12 Vgl. Christian WALTHER, Eschatologie als Theorie der Freiheit. Einführung in neuzeitliche Gestalten eschatologischen Denkens, Berlin 1991, 3f. Walther meint, die Freiheitsthematik als Anliegen der Eschatologie sei trotz ihrer Bedeutung in den Eschatologien Kants, Fichtes und Hegels „bisher eigentlich nur am Rande theologisch-eschatologischer Fragestellungen beachtet worden.“ (A.a.O., 10.) Als Ausnahmen verweist er auf G. Sauters Überlegungen zu Zukunft und Verheißung, auf W. Pannenbergs von der Zukunft her entworfene Freiheitskonzeption und auf die Studie Jacob TAUBEs: Abendländische Eschatologie, Bern 1947. Aber auch Hans G. ULRICH (Eschatologie und Ethik. Die neuere Theorie der Ethik in ihrer Beziehung auf die Rede von Gott seit Schleiermacher, München 1988) untersucht das eschatologische Reden von Gott seit Schleiermacher auf ihre Valenz für die Ethik hin. Ulrich selber aber stellt fest, dass die „theologische Grundlegung der Ethik“ (a.a.O., 13) zumeist nicht in der Eschatologie, sondern in anderen Begründungszusammenhängen wie z.B. der Reflexion auf den Freiheits- oder Vernunftbegriff gesucht wurde – und übersieht dabei seinerseits, dass beide Begriffe in der Geschichte der neuzeitlichen Theologie und Philosophie (wie sich zeigen wird, auch bei Kaftan) ihrerseits eine Verortung im eschatologischen Diskurs aufweisen können. 13 Beide Zitate: WALTHER, Eschatologie, 5.

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griff als Grund der Ethik besonders die Ekklesiologie als Theorie ihrer Verwirklichung zu bedenken ist.14 Indem diese zweifache systematische Fragestellung an Kaftans Denken durchgeführt wird, liegt mit dieser Arbeit zugleich ein Beitrag zu einem Bereich der Theologiegeschichte vor, in welchem erhebliche Forschungslücken bestehen. Zwar erfährt die Schule Albrecht Ritschls wie auch die Theologie des 19. Jahrhunderts seit einiger Zeit erhöhte Aufmerksamkeit, doch richten sich die Verstehensbemühungen zumeist auf die Theologen, welche der gegenwärtigen Theologie als Kanon gelten. Obwohl Kaftan – in seiner Zeit der bedeutendste Dogmatiker der Ritschl-Schule – nicht nur über seine Schriften und seine Person inmitten des theologisch-kirchenpolitischen Diskurses seiner Zeit stand,15 sondern mit seinem Werk eine profilierte theologische Konzeption vorliegt,16 fehlt bisher eine Interpretation dieses Werks im Gesamtzusammenhang.17 Diese soll hier versucht werden, wobei die Frage nach dem Verhältnis von Eschatologie und Ethik es ermöglicht, die Rekonstruktion von vornherein im systematischen Interesse zu gestalten. Damit ist die Darlegung von Kaftans spezifischem Programm einer eschatologischen Bestimmung des christlichen Glaubensbewusstseins und der Theologie gedacht als ein Beitrag zur gegenwärtigen Deutung des christlichen Glaubens und seiner denkerischen Verantwortung in Kirche und Gesellschaft. Oder in anderen Worten: Indem die Arbeit die theologiegeschichtlichen Spezifika der Kaftanschen Beantwortung der eschatologischen Frage in den Blick nimmt, kann sie ein Baustein zur historisch-systematischen „Bestandsaufnahme in Sachen Eschatologie“ sein, wie Schwöbel sie vorschlägt, um von ihr ausgehend die „Öffnungszeiten des eschatologischen Bureaus im 21. Jh. fest[zu]legen“.18

————— 14 Auf die theologische Verortung der Ethik zu reflektieren ist auch das Anliegen der Studie Ulrichs, welche in eine pneumatologische Begründung der Ethik ausläuft, die gleichfalls impliziert, den Zusammenhang von Ekklesiologie und Ethik zu bedenken; vgl. ULRICH, Eschatologie, 9f. 15 Vgl. dazu unten 1.2 und 1.3. 16 Vgl. Folkart WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916), Tübingen 2000, 13. 17 Dies stellt auch WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 14 fest. Vgl. zur Forschungsgeschichte unten 1.3. 18 Beide Zitate: SCHWÖBEL, Eschatologie, 468.

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Julius Kaftan: Leben und Werk

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1.2 Julius Kaftan: Leben und Werk19 Julius Kaftan: Leben und Werk

Julius Wilhelm Martin Kaftan wird am 30. September 1848 im nordschleswigschen Loit bei Apenrade als zweiter Sohn des Hauptpastors Marten Hinrich Kaftan geboren. Als junges Kind muss er die Absetzung des Vaters durch die Dänen 1850, den anschließenden Umzug der Familie nach Altona und Pinneberg sowie Krankheit und Tod des Vaters 1853 erleben. Die eigene Erinnerung an den Vater ist Kaftans eigenem Bekunden nach schattenhaft.20 Doch 1889, dreieinhalb Jahrzehnte nach dessen frühem Tod findet Kaftan zu seiner Überraschung in den hinterlassenen Papieren seines Vaters psychologisch gehaltene Abhandlungen über das Wesen der Religion, die vom Einfluss des in Berlin gehörten Schleiermacher zeugen – wie dies auch von der 1881 erstmals erschienenen Schrift Julius Kaftans zum Wesen der christlichen Religion zu sagen ist. Den überaus prägenden Einfluss der Mutter sieht Kaftan wiederum darin, dass diese in ihren Söhnen schon früh ein „eignes Pflichtbewußtsein“21 zu wecken verstand. Damit ist neben der Schleiermacherschen Theologie ein weiteres Moment der Theologie Kaftans in seiner Lebensbeschreibung verortet: die Orientierung an der sittlichen Erfahrung und ihrer Normierung, wie sie denn auch das große Interesse Kaftans am Denken Kants begründet.

1866 macht Kaftan in Flensburg, wohin die Familie 1859 gezogen war, das Abitur und folgt daraufhin seinem eineinhalb Jahre älteren Bruder Theodor an die Universität Erlangen, wo beide Theologie studieren. Eigener Auskunft nach ist es Thomasius, dessen dogmatische und dogmengeschichtliche Vorlesungen ihn dort am stärksten beeindrucken.22 Besonders geprägt zu haben scheint ihn die Erlanger Zeit freilich nicht.23 Das eigenständige theologische Arbeiten lernt er erst in Berlin, wo er 1868/69 sein viertes und fünftes Semester verbringt. Hier sind es Trendelenburg, Dorner und der ————— 19 Als maßgebliche Quellen für die folgende biographisch-werkgeschichtliche Skizze werden verwendet: Kaftans Selbstdarstellung in dem von Erich STANGE herausgegebenen Band: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 4, Leipzig 1928, 1–32 (= 201–232), im Folgenden zitiert als Selbstdarstellung; die Einleitung Walter GÖBELLs in den von ihm herausgegebenen Briefwechsel Kaftans mit seinem Bruder Theodor (Kirche, Recht und Theologie in vier Jahrzehnten, 1. Teil: 1891–1910, München 1967, 11–30); den Artikel desselben in der TRE (Art. Kaftan, Julius, in: TRE 17, 1988, 518–521); Werner RAUPP, Art. Kaftan, Julius, in: BBKL 14, 1998, 1128–1133. Des Weiteren ist zu vergleichen der bereits erwähnte Briefwechsel Kaftans mit seinem Bruder, der sich von 1891 bis zu Kaftans Tod 1926 erstreckt und den persönlich-zeitnahen Blick Kaftans auf die theologischen, kirchenpolitischen und gesamtgesellschaftlichen Ereignisse der betreffenden Zeit wiedergibt. 20 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kaftan, Selbstdarstellung, 1. 21 Kaftan, Selbstdarstellung, 2. 22 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kaftan, Selbstdarstellung, 3. 23 Vgl. auch Kaftan, Selbstdarstellung, 13, wo er sich kritisch zur heilsgeschichtlichen Methode der sog. Erlanger Schule äußert.

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praktische Theologe Steinmeyer, welche ihn nachhaltig beeinflussen.24 Im Sommer 1868 übersetzen die beiden Kaftan-Brüder und ein Freund bei wöchentlichen Treffen mit Dorner diesem eine Schrift Martensens Om Tro og Vöden (Über Glaube und Wissen).25 Für die letzten fünf Semester vor dem Abschlussexamen kehrt Kaftan aus finanziellen Gründen in die Heimat zurück und studiert in Kiel – sowie zu Hause in Flensburg. Dort im häuslichen Umfeld ist es die tägliche Disputation mit dem Bruder – dem späteren Generalsuperintendent Schleswig-Holsteins26 –, welche ihm die universitäre Anregung ersetzt. Vor allem aber widmet er sich dem Studium Kants und der philosophischen Schriften Schleiermachers. Für sein Examen 1871 reicht Kaftan eine Abhandlung mit der Überschrift Die religiöse Erfahrung als theologisches Erkenntnisprinzip im Anschluß an Kant und Schleiermacher ein.27 Sie versucht eine These zu begründen, welche auch den Theologieprofessor Kaftan durchgängig beschäftigen wird: Dass der christliche Glaube eine objektive Erkenntnis sui generis darstellt. Freilich wird Kaftan den Begründungsgang dieser These, welcher in jener frühen Schrift bei der religiösen Erfahrung ansetzt, bald umstürzen. Bevor er nach dem mit höchstem Prädikat ausgezeichneten Examen seine akademische Laufbahn fortsetzt, absolviert Kaftan den für das kirchliche Examen obligatorischen Kursus am Schullehrerseminar und arbeitet einige Monate als Hilfsprediger in Nord-Schleswig. Das Predigen wird er Zeit seines Lebens nicht aufgeben. Vielmehr betont er dessen große Bedeutung für das eigene dogmatische Denken.28 Ausgestattet mit diversen Stipendien, geht Kaftan 1872 nach Leipzig, wo er zunächst zügig und mit Erfolg das Promotionsverfahren in der philosophischen Fakultät durchläuft. Seine bereits in Flensburg über Büchern aus der dortigen Schulbibliothek verfasste Dissertation hat das Thema Sollen und Sein – Eine Studie zur Kritik Herbarts.29 Die hiermit eröffneten pädagogischen und ethischen Perspektiven werden auch Kaftans Religionstheo————— 24 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 3f. 25 Vgl. Hans Lassen MARTENSEN, Om Tro og Viden. Et Leilighedsskrift, Kjøbenhavn 1867. Vgl. die Rezension Kaftans zum Briefwechsel zwischen Martensen und Dorner (Briefwechsel zwischen H.L. Martensen und I.A. Dorner 1839–1881, hg. aus deren Nachlass, 2 Bd., Berlin 1888): ChW 3, 1889, 567. 26 Zu Theodor Kaftans Leben (1847–1932) vgl. v.a. die Einleitung W. GÖBELLs in den Briefwechsel der Kaftan-Brüder: Briefwechsel I, 20–30; für eine Bibliographie vgl. a.a.O. II, 939–961. 27 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 5. 28 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 6: „Mir befestigte sich in dieser Zeit die Liebe zur Kanzel, die mich […] durchs Leben begleitet hat. Wo ich später war, habe ich gepredigt. Und das hat alles später Erlebte beeinflußt. Nicht nur habe ich manchen Gedankengang, der mir in der Dogmatik wichtig wurde, zuerst beim Schreiben einer Predigt konzipiert; auch äußerlich hätte sich mein Lebensgang nicht so gestaltet, wie es der Fall gewesen ist.“ Wie letzteres gemeint ist, wird gleich zu sehen sein. 29 Erschienen Leipzig 1872.

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rie und Theologie an entscheidenden Stellen bestimmen. – Der theologischen Promotion unter der Betreuung Luthardts ist zunächst weniger Erfolg beschieden. Kaftan erhält die erneut Kants und Schleiermachers Erkenntnistheorie verhandelnde Arbeit als ungenügend zurück, was er selber teils auf seine Probleme mit dem Lateinischen, teils auf die theologisch problematische Gegenüberstellung von Erfahrungsprinzip und Schriftprinzip zurückführt.30 Kaftan behilft sich, indem er der Arbeit eine Kritik der Inspirationslehre entnimmt und umschreibt,31 mit welcher er im August 1873 zum Doktor auch der Theologie promoviert wird. Seine Antrittsvorlesung als Privatdozent an der theologischen Fakultät Leipzig – wo er im Übrigen mit A. von Harnack Freundschaft schließt32 – hält er über Die Bedeutung der Psychologie für die Theologie. Durch sie, die großen Zulauf findet, und durch seine Predigten in der Thomaskirche wird Kaftan bald bekannt in Leipzig – und darüber hinaus: Der Leipziger Professor und Stadtsuperintendent D. Lechler empfiehlt Kaftan nach Basel, als dort der Becksche Lehrstuhl nach Weggang Prof. v. d. Goltz’ frei wird.33 Bereits im Oktober 1873, nur zwei Monate nach der Promotion und noch vor der eigentlichen Habilitation (1874 a.o. Professor, 1881 o. Professor) nimmt Kaftan den Ruf an und geht nach Basel. Dort vertritt er über 19 Semester als einziger die Fächer Dogmatik und Ethik und hält Vorlesungen zu neutestamentlicher Theologie und Exegese (vor allem zu Paulus) sowie zu den lutherischen und reformierten Bekenntnissen und der römischkatholischen Lehrbildung. Kaftan selber stellt fest, dass es der Lehrvortrag war, durch welchen sich seine eigenen Gedanken formierten, was Zeit seines Lebens so bleiben sollte.34 ————— 30 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 7f. 31 Veterum ecclesiae nostrae doctorum de revelatione divina tanquam principio theologiae doctrina exponitur et dijudicantur, Theol. Diss. vom 7. Aug. 1873, Leipzig (Lipsiae) 1873. 32 Vgl. Agnes von ZAHN-HARNACK, Adolf von Harnack, Berlin 1951, 40–42 mit Wiedergabe eines Briefes Harnacks an Engelhardt, in welcher Harnack die Bekanntschaft mit dem älteren Kaftan als beglückendes Erlebnis und das Gespräch mit ihm als wechselseitige gedankliche Bereicherung schildert. – Nach einer Phase der örtlichen Trennung, durch Kaftans Weggang nach Basel ausgelöst, ermöglicht die Berufung Harnacks nach Berlin (1888) einen intellektuellen und geselligen Austausch der beiden Häuser. Die Briefe, welche Harnack und Kaftan wechselten, befinden sich im Harnack-Nachlass der Staatsbibliothek zu Berlin (Preußischer Kulturbesitz). 33 Der Lehrstuhl wurde 1836 auf Initiative des Vereins für christlich-theologische Wissenschaft an der theologischen Fakultät Basel eingerichtet. Jener Verein hatte es sich zum Zweck gesetzt, für die „Anstellung eines theologischen Lehrers, welcher wahre Wissenschaftlichkeit mit der Begeisterung des Glaubens und mit entschiedener Christusliebe verbindend“ sein Amt ausübt, Sorge zu tragen und Mittel bereitszustellen (Eberhard VISCHER, Die Lehrstühle und der Unterricht an der theolog. Fakultät Basels seit der Reformation, Basel 1910, 97; Vischer zitiert aus dem Gründungsprotokoll des Vereins von 1836). Vorsitzender des Vereins ist 1873 der Ratsherr Adolf Christ-Sarasin, welcher mit dem oben erwähnten Prof. Lechler bekannt ist. 34 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 12.

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Einschneidend ist in diesem Zusammenhang ein Erlebnis, welches Kaftan im Zuge seiner Vorbereitungen auf die Dogmatikvorlesungen hat.35 Die bisher vertretene Begründung der Prolegomena in der religiösen Erfahrung, von welcher auch die bereits erwähnten Qualifikationsarbeiten zeugen, war Kaftan während der Vorlesungen vollständig problematisch geworden. Den Ausweg aus der denkerischen Krise findet er durch die Lektüre des dritten Bandes von Ritschls Rechtfertigung und Versöhnung:36 Es ist der christliche Glaube, wie er in der durch die Schrift bezeugten Offenbarung Gottes gründet, von welchem her die Dogmatik zu entfalten ist. Es wird zu Kaftans Lebensfrage, wie zugleich an der geschichtlichen Bedingtheit der Schrift und an ihrer normativen Bedeutung für das christliche Glaubensbewusstsein festgehalten werden kann. Dabei ist es das lutherisch-reformatorische Verständnis des Glaubens, welches er für die hier anstehende Vermittlungsarbeit fruchtbar zu machen sucht – ein Anliegen, welches alle Schriften Kaftans durchzieht.37 Es führt ihn zu einer epistemologisch fundierten Glaubenstheorie als Prinzip der Theologie, welche den Glauben in seiner subjektiven Qualität und dennoch als veritable Objekterkenntnis bestimmt. – Die neu gewonnenen prinzipiellen Einsichten veröffentlicht Kaftan 1879 in der programmatischen Schrift Die Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben, deren Titel die Intention einer Vermittlung zwischen christlicher Botschaft und geistesgeschichtlicher Situation zum Ausdruck bringt. 1881 und 1888 erscheinen die beiden ersten Hauptwerke Kaftans, in ihrer Beziehung aufeinander gemeint als Prolegomena der Dogmatik: Das Wesen der christlichen Religion bestimmt Kaftan ausgehend von einer historisch-komparativ vorgehenden Wesensbestimmung der Religion, um sodann nach der Wahrheit der christlichen Religion vor dem Forum allgemeiner Vernunft zu fragen.38 Das Manuskript für die Wahrheitsschrift bringt Kaftan von Basel nach Berlin mit. Dorthin war er 1883 als Nachfol————— 35 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 14–19 sowie ders., Zur Dogmatik und Glaubenspsychologie, ZThK 21, 1911, 380–393, bes. 384–386. 36 Vgl. zu Kaftans Verhältnis zu Ritschl unten 1.2. 37 Vgl. neben der Schrift zur Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben und neben den Hauptwerken z.B. Kaftan, Ueber den Glauben. Eine Diskussion, PrJ 95, 1899, 1–26, bes. 19f und 25f; ders., Was die Rechtgläubigkeit in der evangelischen Kirche bedeutet, Vortrag gehalten auf d. theol.-kirchl. Konferenz d. Provinz Brandenburg am 20. Nov. 1903, Potsdam 1904; ders., Theologie und Kirche, ZThK 1, 1891, 1–27, bes. 19–26; ders., Glaube und Dogmatik, ZThK 1, 1891, 479– 549, bes. 479–481, 526–529; ders., Die Verpflichtung auf das Bekenntnis in der evangelischen Kirche, Vortrag gehalten am 6. Dez. 1892 im Berliner Kandidatenverein, Leipzig 1893, 31898, bes. 16f; ders., Der evangelische Glaube und die kirchliche Überlieferung, ZThK 3, 1893, 427–492, bes. 427–437, 465–467; ders., Was ist schriftgemäß?, ZThK 3, 1893, 93–125, bes. 116–125; ders., Die Verdienste Kants um die evangelische Theologie, Die Wartburg 3, 1904, 52–54, bes. 53. 38 Vgl. Kaftan, Das Wesen der christlichen Religion, Basel 1881, Basel 21888; ders., Die Wahrheit der christlichen Religion, Basel 1888. Vgl. zu letzterem auch ders., Zum Beweis für die Wahrheit des Christentums, ThStKr 64, 1891, 425–478.

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ger Dorners auf den früheren Lehrstuhl Schleiermachers berufen worden. In der ersten Phase der Berliner Zeit arbeitet Kaftan außerdem seine dogmatischen Vorlesungen zur Dogmatik aus, wozu ihn der Berliner Verlag Mohr aufgefordert hatte. Die Dogmatik erscheint erstmals 1897 in der Reihe Grundriß der theologischen Wissenschaften und wird zum dogmatischen Standardwerk nicht nur der Studierenden in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts39 – Bultmann verwendet die entsprechenden Kapitel in seiner Enzyklopädie als Referenz für die altprotestantische Orthodoxie.40 Darüber hinaus und vor allem liegt mit Kaftans Dogmatik die systematische und alle klassischen Felder der Dogmatik behandelnde Ausarbeitung einer von Ritschl herkommenden Theologie vor, welche sowohl strenge innere Kohärenz als auch ein eigenes denkerisches Profil zeigt.41 – In der vierten Hauptschrift fasst Kaftan seine nunmehr Jahrzehnte währende Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und die eigene apologetische Position zusammen. Die Philosophie des Protestantismus erscheint 1917 und versucht unter kritischer Zuhilfenahme der Kantschen praktischen Philosophie die Einordnung des christlichen Glaubens in die „Einheit des Geistes“42 als Einheit aller Erkenntnis. Daneben veröffentlicht Kaftan zahlreiche kürzere Abhandlungen.43 So sind zunächst seine Studien zur Theologie des Neuen Testaments zu nennen, welche eine der tragenden Säulen seines theologischen Entwurfs bilden. 1906 erscheint Jesus und Paulus. Eine freundschaftliche Streitschrift gegen die religionsgeschichtlichen Volksbücher von D. Bousset und D. Wrede. Wie der Titel andeutet, unternimmt die Schrift eine konstruktiv-kritische Beleuchtung der religionsgeschichtlichen Forschung am Neuen Testament. Kaftan greift die religionsgeschichtliche Fragestellung insofern auf, als er das Neue Testament als Zeugnis von Religion begreift und historischkritisch auslegt. Gleichwohl ist es ihm im Zusammenhang mit dem Alten Testament normativer Grund christlicher Theologie und somit allen außerbiblischen urchristlichen Quellen, wie sie von Wrede und anderen für die

————— 39 Vgl. GÖBELL, Kaftan, 520; RAUPP, Kaftan, 1128. Die Dogmatik erscheint in vier Doppelauflagen – die letzte im Jahr 1920. Vgl. hierzu auch Kaftans ausführliche Erläuterungen zu einzelnen methodischen und inhaltlichen Fragen in der ZThK 13 (1903) und 14 (1904), welche unter dem Titel Zur Dogmatik Tübingen 1904 herausgegeben wurden. 40 Vgl. BULTMANN, Enzyklopaedie VIII (Anm. 16). 41 Vgl. WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 13f. 42 Kaftan, Philosophie des Protestantismus, Eine Apologetik des evangelischen Glaubens, Tübingen 1917, 13 u.ö. 43 Im Folgenden wird auf die theologisch wichtigen Schriften hingewiesen; für die Gesamtbibliographie vgl. das Literaturverzeichnis.

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Darstellung neutestamentlicher Theologie hinzugezogen werden,44 voranzustellen. Von diesem vermittelnden Programm zeugt auch Kaftans Neutestamentliche Theologie im Abriß dargestellt, welche posthum durch Kaftans Schüler Titius herausgegeben wird.45 Des Weiteren äußert Kaftan sich zu Fragen der Ethik, indem er zum einen seine eigene prinzipielle Position zur Bedeutung der Ethik für die christliche Theologie verdeutlicht und zum anderen die materialen Fragen bespricht, welche sich dem Gründungsmitglied des Evangelisch-Sozialen Kongresses46 aus der zeitgeschichtlichen Situation heraus aufgeben und die vor allem die moralische Aufgabe der Kirche betreffen.47 Aus den über Jahrzehnte hin abgehaltenen Ethikvorlesungen geben Fabricius und Kattenbusch posthum die Leitsätze und die Abhandlungen zum Gewissen, zur sittlichen Freiheit und zur Methode der Statistik heraus.48 – Zu den ethischen Schriften sind weiterhin auch jene Aufsätze zu zählen, welche sich mit der Philosophie Nietzsches auseinandersetzen. Kaftan hatte nicht nur zur selben Zeit wie Nietzsche in Basel gelebt, sondern diesen zu persönlichen Gesprächen in Sils-Maria getroffen.49 Er begreift dessen Denken als Herausforderung an die christliche Theologie in ihrer Reflexion auf die sittliche Gestaltung des individuellen Lebens.50 ————— 44 Vgl. William WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten neutestamentlichen Theologie (1897), in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975, 81–154. 45 Berlin 1927; das druckfertige Manuskript lag Titius vor. – Vgl. neben diesen beiden Schriften weiter Kaftans prinzipielle Darstellung seiner Methode in der Festschrift zu Harnacks 70. Geburtstag: Zur Frage nach der Aufgabe der neutestamentlichen Theologie, in: Festgabe von Fachgenossen und Freunden A. von Harnack zum siebzigsten Geburtstag dargebracht, Tübingen 1921, 134–142. Außerdem die in Auseinandersetzung mit Harnack verfassten Aufsätze in ChW 16, 1902: Gehört Jesus selbst in das von ihm verkündigte Evangelium hinein? (295–298); Das Evangelium vom Gottesreich (314–317); Der Ursprung des Evangeliums (339–342); Die Vergebung der Sünden (363–366); Das Evangelium des Johannes (387–389); Wer Jesus war (411–415). Zur Würdigung Kaftans in der gegenwärtigen Forschung am Neuen Testament vgl. Heikki RÄISÄNEN, Beyond New Testament Theology. A story and a programme, London/Philadelphia 1990, 28; ders., Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, Stuttgart 2000, 21 und dazu unten Kapitel 2. 46 Vgl. zur Gründung des Evangelisch-Sozialen Kongresses im Jahr 1890 Johannes RATHJE, Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte, dargestellt an Leben und Werk von Martin Rade, Stuttgart 1952, 53–57. Vgl. zu Kaftans Sicht auf den Kongress und insbesondere zur Harnack-Stöcker-Kontroverse und ihren personellen Konsequenzen seinen Brief an den Bruder vom 24. Nov. 1895 (Göbell, Briefwechsel I, 121–123). 47 Vgl. zu den in das Gebiet der Ethik fallenden Einzelabhandlungen unten Kapitel 3.1. 48 Christliche Ethik. Leitsätze von Julius Kaftan, hg. v. C. Fabricius, ZThK NF 8, 1927, 413–429; Kaftan, Das Gewissen, ThStKr 101, 1929, 1–54, 151–171; ders., Das Problem der sittlichen Freiheit, ThStKr 104, 1932, 1–53; ders., Ethik und Statistik, ThStKr 105, 1933, 226–240 (die letzten drei hg. v. F. Kattenbusch). 49 Vgl. hierzu unten Kapitel 3.1. 50 Vgl. Kaftan, Eine neue Moral, ChW 10, 1896, 103–110; ders., Diesseits von Gut und Böse, ChW 10, 1896, 320–326; ders., Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, Vortrag gehal-

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Und schließlich verteidigt und erläutert Kaftan seine dogmatische Position nach ihrer inhaltlichen und ihrer methodischen Seite. Dies geschieht vor dem Hintergrund teils erregter Auseinandersetzungen über die Aufgabe von Theologie und Kirche in einer Zeit, die durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt, durch zunehmende Entfremdung der an diesem Fortschritt Beteiligten von der Kirche und durch radikale theologische Umbildungsversuche des christlichen Erbes geprägt ist.51 Vor diesem Hintergrund nimmt Kaftan eine vermittelnde Stellung ein, indem er die historische Kritik an den Erscheinungsformen des christlichen Glaubens aufnimmt und ihn in seiner subjektiven Bedingtheit erläutert, zugleich aber die Dogmatik als normative Wissenschaft vom lutherischen Glaubensprinzip her entwirft. Kaftan stützt sich hierbei auf eine kritische Aneignung der praktischen Philosophie Kants, welchen er mit Paulsen52 als „Philosophen des Protestantismus“ bezeichnet.53 Zu Kant liegen neben den entsprechenden Abschnitten in den apologetischen Hauptwerken54 diverse kürzere Abhandlungen Kaftans vor. Dass es sich hierbei zumeist um Reden handelt, zeigt, dass sich Kaftan von der theologischen Indienstnahme Kants einiges für die öffentliche Verantwortung der christlichen Religion versprach.55 Die teils ausführlichen Aufsätze zu Kaftans dogmatischem Programm werden zumeist durch aktuelle Anlässe ausgelöst – seien es Publikationen, die Kaftans Kritik herausfordern, seien es Kontroversen im Kreis der Freunde der Christlichen Welt, zu dem Kaftan bis 1904 gehört,56 seien es —————

ten im Berliner Zweigverein des Ev. Bundes, Berlin 1/21897, 31902; ders., Aus der Werkstatt des Übermenschen, Heilbronn 1906 (Separatabdruck aus Deutsche Rundschau 1905). 51 Vgl. zur Situation von Kirche und Theologie im wilhelminischen Kaiserreich z.B. Kurt NOWAK, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995, 149–204. 52 Vgl. Friedrich PAULSEN, Kant der Philosoph des Protestantismus, in: Kantstudien 4, 1900, 1–31. 53 Vgl. Kaftans gleichnamige Rede von 1904. 54 Vgl. aus der Wahrheitsschrift von 1888 bes. das vierte Kapitel des ersten Abschnitts („Die Zersetzung des kirchlichen Dogmas“: Kaftan, Wahrheit, 170–234) und weiter a.a.O., 203–219, 380f, 471f; aus der Philosophie v.a. das zweite Kapitel („Philosophie als Erkenntnistheorie“: Kaftan, Philosophie, 36–79). 55 Vgl. Die religionsphilosophische Anschauung Kants in ihrer Bedeutung für die Apologetik, Antrittsrede gehalten beim Antritt des akademischen Lehramts in Basel den 6. Nov. 1873, Basel 1874; Kants Lehre vom kategorischen Imperativ, Rede, Berlin 1901; Die Verdienste Kants um die evangelische Theologie, in: Die Wartburg 3, 1904, 52–54; Kant, der Philosoph des Protestantismus, Rede, Berlin 1904; Was wir von Kant lernen sollen, Rede, Berlin 1924. 56 Seit dem zweiten Jahrgang der ChW hat Kaftan regelmäßig in der Zeitschrift veröffentlicht und nimmt an den Treffen der Freunde teil. Auch der Vereinigung der Freunde der ChW von 1903 tritt er zunächst bei – wenn auch in grundsätzlich kritischer Haltung. Aus Anlass seiner Berufung in den Preußischen Oberkirchenrat 1904 lässt er sich jedoch von der Liste der Freunde streichen. Vgl. RATHJE, Protestantismus, 126 (zitiert zwei Briefe Kaftans an Rade). Zur Stellung Kaftans zur ChW vgl. seine zahlreichen Bemerkungen in Briefen an den Bruder (vgl. Göbell, Briefwechsel I, 49–52, 54, 95 Anm. 12, 146–148, 166, 188, 223, 243, 244, 247f, 251).

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Diskussionen in der kirchlich-theologischen Öffentlichkeit wie jene um das Apostolikum um 1892 und jene um das kirchliche Lehrbeanstandungsgesetz um 1910.57 Besonders hervorzuheben ist neben Kaftans Programm des „Neuen Dogmas“58 die Diskussion mit Troeltsch in der Zeitschrift für Theologie und Kirche (für welche Kaftan übrigens den einleitenden Aufsatz verfasst hatte)59 in den Jahren 1896 und 1898, welche um die Frage nach der Absolutheit der christlichen Offenbarung kreist.60 Neben solchen Versuchen, die Dogmatik vom Glaubensprinzip her als Normwissenschaft zu entwerfen, sind jene Schriften zu nennen, welche Kaftans Wesensbestimmung der christlichen Religion als eschatologische Erlösungsreligion grundsätzlich und im Blick auf verschiedene theologische Themen wie Kirche, Gebet und Askese durchführen.61 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass Kaftan die Dogmatik stets als Funktion der Kirche, das heißt: in ihrer Abzweckung auf die kirchliche Praxis besonders in Predigt und Unterricht und auf die individuelle Frömmigkeit begreift. Seine philosophischen und dogmatischen Schriften sind damit immer Ausdruck des Nachdenkens über die vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit der Kirche und des eigenen gestalterischen Willens, was ihre zukünftige Wirklichkeit betrifft. Die enge Verzahnung von Dogmatik und kirchlicher Praxis wird anschaulich in den zahlreichen veröffentlichten Predigten Kaftans.62 ————— 57 Vgl. zum so genannten Apostolikumsstreit die Äußerungen Kaftans in Briefen an den Bruder (vgl. Göbell, Briefwechsel I, 48, 51ff, 62ff, 182) und daselbst zum Lehrbeanstandungsgesetz (vgl. a.a.O., 405, 423, 424f, 425f, 432, 434f, 438f, 442f; ders., Briefwechsel II, 617f, 527f, 546, 548f) sowie zu den Fällen Jatho und Traub (vgl. Göbell, Briefwechsel I, 386f; ders., Briefwechsel II, 476, 480f, 484f, 486f, 488f, 504, 511, 512f, 519, 520f, 523, 536, 540, 550, 570, 554, 617, 680). 58 Vgl. v.a. Kaftan, Glaube und Dogma. Betrachtungen über Dreyers undogmatisches Christentum, Separatabdruck aus der „Christlichen Welt“, Bielefeld/Leipzig 1/31889 sowie ders., Brauchen wir ein neues Dogma? Neue Betrachtungen über Glaube und Dogma, Separatabdruck aus der „Christlichen Welt“, Bielefeld/Leipzig 1890, 21893 und dazu unten Kapitel 4.3.2. 59 Vgl. Theologie und Kirche, ZThK 1, 1891, 1–27. 60 Vgl. die Literaturangaben unten Kapitel 4.2.6. 61 Vgl. Die christliche Lehre vom Gebet, Vortrag, Basel 1876; Die Erlösung durch Christum und die Selbsterlösung der Menschheit (Röm 7,24–25a), in: Gottesdienstliche Vorträge in der Schloßkirche zu Karlsruhe, Freiburg i.B. 1892, 111–124; Die Rechtfertigung durch den Glauben als Grundartikel der protestantischen Kultur, Leipzig 1901; Das Wesen des Christentums, in: Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur 1902, 313–335; Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, Vortrag, Potsdam 1903; Die Askese im Leben des evangelischen Christen. Vortrag, Potsdam 1904; Warum kennt die evangelische Kirche keine Lehre von der Erlösung im engeren Sinn? Und wie läßt sich diesem Mangel abhelfen?, ZThK 18, 1908, 237–298; Die Kirche als Objekt des Glaubens und als Subjekt des kirchlichen Handelns, in: Studien zur Reformationsgeschichte und zur praktischen Theologie. G. Kawerau an seinem 70. Geb. dargebr., Bd. 2: Studien zur prakt. Theologie, Leipzig 1917, 93ff. 62 Vgl. neben den Einzelpredigten (s. Literaturverzeichnis) die drei Predigtsammlungen: Das Evangelium des Apostel Paulus in Predigten der Gemeinde dargelegt, Basel 1879; Das Leben in Christo, Basel 1883; Suchet was droben ist, Freiburg i.B./Leipzig 1893.

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Julius Kaftan in der theologischen Literatur

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Kirchlicher Praktiker ist Kaftan seit 1904 nicht mehr nur als Prediger, sondern als Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats der preußischen Landeskirche (bis 1925), dessen geistlicher Vizepräsident er 1921 in kirchenpolitisch äußerst bewegten Zeiten wird. In dieser Funktion ist er an der Entstehung der neuen Kirchenverfassung der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union (APU) beteiligt (1922) und führt den Vorsitz im sozialen Ausschuss des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes.63

Kaftan stirbt am 27. August 1926 in Berlin.

1.3 Julius Kaftan in der theologischen Literatur Julius Kaftan in der theologischen Literatur

Kaftan gelangte durch sein theologisches Schaffen zu einiger Bekanntheit zu Lebzeiten, was sich nicht nur in dem großen Zulauf zu seinen Vorlesungen und Predigten kundtat.64 Auch die hohen Auflagenzahlen vor allem seiner Dogmatik65 sowie seine Präsenz in den theologischen und kirchenpolitischen Publikationsorganen jener Zeit, allen voran der Zeitschrift für Theologie und Kirche und der Christlichen Welt,66 künden von seiner Öffentlichkeitswirksamkeit. Seine Schriften werden ausführlich rezensiert und kommentiert;67 die Wahrheitsschrift von 1888 ins Englische übersetzt.68 ————— 63 Vgl. Kaftans Rede vor dem Kirchentag 1921 über Die neue Aufgabe, die der evangelischen Kirche aus der von der Revolution proklamierten Religionslosigkeit des Staates erwächst, in: Verhandlungen des Zweiten Dt. Ev. Kirchentages 1921, hg. vom Dt. Ev. Kirchenausschuß, Berlin o.J. [1921], 121–138. Vgl. weiter seine Redebeiträge auf der Kirchenversammlung der preußischen Landeskirche 1921/22, in: Bericht über die Verhandlungen d. außerordentl. Kirchenversammlung zur Feststellung d. Verfassung für die ev. Landeskirche d. älteren Provinzen Preußens vom 24. bis 30. Sept. 1921 u. vom 29. Aug. bis 29. Sept. 1922, hg. vom Redaktionsausschuß der Verfassunggebenden Kirchenversammlung, I. Teil: Sitzungsverhandlungen, 288–295, 585f, 1118–1125, 1182f. Vgl. zu Kaftans Positionen in den Fragen, welche die evangelische Kirche nach dem Zusammenbruch von 1918 bewegen, außerdem seine Briefe an den Bruder (vgl. Göbell, Briefwechsel II, 624f, 650f, 708f, 711f, 727, 752f, 757f, 779f, 790, 858, 919). 64 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 8. 65 Die Dogmatik erscheint 1897 in erster und zweiter Auflage im Grundriß der theologischen Wissenschaften, in dritter und vierter verbesserter Auflage 1901, in fünfter und sechster Auflage 1909, in siebter und achter Auflage 1920. 66 Vgl. oben die Literaturangaben unter 1.2. 67 Vgl. nur Albrecht RITSCHL, Rezension zur Wesensschrift, ThLZ 1881, Nr. 13, 306–312; Paul LOBSTEIN, Rezension zur Wahrheitsschrift, ThLZ 16, 1889, 400–409; Max REISCHLE, Rezension zur Dogmatik, ThLZ 22, 1898, 588–596; Max SCHEIBE, Rezension zu Zur Dogmatik, Deutsche Literaturzeitung 19, 1898, 1027–1034; Friedrich KATTENBUSCH, Rezension zur Philosophie, ThLZ 1917, Nr. 22/23, 413–416. Vgl. weiter die von zu Kaftans 70. Geburtstag durch Arthur TITIUS, Friedrich NIEBERGALL und Georg WOBBERMIN u.a. herausgebrachte Festgabe für D. Dr. Julius Kaftan, Tübingen 1920, Kaftans Aufnahme in Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 4, hg. v. E. STANGE, Leipzig 1928, 201–232 sowie außerdem u.a. Paul LECHLER, Der Glaube an die Gottheit Christi. Eine Studie zur Theologie Ritschls und Kaftans, Berlin 1895; Carl STANGE, Der Ertrag der Ritschlschen Theologie nach Julius Kaftan, Leipzig

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Einleitung

Kaftan steht außerdem im regen Austausch mit zeitgenössischen Denkern wie Harnack, Biedermann, Nietzsche, Troeltsch, Rade, Paulsen. Aus seiner Schülerschaft gehen Theologen wie Titius und Wobbermin hervor; auch Tillich berichtet von seinen Lernerfahrungen bei Kaftan, „at this time […] the leading authority of the Kantian-Ritschlian school of theology“.69 Nach seinem Tod jedoch schwindet das theologische Interesse an Kaftans Denken, was sicher mit der Fokussierung aller Aufmerksamkeit auf die revolutionär auftretende Dialektische Theologie zusammen hängt. Kaftan ist einer von den Vätern, deren scheinbar kulturprotestantisch eingefärbte Theologie dem 19. Jahrhundert angehört und zugunsten einer Neubesinnung auf den christlichen Glauben in den Krisen des anhebenden 20. Jahrhunderts zu überwinden ist.70 Zu dieser Bewertung beigetragen hat die geläufig gewordene Einordnung Kaftans in die so genannte Schule Ritschls.71 Obwohl Kaftan wie gesehen sein eigenes theologisches Programm der Ritschl-Lektüre verdankt,72 und obwohl zahlreiche Verbindungslinien zur Ritschlschen Theologie führen, ist jener Klassifizierung gegenüber freilich Vorsicht geboten. Erstens äußert Kaftan sich selber zurückhaltend gegenüber einer solchen Einordnung.73 Zweitens tut er dies aus gutem Grund, denn über den Gemeinsamkeiten sind die Absetzbewegungen der Kaftan————— 1906 (eine ausgeführte Rezension der Kaftanschen Dogmatik im Interesse einer Kritik der Theologie Ritschls) und die Stellungnahmen im Streit um den Dogmenbegriff (vgl. unten Kapitel 4.3.2). 68 The Truth of the Christian Religion, translated by G. FERRIES, 1894. 69 Paul TILLICH, A History of Christian Thought. From ist Judaic and Hellenistic Origins to Existentialism, ed. by C. Braaten, New York 1967/1968, 361. 70 Exemplarisch sei hier auf eine kurze Passage aus Karl BARTHs wirkmächtigem Vortrag Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, gehalten vor der Versammlung der Freunde der christlichen Welt auf der Elgersburg im Oktober 1922 (vgl. ChW 36, 1922, 858–873; zitiert nach dem Neuabdruck in dem Sammelband dess., Das Wort Gottes und die Theologie, München 1925, 156–178), verwiesen: Barth konstruiert gegen Ende seiner Besinnung auf die theologische Aufgabe (Abschnitt II.) eine „Ahnenreihe“ von Theologen, die dem eigentlich theo-logischen Wagnis Orientierung bieten können und die „über Kierkegaard zu Luther und Calvin, zu Paulus, zu Jeremia“ (a.a.O., 164; Hervorhebungen im Original) läuft. Auf den anthropologischen Irrweg hingegen gerät, wer – wie Kaftan – Schleiermacher als Vorreiter eines neuen theologischen Denkens begreift. Vgl. weiter ders., Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 21952. 71 Vgl. nur Eckhard LESSING, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart 1: 1870–1918, Münster 2000, 80–112; Jan ROHLS, Protestantische Theologie der Neuzeit 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 792–799. – Mit der Studie Joachim WEINHARDTS, Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, Tübingen 1996 liegt zugleich ein typisierender Überblick über die so genannte Schule Ritschls vor. Kaftan wird dabei als „Vertreter des konservativen […] Flügels der Schule“ (a.a.O., 81) gezeichnet, wie v.a. an den Kontroversen um das Apostolikum (vgl. a.a.O., 68–71), um die Religionsgeschichtliche Schule (vgl. a.a.O., 89–93, 104f) und um Harnacks Vorlesungen zum Wesen des Christentums (vgl. a.a.O., 106–208) sowie am Bruch zwischen den Begründern der Christlichen Welt (vgl. a.a.O., 111–113) gezeigt wird. 72 Vgl. oben 1.2. 73 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 22f.

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schen gegenüber der Ritschlschen Theologie nicht zu übersehen – zu schweigen von der Tatsache, dass Kaftan wie die meisten der Ritschlianer kein persönlicher Schüler Ritschls war.74 Über die Überblicksdarstellung hinausgehende Behandlung hat Kaftans Denken nach seinem Tod nur vereinzelt gefunden. Zu nennen sind hier nur Adolf Hegers Untersuchung Julius Kaftans theologische Grundposition im Verhältnis zu Schleiermachers Prinzipienlehre von 1930,75 Ralf Geislers Gott und die Moral von 199276 sowie vor allem Folkhart Wittekinds Geschichtliche Offenbarung und Wahrheit des Glaubens von 2000.77 Von diesen drei monographischen Darstellungen unterscheidet sich die hier vorliegende Arbeit sowohl dem genauen Gegenstand, der thematischen Frage als auch der Beurteilung des Kaftanschen Denkens nach. Heger widmet sich der Abhängigkeit Kaftans von der Theologie Schleiermachers, welche er am Theologiebegriff, an den Fragen nach dem Wesen der Religion und des Christentums, an der Apologetik als wissenschaftlicher Vertretung der Glaubenswahrheit sowie an den Prolegomena zur Dogmatik ausweist. Den Vergleich schließt Heger – offensichtlich von der religionspsychologischen Konzeption des Kaftan-Schülers Wobbermin herkommend78 – mit der Forderung, die dogmatische Konzeption Kaftans von dessen eigenem religionstheoretischen Ansatzpunkt her fortzuentwickeln.79 Hegers These einer Inkongruenz zwischen religionsgeschichtlichreligionspsychologischer Wesensbestimmung von Religion und Christentum auf der einen und dogmatischer Ausführung auf der anderen Seite80 wird in dieser Arbeit insofern hinterfragt, als am Beispiel der Eschatologie gezeigt wird, wie Kaftans Dogmatik ihren zentralen Aussagen nach auf der religionstheoretischen Grundlegung aufbaut. Zugleich wird zu sehen sein, dass sie sich einer einseitig religionspsychologischen Fassung aus guten theologischen Gründen gleichwohl sperrt. Geisler widmet sich in seiner Untersuchung der theologischen KantRezeption zunächst der Kantschen Kritik der Gottesbeweise und seiner ————— 74 Vgl. WEINHARDT, Herrmanns Stellung, 24. 75 Adolf HEGER, Adolf, Julius Kaftans theologische Grundposition im Verhältnis zu Schleiermachers Glaubenslehre, Göttingen 1930. 76 Ralf GEISLER, Gott und die Moral. Hermeneutisch-methodologische Studien zum ‚moralischen Gottesbeweis‘ Immanuel Kants und seiner Repristination bei Albrecht Ritschl und in der Ritschl-Schule, Göttingen 1992. 77 Folkart WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916), Tübingen 2000. 78 Vgl. HEGER, Kaftans theologische Grundposition, 95f (zur notwendigen Ergänzung des Abhängigkeitsgefühls durch das Sehnsuchts- und das Geborgenheitsgefühl), 98 (zur religionspsychologischen Methode). 79 Vgl. HEGER, Kaftans theologische Grundposition, 105. 80 Vgl. HEGER, Kaftans theologische Grundposition, 105.

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moraltheoretischen Re-Etablierung des Gottesbegriffs, um sodann die Aufnahme und Transformation des so genannten moralischen Gottesbeweises bei Ritschl und seinen Schülern zu studieren. Dabei geht er zum einen der Aufnahme des Werturteilsbegriffs in die Religionstheorie nach, wie sie sich in jeweils spezifischer Weise bei Ritschl, Herrmann und Kaftan zeigt, zum anderen stellt er die religionspsychologische Konzeption Georg Wobbermins dar. Dabei berücksichtigt Geisler für Kaftan nur die erste Auflage der Wesensschrift, an der er zeigt, dass Kaftan – anders als Ritschl und Herrmann – die Sittlichkeit im Verhältnis zum „der Natur verhafteten Leben[...]“81 und dem daraus entspringenden mystischen Verlangen des Menschen nach Teilhabe am göttlichen Leben nur als sekundäres Phänomen der Religion(en) berücksichtigt. Geislers damit zusammenhängender Kritik, dass Kaftan über die Implantierung des „religiös allgemein erhobenen Transzendenzanspruch[es]“82 allein in die Wesensbestimmung der christlichen Religion unter der Hand einen „Gottesbeweis“83 versucht, wird in dieser Arbeit zu bedenken sein.84 Dabei wird allerdings die Fokussierung auf die Beweisfrage insofern aufgebrochen, als im Gesamtzusammenhang des Kaftanschen Denkens gezeigt wird, wie die in der Wesensschrift zuweilen thetisch anmutende Wesensbestimmung der christlichen Religion weniger als indirekter Beweis der Wahrheit des Christentums, sondern vielmehr als Korrelat einer Theorie des christlichen (eschatologischen) Glaubensbewusstseins in seinem Verhältnis zur geschichtlichen Offenbarung zu verstehen ist. Wittekind untersucht in seinen Studien zu den theologischen Entwürfen Ritschls, Kaftans und des frühen Barths die problemgeschichtliche Verortung des letzteren in der Ritschl-Schule.85 Dabei wird die titelgebende Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Geschichte deshalb zum untersuchungsleitenden Thema, weil Wittekind in jener Frage das Zentrum sowohl des Ritschlschen Schulzusammenhangs als auch „der angenommenen eigenen Theologie Barths“86 sieht. Unter Integration ethischer und subjektivi————— 81 GEISLER, Gottesbeweis, 263. 82 GEISLER, Gottesbeweis, 263. 83 GEISLER, Gottesbeweis, 263. 84 Vgl. dazu unten Kapitel 4, v.a. 4.2.6. 85 Damit schließt er sich dem seit James RICHMONDs Studie (Ritschl, a Reappraisal. A Study in Systematic Theology, New York 1978; dt.: Albrecht Ritschl: eine Neubewertung, Göttingen 1982) immer stärkeren Zuspruch erfahrenden Unternehmen an, Barths Ritschl-Kritik (vgl. ders., Theologie, 598–605 – von der Ritschl angeblich charakterisierenden „Selbstgewißheit des modernen Menschen“ [a.a.O., 600] ausgehend) von Barths eigener Verortung im Traditionszusammenhang der Ritschl-Schule her neu zu beleuchten (vgl. dazu Clive MARSH, Rezension zu Wittekinds Studie in: JThS 53, 2002, 782–786, bes. 782 und 785f). Vgl. zu jenem theologiehistorischen Unternehmen auch Christine AXT-PISCALAR, Kontinuität oder Abbruch? Karl Barths Prolegomena zur Dogmatik im Lichte der Theologie des 19. Jahrhunderts. Eine Skizze, ThZ 62, 2006, 433–451. 86 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 3.

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tätstheoretischer Fragestellungen beansprucht Wittekind zu zeigen, dass Barths frühe Theologie den Abschluss eines Prozesses bildet, in welchem der Glaubensbegriff immer stärker individualisiert wird. Dieser Prozess wird im gesamten Ritschlschen Schulzusammenhang angetrieben durch den Versuch, „Gottes Offenbarung der Wahrheit mit dem Prozeß menschlicher Aneignung der Wahrheit konstitutiv und inhaltlich zusammen zu denken“.87 Während Ritschl „von dem Vorausgesetztsein der Wahrheit Gottes in der weltgeschichtlichen Entwicklung Gottes zu einem wahren Selbstbewußtsein von sich selbst“88 (und damit einer bestimmten Hegel-Deutung) ausgeht, ist Theologie bei Kaftan „nichts anderes als die reflexive innere Beschreibung desjenigen Geschehens, in dem der Glaube sich die offenbarte Wahrheit Gottes als Wahrheit seiner selbst aneignet und vollzieht.“89 Barth schließlich problematisiert die damit verbundene Bezogenheit des Glaubens auf die „christlichen, historisch an Jesus Christus verbundenen Moralgehalte“ und versucht, „die Wahrheit des Glaubens von allen Vorgaben freizuhalten“, indem er „die Aneignung der Wahrheit als Ort des Geschehens dieser Wahrheit selbst“90 entfaltet. Ausgelöst durch die Erfahrungen im Zusammenhang des Ersten Weltkriegs wird es Barth zum Problem, dass diese Aneignung und damit der menschliche Glaube aufgrund der „Unbestimmtheit der Wahrheit“91 kritikresistent sind und verschiebt schließlich den Glaubensvollzug in die Offenbarung hinein – als einen „Bestandteil der von Gott geoffenbarten Wahrheit selbst“.92 Abgesehen davon, dass angesichts der Wittekindschen Rekonstruktion der Theologie Ritschls nicht ganz deutlich werden will, inwiefern Barth damit den „theologische[n] Zusammenhang mit der Schule ver[lässt]“,93 fußt der umrissene theologiegeschichtliche Prozess zu einem Drittel auf einer inspirierenden, jedoch tendenziösen Rekonstruktion der Theologie Kaftans. Wittekind stützt seine Darstellung der Kaftanschen Theologie dabei ausschließlich auf die frühe – allerdings in der Tat programmatische – Schrift zur Predigt des Evangeliums sowie auf die Dogmatik. Dies und vor allem ————— 87 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 255. 88 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 253. 89 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 254. 90 Alle Zitate: WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 254. 91 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 257. 92 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 258. 93 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 258 (Hervorhebung von C.C.). Wittekind stellt selber fest, dass Barth die „individualitätskritischen […] Momente des Glaubensverständnisses der [Ritschl-]Schule zu Recht betont“ (ebd.) – wieso fällt Barths kritische Wendung gegen das subjektive Glaubensmoment dann als Verlassen eben jener Schule auf? Eher wäre von einer stärkeren, sogar schrofferen (sozusagen dialektischen) Herausarbeitung des objektiv-normativen Moments im Zusammenhang von Gottesoffenbarung und Glauben zu reden, welches aber bereits in der Ritschlschen und auch in der Kaftanschen Theologie systembestimmend ist.

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die Tatsache, dass er in seinen Studien die formale Bestimmung des Glaubens als Ausdruck wahren Selbstverständnisses der Frage nach dem Glaubensinhalt überordnet, führt dazu, dass er die Kaftansche Wesensbestimmung des Christentums vom Gottesreich- bzw. Erlösungsgedanken her nicht als das grundlegende Argument anerkennt, welches es bei Kaftan ist. In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass Wittekind in seiner Kaftan-Darstellung die für Kaftan voranstehenden Konstitutionsmomente des subjektiven Glaubens zugunsten dessen innerlich-selbstreflexiver Verfasstheit zurückstellt.94 Zwar betont Wittekind, dass Kaftans Glaubenstheorie nicht subjektivistisch ist, insofern sie „die objective Wahrheit der Innerlichkeit“95 des Glaubens an der geschichtlichen Offenbarung zur Darstellung bringt. Aber Wittekind überbetont die subjektive Seite des individuellen Glaubens solchermaßen, dass er schließlich behaupten kann, der Gottesgedanke sei nach Kaftan „ein Moment der Innerlichkeit des Bewußtseins“.96 Dass hier der Akzent der Wittekindschen Darstellung liegt, zeigen auch die Rezensenten seiner Studie, indem sie nämlich Kaftan nun tatsächlich nur noch der innerlichkeitsbezogenen Dimension des Glaubens nach begriffen sehen,97 und es so nicht mehr deutlich wird, dass Kaftan selber die Objektivität und Inhaltlichkeit des Glaubensgegenstandes nicht nur betont, sondern an die erste Stelle gesetzt hat. Die Vermittlung zwischen der Objektivität oder Wahrheit der Offenbarung und ihrer subjektiven Aneignung betrachtet zwar auch Kaftan als dermaßen dringend, dass er hier „den eigentlichen Grundgegensatz unsrer Tage auf dem theologischen Gebiet“98 liegen sieht. Er selber aber entschei————— 94 Vgl. hierzu unten Kapitel 4, v.a. 4.2.3, 4.2.4 sowie 4.3.2. 95 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 141. Vgl. auch a.a.O., 92, 96f, 104, 107, 109, 112f, 123, 135f. 96 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 132. Vgl. ähnlich a.a.O. 89f, 115, 118–120, 126f, 130. 97 Vgl. MARSH, Rezension, 784: „For Kaftan, faith has ultimately become a more individualistic phenomenon.“ – Vgl. WEINHARDT, Rezension zu Wittekind in ThLZ 126, 2001, 4, 423–426, welcher hinsichtlich Kaftans vor allem die These Wittekinds zitiert, im Glauben komme es „in keiner Weise auf die Inhalte des Christentums und deren Wahrheit an, sondern allein auf die formale Qualität, Ausdruck des inneren Bewußtseins zu sein“ (a.a.O., 424; Zitat aus Wittekind, Geschichliche Offenbarung, 123). Weinhardt selber bemerkt allerdings gegen Wittekind, dass es Kaftan auf die Vermittlung „zwischen Offenbarung und Subjektivität“ angekommen sei (a.a.O., 424). – Vgl. Christian DANZ, Rezension in PhJ 109, 2002, 2, 408–410: „Als Grundzug des Glaubensbegriffs von Kaftan ergibt sich ein geschichtliches sittliches Selbstbewußtsein wahrer individueller Subjektivität“ (a.a.O., 409). Zwar verweist Danz auch auf Wittekinds Herausarbeitung des Offenbarungsbegriffs bei Kaftan und damit auf das Moment der Normativität und Allgemeingültigkeit. Doch endet seine Zusammenfassung mit der, wie sich zeigen wird, wahrlich einseitigen These, die Dogmatik sei bei Kaftan „nichts anderes als die Darstellung des chistlichen Selbstbewußtseins“ (ebd.; Hervorhebung von C.C.) – eine konsequente Darstellung der Wittekindschen Kaftan-Studie, aber nicht des Dogmatikbegriffs Kaftans selber. 98 Kaftan, Religionsphilosophische Anschauung Kants, 21.

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det sich dezidiert dafür, die „christliche Heilserfahrung“ nicht als einen „bloß subjectiven Vorstellungskreis“ zu entfalten, sondern in Hinsicht auf ihre „der metaphysischen Wahrheit entsprechenden Objectivität.“99 Dies geht zusammen mit der eschatologischen Wesensbestimmung des Christentums ausgehend vom Reichgottesgedanken – welcher in Wittekinds Darstellung völlig marginalisiert wird100 –, insofern der Gottesglaube nicht zuvörderst das „Innewerden von Persönlichkeit“101 ist, wie Wittekind meint. Solches „Innewerden“ im Sinne von gesteigerter Selbstdurchsichtigkeit ist der christliche Glaube nur, indem er zunächst die weltenthebende Erfahrung der überweltlichen Persönlichkeit Gottes ist, welcher als Grund allen menschlichen Personwerdens und damit als Grund aller ethischer Weltgestaltung begriffen wird. Deshalb wird im Folgenden von Kaftans eschatologischer Wesensbeschreibung der christlichen Religion ausgegangen, welche auf einer Verzahnung religionsvergleichender und biblisch-theologischer Methodik im Interesse einer Dogmatik aufruht, die von Kaftan nicht zuvörderst als „die unmittelbare Darstellung der Selbstdurchsichtigkeit des inneren Lebens“102 begriffen wird, sondern solche erst vermittels der Darstellung der Gotteserkenntnis ist. Von hier aus kann gezeigt werden, inwiefern erstens der christliche Erlösungsglaube im ethischen Selbstvollzug wirklich wird und inwiefern er deshalb zweitens – und nachgeordnet – die subjektiv-individuellen Zusammenhänge des inneren Lebens zur Selbstdurchsichtigkeit erhebt. Für diese nachgeordnete Betrachtung der subjektiv-innerlichen Aneignung des Erlösungsglaubens wiederum ist Wittekinds Interpretation eine instruktive Vorgabe, die vor allem das gängige Vorurteil, Kaftan sei ein konservativer Ritschlianer, der an vormodernen Paradigmen unkritisch festhält,103 in systematisch-theologisch aufschlussreicher Weise korrigiert. ————— 99 Kaftan, Religionsphilosophische Anschauung Kants, 21. 100 So berücksichtigt WITTEKIND – wohl aufgrund seiner Textauswahl – nicht, dass Kaftan die Wesensbeschreibung der christlichen Religion in der (apokalyptisch-eschatologisch verstandenen!) Reichgottesbotschaft Jesu verortet (vgl. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung, 114), meint sogar, das historische „Faktum[…] der Offenbarung Gottes in Jesus Christus“ habe nach Kaftan nicht die Gottesreichverkündigung Jesu, sondern „die Erkenntnis absoluter Normierung jeder wahren inneren Selbsterkenntnis“ zum Inhalt (a.a.O., 124). Zwar ist letzteres nicht falsch, aber bei Kaftan ist es prinzipiell von ersterem – eben dem Gottesreichwirken Jesu – her zu verstehen! Hiermit in Zusammenhang steht, dass Wittekind den anthropologischen Anknüpfungspunkt Kaftans – das Verlangen nach Leben – ebenso wenig bedenkt wie die Bedeutung des Begriffs vom höchsten Gut (vgl. bes. a.a.O. 128–131). 101 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 130. 102 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 121 (Hervorhebung von C.C.). Vgl. ähnlich a.a.O., 92, 120, 130, 134, 254. 103 Dies wird z.B. aus der Position Kaftans in der Auseinandersetzung mit Troeltsch in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts geschlossen; vgl. (auch für Literatur) unten Kapitel 4.2.6.

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Einleitung

Um Kaftans Denken solchermaßen nachzuzeichnen, kann nicht der Werkgeschichte nachgegangen werden, sondern ist systematisch anzusetzen. Dabei werden nicht nur die Hauptwerke Kaftans, sondern auch die kürzeren Gelegenheitsschriften heranzuziehen sein, da sie aus dem zeitgenössischen Diskurs – zum Teil: der Kontroverse – heraus in besonders eindrücklicher Weise zeigen, welches die zentralen Gedanken Kaftans sind. Zur Herausforderung wird dies immer dann, wenn – was nicht selten der Fall ist – diese Schriften in formelhaft-programmatischer Weise ihre Thesen vortragen. Es ist daher das interpretative Hin- und Hergehen zwischen gedanklich ausgeführten und programmatischen Schriften, welches in der folgenden Rekonstruktion gewählt wird. Dabei werden – um dem Anspruch einer Gesamtdarstellung zu genügen – nahezu alle theologisch interessierenden Schriften Kaftans herangezogen.

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2. „Ruhelos ist unser Herz …“ – Das eschatologische Wesen der Religion „Ruhelos ist unser Herz ...“ – Das eschatologische Wesen der Religion Hinführung

2.1 Hinführung Im Jahr 1892 erscheint die in der Folgezeit vielfach diskutierte Schrift J. Weiß’ zur Predigt vom Reich Gottes.1 Weiß deutet die Reichgottesverkündigung Jesu hier konsequent im Kontext der apokalyptischen Hoffnungen des Judentums zur Zeit Jesu und tritt mit der These hervor, Jesus habe das Reich Gottes als nahes Ereignis der endzeitlichen Zukunft verstanden. Jesus ist ähnlich wie Johannes der Wegbereiter des Gottesreichs und verkündet, allein durch Gottes eschatologisches Machtwirken werde in naher Zukunft das Gottesreich, die neue Welt, begründet. Weiß setzt sich damit vehement von allen Deutungen ab, welche das Reich Gottes Jesu Botschaft nach als gegenwärtige Wirklichkeit begreifen, wie sie im 19. Jahrhundert durch die Prominenz Ritschlscher Theologie vielfach vorgetragen wurden. Seine Schrift wirkte damit als Fanfarenstoß, nicht nur im Umfeld religionsgeschichtlicher Forschung am Neuen Testament, sondern auch in Richtung der Frage nach dem Wesen des christlichen Glaubens. So verband sich Weiß’ historische These mit der Behauptung, die apokalyptisch-eschatologische Vorstellung Jesu vom Gottesreich sei von der systematischen Theologie kaum in authentischer Weise aufzunehmen. Werde sie in ihrer geschichtlichen, zeitbedingten Form wahrgenommen, so erscheine sie als Fremdkörper, welcher sich der modernen Rechenschaft über den christlichen Glauben sperre.2 Schweitzer betont in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung,3 dass bereits Reimarus als „der erste und einzige vor Johannes Weiß […] es erkannt und ausgesprochen hatte, daß Jesu Predigt nur eschatologisch war.“4 Demgegenüber nehmen sich Ritschl und seine Schüler als Vertreter einer modernen Umdeutung der Botschaft Jesu aus. Mit dem durch Weiß nun unverkennbar ans Licht gebrachten eschatologischen Charakter jener Botschaft aber „wird es unmöglich, moderne Ideen in Jesus hineinzulegen“.5 ————— 1 Johannes WEISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes (1892), hg. v. F. Hahn, mit einem Geleitwort von R. Bultmann, Göttingen 31964. 2 Vgl. WEISS, Predigt Jesu, 242–247. 3 Albert SCHWEITZER, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (1906), Tübingen 7/91984. 4 SCHWEITZER, Leben-Jesu-Forschung, 256; vgl. das Reimarus-Kapitel a.a.O., 56–68. 5 So SCHWEITZER, Leben-Jesu-Forschung, 264 über Ritschl.

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Damit gibt Schweitzer durchaus zutreffend den Anspruch Weiß’ wieder, gegenüber den durch Ritschl beeinflussten Theologen die authentische Predigt Jesu herauszustellen. Tatsächlich aber betont bereits Kaftan – und das vor dem Erscheinen der Weiß’schen Studie6 – den eschatologischen Charakter dieser Predigt: Das Reich Gottes ist nach Jesus keine innerweltliche und innergeschichtliche Wirklichkeit, sondern Gegenstand der Zukunftshoffnung und als solche der gegenwärtigen Welt in gleichsam apokalyptischer Weise7 entgegengesetzt. Von diesem zentralen Gedanken der Verkündigung Jesu her ist es insgesamt „die Erwartung des nahen Endes in der urchristlichen Gemeinde […], von der man ausgehen muss“,8 will man das Neue Testament als Ausdruck urchristlicher Religion theologisch verstehen.9 Wie sich zeigen wird, verschmelzen dabei freilich die futurische und die präsentische Dimension der eschatologischen Vorstellungsweise – wie Jesus die Gegenwart des Gottesreichs verkündet, so glauben die ersten Christen, „mitten im Vollzug der letzten Dinge darin zu stehen“.10 Gleichwohl ist es die Dimension der Zukunftserwartung, welche auch das gegenwärtige Endzeitbewusstsein prägt, so dass von einer wesentlich (futurisch-) eschatologischen Bestimmtheit des urchristlichen Glaubensbewusstsein zu sprechen ist. Kaftan erhebt dabei anders als Weiß den Anspruch, diese eschatologische Dimension des Reich-Gottes-Begriffs Jesu als zentralen Gehalt auch des gegenwärtigen christlichen Glaubensbewusstseins auszulegen. Voraussetzung hierfür ist, dass die eschatologische Gottesreichverkündigung Jesu sowie ihre Aneigung durch die ersten Christen den geschichtlichen Grund abgibt, von dem her das Wesen des Christentums zu bestimmen ist. Zwar anerkennt auch Kaftan die zeitgeschichtliche Bedingtheit der jesuanischen und urchristlichen Lehre und Frömmigkeit, doch die Reichgottesthematik gerade in ihrer futurisch-eschatologischen Gestalt gehört nicht zu den bloß zeitbedingten Formen, sondern zum bleibend gültigen Kern christlicher Glaubensaussagen. Bevor unter 2.3 rekonstruiert wird, wie Kaftan das We————— 6 So erschien Kaftans Wesen der christlichen Religion bereits 1881. 7 Apokalyptik dabei im weiteren Sinne verstanden, das heißt als hoffende Erwartung einer neuen Welt, die der gegenwärtigen Welt radikal gegenübergestellt wird. Vgl. zu der Charakterisierung der jesuanischen Verkündigung als apokalyptischer Kaftans kritische Würdigung von Schweitzers Konzeption im Brief an den Bruder vom 14. April 1915 (Göbell, Briefwechsel II, 572). 8 Kaftan, Aufgabe der neutestamentlichen Theologie, 141. 9 Der Neutestamentler Heikki RÄISÄNEN urteilt über die theologiegeschichtliche Bedeutung von Kaftans Auslegung des Neuen Testaments: „Kaftan chooses eschatology as his starting-point. In so doing he is actually the first author of a New Testament theology to do justice to a central insight of latter-day exegesis.“ (Ders., Beyond New Testament Theology, 28. Vgl. ders., Neutestamentliche Theologie?, 21.) 10 Kaftan, Aufgabe der neutestamentlichen Theologie, 141.

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sen des Christentums von der historischen Reichgottesbotschaft Jesu her entfaltet, sind aber zuvor unter 2.2 die religionstheoretischen Voraussetzungen Kaftans darzustellen. Es ist besonders der Begriff des höchsten Guts, welcher der Einführung bedarf, weil er in Verbindung mit dem Reichgottesgedanken die Wesensbestimmung des Christentums begründet. Der Begriff des höchsten Guts ist bei Kaftan in der Frage nach dem Wesen der Religion verortet. Schon von dieser Wesensbestimmung her und der darauf aufbauenden Typologie geschichtlicher Religionen wird die christliche Vorstellung vom höchsten Gut – zusammengefasst im Reichgottesgedanken – in ihrem wesentlich eschatologischen Profil ansichtig.

2.2 Das Wesen der Religion Das Wesen der Religion

2.2.1 Die Frage nach dem Wesen der Religion Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Theologie in der Gegenwart, das Wesen der christlichen Religion zu erforschen und eine Einigung darüber zu erstreben.11

Mit dieser programmatischen Feststellung beginnt Kaftan seine Schrift zum Wesen der christlichen Religion von 1881/1888.12 Der entscheidende Grund für die hierin umrissene Aufgabenstellung der Theologie liegt ihm zufolge freilich nicht bloß in dem religionswissenschaftlichen Sachinteresse, welches die Theologie daran haben könnte, das anthropologische Phänomen der Religion methodisch kontrolliert zu erforschen. Kaftan meint vielmehr von einem Epochenbruch ausgehen zu müssen, durch welchen vormalige Gewissheiten und damit die gängige Methode der Theologie radikal in Frage gestellt wurden, so dass die Erforschung der Religion aus noch zu erörternden Gründen zu einem existentiellen, weil prinzipiellen Interesse der Theologie selber wird. Den avisierten Epochenbruch expliziert Kaftan hier in der Einleitung zu seiner Wesensschrift noch nicht, sondern spricht vage von der „Umwälzung im geistigen Leben der Völker, welche der neueren Zeit angehört“.13 Es ist jedoch evident, dass mit jener Umwälzung die Epoche der Aufklärung mit ihren Bewegungen insbesondere im Bereich des naturwissenschaftlichen und des historischen Denkens gemeint ist. Beides, natur- und geschichtswissenschaftlicher Fortschritt, und vor allem dessen Folgererscheinungen Naturalismus beziehungsweise Materialismus ————— 11 Kaftan, Wesen, 1. 12 Dieses im Folgenden öfter kurz Wesensschrift genannte Werk ist die vornehmliche Grundlage der Ausführungen in diesem Abschnitt 2.2. Von ihr aus wird auf weitere Schriften Kaftans zu den behandelten Fragen ausgegriffen. 13 Kaftan, Wesen, 1.

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und Historismus sind die ständigen Herausforderungen, vor denen Kaftan seine Theologie zu verantworten sucht. Selbstverständlich steht Kaftan mit der These, die geistesgeschichtlichen Veränderungen seit der Epoche der Aufklärung stellten der Theologie die Aufgabe, ihre Methode gänzlich neu zu bestimmen, nicht alleine. Vielmehr ist die Verwendungsweise des Religionsbegriffs in der modernen Theologie und Philosophie evangelischer Provenienz überhaupt dadurch gezeichnet, dass die bisherige Methode, alle theologischen Aussagen auf die Inspirationslehre zu begründen, durch den Verfall dieser Lehre seit der Aufklärung verunmöglicht wurde.14 Besondere Prominenz erlangte dabei bekanntlich Schleiermachers Versuch, die auf-klärende Frage nach dem Wesen des Christentums an die Stelle der Berufung auf allgemein anerkannte, aus Schrift und Bekenntnis gewonnene Lehren zu setzen, wie er besonders deutlich in der Einleitung zur ersten Auflage der Glaubenslehre hervortritt.15 Bei Kaftan äußert sich die Infragestellung der Theologie durch die Krise des Schriftprinzips darin, dass er meint, „[v]ormals“ habe man die „kirchliche[...] Lehre“ einfach voraussetzen können, um sodann den „Beweis ihrer Wahrheit“16 anzutreten. Bei ihm tritt mithin in den Vordergrund, dass die historisch-kritische Destruktion des Schriftprinzips einhergeht mit der Problematisierung des Verhältnisses von kirchlicher Lehre und Schriftzeugnis. Bereits Luther macht die Notwendigkeit einsichtig, die Schrift als in sich heterogene und zuweilen widersprüchliche Sammlung von Texten, soll sie lehrbegründend sein, von ihrer Mitte her auszulegen – einer Mitte, welche aufzufinden wiederum einen Maßstab erfordert. Dabei gewinnt Luther diesen Maßstab aus dem Wechselverhältnis von Schrift und Glauben, indem er das, „was Christum treibet“, als Norm der Bibelinterpretation zugrunde legt.17 Dieser Ansatz beim Christusglauben findet seine moderne Entsprechung bei jenen Theologen, welche die Wesensbestimmung des ————— 14 Vgl. zur Destruktion der Lehre von der Verbalinspiration und der damit einhergehenden Krise des Schriftprinzips Wolfhart PANNENBERG, Systematische Theologie I, Göttingen 1988, 133f, 138f sowie ders., Die Krise des Schriftprinzips, in: ders., Grundfragen Systematischer Theologie, Gesammelte Aufsätze, Göttingen 31979, 11-21. 15 So legt Friedrich SCHLEIERMACHER in den §§5 und 6 der Einleitung in die Glaubenslehre dar, dass das „Wesen des Christentums“ nicht „als allgemein eingestanden“ voraus gesetzt werden kann, sondern vielmehr strittig geworden ist, wobei er besonders auf den Gegensatz von Supranaturalismus und Rationalismus anspielt. Vgl. ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/22), im Folgenden wie auch die anderen Schriften Schleiermachers zitiert nach der von H.-J. Birkner u.a. hg. KGA: I. Abt. Bd. 7,1, hg. v. H. Peiter, Berlin/New York 1980 (hier zitiert: 18 und 21). Vgl. zu Schleiermachers Wesensbestimmung des Christentums Markus SCHRÖDER, Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tübingen 1996. 16 Alle Zitate: Kaftan, Wesen, 1 (im Original z.T. hervorgehoben). 17 Vgl. Martin LUTHER, WA DB 7,384,25–29 (in: Vorrede auf die Episteln Sanct Jacobi und Judas. 1546).

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Christentums aus diesem selbst heraus vornehmen, ohne dafür einen allgemeinen Begriff der Religion heranzuziehen. Ein solches Vorgehen, für welches an prominenter Stelle Ritschl steht und welches innerhalb der Ritschlschule vor allem durch Reischle aufgenommen wird,18 hat einiges für sich, setzt doch die Wesensbestimmung der Religion offensichtlich einen Allgemeinbegriff von Religion voraus, welcher in sich problematisch ist. Die Problematik eines Allgemeinbegriffs der Religion ist in der modernen Theologie- und Philosophiegeschichte gleichsam in drei Phasen und damit drei Facetten aufgedeckt worden: So hat Hume darauf hingewiesen, dass die positiven Religionen das Ursprüngliche gegenüber der aus ihnen abgeleiteten natürlichen Religion sind. Die Religion existiert überhaupt nur als je geschichtlich-individuelle; die Idee einer natürlichen Religion ist die Abstraktion aus der geschichtlichen Mannigfaltigkeit.19 Sodann hat die Religionskritik des frühen Fichte auch die Konzeption einer Vernunftreligion, wie sie Kant gleichsam als Ersatz für die Idee einer natürlichen Religion entworfen hat,20 erschüttert.21 Und schließlich wurde durch die Vertreter einer religionsgeschichtlich ausgreifenden Religionsphilosophie und Theologie wie Biedermann, Pfleiderer, Troeltsch und später den Kaftan-Schüler Wobbermin in jeweils unterschiedlicher Weise zum Bewusstsein gebracht, dass jeder Allgemeinbegriff von Religion bereits einen Standort abbildet, welchen der Betrachter der Religionsgeschichte an diese heranträgt, so dass der Religionsbegriff immer schon die Züge des Idealbegriffs trägt.22 ————— 18 Vgl. zu beiden Kaftan, Dogmatik, 14f. Vgl. Albrecht RITSCHL, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung III: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 41895 (unveränderter Abdruck der dritten Auflage 1888), bes. 184–193, und Max REISCHLE, Die Frage nach dem Wesen der Religion. Grundlegung einer Methodologie der Religionsphilosophie, Freiburg i.Br. 1889, 1–76. 19 Vgl. dazu David HUME, The natural history of religion (1755), dt. z.B.: Die Naturgeschichte der Religion, übers. u. mit einem Abriß der Geschichte des Deismus in England eingel. v. A.J. Sußnitzki, Frankfurt a.M. 1911. 20 Vgl. dazu vor allem KpV, 122–146 (AA V) und die Religionsschrift (AA VI) sowie zur Interpretation Kants hier PANNENBERG, ST I, 144. Die Schriften Immanuel KANTs werden im Folgenden nach der so genannten Akademieausgabe (AA) zitiert (hg. v. d. ursprünglich Preußischen, dann Deutschen Akademie der Wissenschaften als „Kants gesammelte Schriften“, 1902ff). Folgende Abkürzungen werden verwendet: KpV = Kritik der praktischen Vernunft (1788), AA V, 1–164; KrV = Kritik der reinen Vernunft, 11781, AA IV, 1–252 und 21787, AA III, 1–552; Rel. oder Religionsschrift = Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), AA VI, 1–202. 21 Vgl. dazu insbes. den späten Johann G. FICHTE, v.a. Die Anweisung zum seligen Leben (1806), Hamburg 31983. 22 Vgl. hierzu v.a. die Kritik Alois E. BIEDERMANNs an Otto Pfleiderer: ders., Pfleiderers Religionsphilosophie, in: PKZ 49, 1878, 1029–1039. In der ersten Auflage seines religionstheoretischen Hauptwerks hatte PFLEIDERER nämlich noch versucht, die Religionsgeschichte aus einem Allgemeinbegriff der Religion herleiten zu können (vgl. ders., Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 3 Bd., Leipzig 1869). In der Folgeauflage (1878) schreitet Pfleiderer umgekehrt von

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Wenn Kaftan nun dennoch mit seiner Wesensschrift den Versuch vorlegt, die Religion in ihrem Wesen zu bestimmen, um darauf aufbauend zuerst das Wesen des Christentums zu bestimmen und dies in einer eigenen Schrift in seiner Wahrheit zu erweisen,23 so schließt er sich damit an Schleiermacher und Hegel an. Beide bemühten sich auf je verschiedene Weise um eine begriffliche „Systematik der Religionen als Bedingung der Urteilsbildung über Eigenart und Wahrheitsanspruch des Christentums“.24 Pannenberg meint, diese Bemühungen hätten „in der Theologie des 19. Jahrhunderts nur teilweise Nachfolge gefunden“.25 Zumeist wurde die Krise des Schriftprinzips und damit der Theologie „durch Berufung auf die subjektive Glaubenserfahrung“26 und die vor allem moraltheoretisch begründete Einordnung dieser Erfahrung in die allgemeinen Bedingungen von Subjektivität zu überwinden gesucht. Ohne dass Pannenberg darauf hinweist, wird vor diesem Hintergrund Kaftans Stellung in der so genannten Ritschl-Schule deutlich: Mit seiner auf der Wesensbestimmung der Religion aufbauenden Apologetik und Dogmatik des Christentums wendet sich Kaftan zum einen gegen den theologischen Ausgangspunkt Ritschls, welcher die christliche Religion nicht von einem zuvor festgestellten Wesen der Religion, sondern ————— der empirischen Religionsgeschichte zur Bestimmung des Wesens der Religion fort – freilich ohne, dass die Religionsgeschichte konstitutive Bedeutung für letzteren hätte. Erst Ernst TROELTSCH hat die hiermit zum Ausdruck gebrachten methodologischen Bedenken 1902 in seiner Absolutheitsschrift zu prinzipieller Bedeutung erhoben: Die unterschiedlichen Werte und Normen stehen in der Geschichte der Religionen in einem Konflikt zueinander, welcher prinzipiell offen ist, solange diese Geschichte andauert. Jegliche Rede von der Absolutheit einer bestimmten Religion gibt nur vor, diesen offenen Prozess durch willkürliche Setzung abzuschließen. Vgl. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 1902, 21914 (in: KGA 5, 81–244). Vgl. zur Auseinandersetzung Kaftans mit Troeltsch unten Kapitel 4.2.6. Georg WOBBERMIN, Schüler Kaftans, spricht später vom „religionsgeschichtlichen Zirkel“, um die Standortbestimmheit jeder religionsgeschichtlichen Konstruktion kenntlich zu machen. Vgl. ders., Die religionspsychologische Methode in Religionswissenschaft und Theologie, Leipzig 1913, 405ff, sowie ders., Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode 1: Einleitung in die systematische Theologie. Prinzipien- und Methoden-Lehre im Hinblick auf ihre Geschichte seit Schleiermacher, Leipzig 21925, 405–409. 23 Vgl. Kaftan, Die Wahrheit der christlichen Religion, Basel 1888. Zusammengenommen bilden Wesens- und Wahrheitsschrift den Versuch einer Apologetik des Christentums. Zur Funktion der Apologetik und ihrem Verhältnis zur Dogmatik bei Kaftan vgl. unten Kapitel 4.2.2–4.2.4. 24 PANNENBERG, ST I, 145. Vgl. für SCHLEIERMACHER: ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, zweite Auflage (1830/31), zitiert nach KGA, hg. v. H.-J. Birkner u.a.: I. Abt. Bd. 13,1, hg. v. R. Schäfer, Berlin/ New York 2003, §§7 bis 10 und zur Einordnung des Christentums die §§11f (KGA I.,13,1: 60– 106); für HEGEL: ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 1: Einleitung in die Philosophie der Religion. Der Begriff der Religion, neu hg. v. Walter Jaeschke, PhB 459, Hamburg 1993, bes. 95–338. 25 PANNENBERG, ST I, 145. 26 PANNENBERG ST I, 145.

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von dem in der „Gemeinde“27 auszuweisenden Glauben an die Offenbarung Gottes in Christus aus erfasst und die anderen geschichtlichen Religionen von vorn herein in der Perspektive des im Offenbarungsglauben der Gemeinde liegenden christlichen Idealbegriffs von Religion wahrnimmt.28 Wie Kaftan das Herantragen eines christlich geprägten Idealbegriffs in der Wesensbestimmung der Religion vermeiden will, ist gleich zu sehen.29 Es wird sich zeigen, dass Kaftan weniger aus dem Interesse an einer unvoreingenommenen religionsgeschichtlichen Betrachtung die theologische Methodik Ritschls hinterfragt, sondern weil gerade jene unvoreingenommene religionsgeschichtliche Betrachtung wiederum das Mittel dafür abgibt, zweierlei zu erweisen: Zum einen stellt seine Wesensschrift im Anschluss an Schleiermacher30 den Versuch dar, die Selbständigkeit der Religion im menschlichen Geistesleben auch gegenüber ihrer Bedeutung für den sittlichen Lebensvollzug zu begründen – eine Selbständigkeit, welche bei Kaftan letzthin im eschatologischen Wesen der Religion begründet ist. Zum anderen läuft Kaftans Wesensbestimmung der Religion darauf hinaus, die unaufhebbare Korrelation menschlicher Religion mit ihrem Gegenstand – Gott oder den Göttern – zu erweisen. Dieses Anliegen teilt er mit Ritschl, setzt es theologisch aber in anderer Weise um: Gerade von dem anthropologisch-religionstheoretischen Aufweis des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Religion und Gottesbegriff her erschließt sich für Kaftan die konstitutive Bedeutung des Gottesbegriffs in der christlichen Religion. Beide Zielpunkte der Wesensbestimmung der Religion – der Erweis der Selbständigkeit der Religion und die Begründung der religiösen Funktion des Gottesbegriffs – zielen damit ganz offensichtlich auf eine Apologetik der christlichen Religion als vollendeter Religion hin. Deshalb ist Kaftans Kritik an einem vorschnell herangetragenen Idealbegriff der Religion nicht ————— 27 Albrecht RITSCHL, Unterricht in der christlichen Religion, Studienausgabe nach der ersten Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der zweiten und dritten Auflage, eingeleitet und herausgegeben von C. Axt-Piscalar, Tübingen 2002, 9. 28 Vgl. dazu RITSCHL, Unterricht, §2. Zur Abgrenzung Kaftans von Herrmann vgl. die Ausführungen unten 2.2.3. 29 Inwiefern Kaftan dies gelingt, ist zu fragen angesichts der prinzipiellen Standortbestimmtheit jeder Wesensbestimmung der Religion, von welcher im Anschluss an Troeltsch gesprochen werden muss. Dass Kaftan selber diese Standortbestimmtheit nicht nur wahrnimmt, sondern gleichsam ins Prinzip seiner Theologie übernimmt, wird unten Kapitel 4.2.6 zu besprechen sein. 30 Kaftan hebt mehrfach hervor, dass es Schleiermachers großes Verdienst ist, „den [religiösen] Glauben zunächst in seinem eignen Sinn, von seinen praktischen religiösen Wurzeln aus zu verstehn“ (Kaftan, Wesen 103; Hervorhebung im Original), um so seine Selbständigkeit gegenüber Wissen und Handeln zu begründen. Wie sich noch zeigen wird, hat diese Anknüpfung an Schleiermacher Konsequenzen für die Entfaltung der christlichen Glaubensaussagen, indem sie eben auf das Religion-Sein des Christentums – nicht auf einen theoretischen Erkenntnisanspruch – zurückzuführen sind. Vgl. hierzu weiter Kaftan, Wesen, 142; ders., Dogmatik, 10, 13–16, 109, 111; ders., Philosophie, 408; ders., Theologie und Kirche, 6f und unten Kapitel 4, v.a. 4.2.2 und 4.3.2.

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zu verwechseln mit einer Kritik am Absolutheitsbegriff als Zielpunkt der christlich-theologischen Apologetik, wie sich insbesondere in Kaftans Auseinandersetzung mit Troeltsch zeigen wird.31 Der Wesensbegriff bei Kaftan dient damit dem Ziel, die christliche Religion in den Gesamtzusammenhang geschichtlicher Religionen einzuordnen, wobei er zunächst einmal die Frage leitet, welche Phänomene überhaupt als Religion zu benennen sind. Erst darauf aufbauend kann die Selbständigkeit der Religion gegenüber anderen Lebensvollzügen herausgestellt werden und schließlich die christliche Religion als vera religio beschrieben werden. Dass die Wesensbestimmung der Religion dabei von der Krise des Schriftprinzips ausgeht, bedeutet zugleich, dass es hier nicht zuvorderst um eine nach außen gerichtete Apologie der christlichen Religion geht, sondern darum, innerhalb der christlichen Religion die wahre von der falschen Religion zu unterscheiden: Die Wesensbestimmung der christlichen Religion liefert den Maßstab, durch welchen die Auslegung der Schrift in Richtung auf eine dem Wesen des Christentums entsprechende Dogmatik normiert und gegenüber anderen Optionen als wahr verteidigt wird. Dass somit die Wesensbestimmung der Religion letztlich auf die Gestaltung der Dogmatik als wahrhaft schriftgemäßer abzielt, darf nicht aus den Augen verloren werden, wenn Kaftans Erörterungen zum anthropologischen Wesen der Religion studiert werden. Umgekehrt zeigt der Ansatz in der Wesensbestimmung der Religion, dass Kaftan dezidiert moderne Theologie zu betreiben sucht, das heißt eine solche Theologie, welche die geistesgeschichtlichen Umbrüche seit der Aufklärung als kritische Herausforderung an die Theologie annimmt und ihren Gehalt gegenüber dieser Herausforderung neu begründet und verantwortet, in anderen Worten: umbildet.32 Wie bereits bedeutet, stellt Kaftan selber die theologische – oder gar: dogmatische – Abzweckung der Wesensbestimmung der Religion zunächst zurück: Er versucht, das Herantragen eines Idealbegriffs von Religion in seiner Beschreibung der geschichtlichen Religionen zu vermeiden und tut dies, indem er den Wesensbegriff in bestimmter Weise funktionalisiert – nämlich als heuristischen Begriff, welcher es aller erst ermöglicht, Sachen oder Phänomene einer gemeinsamen Gruppe zuzuordnen:

————— 31 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.6. 32 Zum Umbildungsterminus vgl. z.B. Kaftan, Dogmatik, 65, 75, 95f im Gesamtzusammenhang seiner Einleitung in die dogmatische Aufgabe und Methode. – Vgl. hierzu auch WITTEKIND (zentral: ders., Geschichtliche Offenbarung 86), der das dogmatische Reformanliegen Kaftans deutlich in seiner Bezogenheit auf das „moderne[…] Leben[…]“ (ebd.) herausstellt.

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Das Wesen der Religion, nach welchem wir fragen, bedeutet nicht mehr und nicht weniger als diejenigen Merkmale, welche allen geschichtlichen Religionen gemeinsam sind.33

Beim geschichtlichen Vorkommen der positiven Religionen also ist anzusetzen, wobei sich zeigen wird, dass Kaftan hier ein weites religionsgeschichtliches Material heranzieht, welches er vor allem aus religionswissenschaftlicher Literatur gewinnt.34 Die leitende Frage ist dabei zunächst ganz einfach diejenige nach den Gemeinsamkeiten, welche diese Religionen verschiedenster Kulturkreise aufweisen und den Beobachter dazu verleiten, sie unter dem Oberbegriff „Religion“ zusammenzufassen. Ausgehend von seinen Studien der Religionsgeschichte kommt Kaftan zu einer Bestimmung des genus proximum der Religion: Die Religion ist […] eine praktische Angelegenheit des menschlichen Geistes, d.h. sie gehört im Unterschied von allem eigentlichen Wissen auf diejenige Seite unsres geistigen Lebens, wo Werthe und nicht Thatsachen in letzter Instanz entscheiden; sie entspringt nirgends aus objectiver Beobachtung und Erforschung der Welt, sondern überall aus der Stellung, die wir mit unseren persönlichen Interessen zur Welt einnehmen; sie kann niemandem aufgenöthigt werden, wie das von wissenschaftlichen Urteilen gilt, sondern ist eine Sache der inneren Freiheit. Das ist das erste und allgemeinste Merkmal aller Religion.35

Die die gesamte Wesensschrift und darüber hinaus das Denken Kaftans durchziehende Qualifizierung der Religion als einer „praktischen Angelegenheit“ betrifft die Grundlage der Kaftanschen Religionstheorie und gereicht weiterhin als Merkmal der Abgrenzung der Religion von anderen Formen menschlichen Lebens. In der positiven Bestimmung und der negativen Abgrenzung der Religion ist zugleich angedeutet, wie der Praxisbegriff bei Kaftan zu stehen kommt, dessen Bedeutung erst nach der Besprechung der ethischen und erkenntnistheoretischen Implikationen der Wesensbestimmung der Religion in Gänze erhellt sein wird.36 ————— 33 Kaftan, Wesen, 3f (im Original hervorgehoben). 34 So bezieht er sich in der Wesensschrift auf Theodor WAITZ’, von Georg GERLAND fortgeführte große Anthropologie der Naturvölker (6 Bd., Leipzig 1860–1872) und auf Carl Friedrich VON NÄGELSBACHs Werke zur homerischen und nachhomerischen Theologie (Die nachhomerische Theologie des griechischen Volksglaubens bis auf Alexander [1857], Hildesheim 2004; Die homerische Theologie in ihren Zusammenhängen dargestellt, Nürnberg 31884). 35 Kaftan, Wesen, 50f. Zur Religion als „praktischer Angelegenheit des menschlichen Geistes“ vgl. die Überschrift des ersten Kapitels der Wesensschrift (a.a.O., 28) sowie a.a.O., 49 u.ö. Vgl. auch ders., Dogmatik, 15. 36 So wird die Besprechung des Verhältnisses von Religion und Moral bei Kaftan in Kapitel 3 zeigen, dass die Religion auch insofern eine praktische Angelegenheit ist, als sie handlungsnormierendes Potential besitzt. In Kapitel 4 schließlich wird die erkenntnistheoretische Valenz des Praxisbegriffs deutlich werden: Die religiöse Erkenntnis ist als praktische Erkenntnis bestimmt und von der theoretischen abgegrenzt. Der Knotenpunkt der ethischen und der erkenntnistheoreti-

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„Ruhelos ist unser Herz ...“ – Das eschatologische Wesen der Religion

Positiv bestimmt wird die Religion über ihre Verortung in einem Bereich37 menschlichen Lebens, in welchem Werte, persönliche Interessen und die Freiheit des Individuums die entscheidende Rolle spielen. Abgegrenzt ist dieser Bereich von allen Bereichen der Tatsachen, der Objektivität und des Zwanges der Tatsachen. Damit sind Weichen gestellt, und in der Tat steht jeder der hier unpräzise verwendeten Begriffe für einen Teilaspekt der Kaftanschen Religionstheorie: Erstens legt Kaftan eine erkenntnistheoretische Begründung der Selbständigkeit der Religion und des religiösen Glaubens im Gegenüber zu anderen Formen der Erkenntnis zugrunde, welche mit werttheoretischen Überlegungen operiert. Zweitens wird diese werttheoretische Beschreibung der Religion wiederum in einer anthropologischen Theorie des menschlichen In-der-Welt-Seins fundiert, die durch einen lebensphilosophischen Zuschnitt geprägt ist. Und drittens wird die Religion mit der „Sittlichkeit“38 in Beziehung gesetzt, wodurch sie als Sache aktiver, gestalterischer und freiheitlicher Persönlichkeit aufgefasst wird, ohne dass sie als mit der Sittlichkeit identisch betrachtet würde. Diese Teilaspekte – welche allerdings nicht der Kapiteleinteilung des ersten Abschnitts der Wesensschrift entsprechen, sondern sich der Rekonstruktion verdanken39 – prägen in ihrer spezifischen Zuordnung, die im Verlauf dieser Arbeit herauszustellen ist, den theologischen Entwurf Kaftans im Ganzen. Sie leiten deshalb die hier vorliegende Rekonstruktion dieses Entwurfs. Dabei ist der zweite Aspekt, die lebensphilosophische Grundlegung der Religionstheorie, zuerst zu betrachten, da Kaftan an ihr die differentia specifica der Religion im Verhältnis zu anderen „praktischen Angelegenheiten des menschlichen Geistes“ ausweist: Dass die Religion aus „der Stellung“ entspringt, die „wir mit unseren persönlichen Interessen zur Welt einnehmen“, meint Kaftan deshalb, weil sich seiner Beobachtung nach die Religion in all ihren geschichtlichen Formen äußert ————— schen Bedeutung des Praxisbegriffs liegt im Begriff des Werturteils, wie es unten Kapitel 4.2.2 Darstellung findet. 37 Wenn im Folgenden von „Bereichen“ menschlichen Lebens gesprochen wird, die als Religion, Moral und Wissen voneinander unterschieden werden, so ist damit wie bei Kaftan selber nicht gemeint, dass diese Bereiche „Ausschnitt[e] aus dem menschlichen Leben“ (Kaftan, Die empirische Methode in der Ethik, in: Philotesia. Paul Kleinert zum LXX. Geburtstag, Berlin 1907, 255–268, hier: 258; Hervorhebung von C.C.) sind. Vielmehr ist jeweils das menschliche Leben als ein Ganzes im Blick, aber beurteilt „in einer bestimmten Beziehung“ (ebd.). 38 Kaftan, Wesen, 145 u.ö. 39 Die werttheoretische Beschreibung der Religion findet sich v.a. im ersten Kapitel zur Religion als praktischer Angelegenheit und prägt sodann das dritte Kapitel zum religiösen Glauben und das fünfte Kapitel zur Offenbarung, welche aber auch durch den lebensphilosophischen Gedanken bestimmt werden. Dieser wird im zweiten Kapitel mit dem Titel „Das höchste Gut“ eingeführt. Dem Vergleich der Religion mit der Sittlichkeit ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das vierte; Grundzüge zum Verständnis der Sittlichkeit finden sich aber bereits im zweiten Kapitel.

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als Verlangen nach Schutz des Lebens und Erhöhung des Lebensgenusses durch die Macht der Götter, – als Streben über die Welt hinaus nach Theilnahme am Leben der Gottheit.40

Inwiefern dieses gemeinsame Merkmal aller geschichtlichen Religionen die Religion von anderen „praktischen Angelegenheiten des menschlichen Geistes“, das heißt vor allem von der Sittlichkeit, unterscheidet, ist im folgenden Abschnitt zu zeigen (vgl. 2.2.2), wobei zugleich deutlich werden wird, wie die im eben angeführten Zitat auszumachende Unterscheidung zwischen einem Streben nach dem „Schutz des Lebens und Erhöhung des Lebensgenusses durch die Macht der Götter“ von einem solchen nach der „Teilnahme am Leben der Gottheit“ zu verstehen ist (vgl. 2.2.3). Sodann ist zu fragen, wie die bereits in der zitierten Bestimmung des Wesens der Religion auszuweisende Korrelation von menschlicher Bewusstseinshaltung und göttlicher Wirklichkeit bei Kaftan gestaltet ist (vgl. 2.2.4). 2.2.2 Das Verlangen nach Leben und seine Grenzen Obwohl Kaftan es ablehnt, die Wesensbestimmung der Religion in einer Wesenbestimmung des Menschen zu gründen – vor allem deshalb, da er hier die Gefahr der vorschnellen Einführung eines Idealbegriffs des Menschen und damit einer notwendigerweise zum Menschsein gehörenden Idealgestalt der Religion sieht41 – entfaltet er eine Anthropologie der basalen menschlichen Weltstellung. In diese werden sodann die höheren Phänomene des menschlichen Lebens wie die Religion und die Sittlichkeit eingestellt. Inwiefern sich angesichts dieser anthropologischen Grundlegung der Religionstheorie der religionskritische Projektionsverdacht erhebt, und inwiefern es der Offenbarungsgedanke ist, welchen Kaftan seinem anthropologischen Ausgang schließlich in theologisch folgenreicher Weise entgegenstellt, wird zu fragen sein.42 Vorwegnehmend ist zu sagen, dass der anthropologische Ausgangspunkt der Religionstheorie den Verständigungsrahmen bereit stellt, von welchem her die Religion in ihrer selbständigen ————— 40 Kaftan, Wesen, 77. Der Begriff „Gottheit“ wird von Kaftan – ohne dass er dies selber religionswissenschaftlich expliziert – verwendet, um die Gottesvorstellung als religionsgeschichtliches Phänomen in seiner ganzen Vielfalt erfassen zu können. Gleichwohl schwingt in dieser Begriffsverwendung bereits mit, dass die theologische Rede von Gott von der religionshistorischen Annäherung an das Phänomen religiöser Gottesvorstellungen bei Kaftan kategorial unterschieden ist. Zur Verwendung des Begriffs „Gottheit“ im neueren religionswissenschaftlichen Kontext vgl. v.a. die Arbeiten Günter LANCZKOWSKIs, z.B. ders., Einführung in die Religionsphänomenologie, in: Die Theologie. Einführung in Gegenstand, Methoden und Ergebnisse ihrer Disziplinen und Nachbarwissenschaften, Darmstadt 1978. 41 Vgl. Kaftan, Wesen, 2 und 4. 42 Vgl. unten 2.2.4.

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Bedeutung für das menschliche Leben gedeutet werden kann. Den Begründungszusammenhang der Religion vor allem im Blick auf ihren Wahrheitsanspruch entfaltet Kaftan allerdings vom Offenbarungsgedanken her.43 Die Rekonstruktion der anthropologischen Grundlegung hat deshalb aufzuzeigen, inwiefern Kaftans Offenbarungsbegriff an den Lebensbegriff zurückgebunden ist und letzterer somit den Aufweis der anthropologischen Bedeutung insbesondere der christlichen Glaubensgehalte steuert. Dabei wird ersichtlich werden, dass die Offenbarungserfahrung in der christlichen Religion eine entscheidende Transformation menschlichen Lebensverlangens bedeutet. Der Schlüsselgedanke der Kaftanschen Anthropologie, an welchen die entscheidenden religionstheoretischen Komponenten angeknüpft werden können, ist die Beobachtung eines „Anspruch[s] auf Leben“, welcher zu menschlichem Dasein wesentlich dazugehört:44 Ein Anspruch auf Leben ist uns allen angeboren und von jedem Menschen als lebendigem Wesen unabtrennbar. […] [W]as jeweilen mit seinem gerade vorhandenen Anspruch auf Leben streitet, oder nach früherer Erfahrung denselben in der Zukunft bedroht, das beurtheilt er als Uebel, es führt Unlust für ihn mit sich; ein Gut aber heißt ihm, was seinen Anspruch auf Leben befriedigt oder ihn in der Befriedigung desselben fördert oder doch eine solche für die Zukunft in Aussicht stellt.45

Jener Lebensanspruch, von dem hier die Rede ist, stellt sich bei jedem Individuum unterschiedlich dar, und unterliegt zudem jeweils einer lebensgeschichtlichen Entwicklung.46 Als grundlegendes Interesse oder als grundlegender Drang nach Erfüllung der jeweils individuellen Lebensbedürfnisse ————— 43 Vgl. hierzu unten Kapitel 4.2.6. 44 Kaftan, Wesen, 58. Der für Kaftans Religionsphilosophie und Christentumsdeutung entscheidende Lebensbegriff ist im Folgenden nicht philosophiegeschichtlich ausgreifend, sondern von seiner Funktion in Kaftans Denken her in den Blick zu nehmen. Ein neben der neutestamentlichen und v.a. johanneischen Theologie wesentlicher Einflussfaktor für die Ausbildung des Kaftanschen Lebensbegriffs ist freilich unten Kapitel 3.1 eigens zu bedenken: die Philosophie F. Nietzsches, da sie einen entscheidenden Ansatzpunkt für Kaftans Integration der Ethik in die Theologie darstellt. 45 Kaftan, Wesen, 58f. 46 Zu Kaftans Verständnis der ontogenetischen „Entwicklung“ des menschlichen Lebensverlangens vgl. ders., Wesen, 59: „Wir beginnen alle damit, daß die Befriedigung der nächsten sinnlichen Lebensbedürfnisse alles ist, was wir verlangen. Alsbald entwickeln sich auf dieser Grundlage je nach der angeborenen leiblichen wie geistigen Organisation und der durch die Verhältnisse bedingten Erziehung weitergehende Ansprüche – eine Entwicklung, die nie aufhört, weil unser Leben selbst darin besteht.“ Hier wird bereits die Bedeutung sichtbar, die Kaftan der Erziehung als neben der biologischen Ausstattung entscheidende Komponente menschlicher Lebensentfaltung zuschreibt. Vgl. dazu v.a. seine Ausführungen zur sittlichen Entwicklung, wie sie unten Kapitel 3.2 dargestellt werden. Kaftan kann das Verlangen nach Leben zuweilen auch als Streben nach Glück bezeichnen (vgl. z.B. ders., Wahrheit, 49, 51), aber der Lebensbegriff steht bei ihm im Vordergrund – wohl weil er in eminentem Maße theologisch und insbesondere eschatologisch anschlussfähig ist.

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jedoch ist er eine Konstante der menschlichen Grunddisposition. Vereinfacht formuliert heißt sie: Jeder Mensch, der einmal lebt, will leben47 und beurteilt alles, was ihm widerfährt, (auch)48 von diesem Lebensanspruch her. Das heißt, von seinem Verlangen nach Leben her lassen sich alle Erfahrungen, die ein Mensch macht, entweder als Erfahrung eines Übels oder als Genuss eines Gutes bezeichnen. Ersteres hindert die Erfüllung des Lebensverlangens, letzteres erfüllt es – zumindest partiell oder temporär: Güter sind das sinnliche Leben selbst, dann alles, was zu seiner Erhaltung förderlich ist, und endlich was dieses Lebens Genuß zu erhöhen dient, – worüber die Vorstellungen im einzelnen wieder sehr verschieden sein können.49

Damit ruft der Genuss eines lebensfördernden Gutes – zunächst abgesehen davon, ob es sich um ein natürliches oder um ein geistiges Gut handelt – im Menschen ein Gefühl der Lust, die Erfahrung eines lebenseinschränkenden Übels ruft ein Gefühl der Unlust hervor.50 Bereits an dieser Stelle ist festzuhalten, dass der Gefühlsbegriff – wie im Rahmen der Glaubenstheorie noch genauer darzustellen ist51 – bei Kaftan im Anschluss an Schleiermacher der für die Verortung der Religion im Vermögenshaushalt des Menschen zentrale Begriff ist.52 Allerdings versteht Kaftan das Gefühl anders als Schleiermacher nicht als reines Selbstgefühl,53 sondern nimmt die Kritik Ottos an ————— 47 Wie Kaftan die Selbsttötung oder die Sehnsucht nach dem Tode mit seiner These vereinbaren will, expliziert er nicht. Eine Möglichkeit der Vereinbarung bestünde allerdings darin, auch solche dem Lebensverlangen offensichtlich widersprechenden Phänomene als aus diesem hervorgehende zu verstehen, d.h. als Reaktionen auf radikale Enttäuschungserfahrungen jenes Verlangens. Zum Verständnis des Todes als Übel vgl. unten Kapitel 3.3.2. 48 Neben dieser Form des Urteils, welches im Lebensverlangen wurzelt, kommt in Kaftans erkenntnistheoretischer Besinnung auf die Religion eine weitere Form zu stehen, die des theoretischen Urteils, worauf unten Kapitel 4.2.2 zu sprechen zu kommen ist. 49 Kaftan, Wesen, 77. Vgl. ders., Philosophie, 204: „[W]ir nennen das ein Gut, was wir begehren.“ 50 Vgl. zum Gegensatz von Lust und Unlust als die sinnliche Stufe des Selbstbewusstseins bestimmend SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, §5 (KGA I.,13,1: 40–53). 51 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.2. 52 Kaftan betont allerdings, dass die Religion nicht auf Gefühle zu reduzieren ist, sondern – wie auch Schleiermacher meint – spezifische Vorstellungen und Handlungen mit sich bringt. Es wird sich zeigen, dass Kaftan zum einen stärker als der Schleiermacher der Reden die konstitutive Funktion der Religion für den moralischen Vollzug zu zeigen bemüht ist und zum anderen in Abgrenzung zum Schleiermacher der Glaubenslehre die theoretisch-objektive Dimension der christlichen Glaubensaussagen stark macht. 53 Das Gefühl wird von SCHLEIERMACHER in der Einleitung zur Glaubenslehre bekanntlich zunächst als unmittelbares Selbstbewusstsein eingeführt, welches einen subjektiven Zustand vorstellt (vgl. ders., Der christliche Glaube §3; KGA I.,13,1: 19–32). Schleiermacher bietet aber – bzw. gerade deshalb – keinen Ansatz zu einer Phänomenologie der Objekte, welche ein bestimmtes Gefühl auslösen. Der Gefühlsbegriff bleibt eine formale Größe der Selbstbewusstseinstheorie. Zur Konzeption des Schleiermacherschen Gefühlsbegriffs vgl. Ulrich BARTH, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ‚Glaubenslehre‘. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 329–351, bes. 342f.

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Schleiermachers Gefühlsbegriff insofern implizit vorweg, als er das Gefühl als immer schon von Objekten her bestimmtes Empfinden fasst.54 „[D]as Gefühl ist stets Gefühl der Lust oder Unlust.“55 Der Gefühlsbegriff benennt bei Kaftan das Bewusstsein, in welchem der Menschen gewahr wird, ob sein Anspruch auf Leben durch eine bestimmte Erfahrung gefördert oder eingeschränkt wird.56 Dass der Mensch sein Leben erhalten will, ein Verlangen nach Leben hat, ließe sich allerdings noch nicht als spezifisch anthropologische Konstante bezeichnen, denn der Mensch teilt dieses Lebensverlangen mit allen anderen lebenden Wesen. Spezifisch menschlich ist jedoch die Bewusstwerdung einer mit dem Anspruch auf Leben in der Welt notwendig einhergehenden Mangelerfahrung und die Reaktion auf diese Erfahrung. So wird dem Menschen bewusst, dass jener Anspruch auf Leben durch ihn selbst niemals dauerhaft und vollkommen zufrieden gestellt werden kann. Wir sind aber mit demselben [Lebensanspruch] in eine Welt gestellt, in welcher er keineswegs ohne weiteres befriedigt wird. Auch wenn der Mensch thut, was er kann, und alle Kräfte anspannt, – was bei der natürlichen Trägheit schon eine Ausnahme ist – erreicht er doch niemals auf die Dauer und vollkommen das Ziel eines in sich gesättigten Lebens in der Welt.57

Der Mensch hat im Gegensatz zum Tier die Fähigkeit, über den Augenblick einer Lusterfahrung oder die momentane Möglichkeit, eines konkreten Lebensgutes habhaft zu werden, hinauszublicken in die Zukunft. Dabei spielen Erinnerungen an vergangene Erfahrungen eine entscheidende Rolle, denn diese lassen den Menschen wissen, dass die Güter, an denen sich Lusterfahrungen machen lassen, prinzipiell endlich sind. Sie sind dies in mehrfacher Hinsicht: Sie verbrauchen sich zumeist im Augenblick des Genusses, ihre Anzahl ist eine eingeschränkte, sie stehen oftmals nicht zur Verfügung beziehungsweise befinden sich außerhalb der Reichweite des Individuums. Die Signatur der Endlichkeit haftet zudem nicht nur den Gütern des Lebens an – so muss man Kaftans Gedanken weiterdenken –, sondern auch der Lusterfahrung selber: Im Geschehen der Erfüllung eines Lebensbedürfnisses erlischt das Verlangen und damit die Möglichkeit des Genusses. „[D]as Gefühl des Menschen von der Unsicherheit seines Lebens und der Güter, die er hochhält, das aus der Erfahrung geschöpfte Bewußtsein von ————— 54 Vgl. Rudolf OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 2004, v.a. Kapitel 3: „Das Kreaturgefühl“, wo Otto zu zeigen versucht, dass der Anfang der Religion immer schon ein bestimmtes Gefühl ist und damit als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit noch nicht hinreichend qualifiziert wird. 55 Kaftan, Wesen, 40. 56 Vgl. Kaftan, Wesen, 29–37. 57 Kaftan, Wesen, 64.

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den Schranken seines eignen Vermögens, dies Leben und seine Güter zu sichern“,58 das heißt das Bewusstsein der Endlichkeit der Lebensgüter und der eigenen Beschränktheit darin, sich zu ihrem Genuss zu verhelfen, ist damit eng an die menschliche Zeiterfahrung gebunden. Nur da der Mensch sich an vergangene Zeiten erinnern kann und auf kommende Zeiten ausblicken kann, nur da er überhaupt ein Bewusstsein für Zeit hat und damit um die prinzipielle Endlichkeit des Augenblicks, auch des Augenblicks des Genusses, weiß, wird ihm die Gefährdetheit dieses Genusses und damit seines Anspruches auf Leben überhaupt bewusst. Die Bedeutung der Zeiterfahrung für menschliches Leben und damit für das Phänomen Religion wird von Kaftan in seinen anthropologischen Abschnitten der Wesensschrift auffallenderweise kaum expliziert. Es wird sich jedoch zeigen, dass sie in impliziter Weise Struktur und Inhalt seiner Wesensbestimmung der Religion und insbesondere der des Christentums bestimmt.59 Bereits hier erhellt, dass Kaftan dem Lebens- und damit dem Lustverlangen des Menschen den Drang nach Unendlichkeit zuschreibt. Denn die Endlichkeit der Momente der Lebenserfüllung beziehungsweise der Lust müssten keine Mangelerfahrung darstellen, wenn Lust als prinzipiell endliche verstanden würde, wenn Lusterfahrung also nur als vorübergehende und mit Unlusterfahrung abwechselnde überhaupt Lusterfahrung sein könnte. Kaftan versteht menschliches Lebensverlangen aber in gegenteiliger Weise, indem er diesem eine Tendenz auf Unendlichkeit hin zuschreibt. Mit Nietzsche könnte er sagen: „[A]lle Lust will – Ewigkeit!“60 Die Erfahrung eines nicht zu überwindenden Mangels an Lebensgütern nun bietet Kaftan die Anschlussmöglichkeit für seine Darlegung der Rolle der Religion im menschlichen Leben. Dabei ist es jene Tendenz auf Unendlichkeit hin, welche dem Verlangen nach Leben innewohnt, die dem religiösen Motiv Vorschub leistet. Die enttäuschende Erfahrung mit der Eingeschränktheit und Kontingenz der Güter, derer der Mensch habhaft werden kann, beziehungsweise mit den lebensgefährdenden Übeln lässt ihn nach einer zuverlässigen Quelle fragen, aus der heraus sein Lebensanspruch dauerhafte Befriedigung finden kann. Da es aber das In-der-Welt-Sein ist, welches den dauerhaften Genuss von Lebensgütern und damit die dauerhafte Befriedigung des Lebensanspruches hindert, orientiert sich der Mensch bei der Suche nach solchen Quellen über die Welt hinaus: Die vom Men————— 58 Kaftan, Wesen, 65 (im Original z.T. hervorgehoben). Vgl. auch ders., Wahrheit, 386f. 59 Vgl. unten 2.3.2–2.3.5. 60 Friedrich NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra IV, in: ders., KSA 4, hg. v. G. Colli/M. Montinari, München 1999, 402 (im Original hervorgehoben). Zu Kaftans konstruktiv-kritischer Aufnahme der Moral- und Lebensphilosophie Nietzsches vgl. unten Kapitel 3.1. – Zur Frage des Umgangs mit dem Tod, von dessen Unausweichlichkeit der Mensch im Gegenteil zum Tier ebenfalls weiß, vgl. unten 3.3.2.

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schen in der Welt erfahrene Unsicherheit der Befriedigung des Lebensverlangens ist es, welche[...] ihn zu aller Zeit den Blick über die Welt hat erheben lassen, in der er lebt, und [die] ihn treibt, bei der Gottheit als einer Macht, welche auf die Bedingungen seines Lebens Einfluß hat, Hülfe zu suchen.61

Kaftan schließt die Möglichkeit aus, von religionsgeschichtlichen Forschungen her jemals zu einer tragfähigen These über den historischen Ursprung der Religion zu gelangen.62 Was er mit seiner Beschreibung der Entstehung von Religion bezweckt, ist vielmehr, das immer gleiche anthropologische Motiv zu beschreiben, welches die Ausgestaltung geschichtlicher Religionen bestimmt. Kaftan schließt aus seinen religionswissenschaftlichen Studien, dass es der Kultus ist, in welchem das benannte religiöse Motiv zuallererst wirksam und sichtbar wird. So vertritt er die These, dass die kultischen Betätigungsweisen in den Religionen als „Mittel zum Zweck“63 entstanden sind, bestimmter Lebensgüter habhaft zu werden. Der Cultus besteht ursprünglich aus Handlungen, welche dem Zweck dienen, das Wohlwollen der Götter zu gewinnen oder ihren Zorn zu besänftigen. Er ist ursprünglich nicht selber Zweck, sondern Mittel.64

Der Kultus als Mittel, durch die Erregung des göttlichen Wohlwollens bestimmte Lebensgüter zu erlangen – diese Funktionalisierung der kultischen Praxis zeigt sich nach Kaftan in allen ihren Formen, im Opfer, im Gebet, im Orakelwesen.65 Opfer, Gebet und Orakel haben den Zweck, „die Hülfe der Gottheit für die Zwecke des Lebens in der Welt in Anspruch“66 zu nehmen. Dabei ist das Motiv, welches jene kultischen Formen und damit Religion entstehen lässt, nicht nur in einer religiösen Gemeinschaft zu Beginn ihrer Entwicklung oder an entscheidenden Wendepunkten wirksam, sondern begründet in jedem einzelnen religiösen Subjekt dessen jeweilige Religiosität im Rahmen der jeweiligen religiösen Sozialisation. So kann Kaftan im Ausgang vom menschlichen Lebensverlangen und dem darin gründenden ————— 61 Kaftan, Wesen, 64. 62 Vgl. Kaftan, Wesen, 20–22. 63 Kaftan, Wesen, 66. 64 Kaftan, Wesen, 67 (im Original z.T. hervorgehoben). Zum Kaftanschen Verständnis des religiösen Kults vgl. auch a.a.O., 152f. 65 Es wird interessant sein, die Verschiebungen nachzuvollziehen, welche eine solche anthropologische Betrachtung des religiösen Rituals erfährt, wenn der Forscher seine eigene Religion thematisiert, bei Kaftan das Christentum. Vgl. dazu seinen Vortrag Die christliche Lehre vom Gebet (Basel 1876) und unten 2.2.4. 66 Kaftan, Wesen, 69.

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religiösen Motiv zeigen, dass Religion immer auch auf das individuelle Lebensbedürfnis bezogen ist und dementsprechend individuell ausgestaltet wird. Dieser Gedanke wird in der Beschreibung der christlichen Religion eine bedeutende Rolle spielen, insofern die Individualität menschlichen Lebens ins Prinzip aufgenommen wird, sowohl hinsichtlich der Erfüllung des Lebensverlangens und damit der Heilserfahrung als auch hinsichtlich der Wahrheitsgeltung.67 Es gilt aber für alle Religionen: Ein Abbruch an Leben, ein größerer Anspruch auf Leben, als den zu befriedigen in der eignen Macht steht, treibt den einzelnen zu einer wirklich innerlichen Betheiligung an der ererbten Religion.68

2.2.3 „Alle Lust will Ewigkeit“ – Das Verlangen nach dem höchsten Gut Kaftan führt nun aber eine für die Wesensbestimmung der Religion bedeutsame Unterscheidung zwischen dem im Lebensverlangen wurzelnden Motiv, Religion auszubilden, und dem „eigentlich religiöse[n] Gefühl“69 ein. So differenziert er zwischen der Spannung, „welche[...] zwischen dem Anspruch auf Leben und seiner factischen Befriedigung in der Welt stattfindet“70 auf der einen Seite und der Spannung „zwischen jenem Anspruch und seiner möglichen Befriedigung durch die Welt, nämlich durch ihre Güter“71 auf der anderen Seite. Das Bewusstsein der ersten Spannung lässt den Menschen Zuflucht zum Kultus nehmen – sei es spontan, sei es in regelmäßigem Rhythmus –, wenn er konkrete Güter des Lebens nicht erlangen kann, um sie nun von der Gottheit zu erbitten. Das Gewahrwerden der zweiten Spannung bedeutet das Bewusstsein, nicht nur bestimmter Güter in konkreten Situationen zu ermangeln, sondern in permanenter Unsicherheit zu leben, was die Erfüllung des Lebensverlangens betrifft. Mit jener Unsicherheit ist an dieser Stelle aber noch mehr gemeint als die spezifisch menschliche Einsicht in die Endlichkeit der Lebensgüter, wie sie oben dargestellt wurde. Es ist vielmehr das Bewusstsein davon, dass die Lebensgüter, die der Mensch in der Welt erstreben und genießen kann, sein Lebensverlangen nicht auf Dauer zufrieden stellen können.

————— 67 68 69 70 71

Vgl. hierzu unten Kapitel 4, v.a. 4.2.3 und 4.2.5. Kaftan, Wesen, 65. Kaftan, Wesen, 70. Kaftan, Wesen, 70. Kaftan, Wesen, 70.

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Und dies, meine ich, sei als die dem Menschen eignende religiöse Anlage zu bezeichnen, dies negative nämlich, daß er im irdischen Lebensgenuß, in den Gütern, welche die Welt ihm bietet, keine bleibende Befriedigung findet.72

Dieses Bewusstsein, als Mensch in einer permanenten Situation des Mangels zu leben, weil die Güter dieser Welt das menschliche Verlangen nach Leben nicht befriedigen können, macht bei Kaftan „das eigentlich religiöse Gefühl“73 aus. Dieses Gefühl ist durch zweierlei näher charakterisiert: Zum einen strebt der Mensch, ist in ihm einmal das religiöse Gefühl erwacht, nach einem höchsten überweltlichen Gut. Weil die mannigfaltigen Güter der Welt sein Lebensverlangen nicht befriedigen, richtet sich dieses auf eine überweltliche Erfüllung aus. Bevor der problematische Begriff der Überweltlichkeit zu klären ist, sei noch auf den zweiten Aspekt des religiösen Gefühls hingewiesen. Es bedingt eine wesentliche Verschiebung in der Ausprägung der Religion: Der Kultus als Hinwendung zur Gottheit kommt nicht mehr als Mittel zu dem Zweck zu stehen, verschiedener innerweltlicher Güter habhaft zu werden, sondern wird zum Selbstzweck.74 Denn der Kultus ist der ausgezeichnete Ort der Gottesbegegnung, welche nun zum Zweck des Religiösen wird, insofern solche Gottesbegegnung die Teilhabe an einem höchsten überweltlichen Gut ist. Anders gesprochen: Die Gottheit selber dient nicht mehr lediglich als Mittel zum Zweck, nämlich als Instanz zur Teilgabe an Gütern des Lebens, sondern wird zum alleinigen Zweck der Religion, insofern sie das höchste Gut selber ist. Eben dies ist der Vollsinn des religiösen Gefühls: dass die „Theilnahme am Leben der Gottheit […] zum eigentlich erstrebten Gut“75 – zum Selbstzweck – wird. In dieser Teilnahme erfüllt sich das Lebensverlangen des Menschen auf unüberbietbare Weise.76 Das Erwachen des eigentlich religiösen Gefühls in einer geschichtlichen Religion, in welcher bisher der Kult als Mittel zum Zweck fungierte, zeitigt so eine „Umbildung der Religion“.77 Damit hebt es an, daß wir Gott anrufen, wenn unser Leben in Not gerät oder wenn wir die sittliche Not spüren, daß unser Gewissen uns verklagt und wir unsere Ohnmacht empfinden, aus eignem Vermögen zum Wollen das Vollbringen zu fügen. Aber dann

————— 72 Kaftan, Wesen, 70 (im Original z.T. hervorgehoben). 73 Kaftan, Wesen, 70 u.ö. 74 Vgl. auch Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 17f; ders., Philosophie, 209–211. – Zu der Figur der Transformation vormaliger Mittel zu Zwecken vgl. die Beschreibung der „Regel des Geistes“ in ders., Philosophie, 104f u.ö. 75 Kaftan, Wesen, 70. 76 Vgl. AUGUSTIN zur beatitudo als Ziel des Menschen, welche schon nach De beata vita 4,34 (PL 32, hg. v. J.-P. Migne, Paris 1841, 976) als selbstzwecklich verfasster Genuss Gottes (fruitio Dei) beschrieben wird. Vgl. weiter ders., De doctrina christiana I,4,4 (PL 34, hg. v. J.-P. Migne, Paris 1841) zum bekannten uti-frui-Schema. 77 Kaftan, Wesen, 72.

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wird Gott selbst das Ziel unsres Strebens, empfinden wir nur das Eine, in allem und durch alles zu Gott zu kommen.78

Dieser Prozess der Umbildung der Religion kann sowohl in entwicklungspsychologischer Perspektive als auch in religionsgeschichtlicher Perspektive beschrieben werden. In beiden Fällen wird er von Kaftan als stetige Vergeistigung beschrieben, weil sich das Verlangen von natürlich-sinnlichen Gütern hin auf ein höchstes geistiges wendet. Dabei schließt solche Vergeistigung an das veränderte Verständnis des Kultus an – mehr noch: Kaftan kann davon sprechen, dass das religiöse Gefühl durch den Kultus angeregt wird.79 Dies führt er leider nicht aus; es ist aber anzunehmen, dass er den Kultus als einen Vollzug vorstellig machen will, in welchem dem Menschen die prinzipielle Unsicherheit innerweltlicher Bedürfnisbefriedigung bewusst wird. Dies bedeutet eine interessante Verschiebung im Verständnis des Kultus: Ist dieser zunächst ein Instrument der Bedürfnisbefriedigung, wird er schließlich zum Katalysator des eigentlich religiösen Gefühls und damit, wie sich noch zeigen wird, der Vergeistigung des natürlichen Lebensverlangens.80 Im Vollzug des Kultus wird, wenn das eigentlich religiöse Gefühl erwacht ist, die Gemeinschaft mit der Gottheit selber, einem überweltlichen, geistigen Gut erstrebt; auch der Kultus gerät damit zum religiösen Selbstzweck. Es ist mithin aus Kaftans Ausführungen eine Stufung rekonstruierbar, was die Ausrichtung auf jene Güter betrifft, von denen der Mensch sich Befriedigung seines Lebensanspruchs erhofft: Zunächst richtet sich das Verlangen nach Leben auf solche Güter, die es direkt befriedigen können und die zu erreichen der Mensch seine eigenen Kräfte und Fertigkeiten anstrengt. Kommt es dabei – unweigerlich – zu einer Spannung zwischen Verlangen und Erfüllung, so wendet sich der Mensch an eine oder mehrere Gottheiten, von denen er das Verlangte erbittet. Insofern sich dieses Streben auf natürliche Güter der Welt richtet, kann Kaftan hier vom religiösen „Naturtrieb“81 sprechen. Wird jene Spannung aber als eine prinzipielle „Incongruenz zwischen den Bedürfnissen des Menschen und ihrer Befriedigung“82 in der Welt bewusst, so erwacht das eigentlich religiöse Gefühl: Der ————— 78 Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 13f. Die Erwähnung des bisher nicht thematisierten sittlichen Moments wird unten Kapitel 3 zu bedenken sein. 79 Vgl. Kaftan, Wesen, 72. Vgl. dazu Kaftans Beschreibung der Entstehung der brahmanischen Religion aus der alten indischen Volksreligion in ders., Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 15–17. 80 Wieder ist anzumerken, dass von ihr aus Kaftans Verständnis des christlichen Gebets zu durchleuchten ist. In der Wesensschrift jedenfalls schließt er nicht aus, dass auch in weiter entwickelten Religionen wie dem Christentum der Kult bisweilen noch als Mittel zum Zweck fungiert – und verweist auf die katholische Volksfrömmigkeit als Beispiel. Vgl. Kaftan, Wesen, 66. 81 Kaftan, Wesen, 71. 82 Kaftan, Wesen, 70.

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Mensch wendet sich von den innerweltlich erreichbaren Gütern ab und sucht sein Lebensverlangen durch die Ausrichtung auf ein überweltliches Gut zu befriedigen, welches letzthin die Gottheit selber und damit die Teilhabe an dieser ist. Die Unterscheidung zwischen religiösem Motiv und eigentlich religiösem Gefühl strukturiert auch die erste Differenzierung verschiedener Gestalten der Religion, anhand welcher Kaftan eine Typologie der geschichtlichen Religionen einführt: Und zwar äußert es [das religiöse Motiv] sich wie gezeigt auf doppelte Weise: als Verlangen nach Schutz des Lebens und Erhöhung des Lebensgenusses durch die Macht der Götter, – als Streben über die Welt hinaus nach Theilnahme am Leben der Gottheit.83

Jener Anspruch auf Leben und dessen Infragestellung, in welcher jede Religion gründet, kann also in den positiven Religionen auf grundsätzlich zweierlei Weise Gestalt gewinnen – wobei die erste der beiden Gestaltungen zwar durch das religiöse Motiv bestimmt ist, aber nur die zweite auch durch das eigentlich religiöse Gefühl. Dabei richten sich, wenn „Schutz des Lebens und Erhöhung des Lebensgenusses“84 das Anliegen des Religiösen sind, die kultischen Vollzüge auf die Bewahrung und die Vermehrung konkreter weltlicher Lebensgüter. Wenn das „Streben über die Welt hinaus nach Theilnahme am Leben der Gottheit“85 geht, so ist das religiös avisierte Lebensgut ein höchstes überweltliches Gut. Als Beispiele für Religionen, in denen von der Gottheit oder den Gottheiten innerweltliche Güter erbeten werden, nennt Kaftan „Naturreligionen“86 wie die einfachen Stammesreligionen, aber auch „Volksreligionen“87 wie das Judentum.88 Wenn er von Religionen spricht, in denen ein höchstes überweltliches Gut erstrebt wird, hat Kaftan die indischen Erlösungsreligionen und das Christentum im Blick, welche er als geistige Religionen versteht.89 Nun ist aufschlussreich, dass Kaftan trotz der Einteilung der Religionen gemäß ihres Standpunktes im Prozess der Umbildung der Religion das Wachwerden des eigentlich religiösen Gefühls als „religiöse Anlage“90 im ————— 83 Kaftan, Wesen, 77. 84 Kaftan, Wesen, 77. 85 Kaftan, Wesen, 77. 86 Kaftan, Wesen, 81. 87 Kaftan, Wesen, 81. 88 Dabei ist für das Judentum zu beachten, dass hier nicht sinnlich-natürliche, sondern sittliche Güter erstrebt werden; vgl. dazu unten Kapitel 3.2.1. 89 Vgl. Kaftan, Wesen, 80f; vgl. auch ders., Philosophie, 203–219. Diese an den erstrebten Gütern orientierte Typologie wird bei Kaftan durch eine Differenzierung der Religionen gemäß ihrer Integration der Sittlichkeit ergänzt, so dass aus dem Zweier- ein Viererschema wird, wie unten Kapitel 3.2.1 zu sehen sein wird. 90 Kaftan, Wesen, 70.

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Menschen, und das heißt „als etwas allgemein menschliches“91 bezeichnet. Freilich will er damit nicht sagen, dass alle geschichtlich vorkommenden Religionen jene religiöse Anlage zu ihrer Entfaltung bringen.92 Wie gezeigt, zielt seine Argumentation im Gegenteil darauf hin, die Typologie der Religionen mit einer Struktur der Entwicklung auf Vollkommenheit hin zu unterlegen. Die Typologie der Religionen ist eben zugleich auch eine Stufenfolge, in welcher die Religionen je nach Grad ihrer Leistungsfähigkeit, was die Verwirklichung der religiösen Anlage im Verein mit anderen Ausdrucksformen menschlichen Lebens, vor allem anderen der Sittlichkeit, betrifft, angeordnet werden.93 Die Spannung zwischen einem allgemein menschlichen religiösen Gefühl und der Würdigung nur mancher Religionen als tatsächlich durch jenes Gefühl bestimmt spiegelt die Spannung zwischen der Suche nach einem Wesen der Religion – aller Religionen – und der gleichzeitigen Behandlung der Religionen als auf unterschiedlichen Stufen stehend.94 Um der Kaftanschen Kriteriologie für den religionsgeschichtlichen Vergleich nachzugehen, ist seine Konstruktion religionsgeschichtlicher Vergeistigung in den Blick zu nehmen. Diese ist an der durch Kaftan häufig unternommene Vergleichung der beiden Typen geistiger Religion – der indischen Erlösungsreligionen und des Christentums – abzulesen. Die indischen oder gemeinhin östlichen Erlösungsreligionen beschäftigen Kaftan nicht nur in der Schrift zum Wesen der Religion, sondern auch in einigen Einzelabhandlungen, die zum Teil auf Vorträgen beruhen. Es ist auffallend, dass Kaftan mehrfach zu solchen Vorträgen über die östliche Religiosität beziehungsweise zu verwandten Fragen wie der Askese Anlass fand, so beispielsweise in einer Aufforderung im Jahre 1903 von der kirchlichen Konferenz der Kurmark zu einem Vortrag mit dem Thema Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen.95 Dahinter steht ein allgemeiner Trend um die Jahrhundertwende zum zwanzigsten Jahrhundert: Die östlichen Religionen werden nicht nur von den Religionswissenschaftlern entdeckt, ————— 91 Kaftan, Wesen, 70. Er kann jenes Gefühl als „der Seele eingeborene Bestimmung für Gott“ bezeichnen (ders., Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 18). 92 In einigen Religionen finden sich lediglich „Spuren dieses eigentlich religiösen Verlangens.“ Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 14. 93 So konstatiert Kaftan gerade unter Voraussetzung einer allgemeinen religiösen Anlage im Menschen für Religionen niedriger Vollkommenheitsstufen „die Möglichkeit, dass viele einzelne [der Religiösen] in Resignation oder Verzweiflung enden, wenn sie über die ererbte Religion innerlich hinaus sind, oder daß sie mit Surrogaten vorlieb nehmen, durch die sie sich selber betrügen.“ Kaftan, Wesen, 70. 94 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.6 die Ausführungen zur Absolutheit der christlichen Religion. 95 Erschienen Potsdam 1903. – Vgl. neben Kaftans Ausführungen in der Wesensschrift (z.B. 69–77) und in der Wahrheitsschrift (v.a. 514–518) weiter: ders., Die Askese im Leben des evangelischen Christen. Vortrag gehalten auf der Kurmärkischen kirchlichen Konferenz zu Potsdam am 26. April 1904, Potsdam 1904.

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sondern von vielen als faszinierendes Angebot einer alternativen Religiosität wahrgenommen. Andere nehmen wiederum hierauf als Herausforderung der christlichen Theologie und Kirchen bezug.96 Zum Zwecke des Vergleichs mit dem Christentum verhandelt Kaftan zumeist den Brahmanismus als hervorragendes Beispiel indischer Erlösungsreligion.97 In der Geschichte der brahmanischen Religion zeigt sich nämlich in prominenter Weise die oben dargestellte Entwicklung des religiösen Gefühls aus dem Kultus. Anhand der Konstruktion des Brahmanismus durch Kaftan kann deshalb studiert werden, was ihm zufolge die vollkommene Darstellung des religiösen Gefühls und mithin die vollkommene Manifestation des Wesens des Religiösen ist – wobei hier absichtlich vom Religiösen gesprochen wird, um anzudeuten, dass der Brahmanismus dennoch nicht die vollkommene Religion darstellt. Denn diese umfasst, wie sich noch zeigen wird, nicht nur die reine Darstellung des Religiösen, sondern bedeutet eine bestimmte Verbindung des Religiösen mit anderen menschlichen Lebensäußerungen, das heißt eine bestimmte Weltstellung. Grundlegend für Kaftans Verständnis des Brahmanismus – er begreift diesen als religiös bedeutsamer denn den Buddhismus, der in seinen Grundzügen von ersterem bedingt sei98 – ist seine Rekonstruktion von dessen geschichtlicher Entwicklung, eine Entwicklung, der Kaftan eine Ausnahmestellung in der Religionsgeschichte zuerkennt.99 Sie nimmt ihren Ausgang aus der „Religion […] der alten Arier“,100 gemäß der oben eingeführten Typologie „eine ethische Volksreligion ohne besondere Eigenthümlichkeiten.“101 Quelle für die Kenntnis dieser Religion sind die alten vedischen Hymnen: Der Hauptgott Indra wird um Hilfe in den Kriegen und Geschicken des Volkes angerufen. Die Umbildung dieser Volksreligion nun entzündet sich an der Vorstellung, dass der Gott Indra sich, ————— 96 Einen Ursprung hat diese – integrative oder kritische – Bezugnahme in der weltmissionarischen Ausstrahlung v.a. des indischen Hinduismus gegen Ende des 19. Jh. auf Europa und Amerika. Dabei beeinflusste sicherlich das Denken Arthur SCHOPENHAUERs die theologische ebenso wie die philosophische Rezeption der östlichen Religiosität (vgl. z.B. ders., Die Welt als Wille und Vorstellung 2, Erstes Buch, Kap. 17 u. Viertes Buch, Kap. 46: SW 2, Darmstadt 1976, 206–243 u. 733-754). 97 Vgl. dazu Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 15–21 sowie ders., Wesen, 71–76. Kaftan schöpft seine Kenntnisse v.a. aus Paul WURM, Geschichte der indischen Religion im Umriss dargestellt, Basel 1874. 98 Zur Begründung, warum auch der Buddhismus trotz seiner gleichsam atheistischen Züge als Religion zu bezeichnen ist, vgl. Kaftan, Philosophie, 217f. 99 Vergleichbar ist nur die Entwicklung der israelischen Religion. Vgl. Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 16. 100 Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 16. 101 Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 16. Zum Attribut des Ethischen an dieser Stelle vgl. unten Kapitel 3.2.1.

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um das Volk unterstützen zu können, an einem Opfertrank, genannt Soma, berauschen musste – eine Vorstellung, welche die Wichtigkeit des kultischen Opfers herausstellte. Aber nun setzt die Reflexion ein, daß das Soma mächtiger ist als Indra, wenn dieser jenem erst seine Macht verdankt.102

Aufgrund dieser Reflexion bildet sich die Vorstellung heraus, Soma selber sei eine Gottheit, und zwar die mächtigere als der Gott Indra, da dieser von jener abhängt. In paralleler Entwicklung entsteht aus den priesterlichen Gebeten, welche die Götter beleben sollten, ebenfalls eine Gottheit, Brahmanaspati. Im Glauben an diese Gottheit schließlich gründet, da die anderen Gottheiten als von ihr abhängig vorgestellt werden, „der Gedanke von Brahma als der höchsten allwaltenden Gottheit.“103 Die Vorstellung, dass die Brahma-Gottheit als die eine, höchste, allwirksame selber nun von nichts abhängig ist, so dass sie auch durch nichts zu der Darreichung eines Gutes bewegt werden kann, zeitigt nun eine einschneidende Veränderung im religiösen Vollzug: Man muß sich aus der Welt zurückziehen, in die Einsamkeit gehen, ein Waldsiedler werden, die Seele in stiller Betrachtung sammeln, nichts denken als die eine Gottheit – dann wird man’s erreichen, das Aufgehen in Brahma, das Zerfließen in die Gottheit, das unendlich beseligende Gefühl des Einsseins mit Gott.104

Es ist demnach ein Prozess der Verselbstzwecklichung vormaliger Mittel, welcher die Entwicklung des Götterglaubens hier steuert – bis hin zu der Vorstellung einer Macht, die durch keine Mittel mehr manipuliert werden kann. Mehr noch: Eben jene Macht wird, weil sie selber nicht mehr Mittel für einen anderen Zweck ist – wie die alten Gottheiten beziehungsweise die Gewinnung ihres Wohlwollens als Mittel für das Erlangen weltlicher Güter fungierten –, als das eine höchste Gut betrachtet. Fortan werden Kaftan zufolge im Kultus des eigentlichen Brahmanismus nicht mehr die zahlreichen Güter des Lebens in der Welt erstrebt, sondern ein höchstes, und dieses besteht in der Teilhabe am göttlichen Leben, in dem Aufgehen des religiösen Subjektes in dieses Leben. Kaftan verwendet zur Benennung dieser religiösen Gestalt jenen Terminus, welchen das zeitgenössische religionswissenschaftliche Instrumentarium als nahe liegenden bereithält: den der Mystik.105 Dabei ist es diese so ————— 102 Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 16. Einen ähnlichen Vorgang beschreibt Kaftan für den Gott Agni, vormals lediglich das Opferfeuer. 103 Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 17. 104 Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 17 (Hervorhebung im Original). 105 Vgl. Kaftan, Wesen, 74 sowie ders., Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 24 u.ö.

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genannte mystische Ausrichtung, welche den Brahmanismus in seinen Augen zur vollkommenen Darstellung des religiösen Gefühls macht. Freilich wird sich noch zeigen, dass Kaftan zwischen zwei Formen der Mystik differenziert, indem er zwei unterschiedliche Weisen der Teilhabe am göttlichen Leben unterscheidet: zum einen das Aufgehen im göttlichen Leben wie in den indischen Erlösungsreligionen und zum anderen die Teilhabe in Unterschiedenheit, wie sie die christliche Religion für das Gott-MenschVerhältnis vorstellt. Für seinen Entwurf einer dezidiert christlichen Mystik ist entscheidend, dass Kaftan neben der religionsgeschichtlichen Tendenz der Vergeistigung eine solche der Ethisierung kennt. Diesem Gedanken ist im nächsten Kapitel nachzugehen.106 Hier ist zweierlei wichtig: Erstens führt der Prozess der Vergeistigung eine Religion noch nicht zur Vollendung, da die radikale Konsequenz der einseitig mystischen Ausrichtung die Weltflucht ist. Damit kommt der Prozess der Versittlichung, wie er noch zu beschreiben ist, in den mystischen Erlösungsreligionen nicht an sein Ziel. Zum anderen aber – und das ist zunächst hervorzuheben, weil das Profil der Kaftanschen Religionstheorie deutlich wird – ist die sittliche Dimension einer Religion der mystischen nachgeordnet. Die mystische Tendenz ist die eigentlich religiöse;107 und das sittliche Potential einer Religion dependiert von ihrer mystischen Kraft, das heißt: von der Art und Weise, wie sie das religiöse Ziel der Teilhabe am göttlichen Leben vorstellt und erreichbar macht. Diese Nachordnung des Ethischen geht bei Kaftan stellenweise so weit, dass er das Wesen des Religiösen in der mystischen, der Welt abgewandten Sehnsucht nach Vereinigung mit der Gottheit sieht, die ethische, der Welt zugewandte Seite hingegen als Begleiterscheinung betrachtet: Sie [die Religion] ist in dem vollendet, für welchen die Welt mit ihren Gütern nicht mehr existiert, dessen Seele ganz in Gott lebt: eine […] positive Rückbeziehung auf die Welt liegt an und für sich gerade nicht im Wesen der Religion.108

Denselben Gedanken bringt Kaftan in bildlich-poetischer Sprache – in Rückgriff auf ein Wort aus Psalm 42 – folgendermaßen zum Ausdruck: Die Religion selbst ist erst da vorhanden, wo alles andre schweigt, und nichts übrig bleibt, als daß die Seele nach Gott schreit und nach dem ewigen seligen Leben in ihm.109

————— 106 Vgl. zu der Differenzierung zweier religionsgeschichtlicher Tendenzen Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 9–15 sowie ders., Wesen, 77–81 u.ö. und dazu insgesamt unten Kapitel 3.2.1. 107 Vgl. Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 14, 18 sowie ders., Wesen, 192f u.ö. 108 Kaftan, Wesen, 85. 109 Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 13. Unverkennbar spielt Kaftan hier auf Ps 42,2 an („Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele,

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Die so erreichte und an den dezidiert mystischen Religionen wie dem Brahmanismus veranschaulichte Wesensbeschreibung der Religion, nach welcher die mystische Dimension der Religion die grundlegende ist, überrascht, wenn man bedenkt, dass Kaftan nicht nur gerne als Schüler Ritschls bezeichnet wird,110 sondern selber die Philosophie Kants als entscheidenden Referenzrahmen für seine Religionstheorie betrachtet.111 Schließlich begründet Kant die Valenz des Religiösen in einer Theorie der Moral, nach welcher die wahre, das heißt der Vernunftkritik standhaltende Religion konsequent von ihrer Funktion für den moralischen Vollzug her beschrieben wird.112 Und schließlich steht für Ritschl der sittliche Gehalt des Reichs-Gottes-Gedankens in der Wesensbestimmung der christlichen Religion und dementsprechend der vollendeten Religion an erster Stelle.113 In seiner Wesensschrift setzt Kaftan sich deshalb an der entsprechenden Stelle explizit mit der Ritschlschen Fassung des Religiösen auseinander und ergänzt dies durch eine Kritik an W. Herrmanns ausgesprochen kantisch verfasster Religionstheorie.114 So benennt er als den „Grundgedanke[n]“115 der betreffenden Theorien, „daß es […] ein der Weltstellung des Menschen anhaftender Widerspruch ist, für welchen in der Religion die Lösung ge————— Gott, zu dir.“); zugleich stehen AUGUSTINs Worte zu Beginn seiner Bekenntnisse („[…] und ruhelos ist unser Herz, bis daß es seine Ruhe hat in Dir.“ Ders., Conf I,1), auf die Kaftan im Fortgang des zitierten Artikels anspielt, Pate für jene Rede vom menschlichen Streben nach Teilnahme am göttlichen Leben. Aus dem Bereich der Psalmen zitiert Kaftan weiterhin Ps 73,25 („Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde.“), aus dem Neuen Testament Mt 16,26/Mk 8,36/Lk 9,25 („Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“), Mt 10,37 („Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.“) und Mt 10,39;16,25/Mk 8,35/Lk 9,24 („Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“); vgl. a.a.O., 14. Zudem verweist Kaftan auf die Naherwartung bei den Aposteln und in der urchristlichen Gemeinde. 110 Eine Bezeichnung, von der Kaftan selber sich allerdings distanziert. Vgl. z.B. Kaftan, Selbstdarstellung, 22f, wo er auf die Betonung des mystischen als des zentralen Elements des christlichen Glaubens hinweist, um die Unterschiedenheit des eigenen vom Ritschlschen Entwurf zu markieren. Kaftan sieht sich als von Ritschl (wie von Luther, Kant und Schleiermacher) geprägten, aber eigenständigen Denker, der sich von den Positionen, die er würdigend aufgreift, an anderer Stelle wieder absetzt. 111 Vgl. nur seine Einschätzung Kants als „Philosoph[en] des Protestantismus“ (z.B. die gleichnamige Rede von 1904), v.a. aber die inhaltlichen Anleihen, welche Kaftan bei Kant nimmt. Dazu oben Kapitel 1.2, unten Kapitel 3, v.a. 3.2.2 und 3.2.3 sowie 3.3 und Kapitel 4.2.2–4.2.5. 112 Vgl. KANT, KpV, v.a. 122–146 (AA V). 113 Vgl. zur Frage, ob eine ausschließlich auf die ethische Dimension der Religion fokussierende Auslegung der Ritschlschen Theologie angemessen ist, unten 2.3 im Rahmen der Auslegung des Gottesreichsgedankens. 114 Vgl. Kaftan, Wesen, 81–91. Auch Biedermanns und Lipsius’ Wesensbeschreibungen der Religion werden in dieser Passage einer Kritik unterzogen; allerdings ist diese weniger entscheidend für das hier in Frage stehende Thema. 115 Kaftan, Wesen, 82.

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sucht wird.“116 Zwar setzt auch Kaftans Wesensbestimmung der Religion bei der spezifischen Weltstellung des Menschen an, insofern er das Verlangen nach Leben als den Motor religiöser Entwicklung beschreibt. Sein Anliegen ist es aber, die Religion zunächst von der Sittlichkeit klar zu unterscheiden, während Ritschl und Herrmann in je verschiedener Weise bereits in die Grundlegung ihrer Theologie die ethische Frage aufnehmen. Bei Ritschl zeigt sich dies aufgrund seiner offenbarungstheologischen Vorgehensweise in seiner Wesensbestimmung der christlichen Religion als einer zugleich geistigen und ethischen Religion.117 Damit wird sich Kaftans Abgrenzung von Ritschl erst in der Besprechung der christlichen Religion deutlich zeigen.118 Herrmann aber setzt wie Kaftan bei der Wesensbestimmung der Religion an, so dass Kaftans Kritik an Herrmann seine eigene religionstheoretische Intention hervortreten lässt. Dabei bezieht Kaftan sich vor allem auf die in Herrmanns erster Schaffensphase entstandene Schrift zur Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit.119 Herrmann unternimmt hier einen von der Ethik her konzipierten Beweis der Allgemeingültigkeit der christlichen Religion. Hierfür zeigt er zunächst auf, dass der Mensch sich im geistigen Selbstgefühl über die ihm gegenüberstehende Welt hinausgehoben wahrnimmt. Ihre Rechtfertigung erfährt diese Selbstwertung im Gedanken des Sittengesetzes als unbedingten Gesetzes, wodurch „die Pflege und Behauptung eines in sich abgeschlossenen von der Natur unabhängigen Selbst erst ermöglicht“120 wird. Im offensichtlichen Anschluss an Kant ist es nun die Durchsetzung des sittlichen Endzwecks, welche die „Ergänzung des sittlichen Bewußtseins durch die Religion“ notwendig macht, weil die jenem Endzweck widerständige Natur die Integration von Glückseligkeit und vollkommener Sittlichkeit menschenunmöglich macht. Somit wird die Religion als das Vertrauen auf eine Macht bestimmt, die die Verwirklichung des sittlichen Endzwecks gewährleistet.121 Es ist eigens zu betonen, dass Herrmann in der hiermit umrissenen ethischen Grundlegung der Religionstheorie nur die Anknüpfung, nicht die Begründung der Religion leisten will.122 Wie auch Kaftan sucht er diese im Gedanken der Offenbarung auf. Es ist aber eben die Herrmannsche Anknüpfung der Religion im sittlichen Bewusstsein des Menschen, in der ————— 116 Kaftan, Wesen, 82 (Hervorhebung von C.C.). 117 Vgl. RITSCHL, RuV III3=4, 10. 118 Vgl. unten 2.3. 119 Wilhelm HERRMANN, Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. Eine Grundlegung der systematischen Theologie, Halle 1879. 120 HERRMANN, Religion, 197. Vgl. insgesamt a.a.O., 146–199. 121 Vgl. HERRMANN, Religion, 228–250. 122 Vgl. HERRMANN, Religion, 88, 223, 319 und dazu WEINHARDT, Herrmanns Stellung, 200.

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Erfahrung „sittlicher Not“123 des seines geistigen Selbst bewussten Menschen, welcher Kaftan mit seiner Wesensbestimmung der Religion widerspricht. Kaftan weist darauf hin, dass es positive Religionen gibt, deren Ausprägungsformen keinerlei Bewusstsein eines Herausgehobenseins des Menschen aus dem Naturbereich zeigen.124 So erscheint es inadäquat, den Anknüpfungspunkt der Religion in einem solchen Bewusstsein zu suchen. Kaftan zeiht Herrmann damit zugleich der Einführung eines Idealbegriffs der Religion, welcher vom Standpunkt der höheren Religion an die religionsgeschichtlichen Phänomene herangetragen wird.125 Entscheidend ist nun aber, dass Kaftan auch für die „höheren Religionsstufen“126 den betreffenden Religionsbegriff ablehnt – mit der Begründung, dass die Religion es überhaupt nicht wesentlich damit zu tun hat, eine Spannung zwischen dem geistig-sittlichen Selbstgefühl des Menschen und seiner Naturverflochtenheit auszugleichen. Vielmehr setzt Kaftan in seiner Wesensbestimmung der Religion beim Menschen als eines natürlichen Lebewesens an, das heißt: bei seinem – immer auch sinnlichen – Verlangen nach Leben. Das geistige Selbstgefühl des Menschen ist ihm nicht der Ausgangspunkt der Religionstheorie, sondern vielmehr das Telos religiös-sittlicher Überbildung des sinnlichen Lebenstriebes, wie sich noch zeigen wird.127 So wird auch Kaftan – und dies dann wieder im Anschluss an Ritschl und Herrmann – für das Christentum eine spezifische Weise des Weltumgangs vorstellen, welche in dem Verhältnis begründet ist, in welchem im Christentum Religion und Sittlichkeit zueinander stehen. Dieses Verhältnis macht das Christentum sogar zur vollendeten Religion. Da es jedoch ein spezifisch christliches ist beziehungsweise vielen Religionen gerade nicht eignet, so ist es Kaftan zufolge auch nicht in die Wesensbeschreibung der Religion aufzunehmen. ————— 123 Wilhelm HERRMANN, Der Verkehr des Christen mit Gott. Im Anschluss an Luther dargestellt (1886), Stuttgart 21892, 98. 124 Auch hier zieht Kaftan wieder das WAITZ/GERLANDsche Werk zur Anthropologie der Naturvölker heran. 125 Vgl. zu diesem von Kaftan abgelehnten religionstheoretischen Verfahren den methodologischen Abschnitt oben 2.2.1. 126 Kaftan, Wesen, 85. 127 Vgl. unten v.a. Kapitel 3.2.3 sowie 3.3.4 und 4.2.5. Hinzu kommt, dass nach Kaftan die Religion sich gerade durch eine radikale Infragestellung eines ursprünglichen menschlichen „Selbstgefühls“ entwickelt: Der Mensch wird der Grenzen des durch ihn selbst zu Wirkenden bewusst und drängt hin zu einer Wirklichkeit hinter diesen Grenzen. Vgl. Kaftan, Wesen, 90: „Selbstgefühl […] im emphatischen Sinn verbindet sich namentlich mit jedem erfolgreichen Gebrauch unsrer Kräfte. Nun entsteht die Religion auf Grund der Erfahrung, daß der Mensch nicht im Stande ist, den in ihm vorhandenen Anspruch auf Leben durch den Gebrauch seiner eignen Kräfte zu befriedigen […] einem Mangel will er abhelfen, der mit einem Versagen, der sein Selbstgefühl hervorrufenden Bethätigung zusammentrifft.“

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Mehr noch: Auch für das Christentum gilt, dass sein spezifisches Weltverhältnis nicht sein Wesen als Religion ausmacht. In Wahrheit aber ist das mit Christo in Gott verborgene Leben der Seele der Kern der christlichen Religion und das Verhältnis zur Welt eine Seite, eine nähere Bestimmung dieses Lebens in Gott.128

Es ist mithin die hier in Anspielung auf Kol 3,3 in mystischen Termini ausgedrückte Erfahrung der Lebenserfüllung in Gott, in welcher die christliche Religion ihr Wesen hat. Die Wesensbestimmung Kaftans bereitet dies vor, indem er analog zur Schleiermacherschen Anknüpfung beim Gefühl – zu der sich auch der späte Herrmann bekanntlich hinwendet129 – das menschliche Lebensverlangen als Anknüpfungspunkt der Religion bestimmt. Damit ist die Religion in ihrer Selbständigkeit nicht nur gegenüber der wissenschaftlichen und der metaphysischen Welterklärung bestimmt – ein Interesse, welches Kaftan mit Kant, Ritschl und Herrmann teilt.130 Vielmehr ist ihr ein Ort auch jenseits der sittlichen Selbstbetätigung des Menschen zugewiesen. Religion entsteht nicht aus einer Spannung zwischen natürlichen Interessen des Menschen und seinen ethischen Tendenzen, auch ist ihre primäre Funktion nicht in einer Vermittlung zwischen beidem zu sehen. Religion hat es ihrem Wesen nach mit den natürlichen Interessen des Menschen zu tun – wobei, wie sich in der Darstellung der Entwicklung der brahmanischen Religion zeigte, diese Interessen durch die Religion sublimiert werden. Interessant ist nun, dass Kaftan dennoch – und hier zeigt sich dann auch wieder die Nähe zu seinem Lehrer Ritschl und dessen Schule – auf eine spezifische Verhältnissetzung des Religiösen mit dem Sittlichen hin abhebt, insbesondere, wenn es um die vollkommene Religion geht. Von daher ist die Spannung zwischen der starken Betonung des mystischen Elements der Religion bei gleichzeitiger Wertschätzung der sittlichen Momente zu verstehen. Kaftan geht dabei so weit, dass er auch, was den „religiösen Naturtrieb[...]“131 angeht, eine ————— 128 Kaftan, Wesen, 86 (im Original z.T. hervorgehoben). Vgl. zum mystischen Element im Christentum auch a.a.O., 95. 129 Vgl. v.a. den Erlebnisbegriff beim späten Herrmann, wie er z.B. in einem Aufsatz von 1906 zu Tage tritt, in welchem Herrmann sich mit einer Schrift Theodor Kaftans auseinandersetzt: Wilhelm HERRMANN, Moderne Theologie des alten Glaubens, ZThK 16, 1906, 175–233, vgl. bes. 227f. (Die besprochene Schrift Theodor KAFTANs ist das gleichnamige Werk: Moderne Theologie des alten Glaubens. Zeit- und ewigkeitsgemäße Betrachtungen. Theologisch interessierten Evangelischen dargeboten, Schleswig 1905, 21906.) 130 Vgl. Kaftan, Wesen, 82f, 86. Vgl. KANTs Vernunftkritiken, v.a. KrV B, 383–426 (AA III) und KpV, 122–146 (AA V); Albrecht RITSCHL, Theologie und Metaphysik (21889), in: ders., Kleine Schriften, ausgewählt, eingeleitet und mit einer Bibliographie der Sekundärliteratur zu Albrecht Ritschl neu hg. v. F. Hofmann, ThST 4, Waltrop 1999, 66–142. Vgl. weiter Ritschls Rezension der Kaftanschen Wesensschrift: ThLZ 1881, Nr. 13, 306–312; HERRMANN, Religion, 15–131. 131 Kaftan, Wesen, 76 (Hervorhebung von C.C.).

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Sublimierung beziehungsweise Begrenzung als notwendig erachtet. Wie das Verhältnis zwischen mystischer und sittlicher Tendenz der Religion sich näherhin darstellt, wird in Kapitel 3 zu untersuchen sein. Kaftans Vorliebe für das mystische Element bringt eine gewisse Sonderstellung im Bereich der protestantischen Theologie seiner Zeit mit sich, wie sie insbesondere im Vergleich zu Ritschls Mystik-Kritik auffällt.132 So empfiehlt er denn auch am Ende seines Vortrages über Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen der wissenschaftlichen Theologie eine intensivere Beschäftigung mit der Mystik, auch der mystischen Tradition der eigenen Religion, als es in der zeitgenössischen, stärker auf die ethischhumanistische Dimension des christlichen Glaubens abhebenden Theologie der Fall ist.133 Wie sich zeigen wird, gründet Kaftans diesbezügliche Positionierung nicht zuletzt in seiner Auslegung der neutestamentlichen Theologie, insbesondere der paulinischen, für die Kaftan denn auch zu anderen Interpretationen kommt als der protestantisch-theologische Mainstream seiner Zeit.134 Die mystische Wesensbestimmung vollendeter Religion und damit auch die Grundlegung einer Wesensbestimmung des Christentums als mystisch gründet letzthin in Kaftans Rückbindung des religiösen Gefühls an basale menschliche Lebensbedürfnisse. Das religiöse Gefühl erwächst schließlich, da es sich an der Spannung zwischen Lebensanspruch und dauerhafter Unsicherheit der Befriedigung dieses Anspruches entzündet, im Triebleben des Menschen. Eben deshalb kann Kaftan das religiöse Motiv wie gesehen als einen „Naturtrieb“,135 als einen „religiöse[n] Trieb der Seele“136 bezeichnen. Weil die Religion aus dem Verlangen nach Leben erwächst, ist vollkommene Religion die vollendete Erfüllung dieses Lebensbedürfnisses, welche wiederum nur möglich ist als Teilhabe am göttlichen Leben als vollkommenen Lebens. Diesem eschatologischen Wesen der Religion zu entsprechen ist das Wahrheitsmoment jeder Mystik. ————— 132 Vgl. RITSCHL, Theologie und Metaphysik, bes. 91–95 sowie 113, Anm. 1 zu Kaftan, sowie Ritschls Rezension der Kaftanschen Wesensschrift: a.a.O., bes. 311. Später hat besonders eindrücklich Albert SCHWEITZER ausgehend von der Auslegung der paulinischen Schriften auf die Bedeutung der Mystik für die christliche Religion hingewiesen; vgl. v.a. ders., Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930. – Wahrscheinlich liegt in der als gut protestantisch verstandenen Mystikkritik ein Grund dafür, dass Kaftan sich in der Entfaltung einer spezifisch christlichen Mystik selten auf Luther bezieht, gleichwohl dessen Soteriologie eben jene mystischen Elemente umgreift, welche Kaftan als Ausdruck des Wesens des Christentums versteht, wie allen voran die Christusgemeinschaft im Glauben. 133 Vgl. Kaftan, Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 23f. Im Blick auf die Frömmigkeit der Kirche seiner Gegenwart jedoch warnt er vor einer zu euphorischen Integration mystischer Ideen: vgl. a.a.O., 24f. 134 Hierauf ist unter 2.3.4 zurückzukommen. 135 Kaftan, Wesen, 71 (Hervorhebung von C.C.). 136 Kaftan, Wesen, 70 (im Original alles hervorgehoben). Vgl. die Formulierungen „religöse[r] Naturtrieb“ (a.a.O., 76) und „Trieb der Selbsterhaltung“ (a.a.O., 83).

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Es stellt sich die Frage, welche Valenz eine solchermaßen fundierte Religionstheorie insbesondere angesichts der radikalen Kritik der Religion durch Feuerbach und Nietzsche – mit dem Kaftan sich explizit und auch während persönlicher Begegnungen auseinandersetzt137 – besitzt. So scheint Kaftan mit seiner Theorie der Religion als letztlich durch anthropologische Mangel- und Sehnsuchtserfahrungen hervorgerufen der radikalen Religionskritik Tür und Tor zu öffnen, da Religion auf diese Weise als illusionäre Ersatzbefriedigung zu stehen kommen könnte. Dieser Verdacht scheint sich zu bestätigen, wenn nun die Konsequenz der anthropologisch-bedürfnistheoretischen Wesensbestimmung der Religion für den Gottesbegriff untersucht wird, da an diesem jegliche Widerlegung des Projektionsverdachts aufbauen müsste: Auch der Gottesbegriff wird von Kaftan in die Hinordnung der Religionstheorie auf das menschliche Streben nach Lebensgütern einbezogen. Es wird sich allerdings zugleich andeuten, inwiefern Kaftan vor allem für die christliche Religion die offenbarungstheologische Gegenbewegung zur anthropologischen Anknüpfung bereits in der vergleichenden Religionstheorie vorbereitet. 2.2.4 Gott und das höchste Gut Die Analyse der Entwicklung des religiösen Motivs hat die verschiedenartigen weltlichen Güter, welche das menschliche Verlangen nach Leben sättigen sollen, fokussiert. Die Beschreibung der Umbildung zur geistigen Religion wiederum bezieht sich auf den Überschritt von jenen vielen irdischen Gütern zu einem höchsten überweltlichen Gut. Die Idee des höchsten Guts ist es denn auch, welche von Kaftan als die für die Religionstheorie maßgebliche erachtet wird. So stellt er fest, daß der höchste und entscheidende Gesichtspunkt, wo es sich um die Erkenntniß der bestimmten Religion handelt, die Frage nach dem höchsten Gut ist. Und zwar in dem präcisen Sinn, daß unter dem höchsten Gut dasjenige zu verstehen ist, worin die Menschen Leben und Seligkeit finden, beziehungsweise worin dies für sie gegeben ist.138

Für die Religionstheorie maßgeblich ist die Idee des höchsten Guts insofern, als sie die praktische Seite der Religion, das heißt deren Bezug auf das menschliche Lebensverlangen, auslotet – und damit das Wesen der Religion im Allgemeinen und die Besonderheit jeder einzelnen positiven Religion zu beschreiben ermöglicht. Also gilt: ————— 137 Vgl. hierzu unten Kapitel 3.1. 138 Kaftan, Wesen, 93. Vgl. sodann zur Bedeutung des Begriffs des höchsten Guts auch in der Religionsphilosophie ders., Wahrheit, 508–519 u.ö.

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Wir haben gefunden, daß der Begriff vom Gut, beziehungsweise vom höchsten Gut der praktische Grundbegriff aller Religion ist.139

Die Konsequenz dieser Beobachtung ist die Zurückstellung des Gottesbegriffs in den zusammenfassenden Beschreibungen dessen, was das Wesen der Religion ausmacht. Wie gezeigt, kann Kaftan dennoch sehr wohl den Gottesbegriff verwenden, wenn er die Bedeutung der Religion für den menschlichen Lebensvollzug beschreibt. So dient der Gottesbegriff beziehungsweise der Begriff der Gottheit der Bezeichnung jener Instanz, von der her der religiös, das heißt hier kultisch sich vollziehende Mensch die Erfüllung seines Verlangens nach bestimmten Lebensgütern erhofft und erbittet.140 Wo noch nicht das eigentlich religiöse Gefühl erwacht ist, sondern zunächst lediglich das religiöse Motiv die kultischen Handlungsvollzüge bestimmt, werden die Gottheit oder die Gottheiten zunächst auch nur als eine solche Geber-Instanz vorgestellt141 – das eigentliche Ziel des religiösen Vollzugs sind die erstrebten Güter des Lebens. Eben deshalb ist der Begriff des Guts der „praktische Grundbegriff“ der Religion. In den so genannten geistigen Erlösungsreligionen, welche vollends durch das religiöse Gefühl bestimmt sind, verändert sich nun die Stellung des religiösen Subjekts zu Gott insofern, als er das höchste Gut, mithin seine Seligkeit und sein Leben, in der Teilhabe am Leben Gottes selber findet, mithin Gott als summum bonum, welches in sich Selbstzweck ist, begriffen wird.142 Aber auch hier gilt, dass die Gottesvorstellung von der Vorstellung des höchsten Guts abhängt. Eben dies beanstandet Ritschl in seiner Rezension der Kaftanschen Wesensschrift. Kaftans Wesensbeschreibung der Religion beziehungsweise seine Fassung des religiösen Motivs bleibe „zu allgemein und unbestimmt“,143 und insbesondere der Gottesgedanke werde in unzulässiger Weise marginalisert. Kaftan nimmt diese Kritik auf, indem er zu zeigen bemüht ist, dass der Gottesbegriff trotz seiner Anbindung an den Begriff des Guts eine zentrale Stellung in seiner Religionstheorie innehat. So betont er zunächst, dass er keinesfalls den Religionsbegriff auf solche Phänomene ausweitet, ————— 139 Kaftan, Wesen, 195 (im Original z.T. hervorgehoben). Für das angewandte Vorgehen der Unterscheidung mehrerer Teilmomente in der Religion wie eben der Idee des Guts und der Gottesidee und der Zuordnung dieser Momente nach ihrer Bedeutung für Entstehung und Entwicklung der Religion vgl. a.a.O., 97. 140 Vgl. Kaftan, Wesen, 64f u.ö. 141 In den weiter entwickelten Religionen wie dem Christentum und den indischen Erlösungsreligionen erfährt jene Stellung der Gottheit im religiösen Vollzug eine entscheidende Transformation, wie bereits oben 2.2.3 beschrieben wurde und worauf noch zurückzukommen ist. 142 Vgl. zum Begriff Gottes als summum bonum nur AUGUSTIN, De Trinitate VIII,III: PL 42, 1854, 949f; THOMAS von Aquin, Summa Theologiae I,6,2: S. Thomae Aquinatis Opera Omnia 2, 1980, 192; RICHARD St. Victor, De Trinitate III,2: PL 196, 1855, 916f; TROELTSCH, Die Selbständigkeit der Religion, ZThK 5, 1895, 396. Zu Kant und Ritschl vgl. unten. 143 Kaftan, Wesen, 91. Vgl. RITSCHL, ThLZ 1881, 309f.

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welche vollkommen ohne Gottesvorstellung auskommen. Er erhebt mithin die besonders in Hinblick auf den Buddhismus, welchen Kaftan dezidiert als Religion bezeichnet, strittige These, dass der Gottesglaube […] in irgendeinem Sinn ebenso nothwendig zur Religion [gehört] wie der Besitz der Güter oder des höchsten Guts, der in der Religion erstrebt wird.144

Diese Feststellung gründet nicht nur im vergleichenden Studium bestimmter geschichtlicher Religionen, sondern auch in der prinzipiellen Einsicht, dass eine irgendwie geartete Gottesidee der Sache der Religion nach erforderlich ist. Schließlich beruht die Religion Kaftan zufolge auf der schmerzlichen Einsicht des Menschen in die eigene Beschränktheit, was den Erwerb seiner Lebensgüter angeht, und der darin gründenden Sehnsucht nach einer Macht, die solcher Beschränktheit enthoben ist und somit die vermissten Lebensgüter gewähren kann. Es sind nun aber angesichts des Kaftanschen Gesamtwerks drei Gruppen von Gründen zu benennen, warum der Begriff des Guts in der Wesensbeschreibung der Religion trotz der Unverzichtbarkeit des Gottesbegriffs in der Religionstheorie diesem voranzustellen ist. Erstens – hiermit ist die religionswissenschaftliche Seite aufgerufen – beansprucht Kaftan, eine Beschreibung des Wesens der Religion anzubieten, welche allen geschichtlich vorkommenden Religionen gerecht wird. Es ist also ein Religionsbegriff zu finden, welcher „allgemein ist und doch bestimmt genug, um die Erkenntniß zu fördern“.145 Der Begriff des Guts ist in diesem Sinne bestimmt genug, um die Religion von theoretischer Welterkenntnis146 und sittlichem Vollzug147 zu unterscheiden. Und er ist allgemein genug, um auch nicht-theistische Religionen wie beispielsweise Fetischreligionen oder bestimmte Formen der brahmanischen und buddhistischen Religion als Religionen beschreiben zu können.148 Zudem meint Kaftan aufgrund religionswissenschaftlicher Beobachtungen feststellen zu können, dass es immer eine Verschiebung in der Vorstellung der erstrebten Güter oder des erstrebten Gutes ist, welche die jeweilige Gottesvorstellung beeinflusst und unter ————— 144 Kaftan, Wesen, 97. Vgl. a.a.O., 116 sowie ders., Wahrheit, 3 (im Original z.T. hervorgehoben), wo Kaftan feststellt, „dass aller religiöser Glaube Gottesglaube und alle aus dem Glauben erwachsende Erkenntnis Gotteserkenntnis ist.“ Entsprechend hält er in der späteren Philosophie des Protestantismus (1917) fest: „Religiöser Glaube ist stets Gottesglaube“ (a.a.O., 13). Zum epistemischen Status des Gottesglaubens vgl. unten Kapitel 4.2.2. 145 Kaftan, Wesen, 92. Vgl. dazu oben 2.2.1 zur Methode der Wesensbestimmung. 146 Vgl. zur Unterscheidung spezifisch religiöser Erkenntnis von theoretischer bzw. wissenschaftlicher Erkenntnis unten Kapitel 4.2.2. 147 Über den Begriff des Guts als praktischen Grundbegriffs der Religion unterscheidet Kaftan religiöse Phänomene von sittlichen Phänomenen. Vgl. ders., Wesen, 52, 64 und 94. Diese nicht nur für die Religionstheorie, sondern vor allem für die Wesensbestimmung des Christentums entscheidende Distinktion wird unter 3.2 verhandelt werden. 148 Zu Fetischreligionen vgl. Kaftan, Wesen, 117.

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Das Wesen der Religion

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Umständen transformiert. Hierfür ist sowohl auf die oben dargestellten Erörterungen zur Umbildung der Religion auf ein höchstes Gut hin als auch auf die Ausführungen zur Kaftanschen Rekonstruktion der brahmanischen Religionsentwicklung zu verweisen.149 Zweitens hat der Begriff des Guts die religionstheoretische Funktion, einen Allgemeinbegriff zu entwerfen, über welchen erfasst werden kann, was mit dem Gottesbegriff gemeint ist. Dieser Allgemeinbegriff stellt das Instrument dar, mit welchem die geschichtlichen Gottesvorstellungen erhoben und in ihren jeweiligen Spezifika beschrieben werden können. Dieses religionstheoretische Instrument kommt zugleich als dogmatisches Hilfsmittel zu stehen, wenn es darum geht, den spezifisch christlichen Gottesbegriff zu erhellen, insofern die Aufstellung eines Allgemeinbegriffs von Gott nach Kaftan die Basis für die Bestimmung und Unterscheidung von Wesen und Eigenschaften Gottes in der christlichen Gotteslehre sind.150 Und schließlich lassen sich die vorgetragenen Gründe dafür, den Begriff des Guts dem Gottesbegriff deskriptiv und definitorisch voranzustellen, darin zusammenfassen, dass Kaftan mit ihnen auf eine spezifische und wie sich zeigen wird bereits christlich-theologisch und näherhin protestantisch bestimmte Glaubenstheorie zusteuert: Die Beschreibung Gottes als summum bonum, welche wie Luthers berühmte Erläuterung des ersten Gebots im Großen Katechismus das Sein Gottes vom Verhältnis des Menschen zu Gott her erklärt,151 zielt darauf ab, das menschliche Gottesverhältnis als eminent praktisches zu spezifizieren, worin wiederum zugleich das Kriterium für den Erweis einer religiösen Gottesvorstellung als wahr liegt. Dass das menschliche Verhältnis zu Gott nicht ein zuvorderst theoretisches ist, das heißt, dass die Wahrheit des Glaubens an einen Gott nicht darin liegt, dass die Glaubensaussagen richtiges theoretisches Wissen darstellen, begründet Kaftan bereits religionstheoretisch: Alle geschichtlichen Religionen gehen von der existentiellen Bedürftigkeit des Menschen aus und stellen in Kultus und Gottesgedanken die Möglichkeit vor, dieser Bedürftigkeit zu begegnen. Aber das Christentum bringt, wie sich noch zeigen wird, in ausgezeichneter Weise zum Ausdruck, dass Gott gar nicht anders erkannt werden kann, als ihn als das summum bonum zu begreifen. Das heißt: Gott wird in der ganzheitlichen Bezogenheit eines Menschen auf dasjenige, worin er „Leben und Seligkeit“152 findet, erkannt. Damit ist gerade nicht ————— 149 Vgl. oben 2.2.3 sowie Kaftan, Wesen, 98f. 150 Vgl. dazu unten 3.3.4. 151 Vgl. BSLK, 560–572 und dazu v.a. Gerhard EBELING, „Was heißt ein Gott haben oder was ist ein Gott?“ Bemerkungen zu Luthers Auslegung des ersten Gebots im Großen Katechismus, in: ders., Wort und Glaube 2: Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 287–304. 152 Kaftan, Wesen, 93.

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dem Projektionsverdacht statt gegeben, sondern die Weise aufgezeigt, in welcher überhaupt die Erkenntnis Gottes möglich ist – und mithin religiöser Glaube seinem Wesen nach bestimmt, nämlich als eine Bindung des religiösen Subjekts an ein höchstes überweltliches Gut.153 Dass hiermit zugleich der rechte Glaube in Abgrenzung vom Hängen an Abgöttern wie dem Mammon bestimmt ist, betont Luther ausdrücklich,154 und auch Kaftans religionstheoretische Bestimmung des Gottesbegriffs läuft, wie sich noch zeigen wird, auf die nur vom Offenbarungsglauben her zu entscheidende theo-logische Wahrheitsfrage zu.155 Die Bedeutung der Gottesvorstellung für Kaftans Religionstheorie und darauf aufbauend für die christliche Theologie erhellt aus den Überlegungen, welche Kaftan an die Verhältnisbestimmung der Idee des höchsten Guts und des Gottesbegriffs anschließen lässt. Da die Gottesvorstellung in allen geschichtlichen Religionen von der jeweiligen Vorstellung dessen dependiert, was als Erfüllung des Lebensverlangens erstrebt wird,156 leitet Kaftan aus dem Begriff des Guts die Näherbestimmungen des allgemeinen Gottesgedankens – zunächst in religionstheoretischer Perspektive – ab. Diese Näherbestimmungen dessen, was gemeinhin unter Gott verstanden wird, dienen, wie bereits angedeutet, in der Dogmatik als Grundlage der Bestimmung des Wesens Gottes. Kaftan benennt drei Aspekte, welche die Gottesvorstellung in allen Religionen näherhin ausmachen. Seinem religionstheoretischen Ansatz zufolge erwachsen jene Aspekte aus dem praktischen Wesen der Religion, das heißt aus ihrer Funktion für das menschliche Verlangen nach Leben. Wenn in der Gottheit die Erfüllung des in der Welt unbefriedigten Lebensverlangens gesucht wird, so bedeutet das: Sie wird von der Welt unterschieden, eine außerordentliche Macht wird ihr beigelegt, und der Gläubige setzt in ihr Verstand und Wille voraus, denkt sie also irgendwie nach der Analogie seines eigenen Wesens.157

Die Unterscheidung der Gottheit von der Welt, erstens, ist insofern eine konsequente Folge des praktischen religiösen Anliegens, als „Welt“ in diesem Falle den Bereich bezeichnet, in welchem der Mensch sein Können bei der Befriedigung seines Lebensverlangens entfaltet. Gemeint ist mit jener Unterscheidung demnach nicht die Überschreitung alles denkbaren irdischen Lebens auf eine Überwelt hin, sondern der Weltbegriff benennt ————— 153 Vgl. Kaftan, Dogmatik und Glaubenspsychologie, 382 (Hervorhebung im Original): „Daß ich wirklich an diesem höchsten Gut Theil habe, bedeutet, daß ich in Gott lebe und ihn erkenne. Ohne diese praktische Stellungnahme ist es keine wirkliche Erkenntnis“. Vgl. auch ders., Rechtgläubigkeit, 13. – Für den christlichen Gottesbegriff vgl. weiter unten 3.3.4. 154 Vgl. z.B. ders., Gr. Kat., BSLK, 560f. 155 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.3–4.2.6. 156 Vgl. Kaftan, Wesen, 124–130. 157 Kaftan, Wesen, 116 (im Original z.T. hervorgehoben).

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hier die konkrete und individuell beziehungsweise gesellschaftlich variable Umwelt, in der sich der Religiöse vorfindet. „[J]eder Mensch hat seine Welt.“158 Der Kaftansche Weltbegriff an dieser Stelle ist weiterhin dadurch geprägt, dass er den Bereich benennt, in welchem der Mensch den Dingen und Gegebenheiten gegenüber handlungsfähig ist. Diese Umwelt allerdings hat ihre „Grenze“,159 und diese ist gleichbedeutend mit der Grenze menschlicher Handlungsfähigkeit. Die Gottheit soll dem Menschen da helfen, wo er und seinesgleichen an der Grenze ihres Könnens angelangt sind, oder sie soll ihn von den Fesseln befreien, die zu zerbrechen er sich nicht stark genug fühlt.160

Deshalb unterscheidet der Religiöse die Gottheit von seiner Welt.161 Diese Unterscheidung ist noch nicht gleichbedeutend mit der Unterscheidung des einen überweltlichen Gottes von allem in der Welt Existierenden, denn eine solche Unterscheidung würde eine prinzipielle Überschreitung nicht nur der eigenen Umwelt, sondern auch aller möglichen Umwelten bedeuten. Sie geht einher mit der Ausrichtung auf ein höchstes überweltliches Gut. Zweitens zeitigt das praktische Motiv aller Religion die Vorstellung, dass „der Gottheit überall eine außerordentliche Macht über die Welt beigelegt“162 wird. Mit dem Weltbegriff ist hier erneut die jeweilige Umwelt des Religiösen anvisiert; die Macht, welche der Gottheit zugesprochen wird, bedeutet die Fähigkeit der Gottheit, die von ihr erbetenen Güter des Lebens dem Religiösen zukommen zu lassen. Als außerordentliche ist diese Macht zu bezeichnen, da sie die Fähigkeiten des Menschen, in seiner Umwelt zu agieren und sich jene Güter zu beschaffen, bei weitem übersteigt. Auf „ihr Eingreifen [wird] gerade da gerechnet […], wo die Kräfte des Menschen versagen.“163 Die Bestimmung des Gottesbegriffs als überweltliche Macht wird von Kaftan zuweilen unter dem Begriff des Erhabenen zusammengefasst,164 wobei sogleich deutlich wird, dass das Attribut „erhaben“ hier nicht als primär ästhetischer Terminus verwendet wird,165 sondern im Rahmen der ————— 158 Kaftan, Wesen, 116 und 117. 159 Kaftan, Wesen, 117. 160 Kaftan, Wesen, 117. 161 Vgl. Kaftan, Philosophie, 204: „[D]ie Gottheit ist immer über der Welt des Menschen, der ihr dient.“ 162 Kaftan, Wesen, 117 (im Original z.T. hervorgehoben). 163 Kaftan, Wesen, 118. 164 Vgl. Kaftan, Wesen, 96. 165 Damit grenzt sich Kaftan von ästhetisch gefassten Wesensbeschreibungen des religiösen Gefühls ab, wie er sie z.B. bei Schleiermacher findet. Zwar sieht Kaftan durchaus „Berührungspunkte“ zwischen ästhetischen und religiösen Gefühlen (vgl. ders., Wesen, 53 und 99). Es ist aber kritisch anzumerken, dass er die Ästhetik als Beschreibungsweise religiösen Vollzugs sowie die Kunst als Seinsweise des Geistes im Großen und Ganzen seines Werks marginalisiert. So behan-

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anthropologisch-bedürfnistheoretischen Wesensbestimmung der Religion das Gegenüber des sich seiner Nöte bewusst werdenden Menschen benennt und insofern den Gedanken der Macht als Macht über Leben und Tod impliziert: Gott ist jene Macht, welche als über die Beschränktheit menschlichen Lebens erhabene vorgestellt wird. Dieser bis dahin erreichten zunächst apersonalen Bestimmung dessen, worauf der Begriff „Gott“ in der Beschreibung jeglicher geschichtlicher Religion hinweist, wird nun aber ein das Weitere entscheidende Aspekt hinzugefügt, welcher sich für Kaftan ebenfalls mit Notwendigkeit aus dem praktischen Wesen der Religion ergibt: Der Gottheit wird, drittens, „Verstand und Wille zugeschrieben“,166 womit sie von einer unwillkürlich wirkenden Macht der Natur unterschieden wird. Dies entspricht den oben dargestellten Ausführungen zur Funktion des Kultus, nach welchen sich der Religiöse im Kult an die Gottheit wendet und etwas von ihr erbittet – solches ist nur vorstellbar, wenn es sich dabei um ein personales Gegenüber handelt, welches angerufen werden kann.167 Die Zuschreibung von Verstand und Willen bedeutet dabei also letztlich, dass die Gottheit „nach Art der menschlichen Persönlichkeit gedacht wird.“168 Diese Analogie – hier im religionstheoretischen Rahmen auffallender und bezeichnender Weise genau umgekehrt zur biblisch-christlichen Vorstellung der Gottebenbildlichkeit und eher im Sinne des anthropomorphen Vorstellens formuliert – wird sich als die eigentlich entscheidende Bestimmung für Kaftans Reflexion über den Gottesbegriff herausstellen: Die Idee der Persönlichkeit ist es, welche Kaftans Gottesbegriff auch und vor allem hinsichtlich der christlichen Theologie profiliert. In der Näherbetrachtung des christlichen Gottesbegriffs wird dann aber auch deutlich, dass der anthropomorphen Denkbewegung eine offenbarungstheologische Gegenbewegung vom Gottesbegriff aus zugesellt wird, so dass letztlich die menschliche Persönlichkeit als durch die göttliche Persönlichkeit konstituiert gedacht wird. ————— delt Kaftan beispielsweise in seiner Philosophie die Kunst zwar neben der Wissenschaft, der Moral und der Religion als eine der Ausdrucksformen des Geistes (vgl. ders., Philosophie, 104), aber als im Vergleich zu den anderen drei Formen untergeordnete (vgl. auch ders., Wahrheit, 67f, 428f, 532f). – Die Motivation für die Unterordnung der Kunst bzw. der Ästhetik liegt in der Religionstheorie Kaftans. Hier will er jeglichen Tendenzen wehren, die „ästhetische Stimmung“ (ders., Wahrheit, 205) zum „Surrogat für die Religion“ (ebd.) zu erheben. In Zusammenhang damit steht, dass Kaftan gegenüber der Schleiermacherschen Bestimmung der Religion als unbedingtem Abhängigkeitsgefühl das aktiv-intentionale Moment menschlicher Religiosität stärker betont (vgl. dazu unten 2.3.5). 166 Kaftan, Wesen, 119 (im Original z.T. hervorgehoben). 167 Vgl. zur Frage nach der Bedeutung des personalen Gottesverständnis für die Gebetstheorie unten 2.4. 168 Kaftan, Wesen, 119.

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Die in der Wesensschrift vorgenommenen Bestimmungen eines allgemein religiösen Gottesbegriffs169 sind unverkennbar auf die Typologie der geschichtlichen Religionen abzubilden, so dass sie einen Zug zu den beiden Typen geistiger Religion – den eigentlich mystischen Religionen und dem Christentum – aufweisen: Gott wird in jeder Religion als überweltlich verstanden, indem er als der jeweiligen Umwelt des Religiösen enthoben vorgestellt wird. In den geistigen Religionen aber gewinnt das Bewusstsein Raum, dass der Mensch in der Welt überhaupt keine Erfüllung seines Lebensverlangens findet. Die Gottesvorstellung überschreitet demnach die Grenzen vorstellbarer Welt und geht im eminenten Sinne auf einen überweltlichen Gott aus, von dem der Religiöse nicht bloß bedingt, sondern, in Schleiermachers Worten, schlechthinnig abhängig170 ist. Dementsprechend wird Gott in den geistigen Religionen als allmächtig vorgestellt: Nicht bloß über die Umwelt des Religiösen oder gar über eine bestimmte Gruppe von Übeln und Gütern verfügt die Gottheit, sondern ihrer Macht sind keine Schranken gezogen; sie ist vielmehr die „höchste Macht“,171 von der die Welt im Ganzen und damit Leben und Tod des Einzelnen abhängen. Für die dritte Bestimmung Gottes nun, die Vorstellung Gottes als Persönlichkeit, der Wille und Verstand zugeschrieben wird, scheint es ungleich problematischer, sie als Resultat der religionsgeschichtlichen Tendenz der Vergeistigung zu sehen. Das Problem liegt darin, den Gedanken Gottes als des Absoluten mit der Idee der Personalität Gottes zu vereinen, und ist der neuprotestantischen Theologie in verschärfter Form seit den drei großen ————— 169 Kaftan erläutert diese allgemeinen Bestimmungen, welche ausgesprochen religiöser Art sind, in spiegelbildlicher Weise an einer Konstruktion des allgemein philosophischen Gottesbegriffs, wie er in der Idee einer obersten beziehungsweise ersten Weltursache gegeben ist (vgl. neben Kaftan, Wesen, 117–119 hierzu ders., Wahrheit, 57f). Dabei grenzt er den religiösen Gottesbegriff jeweils deutlich von dem philosophischen Gottesbegriff ab: So bedeutet, erstens, die Annahme einer solchen prima causa letzten Endes stets die Integration dieser Ursache in weltliche Zusammenhänge, eine Gleichstellung mit weltlichen Ursachen im Kontext des Ursache-FolgeSchemas endlicher Zusammenhänge, so dass keine wirkliche Unterscheidung von der Welt gedacht wird. Zweitens ist die religiöse Annahme einer außerordentlichen Macht der Gottheit insofern von der Idee einer prima causa zu unterscheiden, als sie zum einen als der menschlichen Einsicht letztlich verborgene Macht vorgestellt wird, während die prima causa gerade aufgrund der Einsicht in den Kausalnexus aufgeschlossen werden können soll. Zum anderen existiert trotz der Verborgenheit der göttlichen Macht ein religiöses Wissen um kultische Beziehungsaufnahme mit jener Macht – während die prima causa als menschlicher Anrede völlig enthoben gedacht wird. Drittens und mit zweitens zusammenhängend wird die prima causa im philosophischen Kontext kaum als eine persönliche Wirkmacht vorgestellt. – Nicht erst die christlich spezifizierte, sondern überhaupt die religiöse Gottesrede ist damit von „den von der Philosophie formulierten Bedingungen konsistenten Redens von ‚Gott‘ überhaupt“ abzuheben (PANNENBERG, ST I, 427), auch wenn die Philosophie ein Hilfsmittel in der Beschreibung eines Allgemeinbegriffs von Gott im religiösen Rahmen darstellt. Der sich hier andeutenden Unterscheidung zwischen Religion und Philosophie wird unten Kapitel 4.2 nachgegangen. 170 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (1830/31), §4 (KGA I.,13,1: 32–40). 171 Kaftan, Dogmatik, 182.

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Streitigkeiten um den Gottesbegriff – dem Pantheismusstreit von 1785, dem Atheismusstreit von 1798/99 und dem Theismusstreit von 1811/12 – aufgegeben. Der Einwand, der Persönlichkeitsbegriff sei weder in seiner eher boethianischen noch in seiner eher kapperdokischen Fassung auf den Gedanken Gottes als des Absoluten anzuwenden, ist eine der Anfragen, von denen sich die Theologie nicht nur des 19. Jahrhunderts beständig herausgefordert sieht.172 Kaftan entwirft seinen theistisch-personalen Gottesbegriff nicht in direkter Auseinandersetzung mit den Positionen Spinozas, Humes oder Fichtes,173 doch muss er schon aus Gründen interner Kohärenz begründen, wie der Gedanke der Persönlichkeit Gottes mit dessen Absolutheit zu vermitteln ist. Denn nicht nur dringen seine ersten beiden religionstheoretischen Bestimmungen Gottes als überweltlicher, schlechthin erhabener Macht auf die Bezeichnung Gottes als absolut, sondern Kaftan verwendet den Absolutheitsbegriff in der Dogmatik explizit als erste Bestimmung des geistigen Gottesbegriffs.174 Es wird sich zeigen, dass Kaftans Anwendung des Persönlichkeitsbegriffs auf die geistig-religiöse Vorstellung Gottes zwei ineinandergreifende theologische Intentionen verfolgt. Erstens soll die Bezeichnung Gottes als Persönlichkeit zum Ausdruck bringen, dass der schlechthin überweltliche und unbedingte Gott gleichwohl solchermaßen auf die Welt und den Menschen bezogen ist, dass er sich selber mit dem Bedingten vermittelt. Dabei entspricht die Beziehung Gottes zum durch ihn Bedingten seinem Wesen und bleibt ihm nicht äußerlich, so dass von einem Sichbedingt-sein-Lassen Gottes gesprochen werden kann. Dies wird in der christlichen Religion durch den Schöpfungsglauben zum Ausdruck gebracht.175 Kaftan entfaltet diesen Gedanken zwar auch trinitätstheologisch wie an prominentester Stelle Hegel,176 vor allem aber ethisch. Es wird sich zeigen, dass die Bestimmung Gottes als Persönlichkeit vor dem Hinter————— 172 Vgl. hierzu z.B. Jan ROHLS, Die Persönlichkeit Gottes und die Trinitätslehre, ET 45, 1985, 124–139. 173 Vgl. Benedictus de SPINOZA, Die Ethik nach geometrischer Methode dargstellt (1677), hg. v. C. Gebhardt, SW 2, Hamburg 1989. Für David HUME sind zu konsultieren seine Dialogues Concerning Natural Religion (1779), hg. v. D. Coleman, Cambridge 2007. Vgl. für Johann G. FICHTE die den so genannten Atheismusstreit mitauslösende Schrift: ders., Über den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung, Philos. Journal 8, 1798, 1–20, sowie ders., Gerichtliche Verantwortungsschrift gegen die Anklage des Atheismus (1799), in: H. Lindau (Hg.), Die Schriften zu J.G. Fichte’s Atheismus-Streit, Bibliothek der Philosophen 4, München 1912, 196–271. Vgl. später Paul TILLICHs Entwurf einer über den Begriff Gottes als des Seins selbst aufgebauten transtheistischen Gotteslehre, Systematische Theologie I, Berlin/New York 81987, 273ff. 174 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 181–186 und dazu ausführlich unten in Kapitel 3.3.4. 175 Vgl. Kaftan, Philosophie, 221f und zur Durchführung ders., Dogmatik, v.a. §§22f u. 25. 176 Vgl. dazu v.a. Kaftan, Dogmatik, 242–44. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil III: Die vollendete Religion, neu hg. v. Walter Jaeschke, PhB 461, Hamburg 1995, z.B. 120, 125.

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grund der Bezeichnung Gottes als summum bonum bedeutet, dass Gott, der in sich selber das Gute ist, zugleich das Gute für die Welt will – wie es nur eine vollendete Persönlichkeit wollen kann. Zweitens zielt die Bezeichnung Gottes als Persönlichkeit über die Integration des Weltbezugs in den Gedanken des Absoluten darauf ab, das religiöse Subjekt nicht nur von der Welt abzuziehen, sondern zugleich und gerade aufgrund seines Strebens nach dem überweltlichen Gott in die Welt hineinzustellen. Wie Kaftan dies ausführt, wird erst im nächsten Kapitel zu besprechen sein. Der Grundgedanke ist der, dass die Teilhabe am summum bonum das religiöse Subjekt zugleich mit dem Willen des persönlichen Gottes konfrontiert, welcher auf die sittliche Weltgestaltung durch das Subjekt und damit dessen Personwerdung zielt. Wie sich ebenfalls zeigen wird, verbindet sich damit die Vorstellung, dass die Teilhabe am summum bonum nicht etwa das Aufgehen des menschlichen Individuums in Gott bedeutet, sondern das Individuum in seiner Selbständigkeit bewahrt – mehr noch: in diese allererst hineinführt.177 Die solchermaßen umrissene und im Folgenden auszuführende Konzeption Kaftans wird in der Wesensschrift vor allem in der Konfrontation der beiden Typen geistiger Religion ansichtig, des Christentums und der so genannten mystischen Religionen wie vor allem der indischen Erlösungsreligionen. So ist es hier vor allem die Gottesanschauung des Brahmanismus, welche mit einem Gottesbegriff konfligieren muss, der den Gedanken der Persönlichkeit Gottes als wesentlichen Bestandteil integriert. Kaftan stellt in seinen Studien zum Brahmanismus fest, dass die Konsequenz aus dessen spezifischer Vorstellung des höchsten Gutes der Pantheismus ist. So ist der Brahmanismus als charakteristischer Typ mystischer Erlösungsreligion dadurch gezeichnet, dass er das höchste Gut als Vereinigung des religiösen Subjekts mit der Gottheit vorstellig macht. Die Aufhebung der Differenz zwischen religiösem Subjekt und Gottheit ist Ziel des kultischen Vollzugs und wird als Eingehen und Aufgehen in die radikal überweltliche Gottheit verstanden. Aus dieser Vereinigungsvorstellung, welche dem religiösen Subjekt im Kultus erfahrbar wird, folgt die pantheistische Welt- und Gottesanschauung, das heißt die Vorstellung Gottes als apersonalen, „verborgenen, in allem Sein gegenwärtigen Grund[s] der Welt“.178 Entscheidend an Kaftans pauschalierender Zeichnung des Pantheismus ist hier nicht die Frage, ob sie eine Verzeichnung pantheistischer Weltanschauung und Religion ist,179 sondern ihre innere Logik. So resultiert Kaftan zufolge aus der mystisch-religiösen Vorstellung Gottes als „Nichtwelt“180 – über die kulti————— 177 Vgl. dazu unten v.a. Kapitel 3.3.4 und 3.4 sowie Kapitel 4.2.5 und 4.3. 178 Kaftan, Wesen, 75. 179 Zu den Problemen des Pantheismusbegriffs vgl. Bernhard MAIER/Christoph JAMME/ Erwin H.U. QUAPP, Art. Pantheismus, TRE 25, 1995, 627–641, bes. 627–630. 180 Kaftan, Wesen, 75.

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schen Vereinigungserfahrungen vermittelt – gerade eine differenzlose Identifizierung von Gott, Welt und menschlichem Subjekt.181 Um Pantheismus zu vermeiden, ist es nach Kaftan mithin erforderlich, nicht einfach eine absolute Gottheit als überweltliche Wirklichkeit vorzustellen, sondern gleichzeitig Gott als von der Welt Unterschiedenen auf die Welt bezogen zu denken. Dabei ist die pantheistische Ausrichtung Kaftan zufolge weder ein religiöses noch ein denkerisches Problem. Schließlich werden die mystischen Einheitsreligionen von Kaftan mit dem Attribut vollendeter Religiosität versehen, und auch der religionsphilosophische Pantheismus wird von Kaftan in seinen particula veri gewürdigt.182 Vielmehr stellt der Pantheismus ein ethisches Problem dar, denn wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, bedeutet die Ausrichtung auf die radikal überweltliche Wirklichkeit Gottes ebenso wie die umgekehrte differenzlose Ineinssetzung von Gott und Welt eine Marginalisierung weltgestalterischer Aufgaben des Menschen in der Geschichte.183 Demgegenüber soll der personale Gottesgedanke bei Kaftan sowohl die Weltbeziehung des überweltlichen Gottes als auch – somit im Gottesbegriff begründet – die Weltbeziehung des religiösen Subjekts bestimmen.184 Dabei erhebt Kaftan die Verschränkung von menschlichem Persönlichkeitsbewusstsein und dem Glauben an die Persönlichkeit Gottes geradewegs zum Programm. Dies ist insofern kein novum in der Theologiegeschichte, als die theistische Theologie des 19. Jahrhunderts durchweg versuchte, personale Attribute des Menschseins – wie allem voran die Individualität und die Freiheit des Handelns – in dem Gedanken eines persönlichen Gottes zu begründen.185 Dennoch ist Kaftans Versuch einer solchen Vermittlung theologisch aufschlussreich, da er auf die spezifische Relation von Eschatologie und Ethik in der christlichen Religion abhebt und insofern ein eigenes Profil aufweist. Der Grundgedanke Kaftans ist der, dass die christliche Religion ihr vollendet geistiges Wesen mit der personalen Gottesvorstellung darin vermittelt, dass das Phänomen des Geistigen wesentlich ethisch bestimmt wird, und die Ethik wiederum wesentlich das Werden von Persönlichkeit beschreibt. Mit anderen Worten: Die Vorstellung der Persönlichkeit Gottes wird im Rahmen einer Ethik begründet, welche die religiöse Hinwendung zur eschatologischen Wirklichkeit des ————— 181 Zum Zusammenhang der Ineinssetzung von Gott und Welt und der Vorstellung Gottes als radikal nicht-weltlich vgl. Kaftan, Philosophie, 222f. 182 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 221; ders., Dogmatik, 434. 183 Vgl. Kaftans Skizze der Religionsphilosophie Schellings, wo er feststellt, dass nach Schelling „die Moral […] nichts auszeichnendes am Christenthum“ ist (Kaftan, Wahrheit, 226f). 184 Zur Konfrontation von personaler und pantheistisch-mystischer Gottesvorstellung als den beiden Typen geistiger Gottesvorstellung vgl. auch Kaftan, Philosophie, 220–224. 185 Vgl. H. ULRICI, Art. Theismus, RE 15, 1862, 691–704; M. HEINZE, Art. Theismus, RE 19, 31907, 584–595.

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Das Wesen der Religion

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Göttlichen mit dem Weltverhältnis des Religiösen als ethischer Persönlichkeit zu vermitteln sucht. Damit ist zugleich angedeutet, dass das Problem des Verhältnisses von Eschatologie und Ethik von Kaftan auf den Gottesgedanken zurück bezogen wird, indem Gott und Welt in das Verhältnis einer Bezogenheit in Differenz gebracht werden, wie unten genauer zu zeigen ist.186 Dass Kaftan die mystischen Religionen wie den Brahmanismus als vollendete bezeichnen kann, weil er das eigentlich religiöse Gefühl als mystisches fasst, zieht vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit dem Pantheismus wichtige Konsequenzen für ein christliches Mystikverständnis nach sich. Kaftan bestimmt das Streben nach Teilhabe am Leben Gottes als die Haltung, welche die vollendete Religion ausmacht. Die aufgrund ihrer pantheistischen Implikationen abgelehnte brahmanische Gottesvorstellung wie überhaupt die Gottesvorstellungen der in diesem Rahmen behandelten indischen Erlösungsreligionen sind nun aber dezidiert mystische. Von daher stellt sich die Frage, wie Kaftan die Betonung des mystischen Elements der Religion mit seiner dezidiert anti-pantheistischen Gotteslehre ins Benehmen setzen kann. Positiv formuliert ist zu fragen, wie Kaftan die personale Gottesvorstellung mit der Mystik vermittelt.187 Wenn ihm diese Vermittlung gelänge, so bedeutete dies einen profilierten Beitrag zur christlichen Mystik, die auch für gegenwärtige Fragestellungen in dieser Hinsicht einen Beitrag leisten kann. Es wird sich zeigen, dass Kaftans Entwurf der Mystik ein ethischer ist, welcher die bleibende Unterschiedenheit von göttlicher und menschlicher Persönlichkeit zur Grundlage hat.188 Somit ist zu folgern, dass die Stoßrichtung der religionstheoretischen Analyse des Gottesbegriffs, wie Kaftan sie unternimmt, eine Interpretation des christlichen Gottesgedankens ist, und dass weiter diese Interpretation erst eigentlich nachzuvollziehen ist, wenn das Verhältnis der Religion zur Ethik besprochen wird. Zuvor ist allerdings zu fragen, inwiefern zu Recht von der eschatologischen Zuspitzung auch der Wesensbestimmung des Christentums gesprochen wurde, wenn doch der christliche Gottesbegriff und damit die christliche Religion im Unterschied zum anderen Typus ————— 186 Vgl. unten Kapitel 3, v.a. 3.3.4 und Kapitel 4, v.a. 4.2.5. 187 Dass Kaftan jedenfalls unterscheidet zwischen „relativ gesunde[n] Richtungen“ der christlichen Mystik und „solche[n], welche aus der Kirche ausgeschieden sind“ (Kaftan, Wesen, 76), zeigt nicht nur die kritische Herangehensweise an die geschichtlichen Manifestationen des Christentums (vgl. dazu z.B. a.a.O., 359–398 sowie ders., Wahrheit, 20–234). Diese Unterscheidung verweist auch auf ein kritisches Prinzip für die Unterscheidung zwischen Mystik, die dem Wesen der Religion entspricht, und einer solchen, die aus einer Übersteigerung dieses Wesens, d.h. des religiösen Gefühls, heraus entwächst. Um dieses kritische Prinzip näher bestimmen zu können, ist es notwendig, die oben erwähnte ethische Entwicklungstendenz der Religion und damit die Weltstellung des Religiösen zu bedenken; vgl. dazu unten Kapitel 3.2. 188 Vgl. unten Kapitel 3.3.4 und 3.4.

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geistiger Religion offensichtlich durch das Verhältnis zum Sittlichen zu spezifizieren ist. Wenn die These zu begründen ist, dass Kaftan anders als Ritschl eine strikt eschatologische Wesensbestimmung der christlichen Religion vorlegt und nur hierin ihre ethische Dimension begründet sein lässt, so ist zunächst jenem eschatologischen Wesen der christlichen Religion nachzugehen und hier der Grund aufzusuchen, wie der Glaube an Gott als überweltlichem persönlichen Geist und die Hoffnung auf Teilhabe an diesem die Weltstellung des Religiösen präfiguriert. Es ist also zunächst zu fragen, wie das höchste überweltliche Gut der christlichen Religion vorgestellt wird.

2.3 Die christliche Religion: Das Reich Gottes als höchstes Gut Die christliche Religion: Das Reich Gottes als höchstes Gut

Wie bisher gezeigt, ist Kaftans Theologie im Ganzen in einer Wesensbestimmung der Religion fundiert, nach welcher diese im Verlangen des Menschen nach Leben wurzelt. Die Erfahrung eines radikalen Mangels an Gütern, welche dieses Verlangen erfüllen könnten, ist der Grund für die Hinwendung zu Gottheiten, welche die erstrebten Güter gewähren. Aus dieser These gewinnt Kaftan das Kriterium, nach welchem die geschichtlichen Religionen in ihrer jeweiligen Eigenart bestimmt werden können: Es sind die in einer Religion erstrebten Güter, welche sie zu dem machen, was sie ist. Alle Vollzugs- und Ausdrucksformen einer Religion sind demnach durch jene Güter bedingt; selbst die Gottesvorstellung dependiert von ihnen. Mithin ist der Begriff des Guts, verstanden als Strebeziel des menschlichen Verlangens nach Leben, der „praktische Grundbegriff“189 der Religion. Über diesen Grundbegriff zeichnet Kaftan sodann eine religionsgeschichtliche Tendenz zur Vergeistigung nach, der zufolge in der seines Erachtens vollendeten Religion nicht mehr zahlreiche innerweltliche Güter erstrebt werden, sondern ein höchstes überweltliches Gut, welches letztlich Gott selbst ist.190 Damit ist das Wesen der Religion ein geistiges beziehungsweise ein mystisches, wie Kaftan entgegen einem primär ethischen Religionsverständnis betont. Während Religion also im Verlangen nach Leben in der Welt wurzelt, so geht es vollendeter Religion gerade im Inter————— 189 Kaftan, Wesen, 195 (Hervorhebung im Original) u.ö. 190 „Vollendet“ bedeutet demnach hier, dass eine Konsequenz, die schon in den basalen Ausdrucksformen des Religiösen liegt, gezogen ist: Wenn die Güter dieser Welt das menschliche Lebensverlangen immer nur partiell und befristet befriedigen können, so richtet es sich auf ein höchstes überweltliches Gut. Wenn es die Götter sind, die die erstrebten Lebensgüter gewähren können, so ist es die Gemeinschaft mit den Göttern selber, welche zum Strebeziel des Lebensverlangens wird. In beiden Bewegungen gründet das Wesen vollendeter Religion, nämlich das höchste Gut in der Teilhabe am Leben des überweltlich-ewigen Gottes zu suchen. Vgl. zum Gedanken der Offenbarung als wesentliches Moment der vollendeten Religion unten Kapitel 4.2.6.

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Die christliche Religion: Das Reich Gottes als höchstes Gut

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esse des Lebensverlangens um Erlösung von der Welt. In diese mystischeschatologische Grundbestimmung der Religion stellt Kaftan seine Wesensbeschreibung des Christentums ein. Der Hauptgedanke ist der, dass als das höchste Gut der christlichen Religion das von Jesus verkündete und in seiner Person realisierte Gottesreich zu begreifen ist. Dies nun impliziert zweierlei: Erstens ist die These erhoben, dass das Wesen der christlichen Religion in ihrer spezifischen Vorstellung vom Reich Gottes zu suchen ist – denn eine Religion wird durch das in ihr erstrebte höchste Gut im Ganzen bestimmt. Die Reich-Gottes-Vorstellung ist im Christentum damit nicht eine Vorstellung neben anderen, so dass sie in der Dogmatik beispielsweise als ein Teilmoment der Eschatologie abgehandelt werden könnte, sondern die Grundbestimmung des christlichen Glaubensbewusstseins und damit das organisierende Zentrum der christlichen Glaubenslehre. Kaftan schließt sich hier an Ritschl an, der den Reich-Gottes-Begriff zum Prinzip seines theologischen Systems macht.191 Kaftan wird oftmals als Ritschl-Schüler, und zwar als konservativer Vertreter der Ritschl-Schule verstanden.192 Kaftan selber betrachtet sein Verhältnis zur Ritschlschen Theologie differenziert: Ihr verdankt er ein gleichsam reformatorisches Erlebnis, insofern er bei der Lektüre des dritten Bandes von Rechtfertigung und Versöhnung das Programm der von ihm selber zu entwerfenden Theologie ersann.193 Zugleich weiß Kaftan um die prinzipiellen Differenzen seiner Theologie zu der Ritschls. Er charakterisiert jene Differenzen zusammenfassend mit dem Verweis auf die zentrale Bedeutung, die die Mystik bei ihm einnimmt. Auch das hier verhandelte Thema ist in diesem Sinne Ausdruck des von Kaftan selber so bezeichneten „Gegenwurf[s] gegen Ritschl“.194 Zweitens meint die Bezeichnung des Reichs Gottes als des höchsten Guts – worin Kaftan, selber von Kant herkommend,195 Ritschl beeinflusst hat –,196 —————

191 Vgl. v.a. RITSCHL, RuV III3=4, bes. 256–270 sowie, Unterricht in der christlichen Religion, Studienausgabe hg. v. C. Axt-Piscalar, Tübingen 2002, Erster Teil: Die Lehre vom Reich Gottes. Vgl. zur Geschichte des Reich-Gottes-Begriffs und seine keinesfalls immer bedeutende Stellung im Gefüge christlicher Theologie PANNENBERG, ST III, 569–572. 192 Vgl. z.B. Joachim WEINHARDT, Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, Tübingen 1996, 106. 193 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.2. 194 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 215–218, 222f (Zitat: 223; Hervorhebung im Original). 195 Bei KANT steht der Begriff des höchsten Guts bekanntlich für die Zusammenfassung dessen, was für die Erfüllung des menschlichen Glücksstrebens vonnöten ist: die Entstehung eines Reichs, in welchem sowohl die sozialen Übel als auch die natürlichen Übel behoben sind. Als solches ist das höchste Gut „das nothwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ (KpV, AA V, 122). Vgl. hierzu Christine AXT-PISCALAR, Das gemeinschaftliche höchste Gut. Der Gedanke des Reiches Gottes bei Immanuel Kant und Albrecht Ritschl, in: W. Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionskritik und die Theologie, Göttingen 2004, 231–255, v.a. 234–245; dies., Wieviel Religion braucht die Vernunft? Überlegungen zur

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dass die Reich-Gottes-Vorstellung der Ausdruck dessen ist, was die christliche Religion als die Erfüllung des Lebens, als Seligkeit kennt. Wenn die christliche Religion von Kaftan als geistige Erlösungsreligion bezeichnet wird, so bedeutet dies weiter, dass das Gottesreich nicht als innerweltlichsittliche Gemeinschaft zu verstehen ist, sondern als Teilhabe am überweltlichen Leben Gottes – und mithin als eschatologische Größe, so dass hier zu Recht eine Profilierung des Kaftanschen Reich-Gottes-Begriffs gegenüber dem Ritschlschen zu vermuten ist.197 Damit konzipiert Kaftan bereits in der frühen Religionstheorie seiner Wesensschrift einen Zugriff auf die neutestamentliche Theologie als Zeugnis urchristlicher Religion und als Bestimmungsgrund des Wesens der christlichen Religion, welcher durch die Einsicht in den eschatologischen Charakter des Gottesreichgedankens Jesu und daran anschließend des Neuen Testaments bestimmt ist. Er nimmt darin vorweg, was 1892 von Weiß in seiner Schrift zur Predigt Jesu vom Reiche Gottes198 wirkmächtig entfaltet wurde, und was seine eigene Schrift zur Neutestamentlichen Theologie von 1927 noch einmal als Auslegung der neutestamentlichen Schriften zusammen fasst. Es ist dabei nicht auszumachen, ob Kaftans religionstheoretische Bestimmung des Gottesreichs als höchsten überweltlichen Guts der christlichen Religion in neutestamentlichen Studien begründet ist, welche dann 1927 posthum – das druckfertige Manuskript stand zur Verfügung – veröffentlicht wurden, oder ob umgekehrt die religionstheoretische Konzeption in die im Alter entworfene Neutestamentliche Theologie Eingang fand. Ebenso wenig belegt, jedoch aufgrund der räumlichen Nähe und auch aufgrund der literarischen Beschäftigung Kaftans mit Nietzsche anzunehmen, ————— Bedeutung der Religion im Denken Kants, ZThk 103, 2006, 515–532, v.a. 518–526; Ulrich BARTH, Kants Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie, in: U. Schnelle (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 267–302; Christian WALTHER, Typen des Reich-Gottes-Verständnisses. Studien zur Eschatologie und Ethik im 19. Jahrhundert, München 1961, 20–41. 196 Auch wenn Kaftan damit aufgrund seiner Wesensbestimmung der Religion das höchste christliche Gut des Gottesreichs als mystische Größe beschreibt, und RITSCHL die Mystik bekanntermaßen einer grundsätzlichen Kritik zuführt, übernimmt letzterer die Bezeichnung des Gottesreichs als höchstes Gut von Kaftan. Dies ist aus der Vergleichung der ersten beiden Auflagen des Unterrichts ersichtlich: Während Ritschl in der ersten Auflage von 1875 das Reich Gottes als den „allgemeine[n] Zweck“ und das „gemeinschaftliche Produkt“ der christlichen Gemeinde bezeichnet, so ändert er dies in der zweiten und dritten Auflage von 1881 und 1888 in die Bezeichnung des Gottesreichs als „das von Gott gewährleistete höchste Gut“ und zugleich als „das sittliche Ideal“ der christlichen Gemeinde (ders., Unterricht, 13). Dass dies auf den Einfluss der Kaftanschen Wesensschrift, die ebenfalls 1881 in erster Auflage erschien, zurück geführt werden muss, ist aus der Tatsache zu schließen, dass Ritschl jene Schrift zu Rezensionszwecken vorlag. Ritschls Rezension des Wesens der christlichen Religion von Kaftan erschien in der ThLZ 13, 1881, 306–312. 197 Vgl. unten 2.3.2 und 2.3.3. 198 Vgl. Johannes WEISS, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, hg. v. F. Hahn, Göttingen 3 1964.

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Die christliche Religion: Das Reich Gottes als höchstes Gut

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ist, dass Kaftan durch das Denken des Nietzsche-Freundes Overbeck beeinflusst wurde: Als er 1881 die Wesensschrift erstmalig publizierte, lehrte er in Basel, dem damaligen Wohn- und Wirkungsort Overbecks und Nietzsches; dass er zumindest mit Nietzsche persönlich zusammen traf, ist bezeugt.199 So wird aber auch Overbecks Entwurf einer welt- und kulturfeindlich gestimmten Urchristenheit, wie er in der 1873 erstmalig publizierten Schrift Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie200 vorliegt, von ihm wahrgenommen worden sein. Darüber hinaus aber ist darauf zu verweisen, dass Kaftans Herausstellung der eschatologischen Qualität des Gottesreichgedankens und damit der antithetischen Relation von Reich Gottes und Welt auch vor dem Horizont der Zeitgeschichte zu sehen ist: In den Prozessen der Konsolidierung und Ausgestaltung des 1870/71 gegründeten deutschen Reiches kam dem Protestantismus, so zerstritten er auch in sich war, eine prägende Rolle zu, was nicht zuletzt darin seinen Ausdruck fand, dass Protestantismus und deutsche Nation und Kultur in einen engen Zusammenhang gerückt wurden. Die bekanntermaßen nationalistische Grundhaltung der meisten Vertreter des Protestantismus, auch und gerade seiner liberalen Richtungen, ließ jenen als Sinnstifter des neuen Reichs möglich scheinen. Nipperdey kann deshalb in seiner Rekonstruktion der religiösen Umbrüche im Deutschland zwischen 1870 und 1918 zugespitzt formulieren: „Der Staatsprotestantismus wurde Reichsprotestantismus. Reich und Reich Gottes rückten mehr zusammen.“201 Auch gegen solche Tendenzen in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Gestaltungs- und Orientierungsaufgaben wendet sich Kaftans Rekonstruktion des radikal überweltlichen Charakters des Gottesreichs, wie aus seinen kritischen Bemerkungen zur religiösen Überhöhung der innerweltlichen Wirklichkeit und damit auch der Nation und der staatlichen Macht geschlossen werden kann.202 ————— 199 Kaftan war 1873 von Leipzig nach Basel berufen worden und blieb dort bis zu seinem Weggang nach Berlin im Jahre 1883. Vgl. oben Kapitel 1.2. Zu Kaftans persönlichen Begegnungen mit Nietzsche vgl. unten Kapitel 3.1 sowie Göbell, Briefwechsel I, 17. 200 Vgl. Franz OVERBECK, Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1873/1903), in: Werke und Nachlaß 1: Schriften bis 1873, hg. v. E.W. Stegemann/N. Peter, Stuttgart/Weimar 1994, 155–318. 201 Thomas NIPPERDEY, Religion im Umbruch. Deutschland 1870–1918, München 1988, 95. Vgl. weiter Friedrich W. GRAF, Protestantische Theologie in der Gesellschaft des Kaiserreichs, in: ders., Profile des neuzeitlichen Protestantismus 2: Kaiserreich, Teil 1, 12–117, bes. 12–22, 37f. 202 Vgl. z.B. den in den Preußischen Jahrbüchern von 1896 veröffentlichten Vortrag Kaftans über Christenthum und Nationalität. Hier hinterfragt Kaftan die im Protestantismus scheinbar stärker als im Katholizismus zu Tage tretende Verquickung von Religion und Nationalität vom bei Jesus und Paulus begründeten christlichen Anspruch auf Universalität her. (Dabei legt er freilich zugleich offen, dass dem Katholizismus weniger die Idee einer universalen Menschheit als vielmehr die einer Art Supernation zugrunde liegt.) Besonders eindrücklich sind die Passagen, die wie eine prophetische Mahnung im Blick auf 1914 (und das „Dritte Reich“) erscheinen: „Es gibt keinen deutschen Gott. Der lebendige Gott, der eine, außer dem keiner ist, ist ein Herr aller Völker und steht allen Völkern gleich nahe.“ (A.a.O., 70.) Vgl. weiter ders., Die neue Aufgabe, 136f, wo

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Dass Kaftan über die Auffassung als höchstes Gut die Einsicht in den eschatologischen Charakter des Gottesreichs zum Ausdruck bringen will, erkennt Weiß und sieht hier eine gemeinsame Abwehr der ethischen Engführung des Gottesreichgedankens.203 Weiß kritisiert aber an Kaftans Ausführungen, dass durch die Bezeichnung des Gottesreichs als des höchsten Guts der eschatologisch-antithetische Gehalt der Reichspredigt Jesu entgegen Kaftans eigener Intention verloren ist. Der Begriff des höchsten Guts deutet nämlich Weiß zufolge auf den subjektiven Genuss einer Gabe in der Gegenwart dieser Welt hin und kann so nicht die zukünftige Heilswirklichkeit bezeichnen, wie Jesus sie gemeint habe. Damit knüpfe Kaftan letztlich wie Ritschl zwar rein äußerlich an Jesu Verkündigung an, verstehe aber den Gottesreichsbegriff in vollkommen anderer Weise als Jesus selbst. Wenn Kaftans Reich-Gottes-Konzeption gegenüber dieser Kritik zu verteidigen ist, so muss zunächst gezeigt werden, wie Kaftan den eschatologischen Charakter der Reichspredigt Jesu genau versteht. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen. Weiter kritisiert Weiß, dass Kaftan den Reich-Gottes-Gedanken nicht nur als höchstes Gut, sondern auch als „oberstes sittliches Ideal“ vorstellt.204 Auch damit entferne Kaftan sich von dem Gehalt der Predigt Jesu, der das Kommen des Reiches Gottes alleine dem Wirken Gottes selber zurechne und allenfalls eine negative Interimsethik im Sinne der Einlassbedingung in dieses Reich kenne.205 Implizit nimmt Weiß hier auch auf das der Theologie durch die Subjektivitätsphilosophie des 19. Jahrhunderts aufgegebene Problem Bezug, wie der Glaube an das allmächtige Heilshandeln Gottes mit der modernen Auffassung menschlicher Selbsttätigkeit einhergehen kann. Dieses Problem wird ja offensichtlich durch eine Vitalisierung der Hoffnung Jesu auf das Kommen des Gottesreichs verschärft, denn dieses hat sein Wesen gerade darin, dass es die Welt und damit jede menschliche Selbsttätigkeit beendet. Es ist also zu fragen, inwiefern Kaftan den eschatologischen Charakter der Verkündigung Jesu mit einer Bestimmung des Reiches Gottes als oberstes sittliches Ideal vermitteln kann. Damit ist zugleich die Frage gestellt, wie das Verhältnis von Herrschaft Gottes und menschlicher Selbsttätigkeit, in anderen Worten: von Eschatologie und ————— er die im 19. Jh. aufgekommene „Verherrlichung des Staates“ (a.a.O., 136) kritisch beleuchtet. – Insofern kann NIPPERDEY neben Naumann und Rade auch Kaftan bescheinigen, dass es bei ihm „viel mehr Nüchternheit, viel mehr Distanz gegen die Vermischung von Glaube und Nation, Kritik am Hypernationalismus und an der nationalen Arroganz“ gab (Nipperdey, Religion, 98). Hier scheint eine erste ethische Konsequenz der eschatologischen Reichgotteskonzeption auf. 203 Vgl. zum Folgenden WEISS, Predigt Jesu, 64–67. 204 Kaftan, Wesen, 235 u.ö. 205 Vgl. WEISS, Predigt Jesu, 42–50.

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Ethik, zu denken ist. Kaftans Antwort auf diese Frage ist im folgenden 3. Kapitel zu rekonstruieren. 2.3.1 Protestantisches Schriftprinzip und neutestamentliche Theologie206 Wenn Kaftan die Bestimmung des höchsten Guts der christlichen Religion in Auslegung der neutestamentlichen Schriften vornimmt, so gründet dieses Vorgehen in seiner Umbildung des protestantischen Schriftprinzips.207 Er erhebt dabei den Anspruch, in seiner Dogmatik dieses Prinzip so anzuwenden, dass er dabei über die orthodoxe Inspirationslehre hinweg auf die reformatorische Theologie Luthers zurückgeht: Kaftan legt die biblischen Schriften nicht als „eine einheitliche Quelle theologischer Belehrung“,208 sondern als Zeugnisse religiösen Glaubens aus. Er visiert aber nicht lediglich eine religionsgeschichtliche Exegese der biblischen Schriften im Gegensatz zu einer dogmatisierenden Lesart an. Zwar stimmt Kaftan mit Wredes Forderung überein, die neutestamentliche Theologie nicht an dogmatischen Konzeptionen, sondern an den religiösen Formationen zu orientieren, deren historische Quelle das Neue Testament ist.209 Kaftan zufolge ist aber gerade durch die religionsgeschichtliche Interpretation der dogmatische Wert der neutestamentlichen Theologie zu erheben. Das Neue Testament selber will, als religiöses Offenbarungszeugnis verstanden, nicht das theoretische Wissen des Interpreten bereichern, sondern „eine Umwälzung des ————— 206 Kaftans Konzeption der neutestamentlichen Theologie, welche aufzusuchen ist, um seine dogmatische Deutung des Reichs-Gottes-Gedankens begründen zu können, findet sich in expliziter Weise sowohl in der erst 1927 erschienenen Neutestamentlichen Theologie im Abriß dargestellt, als auch in den der Besprechung der einzelnen dogmatischen Topoi in seiner Dogmatik vorangestellten Kapiteln zur Begründung des jeweiligen Topos in „der heiligen Schrift“ (ders., Dogmatik, 136 u.ö.). Implizit liegt jene Konzeption aber auch der Erörterung des Wesens der christlichen Religion in der gleichnamigen Schrift von 1881 sowie zahlreichen Einzelabhandlungen zugrunde (vgl. z.B. die Aufsätze zu Jesu Verkündigung und Selbstbewusstsein nach den Evangelien in der ChW von 1902: vgl. oben Kapitel 1). Es ist möglich und an dieser Stelle geraten, Kaftans Entwurf einer neutestamentlichen Theologie als einheitlichen zu verstehen. Es sind keine werkgeschichtlichen Verschiebungen in der Entfaltung der biblischen Stoffe festzustellen, welche das hier interessierende Thema in entscheidender Weise betreffen. Gezeigt werden kann aber, dass schon die frühen Schriften Kaftans wie die eben genannte zum Wesen der christlichen Religion auf den 1927 zusammengefassten Überlegungen zur neutestamentlichen Theologie basieren. Damit ist zugleich obige Feststellung begründet, dass Kaftans Wesensbeschreibung der christlichen Religion mindestens eben so sehr von der Auslegung der Bibel herkommt, wie sie religionstheoretisch begründet wird. 207 Vgl. dazu Kaftan, Predigt des Evangeliums, 47–92; ders., Dogmatik, Tübingen 7/81920, §5: Die heilige Schrift; weiter ders., Ein neues Dogma, 30–49; ders., Wahrheit, 139–169. 208 Kaftan, Dogmatik, 66. Vgl. des Weiteren ders., Was ist schriftgemäß?, 106–116. 209 Wie dies auch RÄISÄNEN feststellt: vgl. ders., Beyond New Testament Theology, 27–29; ders., Neutestamentliche Theologie, 21. – Vgl. weiter WREDE, Aufgabe und Methode.

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inneren persönlichen Lebens herbeiführen“,210 indem es Glaubenserkenntnis mitteilt.211 Von daher ist es zweifach religionsgeschichtlich auszulegen: Nicht nur die Abfassung des Neuen Testaments, sondern auch seine intendierte Rezeption ist als Ausdruck von Religion zu beschreiben. Was das Neue Testament von der Offenbarung Gottes bezeugt, ist in seiner letzten Konsequenz nur dem Glauben einsichtig.212 Die sich am Schriftprinzip orientierende Dogmatik erhebt damit den religiösen Gehalt des Neuen Testaments in seiner Bedeutung für das gegenwärtige Glaubensbewusstsein und entspricht gerade so seinem religionsgeschichtlichen Verständnis.213 Damit ist der Charakter der Schrift als Offenbarungszeugnis von der Religionstheorie her zu erheben,214 deren Grundbegriff wie gezeigt der Begriff des höchsten Guts ist. Offenbarung wird von Kaftan dementsprechend umgebildet als „die Art und Weise, wie Gott das religiöse Gut giebt, auf welches unser Streben geht.“215 Wenn Kaftan nun das Neue Testament und näherhin die Verkündigung Jesu von der Frage her auslegt, was hier über das höchste Gut der christlichen Religion mitgeteilt wird, so ist damit dem Charakter des Neuen Testaments als Offenbarungszeugnis entsprochen. Es wird sich ferner zeigen, dass damit zugleich der christliche Glaube an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus begründet wird. Denn Kaftan legt das Wirken Jesu dahingehend aus, dass dieser nicht lediglich etwas über das Wesen des höchsten Guts verkündet, sondern dieses höchste Gut selber mitteilt. Diese Vergegenwärtigung des höchsten Guts in der Welt – welche, wie sich zeigen wird, von Kaftan weniger über die Inkarnationschristologie als vielmehr über Jesu Messiasbewusstsein und den Auferstehungsglauben der ersten Christen begründet wird – hat entscheidende Bedeutung für die Vermittlung von Gott und Welt beziehungsweise von Eschatologie und Ethik in der christlichen Religion. Nicht nur aus religionsgeschichtlichem Interesse heraus, sondern zuvorderst im Interesse einer an der geschichtlichen Gottesoffenbarung orientierten Theologie ist also im Folgenden zu fragen, erstens, was Jesus über das Reich Gottes als das höchste Gut der christlichen Religion verkündet, zweitens, inwiefern dieses höchste Gut im Zusammenhang der Verkündigung Jesu wirklich geworden ist, und drittens,

————— 210 Kaftan, Dogmatik, 67. 211 Im Hintergrund steht Kaftans werttheoretisch fundierte Konzeption der Glaubenserkenntnis im Unterschied zu theoretischer Erkenntnis, die an anderer Stelle zu rekonstruieren ist; vgl. unten Kapitel 4.2.2. 212 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 40. 213 Zum Verständnis der neutestamentlichen Schriften als Zeugnisse von Religion vgl. Kaftan, Wesen, 247f; ders., Lehre von der Erlösung, 254; ders., Zur Dogmatik, 256–260. 214 Vgl. Kaftan, Wesen, 198. 215 Kaftan, Wesen, 327.

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auf welche Weise die glaubensmäßige Aneignung des höchsten Guts im Neuen Testament bezeugt ist.216 2.3.2 Das Wesen des Gottesreichs Die Hauptquellen für die jesuanische Verkündigung sind nach Kaftan die synoptischen Evangelien.217 Sie bieten ein „Lebensbild“218 des historischen Jesus, welches der Forscher literar- und sachkritisch auf seine Zuverlässigkeit überprüfen kann und muss, da die Evangelien als „spätere schriftliche Fixierung einer mündlichen Überlieferung […] zu praktisch erbaulichem Zweck“219 entstanden sind. Diese praktische Zwecksetzung ist nach Kaftan nun aber nicht lediglich ein Manko, was die Qualität als historische Quelle betrifft, sondern zugleich und vor allem ein Vorteil. Denn wissenschaftliche Objektivität in der Erforschung der Verkündigung Jesu ist nur zu erreichen, wenn die „Wirkungen“220 dieser Verkündigung berücksichtigt werden. Diese Wirkungen, die oftmals unter dem Begriff „Osterglaube“ zusammengefasst werden, sind der urchristliche Glaube an Auferstehung, Erhöhung und Wiederkunft Jesu und die Sammlung einer Gemeinde diesen Glaubens. Erscheinungen des auferstandenen Jesus nun wurden nur durch bereits zur Jesusgruppe Zugehörende berichtet. Kaftan schließt aus dieser Tatsache, die ein Fakt auch für nichtchristliche Historiker ist, dass der Gehalt der jesuanischen Verkündigung nur zu verstehen ist, wenn in ihr der Grund für die Einstellung gesucht wird, welche die Mitglieder der Jesusgruppe nach Jesu Tod für Erscheinungen des Auferstandenen prädisponiert hat. Entscheidend ist für eine solche Auslegungsweise – und dies kennzeichnet Kaftans Umgang mit dem biblischen Zeugnis überhaupt –, dass nicht eine Aneinanderreihung exegetisierter Einzelstellen über den Gehalt der Verkündigung Jesu Auskunft geben kann, sondern „ein Bild vom Ganzen“221 zu gewinnen ist, von dem her wiederum die Einzelstellen allererst verstanden werden können.222 Die Notwendigkeit jener Konstruktion eines Ganzen, ohne welche ————— 216 Letzteres, weil Offenbarung und Glaube als Aneignung der Offenbarung im Verhältnis der Korrelation stehen. Vgl. oben 2.3.1 und Kaftan, Dogmatik, §4: Die Offenbarung. 217 Vgl. dazu Kaftan, Neutestamentliche Theologie, §4. Zur Bedeutung des Johannesevangeliums vgl. unten 2.3.4. 218 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 17 u.ö. 219 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 22 (im Original z.T. hervorgehoben). 220 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 25 (Hervorhebung von C.C.). 221 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 24 (Hervorhebung im Original). Zur Schriftauslegung als einer auf das inhaltlich verstandene Ganze der Schrift gerichteten Exegese vgl. auch ders., Bekenntnis, 12; ders., Was ist schriftgemäß?, 125. 222 Vgl. zum holistischen Anspruch der Kaftanschen Exegese auch ders., Neutestamentliche Theologie, 172; ders., Gottesreich, 316.

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die Wirksamkeit der jesuanischen Verkündigung und damit ihr Wesen gar nicht erfasst werden kann, eröffnet dabei freilich einem subjektiven Moment den Einzug in die wissenschaftliche Auslegung der Evangelien beziehungsweise der biblischen Schriften überhaupt. Kaftan zufolge ist diese subjektive Einfärbung unvermeidbar, wenn sich der Exeget nicht auf die Beschreibung von Einzelstellen beschränken will. Notwendig ist, dass sie bewusst gemacht und damit der wissenschaftlichen Kontrolle zugeführt wird.223 Das Bild vom Ganzen der Verkündigung Jesu nun, welches Kaftan in seiner Auslegung der synoptischen Evangelien gewinnt, ist bestimmt durch Jesu Gebrauch des Reich-Gottes-Begriffs, der im Zentrum seiner Verkündigung steht.224 Damit schließt Kaftan sich an eine Erkenntnis der zeitgenössischen Exegese an, welche auch heute wissenschaftlicher Konsens ist.225 Es ist Jesu Botschaft vom Hereinbrechen des Reiches Gottes in die Welt, welche in enger Verbindung mit seiner Person den Grund dafür abgibt, dass Jesu Jünger nach seinem Tod empfänglich für die Erscheinungen des Auferstandenen waren. Damit liegt hier zugleich der bleibende Grund für die Existenz einer christlichen Religion. Die Bestimmung des Gehalts der jesuanischen Verkündigung im Ganzen in der Perspektive ihrer Wirkungen auf die ersten Christen muss demnach in der Untersuchung des jesuanischen Reich-Gottes-Gedankens gründen. Kaftan zufolge ist es für das Verständnis dieses Gedankens neben der Berücksichtigung der frömmigkeitsgeschichtlichen Wirkungen nun ebenso essentiell, sein Herkommen aus der jüdischen Frömmigkeit zu bedenken, welche in den Schriften des Alten Testaments bezeugt ist. In anderen Worten: Das Wesen der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu ist zu erheben aus seinen Übereinstimmungen mit und Differenzen zu den alttestamentlichen Vorstellungen des Reiches Gottes. Dies begründet Kaftan lapidar damit, dass Jesus in seiner Verkündigung anknüpft an diese Vorstellungen und sie in spezifischer Weise umbildet.226 Die theologische Konsequenz freilich ist von Tragweite: Wenn nicht erst die urchristlichen und dann die kirchlichen Zeugnisse, sondern auch Jesu mündliche Verkündigung als Umbildung überlieferter Glaubensvorstellungen zu verstehen ist, dann werden Jesu Botschaft und mit ihr die Person Jesu als ihr Träger in die Geschichte eingeordnet.227 Dies geschieht jedoch nicht nur im Interesse einer allgemeinen ————— 223 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 24f. 224 Vgl. Kaftan, Vergebung, 363 u.ö. 225 Vgl. das bahnbrechende Werk von WEIß, Predigt Jesu, und für die gegenwärtige Exegese z.B. Georg STRECKER, Theologie des Neuen Testaments, Berlin, New York 1995, 271–275 u.ö. 226 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, bes. 39–46. 227 Damit entspricht Kaftan der später durch BULTMANN erhobenen Forderung, dass Jesu Reich-Gottes-Verkündigung in den Kontext der jüdischen Religion einzuordnen ist. Vgl. ders.,

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Geschichtswissenschaft, sondern ist genuines Anliegen auch der Theologie selbst: Es sind die Übergänge von einer Frömmigkeitsform in eine andere beziehungsweise die dabei erfolgenden inhaltlichen Verschiebungen, an denen Kaftan die Beschreibung des Wesens des Christentums orientiert. Dies wird sich im Folgenden nicht nur an Kaftans Einordnung der Verkündigung Jesu, sondern auch an seiner Behandlung der paulinischen und der johanneischen Theologie zeigen lassen.228 Neben der geschichtlichen Verortung der jesuanischen Verkündigung ist diese nach Kaftan freilich zugleich durch das scheinbar gegenläufige Moment einer extramundanen Auszeichnung ihres Trägers bestimmt, wie sich sogleich zeigen wird. Für Kaftan ist aber entscheidend, dass beide Momente, das der Einordnung Jesu in eine Frömmigkeitsgeschichte und das seiner einzigartigen Stellung in dieser Geschichte, in ihrer Zusammengehörigkeit zu verstehen sind.229 Das heißt: Der geschichtliche und der übernatürliche Charakter der Person und des Wirkens Jesu gehören untrennbar zusammen. Dies wird zu bedenken sein, wenn Kaftans Auseinandersetzung mit Troeltsch um die Frage nach der Absolutheit der christlichen Offenbarung untersucht wird.230 Nun zunächst zu Jesu „Umbildung“231 der alttestamentlichen Vorstellungen vom Reich Gottes. Die frühen alttestamentlichen Belege der Vorstellung eines Königtums Gottes bringen die Hoffnungen des jüdischen Volkes auf Gottes Herrschaft in engen Zusammenhang mit der irdischen Staatsform des Königtums. Das erwartete Gottesreich ist das „Reiche Davids [in] neue[m] Glanz“,232 so dass zu Recht von einer politisch-nationalen Form dieser Reich-Gottes-Hoffnung gesprochen werden kann.233 Mit den Erfahrungen des Zusammenbruchs der Staaten Israel und Juda und des Exils schwindet die Gewissheit der Etablierung eines solchen Reiches in irdischer Form. Zugleich aber wachsen die Sehnsüchte nach Restituierung des Volkes Israels – die Konsequenz ist die apokalyptische Einfärbung der ReichGottes-Botschaft, und das heißt eine wachsende Trennung zwischen den Reichen dieser Welt und dem zukünftigen Reich Gottes. Kaftan spricht von „überschwänglichen Zügen“, die die Reich-Gottes-Botschaft zum Beispiel ————— Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich 1949, 78, sowie ders., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, 1f. – Zur Konstruktion der jüdischen Religion und ihrer Geschichte durch Kaftan vgl. weiter ders., Ursprung, 341; ders., Dogmatik, 589–599; ders., Erlösungsreligionen, 11f, 25; ders., Wesen, 342f, 349–351. 228 Vgl. dazu unten 2.3.4. 229 Vgl. Kaftan, Wesen, 332. 230 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.6. 231 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 12, 43 u.ö. (Hervorhebung von C.C.). In dieser Umbildung traditioneller Frömmigkeit liegt „das Schöpferische“ (a.a.O., 12) der Erscheinung Jesu. 232 Kaftan, Dogmatik, 476. 233 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 19.

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des babylonischen Jesaja gewinnt, hinter denen „die konkreten Züge“ dieser Botschaft zurücktreten.234 Jene überschwänglichen Züge geraten mehr und mehr in deren Zentrum und werden in der nachexilischen apokalyptischen Literatur „ein ganz wesentliches Moment der Zukunftserwartung“: Der Messias wird erscheinen […] und das Reich der Herrlichkeit aufrichten, – ein Reich nach Art der Weltreiche, aber vom Himmel her mit göttlicher Kraft regiert.235

In Konsequenz dieser Entwicklung liegt, dass zwar die früheren Anschauungen des Reiches Gottes als eines irdisch-konkreten mitgeführt, zugleich aber in einen überweltlichen und radikal zukünftigen Bereich projiziert werden. Kaftan bezeichnet die dabei entstehende Reich-Gottes-Vorstellung als „transzendent-sinnlich[...]“236 – „transzendent“ wegen des zukünftigüberweltlichen Charakters des anvisierten Gottesreichs, „sinnlich“, weil die Verwirklichung jenes überweltlich-zukünftigen Gottesreichs doch wie die Errichtung eines, wenn auch ganz neuen, irdischen Reiches vorgestellt wird. Eine solche Zusammenschau der alttestamentlichen Bezeugung der Reich-Gottes-Hoffnung kann im Ganzen auch den Ergebnissen jüngerer Forschung zur alttestamentlichen Theologie standhalten.237 Entscheidend ist hier aber nicht die Frage nach der Sachgemäßheit dieser Konzeption als solcher, sondern wie Kaftan die Reichgottesverkündigung Jesu als Umbildung der altestamentlich-jüdischen Gottesreichidee rekonstruiert. Dabei setzt er in seinen Studien zum Reich-Gottes-Gedanken Jesu stets bei der die neutestamentliche Forschung dauerhaft beschäftigenden Frage an, ob Jesus ————— 234 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 476. 235 Kaftan, Dogmatik, 476f. 236 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 80; vgl. a.a.O., 43, 209 u.ö. 237 Vgl. z.B. Werner H. SCHMIDT, Königtum Gottes in Ugarit und Israel, Berlin 1960, dessen klassisch gewordene Unterscheidung zwischen statischem und dynamischem Königtum Gottes doch in jedem Falle besagt, dass in bestimmten Textkorpora des Alten Testaments die Herrschaft Gottes mit der Herrschaft des irdischen Königs identifiziert wurde. Vgl. dazu weiter Jörg JEREMIAS, Das Königtum Gottes in den Psalmen. Israels Begegnung mit dem kanaanäischen Mythos in den Jahwe-König-Psalmen, Göttingen 1987, 149–182; Hermann SPIECKERMANN, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1989, 208–225. Auch für nachexilische Texte ist diese theokratische Identifizierung nachzuweisen, insofern die Kultgemeinde in Jerusalem als Manifestation des Reiches Gottes verstanden werden kann; vgl. dazu Gerd THEISSEN/ Annette MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 227. Theißen/Merz bestätigen auch die exilisch-nachexilische „Transformation dieser Erwartung durch apokalyptische Vorstellungen hin zu einem wachsenden Dualismus zwischen dieser und einer zukünftigen Welt.“ (Dies., Jesus, 227f; im Original z.T. hervorgehoben.) Zur Relativierung der Bedeutung der Königreich-Gottes-Vorstellung für das Alte Testament hingegen vgl. Werner H. SCHMIDT, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn, 81996, 204–212. Von daher ist auch die zentrale Stellung des Reich-Gottes-Begriffs in Jesu Verkündigung schon als eine Umbildung alttestamentlich-jüdischer Frömmigkeit zu verstehen, in welcher jener Begriff keine solch große Bedeutung zukommt wie im Neuen Testament.

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das Reich Gottes, von dem dieser in Rückgriff auf die alttestamentliche Tradition spricht, dieser Tradition entsprechend als zukünftig versteht, oder ob er es als bereits gegenwärtig predigt.238 Diese Frage, von welcher aus die Differenzen zur alttestamentlichen Heilsvorstellung erhellen werden, entspringt der Beobachtung, dass Jesus auf der einen Seite das Reich Gottes als das eschatologische Heilsereignis der nahen Zukunft ansagt. Davon zeugen die Bitte um das Kommen des Gottesreichs im Vaterunser (Lk 11,2/Mt 6,10), die ältesten Seligpreisungen (Lk 6,20f/Mt 5,3f.6), die Ansage der Völkerwallfahrt (Lk 13,28f/Mt 8,11), das Abendmahlswort vom endzeitlichen Trinken des Weins (Mk 14,25) sowie die Worte vom Eingehen in das Gottesreich (zum Beispiel Mt 7,21; Mk 9,43ff;10,15.23) und von dessen Terminierung (Mk 9,1;13,30; Mt 10,23). Daneben ist aber zu lesen, dass Jesus von der Gegenwart des Gottesreichs spricht. Hierfür sind neben Mk 1,15f („Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen“) und Lk 17,21 („Das Reich Gottes ist mitten unter euch“) weiter die Seligpreisung der Augenzeugen (Mt 13,16f/Lk 10,23f), der so genannte Stürmerspruch (Mt 11,12f/Lk 16,16), die Fastenfrage in Mk 2,18ff, die Worte über Jesu Sieg über die Dämonen (Lk 10,18; Mt 12,28/Lk 11,20; Mt 12,22ff/Lk 11,14ff) und die Wachstumsgleichnisse (Mk 4) zu nennen. Sowohl an die präsentischen Aussagen als auch an die futurischen Aussagen konnten sich theologisch wirkmächtige Auslegungen der Verkündigung und damit auch des Wirkens Jesu anschließen. So baut Ritschls Entwurf einer präsentischen Eschatologie als Komplement seiner ethischen Deutung der christlichen Religion auf der These auf, dass Jesus das Gottesreich in die Welt eingeführt hat.239 Demgegenüber fußt Weiß’ bahnbrechende Relecture der Verkündigung Jesu als eschatologisch-apokalyptischer auf einer Auslegung der futurischen Worte: Das Reich Gottes wird als neue Welt nach kosmischen Katastrophen in naher Zukunft hereinbrechen.240 Kaftan bezieht beiden Positionen gegenüber einen Standpunkt der Vermittlung. Ihm zufolge bedeutet der Begriff „Reich Gottes“ bei Jesus die „verwirklichte Heilszukunft Israels“.241 Klingt diese Wendung zunächst nach einer lediglich vermittelnden Phrase, so wird bei näherem Hinsehen deutlich, dass mit ihr eine Strukturierung der Reich-Gottes-Botschaft Jesu vorgenommen ist, die gleichwohl ein Paradox bestehen lässt: So ist es die futurische Dimension der Reichspredigt, welche an die erste Stelle tritt, geht es doch um die „Heilszukunft“ –, das heißt, es ist „primo loco das ————— 238 THEISSEN/MERZ sprechen diesbezüglich vom „‚Dauerproblem‘ der exegetischen Beschäftigung“ mit Jesu Basileia-Predigt (dies., Jesus, 222). 239 Vgl. v.a. RITSCHL, Unterricht, §5. 240 Vgl. WEISS, Predigt Jesu, 241f u.ö. 241 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 40 (Hervorhebung von C.C.).

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zukünftige Reich, dessen Nähe [Jesus] verkündigt.“242 Dieses Reich ist Jesu Worten zufolge zugleich gegenwärtig. Es ist mithin auch als gegenwärtiges Reich das Reich der Zukunft. Mit der Bezeichnung des Reichs Gottes als „Reich der Zukunft“243 wendet Kaftan sich nicht zuletzt gegen die erwähnte Ritschlsche Auslegung der Reichspredigt Jesu, insbesondere in der ersten Auflage des Unterrichts. Als Ritschls Ausgangspunkt bestimmt Kaftan die These, dass Jesus mit dem Jüngerkreis zugleich das Gottesreich auf Erden begründet habe. Dementsprechend verstehe Ritschl das Gottesreich primär als vollkommene sittliche Gemeinschaft, womit zugleich die Kantsche Gottesreichkonzeption aufgenommen sei.244 Nun wird von Kaftan nicht behauptet, dass Ritschl die futurische Dimension des Reichs Gottes völlig negiert habe. Es ist die Deutung des Paradoxes von Zukünftigkeit und Gegenwärtigkeit, näher die Deutung der Gegenwärtigkeit des zukünftigen Reichs Gottes, welche er bei Ritschl kritisiert: Dieser verstehe jene Gegenwärtigkeit „vor allem aus […] dem ethischen Gedankenkreis“245 der Verkündigung Jesu. Eben aus diesem Grund verkenne Ritschl aber zugleich die radikale Bedeutung des futurischen Charakters des Gottesreichs. Auch Kaftan betrachtet zwar jenen ethischen Gedankenkreis, das heißt die Aufforderung zu einem dem „Gesetz der Liebe“246 und damit dem Willen Gottes entsprechenden Handeln als einen zentralen Teil der Verkündi————— 242 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 40 (Hervorhebung im Original); vgl. a.a.O., 46: „Die Heilszukunft ist gegenwärtig geworden und hat doch nicht aufgehört, noch zukünftig zu sein.“ Die Denkrichtung, die Kaftan in der Auslegung der neutestamentlichen Erlösungsvorstellung geht, ist immer die von der Zukunft her in die Gegenwart, nicht umgekehrt, wie es einer einfachen Auffassung der Zeit als linearen Ablaufs entsprechen würde. 243 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 42. 244 Vgl. a.a.O., 41; vgl. weiter Kaftan, Wesen, 234. Zur Adäquanz der Kaftanschen Ritschldeutung vgl. AXT-PISCALAR, Das gemeinschaftliche höchste Gut, 245f (Hervorhebung im Original): „Albrecht Ritschls Theologie ist insgesamt geprägt von dem Bestreben, das Christentum als die ‚vollendete geistige und sittliche Religion‘ zu begreifen. Dabei legt er besonderes Gewicht auf den zweiten dieser Aspekte, die Behauptung der christlichen als der vollendeten sittlichen Religion.“ Vgl. aber auch a.a.O., 246 zum Festhalten Ritschls „an der spezifisch ‚geistigen‘ Dimension der christlichen Religion“ über die „Erlösung als Konstitutionsgrund der Sittlichkeit eines Christenmenschen“ (vgl. weiter a.a.O., 253f). Vgl. des Weiteren dies., Einleitung zu Ritschls „Unterricht in der Christlichen Religion“, in: Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, Studienausgabe nach der ersten Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der zweiten und dritten Auflage, hg. v. C. Axt-Piscalar, Tübingen 2002, IX–XL, bes. XXIV–XXVII und XXXVI–XXXVII. Selbst wenn der Ethizismus-Vorwurf auf Ritschl nicht zutrifft, wurde Ritschls Theologie doch in weiten Kreisen als ethisierende Deutung der christlichen Religion verstanden (vgl. hierfür bes. dezidiert Christoph Ernst LUTHARDT, Kompendium der Dogmatik, Leipzig 51878, 62f), so dass Kaftans Einwände dann als gegen diese Missdeutung gerichtet zu verstehen sind. 245 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 40. 246 RITSCHL, Unterricht, 15.

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gung Jesu.247 Wenn die Gegenwart des Gottesreichs aber in diesem „gerechte[n] Handeln“248 der Gemeindeglieder gesehen wird, ist Kaftan gemäß ein wesentliches Moment der Verkündigung Jesu ausgeblendet: Das Gottesreich als das Reich der Zukunft verstehen heißt verstehen, dass es „vom Himmel“249 her kommt. Mit dieser an die matthäische Himmelreichsformel250 gemahnenden Wendung ist die Zukünftigkeit des Gottesreichs in dreifacher Weise näher bestimmt: Das Reich Gottes ist erstens seinem Wesen nach überweltlich,251 zweitens entsteht es allein durch den Willen und das Wirken Gottes, und drittens wird das Reich Gottes zur Gegenwart durch den Messias, der Kaftan zufolge mit dem der apokalyptischen Überlieferung gemäß vom Himmel kommenden Menschensohn gleichzusetzen ist. Diese drei Momente der Reichgottesvorstellung Jesu stehen einer ethischen Ausdeutung der präsentischen Dimension des Gottesreichs zunächst entgegen: Erstens verwirklicht sich das Gottesreich nicht in weltlichen Bezügen, sondern es entnimmt der Welt. Es ist insofern das Ende nicht nur der Welt der Natur, sondern auch der Welt der Sittlichkeit und des Geistes. Zweitens führt nicht das zumindest als Mitwirkung zu bezeichnende geschichtlich-sittliche Handeln des Menschen das Gottesreich herbei, sondern allein Gottes Handeln. Dieses wird als vollendendes Handeln schließlich aller Geschichte und mithin aller Sittlichkeit ein Ende setzen. Und drittens treten nicht die ethischen Bestimmungen Jesu als Verkünder des Liebesgebots und Jesu persönliche Berufsarbeit ins Zentrum der Verständigung über Jesu Selbstverständnis, sondern sein Messiasbewusstsein, wie gleich genauer zu zeigen ist. Alle drei Momente lassen sich darin zusammenfassen, dass die jesuanische Rede vom Gegenwärtigsein des zukünftigen Gottesreichs bedeutet, dass das Ende der Welt der Natur und der Geschichte bereits angebrochen ist. Dabei ist auszugehen von der Bedeutung der Zukünftigkeit des Gottesreichs: Das Reich Gottes ist das zukünftige Reich und nichts als dies, es hat mit den Gütern und Formen des Lebens in dieser Welt rein gar nichts zu tun.252

————— 247 Vgl. unten Kapitel 3.3.1. 248 RITSCHL, Unterricht, 14. 249 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 40. 250 Vgl. Mt 3,2; 4,17; 5,3.10.19.20; 7,21; 8,11; 10,7; 11,11.12; 13,24.31.33.44.45.47; 18,1.3.4.23; 19,14.23; 20,1; 22,2; 23,13; 25,1. 251 Auch RITSCHL bezeichnet das Gottesreich als „überweltlich“, bezieht diesen Begriff aber auf die Übernatürlichkeit des Gottesreichs. „Übernatürlich“ wiederum meint bei Ritschl, dass das Gottesreich „die sittlichen Gemeinschaftsformen“ überbietet, „welche durch die natürliche Ausstattung der Menschen […] bedingt“ sind. Es überbietet diese aber als „Aufgabe der in der christlichen Gemeinde versammelten Menschheit“ und ist demnach auch als übernatürliches und überweltliches eine sittliche Größe. Vgl. Ritschl, Unterricht, 17f (die Zitate: 17). 252 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 46.

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Kaftan legt demnach die Zukünftigkeit des Gottesreichs nicht als das noch ausstehende Ziel einer fortschreitend verlaufenden geschichtlich-sittlichen Entwicklung aus. Die Zukunft des Gottesreichs liegt überhaupt nicht in dieser Welt beziehungsweise ihrer Geschichte. Wenn nun das zukünftige Gottesreich als radikal nicht-weltlich und damit als Ende der Welt verstanden wird, so gilt das auch von dem Jesu Verkündigung gemäß gegenwärtigen Gottesreich, wenn dies denn in der Tat identisch mit dem zukünftigen ist. Es ist das Ende der Welt, wie menschlicher Verstand sie erkennt und bewältigt. Die Gegenwart des Reiches Gottes, wie Jesus es verkündet, wird nicht primär als gelingender sittlicher Vollzug erlebt, sondern als Beendigung aller menschlichen Handlungsnotwendigkeiten und -optionen. Insofern will die Bezeichnung des Gottesreichs als „Reich der Zukunft“ nicht ausschließen, dass es als gegenwärtig verstanden wird. Sie will vielmehr einer bestimmten Deutung seiner Gegenwärtigkeit wehren, nämlich einer solchen, welche das Gottesreich in mehr oder weniger ausgeprägter Weise verweltlicht. Deshalb betont Kaftan: Gegenwärtig, das heißt in irdischen Bezügen präsent, ist das Gottesreich nur, indem es diese Bezüge zugleich beendet. Es erinnert an eschatologische Texte der Dialektischen Theologie,253 wenn Kaftan sich expressionistischer Sprache bedient, um die durch Jesus verkündete und mit ihm anbrechende Gegenwart des Gottesreichs zu beschreiben: Wie eine Katastrophe kommt diese Predigt Jesu vom Gottesreich über alle, die Ohren haben, zu hören. Eben als eine Weltkatastrophe schwebte das Kommen des Gottesreichs denen vor, die in den Zukunftserwartungen des Spätjudentums lebten.254

Diese Weltkatastrophe anzusagen, macht die „Wucht und Größe“255 der jesuanischen Verkündigung aus, welche mithin durch eine voreilige Betonung seiner weltzugewandten, ethischen Dimension domestiziert wird. Als Weltkatastrophe und Ende alles Welthaften bedeutet das Reich Gottes damit zugleich das Gericht über alles der Welt Verhaftete als der Sünde schlechthin.256 Hiermit sind jene Worte Jesu anvisiert, welche wie in der alttestamentlich-jüdischen Tradition der Zusage des endzeitlichen Heils die Ankündigung des Unheils für jene hinzufügen, welche sich dem Aufruf zur Umkehr widersetzen (zum Beispiel Mt 18,23ff; Mt 22,1ff; Lk 17,34/Mt 24,40f). Die adäquate Antwort des von Jesu Verkündigung Angesprochenen liegt deshalb auch nicht im Versuch des eigentätigen Aufrichtens eines —————

253 Vgl. exemplarisch Karl BARTH, Der Römerbrief, Bern 1919, München 21922 (Neudruck: Zürich 1971). 254 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 45. Vgl. a.a.O., 59. 255 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 60. 256 Vgl. zum Sündenbegriff unten Kapitel 3.3.2.

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Gottesreichs in der Welt, sondern darin, sich von dieser Welt abzukehren. Das heißt, die Gegenwart des Reichs Gottes impliziert zunächst nicht eine sittliche Forderung, sondern die entschieden nicht-sittliche Forderung nach „Selbstverleugnung, Weltverleugnung“,257 die Aufforderung mit Christus „der Welt zu sterben, um Gott zu leben“.258 Nicht-sittlich gemeint ist diese Forderung, insofern „auch die sittlichen Güter“259 als zur Welt gehörend verstanden werden, von der das Reich Gottes erlöst. Dies exemplifiziert Kaftan in Auslegung der Forderungen Jesu, die Liebe zu Eltern und Kindern der Liebe zu Jesus – und damit der Gottesliebe – nachzuordnen (Mt 10,37 par) und das gute Werk der Totenbestattung zugunsten der Nachfolge zu unterlassen (Mt 8,22 par). Damit bedient Kaftan sich in seiner Auslegung der Gegenwart des Gottesreichs eines Stranges der paulinischen Deutung von Tod und Auferstehung Jesu: des Mitsterbens- und Mitauferstehens des Christen.260 Hierauf ist zurückzukommen, wenn es um die Aneignung der Gegenwart des zukünftigen Gottesreichs bei den an Christus Glaubenden geht. Zuvor ist darzutun, inwiefern Jesu Predigt trotz der katastrophal-destruktiven Wucht, mit der sie das Leben in der Welt trifft, dennoch dem Wortsinn nach als Evangelium zu bezeichnen ist: Sie ist „frohe Botschaft“, oder in anderen Worten: „Heilspredigt“,261 da sie den „Zugang zu neuem Leben“262 eröffnet. Dieses „neue Leben“ ist in der christlichen Religion als einer geistigen Religion „Leben in Gott“.263 Auch terminologisch also schlägt Kaftan in der Auslegung der Verkündigung Jesu eine Brücke zurück zu seiner religionstheoretischen Grundlegung, zur Bestimmung des Wesens der Religion: Das Reich Gottes ist der christlichen Religion gemäß das höchste Gut, insofern es das Verlangen des Menschen nach Leben in unübertrefflicher Weise zugleich beenden und erfüllen kann. Es ist daher gleichbedeutend mit ewigem Leben: Wer in das Reich Gottes eingeht, der wird der Begrenztheit des menschlichen Lebens in der Welt enthoben, das heißt gewinnt durch Teilhabe am göttlichen Leben selber ewiges Leben. Unverkennbar nimmt Kaftan hier Bezug auf die johanneische Theologie des in Jesus erschienenen Lebens, welches das Leben in Fülle ist. Kaftan deutet damit die von den Synoptikern überlieferte endzeitliche Reichgottesverkündigung Jesu vom zentralen Gedanken des Johannesevangeliums her,264 um darzulegen, was ————— 257 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 45. 258 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 45; vgl. a.a.O., 59. Vgl. weiter ders., Wesen, 239. 259 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 45. 260 Vgl. neben 1 Kor 15 auch 2 Kor 4,10 und Phil 1,21. 261 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 40. 262 Kaftan, Erlösung, 121. 263 Kaftan, Erlösung, 121. 264 Zur Zentralstellung des Lebensbegriffs im Johannesevangelium vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 182, 193.

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„Ruhelos ist unser Herz ...“ – Das eschatologische Wesen der Religion

die Gegenwart des Gottesreichs in Jesu Person für den Glaubenden bedeutet: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen“ (Joh 10,10). Dieses Leben „ist das höchste Gut, die letzte endgültige Stillung allen Verlangens, die in Gott ist und nur in ihm gefunden werden kann.“265 Wie die futurische Dimension so wird nach Meinung Kaftans auch der Charakter des Gottesreichs als höchstes Gut im Sinne eines Strebeziels menschlichen Lebensverlangens zu wenig gewürdigt.266 Er erwägt, ob dieser Mangel, den er implizit auch dem Ritschlschen Reichgottesverständnis anlastet, auf die Befürchtung zurückgeht, dass die Reichgotteskonzeption eudämonistische Züge trage, wenn sie vom Begriff des höchsten Guts her entfaltet wird.267 Diese Befürchtung klingt auch in der oben angeführten Kritik durch Weiß an. Dass Kaftan die Konzeption des Gottesreichs als höchsten Guts nicht im Sinne eines vulgären Eudämonismus meint, ist durch zweierlei zu belegen. Zum einen wird sich im nächsten Kapitel zeigen, dass das Gottesreich gerade als Gut verstanden den Menschen vor eine sittliche Forderung stellt.268 Zum anderen konnte eben gesehen werden, dass Kaftan zufolge das Eintreten des Gottesreichs nicht als ungebrochen sinnlicher Genuss zu verstehen ist, sondern dass es eine Katastrophe bedeutet, welches mit der Welt auch manchem menschlichen Verlangen und dessen Befriedigung ein Ende setzt. Es ist deshalb gerade als höchstes Gut verstanden eschatologischer Art. Entscheidend ist, dass das von Jesus in der Welt aufgerichtete Gottesreich „nicht das Reich der sittlichen Gerechtigkeit [ist, …] sondern das Reich der göttlichen Herrlichkeit und Seligkeit.“269 Wie seine zukünftige Vollendung so ist auch der gegenwärtige Genuss des Gottesreichs allein dem Wirken Gottes, nicht dem Wollen und Tun des Menschen zu verdanken: Ob aber künftig oder gegenwärtig – Gabe ist es, in deren Besitz man selig ist, in keiner Weise und unter keinem Gesichtspunkt Frucht und Erfolg des eignen Tuns und Wirkens.270

————— 265 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 193. 266 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 45. 267 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 47f. Zudem könnte Kaftan zufolge die auf Schleiermachers Dogmatikaufbau zurückgehende Voranstellung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls gegenüber der Vorstellung der Seligkeit die Bedeutung des Reichs Gottes als eines Guts in den Hintergrund geschoben haben. Vgl. zu Kaftans Kritik an der einseitigen Betonung des Abhängigkeitsgefühls in der Religionstheorie auch ders., Wesen, 139–145 und unten 2.3.5. 268 Zum Eudämonismus in der Ethik vgl. Kaftan, Ethik, 421, wo Kaftan trotz der Ablehnung eines planen Eudämonismus die Bedeutung des Güterstrebens für das sittliche Bewusstsein hervorhebt. Vgl. weiter ders., Das Gewissen, 47f; ders., Philosophie, 247f; ders., Wahrheit, 324f. 269 Kaftan, Dogmatik, 459. 270 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 44 (Hervorhebung im Original).

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Die christliche Religion: Das Reich Gottes als höchstes Gut

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Dass dieses eschatologische Gut gegenwärtig geworden ist und insofern auch gegenwärtig genossen werden kann, widerspricht der Weiß’schen Auslegung, nach welcher Jesus das Gottesreich als rein zukünftige und in keiner Weise gegenwärtige Größe verkündet. Weiß deutet dabei die Worte Jesu von der Gegenwart des Reichs als Ausdruck bloß augenblicklicher „prophetischer Begeisterung“.271 Diese Begeisterung Jesu gründe dabei in seiner Überzeugung, durch das eigene Wirken sei die satanische Macht des Bösen bereits überwunden. Jesus behaupte aber nicht, damit sei das Reich Gottes bereits Gegenwart. Vielmehr weise sein eigenes Wirken lediglich darauf hin, dass das Reich Gottes in naher Zukunft Wirklichkeit werde. Die somit vorliegende Marginalisierung der präsentischen Reich-Gottes-Worte als bloßer Ausdruck momentanen Überschwanges und der Naherwartung Jesu kann Kaftan durch seine Interpretation vermeiden. Es ist neben der Vorstellung der Entweltlichung die Gedankenfigur des Schon jetzt und noch nicht, welche die Struktur der Kaftanschen Auslegung der Reichspredigt Jesu bestimmt und es ihm ermöglicht, das Reich Gottes zugleich als gegenwärtig zu genießendes Gut und als futurisch-eschatologische Größe zu fassen: Das zukünftige Gottesreich als das Leben in Fülle ist bereits gegenwärtig und bleibt doch Gegenstand der Zukunftshoffnung. Solche paradoxale Ausdrucksweise, von Weiß als „[o]berflächlich“272 etikettiert, bezeichnet Kaftan zufolge die Grundstruktur nicht bloß der Reichspredigt Jesu, sondern des christlichen Erlösungsbewusstseins überhaupt.273 Um diese Struktur nachzuvollziehen ist zu fragen, inwiefern das zukünftige Heil, wenn es doch als überweltliches und damit der Welt ein Ende setzendes Gottesreich verstanden wird, in der Welt gegenwärtig sein kann. Die Frage verweist auf die Präsenz des ewigen Lebens in Jesu Person und auf die Anteilgabe an diesem Leben durch Jesu Wirken und Reden. Es ist damit jener Gedanke anvisiert, welcher das Zentrum der johanneischen Lebenstheologie ausmacht, aber – so Kaftans Auslegungsergebnis – in anderer Gestalt auch das Zeugnis der Synoptiker vom geschichtlichen Jesus ausmacht, nämlich das Bewusstsein Jesu, in engster Einheit mit Gott selber zu wirken: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30).274

————— 271 WEISS, Predigt Jesu, 21. 272 WEISS, Predigt Jesu, 18. 273 Von hier aus ist in gewisser Weise selbst Jesu Naherwartung als Grundmoment des christlichen Glaubensbewusstseins zu beschreiben, was an anderer Stelle auszuführen ist. 274 Vgl. für die Synoptiker nur die christologische Schlüsselstelle Mt 11,27: „Alles ist mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.“

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2.3.3 Die Wirklichkeit des Gottesreichs Vom messianischen Selbstbewußtsein Jesu müssen wir ausgehen, wenn wir das von ihm verkündigte Evangelium als eine Einheit verstehen wollen.275

Diese These Kaftans hängt sachlich mit der Feststellung, dass das Reich Gottes der zentrale Gehalt des einheitlich verstandenen Evangeliums Jesu ist, zusammen: Die volle Bedeutung der jesuanischen Reichgottesvorstellung ist nur zu erfassen, wenn die Person ihres Trägers in den Blick genommen wird. Und nicht nur das: Kaftans Begründung seiner Evangeliumsauslegung im „messianischen Selbstbewußtsein Jesu“ impliziert zwei weitere folgenschwere Entscheidungen: Erstens meinte Jesus von sich, der Messias – und damit der Bringer des verkündigten Gottesreichs – zu sein. Damit sieht Kaftan im Unterschied zu Weiß den Anbruch des eschatologischen Gottesreichs weniger in Jesu Sieg über die satanischen Mächte begründet als vielmehr in dessen Messiasbewusstsein, welches der Grund seines vollmächtigen Handelns auch gegenüber den Dämonen ist.276 Zweitens sind für die Beschreibung der Person Jesu als des Messias nicht die äußeren Umstände, die diese Person betreffen, entscheidend, sondern ihr Selbstverständnis, in Kaftans Worten: ihr „Innerliche[s]“.277 Der erstgenannte Punkt, das Bewusstsein Jesu, der vom Judentum seiner Zeit erwartete Messias zu sein, wurde bekanntlich in der Auslegung des Neuen Testaments um die Wende zum 20. Jahrhundert zu kontrovers diskutierten Frage. Nachdem im 19. Jahrhundert bereits einzelne Forscher wie Volkmar und Scholten sowie der – bekanntlich antisemitisch gesinnte – de Lagarde meinten, der historische Jesus habe keinen messianischen Anspruch erhoben,278 löst Wredes 1901 erschienene Schrift zum so genannten Messiasgeheimnis eine breite Auseinandersetzung mit dem Problem aus.279 ————— 275 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 25. Vgl. zum Messiasbewusstsein Jesu und der hierin begründeten neutestamentlichen Christologie weiter v.a. ders., Dogmatik, §42 und außerdem ders., Jesus und Paulus. Eine freundschaftliche Streitschrift gegen die religionsgeschichtlichen Volksbücher von D. Bousset und D. Wrede, Tübingen 1906, 10ff; ders., Jesus selbst, 296f; ders., Ursprung, 339, 341; ders., Vergebung, 365; ders., Johannes, 389. 276 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 26–28. 277 Kaftan, Dogmatik, 478. 278 Vgl. hierzu Martin HENGEL/Anna Maria SCHWEMMER, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie. Vier Studien, Tübingen 2001, 17. 279 Vgl. William WREDE, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums (1901), Göttingen 31963. Es ist allerdings darauf zu verweisen, dass Wrede selber gegenüber einem eindeutigen Ergebnis in der hier betreffenden Frage nach dem messianischen Anspruch Jesu zurückhaltend blieb. Dies bekundet er sowohl in der Schrift über das Messiasgeheimnis (vgl. a.a.O., V, 207, 222 u.ö.) als auch in späteren Texten. HENGEL zitiert in seiner Untersuchung der Anfänge der Christologie einen Brief Wredes an Harnack vom 2. Januar 2005, in welchem er bekundet: „Ich bin geneigter als früher zu glauben, daß Jesus selbst sich zum Messias ausersehen betrachtet hat“ (in: Hengel/Schwemmer, Anspruch

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Diese Auseinandersetzung schlägt sich in Kaftans Verhandlung der Person Jesu und ihrer Botschaft insofern nieder, als sich ab der Wende zum 20. Jahrhundert die Stellungnahmen Kaftans zur Frage nach dem Selbstverständnis Jesu häufen. Verschärft wird die Herausforderung, sich zu diesem Themenkreis zu äußern, nicht zuletzt durch Harnacks Auffassung der Person Jesu, welche durch die in den 1899/1900 gehaltenen Vorlesungen zum Wesen des Christentums unter der Formel „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein“,280 weiten Kreisen der Öffentlichkeit – allerdings oftmals in verzeichneter Form – bekannt wurde. Vor diesem Hintergrund ist die Reihe von Aufsätzen zur neutestamentlichen Theologie zu verstehen, die Kaftan im Jahre 1902 in der Christlichen Welt veröffentlichte. Der Grundtenor dieser Aufsätze fasst sich in der Aussage zusammen, dass der bleibende Bestand der christlichen Gemeinde in der Geschichte an das Evangelium geknüpft ist, welches Jesum selbst, seine Person, seine Erscheinung in der Zeit zum Inhalt hat.281

Wie Kaftan selber deutlich macht, würde Harnack dieser These nicht widersprechen; im Gegenteil: Auch für diesen steht fest, dass die Person Jesu einen wesentlichen Platz im gegenwärtigen christlichen Glaubensbewusstsein einnimmt, dass er mithin der dogmatischen Reflexion mehr als bloß der historische Ausgangspunkt der christlichen Religion ist.282 Kaftan verortet die Bedeutung der Person Jesu als Gegenstand des Glaubens aber deutlicher als Harnack283 schon in der Verkündigung des historischen Jesus selbst, ————— Jesu, IX; vgl. die v. H. ROLLMANN/W. ZAGER herausgegebenen Unveröffentlichte[n] Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu, Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 8, 2001, 274–322). – Auch der kritische Julius WELLHAUSEN äußert sich vorsichtig; vgl. ders., Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 31897. Wellhausen gesteht zu, dass Jesus am Ende seines Lebens in Jerusalem den Messiastitel verwandt habe, allerdings in radikaler Umdeutung seiner jüdischen Bedeutung; vgl. dazu a.a.O., 380f sowie die sechste Auflage: Berlin 1907, 379. – Vgl. zu Holtzmanns, Boussets, Weiß’, Wernles und von Sodens Ablehnung der These Wredes von 1901 HENGEL/SCHWEMMER, Anspruch Jesu, 20–25. 280 Adolf von HARNACK, Das Wesen des Christentums, hg. v. T. Rendtorff, Gütersloh 1999, 154 (im Original hervorgehoben). 281 Kaftan, Die Vergebung der Sünden, ChW 16, 1902, 363–366 (Zitat: 366). Vgl. weiter folgende Aufsätze: Ders., Gehört Jesus selbst in das von ihm verkündigte Evangelium hinein? (ChW 13, 1902, 295–298); ders., Das Evangelium vom Gottesreich (ChW 14, 1902, 314–317); ders., Der Ursprung des Evangeliums (ChW 15, 1902, 339–342); ders., Das Evangelium des Johannes (ChW 17, 1902, 387–389); ders., Wer Jesus war (ChW 18, 1902, 411–415). 282 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 39; ders., Jesus selbst, 295. Vgl. zur Bedeutung der Christologie in Harnacks Denken Christine AXT-PISCALAR, Der Sohn des Vaters. Adolf von Harnacks Christologie, ThZ 2, 2007, 63, 120–147. 283 Harnack sieht das Zentrum der Verkündigung Jesu in dessen Botschaft vom Vater, zu dem die einzelne Menschenseele gerade durch das Wirken Jesu in unmittelbaren Kontakt gebracht wird. Deshalb betont er die „Selbstunterscheidung“ (AXT-PISCALAR, Harnacks Christologie, 140) Jesu vom Vater, welche aber nur vor dem Hintergrund verständlich wird, dass auch Harnack

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verficht mithin die Behauptung, dass Jesus selber, nicht „allein der Vater“, Inhalt des von ihm verkündigten Evangeliums ist. Wie sich zeigen wird, hängt diese These aufs Engste mit der in den Evangelien bekundeten Gewissheit von der Gegenwart des zukünftigen Gottesreichs zusammen. Um dies darzutun, ist mit der Behauptung einzusetzen, Jesus verstehe sich selbst als Messias, das heißt als den Heilsbringer der jüdischen Hoffnung, mit dessen Auftreten das Gottesreich anbricht.284 Für Kaftans Beschreibung des Selbstverständnisses Jesu ist es charakteristisch, dass er anders als jene liberal positionierten Forscher, welche gegen Wrede gleichfalls an Jesu messianischem Anspruch festhalten,285 die alttestamentlichjüdische Herkunft der Rede Jesu noch stärker betont. Er stützt seinen Nachweis eines Messiasbewusstseins Jesu weniger auf die synoptische Bezeugung des Messiastitels, welcher in den Evangelien fast nie im Munde Jesu begegnet, vielmehr von außen an ihn herangetragen wurde.286 Vielmehr konzentriert er sich auf den Begriff des Menschensohns, welchen Jesus selber verwendet, welcher allerdings die Distanz der eschatologischen Botschaft Jesu zum modernen Wirklichkeitsverständnis noch stärker markiert als der Messiastitel – ist dieser doch vermittels des urchristlichen Bekenntnisses zum Namen Jesu und damit zum geläufigen Ausdruck christlicher ————— zufolge der historische Jesus in „eigentümliche[r] Einheit mit dem Vater“ (a.a.O., 138; Hervorhebung im Original) stand und hierin die einzigartige Bedeutung seines Wirkens für den Glauben begründet liegt. Kaftan betont demgegenüber weniger die Selbstunterscheidungsmomente als vielmehr Jesu Bewusstsein seiner Einheit mit Gott. 284 Kaftan führt diese Feststellung, weiter dahingehend aus, dass Jesus sich „von Anfang an“ (ders., Neutestamentliche Theologie, 28) als Messias gewusst hat und seine Verkündigung in allen ihren Phasen dieses Bewusstsein zum Ausdruck bringt. Weder ist Jesu messianische Predigt auf die Enttäuschung seiner Reformversuche der jüdischen Gesetzesfrömmigkeit zurückzuführen und damit auf die zweite Hälfte seines Wirkens zu begrenzen, wie Holtzmann es im Anschluss an Baurs These von der Bedeutung des Nomismus für die Verkündigung Jesu darlegt (vgl. Ferdinand C. BAUR, Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie, hg. v. F.F. Baur, Leipzig 1864 [Neudruck Darmstadt 1973]; Heinrich Julius HOLTZMANN, Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie 1, hg. v. D.A. Jülicher/W. Bauer, Tübingen 21911, 182–210; vgl. zur Auseinandersetzung um die Bedeutung des Nomismus auch Kaftans Darstellung der Paulinischen Theologie; dazu unten 2.3.4), noch ist weiter Wredes Deutungstheorie recht zu geben, nach welcher Jesus seine Messianität während seines öffentlichen Auftretens verborgen habe (vgl. WREDE, Messiasgeheimnis). 285 HENGEL hebt am Beispiel von Sodens hervor, dass bei „der Behandlung der Messianität Jesu um die Jahrhundertwende […] eine tiefe, z.T. unterschwellige, z.T. offene Abneigung gegen die jüdische Apokalyptik und Messiashoffnung, ja teilweise gegen die jüdische Frömmigkeit überhaupt sichtbar“ wird (Hengel/Schwemmer, Anspruch Jesu, 25). Ähnliches zeigt sich auch in der Jesusdarstellung Boussets, welchem zufolge Jesus die Messiasidee, obwohl er sie auf sich anwandte, als eine Last empfunden hat. Vgl. Wilhelm BOUSSET, Jesus, Religionsgeschichtliche Volksbücher 1,2/3, Halle a.S. 1904, und dazu Kaftans Kritik: ders., Jesus und Paulus, 11–14. 286 Vgl. für den Messiastitel in Jesusworten lediglich die Ausnahmen Mk 9,41; Mt 16,20; 23,10; Lk 4,41; 24,26. Zum Messiastitel als Bezeichnung Jesu durch andere Menschen vgl. beispielsweise Mk 8,29; 14,61; 15,26.32.

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Frömmigkeit geworden, während der Menschensohntitel schon in der urchristlichen Frömmigkeit zurücktritt. Die Menschensohnterminologie war und ist exegetisch nicht weniger umstritten als die Verwendung des Messias- beziehungsweise Christustitels, aber ihre Interpretation durch Kaftan ist in sich stringent und textnah.287 Sie beruht weniger auf einer philologischen Analyse von Einzelstellen als auf einer Lektüre der Menschensohnworte Jesu in ihrem Zusammenhang der Verkündigung Jesu vom Reich Gottes.288 Kaftan verweist auf die gängige Einteilung der Menschensohnworte in drei Gruppen: die Worte vom gegenwärtig wirkenden Menschensohn (so Mk 2,10.28; Mt 8,20; 11,18; 12,32), die Worte vom zukünftigen Menschensohn, welcher als endzeitlicher Richter und Retter auftritt (so Mk 8,28; 13,26; 14,62; Mt 10,32; Lk 11,30; 12,8; 17,22–32) und die Worte vom leidenden Menschensohn (so Mk 8,31; 9,21.31; 14,41; Lk 17,25; 24,7). Während vor allem aus einigen problematischen Worten zum zukünftigen Menschensohn zuweilen geschlossen wird, dass Jesus auf eine von ihm unterschiedene endzeitliche Gestalt verwiesen hat,289 betont Kaftan die Identität des Sprechers Jesus und des Menschensohnes aller drei Wortgruppen.290 Mit dem Bild des Menschensohns greift Jesus Kaftan zufolge auf die im apokalyptischen Sinne verstandene Verwendungsweise in der jüdischen Frömmigkeit zurück, wie sie vor allem in der Ausdeutung des Wortes in Dan 7,13 durch die Bilderreden des Henochbuches zum Ausdruck kommt. Dort wird die Erwartung ausgedrückt, dass eine als Menschensohn bezeichnete Heilsgestalt erscheinen wird, die das Gottesreich und damit das endzeitliche Heil herbeiführt.291 Damit vertritt Kaftan die Auffassung, dass der Menschensohn in Jesu Rede ————— 287 Vgl. zum Folgenden Kaftan, Neutestamentliche Theologie, §5, Abschnitte 4 und 5 sowie ders., Jesus und Paulus, 16–20. 288 Es wird erneut ein Desiderat des Schriftgebrauchs, wie Kaftan ihn entwirft, deutlich: Schriftstellen sind nicht zuvörderst als isolierte Einzelstellen zu untersuchen, sondern in dem Zusammenhang, in welchem sie auftreten, auszulegen. Nur so kann die Intention des biblischen Autors und damit die eigentliche Bedeutung des Schriftinhalts erhoben werden. Vgl. ders., Neutestamentliche Theologie, 65–67, 77, 97, 172, 176; ders., Gottesreich, 316. 289 Vgl. z.B. Heinz E. TÖDT, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959 (31969). Problematisch sind besonders jene Worte, in welchen Jesus sein „Ich“ dem zukünftigen Menschensohn gegenüber stellt; vgl. Mk 8,28 und Lk 12,8 (im Unterschied zu dem wahrscheinlich geglätteten Mt 10,32). 290 Zweifel, welche an Jesu Anwendung der Menschensohnworte auf sich selbst erhoben werden, weist Kaftan mit Verweis auf den Kontext der jeweiligen Worte ab, die es einer ungekünstelten Leseweise nahe legen, dass Jesus sich selbst gemeint hat; vgl. ders., Neutestamentliche Theologie, 31f. 291 Hiermit gegen die später z.B. durch Vielhauer erhobene These der Unverbundenheit der (authentischen) Reichgottesverkündigung Jesu und der (unechten) Menschensohnrede (vgl. Philipp VIELHAUER, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament, München 1965, 55–91). Dass Menschensohn- und Gottesreichtradition verbunden werden können, zeigt eben schon Dan 7,13 (vgl. THEISSEN/MERZ, Jesus, 477).

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eine messianische Gestalt ist, eine Auffassung, welche umstritten ist, aber sowohl aus dem Gesamtzusammenhang der neutestamentlichen Überlieferung heraus als auch im Blick auf Quellen jüdischer Messiaserwartungen begründet werden kann.292 Im Blick auf die Identität von Menschensohn und Jesus lautet die Folgerung, dass die Menschensohnrede Jesu von dessen messianischem Anspruch kündet – wobei der Hintergrund durch die apokalyptischen Messiasidee gebildet wird.293 Entscheidend für die theologische Auslegung der Menschensohnworte und damit für das Verständnis des messianischen Anspruchs Jesu ist nun, dass Jesus vom Leiden des kommenden Menschensohnes spricht. Dies zeigt, dass sein Bewusstsein, der Messias Israels zu sein, eine gegenüber den jüdischen Messiastraditionen bedeutsame Veränderung erfahren hat, welche für den christlichen Glauben tiefgehende Konsequenzen hatte. So wuchs Jesus die Einsicht zu, dass sein Tod als „Durchgangspunkt“294 zur Vollendung des Gottesreichs notwendig würde. In dieser Einsicht und der damit verbundenen Leidensbereitschaft, die Jesu Messiasverständnis von alttestamentlich-jüdischen Erwartungen eines auch äußerlich mächtig auftretenden Messias unterscheiden,295 gründen Jesu Worte vom leidenden Menschensohn.296 Sie markieren damit den Ursprung des christlichen Glaubens an die Überwindung des Todes durch den Messias und der christlichen Hoffnung auf die Wiederkunft des Gestorbenen und Auferstandenen.297 Für die Wesensbestimmung des christlichen Glaubens ist dabei gerade die Spannung grundlegend, welche zwischen den verschiedenen Menschensohnworten als Ausdruck des messianischen Selbstbewusstseins Jesu entsteht: Der Menschensohn wirkt mit göttlicher Vollmacht und bringt das Reich Gottes, und der Menschensohn erleidet den gewaltsamen Tod. Der Menschensohn wirkt gegenwärtig, und er wird wiederkommen. Im Unterschied zu solchen Analysen der Menschensohnworte, welche auf den ersten Blick historisch-kritischer sind, muss Kaftan diese Spannungen aber nicht überlieferungsgeschichtlich einglätten. Sie korrespondieren vielmehr der Spannung zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Gottesreich, welche ————— 292 Zum ersten: Hätte Jesus den Menschensohntitel nicht im messianischen Sinne gebraucht, so wäre seine Verwendung für die Wiedergabe seiner Verkündigung nicht zu erklären, denn im Bekenntnis der urchristlichen Gemeinde spielt er keine Rolle (vgl. THEISSEN/MERZ, Jesus, 478f). Zum zweiten: vgl. HENGEL/SCHWEMMER, Anspruch Jesu, 66. 293 Vgl. Kaftan, Jesus und Paulus, 20. 294 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 34. 295 Vgl. daneben aber Jes 53! 296 Zugleich können die Worte vom leidenden Menschensohn als Verweis auf die Menschlichkeit der Person Jesu gelesen werden, der als himmlischer Messias an der menschlichen Niedrigkeit und Vergänglichkeit teilhat, und damit als Ausdruck dessen, was den Grund für die spätere Christologie der Gottheit und Menschheit Jesu abgibt. Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 34. 297 Vgl. dazu unten 2.3.4 zur Theologie des Paulus.

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seines Erachtens gerade das Wesen der authentischen Verkündigung Jesu ausmacht. Jesus hat sich als vollmächtigen Künder des Gottesreichs verstanden, welches mit seinem Wirken gegenwärtig geworden ist. Gleichwohl hat er die Vollendung des eigenen und durch den Tod begrenzten Wirkens mit der vollkommenen Manifestation des Gottesreichs in der Zukunft erwartet.298 Der Grund dieses in sich spannungsvollen Messiasbewusstseins Jesu ist Kaftan zufolge nicht hinlänglich zu benennen, da es als solches einmalig und mithin ohne Analogie ist.299 Das Bild Jesu in den Evangelien präsentiert Jesus aber als einen Menschen, welcher das, was ihn auszeichnet, „aus dem eignen Innern“300 geschöpft hat. Mit dieser Näherbeschreibung ist die zweite Implikation des Kaftanschen Rückgangs auf das „messianische[...] Selbstbewußtsein Jesu“ erreicht: Nicht die äußeren Umstände seines Wirkens und seines Geschicks, sondern das „Innere“ der Person Jesu sind der wahre Grund für seine Messianität. Dies äußert sich in Jesu Verständnis seines eigenen Todes in vollendeter Weise: Jesus als Messias nimmt teil an der Schwäche der Kreatur, unterwirft sich der äußeren Gewalt. Seine „Kraft“301 ist eine innerlich-geistige. Das „Innere“ Jesu ist näher sein „Gottesbewußtsein, d.h. [...] sein[...] Verhältnis zu Gott.“302 Damit schließt Kaftan sich an die Christologie Schleiermachers, zumindest was ihre Begründung betrifft, an.303 Jesu Gottesverhältnis ist Kaftan zufolge nun zuvörderst dadurch bestimmt, dass er sich als „Bringer des überweltlichen Gottesreichs“304 weiß. Das von Schleiermacher so genannte „Sein Gottes in Christo“,305 welches das Gegenwärtigwerden des zukünftigen Gottesreichs mit Jesu Auftreten bedeutet, wird von Kaftan damit wieder an einer Zusammenschau der johanneischen Christologie und der synoptischen Jesuserzählung ausgewiesen. Johannes hat demzufolge in seinem Evangelium zum Ausdruck gebracht, was der Grund für Jesu vollmächtige Gottesreichverkündigung war, wie sie durch die Syn————— 298 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 34. 299 Dass auch der Vergleich mit dem Heroischen nur begrenzt aussagekräftig ist, zeigt Kaftan in Neutestamentliche Theologie, 35 u.ö. 300 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 35. 301 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 208. 302 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 35. 303 Vgl. für Kaftans Würdigung der Christologie Schleiermachers: ders., Dogmatik, 424–426. Er hebt dort positiv Schleiermachers Ansatz beim Erlösersein Christi hervor, welches in seinem „absolut kräftigen Gottesbewusstsein“ (a.a.O., 425) begründet ist. Kritisch bemerkt er vor allem, dass in Schleiermachers Christologie der Offenbarungsgedanke nicht die ihm gebührende Rolle spielt. Zu Kaftans Verhältnissetzung von Christologie und Offenbarungsbegriff vgl. unten Kapitel 4.2.6. Zu SCHLEIERMACHERs Christologie vgl. v.a. ders., Der christliche Glaube (1830/31), §§92– 105 (KGA I.,13,2: 38–164). 304 Kaftan, Dogmatik, 402. 305 SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube, Leitsatz zu §94 (KGA I.,13,2: 52) u.ö.

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optiker überliefert ist:306 Jesu Bewusstsein einer einzigartigen „Einheit mit Gott“,307 wie es in dem oben zitierten Wort Joh 10,30 („Ich und der Vater sind eins“) in unüberbietbarer Weise zum Ausdruck kommt.308 Inwiefern diese Jesus in den Mund gelegte, seinen authentischen messianischen Anspruch aber angemessen wiedergebende Selbstaussage der Grund für die christlichen Glaubensaussagen zur Gottheit Christi ist, wird unten zu zeigen sein. Es ist aber gerade im Zusammenhang der johanneischen Theologie darauf zu verweisen, dass Kaftan die Christologie strikt als Soteriologie entwirft. Das Gottesreich ist insofern durch Jesus gegenwärtig geworden, als die Gemeinschaft mit diesem zugleich Gottesgemeinschaft bedeutet. Hier ist wieder ein Blick auf den religionstheoretischen Referenzrahmen aufschlussreich: Das höchste Gut der geistigen Erlösungsreligion ist die Teilhabe am Leben Gottes. In der christlichen Religion ist Jesus deshalb der Vermittler solcher Teilhabe, da er selber in engster Gemeinschaft mit Gott lebt. Oder in den Worten von Joh 14,6, welche von Joh 10,30 her zu verstehen sind: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“. Kaftan begreift mithin die im Johannesevangelium versammelten Worte Jesu über seine Einheit mit dem Vater wenn auch nicht als wörtliche Wiedergabe der Rede Jesu, so doch als zutreffenden und konsequenten Ausdruck dessen messianischen Selbstbewusstseins, wie es durch die synoptische Menschensohn- und Gottesreichsterminologie bezeugt ist. Im Nachweis des messianischen Anspruchs Jesu liegt auch der Grund, warum Kaftan die historisch-kritische Frage danach, ob Jesus selber sich als einzigartig verstanden und Glauben an sich gefordert habe, positiv beantwortet. Vor allem daraus, dass Jesus nie seine eigene Gotteserfahrung mit der Erfahrung der Adressaten seiner Verkündigung vergleicht, wie es beispielsweise Paulus in Röm 7 tut, schließt Kaftan, dass er sich selber als einzigartig verstanden hat. Dies liegt an sich schon in der Linie der Auffassung von Jesu Selbstbewusstsein als Messiasbewusstsein. Damit zusammenhängend ist auch die Frage Harnacks zu bejahen, ob Jesus seinem eigenen Selbstverständnis nach Inhalt des christlichen Glaubens ist, ob er, sei es ————— 306 Kaftan versteht das Johannesevangelium als „aus dem evangelischen Glauben reproduzierte[s] Evangelium“ (ders., Neutestamentliche Theologie, 169; vgl. a.a.O., 181), welches den Zweck hat, die Person Jesu Christi „richtig, d.h. im Sinn des Glaubens, der zum Leben führt, verstehn zu lehren“ (a.a.O., 174). Damit verortet er im Gegensatz zu Baur und Holsten, welche den alexandrinisch-philosophischen Einfluss betonen, das Johannesevangelium ausdrücklich in der Frömmigkeit der urchristlichen Gemeinde, welche in anderer Weise auch Paulus bezeugt. Es ist deshalb in Evangelienform verfasst, weil es den rettenden „Christusglauben an Jesus […] binden“ (a.a.O., 180; vgl. 187) will. Vgl. zu Kaftans Auslegung der johanneischen Christologie auch ders., Dogmatik, 406–408; ders., Johannes, 388; ders., Wesen, 262 und zum Johannesevangelium im Allgemeinen ders., Jesus und Paulus, 63–69. 307 Kaftan, Dogmatik, 398. 308 Vgl. weiter Joh 10,14.38; 14,10f.20; 17,21–23.

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auch implizit, Glauben an sich gefordert habe, wie es das Johannesevangelium zum Ausdruck bringt. Wieder liegt hier in der Tat eine Konsequenz der Deutung Jesu aus seinem Messiasbewusstsein heraus: Jesus hat Glauben für sich in Anspruch genommen, weil er sich bewußt ist, daß Gott durch ihn redet und mit den Menschen handelt.309

Aber gerade aufgrund der Beziehung des Redens und Handelns Jesu auf Gottes Reden und Handeln fügt Kaftan im Anschluss an Mk 10,17f par sogleich hinzu, dass Jesus solchen Glauben nicht für sich abgesehen von Gott fordert. Der messianische Anspruch Jesu, welcher sich in den synoptischen Evangelien in der wirkmächtigen Gottesreichverkündigung äußert und im Johannesevangelium zum Bewusstsein der Einheit mit Gott verdichtet wird, verweist zurück auf Gottes Handeln. Für die Frage nach dem Genuss des höchsten Guts – der Teilhabe am ewigen Leben – heißt dies: Die Gemeinschaft mit Jesus bedeutet letztlich Gemeinschaft mit Gott als gegenwärtige Teilhabe am zukünftigen Reich Gottes, das heißt: den Genuss des ewigen Lebens und die Erlösung von der Welt schon jetzt.310 Die zukünftige Vollendung des Gottesreichs wird von Kaftan eben in dieser Linie vom Gottesbewusstsein Jesu aus gesehen. Mehrfach betont er, dass Jesus, der Messias, das Reich Gottes „nicht von außen nach innen, sondern […] von innen nach außen“ baut.311 Kaftan führt nicht weiter aus, wie er sich das Eintreten des Weltendes als auch äußerer Verwirklichung des Gottesreichs vorstellt. Entscheidend ist für ihn, dass es in der Weltzeit als geistig-innerliche Wirklichkeit erfahrbar ist, dass diese geistige Wirklichkeit aber der äußeren und materiellen Transformation alles Welthaften schon jetzt vorgreift. Dieser Vorgriff verdichtet sich im Geschehen von Tod und Auferstehung des Messias, insofern hier die Überwindung der Welt in ihrer äußeren Gestalt – und das heißt: in ihrer Sterblichkeit – vorweggenommen ist. Jenes Geschehen ist das „Ende der Fleischeswelt“.312 Von daher ist Kaftan zufolge die Umbildung der alttestamentlich-jüdischen Heilshoffnung durch Jesus darin zu sehen, dass dieser das Reich Gottes nicht als „transzendent-sinnliche[...]“, sondern als „geistig-sittliche[...]“ Größe predigt.313 Dies gilt nicht nur von der gegenwärtigen Reichgotteserfahrung, sondern auch von der zukünftig-endzeitlichen, indem diese von ————— 309 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 37. 310 Diese Deutung des Selbstverständnisses Jesu kann zur Klärung des Problems beitragen, inwiefern in einer geistigen Erlösungsreligion, deren Ziel die unmittelbare Gottesgemeinschaft ist, ein Mittler dieser Gottesgemeinschaft vorgestellt werden kann. Das Problem des Verhältnisses von Unmittelbarkeit und Vermittlung ist unten Kapitel 4.3 im Zusammenhang der Ekklesiologie zu bedenken. 311 Kaftan, Jesus und Paulus, 20f; vgl. ders., Neutestamentliche Theologie, 30 u.ö. 312 Kaftan, Zur Dogmatik, 331. 313 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 80 u.ö.

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jener her, eben „von innen nach außen“ aufgebaut wird. Zwar bedeutet das zukünftige Reich Gottes die auch äußerliche Transformation der Welt, aber im Sinne der Überwindung alles Welthaft-Sinnlichen. Die Bezeichnung „geistig-sittlich“ meint, dass im Gottesreich das natürliche Leben in zweifacher Weise aufgehoben ist. Es behaftet zum einen nicht mehr in seiner sündigen Verkehrung den Menschen bei seinem sinnlichen Wollen. Zum anderen aber findet das natürliche Lebensverlangen des Menschen hier in unüberbietbarer Weise seine Erfüllung, weil der Tod endgültig überwunden ist. Die sittliche Qualität dieser zukünftigen geistigen und damit wahrhaft lebenssatten Wirklichkeit wird von den Ausführungen im folgenden Kapitel her zu erhellen sein.314 Sowohl der Ansatz beim Gottesbewusstsein Jesu – bei dessen Innerlichkeit – als auch die Betonung von Tod und Auferstehung als der „Wende der Zeiten“315 ziehen bei Kaftan eine Marginalisierung der Inkarnationsvorstellung nach sich, wie noch zu sehen sein wird. Der Grund für Kaftans distanzierte Stellung zur Inkarnationschristologie ist die eben dargelegte These, dass die Gegenwart des Gottesreichs und damit die Präsenz Gottes in der Welt als eine innerlich-geistige verstanden wird. Da Kaftan meint, die Inkarnationschristologie bringe eine naturalistische Anschauung der Wirklichkeit Gottes zum Ausdruck,316 betrachtet er ihre Form als zeitbedingt und reformuliert ihren bleibenden Gehalt – das Sein Gottes in Christus und die Teilhabe des Menschen an diesem Sein – über das Messiasbewusstsein Jesu auf der einen und das urchristliche Verständnis von Tod und Auferstehung Christi auf der anderen Seite. Tod und Auferstehung Christi als Vorwegnahme der endgültigen Vollendung der Welt im Gottesreich der Zukunft deutet Kaftan dabei von der Bezeugung des Wirkens Jesu in den Schriften des Neuen Testaments her. So liest er die als apostolisch zu bezeichnenden Schriften als Beantwortung der Frage, vor die der Tod Jesu stellte, nämlich in welcher Weise sich bleibend für seine Gemeinde auf Erden der Besitz des höchsten Guts verwirklicht, der für die Jünger während seiner sichtbaren Gegenwart in dem Umgang mit ihm gegeben war.317

Es wird sich zeigen, dass Kaftan in der Antwort auf diese Frage wieder besonders an die johanneische Theologie als Auslegung der synoptischen Reichgottesverkündigung anschließt: „Wer an den Sohn glaubt, der hat das ————— 314 Vgl. dazu unten Kapitel 3.3. 315 Kaftan, Zur Dogmatik, 330 u.ö. 316 Vgl. z.B. Kaftan, Wesen, 365f. 317 Kaftan, Wesen, 259. Diese Frage stellte sich deshalb, weil Jesu Tod einen entscheidenden Einschnitt bedeutete: Die einen sind Jesus zu seinen Lebzeiten begegnet und konnten Gemeinschaft mit ihm im Modus persönlich-leiblicher Begegnung erleben, die anderen nicht.

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ewige Leben“ (Joh 3,36). Die theologische Reflexion auf die glaubende Teilhabe an Jesus gestaltet er allerdings vor allem im Anschluss an die paulinische Theologie. Paulus ist ihm der Repräsentant urchristlicher Frömmigkeit schlechthin, und seine Schriften legt er als instruktive318 Zeugnisse der Aneignung des durch Jesus gebrachten höchsten Guts aus.319 2.3.4 Die Teilhabe am Gottesreich Es ist der urchristliche Glaube an die Auferstehung Jesu, von welchem her Kaftan die Teilhabe am Gottesreich als die Erfahrung christlicher Frömmigkeit schlechthin entfaltet. Damit ist die schwerwiegende These impliziert, dass der Auferstehungsglaube die Kontinuität zwischen den neutestamentlichen Glaubenszeugnissen und Jesu eigener Verkündigung herstellt. Gerade weil Jesus die Gemeinschaft mit sich als Erlösung verstand, kann Kaftan feststellen, daß das von Jesus selbst gemeinte und verkündigte Evangelium noch nicht vollständig war, als er das Haupt am Kreuze neigte und verschied.320

Dies zeigte sich an der Entfaltung des Messiasanspruchs Jesu über die Menschensohnterminologie auf der einen und die Bewusstseinsthematik auf der anderen Seite. Jesus weiß sich aufgrund seiner Einheit mit Gott als den gegenwärtigen Messias, spricht aber, wie vor allem in den Worten über den zukünftigen Menschensohn, von seinem Wiederkommen zur endgültigen Aufrichtung des Gottesreichs.321 Was Jesu Wirken gemäß seiner eigenen Anschauung fehlt, ist daher „die endliche Offenbarung des Reichs, die Erlösung der Menschen, der Messiaserweis durch den Vater“.322 Gemeint ist hier die auch äußerlich-sichtbare Vollendung der innerlich-verborgenen Erlösung von der Welt, welche mit Jesus bereits Gegenwart geworden war. Jene äußerlich-sichtbare Vollendung wurde von Jesus in naher Zukunft erwartet. Kaftan meint zeigen zu können, dass Jesus selbst seine Auferweckung erwartete und mit ihr die endgültige Verwirklichung des Gottesreichs in der Welt. Er hält demnach auch bezüglich des Selbstverständnisses Jesu die futurischen und präsentischen Aussagen insofern zusammen, als er Jesu Selbstverständnis und das Verständnis des mit ihm verwirklichten ————— 318 Zur Frage der Schrift als normativ für das gegenwärtige Glaubensbewusstsein vgl. neben Kaftan, Jesus und Paulus, 59–63 unten Kapitel 4.3. 319 Vgl. bes. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 15, 68f, 80f, 100; ders., Jesus und Paulus, 50–52, 55. 320 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 250. 321 Vgl. oben 2.3.2 und 2.3.3. 322 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 250.

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höchsten Guts im Sinne eines Schon jetzt und noch nicht interpretiert: Jesus erfährt seine Einheit mit Gott als Gegenwart des zukünftigen Gottesreichs, so dass die äußere Vollendung des eigenen Wirkens auch für Jesus Sache der eschatologischen Hoffnung auf die endgültige Manifestation des Gottesreichs bleibt. Wenn Kaftan aus der Perspektive Jesu die Auferweckung als jene Verwirklichung des zukünftigen Gottesreichs beschreibt, so impliziert dies Entscheidendes für den Übergang der Verkündigung Jesu in den durch die neutestamentlichen Schriften bezeugten urchristlichen Glauben, wie er insbesondere durch Paulus repräsentiert ist.323 Kaftan zeigt nämlich, dass Jesu Verkündigung über sich hinausweisend auf eine Fortbildung ihrer selbst hin angelegt war. Mithin liegt in Jesu Verkündigung selber der Grund, warum das Wesen des christlichen Glaubens nicht allein durch ihren Gehalt bestimmt ist. Dadurch wird jegliche Form einer „Jesusreligion“324 ausgeschlossen. Hier liegt über den Aspekt der Kanonizität hinaus der innere Grund dafür, dass Kaftan die neutestamentlichen Zeugnisse über den nach Jesu Tod entstandenen urchristlichen Glauben in seine Wesensbeschreibung des Christentums integriert. Kaftan zufolge kann es deshalb nicht wie in einem auf Wredes Paulusdeutung hinweisenden Schlagwort der Zeit heißen: „Jesus oder Paulus?“325 Vielmehr ist gerade von der Auslegung der Verkündigung Jesu her zu begründen, dass die paulinische Theologie als repräsentativer Ausdruck des christlichen Glaubens bleibende Gültigkeit für das christliche Glaubensbewusstsein hat.326 Wer das Wesen des Chris————— 323 „Paulus ist zuerst und vor allem ein Glied der Urgemeinde, ein Teilhaber ihres Glaubens und ihrer Hoffnung geworden […] wenn wir das Urchristentum verstehen wollen, müssen wir uns an Paulus halten“ (Kaftan, Lehre von der Erlösung, 252). Weiter gilt: Der christliche Glaube „hat nicht bloß ‚Anknüpfungspunkte‘ in den Aussprüchen der Apostel, er ist nicht bloß ‚seinen Grundzügen nach‘ in der Schrift enthalten. Er ist aus der lebendigen Mitte der heiligen Schrift geschöpft, er umfaßt die Hauptsumme dessen, was uns in ihr, im Neuen Testament […] an Wahrheit gegeben ist.“ (Ders., Ein neues Dogma, 57.) 324 Kaftan, Jesus und Paulus. Eine freundschaftliche Streitschrift gegen die religionsgeschichtlichen Volksbücher von D. Bousset und D. Wrede, Tübingen 1906, 73. 325 Vgl. den Titel der Schrift Arnold MEYERs, Wer hat das Christentum begründet, Jesus oder Paulus?, Tübingen 1907 (Hervorhebung von C.C.). Vgl. weiter Johannes LEIPOLDT, Jesus und Paulus – Jesus oder Paulus? Ein Wort an Paulus’ Gegner, Leipzig 1936. Vgl. zum Anlass der Debatte: William WREDE, Paulus, Halle a.S. 1904. Zu Kaftans Stellungnahme vgl. ders., Neutestamentliche Theologie, 68f sowie den Titel und das Programm seiner Schrift zu „Jesus und Paulus“ (Hervorhebung von C.C.). 326 Hier zeigt sich eine der Konsequenzen des Ritschlschen Ansatzes bei der Gemeinde, wie gerade Wrede sie, anschließend an ein Gespräch mit Ritschl, wiedergibt (Brief an M. Rade vom 2. April 1886): „Er wolle in erster Linie biblischer Theologe sein, sagte er [Ritschl] mir einmal. Auch das gehört nach ihm dazu, daß man sich auf den Standpunkt der christlichen Gemeinde stelle: die Aussagen der ersten Gemeinde als das erste und eigentliche positive Objekt anzusehen, welches der dogmatischen Theologie zugänglich ist […]“ (zitiert nach RATHJE, Protestantismus, 38).

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tentums beschreiben will, ist darauf angewiesen, von Jesus und Paulus zu handeln.327 Hiermit ist zugleich das religionstheoretische Offenbarungsverständnis wieder aufgenommen: Offenbarung als die Mitteilung eines höchsten Guts verstanden ist ihrem Wesen nach auf Aneignung durch ein religiöses Subjekt hin angelegt. Dieses korrelative Verhältnis von Offenbarung und Glauben bedingt Kaftans Interpretation der paulinischen Briefe: Sie sind Zeugnis der Aneignung des durch Jesus gebrachten höchsten Guts.328 Dabei entspricht die Predigt des Apostels der Verkündigung Jesu, gerade indem sie diese in prägnanter Weise umgestaltet: An die Stelle des Gottesreichgedankens tritt bei Paulus und damit in der urchristlichen Frömmigkeit die Person, welche dieses Gottesreich bringt. Kaftan bemüht sich mithin, mit einer Auffälligkeit des neutestamentlichen terminologischen Befundes konstruktiv umzugehen: Während in den synoptischen Evangelien der Begriff basileia tou theou beziehungsweise seine terminologischen Varianten wie in der Verkündigung Jesu und der Logienquelle häufig anzutreffen ist, tritt er in der paulinischen Literatur wie in allen übrigen Schriften des Neuen Testaments zurück.329 Dieser Befund widerspricht nach Kaftan nicht der These von der zentralen Bedeutung der Reich-Gottes-Vorstellung. Es ist vielmehr zu sagen, dass gerade weil die Verkündigung und das Wirken des irdischen Jesus prägend ist, Paulus den Gottesreichbegriff durch die Predigt vom Auferstandenen ersetzt. Das Evangelium, welches die Apostel verkündigen, hat zu seinem Hauptinhalt den gekreuzigten und auferstandenen Heiland.330

Dieser Perspektivwechsel vom Gottesreich zur Person Jesu Christi ist insofern konsequent, als Jesus selber das Gottesreich als in seiner Person ge————— 327 Vgl. dann später Harnacks Rede vom „ersten“ und „zweiten Evangelium“, welche miteinander in dem engen Zusammenhang stehen, dass letzteres – die Verkündigung der Urgemeinde – aus ersterem – Person und Verkündigung Jesu – hervorgeht (vgl. Adolf von HARNACK, Das doppelte Evangelium im Neuen Testament [1910], in: Adolf von Harnack als Zeitgenosse. Reden und Schriften aus den Jahren des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, hg. u. eingeleitet v. K. Nowak. Mit einem bibliographischen Anhang v. H.-C. Pickert, 2 Teile, Berlin/New York 1996, Teil I, 179–190). 328 „Jesus stiftet die neue Religion durch seine Predigt vom Reich und ist als Bringer […] desselben Object, in keiner Weise Subject des christlichen Glaubens. Hingegen hat alles weitere, was die Apostel sind und bedeuten, seine Grundlage daran, daß sie die an Jesum Christum Gläubigen sind, die ersten, welche in ihrem persönlichen Glauben und Leben die christliche Religion verwirklicht haben“ (Kaftan, Wesen, 247). In Zusammenhang damit steht Kaftans von der religionsgeschichtlichen Methode beeinflusste Interpretation der paulinischen Schriften als Zeugnisse der Frömmigkeit, nicht als Lehrsystem. 329 Bei Paulus findet sich der Gottesreichbegriff nur in Röm 14,17; 1 Kor 4,20; 6,9f; 15,24; 15,50; Gal 5,21; Eph 5,5; Kol 4,11; 1 Thess 2,12. Vgl. 2 Ti 4,1.18; Heb 12,2; Jak 2,5; Off 1,9; 12,1. 330 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 68.

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genwärtig verstand. Die Verkündigung Jesu und die der Apostel hat deshalb nicht etwa trotz, sondern gerade wegen dieser thematischen Verschiebung denselben Gehalt: die Gewissheit der Gegenwart des zukünftigen Gottesreichs in dieser Welt. Damit widerspricht Kaftan der Meinung Wredes, Paulus habe gegenüber der Religion Jesu eine neue Religion begründet.331 Dass der Verkündiger zum Verkündigten wird, ist Kaftan zufolge vielmehr in der Verkündigung angelegt, wie am messianischen Anspruch Jesu deutlich wird.332 An die Stelle des Messiasbewusstseins Jesu tritt damit in konsequenter Weise der urchristliche Auferstehungsglaube.333 Insofern Jesus die Gemeinschaft mit sich selbst als Erlösung von der Welt verstanden hat, hat der Christ Paulus zufolge in der Gemeinschaft mit dem gestorbenen und auferstandenen Christus an jener Erlösung teil. So ist das Ereignis der Auferweckung Jesu die „Brücke vom Evangelium Jesu zum Urchristentum“.334 Sie bedeutet auf der einen Seite das Ereignis, durch welches aus der Perspektive des geschichtlichen Jesus dessen Wirken als Messias vollendet wurde, zum anderen das Ereignis, welches die Christen der Urgemeinde als den von Jesus verheißenen „Anbruch der zukünftigen Welt“,335 also des Gottesreichs, verstanden haben. Im Unterschied zu bestimmten Formulierungen späterer Kirchenlehre tritt, wie bereits angedeutet, die Inkarnationsvorstellung in der urchristlichen und der paulinischen Frömmigkeit hinter den Auferstehungsglauben zurück beziehungsweise erfährt erst von diesem her ihre Bedeutung.336 Dementsprechend betont Kaftan, dass Phil 2,6–11 nicht die Menschwerdung Gottes in hymnischer oder gar dogmatischer Form darbietet, sondern paränetischen Sinn hat. Die Christologie des Paulus wie die der Urgemeinde ist Kaftan zufolge nicht vom Inkarnations-, sondern vom Auferstehungsglauben her zu begreifen. ————— 331 Vgl. WREDE, Paulus, 90, 104f. 332 Vgl. oben 2.3.3. – Es ist, wie schon im Blick auf Jesu Umdeutung der alttestamentlichen Reichgotteshoffnung zu sehen war, erneut die deutungsgeschichtliche Perspektive, von welcher her Kaftan das Wesen der christlichen Religion bestimmt: An der Transformation der jesuanischen in die paulinische Verkündigung ist das christliche Verständnis des höchsten Guts abzulesen. 333 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 80. An Kaftans Behandlung der Auferstehung als Brücke von Jesu Verkündigung zum Urchristentum kann gezeigt werden, dass Kaftan damit leistet, was PANNENBERG im Blick auf die Verbindung von Jesu geschichtlichem Handeln und der Hervorbringung des Gottesreiches zu Recht einfordert, nämlich „eine[…] differenzierte[…] Bestimmung dieser Gemeinschaft im Hinblick auf die Situation der irdischen Verkündigung Jesu einerseits, der Christusbotschaft der Apostel andererseits“ (ders., ST II, 349). Vgl. zu dieser Kaftans Christologie insgesamt konfigurierenden Verbindung von geschichtlichem Jesus und Christusglauben ders., Dogmatik, §§45–48 (423–475); ders., Ein neues Dogma, 49–77 und dazu unten Kapitel 4.2.6 und 4.3.2. 334 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 251. 335 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 252. 336 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 78.

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Kaftan legt seiner Interpretation des urchristlichen Auferstehungsglauben wie später A. Schweitzer337 insbesondere die paulinische Christusmystik zugrunde.338 Damit entspricht er in der Beschreibung der urchristlichen Frömmigkeit dem in der Wesensschrift entwickelten Begriff der geistigmystischen Erlösungsreligion. Das bedeutet für die Auslegung der Paulusbriefe die folgenschwere und in der Exegese des Neuen Testaments strittige These, dass diese nicht primär von der Rechtfertigungsbotschaft, sondern von der Auferstehungserfahrung als Erfahrung der Erlösung von der Welt zu verstehen sind, deren eine Folge die Rechtfertigungsbotschaft ist.339 Kaftan stützt sich in dieser Auslegung der paulinischen Literatur auf die exegetische Beobachtung, in der Erfahrung des Auferstandenen und der darin gründenden Predigt liege das Zentrum der paulinischen Verkündigung. Dies wendet er gegen die durch Baur initiierte und von Holsten weitergeführte Lesart, welche im Konflikt um das Gesetz das zentrale Motiv für diese Verkündigung findet und konsequenterweise die forensische Rechtfertigungslehre des Paulus als dessen Hauptanliegen auslegt.340 Kaftan versteht die paulinischen Briefe konsequent vom Damaskuserlebnis ihres Verfassers her. In diesem Erlebnis hat sich die Überzeugung gebildet, dass mit der Auferweckung Jesu das Ende der alten Welt und die Erlösung von dieser geschehen ist. Da die darin gründende Predigt des Paulus den gemein urchristlichen Glauben repräsentiert, ist Paulus nicht vom Konflikt mit Vertretern dieser Gemeinde, sondern von der gemeinsamen Überzeugung und Frömmigkeit her zu begreifen. Die paulinische Predigt von der Teilhabe an Christus ist der Ausdruck des urchristlichen Auferstehungsglaubens. Paulus legt dabei den Ton auf die gegenwärtige Heilserfahrung als „Sein in Christus“,341 aber auch er versteht diese mystische Heilsgegenwart von der

————— 337 Vgl. SCHWEITZER, Mystik. 338 Vgl. zur Christusmystik Kaftan, Wesen, 252–259; ders., Dogmatik, 416, 444, 448f, 482, 495f; ders., Jesus und Paulus, 35, 51, 67; ders., Neutestamentliche Theologie, 12, 85, 102, 103– 105, 106f, 108–110, 151, 152, 154, 182, 196f, 198–201; ders., Ein neues Dogma, 16–29. 339 Vgl. Kaftan, Ein neues Dogma, 17f; ders., Zur Dogmatik, 260–282. Die Nachordnung der Rechtfertigungs- gegenüber der Erlösungslehre wird aufzugreifen sein: vgl. unten 2.3.5 sowie 3.2.2 und 3.2.3. Dabei ist auch die theologische Verortung und Bedeutung des Sündenbegriffs zu bedenken. 340 Vgl. Ferdinand C. BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre. Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristentums, Stuttgart 1845, Leipzig 21866/67 (im Neudruck Osnabrück 1968); Karl Christian Johann HOLSTEN, Das Evangelium des Paulus, 2 Bd., Berlin 1880 und 1898, und dazu Kaftan, Zur Dogmatik, 255–337 sowie ders., Neutestamentliche Theologie, 72–75. 341 Vgl. zur Formel „In Christo Jesu“, welche bei Paulus im Gegenüber selbst zu Johannes gehäuft auftritt (164 Belege): G. Adolf DEISSMANN, Die neutestamentliche Formel „In Christo Jesu“, Marburg 1892.

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Zukunft her, das heißt: als „vorweggenommenes ewiges Leben in dieser Welt des Raumes und der Zeit.“342 Weiterhin weist Kaftan über die These, Jesus habe mit seiner Auferweckung die endgültige Verwirklichung des Gottesreichs erwartet, auf das in der neutestamentlichen Theologie virulente Problem der Naherwartung Jesu hin. Wie Weiß meint auch Kaftan, Jesus habe die endgültige und das heißt auch äußerlich-natürliche Verwirklichung des Gottesreichs in naher Zukunft erwartet. Diese Naherwartung ist insofern widerlegt worden, als die Auferstehung Christi auch für den an sie Glaubenden nicht das Ende der Welt der Natur und der Geschichte bedeutet. Kaftan schließt daraus, dass die für die Verkündigung Jesu erhobene Spannung des Schon jetzt und noch nicht zur Signatur christlicher Existenz in der Welt geworden ist. Jesu Naherwartung ist bloß ein zeitbedingter Ausdruck für diese Spannung.343 Christliches Glaubensbewusstsein ist demnach seinem Wesen nach dadurch bestimmt, dass es zugleich Erlösungsgewissheit und Erlösungshoffnung ist. Die Erlösungsgewissheit bezieht sich dabei auf die innerlich-verborgene Gegenwart des Reiches Gottes in der Welt, die Erlösungshoffnung auf ihre äußerlich-sichtbare Vollendung. Somit zeigt sich, dass Kaftan alles daran liegt, eine grundlegende These zu erhärten, in welcher sich seines Erachtens das Wesen der urchristlichen Religion und der christlichen Religion überhaupt zusammenfasst: Es ist die Vorstellung der Erlösung von der Welt, in welcher der christliche Glaube das alles bestimmende Zentrum hat, und zwar als Glaube an die bereits geschehene Erlösung. Zweitens ist Kaftan zufolge an der radikalen Zukünftigkeit des Gottesreichs und damit der vollendeten Erlösung festzuhalten. Auch der Christ lebt noch in der Welt, von der er sich erlöst glaubt; der Welt steht ihre äußere Vollendung, die zugleich ihr Ende ist, bevor.344 Die hierin ausgedrückte Spannung eines Schon jetzt und noch nicht der Erlösung von der Welt findet sich nun in den verschiedenen Schichten der neutestamentlichen Theologie in jeweils unterschiedlicher Weise ausgedrückt: Jesus hat ihre Aufhebung mit seiner Auferweckung erwartet, die für ihn mit seiner Wiederkunft zusammenfiel. Für ihn ist sein irdisches Wirken als Messias das Schon jetzt des Heils; das Noch nicht ist die bald nach seinem Tod zu erwartende endgültige Verwirklichung des Gottesreichs. Die ersten Christen verstanden die Auferweckung des Messias und ihre Teilha————— 342 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 105. 343 Vgl. zum dogmatischen Umgang mit dem Naherwartungsproblem unten 2.3.5. 344 Kaftan hebt sich damit, wie PANNENBERG, ST III, 634 feststellt, konzeptionell von den meisten eschatologischen Entwürfen seiner Zeit ab, in welchen die Vorstellung eines Weltendes zumeist in die Rede vom Tod und von der Vollendung des Individuums eingezogen ist; vgl. z.B. Hans Hinrich WENDT, System der christlichen Lehre 1, Göttingen 1906, 644; Wilhelm HERRMANN, Dogmatik, Gotha 1925, 90.

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be an ihr als das Schon jetzt des Heils. Dessen vollkommene Verwirklichung steht noch aus und wird mit der Wiederkunft des erhöhten Auferstandenen erwartet. Bekanntlich erwarteten die ersten Christen diese Wiederkunft, die sich für sie aber bereits von der Auferstehung Jesu löste, in baldiger Zukunft.345 Die Spannung des Schon jetzt und noch nicht, welche Jesus und die Urchristen teilen, wird nun aber entgegen deren eigenen Erwartungen zur Signatur christlicher Existenz überhaupt, ist doch die Wiederkunft des Messias und damit die endgültige Verwirklichung des Gottesreichs immer noch das von der Zukunft Erwartete. Damit macht der Glaube an den auferstandenen Christus, welcher von Kaftan als weltüberhebende Erlösungserfahrung schon jetzt bestimmt wird, das Wesen der christlichen Religion aus. Im Glauben erfährt der Christ selber den „Sieg über die Welt“,346 welcher in Jesu Wirken, seinem Tod und seiner Auferweckung bereits vollzogen ist. Zugleich versichert ihn dieser Glaube der noch zukünftigen Vollendung jenes „Sieges“, welche das Ende der Welt auch ihrer äußeren Gestalt nach bedeutet. So ist dem Tod als Signatur alles Weltlichen die Macht über das Leben genommen, denn der nach ewigem Leben verlangende Mensch erfährt die Teilhabe am Auferstandenen als vorweggenommenes ewiges Leben in der Welt und als Vergewisserung der zukünftigen Gemeinschaft mit Gott.347 Wie bereits in der Auslegung sowohl der Verkündigung Jesu als auch der paulinischen Schriften angelegt, zieht Kaftans Verständnis der zentralen Bedeutung des Auferstehungsglaubens eine kritische Sichtweise auf die Inkarnationsvorstellung nach sich. Die Inkarnationschristologie, wie sie Kaftan zufolge das besondere Kennzeichen des katholischen Heilsverständnisses sowohl westlicher als auch östlicher Provenienz ist, impliziert eine Naturalisierung des in Christus gegenwärtigen Heils. Anstatt des geschichtlichen Ereignisses der Auferstehung Jesu von den Todten, in welchem sich der Ertrag des Lebens Jesu in der Welt, die Offenbarung Gottes in ihm

————— 345 Vgl. als Ausdruck hierfür nur Röm 13,11f; 1 Kor 7,29; Phil 4,5. 346 Kaftan, Dogmatik, 305. Vgl. zum Glauben als weltüberhebender Erfahrung der objektiven Erlösung auch a.a.O., 208, 266–268 und 485. 347 Vgl. zusammenfassend Kaftan, Zur Dogmatik, 282–300 zur paulinischen Deutung von Tod und Auferstehung Jesu. – Die in sich spannungsvolle, weil auf die Zukunft ausgerichtete Erlösungsgewissheit zeigt sich in der Verwendung des Begriffs „Anbruch“. So fasst Kaftan zum einen den urchristlichen Glauben in dem Satz zusammen: „Gott hat uns durch die Auferweckung Jesu Christi von den Toten aus dieser gegenwärtigen Welt erlöst.“ (Ders., Lehre von der Erlösung, 269.) Dann wieder heißt es, dass in der Auferweckung „der Anbruch der zukünftigen Welt“ (ebd.; Hervorhebung von C.C.) liegt. Während der erste Satz durch die Perfektformulierung Endgültigkeit suggeriert, impliziert der Begriff „Anbruch“ eher etwas Anfängliches, noch zu Vollendendes. Von Kaftans Wesensbestimmung des Christentums her ist aber zu sagen: Im Anfänglichen des Anbruchs liegt schon verborgen, was sich in Zukunft vor aller Augen enthüllen wird.

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zusammenfaßt, tritt an die maaßgebende Stelle das physische oder hyperpyhsische Ereigniß der Menschwerdung.348

Mit „hyperphysisch“ meint Kaftan, dass die Inkarnation zwar als übernatürliches Ereignis verstanden wird, aber letztlich in Analogie zu einem natürlichen Geschehen ausgedrückt wird. Nicht nur die Gegenwart Gottes in Christus wird solchermaßen als physische Wirklichkeit verstanden, sondern auch die Teilhabe des Glaubenden am Heil. Es ist die Vorstellung der „Gottwerdung“349 des Menschen, welche sowohl in Orthodoxie als auch im römischen Katholizismus die Partizipation des Menschen am göttlichen Leben in gleichsam physischer Vorstellungsweise zum Ausdruck bringt.350 Es ist hier nicht zu fragen, inwiefern Kaftan eine Verzeichnung der letztlich in der altkirchlichen Christologie begründeten Inkarnationslehre seiner Kritik zu Grunde legt. Vielmehr soll die Intention dieser sicherlich hinterfragbaren Kritik herausgestellt werden. So bezweckt Kaftan, den Glauben als geistig-selbstbewusste Teilhabe am Gottesreich herauszustellen und in seiner allumfassenden Bedeutung für die christliche Erlösungsvorstellung zu explizieren. Wie die Gegenwart des Gottesreichs in Jesus, so ist die Auferstehung Christi wie auch die Teilhabe des Menschen an ihr und mithin die Erlösung schlechthin geistiger Art. Wie diese Heilsvorstellung mit der Hoffnung auf Vollendung auch der äußeren, natürlichen Welt zusammengehen kann, wurde oben unter 2.3.2 und 2.3.3 dargelegt: Auch das zukünftige Gottesreich ist eine geistig-sittliche Wirklichkeit. Bevor die ethischen Implikationen dieser Wesensbestimmung der urchristlichen Religion in den Blick genommen werden, ist zu fragen, welche Bedeutung sie für Kaftans moderne- und frömmigkeitsbezogene Reformulierung des christlichen Glaubens hat. 2.3.5 Dogmatischer Ertrag: Eine evangelische Erlösungslehre Kaftans als Theologie des Neuen Testaments entfaltete Bestimmung des höchsten Guts der christlichen Religion stellt das Gottesreich, wie Jesus es verkündet und herbeigeführt hat, als in der Weltzeit gegenwärtiges eschatologisches – das heißt überweltliches und zukünftiges – Reich der Erlösung und der Erlösten vor. An diesem geistigen, und das heißt zunächst: in der Gegenwart der sinnlich-natürlichen Wahrnehmung verborgenen Reich hat teil – so schließt Kaftan insbesondere aus der paulinischen Theologie –, wer an den auferstandenen und erhöhten Christus glaubt, insofern der Glaube ————— 348 Kaftan, Wesen, 365f (im Original z.T. hervorgehoben). 349 Kaftan, Wesen, 365. 350 Vgl. zu Kaftans Kritik an der Inkarnationschristologie weiter ders., Wesen, 324f.

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als gleichsam mystische Vereinigung mit Christus gefasst wird. Damit ist der Glaubende seinem „inwendigen Menschen nach“ bereits von der Welt erlöst und gehört „der zukünftigen Welt“351 an, deren Eintreten als auch äußerliche Verwirklichung des Gottesreiches und damit als Ende der gegenwärtigen Welt der Glaubende erhofft. In der Gewissheit der durch die Auferstehung und Erhöhung Christi bereits geschehenen Erlösung und in der Hoffnung auf ihre Vollendung liegt Kaftan zufolge das Zentrum des christlichen Glaubens, dem alle anderen Glaubensaussagen zuzuordnen sind. Kaftans Ausführungen zur Bedeutung der neutestamentlichen Erlösungsvorstellungen heben sich damit von jenen zeitgenössischen Konzeptionen ab, welche die drängende Hoffnung auf Erlösung von dieser Welt schon für den historischen Jesus und das Urchristentum – wenn sie eine solche überhaupt belegt finden –, als zeitbedingte Ausdrucksformen vom Wesen der hierin ausgedrückten Frömmigkeit sondern, wie es Ritschl tut.352 Ebenfalls unterscheidet sich die Kaftansche Konzeption von der Position Weiß’, welcher jene Ausdrucksformen als das Wesen der jesuanischen und urchristlichen Frömmigkeit anerkennt, aber meint, die Gehalte dieser Frömmigkeit seien vom gegenwärtigen Glaubensbewusstsein nicht anzueignen.353 Die gemeinsame Tendenz dieser im Blick auf den theologiegeschichtlichen Kontext als liberal oder vermittelnd zu bezeichnenden Lesarten der neutestamentlichen Theologie besteht darin, das Christentum als eine Religion zu konzipieren, der es wesentlich auf die religiöse Durchdringung der weltimmanenten Wirklichkeit ankommt. Zugleich wird in diesen Konzeptionen die ethische Kraft des Christentums, welche von Kaftan ausdrücklich hinter die eschatologische Wirklichkeitssicht zurückgestellt wird,354 hervorgehoben: Es ist das Leben in der Welt, welches durch die Beziehung des Subjekts auf die durch und in Jesus gegenwärtig gewordene Botschaft eine Vertiefung erfährt. Demgegenüber müssen die neutestamentlichen Passagen, welche die weltenthebende Macht des Glaubens in zum Teil schroffer Weise betonen, im wahren Sinne des Wortes weltfremd und dem zeitgenössischen Glaubensbewusstsein nicht vermittelbar erscheinen. Weiß beispielsweise versteht die Abständigkeit der dogmatischen ReichGottes-Lehre seiner Zeit vom Reich-Gottes-Verständnis Jesu als Ausdruck einer unumkehrbaren Entwicklung und erhebt diese Abständigkeit zum gleichsam normativen Maßstab gegenwärtiger Dogmatik und Predigt: ————— 351 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 533. 352 Vgl. RITSCHL, Unterricht, §77 (102–104). 353 Vgl. WEISS, Predigt Jesu, z.B. 67, 242–247. 354 Vgl. Kaftan, Ein neues Dogma, 22f, wo Kaftan von der Unterordnung der sittlichen Dimension her das „Gleichgewicht“ (a.a.O. 23; Hervorhebung im Original) zwischen eschatologischen und sittlichen Elementen des christlichen Glaubens anvisiert.

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Wir bitten nicht mehr [wie Jesus und die ersten Christen]: es komme die Gnade und vergehe die Welt, sondern wir leben der frohen Zuversicht, dass schon diese Welt der Schauplatz einer „Menschheit Gottes“ immer mehr werden wird. […] eine andre Stimmung ist stillschweigend an Stelle der eigentlich eschatologischen bei uns getreten – und wo sie nicht vorhanden ist, da sollte Predigt und Unterricht alles thun, um sie zu wecken. […] Wir warten nicht auf ein Reich Gottes, welches vom Himmel auf die Erde herabkommen soll und diese Welt vernichten.355

Aufgrund seiner geschichtlichen Situation hat das Christentum der Gegenwart sich nach Weiß zu Recht in der Welt dergestalt eingerichtet, dass auch das erhoffte Heil als ein innerweltlich sich ereignendes geglaubt wird. Kaftans Theologie nimmt sich dagegen als Alternativprogramm aus, wenn er, wie in einem Aufsatz von 1908, fragt: Warum kennt die evangelische Kirche keine Lehre von der Erlösung im engeren Sinn? Und wie läßt sich diesem Mangel abhelfen?356 Kaftan fordert in dem so betitelten Aufsatz, den eschatologischen Reich-Gottes-Gedanken Jesu in eine evangelische Erlösungslehre zu integrieren, nach welcher das christliche Glaubensbewusstsein durch die Vorstellung der Erlösung von der Welt bestimmt ist.357 Dabei ist zugleich der Gewissheit des Erlöstseins als auch der Hoffnung auf das Ende der Welt als vollendeter Erlösung Ausdruck zu verschaffen. Im Gegensatz zur Weiß’schen These meint Kaftan: [D]ie Erlösung von der Welt ist der Grundgedanke der neutestamentlichen Religion. […] Und hier, auf diesem Gebiet, wird die Autorität nicht durch den Wechsel der Zeiten beeinträchtigt. Wir können und sollen heute dasselbe am Evangelium von Jesus Christus erleben, was – um es konkret zu sagen –, der Apostel Paulus daran erlebt und verkündigt hat. Trotz alles Wechsels der Vorstellungen, ja der Bewußtseinsformen ist es dasselbe Erlebnis, daß wir im Glauben mit Christus vereinigt die Welt los werden, ihr sterben, von ihr erlöst werden […] Das ist es, was vor allem das Wesen des Christentums ausmacht.358

Über eine in solchem Sinne entfaltete Erlösungslehre meint Kaftan, sowohl das neutestamentliche Zeugnis vom Reich Gottes als des höchsten Guts als ————— 355 WEISS, Predigt Jesu, 67. 356 ZThK 18, 1908, 237–298 (zitiert ist der Titel des Aufsatzes). 357 Vgl. als zentralen Gedanken: „Gott hat uns durch Jesus Christus von der Welt erlöst.“ (Kaftan, Lehre von der Erlösung, 242; im Original hervorgehoben.) Vgl. auch ders., Zur Dogmatik, 295–300. 358 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 274 (Hervorhebungen im Original). Zwar hält Kaftan in ders., Wahrheit, 56 sowie ders., Das Verhältniß des evangelischen Glaubens zur Logoslehre, ZThK 7, 1897, 1–27, bes. 5f fest, dass die Naherwartung als Ausdruck christlicher Erlösungshoffnung umzubilden war und würdigt das altkirchliche Dogma in dieser Hinsicht. Damit ist jedoch nur gesagt, dass die Naherwartung als der urchristliche Ausdruck der christlichen Erlösungsgewissheit von anderen Ausdrucksformen abzulösen war, dass aber die Mitte des christlichen Glaubens bleibend darin liegt, sich dem zukünftigen Gottesreich schon jetzt zugehörig zu wissen und diesem Wissen in der Hoffnung auf den endgültigen Anbruch des Gottesreichs Ausdruck zu geben. Vgl. Kaftan, Ursprung, 341.

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auch die Wesensbestimmung des Christentums als geistig-mystischer Erlösungsreligion in die Dogmatik der Gegenwart aufnehmen zu können. Damit wird der eschatologische Gedanke des Reichs Gottes, verstanden als Erlösung von der Welt, zum impliziten Zentrum der Dogmatik als christlicher Glaubenslehre und bedingt zugleich deren Verhältnis zur Ethik.359 Kaftans Programm einer evangelischen Erlösungslehre hat eine entscheidende definitorische Voraussetzung: Mit „Erlösung im engeren Sinn“ ist eben die „Erlösung von der Welt“360 gemeint. In der zeitgenössischen Dogmatik hingegen wird die Erlösungslehre Kaftan zufolge weitgehend auf die Erlösung von Sünde und Schuld beschränkt. Dies führt er auf Schleiermachers Definition in §11 des Christlichen Glaubens zurück, wo Schleiermacher Erlösung in formaler Weise als „Uebergang aus einem schlechten Zustande, der als Gebundensein vorgestellt wird, in einen bessern“361 bestimmt. Die Anwendung dieser Definition auf die größten Übel, welche der christliche Glaube kennt, Schuld und Sünde, führt, so Kaftan, zu der Engführung der Erlösungsbegriffs auf die Befreiung von jenen Übeln – eine Engführung, die damit nicht notwendigerweise Schleiermacher selber anzulasten ist, sondern eine theologiegeschichtliche Konsequenz der Schleiermacherschen Erlösungsdefinition im Verbund mit der Bedeutung der Sündenvorstellung in der evangelischen Dogmatik ist. Kaftan will die Bedeutung der Vorstellungen von Sünde und Sündenvergebung weder für die Verkündigung Jesu noch für das Wesen der christlichen Religion in Abrede stellen,362 doch ordnet er jenen Vorstellungskomplex sowohl historisch als auch dogmatisch der Vorstellung der Erlösung von der Welt unter. Dies hat sich bereits in den Ausführungen zur paulinischen Verkündigung angedeutet, nach welchen ihr Zentrum der gemein urchristliche Auferstehungsglaube, nicht die auf den Gesetzeskonflikt reagierende Rechtfertigungsbotschaft ist. So wie bei Paulus diese Rechtfertigungsbotschaft eine Voraussetzung der Teilhabe am höchsten Gut zur Klärung einer kontroversen Frage ausformuliert, so hat in der christlichen Dogmatik die Lehre von der Sündenvergebung beziehungsweise der Rechtfertigung eine Bedingung des Erlösungsbewusstseins darzustellen, wie noch zu zeigen ist. Die Sündenvergebung wird somit gleichsam als Mittel zum ————— 359 Von daher ist zu fragen, ob BULTMANN sich richtig ausdrückt, wenn er in seinem Geleitwort zur dritten Auflage des Weiß’schen Werks seine Erinnerung an ein Dogmatik-Kolleg wiedergibt, in welchem Kaftan angesichts der These Weiß’ gesagt habe: „Ist das Reich Gottes eine eschatologische Größe, so ist es ein für die Dogmatik unbrauchbarer Begriff“ (Bultmann, Geleitwort in WEISS, Predigt Jesu, V). Von Kaftans hier entfalteter Theologie her wird deutlich, dass er die eschatologische Dimension des Reich-Gottes-Begriffs, freilich in gedeuteter Weise, sehr wohl und ausdrücklich für die Dogmatik gebraucht. 360 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 239 (Hervorhebung geändert von C.C.). 361 SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (1830/31), KGA I.,13,1: 95f. 362 Vgl. dazu unten Kapitel 3.3.2.

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Zweck der Erlösung verstanden.363 Sie ist Ausdruck dessen, dass das erlöste Sein des Menschen ein neues Sein ist, wobei dieses Neue die Ablösung vom Alten herbeiführt. Damit ist die Verhältnissetzung von Erlösung und Sündenvergebung bei Kaftan Indiz dafür, dass er seine Soteriologie als eschatologische entfaltet, das heißt: Das Heil kommt dem Menschen aus der Zukunft her zu und überwindet schon jetzt die unheilvolle Gegenwart. Nicht stirbt das Alte und tritt das Neue an den leergewordenen Platz, sondern die Macht des neuen Geistes und Lebens überwindet die alten Mächte der Sünde und des Todes, das Neue verdrängt das Alte.364

Dass damit das Neue und das Alte in spannungsvolle Beziehung gesetzt sind, die Lehre De Novissimis als präsentisch-futurische entworfen ist, kennzeichnet die Kaftansche eschatologische Wesensbestimmung des Christentums, wie bereits am Schon jetzt und noch nicht der Erlösung gezeigt wurde. Das Problem der Auslegung des Neuen Testaments, wie es in den Formeln Naherwartung und Parusieverzögerung zusammengefasst wird,365 stellt Kaftan zufolge deshalb nicht etwa vor die Herausforderung, eine theologische Auflösung der damit angedeuteten Probleme zu finden. Eine solche Auflösung liegt vor, wenn etwa der urchristliche Glaube an die Erlösung und die damit verbundene Naherwartung der Endzeit als zeitgeschichtlich bedingte, mythologische Form von einem davon abtrennbaren Wesenskern des christlichen Glaubens verstanden wird.366 Oben wurde bereits festgestellt, dass die Christen aller Zeiten in den paulinischen Briefen einen bleibenden Ausdruck ihrer eigenen Frömmigkeit haben. Die Christen der Gegenwart existieren wie Jesus selber und die Urchristen in der Spannung zwischen der Gewissheit, bereits von der Welt erlöst zu sein, und der Erfahrung des Weiterlebens in der Welt. Diese Spannung findet in der Frömmigkeit Jesu und der Urchristen ihren Ausdruck darin, dass die Vollendung der bereits begonnenen Erlösung als kurz bevorstehend geglaubt wird, mithin in der Naherwartung. Solchermaßen als ein Ausdruck des paradoxalen Schon jetzt und noch nicht der Erlösung verstanden, gehört die Naherwartung wie ————— 363 „Es darf nicht verkannt werden, daß das dem Glauben in Jesus Christus geschenkte Heil nicht bloß Rechtfertigung oder Sündenvergebung ist.“ (Kaftan, Lehre von der Erlösung, 287.) Vielmehr bezeichnet die Rechtfertigungsvorstellung „den Weg, der zum Heil führt, aber sie sagt nichts darüber, was denn nun das Heil seinem Wesen nach ist.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original.) Um dieses Wesen zu bestimmen, ist zu bedenken, was Erlösung von der Welt bedeutet (vgl. a.a.O., 289). Die Konsequenz für die Konzeption der Dogmatik ist, dass die Rechtfertigungslehre der Erlösungslehre untergeordnet wird. Vgl. zu diesem Gedanken auch ders., Wesen, 252f sowie insgesamt Dogmatik, §2. Diesem Paragraphen zufolge machen die beiden Vorstellungskreise „Reich Gottes“ und „Versöhnung“ das Wesen des Christentums aus. Vgl. zum Profil der Kaftanschen Rechtfertigungslehre unten Kapitel 3.3.3. 364 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 86. 365 Vgl. z.B. STRECKER, Theologie, 224. 366 Vgl. Kaftan, Lehre von der Erlösung, 249; ders., Ursprung, 341.

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diese Spannung zum Wesen des christlichen Glaubens hinzu. Deshalb ist es möglich zu sagen, dass auch das gegenwärtige Glaubensbewusstsein durch die Naherwartung der Vollendung des Gottesreichs bestimmt ist. Damit meint Kaftan nicht, dass eine bestimmte Terminierung des Weltendes wesentlich zum christlichen Glauben gehört. Vielmehr denkt er an das Bewusstsein, dass die Wiederkunft des Messias und damit die Vollendung der Erlösung jederzeit geschehen kann, dass mithin der Schwerpunkt der eigenen Existenz „über der Welt, in Gott, in seinem ewigen Reich“367 liegt. Die Spannung von Schon jetzt und noch nicht drängt das religiöse Subjekt, täglich mit ihrer Aufhebung zu rechnen; sie verweist darauf, dass der Christ sich in der Welt nicht für die Ewigkeit einrichtet. Deshalb gilt Kaftan zufolge im Gegensatz zu Weiß: Wir können und sollen heute dasselbe am Evangelium von Jesus Christus erleben, was […] der Apostel Paulus daran erlebt und verkündigt hat.368

Das dieses Nacherleben gerade dem Menschen der Gegenwart möglich ist, begründet Kaftan zeitdiagnostisch: Das gegenwärtige Florieren von Wissenschaft und Bildung darf nicht darüber hinweg täuschen, dass gerade die sich steigernde Kultur schließlich auf den Ueberdruß an allem, was Welt und Kultur heißt, hinausläuft. Dann bricht wieder der Schrei aus der Seele, der nach Gott ruft, nach dem überweltlichen Gott, in dem das unruhige Herz allererst und allein seine Ruhe findet.369

Die Kaftan aus dem zeitgenössischen Kontext der liberalen und vermittelnden Theologie heraushebende Voranstellung der Eschatologie als Ausdruck christlicher Zukunftshoffnung hängt dabei, wie gesehen, eng mit der gleichfalls in den liberal-vermittelnden Kreisen wenig prominenten Hochschätzung der Mystik als vorzüglicher Ausdrucksform der Religion zusammen. In Kaftans Theologie ist diese in zweifacher Hinsicht konsequent: In religionstheoretischer Hinsicht bringt die Mystik, verstanden als Streben nach Leben in Gott oder dem Göttlichen, das Telos geistiger und das heißt vollendeter Religion zum Ausdruck. In christlich-theologischer Hinsicht ist die Teilhabe am Gottesreich als mystische zu bezeichnen, insofern sie sich in der glaubensmäßigen Gemeinschaft – anders: Vereinigung – mit dem Auferstandenen ereignet. Freilich wurde auch zugleich deutlich, dass Kaftan eine dezidiert christliche Mystik entwirft, deren Abgrenzung von solchen Formen der Mystik,

————— 367 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 249. 368 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 274 (im Original z.T. hervorgehoben). 369 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 278.

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die mit Söderblom als „Unendlichkeitsmystik“370 zu bezeichnen sind, ebenfalls in der neutestamentlichen Theologie begründet wird.371 Es ist dabei wesentlich die Christusmystik,372 welche die Ausdrucksweisen der christlichen Erlösungsgewissheit bestimmt. Damit rückt überhaupt die Christologie in die Mitte der evangelischen Erlösungslehre: Scheint Kaftan passagenweise die Unmittelbarkeit des einzelnen Menschen zum überweltlichen Gott ins Zentrum seiner Wesensbestimmung des Christentums zu rücken, so ergibt sich aus der Rekonstruktion der Theologie Kaftans im Ganzen, dass die christologische Vermittlung des eschatologischen Heils das tatsächliche Zentrum der christlichen Glaubenslehre zu sein hat.373 So kann Kaftan, ohne dabei in Widerspruch zu der Bestimmung des Gottesreichs als des höchsten Guts der christlichen Religion zu treten, sagen: Der erhöhte Christus ist das höchste Gut des christlichen Glaubens […], in der Theilnahme an seinem verklärten Leben besteht die Seligkeit des Christen. Der Grundsatz Deus est summum bonum bedarf, um christlicher Weise richtig verstanden zu werden, der näheren Bestimmung Christus est summum bonum.374

Die Bezeichnung Christi als summum bonum ist in der oben dargelegten Gottesreichkonzeption Kaftans insofern angelegt, als in der Gemeinschaft mit Christus die Teilhabe am Gottesreich und damit an Gottes Leben selber liegt. Damit hebt Kaftan weniger darauf ab, die Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott als vielmehr die Mittlerschaft Christi in der Gottesbeziehung des Einzelnen auszudeuten. Im Anschluss an Paulus formuliert er, dass Christus der von Gott gesandte Mittler zwischen Gott und den Menschen ist, der, durch Tod und Auferstehung in die göttliche Seinsweise eingegangen, allen, die durch den Glauben mit ihm geeint sind, die Theilnahme am göttlichen Geist und Leben vermittelt.375

Diese christologisch-soteriologische Grundbestimmung hat freilich die entscheidende Konsequenz, welche Kaftan in den christologischen Paragraphen seiner Dogmatik auch deutlich zum Tragen bringt, dass die Christolo————— 370 Vgl. Hans ÅKERBERG, Unendlichkeitsmystik und Persönlichkeitsmystik. Zur Beleuchtung von Prämissen und Möglichkeiten in der Mystikdistinktion Nathan Söderbloms, in: Archiv für Religionspsychologie 18, 1988, 77–113. 371 Vgl. oben 2.3.4. 372 Vgl. Kaftan, Wesen, 252–259; ders., Dogmatik, 416, 444, 448f, 482, 495f; ders., Jesus und Paulus, 35, 51, 67; ders., Neutestamentliche Theologie, 12, 85, 100–110, 151f, 154, 182, 196f, 198–201. Zur unio mystica vgl. ders., Dogmatik, 652f. 373 Vgl. Kaftan, Wesen, 392f, wo deutlich wird, dass die Heilslehre als Christologie zu entwerfen ist. 374 Kaftan, Wesen, 334 (im Original weitere Hervorhebungen). 375 Kaftan, Dogmatik, 406. Vgl. zum Mittlerbegriff auch a.a.O., 448.

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gie im strengen Sinne als Lehre von der Gottheit Christi zu entfalten ist.376 Dabei wird die dogmatische Bestimmung Christi als summum bonum, welche gleichbedeutend ist mit der Darlegung seiner Gottheit, in der religionstheoretischen Beschreibung des Christentums als geistiger Erlösungsreligion auf der einen und der historisch-systematischen Theologie des Neuen Testaments auf der anderen Seite begründet. Kaftans Christologie ist entsprechend dadurch charakterisiert, vor dem Hintergrund der teils radikalen Historisierung der Person Jesu im 19. Jahrhundert den historischen Zugang zu Jesus mit dem Glauben an seine Gottheit zu vermitteln. Als christologische Aufgabe bestimmt Kaftan es von daher, „das evangelische Lebensbild Jesu als den Inhalt unseres Glaubens an seine Gottheit verständlich zu machen.“377 Die Durchführung dieser Aufgabe in den Paragraphen 46 bis 48 der Dogmatik Kaftans zeichnet sich in antimetaphysischer Stoßrichtung näherhin dadurch aus, dass diese entgegen dem üblichen Verfahren in der zeitgenössischen Dogmatik378 nicht die traditionelle „Fragestellung der Zweinaturenlehre“379 repristinieren, sondern das geschichtliche Leben Jesu in der Darstellung der Evangelien zu ihrem Ausgangspunkt nehmen. Weiterhin ist bezeichnend, dass Kaftan in den betreffenden Paragraphen durchgängig und programmatisch die Bedeutung des Glaubens an die Gottheit Christi für die „Frömmigkeit“380 zum Zielpunkt seiner Christologie be————— 376 Damit ist Kaftans Christologie einer gängigen Bezeichnungsweise zufolge als „Christologie von oben“ zu begreifen, welche allerdings strikt in ihrer soteriologischen Relevanz entworfen ist, wie es schlaglichtartig in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt: Jesus Christus ist der „Erlöser, der […] von oben gegeben ist, damit er […] von der Welt befreie“ (Kaftan, Jesus, 413; vgl. weiter ders., Dogmatik, 443f). Der Ansatz der Christologie bei der Gottheit Christi zeigt sich auch in einigen Auslegungsdetails, in denen Kaftan sich von anderen zeitgenössischen Deutungen der neutestamentlichen Christologie abhebt: Der Menschensohntitel in den synoptischen Evangelien ist nicht die Bezeichnung idealer Menschlichkeit, sondern des apokalyptischen Heilsbringers; die paulinische Bezeichnung Christi als „zweiter Adam“ verweist ebenso nicht auf Jesus als idealen Menschen, sondern als Vollender des Heilswerks. Vgl. dazu Kaftan, Dogmatik, §42. 377 Kaftan, Dogmatik, 435, 445f. Inwiefern der Glaube an die Gottheit Christi „der eigentlich zutreffende Ausdruck für den christlichen Offenbarungsglauben“ (ders., Wesen, 341, im Original z.T. hervorgehoben) und umgekehrt selber vom Offenbarungsglauben her zu verstehen ist (vgl. a.a.O., 364f), inwiefern also der Gedanke der Selbstoffenbarung Gottes in Christus (vgl. a.a.O., 337f) die Christologie bestimmt, ist unten Kapitel 4.2.6 und 4.3 nachzuvollziehen. 378 So meint Kaftan, vor allem in den durch die Philosophien Schellings und Hegels geprägten Theologien eine solche – hinter Schleiermachers epochale Umbildung der Christologie zurückgehende – „Rückkehr zur Fragestellung der Zweinaturenlehre“ (ders., Dogmatik, 426) feststellen und kritisieren zu müssen. Exemplarisch verweist er auf Biedermann. Abseits der idealistischen Traditionslehre sind es Kaftan zufolge Theologen wie Philippi und Dorner sowie die Vertreter einer modernen Kenosislehre wie Thomasius, Gess und Frank, welche das traditionelle christologische Dogma zum Gegenstand einer modernen Theologie nehmen. 379 Kaftan, Dogmatik, 423; vgl. auch ders., Wesen, 333. 380 Kaftan, Dogmatik, 424.

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stimmt. Dabei heißt „Frömmigkeit“ hier die Erkenntnis dessen, worin dem Menschen das Heil gegeben ist, so dass die Christologie dezidiert und von vornherein als Soteriologie zu stehen kommt, wie es bereits in der eben zitierten Bezeichnung Christi als summum bonum eine Andeutung fand.381 Es sind Schleiermacher und Ritschl, welche Kaftan in der somit umrissenen christologischen Methode zu Vorgängern bestimmt,382 von denen er sich jedoch in der Ausführung im Einzelnen absetzt. Um seine christologische Methode der Vermittlung des geschichtlichen Lebens Jesu und des als Heilserkenntnis verstandenen Glaubens an Christi Gottheit durchzuführen, entwickelt Kaftan in den die eigentliche Christologie darstellenden Paragraphen 46 bis 48 der Dogmatik nun jeweils denselben Stoff, das heißt: den Glauben an die Gottheit Christi, unter verschiedenen Gesichtspunkten:383 Erstens beschreibt er – hier wird die Anlehnung an Schleiermacher und Ritschl am deutlichsten – wie es sich dem evangelischen Glaubensbewusstsein zufolge mit der Gottheit Christi verhält, das heißt, er verhandelt die Gottheit Christi nicht als glaubensunabhängigen Erkenntnisgegenstand, sondern als Objekt des Glaubens.384 Zweitens – und hier geht er, zumindest dem Prinzip nach, einen Schritt weiter als Schleiermacher in seiner Glaubenslehre – fragt er, was der Gegenstand dieses Glaubens an die Gottheit Christi abgesehen vom Glauben bedeutet. Diese Frage ist Kaftan zufolge gerade deshalb aufgegeben und widerspricht dem Glaubensprinzip nicht, weil der Christusglaube sich auf „ein Stück der uns gegebenen geschichtlichen Wirklichkeit“385 richtet, welches mithin der geschichtsphilosophischen Betrachtung – gewissermaßen als einer kleinen Apologie des Christusglaubens – offen steht.386 Und schließlich reflektiert Kaftan „theologisch[...]“387 auf das „Paradoxon“,388 vor welches die geschichtsphilosophische Betrachtung der Gottheit Christi stellt, nämlich, dass der Glaubensaussage gemäß hier ein Mensch als Gott bezeichnet wird.389 Damit wird die Gottheit Christi erstens als Gegenstand der Glaubenslehre im Sinne Schleiermachers, zweitens als Gegenstand der Geschichtsphiloso————— 381 Freilich hat auch das traditionelle christologische Dogma Bedeutung für die Frömmigkeit – allerdings, so meint Kaftan, nur vermittelte Bedeutung: Denn in jenem Dogma steht „das theoretische Interesse“ (ders., Dogmatik, 424) im Vordergrund, und das Dogma tritt dadurch erst vermittels der heilsnotwendigen „Rechtgläubigkeit“ (ebd.) in seiner Bedeutung für die Frömmigkeit hervor. 382 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 424–426 und 431–434. 383 Vgl. für Kaftans Christologie weiter ders., Zur Dogmatik, 211–255. 384 Vgl. Kaftan, Dogmatik, §46. 385 Kaftan, Dogmatik, 436. 386 Vgl. Kaftan, Dogmatik, §47. 387 Kaftan, Dogmatik, 436. 388 Kaftan, Dogmatik, 436. 389 Vgl. Kaftan, Dogmatik, §48.

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phie und drittens als Gegenstand der Theologie im engeren Sinne, das heißt: der Gotteslehre, verhandelt. Als Gegenstand des Glaubens bedeutet die Aussage, dass Christus Gott ist, Kaftan zufolge nichts anderes als „dass in ihm Gott zu uns gekommen ist“,390 dass mithin in ihm das höchste Gut, die Teilhabe am göttlichen Leben, mitgeteilt ist. Entscheidend für das soteriologische Verständnis dieser in Variation der Schleiermacherschen Christologie formulierten391 und in §46 der Dogmatik entfalteten Glaubensaussage ist die Identifikation des geschichtlichen Jesus, wie ihn die Evangelien in ihrem „Lebensbild“392 zeichnen, und des Auferstandenen und Erhöhten. Denn solchermaßen ist der Glaube als mystische Gemeinschaft mit dem Auferstandenen, welche die Erlösung von der Welt schon jetzt bedeutet, seinem Gehalt nach bestimmt. Dies hat entscheidende Bedeutung für die christliche Ethik, wie sich noch zeigen wird:393 Der Gehalt des Glaubens an den Auferstandenen, welcher den Glaubenden von der Welt enthebt, ist das evangelische Lebensbild Jesu. Umgekehrt ist es dieses Lebensbild, an welchem dem Betrachter der Glaube an den Auferstandenen als weltenthebende Erlösung aufgeht. Es ist die Identifikation von geschichtlichem Jesus und erhöhtem Christus, welche Kaftan gegen eine Unterscheidung von Christusprinzip und historischer Person Jesu angehen lässt: Das Wirklichkeitsprinzip, welches in Christus gefunden werden kann, ist untrennbar verbunden mit seiner einmaligen Manifestation in der Geschichte, bezeugt in den Evangelien.394 Dass jene Manifestation eine einmalige ist, betont Kaftan auch gegenüber der These Ritschls, die „Formulirung des Glaubens an die Gottheit des Herrn“ müsse übertragbar sein auf „die Gemeinde und deren Glieder“.395 Vielmehr hält Kaftan daran fest, dass der Glaube an die Gottheit Christi „das Besondere und Unübertragbare in seiner Stellung zu Gott“396 impliziere, wie in der oben bedachten Rede von der Mittlerschaft Christi unmissverständlich festgehalten ist. Die Christologie als Lehre vom Glauben an die Gottheit Christi hat damit wesentlich zu explizieren, inwiefern dieser Glaube den Menschen „seines [Christi] und damit des göttlichen Lebens teilhaftig macht.“397 ————— 390 Kaftan, Dogmatik, 447. 391 Vgl. SCHLEIERMACHERs Rede vom „Sein Gottes in ihm [Christus]“: Der christliche Glaube (1830/31), Leitsatz zu §94 (KGA I.,13,2: 52) u.ö. 392 Kaftan, Dogmatik, 437 u.ö. 393 Vgl. dazu unten Kapitel 3.3 und Kapitel 4.3.2. 394 Zu Kaftans Kritik einer Reduktion der Christologie auf die Rede vom Christusprinzip vgl. unten Kapitel 4.2.6. 395 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 448. Für Ritschl vgl. ders., Unterricht, §24.b). 396 Kaftan, Dogmatik, 448. 397 Kaftan, Dogmatik, 448.

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Auf den Gedanken der Einzigartigkeit Jesu Christi läuft auch die geschichtsphilosophische Betrachtung der Gottheit Christi in §47 zu. Kaftan unternimmt es hier, „den erkennbaren Inhalt des Lebens Jesu unter dem Gesichtspunkt des Glaubens an seine Gottheit verständlich zu machen“.398 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jesus „an seinem Wirken unter den Menschen […] als Gott erkannt wird“,399 da sich dieses Wirken wiederum darin zusammenfassend deuten lässt, dass Jesus „das Reich Gottes in der Welt unter den Menschen aufgerichtet und […] zugänglich gemacht“400 hat. Mit Jesus ist dem evangelischen Lebensbild zufolge Gott selbst gegenwärtig, was Kaftan in Anlehnung an Schleiermacher weniger ontologisch, als vielmehr bewusstseins- oder relationstheoretisch erklärt: Es ist vor allem das Verhältnis Jesu zu Gott, welches in den Blickpunkt tritt und vor dem Hintergrund allgemein menschlicher Lebenserfahrung gedeutet wird.401 Der Kern dieser Deutung liegt darin, dass Kaftan Jesu „Bewusstsein seiner Einheit mit Gott“ als „das Person bildende Element im geistigen Leben Jesu“402 begreift. Jenes Bewusstsein deutet er als alle Züge und Ereignisse des irdischen Lebens Jesu bestimmend aus.403 Dabei tritt freilich sowohl die Analogie zu allem anderen menschlichen Leben in der Geschichte als auch das prinzipiell Unterscheidende, sprich: die Einmaligkeit Jesu hervor: Die Analogie besteht darin, dass die Identität einer Person sich in entscheidender Weise von ihrem „innersten Kreis geistiger Bethätigung“404 her entscheidet, dass heißt in ihrem „geistige[n] Selbstgefühl“405 gründet. Deshalb ist Jesu Identität von seinem Selbstbewusstsein der Einheit mit Gott, wie es in dem evangelischen Lebensbild insgesamt gezeichnet wird, her zu begreifen und kann deshalb als selber göttlich bezeichnet werden.406 Hierin liegt aber zugleich die Einmaligkeit Jesu: Denn aus dem evangelischen Lebensbild Jesu meint Kaftan folgern zu müssen, dass Jesu Einheit mit Gott „ursprünglicher gleichmäßiger Besitz“ war, während das Erleben von Gottesgemeinschaft bei jedem anderen Menschen „ein Erwerb in der Zeit“ ist – und „nur auf den Höhepunkten seines geistlichen Lebens […] zur Thatsa————— 398 Kaftan, Dogmatik, 450. 399 Kaftan, Dogmatik, 460. 400 Kaftan, Dogmatik, 459. 401 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (1830/31), v.a. §§93–99 (KGA I.,13,2: 31–102). 402 Kaftan, Dogmatik, 454 (Hervorhebung von C.C.). 403 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 455–462 zur Frage nach der Allmacht Jesu, zu Jesu Handeln mit und am anderen Menschen sowie zur Frage nach der Sündlosigkeit Jesu. 404 Kaftan, Dogmatik, 453f. 405 Kaftan, Dogmatik, 453. 406 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 454: Das „Bewusstsein seiner Einheit mit Gott [war] das Person bildende Element im geistigen Leben Jesu“.

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che unmittelbarer Empfindung“ wird.407 Anschaulich wird dies im Bild der Gotteskindschaft: Gemäß dem Neuen Testament sind die Menschen „Söhne per adoptionem“, Jesus Christus hingegen „der Eingeborene des Vaters“.408 Der Ansatz beim geistigen Selbstgefühl Jesu bedeutet freilich, dass der geschichtsphilosophischen Nachfrage nach der Gottheit Christi eine Erkenntnisgrenze gezogen ist: Das Innerste eines Menschen bleibt dem gänzlichen Verstehen durch den Anderen entzogen; annähernd begriffen werden kann es nur durch Analogiebildung aus der je eigenen Erfahrung. Ist Jesu Gottesverhältnis weiter als eine Einheit mit Gott zu verstehen, welche in keiner anderen menschlichen Gottesgemeinschaft erreicht wird, sondern alle andere menschliche Gottesgemeinschaft begründet, so ist dieser Analogiebildung eine zusätzliche Grenze gezogen. Dass damit Christi Gottheit, auf welche sich der Glaube richtet, der geschichtsphilosophischen Nachfrage letzthin „ein Geheimniss“409 bleibt, bestimmt auch Kaftans im engeren Sinne theologische Schlussfolgerung aus dem bisher zur Gottheit Gesagten in §48 der Dogmatik. Diese Schlussfolgerung ist von einer weiteren Zurückhaltung geprägt: Nicht bloß ist der ewige Ursprung Jesu in Gott in seiner Tiefe nicht zu erkennen, sondern der Glaube selber fragt „nicht unmittelbar“410 nach jenem Ursprung. Es ist eine theologische Folgerung aus der eigentlichen Glaubenserkenntnis, welche das Sein Christi zu Gottes ewigem Wesen ins Verhältnis zu setzen sucht. Diese Folgerung, welche Kaftan mit der Formel „Jesus ist seiner Gottheit nach von Ewigkeit in Gott“411 auf den Punkt bringt, wird von ihm nun nicht spekulativ ausgedeutet, sondern auf ihre Bedeutung für die Heilsgeschichte bedacht und damit erneut strikt soteriologisch auf den Glauben hin ausgelegt: Jesu Leben bedeutet „ein Eintreten Gottes in die Geschichte, wie es dieses eine Mal und sonst nirgends stattgefunden ha[t], das neben die Schöpfung zu stellen“412 ist. In Jesus Christus ist der Ewige in die Zeit eingetreten und durch die Vereinigung mit dem Auferstandenen kann der Zeitliche in die Ewigkeit eintreten. Damit sind die Sinngehalte der Inkarnationschristologie, welche Kaftan wie gesehen als solche ablehnt, in die Wesensbestimmung der christlichen Religion aufgenommen. ————— 407 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 464f. 408 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 465 (Hervorhebung im Original); vgl. a.a.O. 495. Der Begriff der Gotteskindschaft tritt bei Kaftan im Unterschied zur zeitgenössischen Tendenz – vgl. v.a. Weiß und Harnack – in den Hintergrund. Dies ist m.E. als impliziter Einspruch gegen das Votum durch Harnack, Weiß u.a. zu verstehen, Jesu apokalyptisch gefärbte Gottesreichverkündigung müsse dem modernen Menschen fremd bleiben und sei durch die Rede von der Gotteskindschaft zu ersetzen. Vgl. WEISS, Predigt Jesu, 245f; HARNACK, Wesen, v.a. 95–101. 409 Kaftan, Dogmatik, 452. 410 Kaftan, Dogmatik, 466. 411 Kaftan, Dogmatik, 467. 412 Kaftan, Dogmatik, 474.

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Die Christologie läuft so dezidiert auf das eschatologische Thema zu, indem sie in ihrem Kern die Gegenwart des Ewigen in der Zeit und die Teilhabe des Zeitlichen am Ewigen formuliert.413 Der Christus wird dabei als der Erlöser verstanden, wobei Kaftan vor allem auf die sich in Jesu Leben auswirkende, innerliche Kraft Jesu auf der einen Seite und das Geschehen von Auferweckung und Erhöhung auf der anderen Seite konzentriert. Der Auferstehungsglaube hat seine Bedeutung für das Glaubensbewusstsein darin, dass er die Zugehörigkeit des Christen zum überweltlichen Leben Gottes expliziert, welcher vorausgeht, dass der Christ der Welt gestorben ist. Die Begründung der Christologie im Bewusstsein – der Innerlichkeit – Jesu wiederum stellt den Referenzrahmen dar, von welchem her die Erlösung von der Welt als gegenwärtige Wirklichkeit begriffen werden kann: Sie ist es als innerlich erfahrene Wirklichkeit, als Bewusstsein.414 Das Bewusstsein der Erlösungswirklichkeit ist es weiter, was den christlichen Glauben seinem Inhalt nach und seiner Form nach ausmacht, mithin überhaupt als Glauben bestimmt.415 Kaftan sieht selber, gegenüber welchem Einwand sich eine Glaubenslehre, welche dezidiert evangelisch sein will, zu verantworten hat, wenn sie das Wesen des Glaubens im Bewusstsein der Erlösung von der Welt verortet: Ist nicht der Widerspruch gegen das Mönchtum, in welchem die reformatorische Theologie eine ihrer zentralen Motivationen hatte, insofern von bleibender Bedeutung, als der im mönchischen Ideal ausgedrückte Gegensatz zur Welt vom evangelischen Christentumsverständnis her abzulehnen ist? Auch Kaftan formuliert dieses evangelische Christentumsverständnis im Anschluss an Kant über den Grundsatz, „daß die einfachen sittlichen Pflichten des täglichen Lebens die obersten Religionspflichten des Christen ————— 413 Unten Kapitel 4, v.a. 4.3.2, ist die Christologie noch einmal aufzunehmen, um an ihr exemplarisch die Verzahnung von Gottes- und Selbsterkenntnis in der Dogmatik Kaftans auszuweisen – eine Verzahnung, welche freilich hier in Umrissen bereits sichtbar wird. 414 Vgl. Kaftan, Lehre von der Erlösung, 270; ders., Wesen, 263. In der Zeit bis zu dieser endgültigen Aufrichtung des Gottesreichs ist es das Gottesbewusstsein Jesu, mithin seine spezifische Innerlichkeit, durch die das Gottesreich Wirklichkeit ist. „Der Sohn baut das Reich von Innen nach Außen, es bleibt dem Vater befohlen, was daraus wird.“ (Ders., Neutestamentliche Theologie, 30; vgl. ders., Jesus und Paulus, 20f.) Im Gedanken der Innerlichkeit liegt denn auch der entscheidende Schlüssel für Kaftans Aktualisierungsversuch des jesuanischen und urchristlichen Glaubens an die Gegenwärtigkeit des zukünftigen Gottesreichs. Zur Bedeutung der Innerlichkeit vgl. auch HARNACK, Wesen, 88 u.ö. 415 „Die Erlösung der Menschen von der Welt durch die Auferweckung Jesu ist […] als göttliche Tat nur in der Richtung auf die Menschen und ihren Glauben verständlich“ (Kaftan, Lehre von der Erlösung, 270f; vgl. 285). Im Glauben an Jesus erlebt der Christ die Gegenwart von Reich Gottes und Erlösung; er stirbt der gegenwärtigen Welt und gehört der zukünftigen an. Vgl. ders., Dogmatik, 478f (im Zusammenhang des ganzen §49); ders., Jesus und Paulus, 37; ders., Neutestamentliche Theologie, 126 u.ö. – Vgl. zum Glaubensbegriff unten Kapitel 4.2.

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sind.“416 Und auch Kaftan erkennt wie Overbeck, dass das Mönchtum dagegen „die urchristliche Stimmung des Gegensatzes gegen die Welt“417 bewahrt hat.418 Von daher läge es nahe, wenn Kaftan im Zuge der Mönchtumskritik419 auch die urchristliche Erlösungsgewissheit, welche sich in der Naherwartung ausdrückt, zugunsten der Betonung der sittlichen Aufgabe des Christen in der Welt als zeitbedingte Form erklärte. Er erhebt aber, wie gesehen, jene Gewissheit stattdessen zum Programm seiner evangelischen Dogmatik. Damit hat er zu zeigen, inwiefern das mönchische Ideal der Weltabkehr abzulehnen ist, die urchristliche Erlösungsvorstellung aber zum Wesen des Christentums gehört und keine sittlichkeitsfeindliche „Weltflucht“420 bedeutet. Die entscheidende Argumentationsfigur, welche in der Kritik der mystischen Religionen wie dem Buddhismus und dem Brahmanismus wiederkehrt,421 besagt, dass in der urchristlichen Religion „die impulsive, leidenschaftliche Bejahung der zukünftigen Welt, die Sehnsucht danach, die Hoffnung darauf, die Zuversicht mit einem Fuß schon drin zu stehen“422 die alles andere bestimmende Bewusstseinsform ist. Sie führt sodann zur Verneinung der Welt beziehungsweise impliziert diese als ihre Kehrseite. Im Mönchtum hingegen steht wie schon im neuplatonischen Hellenismus, durch welchen das junge Christentum bis zur „Verschmelzung beider im Katholizismus“423 beeinflusst wurde, und wie in den mystischen Religionen die Verneinung der Welt an erster Stelle. Im „Nein der Welt gegenüber“424 gründet die Sehnsucht nach einer Überwelt beziehungsweise der Versenkung ins Nichts. Wenn Kaftan fordert, eine evangelische Lehre von der Erlösung auszubilden, so muss eine solche also von der positiven Vorstellung des höchsten überweltlichen und darin nicht weltlichen Guts ausgehen und das Weltverhältnis des Christen strikt aus der Teilhabe an diesem höch————— 416 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 263. Die Formel von den einfachen sittlichen Pflichten als den höchsten Religionspflichten fasst Kants Beschreibung der wahrhaft moralischen Religion zusammen; vgl. hierzu neben KANT, Rel., 192 (AA VI) v.a. Kants Darstellung der Lehre Jesu in ders., Rel., 158–163 (AA VI). Vgl. für jene Formel weiter Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 109; ders., Dogmatik, 20, 258, 62; ders., Askese, 14; ders., Philosophie, 251, 402; ders., Christenthum und Nation, 68 sowie unten Kapitel 3 zu Kaftans Rezeption der Moralphilosophie Kants. 417 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 259. 418 Vgl. Franz OVERBECK, Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1873/1903), in: Werke und Nachlaß 1: Schriften bis 1873, hg. v. E.W. Stegemann/N. Peter, Stuttgart/Weimar 1994, 155–318, bes. 212–217. 419 Vgl. dazu z.B. Kaftan, Wesen, 377–383; ders., Askese, 11–14. 420 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 262 u.ö. 421 Vgl. z.B. Kaftan, Wesen, 69–77; ders., Wahrheit, 514–518; ders., Askese; ders., Die indischen Erlösungsreligionen. 422 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 260f (im Original z.T. hervorgehoben). 423 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 260. 424 Kaftan, Lehre von der Erlösung, 261 (im Original z.T. hervorgehoben).

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sten Gut explizieren. Inwiefern die Erlösungsgewissheit des Christen dann mit der Betonung der sittlichen Pflichten in der Welt einhergehen kann, ist in der Betrachtung der christlichen Ethik Kaftans zu überlegen.425 Hier ist zunächst zu fragen, welche Bedeutung für das christliche Glaubensbewusstsein die von Kaftan in allem vorangestellte eschatologische Dimension des Christentums hat, welche er über die evangelische Erlösungslehre stark machen will. Kaftan hebt nämlich über die historische Verankerung einer solchen Erlösungslehre im urchristlichen Wirklichkeitsverständnis hinaus den Sinngehalt dieser Lehre in ihrer Valenz für das religiöse Bewusstsein sowohl in individueller als auch in sozialer Perspektive hervor: Es ist die von Paulus in der Wendung Haben, als hätte man nicht426 ausgedrückte Lebenshaltung, zu welcher das starke Erlösungsbewusstsein den Einzelnen führt.427 Als subjektive Erfahrung verstanden bedeutet die Erlösung, dass der Mensch durch Teilhabe am höchsten Gut umgestaltet wird, und zwar „in den elementaren Lebensbedingungen des Geistes“:428 Die Erlösung bedeutet in ihrer subjektiven Aneignung die Befreiung „aus dem Getriebe der Welt“.429 Negativ gewendet wird dem Menschen damit seine eigene Endlichkeit und die Endlichkeit allen Seins in der Welt bewusst. Damit ist die evangelische Erlösungslehre, wie Kaftan sie konzipiert, die dogmatische Besinnung auf das „allgemeine[...] Endlichkeitsbewusstsein“430 ist. Kaftan hebt so auf die christlich-theologische Ausgestaltung jener Bewusstseinshaltung ab, welche nach Schleiermacher das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit von Gott als das religiöse Gefühl überhaupt ist.431 Die Pointe bei Kaftan liegt freilich darin, dass er die subjektive Perspektive entgrenzt.432 Er macht vielmehr deutlich, dass das Endlichkeitsbewusstsein, wie es das Korrelat der evangelischen Erlösungslehre ist, nicht lediglich auf das Ende der je eigenen Person, mithin den eigenen Tod, bezogen ist. Viel————— 425 Vgl. unten Kapitel 3. 426 Vgl. 1 Kor 7,29–31. 427 Vgl. Kaftan, Wesen, 264. 428 Kaftan, Dogmatik, 537. 429 Kaftan, Dogmatik, 538. 430 SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (1830/31), §8,2. (KGA I.,13,2: 67; Hervorhebung von C.C.). 431 Nach WITTEKIND versucht Kaftan, die christliche Dogmatik als reflexive Beschreibung wahrer Innerlichkeit umzubilden (vgl. ders., Geschichtliche Offenbarung, 91, 120 u.ö. und dazu unten Kapitel 4, v.a. 4.2.3 und 4.2.4). Der Topos Eschatologie, der bei Kaftan die gesamte Dogmatik bestimmt und nicht auf das Schlusskapitel zu beschränken ist, wäre so dahingehend auszulegen, dass in der Vorstellung eines überweltlichen Gottes als Ziel menschlichen Lebens und der Weltgeschichte wahres Endlichkeitsbewusstsein gründet. (Die Vorstellung der Erlösung von der Welt durch Gott zielt dabei mehr auf die Individualität, die Vorstellung vom Ende aller Dinge auf die Allgemeinheit, in die das Individuum eingestellt ist.) 432 Dies ist gleichfalls bei SCHLEIERMACHER angelegt; vgl. ders., Der christliche Glaube (1830/31), §8, wo deutlich wird, dass das religiöse Subjekt in sein Endlichkeitsbewusstsein alles andere Endliche, „die ganze Welt“ mit hineinnimmt (Zitat: KGA I.,13,1: 67).

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mehr erstreckt es sich auch auf das Ende aller Dinge – und das heißt: auf das Ende der Welt. Die christliche Erlösungshoffnung richtet sich dementsprechend nicht nur auf das ewige Leben der eigenen Person, sondern auf das Ende und die Vollendung der Welt.433 Diese Perspektive wird von der zeitgenössischen Dogmatik gemeinhin wenig bedacht, wie im 19. Jahrhundert auch philosophisch-weltanschaulich die Vorstellung eines Endes der Welt gegenüber dem Evolutions- und Fortschrittsgedanken zurück tritt.434 So kann Kaftan hinsichtlich der allgemeinen kulturellen und gesamtgesellschaftlichen Gestimmtheit seiner Zeit diagnostizieren: Indem aber die Culturidee zum Bestimmungsgrund einer Weltanschauung der Diesseitigkeit gemacht wird, werden die[...] relativen Güter an die Stelle des höchsten Gutes gesetzt. Das Leben und nicht mehr das vollkommene Leben wird zum obersten Zweck des Daseins.435

Die „Weltanschauungen der Diesseitigkeit“436 dienen Kaftan damit als Hintergrund, vor welchem er die genuin christliche Weltanschauung und das genuin christliche Kulturverständnis profiliert: Ueberhaupt aber bedürfen wir Christen nichts so sehr als uns immer wieder an den reinen Gegensatz zu erinnern und erinnern zu lassen, den das Evangelium zu allem weltlichen Wesen bildet.437

Kaftan macht damit deutlich, dass die Relativierung der einzelnen weltlichen Lebensgüter von der Ausrichtung auf das höchste überweltliche Gut her auch im Blick auf den sozialen und kulturellen Zusammenhang gilt, in den der Einzelne eingestellt ist und an dem er mitwirken kann und muss. Der Gegensatz zur Welt, in welchen der christliche Glaube Individuum und Gemeinschaft einstellt, wird von Kaftan freilich stets auch positiv gewendet und damit recht eigentlich in seiner Lebensdienlichkeit herausgestellt, weil er, wie gesehen, in der Bejahung der zukünftigen Welt gründet: Das Endlichkeitsbewusstsein ist in der evangelischen Erlösungslehre deut————— 433 PANNENBERG (vgl. ST III, Göttingen 1993, 634) hebt hervor, dass Kaftan im Gegensatz zu der in der evangelischen Theologie, insbesondere in der Schule Ritschls üblich gewordenen Beschränkung der Rede vom Ende der Welt auf den Tod der Individuen am Gedanken des Weltendes im Interesse des Vollendungsgedankens festhält. Vgl. dazu Kaftan, Dogmatik, 649f. Vgl. zur modernen Skepis gegenüber dem Gedanken eines Endes der Welt und den Möglichkeiten der Begründung dieses Gedankens PANNENBERG, ST III, 632–641. 434 Dies sieht Kaftan selber; vgl. ders., Gottesreich, 316. 435 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 18 (Hervorhebung von C.C.); vgl. a.a.O., 62, 88, 92. Vgl. weiter a.a.O., 94 zur „moderne[n] Weltseligkeit“. 436 Gemeint sind nicht nur materialistische und hedonistische Grundhaltungen, sondern auch Begründungsversuche einer dezidiert nicht-religiösen Ethik, wie sie unten Kapitel 3.1 als kritische Bezugsgrößen Kaftans thematisch werden 437 Kaftan, Das Leben in Christo, IV (Hervorhebung im Original).

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lich als Kehrseite des menschlichen Strebens nach ewigem Leben in Gottesgemeinschaft zu entfalten. Damit ist eine Perspektive eröffnet, in welcher der Einzelne und die Gemeinschaft von dem her gesehen werden, worauf hin sie zustreben. Dieser Gedanke erhebt die Vorläufigkeit zur Signatur allen endlichen Seins. Solche Vorläufigkeit bedeutet, dass das Individuum und die Welt als Ganze, was ihre Bestimmung betrifft, im Werden sind, welches erst mit dem Ende der Welt sein durch Gott gewirktes Telos erreicht. Positiv gewendet heißt dies, dass sie auf ihre Vollendung hin zugehen, und – entsprechend der präsentischen Eschatologie Kaftans – diese in der gegenwärtigen Erfahrung des Gottesreichs als gewisse bewusst wird. Damit aber bedeutet der christliche Glaube zugleich eine tiefgreifende Transformation des menschlichen Lebensverlangens. Der Christ sieht im Glauben sein Leben in der Perspektive des ewigen Lebens, das heißt: Weil dem Christen „die Ewigkeit zur Gegenwart geworden ist“438 und dennoch verheißen bleibt, wird er der zukünftigen Lebenserfüllung in Gott gewiss und kann von daher das endliche Leben in der Zeit als das Vorletzte begreifen, in welchem er nicht sein Heil suchen muss. Auf die Verknüpfung des christlichen eschatologischen Heilsverständnisses mit dem anthropologischen Ausgangspunkt Kaftans beim Lebensverlangen ist abschließend einzugehen.

2.4 Fazit: Religion und Leben Fazit: Religion und Leben

Es wurde gezeigt, dass Kaftan die Wesensbestimmung der Religion im natürlichen Verlangen des Menschen begründet, und es wurde deutlich, dass diese Begründung nicht nur das religionstheoretische Profil der Kaftanschen Konzeption gegenüber zeitgenössischen Entwürfen ausmacht, sondern die Wesensbestimmung der christlichen Religion konfiguriert: Es ist die Eschatologie als Lehre von der Lebensvollendung im überweltlichen Gottesreich, von welcher her alle Gehalte der christlichen Religion zu entfalten sind.439 Die in diesem Sinne verstandene Eschatologie ist das dogmatische Korrelat der teleologischen Bestimmung des allgemein religiösen Gefühls: Die Frage nach Leben und Tod ist und bleibt die Grundfrage aller Religion, es giebt für den Glauben nichts Wichtigeres als die Verbürgung des ewigen Lebens und das richtige Verständnis seines geistigen Inhalts.440

————— 438 Kaftan, Christenthum und Wirthschaftsordnung, 254. 439 Vgl. die Tendenz der Theologie im 20. Jahrhundert als des „Jahrhundert[s] der Eschatologie“ (SCHWÖBEL, Eschatologie, 437), welche sich besonders deutlich in den Entwürfen Karl Barths, Wolfhart Pannenbergs und Jürgen Moltmanns zeigt. 440 Kaftan, Dogmatik, 535.

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Dass das Verlangen nach Leben, welches sich in der Ausrichtung auf ein höchstes Gut einen je spezifischen Ausdruck verschafft, solchermaßen nicht bloß zum Ausgangspunkt der Religionstheorie, sondern der christlichen Theologie genommen wird, ist allerdings auch kritisch zu sehen. Kaftan hebt auf diese Weise am religiösen Bewusstsein die Intentionalität gegenüber der Überführtheit oder der Passivität hervor, wie vor allem an der Abgrenzung von Schleiermachers Ausgehen vom unbedingten Abhängigkeitsgefühl ersichtlich wird. Kaftan zufolge ist das Abhängigkeitsgefühl „nur eine und nicht die wichtigste Seite des religiösen Verhältnisses“.441 Die Religion ist wesentlich als Streben nach Lebenserfüllung, die Erfahrung des Göttlichen wesentlich als Transformation und Erfüllung des menschlichen Strebens zu begreifen. Einmal abgesehen von der phänomenologischen Erschließungskraft dieser Bestimmung des religiösen Bewusstseins,442 fragt sich, ob Kaftan somit nicht der radikalen Religionskritik in die Hände spielt, welche die Religion in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse aufgehen sieht und die Objekte religiösen Glaubens als bewusstseinsimmanente Größen bestimmt.443 Diese Kritik erfährt dadurch eine Verschärfung, ————— 441 Kaftan, Wesen, 147; vgl. weiter a.a.O., 139ff. Der Kaftan-Schüler Georg WOBBERMIN nimmt diese Kritik dahingehend auf, dass er die gefühlsphänomenologische Wesensbeschreibung der Religion folgendermaßen ausdifferenziert: „Aus dem religiösen Grundgefühl treten zu dem Abhängigkeitsgefühl das Geborgenheitsgefühl und das Sehnsuchtsgefühl hinzu.“ Ders., Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode 2: Das Wesen der Religion, Leipzig 21925, 221 (Hervorhebung im Original). Zu den theologischen Implikationen dieser Betrachtungsveränderung vgl. Kaftan, Dogmatik, 11, wo er sich gegen eine Vereinseitigung der religiösen Frage als Frage nach dem Woher des Lebens ausspricht, weil „es ebenso sehr oder noch wesentlicher zur Frömmigkeit gehört, in Gott das Ziel (das Wohin) des Lebens zu suchen.“ – In der dogmatischen Durchführung hilft dieser Gedanke einige Fragen zu klären, wie z.B. die nach der Vereinbarkeit eines konsequent vorgetragenen Schöpfungsgedankens mit der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Welt als Konnex endlicher Ursachen: Der christlichen Religion geht es in Anlehnung an die Bibel weniger um die Klärung des Woher eines Einzelgeschehens, als um den Glauben, dass jedes Einzelgeschehen dem göttlichen Zweck dient (vgl. a.a.O., 250–252). Die Betonung des religiösen Sehnsuchtsgefühls läuft in der Dogmatik in folgenden Gedanken aus: Weltüberwindung, nicht Einrichtung in der Welt, ist das Wesen christlichen Glaubens (vgl. a.a.O., 253 u.ö.). 442 Das menschliche Streben nach Lebenserfüllung wird der Bewältigung des erfahrenen Übels übergeordnet, womit auf das im Wesen des Menschen angelegte Sehnsuchtsgefühl hingewiesen ist, welches als prinzipiell unendliches auf religiöse Bewältigung hindrängt. Vgl. hierzu Wolfhart PANNENBERG, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen, 41972, bes. 11. 443 Kaftan verwahrt sich freilich dagegen, „den Spuren Feuerbachs [zu] folge[n]“ (ders., Die Selbständigkeit des Christenthums, ZThK 6, 1896, 373–394, hier: 390, Anm. 1; Hervorhebung im Original), wobei er betont, Feuerbachs Wesensschrift vor Abfassung seiner eigenen nicht gelesen zu haben. Wenn er an anderer Stelle hervorhebt, dass im menschlichen Verlangen nach Gott nicht die Gewissheit des Gottesglaubens begründet werden kann (vgl. ders., Gibt es eine Pflicht des Glaubens, Deutsche Revue 16, 1891, Bd. 3, 338–351 und Bd. 4, 95–109, 3/340), so ist damit die entscheidende theologische Frage aufgerufen, vor welche Kaftans theologische Konzeption angesichts ihres Ansatzes beim Lebensbedürfnis gestellt ist.

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dass sowohl Feuerbachs als auch Nietzsches Religionskonzeption von der Annahme durchdrungen ist, dass die Bedürfnisbefriedigung, welche die Religion ausmacht, auch insofern nicht wahr ist, als sie vom Standpunkt des Lebens in der Welt aus als schlechte zu bezeichnen ist. Sie ist projektivillusorisch (Feuerbach) beziehungsweise lebensfeindlich (Nietzsche) und bedeutet damit Weltflucht. Dieses Religionsverständnis scheint Kaftan dadurch positiv zu verstärken, dass er das Wesen gerade der geistigen Religion ausdrücklich im Ausgehen auf eine überweltliche Wirklichkeit begründet sieht.444 Um Kaftans Entwurf vor dieser doppelten Anfrage zu verantworten, müssen zwei grundsätzliche Linien seiner Konzeption herausgestellt werden: Erstens ist zu zeigen, wie nach Kaftan in der christlichen Religion als geistiger Religion das Verlangen nach Leben, das heißt das in der Religion in der Tat befriedigte Bedürfnis durch die Bedürfnisbefriedigung selber sublimiert wird. Damit ist in der Wesensbestimmung des Christentums zwar bei der faktischen menschlichen Bedürftigkeit anzusetzen, aber zugleich kann gezeigt werden, dass es als Religion gerade nicht in der Befriedigung natürlicher Bedürfnisse aufgeht, indem es diese nämlich von der Ausrichtung auf die überweltliche Wirklichkeit Gottes her transformiert. Zweitens und daran anknüpfend hebt Kaftan darauf ab, dass die christliche Religion als Religion, das heißt gerade durch jene Ausrichtung auf das Überweltliche, das diesseitige Leben in seinem relativen Wert anerkennt und gestaltet. In der ersten Argumentationslinie ist der Offenbarungsbegriff der geistigen Religionen zu verorten (wobei es nicht darauf ankommen darf, zu behaupten, die radikale Religionskritik sei offenbarungstheologisch zu entkräften, wie es Karl Barth versucht hat).445 Das Wesen geistiger Religion liegt Kaftan zufolge gerade in der Abkehr von den natürlichen Interessen, so dass dem Menschen gleichsam im Licht der Ewigkeit das wahre Wesen der weltlichen Güter als endlicher aufgeht.446 Die Ausprägung des religiösen Gefühls als Endlichkeitsbewusstsein geht einher auch mit einer Umdeutung der natürlichen Übel.447 Offenbarung als Mitteilung des höchsten überweltlichen Guts bedeutet in der geistigen Religion damit, dass dem Menschen seine Zugehörigkeit zur überweltlichen Wirklichkeit Gottes bewusst wird, worin die Emanzipation von den weltlichen Gütern begründet ist. Der Ort ————— 444 Vgl. Kaftan, Askese, 7. 445 Vgl. nur Karl BARTH, Die kirchliche Dogmatik. Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik I,2, Zürich 1938, 7. 446 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 51 (Hervorhebung im Original): Es wird „im ganzen und auf die Dauer nicht vermieden werden können, daß die große Cardinalfrage aufgeworfen wird: worin besteht das wahre Glück, das höchste Gut des Menschen?“ 447 Vgl. dazu unten Kapitel 3.3.2.

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solcher in Offenbarung begründeter Vergeistigung menschlichen Strebens ist dabei Kaftan zufolge gerade der religiöse Kultus, welcher wie gezeigt seinen funktionalen Ursprung als Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung hat und dann als Beförderung des eigentlich, das heißt: vergeistigten religiösen Gefühls zu stehen kommt. Anschaulich wird dieser Gedanke an Kaftans Gebetsverständnis, welches er bereits im Jahre 1876 in einem Vortrag der Öffentlichkeit vorstellt.448 Dabei setzt er ausdrücklich bei der Bestimmung des Gebets als Bitte an: „Beten ist Bitten.“449 Das Gebet unterscheidet sich dadurch von der „andächtige[n] Betrachtung“,450 dass es zunächst nicht Anbetung oder Lob Gottes ist, sondern die Bedürfnisse des Beters vor Gott bringt. Ausdrücklich betont Kaftan, dass hiermit die Beziehung zwischen Gott und Mensch als eine solche bestimmt wird, die der Mensch von sich aus zu Gott aufnimmt. Während in der „andächtigen Betrachtung“ sich ein Kommen Gottes zum Menschen ereignet, geht das Gebet „von unten nach oben“,451 wie Kaftan in Verwendung räumlicher Metaphorik meint. Damit scheint das Gebet als exemplarischer Ausdruck des Versuchs bestimmt zu sein, die eigenen Bedürfnisse durch Zuwendung zur göttlichen Macht zu befriedigen. Kaftans Darstellung nimmt jedoch eine entscheidende Wendung. Ausgelöst wird diese durch die Behandlung des Problems, wie die naturwissenschaftliche und populär gewordene Vorstellung des weltimmanenten Kausalzusammenhangs mit der Vorstellung zu vereinen ist, dass Gott die Ursache jedes einzelnen Ereignisses ist. Kaftan deutet eine Vereinbarung beider Vorstellungsweisen an, indem er neben das Gesetz von Ursache und Wirkung die Vorstellung des Zwecks stellt.452 Zwar kann jedes Ereignis im Rahmen der kausalgesetzlichen Betrachtung verständlich gemacht werden, doch der Glaubende kann es gleichwohl als „Mittel[...] zum Zweck der Welt, dem alles irdische Geschehen dienen muß“,453 verstehen. Damit aber bringt das Gebet – wenn es nicht als Ausdruck einer vorwissenschaftlichen Weltanschauung zu stehen kommen soll – zum Ausdruck, dass der Glaubende alles ihm Widerfahrende auf Gottes Weltzweck bezieht. In seiner vollendeten Form im Kontext der geistigen Religion bedeutet das Gebet somit, dass der Betende seine eigenen „Zwecke“ in „Gottes ewige[n] Zweck“ einordnet, oder – wie Kaftan in Anspielung auf Jesu Gebet in Gethsemane454 meint – seinen „Willen“ in „Gottes Willen“.455 Dabei wird ————— 448 449 450 451 452 453 454

Kaftan, Die christliche Lehre vom Gebet. Ein Vortrag, Basel 1876. Kaftan, Gebet, 4. Kaftan, Gebet, 5. Kaftan, Gebet, 6. Vgl. Kaftan, Gebet, 7–12. Kaftan, Gebet, 11. Vgl. Mt 26,36–44; Lk 22,39–44.

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„Ruhelos ist unser Herz ...“ – Das eschatologische Wesen der Religion

dem Betenden zugleich seine eigene Bestimmung als eingeschlossen in Gottes Zweck mit der Menschheit und der Welt im Ganzen bewusst. Das heißt für das Formulieren der individuellen Lebensbedürfnisse im Gebet: [W]as immer wir bitten, das muß in Beziehung treten zu diesem festen Punkt, unserem höchsten Zweck, welcher eingeschlossen ist in Gottes ewigem Zweck.456

Die entscheidende Voraussetzung eines solchen Gebetsverständnisses ist, dass dem Menschen die Erkenntnis von „Gottes ewigem Zweck“ gegeben ist. Solche Erkenntnis ist, wie in Kapitel 4 eingehender darzulegen ist, nur möglich als Offenbarungserkenntnis.457 So meint Kaftan in seinem Vortrag zum Gebet: Einzig durch die göttliche Offenbarung in Christo können wir den höchsten Zweck der Welt im Reiche Gottes erkennen.458

In Zusammenhang mit dem, was oben zur Offenbarung als Mitteilung des höchsten Guts und somit des Gottesreichs gesagt wurde, ist zu schließen: In der glaubenden Teilhabe am Gottesreich schon jetzt erfährt der Einzelne, dass seine eigene Bestimmung in die Bestimmung von Menschheit und Welt zum Gottesreich einbezogen ist. Das Gebet bedeutet, dass der Einzelne seine eigenen Lebensbedürfnisse vor dem Hintergrund jener Erfahrung neu versteht. Im Idealfall treten dem Betenden „die einzelnen und kleinen Interessen für unsere Werthschätzung hinter dem großen Hauptinteresse, hinter unserer ewigen Bestimmung, um deren willen wir selber sind“,459 zurück. Das so verstandene Gebet ist damit zum einen der Ausdruck religiöser Vergeistigung, zum anderen aber auch ihr immer neuer Generator, indem der Mensch betend seine Lebensbedürfnisse von seiner ewigen Bestimmung her verstehen lernt und so den Blick von den natürlichen Gütern zu dem einen höchsten Gut wendet. Damit zeigt sich auch im Blick auf Kaftan Gebetsverständnis: Der Glaube, wie er im Gebet seinen Ausdruck findet, und die ihn begründende Offenbarung sind entsprechend der eschatologischen Wesensbestimmung der christlichen Religion nur eschatologisch zu verstehen. Sie sind in der überweltlichen Wirklichkeit Gottes begründet, welche von der Zukunft her kommend sich in der Gegenwart manifestiert. Die eschatologische Qualität der Offenbarung drückt sich darin aus, dass Kaftan diese als übernatürlich bezeichnet, die eschatologische Qualität des Glaubens liegt darin, dass ————— 455 456 457 458 459

Alle Zitate: Kaftan, Gebet, 14. Kaftan, Gebet, 15. Vgl. unten Kapitel 4.2.6. Kaftan, Gebet, 13. Kaftan, Gebet, 18f.

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dieser die weltüberhebende Teilhabe am Leben Gottes bedeutet.460 Dass Kaftans Theologie ihr Prinzip darin hat, die in der Offenbarung vermittelten Glaubensgehalte der christlichen Religion vom menschlichen Lebensverlangen her zu entfalten, bedeutet mithin den Versuch eines „anthropologischen Ausweises für die Themen der Eschatologie“,461 wie es sich besonders deutlich in der prominenten Stellung des Lebensbegriffs zeigt. Der Lebensbegriff beschreibt allerdings nicht den Grund der christlichen Religion; dieser ist allein offenbarungstheologisch zureichend zu bestimmen. Zweitens liegt, wie bereits in der ausdrücklichen Fundierung der Religion im natürlichen Leben zum Ausdruck kommt, in der Ausrichtung des religiösen Bewusstseins auf die eschatologische Wirklichkeit Gottes eine Wertschätzung auch des Lebens in der Welt begründet, deren Tragfähigkeit sich in ethischer Weltgestaltung, nicht in Weltflucht äußert.462 Wie Kaftan gerade von seiner eschatologischen Wesensbestimmung der christlichen Religion aus eine christliche Ethik entwirft, ist im nächsten Kapitel darzustellen. Hier ist der letzte Grund einer solchen Ethik anzuzeigen, welcher darin liegt, dass Kaftan einen Entwurf präsentischer Eschatologie vorlegt: Die christliche Religion hat ihren Ursprung in der Präsenz des Ewigen in der Zeit, was nicht lediglich für ihre historische Entstehungssituation gilt, sondern auch für die Formation des Glaubensbewusstseins in der Gegenwart. Sie bildet diesen Ursprung in allen ihren Inhalten ab, weshalb für Kaftans Dogmatik gezeigt werden konnte, dass diese in ihren Topoi das eschatologische Thema variiert. Wenn Kaftan in der Auslegung des Wirkens Jesu als Vergegenwärtigung des zukünftigen Gottesreichs in der Zeit stellenweise den Gedankenfiguren der späteren Dialektischen Theologie vorgreift,463 so ist allerdings festzustellen, dass er die präsentische Eschatologie nicht als Reflexion der menschlichen Zeiterfahrung entwirft.464 Vielmehr wird die präsentische Eschatologie strikt christologisch-soteriologisch entfaltet.465 Das heißt: Im Glauben an den auferstandenen Christus ereignet ————— 460 Zu Offenbarung und Glaube vgl. unten Kapitel 4.2.6. 461 PANNENBERG, ST III, 584 (Hervorhebung im Original). 462 Kaftan spricht sich explizit gegen weltflüchtige religiöse Tendenzen aus; vgl. ders., Dogmatik, 152; ders., Askese u.ö. 463 Vgl. zu Barth, Tillich und Bultmann oben Kapitel 1.1. 464 Vgl. SCHWÖBEL, Eschatologie, 467 zu den Problemen, die die Verortung der Eschatologie in der menschlichen Zeiterfahrung mit sich bringt. Kaftan begründet seine Zurückhaltung gegenüber einer prinzipiellen Reflexion auf das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit erkenntniskritisch; vgl. ders., Zur Dogmatik, 183. 465 Vgl. später die eschatologischen Entwürfe Robinsons und Krecks, deren Anliegen darin liegt, die Blickrichtung von to eschaton auf ho eschatos zu verschieben und so der personalchristozentrischen Eschatologie des Neuen Testaments Rechung zu tragen; vgl. John A.T. ROBINSON, In the End God. A Study of the Christian Doctrine of the Last Things, London 1968, z.B. 56 sowie Walter KRECK, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, München 1961.

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„Ruhelos ist unser Herz ...“ – Das eschatologische Wesen der Religion

sich die Erfahrung des Ewigen in der Zeit. In dieser Erfahrung erfüllt sich das individuelle Lebensverlangen des Einzelnen in proleptischer Weise, indem er der zukünftigen persönlichen Teilhabe am ewigen Leben Gottes gewiss wird. Dass solchermaßen die Lebensbedürfnisse des Individuums in die christliche Religion aufgenommen und gerade nicht in lebensfeindlicher Weise negiert sind, betont Kaftan, indem er die natürlichen Güter des Lebens als „Symbol einer anderen Welt“466 bezeichnet. Er will damit verdeutlichen, dass dem Christen die natürlichen Lebensgüter nicht um ihrer selbst willen Bedeutung haben, sondern weil sie in ihrer Endlichkeit auf das ewige Leben in Gott als unendliches Gut verweisen. Dass der Einzelne die von ihm persönlich erstrebten Güter tatsächlich in dieser Ewigkeitsperspektive zu sehen lernt, ist wiederum Sinn des Kultus. Oben wurde bereits angedeutet, dass im kultischen Vollzug die Vergeistigung der Gottesvorstellung anhebt.467 Aus einem Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung wird das kultische Ziel der Teilhabe am Leben Gottes zum Selbstzweck, weil in dieser Teilhabe die höchste Lebenserfüllung erfahren wird. War es eben noch das Gebet, an welchem die geistige Dimension der christlichen Religion deutlich wurde, so sind es hier die Sakramente als genuin christlicher Kultus. In ihrem Vollzug wird dem Glaubenden die Teilgabe am ewigen Leben in der Zeit erfahrbar, so dass er vom kultischen Vollzug her der zukünftigen Lebenserfüllung vergewissert wird und das Leben in der Zeit in diese eschatologische Erfüllungsperspektive hineinnimmt.468 Damit stellt Kaftan den christlichen Glauben als die Bearbeitung der religiösen Frage schlechthin dar, welche eingangs als die Frage nach Leben und Tod bezeichnet wurde. Im Zentrum des christlichen Glaubens, wie Kaftan ihn vom urchristlichen Auferstehungsglauben her bestimmt, steht die Überwindung des Todes und die Verheißung schlechthinniger Lebenserfüllung. Dass damit zugleich das Leben in der Zeit in eine neue Perspektive, nämlich in die Ewigkeitsperspektive gerückt ist, erweist sich dabei am Weltverhältnis des Christen. Wie die weltenthebende Erfahrung des ewigen Lebens schon jetzt in der Zeit den Christen Kaftan zufolge zugleich wieder in die Welt einstellt, ist im nun folgenden Kapitel zu zeigen.

————— 466 Kaftan, Die Religion als Privatsache, Die Hilfe 1, 1895, 2f, hier: 1. 467 Vgl. oben 2.2.3. 468 Vgl. zu Kaftans Verständnis von Taufe und Abendmahl vgl. unten Kapitel 4.2.1.

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3. „Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral „Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral Hinführung: Moral ohne Gott?

3.1 Hinführung: Moral ohne Gott? Sowohl im Blick auf die Tradition des Christentums als auch angesichts der lebensweltlichen Situation derjenigen, die sich diese Tradition im eigenen religiösen Vollzug aneignen, fragt sich, wie Kaftan mit seiner mystischeschatologischen Wesensbeschreibung des Christentums Fragen der Weltorientierung und -gestaltung des religiösen Subjekts vermittelt. In anderen Worten: Es stellt sich die Frage, ob Kaftan, wenn er diejenigen Momente des christlichen Glaubens betont, welche auf Abkehr von der Welt beziehungsweise dem Leben in der Welt drängen, eine christliche Ethik konzipieren kann. Diese Frage wird dadurch zugleich kontextualisiert und radikalisiert, dass Kaftans Wesensbeschreibung des Christentums der radikalen Religionskritik und ihrem Vorwurf der Lebensfeindlichkeit in die Hände zu spielen scheint. Eine besondere Herausforderung für Kaftan stellt allein aufgrund der Stellung des Lebensbegriffs die Christentumskonzeption Nietzsches dar, welche abgesehen von aller ausweisbaren Affinität zu spezifisch christlichen Topoi das Christentum durchgängig als eine eminent lebensverneinende Macht1 vorstellt. Auch aus räumlichen und persönlichen Gründen sah Kaftan sich mit der Philosophie Nietzsches in besonderem Maße konfrontiert: Basel war längere Zeit gemeinsamer Arbeits- und Wohnort, und Kaftan weist darauf hin, dass er Nietzsche zu Gesprächen in Sils-Maria getroffen hat.2 Diese Gespräche scheinen nicht nur Kaftan, sondern auch Nietzsche beeindruckt und beschäftigt zu haben.3 Früh, das heißt vor der

————— 1 Das Christentum hat nach Friedrich NIETZSCHE „ein Ideal aus dem Widerspruch gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht“ gemacht (ders., Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888/89], in: KSA 6, München 1999, 165–254, 171; Hervorhebung im Original), indem es als „die Religion des Mitleidens“ (a.a.O., 172; Hervorhebung im Original) gegen die selektive Kraft des Lebens selber wendet. Vgl. zu Nietzsches Christentumskritik Kaftan, Werkstatt, 21f, 24f, 28f. 2 Vgl. Kaftan, Diesseits von Gut und Böse, ChW 10, 1896, 320. 3 Curt P. JANZ meint in seiner Nietzsche-Biographie: „Das entscheidende Ereignis [während Nietzsches Aufenthalt in Sils-Maria 1888] war die Wiederbegegnung mit Kaftan nach nun bald zehn Jahren.“ (Ders., Friedrich Nietzsche Biographie in drei Bänden, München/Wien 1978, Bd. II, 619.)

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

intensiven theologischen und philosophischen Auseinandersetzung mit dessen Werk kommentiert Kaftan Nietzsches Denken in fünf Aufsätzen.4 Wie sein Denken überhaupt, so ist auch Nietzsches Religions- und Christentumskritik nur schwer zusammenfassend auf den Punkt zu bringen; zu vielschichtig und zuweilen widersprüchlich sind die negativen Bezugnahmen auf die Religion, von der Frage einer impliziten Religiosität Nietzsches selber ganz zu schweigen.5 Insofern kann Kaftans Auseinandersetzung mit Nietzsche hier auch nicht an einer kohärenten Gesamtinterpretation Nietzsches überprüft werden, sondern es sollen jene Momente des Denkens Nietzsches in den Fokus genommen werden, welche Kaftan selber aufgegriffen hat und an deren Interpretation durch Kaftan dessen eigene philosophische und theologische Intention deutlich wird. Dementsprechend ist nicht zu fragen, ob Kaftan Nietzsches Denken im Ganzen – wenn dieses Denken im Sinne eines einheitlichen überhaupt zu erfassen ist – richtig verstanden hat, sondern inwiefern gewisse Aspekte dieses Denkens Kaftan in der Entwicklung seines eigenen theologischen Entwurfs herausgefordert haben. Ferner soll dieser Entwurf nicht als erfolgreiche Widerlegung der Religions- und Christentumskritik Nietzsches aufgebaut werden, sondern es interessiert, wie Kaftan angesichts der geistesgeschichtlichen und kulturellen Situation, welche in Nietzsche einen hervorragenden Diagnostiker gefunden hat, den christlichen Glauben plausibel zu machen und seine existentielle Tragfähigkeit darzulegen versucht. Um nicht im somit umrissenen weiten Feld von geschichtlicher Situation, Nietzsches Denken und Kaftans Rezeption dieses Denkens die Orientierung zu verlieren, sollen die genannten Momente aus den Schriften Kaftans, welche sich mit Nietzsche beschäftigen, rekonstruiert und in Zusammenhang mit Kaftans eigenem theologisch-philosophischen Entwurf gebracht werden. Damit sind folgende Fragen aufgegeben: Welcher situativen Herausforderung sieht sich Kaftan gegenüber, wenn er seine Wesensbeschreibung der christlichen Religion von der Eschatologie her, sprich: von den Momenten der Abkehr von der Welt her konstruiert? Inwiefern ist ihm Nietzsche dabei ein Gesprächspartner, dessen Kritik die Profilierung der eigenen Theologie provoziert? Und ————— 4 Vgl. die im Folgenden besprochenen Aufsätze. Zur theologischen Rezeption Nietzsches vgl. v.a. Tom KLEFFMANN, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003 sowie weiter Daniel MOURKOJANNIS, Ethik der Lebenskunst. Zur Nietzsche-Rezeption in der evangelischen Theologie, Münster/London 2000. 5 Vgl. dazu KLEFFMANNs Ausführungen zu den herausragenden Weisen nichtakademischer und akademischer Reaktionen auf Nietzsches Denken vor dem Ersten Weltkrieg: ders., Nietzsches Begriff des Lebens, 335–354; dabei besonders zu E. Arnold, F. Rittelmeyer u.a., welche Nietzsche „als religiöse[n] Mensch[en] verteidig[en]“ (a.a.O., 341), und zu dem durch den Apostolikumsstreit 1892 bekannt gewordenen Pfarrer C. Schrempf, der die „These einer verborgenen Christlichkeit Nietzsches“ (a.a.O., 353) vorträgt.

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Hinführung: Moral ohne Gott?

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wie entwirft Kaftan eine Theologie, die der Kritik der Welt- und Lebensfeindlichkeit des christlichen Glaubens eine Apologie seiner ethischexistentiellen Tragfähigkeit entgegensetzt?6 Im Jahr 1896 tritt Kaftan erstmals mit Arbeiten zum Denken Nietzsches an die Öffentlichkeit. In der Christlichen Welt erscheinen zwei Artikel, die schon im Titel darauf hinweisen, dass es Kaftan in der Auseinandersetzung mit Nietzsche weniger um dessen frontalen Angriff gegen das Christentum geht, wie er im Antichristen einen ausgesprochen polemischen Ausdruck findet, als vielmehr um die Moralphilosophie Nietzsches, welche der Grund seiner Christentumskritik ist.7 Der erste der beiden Artikel trägt die Überschrift Eine neue Moral8 und beschäftigt sich nur indirekt mit der Philosophie Nietzsches selber, da es um ein Anwendungsbeispiel für diese geht: 1895 hat der Sozialdarwinist A. Tille in einer Schrift mit dem Titel Von Darwin bis Nietzsche den Anspruch erhoben, aus der Ethik Nietzsches eine „neue Moral“ zu entwickeln und so den Weg zur Schaffung des „Übermenschen“ zu weisen.9 Wie genau Tille diesen Anspruch einzulösen versucht, indem er aus der Anwendung des Darwinschen Evolutionsprinzips der Selektion auf die Übermensch-Philosophie Nietzsches die materialen Bestimmungen der „neuen Moral“ gewinnt, interessiert hier nicht. Kaftan selber stellt fest, dass die Schrift Tilles schon aus der Perspektive Nietzsches als analytisch verzerrendes Destillat der impulsiv-vitalen ZarathustraPhilosophie und damit als lächerlich zu beurteilen ist: „[A]us dem lachenden Löwen ist ein geduldiges Grautier geworden, das sie an den Wagen ihrer Gelehrsamkeit spannen.“10 Und so schließt er denn den Artikel mit ————— 6 Indem Kaftans Auseinandersetzung mit Nietzsches als differenzierte Auseinandersetzung wahrgenommen wird, ist der einseitigen Kritik Franz OVERBECKs an Kaftans Nietzsche-Verständnis widersprochen. Overbeck verweist in seinen Notizen zu Nietzsche auf die Rezension des Kaftanschen Aufsatzes Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral durch H. GALLWITZ (PrJ 88, 1897, 324ff), welcher „die besondere Dürftigkeit und Unzulänglichkeit der Arbeiten der Theologen“ O. Ritschl und Kaftan feststellt. Kaftans Aufsatz sei, so Overbeck dann, ein „seltsam aus thörichter Leichtfertigkt [sic!] und zuversichtlichstem Theologenbewusstsein gemischtes kleines Manifest des ‚christl. Herrenthums‘.“ (OWN 7/2: Autobiographisches. „Meine Freunde Treitschke, Nietzsche und Rohde“, 195; vgl. 114.) Dagegen wird hier die These vertreten, dass Kaftan die Ideenwelt Nietzsches konstruktivkritisch für den Entwurf der eigenen Theologie heranzieht und sich dabei sowohl der Übereinstimmungen mit als auch der Differenzen zu Nietzsche bewusst ist. Vgl. ähnlich Raoul RICHTER, Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk. Sechzehn Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Leipzig, Leipzig 1909, bes. 11. 7 Vgl. dazu die Einordnung der Christentumskritik Nietzsches als nur eines Moments seines „Kampf[es] gegen alles, was der wirklichen Welt eine vermeintlich wahre Welt entgegenstellt und jene dadurch entwertet.“ (Kaftan, Werkstatt, 27; vgl. weiter 43.) 8 ChW 10, 1896, 103–110. 9 Vgl. Alexander TILLE, Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik, Leipzig 1895. 10 Kaftan, Eine neue Moral, 106. Vgl. a.a.O., 107 im Bild der Kulissen, welche Zarathustra vor dem staunenden Auge aufrichtet: „[W]enn nun die Jünger des Zarathustra kommen und das

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

dem Hinweis ab, nur „eine ernsthafte Forderung“11 sei aus der Schrift Tilles zu ziehen: Der Gegensatz zwischen dem Christentum und der humanen Moral, die in Sachen der Sittlichkeit des Gottesglaubens entraten zu können meint, ist noch keineswegs erloschen. Im Gegenteil!12

Mit dem Hinweis auf die Kontroverse zwischen einer „humanen Moral“, welche eine dezidiert a-theistische Ethik begründen will und auch zu können meint, und dem Christentum benennt Kaftan den geistesgeschichtlichen Hintergrund, vor dem er sich mit der Moralphilosophie Nietzsches auseinandersetzt. Tilles der Lächerlichkeit preisgegebener Entwurf ist ihm das „kleine Husten“,13 welches noch nicht selber der von Zarathustra verheißene „Sturmwind“14 ist, der die „Umwertung aller Werte“ herbeiführt – welcher aber daran gemahnt, dass ein solcher „Sturmwind“ kommen kann, und wenn er kommt, die Werte der so genannten humanen Moral zugrunde richten wird. Kaftan nimmt hier Bezug auf Entwürfe einer Moral, welche sich von jeglicher positiver Religion emanzipiert und ihre Maximen als solche begreift, die intersubjektiv zu finden und allein der menschlichen Vernunft auseinander zu setzen sind. Diese Entwürfe einer ethisch-sozialen Form des Humanismus finden gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt Resonanz. So ist ein Beispiel ihrer Institutionalisierung in der Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur zu sehen, welche 1882 gegründet wurde, und auf welche unter anderen Kaftan vermutlich anspielt, wenn er feststellt: Neuerdings tauchen die Gemeinschaften für ethische Kultur und wie sie sonst heißen als eine Art neuer Sekten auch in deutschen Landen auf.15

————— Ding analysieren und auf eine graue Regel bringen und uns vor die letzte große Kulisse führen, auf der nichts mehr gemalt ist, und uns sagen: Das ist es, hier soll man anbeten! – dann wissen wir uns nur mit der unauslöschlichen Heiterkeit zu retten, die solches Gebahren verlangt. Und wenn Zarathustra unter uns wäre […] – ob er nicht mit uns lachen würde?“ Und schließlich a.a.O., 109: „Dieses ‚kleine Husten‘ kann den Sturmwind nicht ersetzen, den uns Zarathustra verheißen hat.“ 11 Kaftan, Eine neue Moral, 109 (Hervorhebung von C.C.). 12 Kaftan, Eine neue Moral, 109. – Die Klärung der Kaftanschen Verwendung des Begriffs „Sittlichkeit“ erfolgt im Zuge der Rekonstruktion entsprechender Texte Kaftans. Es wird sich zeigen, dass es gerechtfertigt ist, „Sittlichkeit“ und „Moral“ bzw. „Moralität“ in der KaftanRekonstruktion als Synonyme zu verwenden, wobei diese Begriffe von jenem der „Sitte“ i.S. der in einer sozialen Gruppe habitualisierten, konventionellen Handlungsmuster und von jenem der „Ethik“ i.S. der theoretischen Behandlung moralischer Fragen zu unterscheiden sind. Vgl. zu Kaftans Unterscheidung zwischen Ethik auf der einen und Moral bzw. Sittlichkeit auf der anderen Seite: ders., Eine neue Moral, 104. 13 Kaftan, Eine neue Moral, 109. 14 Kaftan, Eine neue Moral, 109. 15 Kaftan, Eine neue Moral, 109. Weiterhin kann Kaftan auch an den von Rudolph Penzig (1855–1931) geleiteten Verlag für ethische Kultur und dessen seit 1893 erscheinende Zeitschrift Ethische Kultur gedacht haben. Vgl. zu dezidiert nicht-christlichen Theorie- und Gruppenbildungen im Bereich ethischer Lebensgestaltung ab 1870 im Kontext einer sich vom Christentum

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Hinführung: Moral ohne Gott?

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Warum nun meint Kaftan, dass ein Programm wie das Tilles den Anhängern einer „humanen“16 Moral „die Augen öffne[n]“17 könnte? Kaftans Kritik an jener Moral ist in der Hauptsache die Enthüllung ihrer eigentlichen Grundlagen. So meint er, dass sie „ein spätes Gewächs in dem Garten der christlichen Religion“18 ist, dass mithin die die „humane“ Moral ausmachenden Werte wie „Gleichheit und Brüderlichkeit“19 im christlichen Glauben wurzeln. Näherhin gründen sie in der christlichen Vorstellung von Gott, der jene Werte als seinen Willen offenbar macht. Wie genau Kaftan eine solche Begründung von moralischen Werten in der Gottesvorstellung denkt, ist später nachzuvollziehen. Hier ist festzuhalten, was am deutlichsten im von Kaftan im Anschluss an Nietzsches Zarathustra eingeführten Bild des Sturmwindes ausgedrückt werden kann:20 Da die Werte der „humanen“ Moral ihrem christlich-religiösen Bodens entrissen sind, können sie gleich entwurzelten Bäumen weggetragen werden, wenn wie ein Sturmwind die „Umwertung“ aller und damit auch jener humanen Werte gefordert und vollzogen wird. Dann können die Gebote des Mitleids und der Nächstenliebe, die Werte der Gleichheit und Brüderlichkeit nicht einer Ersetzung durch „das Gesetz der natürlichen Auslese“21 und seiner materialethischen Konsequenzen22 standhalten.23 Der tiefere Grund dafür, die humanen Werte als kraftlos anzusehen, wenn sie vom christlichen Gottesglauben losgelöst auftreten, wird von Kaftan im zweiten der erwähnten Beiträge in der Christlichen Welt angedeutet.24 Der Aufsatz beschäftigt sich unter dem Titel Diesseits von Gut und Böse mit der Forderung Nietzsches nach einem transmoralischen „Jenseits

————— emanzipierenden Kultur Werner ELERT, Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München 1921, v.a. 328–350 im Rahmen von 307–365. 16 Im Folgenden wird die von Kaftan als Gegenbild der eigenen christlichen Ethik zeitdiagnostisch konstruierte Ethik, welche religiöser Grundlagen völlig entraten zu können meint, als „humane“ Ethik bezeichnet. Damit soll der Einstieg in die Diskussion des weiten Feldes des Humanismus und dessen christlicher Grundlagen ebenso an andere Stelle verwiesen werden wie die Frage, ob Kaftan den Humanismus in seiner geistesgeschichtlichen Entwicklung angemessen würdigt. Im Folgenden geht es um Kaftans Intention, von welcher her Schlussfolgerungen für das eigentlich interessierende Thema, Kaftans Konzept des Verhältnisses von christlicher Religion und Ethik, zu ziehen sind. 17 Kaftan, Eine neue Moral, 109. 18 Kaftan, Eine neue Moral, 109. 19 Kaftan, Eine neue Moral, 109. 20 Vgl. NIETZSCHE, Also sprach Zarathustra II, 1. Kap., vgl. KSA 4, 106f. 21 Kaftan, Eine neue Moral, 105. 22 Vgl. dazu Kaftan, Eine neue Moral, 106–109. 23 Vgl. dazu auch Kaftan, Ein neues Dogma, 75f. 24 Vgl. Kaftan, Diesseits von Gut und Böse, ChW 10, 1896, 320–326.

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

von Gut und Böse“.25 Kaftan legt dieses Ziel des „Jenseits von Gut und Böse“ als Gegenstand genuin christlicher Glaubenshoffnung aus, indem er es als „die Region“ versteht, „in der das Ziel der sittlichen Entwicklung liegt“, als „das Leben in Gott ohne Schatten und Flecken“.26 Vor diesem Interpretationshintergrund versucht er zu zeigen, dass Nietzsches Werbung dafür, die christlich-humane Moral des „Gut und Böse“, die „SklavenMoral“,27 zugunsten der lebendigen, kraftvollen Machtentfaltung zu überwinden,28 ihren letzthin transmoralischen Anspruch nicht einlösen kann. Vielmehr bedeutet die „Herren-Moral“,29 deren Kennzeichen der Gegensatz von „Gut und Schlecht“30 ist, eine „Entwicklungsstufe[...] der moralischen Beurtheilung und Bethätigung“,31 welche im Vergleich zur „SklavenMoral“ ein moralgeschichtlicher Rückschritt ist. Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“ nimmt die Kennzeichen der „Herren-Moral“ in sich auf, welche bei Nietzsche schließlich selber aus einer Beschreibung sozialer Ursprünglichkeit abgeleitet wird.32 Kaftans Anspruch besteht somit darin zu zeigen, dass Nietzsches „Herrenmoral“ keineswegs eine transmoralische Lebensform, sondern ihrerseits eine Moral des „Diesseits von Gut und Böse“33 ist, und zwar eine gegenüber der „Sklaven-Moral“ moralgeschichtlich zurückfallende.34 Ob er damit den moraltheoretischen Entwurf Nietzsches zutreffend beurteilt, sei dahingestellt. Wichtig ist hier, dass Kaftan Nietzsches Entwurf des transmoralischen „Jenseits von Gut und Böse“ in entscheidender Perspektive würdigt. Dieser Entwurf stellt nämlich ein „Problem des inneren Lebens“35 vor Augen, welches Kaftan zufolge jegliche Moralphilosophie zu beachten hat: Nehmen wir die Moral von Gut und Böse für sich mit ihren strengen Geboten der Gerechtigkeit und Liebe, der Zucht und Entsagung – was wird dann aus dem Ich, aus dem Selbst mit seinem überquellenden Verlangen nach Leben und Macht, nach Auswirkung der eignen Kraft und Darlebung des eignen, eigentümlichen Lebensinhalts?36

————— 25 Kaftan, Diesseits, 320. Vgl. für NIETZSCHE v.a. ders., Jenseits von Gut und Böse, Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), in: KSA 5, 9–243, sowie ders., Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), in: a.a.O., 245–412. 26 Beide Zitate: Kaftan, Diesseits, 323. 27 NIETZSCHE, Genealogie, 271. 28 Vgl. hierfür z.B. NIETZSCHE, Genealogie, 228. 29 NIETZSCHE, Jenseits, 208 (im Original hervorgehoben). 30 NIETZSCHE, Genealogie, 257 u.ö. 31 Kaftan, Diesseits, 325 (Hervorhebung von C.C.). 32 Vgl. NIETZSCHE, Genealogie, 257–281. 33 Kaftan, Diesseits, 325 (Hervorhebung von C.C.). 34 Vgl. hierzu weiter Kaftan, Das Gewissen, 19–21. 35 Kaftan, Diesseits, 325. 36 Kaftan, Diesseits, 325.

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Hier wird nicht nur deutlich, weshalb Kaftan die „humane“ Ethik, die Moral ohne Gottesglauben, einer Kritik unterzieht, sondern auch, inwiefern Nietzsches Denken für ihn eine Quelle der theologischen Inspiration sein kann – und wohin ihn diese Inspiration führt: Es ist der Gedanke der menschlichen Persönlichkeit37 und ihres Anspruchs auf Lebenssteigerung, welcher Kaftan zufolge von der „humanen“ Ethik bloß postuliert, nicht begründet oder gar verwirklicht wird, und der dagegen in Nietzsches Lebensphilosophie und der an sie anknüpfenden „Herrenmoral“ ins Zentrum tritt.38 Im obigen Zitat weisen die synonym verwendeten Begriffe „Ich“ und „Selbst“ auf den Wert hin, den der einzelne Mensch in seiner Individualität darstellt – und das heißt bei Kaftan: in der einmaligen Ausprägung des allgemein menschlichen Verlangens nach Leben, welches als Eingeständnis an Nietzsche hier zugleich als Verlangen nach Macht und Betätigung der eigenen Lebenskraft ausgelegt wird. Hiermit ist die Idee der Persönlichkeit, welche, wie im vorangegangenen Kapitel gesehen, ein integrales Moment des christlichen Gottesbegriffs ist, auf einer ersten Ebene näher zu bestimmen als die Idee vitaler und individueller Selbstbestimmtheit des Menschen. Freilich erfährt diese erste Ebene bei Kaftan sodann eine Überbietung durch eine dezidiert ethische Bestimmung der menschlichen Persönlichkeit im Kantschen Sinne.39 Das Problem, welches nun weder „humane“ Ethik noch Nietzsches Moralphilosophie lösen können, ist das Problem der Vermittlung zwischen dem Lebensverlangen der einzelnen Persönlichkeit und den Werten der Sozialität, zwischen Individuum und Gemeinschaft: Das individuelle Lebensverlangen und die Auswirkung der individuellen Kraft zur Durchsetzung dieses Verlangens stößt an die Grenzen, welche die Existenz anderer Individuen und die sozialen Normen diesem setzen. Kaftan stellt sich zunächst bewusst auf eine gemeinsame Argumentationsbasis mit Nietzsche, ————— 37 Nach GRAF, Protestantische Theologie, 17, weist der Persönlichkeitsbegriff auf den „höchste[n] kulturelle[n] Leitwert der liberalen Bildungsprotestanten“ hin, welchen diese im Zuge der Gestaltwerdung des neuen Reiches in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahrhunderts als genuin protestantischen Beitrag zur Gesellschaftsgestaltung einzubringen bemüht waren. Vgl. auch a.a.O., 31f zur „gegenwartskritische[n] Zuspitzung“ (31) jenes Leitwerts der Persönlichkeit angesichts der als Anonymisierung und Vermassung wahrgenommenen Industrialisierung und Verstädterung der Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. 38 Zum Lebensbegriff bei Nietzsche vgl. besonders eindrücklich KLEFFMANN, Nietzsches Begriff des Lebens, 57–331. Was allerdings Kaftans Nietzsche-Rezeption betriff, so berücksichtigt KLEFFMANN das über den Lebensbegriff vermittelte Zusammentreffen der denkerischen Intentionen Nietzsches und Kaftans nicht, weshalb sein kritisches Urteil über Kaftans Nietzsche-Rezeption äußerst knapp ausfällt (vgl. ders., Nietzsches Begriff des Lebens, 344f). Dabei ist zu bemerken, dass Kleffmann nur auf die expliziten Stellungnahmen Kaftans zu Nietzsche eingeht und diese nicht in die Gesamtkonzeption Kaftans einstellt, von welcher her dessen Affinität zu Nietzsches Lebensphilosophie und mithin auch sein durch Nietzsches herausgefordertes christlich-theologisches Weiterdenken deutlicher wird. 39 Vgl. dazu unten 3.3.4.

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wenn er die Normen der Gemeinschaft, welche die Grenzen individueller Selbstverwirklichung darstellen, zunächst in der Tat als Beschränkung der lebendigen Persönlichkeit begreift. Dementsprechend zeiht er die „humane“ Ethik, welche jene sozialen Normen zum Programm erhebt, der Auflösung der Persönlichkeitswerte zugunsten der sozialen Werte: Die Humanität ohne Gott ist eine enge trockne ausdörrende Philistermoral, nichts für lebendige Menschen mit einem kraftvollen Willen, mit dem Bewußtsein, selbst etwas zu sein und werden zu müssen.40

Die Aufgabe, die sich für Kaftan im Anschluss an solche Gedanken stellt, ist eine Verantwortung des christlichen Glaubens gegenüber der Philosophie Nietzsches, da mit der Herausarbeitung der lebendigen, willensstarken Persönlichkeit als Desiderat der Moral der ethische Entwurf Nietzsches als legitime und möglicherweise dem christlichen Glauben vorzuziehende Option präsentiert wird. Kaftan lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht einfach die Philosophie Nietzsches über den Persönlichkeitsbegriff als verdeckt christliche deuten will, sondern gegen sie vom eigenen Christentumsverständnis her angeht.41 Der Grund dafür ist, dass der christliche Glaube nicht allein am Persönlichkeitsideal – mit Nietzsche –, sondern zugleich – mit der „humanen“ Moral – an den sozialen Werten von Mitleid, Nächstenliebe, Gleichheit und Brüderlichkeit festhält. Diese Werte bedeuten allerdings wie gesehen per se eine Beschränkung der starken Persönlichkeit.42 Kaftan muss mithin gegen Nietzsche zunächst zeigen, inwiefern die sozialen Werte ein dem Persönlichkeitsideal gleichrangiges Desiderat der Ethik sind. Weiterhin muss er zeigen, wie der christliche Glaube zwischen Persönlichkeitsideal und sozialen Werten zu vermitteln imstande ist. ————— 40 Kaftan, Diesseits, 325. 41 Vgl. die kämpferischen Aussagen Kaftans in ders., Eine neue Moral, 110. 42 Es ist im Blick auf den soziohistorischen Kontext des hier umrissenen Problems festzustellen, dass das Problem der Vermittlung von Individualität der Person und sozialer Beschränkung derselben durch die Entwicklungen des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts verstärkt wird. Zeitdiagnostisch sind v.a. die Verstädterung damit einhergehend die Anonymisierung der Lebenswelt sowie die fortschreitende Industrialisierung und verbunden damit die Funktionalisierung der individuellen Person in der Massenproduktion zu nennen. Aber auch die Bewältigungsformen der so entstehenden sozialen Probleme können die Signatur der Vermassung tragen: Der Sozialismus als eine Antwort auf die drängende soziale Frage will jene Probleme – allgemein gesprochen – über die entindividualisierende Einbettung der Person in ein größeres Ganzes angehen. Vgl. zu dieser Zeitdiagnose nur die Essener Tagung des Evangelisch-Sozialen Kongresses, in welchem Kaftan zeitweilig engagiert war (vgl. RATHJE, Protestantismus, 54) und bes. das Referat des Nationalökonomen von Wiese zu Individualismus und Staatssozialismus, über welches Rade das Korreferat hielt (vgl. dazu RATHJE, Protestantismus, 213f). Vgl. später die Herausforderung durch die Religiösen Sozialisten, wie sie auf der Versammlung der EvangelischSozialen Kongresses in Berlin 1920 wahrgenommen wird: Es wird ein Referat von Goetz zu Masse und Persönlichkeit gehört, über das Tillich das Korreferat hält (vgl. RATHJE, Protestantismus, 286).

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Dass dies zu leisten das Hauptziel der christlichen Ethik ist, wird ebenfalls am Schluss des gerade herangezogenen Aufsatzes deutlich, wenn Kaftan postuliert: Das ist der christliche Glaube! In ihm ist das Problem gelöst, wie wir in der moralischen Entwicklung uns selbst gewinnen und doch verlieren.43

In diesem programmatischen Ausruf ist angedeutet, in welcher Weise Kaftan die Vermittlung zwischen den Werten der starken Persönlichkeit und den sozialen Werten vom christlichen Glauben her konzipiert. Der christliche Glaube ist der Grund, warum die menschliche Persönlichkeit sich im moralischen Verhalten zwar in der Tat selber verliert, aber gerade so gewinnt. Nicht zufällig erinnert diese paradoxale Formulierung Kaftans nicht nur an das evangelische Wort vom Verlieren und Gewinnen des Lebens in der Nachfolge Christi.44 Es spielt weiter auch auf Luthers Rede von der Freiheit eines Christenmenschen an, welcher zugleich „eyn freyer herr ueber alle ding“ und „eyn dienstpar knecht aller ding“45 ist. Diese Assoziation bestätigend, setzt Kaftan im dritten seiner Aufsätze zur Philosophie Nietzsches nun explizit beim Rekurs auf Luthers Freiheitsschrift an.46 In dieser findet er die Wesensbeschreibung des Christentums, welche dem evangelischen Verständnis christlicher Glaubensexistenz entspricht, und fasst diese Wesensbeschreibung in „zwei Sätze“:47 den ersten, daß wir durch den Glauben Könige sind und Herren aller Dinge, den zweiten, daß wir durch die Liebe jedermanns Knecht sein oder werden sollen.48

Ausgehend von Luthers eingangs der Freiheitsschrift aufgestellter These über des Wesen des Christenmenschen49 lässt Kaftan das Herr- und König————— 43 Kaftan, Diesseits, 326. 44 Vgl. Mk 8,35: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.“ Vgl. weiter Mt 10,39; 16,25; Lk 9,24; 17,33; Joh 12,25. 45 Martin LUTHER, Von der Freiheit eines Christenmenschen. 1520, WA VII, 20–38, hier: 21,1–4 (vgl. ders., Tractatus de libertate christiana. 1520, a.a.O., 49–73; verwiesen wird im Folgenden auf die deutsche Fassung). – Vgl. zur Bedeutung der Theologie Luthers für Kaftans Verhältnissetzung von Religion und Moral auch ders., Erlösung, 122. 46 Vgl. Kaftan, Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, Vortrag gehalten im Berliner Zweigverein des Evangelischen Bundes, Berlin, 1/21897, 31902. 47 Kaftan, Herrenmoral, 3. 48 Kaftan, Herrenmoral, 3. 49 Vgl. die ersten beiden Abschnitte der Freiheitsschrift, in denen Luther zunächst den Christen zugleich als Herren und Knecht bezeichnet, und dann das Herr-Sein der seelisch-geistlichinnerlichen, das Knecht-Sein der leiblich-fleischlich-äußerlichen Dimension des Menschen zuordnet (vgl. WA VII, 20,25–21,17). Dass dies nicht im Sinne eines „Nebeneinanders von unterschiedlichen Hinsichten“, sondern dialektisch gemeint ist, zeigt Joachim RINGLEBEN, Freiheit im Widerspruch. Systematische Überlegungen zu Luthers Traktat „Von der Freiheit eines Christenmen-

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Sein des Christen in dessen Glauben begründet sein,50 dass Knecht-Sein in der Liebe51 – gemeint ist die Liebe zum Nächsten, in der sich die sozialen Werte der Humanität zusammenfassen. Die Unterscheidung dieser zwei Sätze oder „Hälfte[n]“ des „christlichen, evangelischen Grundgesetzes“52 dient Kaftan zur Klarstellung dessen, um was es in der Auseinandersetzung sowohl mit der „humanen“ Ethik als auch mit der Moralphilosophie Nietzsches zu gehen hat: Beide reißen auf je eigentümliche Weise jene beiden Hälften auseinander. Die Humanisten meinen, die in der Nächstenliebe zusammengefassten ethischen Werte der Humanität ohne den christlichen Gottesglauben entfalten zu können; Nietzsche hingegen legt „die Hand auf jene erste Hälfte“ des christlichen Grundgesetzes und wirft „uns die zweite Hälfte ins Gesicht“.53 Was Kaftan mit dem Bild des Ins-Gesicht-Werfen ausdrücken will, dürfte deutlich sein: Nietzsche stellt die christlichhumanistische Ethik und ihr Liebesprinzip als zu überwindende „SklavenMoral“ dar. Inwiefern Nietzsche aber die Hand auf den Gottesglauben legt – das kann nur heißen: sich der Implikate dieses Glaubens bemächtigt – bedarf der Klärung: Es scheint, als wolle Kaftan sagen, dass Nietzsches Philosophie des starken, herrschaftlichen Menschen Luthers Beschreibung des Christenmenschen als Herrn aller Dinge aufnimmt. Klar ist, dass dies nicht ohne entscheidenden Bruch so gesehen werden kann, ist Nietzsche doch umtrieben vom Eindruck des Todes Gottes,54 das heißt von der Destruktion jeglichen Glaubens an eine transzendente, die Welt im Ganzen bestimmende und zugleich überschreitende Wirklichkeit Gottes. Wenn Nietzsche sich der Überzeugung bemächtigt, im Gottesglauben gründe das Herr-Sein der Persönlichkeit, so kann das nur heißen, dass das Objekt jenes Glaubens eine dem Leben in der Welt immanente Größe ist.

————— schen“, in: ders., Arbeit am Gottesbegriff 1: Reformatorische Grundlegung, Gotteslehre, Eschatologie, Tübingen 2004, 3–17, bes. 6–8. 50 Damit fasst er die Abschnitte „Czum dritten“ bis „Czum neuntzehenden“ der Freiheitsschrift zusammen, die von der Freiheit im Glauben handeln (vgl. WA VII, 21,18–30,10). 51 Hiermit bezieht sich Kaftan auf die Abschnitte „Czum zwentzigsten“ bis „Czum xxix.“, in denen Luther die „guten Werke“ des Christenmenschen, die aus seinem Glauben kommen, verhandelt (vgl. WA VII, 30,11–38,5). Insbesondere ist auf den Abschnitt „Czum xxvi.“ zu verweisen: Nachdem Luther zuvor das Verhältnis des Christen zu sich selbst bzw. seinem eigenen Leib beschrieben hat, widmet er sich nun dem Verhältnis zum anderen Menschen, welches durch die Liebe bestimmt sein soll (vgl. WA VII, 34,23–35,19). Vgl. zur „Daseinskonkretion der christlichen Freiheit“ in den guten Werken der Liebe RINGLEBEN, Freiheit im Widerspruch, bes. 11–14. 52 Kaftan, Diesseits, 4. 53 Kaftan, Herrenmoral, 4. 54 Vgl. Friedrich NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“), 1881, 21887, Drittes Buch, Abschnitt 125, KSA 3, 343–651, hier: 480–482.

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In der vierten und ausführlichsten Schrift Kaftans zu Nietzsche, Aus der Werkstatt des Übermenschen55 betitelt, findet sich eine Erklärung, inwiefern Kaftan auch für seine Nietzsche-Auslegung Gottesglauben und Herr-Sein zusammen nimmt. Die hier vorgestellte Zusammenschau des Denkens Nietzsches läuft auf die Interpretation dieses Denkens als „einer Philosophie des Absoluten“ zu, welche Kaftan in einer Analyse der Rede von der „ewigen Wiederkehr“ des Gleichen begründet.56 In dieser Konstruktion des Denkens Nietzsches in Richtung auf „ein zusammenhängendes, aufs Ganze gerichtetes Weltverständnis“, welches „dem Menschen eine überragende Stellung in der Wirklichkeit zuweist“,57 verortet Kaftan sodann den Gottesbegriff Nietzsches: Nietzsche hat jenes Luzifer-Wort: gäbe es einen Gott, wie ertrüge ich es, nicht Gott zu sein, nicht bloß gesprochen, er hat schließlich seine ganze Philosophie darauf zugeschnitten.58

Nach Nietzsche – oder vielmehr nach Zarathustra, der in gewisser Hinsicht59 als Nietzsches alter ego auftritt – beruht die letzthin auch sich selber überwindende Lebenskraft des „Übermenschen“60 auf dem Glauben an sich selbst. Die solchermaßen zugespitzte Deutung der Philosophie Nietzsches in ihrer lebensgeschichtlichen Einbettung wird von Kaftan nun nicht einfach als Selbstüberhebung Nietzsches angegriffen. Kaftan meint vielmehr, dass in der „Philosophie des Absoluten“, wie Nietzsche sie entwirft, „der Form nach uralte christliche, kirchliche Gedanken wiederkehren.“61 Diese Nietzsche-Deutung Kaftans ist keineswegs als christlich-theologische Vereinnahmung der Philosophie Nietzsches zu kritisieren, die über eine solche Argumentationsstrategie die Widerlegung der Christentumskritik Nietzsches versucht. Kaftans Nietzsche-Auslegung ist im Ganzen nicht dadurch bestimmt, Nietzsche als heimlichen Christen zu zeichnen. Wenn die Rede von Nietzsche als „eine[m] der besten Erzieher zur Theologie“,62 die Kaftan ————— 55 Erstmals im Winter 1905 als eine Reihe von Artikeln in der Deutschen Rundschau erschienen; als Separatdruck Heilbronn 1906. 56 Kaftan, Werkstatt, 54. Kaftan, der sich hier im Wesentlichen auf den Zarathustra bezieht, legt Nietzsches Gedanken zur „ewigen Wiederkehr“ (ebd.) als Weltdeutung mit universalem Anspruch aus; eine Auslegung, deren Recht angesichts der Verständnisprobleme, vor die Nietzsches Denken stellt, nicht auf ihre Angemessenheit überprüft werden, sondern nur in ihrer Intention erhellt werden kann. 57 Kaftan, Werkstatt, 55 (im Original hervorgehoben). 58 Kaftan, Werkstatt, 54. Vgl. NIETZSCHE, Zarathustra II, Kap. 2., KSA 4, 110. 59 Vgl. zur partiellen Identifikation Nietzsches mit Zarathustra Kaftan, Werkstatt, 52f. 60 NIETZSCHE, Zarathustra, Vorrede 3., KSA 4, 14 (im Original hervorgehoben) u.ö. 61 Kaftan, Werkstatt, 55. 62 Kaftan, Werkstatt, 3. Es war OVERBECK, der diese Wendung verwendet und behauptet hat, damit Kaftan selber wiederzugeben: „Von Kaftan höre ich, er sei jetzt so weit mit Nietzsche, dass er ihn für einen der besten Erzieher zur Theologie erklärt.“ (Zitiert bei Andreas U. SOMMER,

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in dieser Form allerdings von sich weist, einen Anhalt an Kaftans Nietzsche-Auslegung hat, dann den, dass bestimmte Gedanken Nietzsches christliche Grundüberzeugungen zum Ausdruck bringen, und weiter, dass die abzulehnende Verarbeitung, die diese Gedanken bei Nietzsche selber gefunden haben, die Theologie zur Stellungnahme herausfordern. Die Inversion des Gottesgedankens in die Selbstbeschreibung ist dabei Kaftan zufolge der konsequente Ausdruck des Welt- und Menschenverständnisses Nietzsches. Zugleich bringt er in verkehrender Weise den Anspruch des Christentums zum Ausdruck, wie er in Luthers Freiheitsschrift dargelegt ist, nämlich indem er die Korrelation von Gottesglauben und freier Persönlichkeitsentfaltung offen legt. Bei Nietzsche wird identisch gesetzt, was bei Luther im unaufhebbaren Differenzverhältnis zueinander steht: Gott und die menschliche, freie Persönlichkeit. Dabei wird zugleich aus dem Gottesgedanken die christlich-christologische Idee der Niedrigkeit Gottes eliminiert, wie sie die Rede Luthers von der Knechtschaft eines Christenmenschen fundiert.63 Es kann nun deutlich werden, wie Kaftan die im Liebesbegriff zusammengefassten humanen Werte der christlichen Ethik gegen den „Sturmwind“ der von Nietzsche verkündeten neuen Moral verteidigen will: Er entfaltet die christliche Ethik als Auslegung des Gedankens Luthers von der Freiheit und der Knechtschaft eines Christenmenschen, indem er die Zusammengehörigkeit ihrer beiden „Hälfte[n]“64 exponiert. Dabei gereicht ihm Nietzsches Denken zur Profilierung der ersten Hälfte, der Beschreibung der in Gott gegründeten freien und lebendigen Persönlichkeit. Gegen Nietzsche allerdings hält er an der unaufhebbaren, mehr noch: kategorialen Differenz zwischen Gott und menschlicher Person fest. Es ist, soviel sei vorweggenommen, gerade jene kategoriale Differenz, welche die notwendige Bedingung dafür ist, dass der Christ im Glauben an Gott Herr über alle Dinge ist.65 ————— Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft“ von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, Mit einem Anhang unpublizierter Texte aus Overbecks „Kirchenlexicon“, Berlin 1997, 61, Anm. 63; Hervorhebung im Original. Sommer zitiert aus dem Overbeck-Nachlass der Universitätsbibliothek Basel: NLO, A 232; geglättet auch in Franz Overbeck, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, hg. v. C.A. Bernoulli, in: Die Neue Deutsche Rundschau 17, 1906, 209–231 und 320–330, hier: 224.) Overbeck verurteilt Kaftans angebliches Vorgehen als theologisches „Parasitenwesen“ (ebd.). Hier wird dagegen zu zeigen versucht, dass Kaftan zwar Gedanken Nietzsches aufnimmt, aber nicht in parasitierender Weise. Vielmehr bedeutet Nietzsches Denken Kaftan einen Anstoß, den bereits von andernorts – der eigenen Religionstheorie und den neutestamentlichen Studien – her begründeten Entwurf gleichsam dialogisch zu profilieren. 63 Vgl. der Hinweis LUTHERs auf Gal 4,4 (ders., Freiheit, WA VII, 21,9f) und vor allem die Beschreibung der Knechtsgestalt Christi als Exempel christenmenschlichen Lebens (vgl. a.a.O., 35,12–19). 64 Kaftan, Herrenmoral, 4. 65 Vgl. zur Konstitution der christlichen Freiheit im „absoluten Grund“ – Gott – und zur Dialektik von „externe[r] Begründung der Freiheit“ und ihrer Aneignung am Ort des endlichen

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Dieses Herr-Sein wird sodann gegenüber der Moralphilosophie Nietzsches als eines profiliert, welches den Selbstverlust in der Befolgung der christlich-humanen „Sklavenmoral“ nicht nur erträgt, sondern ihn als korrelatives Element integriert. In anderen Worten: Der in Gott gegründete und sich dabei zugleich von diesem unterscheidende Mensch verliert sein Ich nicht in der Befolgung der christlich-humanen Moral und ihrer sozialen Werte, sondern durch jene gewinnt er es vielmehr.66 Kaftans Moraltheorie ist von der These geprägt, in der moralischen Entwicklung werde der Mensch überhaupt erst zur Persönlichkeit – aber eben nur deshalb (gegen die Humanisten), „weil Gott etwas in [ihn] gelegt hat“.67 Hier ist die hinreichende Bedingung dafür, dass der christliche Gottesglaube zwischen moralischem Selbstverlust und der Verwirklichung individueller Persönlichkeit vermittelt, angedeutet: Nicht nur ist Gott vom Menschen kategorial unterschieden, sondern Gott ist als der Grund menschlicher Persönlichkeit zu explizieren. Es deutet sich an, wie Kaftan die oben aufgeworfene Frage nach dem Weltverhältnis der christlichen Religion, welche wesentlich Erlösung von der Welt bedeutet, zu beantworten sucht: In der Teilhabe an Gottes Leben verwirklicht sich die Bestimmung des Einzelnen als Persönlichkeit. Zugleich betont er, wie oben gesehen, dass dieser eschatologische „Gewinn“ von Persönlichkeit sich in der moralischen Entwicklung und damit vermittels des Weltzusammenhangs ereignet. Damit ist die These vorgetragen, dass die eingangs gestellte Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Ethik von Kaftan nicht als von außen an die Wesensbestimmung des Christentums herangetragene behandelt wird, sondern das Christentum aus sich heraus zur Entfaltung einer Ethik drängt: Nur im moralischen Prozess wird die göttliche Bestimmung des Einzelnen zur Persönlichkeit realisiert. Es ist mithin zu zeigen, dass Kaftan nicht lediglich eine weitere Theorie der religiösen Vermittlung zwischen Anspruch auf Leben oder Glück des Einzelnen auf der einen und der Ethik der Gemeinschaft auf der anderen Seite vorlegt. Vielmehr zieht er jene Ethik in den Gottesgedanken und damit in die Eschatologie ein und begreift sie als notwendige Vollzugsform der christlichen Religion gerade als Erlösungsreligion. In anderen Worten ————— Subjekts RINGLEBEN, Freiheit im Widerspruch, 4–6 und 8–11 (zitiert: 5 und 9). Ringleben hebt hervor, dass Luther in seiner Begründung der christenmenschlichen Freiheit auf die „Einheit des Zusammenhangs und des bleibenden Unterschieds von Grund und Begründetem“ (a.a.O. 9) abhebt. Eben diese Einheit aufzuzeigen, ist auch Kaftans Interesse, wenn er die mystisch verstandene und in unio-Terminologie beschriebene Gottesreichgemeinschaft des Glaubens als in sich differenzierte Einheit beschreibt, in welcher Gott und Mensch je sie selber bleiben, bzw. – wie es für den Menschen zu sagen ist – allererst werden. Vgl. dazu oben Kapitel 2.3.4 und 2.3.5. Hier wird es nun um die ethischen Implikationen dieses Begründungsverhältnisses gehen. 66 „Der Mensch wird nur Mensch unter Menschen.“ (Kaftan, Wesen, 179.) 67 Kaftan, Diesseits, 325.

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lautet die These: Gerade weil der christliche Glaube als mystischeschatologischer wesentlich auf Erlösung von der Welt gerichtet ist, befähigt er Kaftan zufolge das glaubende Subjekt zur Weltgestaltung im ethischen Sinne.68 Um diese These zu begründen, ist der von Kaftan vielfach unternommene Vergleich des Christentums mit den so genannten mystischen Religionen zu untersuchen, die er vor allem im Blick auf die indischen Religionen Buddhismus und Brahmanismus beschreibt. An jenem Vergleich ergeben sich typologische Strukturen geschichtlicher Verhältnissetzung von Religion und Moral. Wie das Christentum, so sind auch die so genannten mystischen Religionen als geistige Erlösungsreligionen zu bezeichnen: Sie gehen auf ein höchstes überweltliches Gut aus, in anderen Worten: suchen die Überwindung der Welt, indem das Lebensverlangen des Gläubigen auf ————— 68 Umgekehrt lässt sich feststellen, dass die Ethik für Kaftan vorzügliches Feld der Apologetik des christlichen Glaubens ist. Vgl. ders., Das sittliche Leben, 98f, 124. Kaftan führt dabei kein System einer materialen christlichen Ethik aus, sondern stellt erstens die Bedingungen der Möglichkeit einer Vermittlung von Religion und Ethik vor, woraus zweitens inhaltliche Grundbestimmungen einer Ethik erwachsen, die als Prinzipien bzw. Leitwerte einer christlich fundierten Materialethik fungieren können. Zu materialethischen Bestimmungen Kaftans, erhoben aus einzelnen Gelegenheitsschriften, vgl. unten 3.3.4. Kaftans Auseinandersetzung mit dem Thema der Ethik zeigt sich bereits in der Themenstellung seiner philosophischen Dissertation von 1872, in welcher er sich der Moraltheorie HERBARTs widmet (Sollen und Sein in ihrem Verhältnis zueinander. Eine Studie zur Kritik Herbarts). Sodann veröffentlicht er seit seinem Eintritt ins akademische Lehramt 1873 kleinere Schriften, die sich ausdrücklich mit KANTs Denken auseinandersetzen, wobei nicht ausschließlich, aber v.a. dessen Moraltheorie entscheidend ist; vgl. Die religionsphilosophische Anschauung Kants (1874), Kants Lehre vom kategorischen Imperativ (1901), Die Verdienste Kants um die evangelische Theologie (1904), Kant, der Philosoph des Protestantismus (1904), Was wir von Kant lernen sollen (1924). Eine Auseinandersetzung mit NIETZSCHEs Auffassung der Moral bieten die oben besprochenen Aufsätze Eine neue Moral (1896), Diesseits von Gut und Böse (1896), Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral (1897), Aus der Werkstatt des Übermenschen (1905). Daneben liegen kleinere Schriften zu ethischen Fragen vor, wie z.B. Der christliche Glaube und das sittliche Leben. In Veranlassung von Wundts Ethik (1889), Ehe und Familie. Zu Naumanns Vortrag auf dem jüngsten Evangelisch-sozialen Kongreß (1892), Christenthum und Wirthschaftsordnung (1893), Religion und „Gesellschaft“, Die Hilfe 2, 1896, 2–4, Das Verhältnis der lutherischen Kirche zur sozialen Frage, Vortrag gehalten auf dem 10. ev.-sozialen Kongress in Kiel am 25. Mai 1899, Göttingen 1899, Christentum und Politik, ChW 18, 1904, 78–80, Die empirische Methode in der Ethik (1907). Die Leitsätze der Kaftanschen Vorlesungen zur Ethik, welche er im Laufe seiner Lehrtätigkeit immer wieder hielt, sind posthum herausgegeben worden (Christliche Ethik, 1927); ebenso die in diesen Vorlesungen gehaltenen Ausführungen zum Gewissen, zur sittlichen Freiheit und zur statistischen Methode (Das Gewissen, 1929; Das Problem der sittlichen Freiheit, 1932; Ethik und Statistik, 1933). Und schließlich beschäftigt sich Kaftan in ausführlichen Passagen seiner Hauptwerke mit ethischen Fragen (Wesen [1881/88], vgl. v.a. 145–194; Wahrheit [1888], vgl. v.a. 378–386, 428–435; Philosophie [1917], vgl. v.a. 134–159). – Die folgende Rekonstruktion der Kaftanschen Grundlegung der Ethik und der Bestimmung ihres Verhältnisses zur Religion spiegelt nicht den Aufbau einer oder mehrerer dieser ethischen Schriften Kaftans, sondern ist im Wesentlichen eine systematische Darstellung der verhandelten Themen in Orientierung auf die Frage der Bedeutung der Ethik für die von der Eschatologie her entworfene Christentumstheorie.

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Konflikt und Korrelation: Zum Verhältnis von Religion und Moral

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erlösende Teilhabe an einer überweltlichen Wirklichkeit gerichtet wird. Insofern sind sie Kaftan zufolge vollendete Religion. Anders als das Christentum jedoch, soviel sei vorweg genommen, stellen sie das religiöse Subjekt nicht in ein ethisches Weltverhältnis ein, kennen „keine positive Ethik“69 – sie fallen deshalb Kaftan zufolge in eminenter Weise der Kritik anheim, Religion sei Weltflucht. Hier ist nicht zu fragen, ob Kaftan die betreffenden Religionen vom Standpunkte heutiger Religionswissenschaft aus angemessen charakterisiert. Ihre Verhandlung durch Kaftan interessiert vielmehr deshalb, weil hier das Gegenbild konstruiert wird, von dem her Kaftan die sittliche Weltgestaltung als Wesensmoment des Christentums aufweist.

3.2 Konflikt und Korrelation: Zum Verhältnis von Religion und Moral Konflikt und Korrelation: Zum Verhältnis von Religion und Moral

3.2.1 Das Verhältnis von Religion und Moral: Eine Typologie In seinem bereits in Kapitel 2 vorgestellten Vortrag zu den indischen Erlösungsreligionen70 setzt Kaftan mit einem wertschätzenden Urteil über die religionsgeschichtliche Methode ein, in deren Anwendung die christliche Theologie das göttliche Wirken in der Geschichte auch jenseits christlich geprägter Kulturkreise findet.71 Mit den indischen Religionen sind Religionen bekannt geworden, „die wir gerade als Christen nicht einfach nur verurteilen können.“72 Kaftan meint diese Religionen aus dem Grund nicht einfach verurteilen zu können, dass sie wie das Christentum am Höhepunkt der religionsgeschichtlichen Entwicklungstendenz zur Vergeistigung stehen. Sie sind geistige Erlösungsreligionen, da ihr Strebeziel ein höchstes überweltliches Gut ist. Im Blick auf den Brahmanismus meint Kaftan: Ja, der Erlösungsgedanke steht hier im Mittelpunkt der Religion. Alles dreht sich darum, durch das Einswerden mit der Gottheit, durch die Rückkehr in Brahma von der Welt erlöst zu werden. Man wird dem Brahmanismus auch nicht den Charakter einer geistigen Religion abstreiten können. Schließlich versinkt diesen Menschen mit der Welt auch alles, was am Kultus äußerlich und zufällig ist. Das Ziel ist rein geistig gedacht, das innere Erlebnis der Vereinigung mit Gott.73

————— 69 Kaftan, Erlösungsreligionen, 21. 70 Vgl. oben Kapitel 2.2. 71 Vgl. Kaftan, Erlösungsreligionen, 3–9. Zur Frage nach der absoluten Stellung des Christentums in der Geschichte der Religionen vgl. unten 4.2.6. 72 Kaftan, Erlösungsreligionen, 5 (Hervorhebung im Original). 73 Kaftan, Erlösungsreligionen, 17.

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Strukturell dasselbe sagt Kaftan von der christlichen Religion, wenn er die Vorstellung von der Erlösung von der Welt als ihren wesentlichen Gedanken expliziert. Deshalb stehen die indischen Erlösungsreligionen in der im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Typologie der geschichtlichen Religionen mit dem Christentum auf derselben Stufe, sind vollendete Religion.74 Das in ihnen erstrebte Gut ist ein höchstes überweltliches; ihm kommt insofern Selbstzwecklichkeit zu, als die Teilhabe an diesem Gut um seiner selbst willen erstrebt wird. Jene Typologie ist nun aber um eine zweite religionsgeschichtliche Entwicklungstendenz zu ergänzen: die ethische Tendenz. Kaftan beschreibt sowohl in der Wesensschrift als auch im Vortrag zu den Erlösungsreligionen die verschiedenen geschichtlichen Religionen in ihrem Verhältnis zu den im Kulturraum der betreffenden Religion geltenden Moralsystemen.75 Die Leitfrage, welche Kaftan der Ausarbeitung seiner Religionentypologie zugrunde legt, ist, wie im vorangehenden Kapitel dargestellt, die Frage nach den Gütern, welche in einer positiven Religion erstrebt werden.76 Im vorangegangenen Kapitel wurde anhand dieser Frage ein typologisches Schema eingeführt, nach welcher Religionen wie die Naturreligionen und die Volksreligionen, zu denen die jüdische Religion gehört, verschiedene innerweltliche Güter anstreben, während so genannte geistige Religionen wie die indischen Erlösungsreligionen und das Christentum auf ein höchstes überweltliches Gut ausgehen. Diese Zweiteilung wird durch eine weitere Unterscheidung zu einer Vierteilung: Religionen divergieren auch darin voneinander, dass sie natürliche oder sittliche Güter anstreben. Was genau Kaftan mit dieser Distinktion meint, ist im Folgenden noch zu zeigen. Zunächst weist sie auf die Unterscheidung hin zwischen solchen Gütern, die einzig einen individuell-sinnlichen Genuss bedeuten, und solchen, denen eine bestimmte sittliche Pflicht korreliert. Natürliche Güter werden erstrebt in den Naturreligionen und in den mystischen Religionen, sittliche Güter in den Volksreligionen und der christlichen Religion. Wenn demnach Volksreligionen wie die jüdische Religion sich darin von Naturreligionen unterscheiden, dass sie zwar auf innerweltliche Güter ausgehen, diesen aber immer eine bestimmte Pflicht korreliert, so kennt das Christentum ein höchstes überweltliches Gut, welches zugleich als Pflicht auftritt, mithin ein höchstes sittliches Gut.77 Die mystischen Erlösungsreligionen kennen je————— 74 Vgl. dazu oben Kapitel 2.2.3. 75 Vgl. dazu Kaftan, Wesen, 77–81; ders., Erlösungsreligionen, 10–15. 76 Vgl. dazu oben 2.2. 77 Unter diesem Gesichtspunkt wird auch die Genese der christlichen Religion aus der jüdischen thematisch. Zum Verhältnis der christlichen zur jüdischen Religion, welches Kaftan v.a. an Jesu Umbildung der jüdischen Reichgotteshoffnung erläutert, vgl. neben Kaftan, Wesen, 225–269 auch ders., Neutestamentliche Theologie, 19–21, 39–51 und dazu oben Kapitel 2.3.2 und 2.3.3.

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doch nur das überweltliche höchste Gut und keine diesem entsprechenden sittlichen Pflichten. Hier ist „das erlösende Wort […], daß es gilt, den Willen zum Leben, zum Dasein in uns zu ertöten.“78 Kaftan bringt den Vergleich zwischen Christentum und mystischen Erlösungsreligionen folgendermaßen auf den Punkt: Was ihnen beiden gemeinsam ist, ist der Gedanke der Erlösung von der Welt durch und für das Leben in Gott. Was sie schlechterdings scheidet, ist die Bedeutung, die dem ethischen Element, der positiven sittlichen Aufgabe in der Welt, dem Christentum zufolge zukommt.79

Dass Kaftan sich für die Stellung einer geschichtlichen Religion zur Sittlichkeit angesichts seiner explizit mystischen Wesensbestimmung der Religion überhaupt interessiert, verdankt sich nicht erst der Wesensbestimmung des Christentums, sondern der einfachen Beobachtung, dass Religion und Moral einander überlagernde Orientierungs- und Normierungssysteme im geschichtlichen Leben der Menschheit sind – und zwar auch in den durch die mystischen Religionen bestimmten Kulturkreisen: [D]as menschliche Handeln ist das Gebiet, wo Religion und Sittlichkeit zusammentreffen. Sie treffen aber darin zusammen, daß sie beide bestimmte Ansprüche an das Handeln des Menschen stellen.80

Da sowohl Moral als auch Religion menschliche Handlungen formieren und normieren wollen, können sie in dieser Funktion auch konfligieren. Als ein solcher Konflikt wurde eingangs der hier nun näher in den Blick zu nehmende religionskritische Einwand bedacht, die Religion verunmögliche positive Weltgestaltung, da sie alle Werte in ein Jenseits dieser Welt projiziere. Die Konflikte zwischen den Geltungsansprüchen religiöser und moralischer Vorstellungen sind es, welche die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Moral nahezu aufdrängen und Kaftans Überlegungen leiten. Aus diesen Überlegungen, welche Kaftan im Wechsel zwischen religionsgeschichtlichen Beobachtungen und religionstheoretischer Reflexion anstellt, lassen sich drei prinzipielle Möglichkeiten der Verhältnissetzung von Moral und Religion ableiten, im Blick auf welche deutlich wird, wie Kaftan die durch die Religion übernommene Vermittlung zwischen individuellem Lebensverlangen und dessen moralischer Begrenzung denken will. Hierbei muss in einzelnen Distinktionen auf Kaftans Moraltheorie vorweg gegriffen werden, die erst unten 3.2.2 ausdrücklich zum Gegenstand wird, während sie hier nur als Hintergrund des eigentlichen Problems, nämlich der Relation von Religion und Moral interessiert. ————— 78 79 80

Kaftan, Erlösungsreligionen, 18. Kaftan, Erlösungsreligionen, 18. Kaftan, Wesen, 149 (im Original z.T. hervorgehoben).

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Das erste geschichtlich festzustellende Muster der Verhältnissetzung von Religion und Moral wird von Kaftan als „Gesetzlichkeit“81 bezeichnet. Kaftans Verständnis von Gesetzlichkeit ist insofern originell, als sich zeigen wird, dass er dabei weniger, wie angesichts der Tradition christlicher Theologie im Umgang mit dem Gesetz und hiervon ausgehend mit dem Alten Testament zu erwarten wäre,82 die jüdische Religion im Blick hat, sondern das Phänomen Gesetzlichkeit als religionenübergreifenden und für das Verhältnis von Religion und Moral prinzipiell entscheidenden Zusammenhang betrachtet. [D]as Prinzip der Gesetzlichkeit ist dies, daß das Verhältnis des Menschen zu Gott auf menschlicher Leistung und göttlicher Gegenleistung oder Belohnung beruht.83

Im Hintergrund steht die These vom Menschen als eines stets im Handeln Begriffenen. Der Mensch kann gar nicht anders; er muss handeln und handelt stets, auch im Unterlassen. Zugleich aber stehen die von einem religiösen Individuum im Zusammenhang seiner Religion erstrebten Güter immer schon in Beziehung zu diesem seinem Handeln, da sie als die Erfüllung seines Lebensverlangens vorgestellt werden und deshalb die handelnde Ausrichtung des Lebens in seiner Gänze bestimmen. Dieser Zusammenhang verschärft sich in den geistigen Religionen, insofern diese auf ein höchstes Gut ausgehen, welches als die alles bestimmende Wirklichkeit im Leben des Individuums vorgestellt wird. Gesetzlichkeit bedeutet vor diesem Hintergrund, dass die immer gegebene und deshalb auszudeutende Beziehung zwischen den in einer Religion fokussierten Gütern und dem Handeln des Individuums folgendermaßen gestaltet ist: Das Individuum stellt sich die Güter oder das eine höchste Gut als Belohnung für sein Handeln – beziehungsweise Nicht-Handeln – vor. Moral wird hier so in Beziehung zur Religion gesetzt, dass die jeweils gültigen moralischen Werte über die Verheißung einer göttlichen Belohnung oder die Androhung einer göttlichen Strafe durchgesetzt werden. Kaftan beurteilt diese gesetzliche Relation von Moral und Religion nun nicht zuvorderst von der Religionstheorie, sondern von der Ethik aus als niedrigstufige Moral: Es kann eine selbständige Moral gar nicht entstehen, da auch das nicht-kultische Handeln durch die Religion beziehungsweise die religiöse Beziehung des Individuums auf die in ihr erstrebten Lebensgüter normiert wird. Das Gute wird nur „aus ————— 81 Kaftan, Wesen, 164 (Hervorhebung im Original) u.ö. Vgl. ders., Neutestamentliche Theologie, 135–138 (§23: Das Gesetz). 82 Vgl. zu über den Gesetzesbegriff aufgebauten Diastasekonzeptionen in der protestantischtheologischen Wahrnehmung des Judentums v.a. Klaus BECKMANN, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2002, bes. 315 (zu Schleiermacher), 319–321, 342–344, 346 (Anm. 27). 83 Kaftan, Wesen, 164.

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Motiven des natürlichen Willens“84 getan – also gerade nicht als sittliche Tat, wie Kaftan von Kants Bestimmung des unbedingten Sollens her schließt.85 Die zweite Möglichkeit der Verhältnissetzung von Religion und Moral betrifft die oben bereits erwähnten, vor allem durch die indischen Erlösungsreligionen repräsentierten so genannten mystischen Religionen. Es handelt sich um die – von Nietzsche freilich gerade als Welthaltung der christlichen Religion kritisierte – Weltverneinung. In diesem Falle absorbiert die religiöse Ausrichtung auf das höchste überweltliche Gut alle innerweltlichen Wertsetzungen der Moral. Neben den indischen Religionen des Brahmanismus und des Buddhismus rechnet Kaftan auch das Priestertum der Naturreligionen und gewisse Strömungen in Islam und Christentum zu den hier interessierenden geschichtlichen Phänomenen. Hinsichtlich der Vorstellung vom Verhältnis des Religiösen zum höchsten Gut geschieht jene Absorption der Moral in durchaus konsequenter Weise, wie bereits deutlich wurde: Ziel des Religiösen ist die vollkommene Teilhabe an jenem überweltlichen Gut, so dass der Versuch der Abkehr von weltlichen Bezügen Charakteristikum des Weltverhältnisses wird. Versenkung in Gott auf dem Weg der Contemplation und asketische Weltverneinung sind hier die beiden obersten Gebote der Religion, welche eine selbständige sittliche Gesetzgebung nicht neben sich aufkommen lassen.86

Freilich ist auch für solchermaßen ausgerichtete mystische Religionen festzustellen, dass sie moralische, die sozialen Verhältnisse betreffende Regeln und Ideale kennen, wie Kaftan am buddhistischen Ideal universaler Menschenliebe zeigt. Jedoch sieht Kaftan hierin keinen Grund, von einer sittlichen Dimension der mystischen Religionen sprechen zu können. Das Ideal der Menschenliebe gründet hier beispielsweise wiederum im Ideal des Mitleids, welches gerade keine Vorstellung eines positiven moralischen Zwecks darstellt, sondern bloße Linderung innerweltlicher Übel bezweckt87 – anders als das Liebesgebot im Christentum, auf das noch näher einzugehen ist.88 Auch die mystische Abkehr vom natürlichen Willen und das Streben nach Einigung mit dem Göttlichen implizieren keinen solchen positiven moralischen Zweck. Die entscheidende These, welche Kaftan dazu führt, den mystischen Religionen die Tendenz zur Absorption nichtreligiöser Sittlichkeit zuzuschreiben, ist mithin die, dass solche Religionen „keine ————— 84 85 86 87 88

Kaftan, Wesen, 166. Vgl. dazu unten 3.2.2 zur Unterscheidung natürlicher und moralischer Wertbeurteilung. Kaftan, Wesen, 168 (im Original z.T. hervorgehoben). Vgl. Kaftan, Das Gewissen, 154f u.ö. Vgl. dazu unten 3.3.1.

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positiven sittlichen Aufgaben in der Welt“89 kennen. Die Handlung des Religiösen wird im Wesentlichen von einer „überweltlichen Pflicht“90 normiert. Das heißt aber, dass die mystischen Religionen auch das nichtkultische Handeln unter den Begriff des „religiösen Ideals der Vollkommenheit“91 stellen. Dieses besteht gerade darin, alles innerweltliche Handeln überhaupt zurücktreten zu lassen zugunsten des Aufgehens in die göttliche Wirklichkeit. Letztlich ist Kaftan zufolge dieses religiöse Ideal der Vollkommenheit unter geschichtlichen Bedingungen nicht durchzuführen. Es schlägt deshalb auch in den mystischen Religionen wieder in Gesetzlichkeit um. So zeigt sich insbesondere in der hierarchischen Gliederung der Mitglieder brahmanischer oder buddhistischer Religionen in Kastensystemen in Verbund mit der Reinkarnationsvorstellung, dass hier die durch die Religion bestimmte „Lebensordnung eine durch und durch gesetzliche“92 ist, das heißt die Formation sowohl des religiösen als auch des sozialen Handelns über die Verheißung von Lohn und Strafe geschieht. Alles Handeln, kultisches und soziales, wird von der religiösen Gesetzgebung in Ausrichtung auf das erstrebte Gut des Eingehens in das Nirvana beziehungsweise Brahma gebracht, welches als Belohnung für entsprechendes Handeln zu stehen kommt. Um Gesetzlichkeit im religiösen Verhältnis zu vermeiden, müsste es dem Menschen möglich sein, in der Ausrichtung auf das höchste Gut völlig das eigene stets schon stattfindende Handeln solchermaßen zu transzendieren, dass jegliche Bewertungen dieses Handelns ausgeschaltet würden. Interessanterweise gesteht Kaftan im Blick auf den mystischen Religionstypus sogar zu, dass es Momente gibt, in denen die religiöse Kontemplation derart intensiv ist, dass „jeder Gedanke an ein Gesetz“93 des Handelns zurücktritt. In solchen Momenten liegt kein Bewusstsein einer Beziehung des sich religiös versenkenden Individuums auf sein Handeln mehr vor, so dass die unio mystica nicht mehr als Zielpunkt eines wie auch immer normierten Handelns bewusst wird, sondern festzustellen ist: „In und mit der freien Bethätigung wird wie bei andern natürlichen Trieben der Genuß erreicht.“94 Für solche Momente wäre zu sagen, dass hier der Genuss des höchsten Guts und das menschliche Handeln derart integriert auftreten, dass sie nicht mehr ————— 89 Kaftan, Wesen, 169 (Hervorhebung von C.C.). 90 Kaftan, Wesen, 169 (Hervorhebung von C.C.). 91 Kaftan, Wesen, 171 (im Original alles hervorgehoben). 92 Kaftan, Wesen, 174 (im Original hervorgehoben). 93 Kaftan, Wesen, 174. 94 Kaftan, Wesen, 174. Vgl. a.a.O., 175 zu jenen mystischen Momenten: „In ihnen erhebt sich der Mensch über jedes Gesetz, weil er da eins wird mit Gott und hinauskommt über die Welt mit all ihren Gegensätzen.“

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als Abfolge zweier Momente – mithin in gesetzlich strukturiertem Verhältnis – zu beschreiben sind, sondern als Ineinanderfallen.95 Und dieses Ineinanderfallen von Religion und Handeln ist es nun auch, welches Kaftan der dritten Möglichkeit der Verhältnissetzung von Religion und Moral zugrunde legt, welche er als die gelungene Verhältnissetzung anvisiert. Freilich hat er bei ihr nicht die kontemplative Versenkung des Mystikers im Blick – schon aus dem Grund, dass die gelingenden mystischen Momente eine seltene Ausnahme bilden und von daher nicht als Leitbild für das menschliche Weltverhältnis im Allgemeinen fungieren können. In den mystischen Religionen äußert sich dies darin, dass abgesehen von den mystischen Momenten zwar die Sittlichkeit zugunsten der Religion in den Hintergrund tritt, gleichwohl das religiöse Handeln, die „Contemplation selber zur inneren Arbeit“96 wird. Der außergewöhnliche und nicht zur Regel zu erhebende mystische Moment des Zusammenfallens von höchstem Gut und gutem Handeln, wie Kaftan ihn beschreibt, kann aber als Veranschaulichung für die gelungene Verhältnissetzung von Religion und Sittlichkeit im Sinne einer vollkommenen Integration beider dienen. Von hier aus ist auch ein Konzept christlicher Mystik zu entwerfen, welches der Wesensbestimmung des Christentums entspricht.97 Als gelungen ist die hier gemeinte Verhältnissetzung von Religion und Moral deshalb zu bezeichnen, weil in ihr weder die Religion die Moral noch die Moral die Religion usurpiert. Kaftans Ausführungen sind im Ganzen dadurch gezeichnet, dass er Religion und Moral zunächst als jeweils selbständige Phänomene menschlichen Vollzugs betrachtet. Dies äußert sich darin, dass er nicht bloß die religionsgeschichtliche Entwicklung, sondern auch die Entwicklung menschlicher Sittlichkeit als eine auf Vollkommenheit drängende beschreibt. Er kennt mithin eine in sich „vollendete“98 Sittlichkeit, die neben der in sich vollkommenen Religion zu stehen kommt. Ein Konflikt zwischen Religion und Sittlichkeit entsteht wie gesehen immer dann, wenn eines der beiden Systeme seinen handlungsnormierenden Geltungsanspruch solchermaßen ausdehnt, dass das andere System dadurch marginalisiert wird. Kaftan expliziert allerdings aufgrund seiner religionsgeschichtlichen Beobachtungen auffallender Weise nur jene Fälle, in denen die religiöse Forderung die sittliche verdrängt. Dies geschieht nun ————— 95 Vgl. als religionsgeschichtliches Anschauungsmaterial die Sufimystik der Rabi’a Al Adawiya, der Heiligen von Basra (ca. 713–801), dazu Dorothee SÖLLE, Mystik und Widerstand, München 32000, 56–58. – Für das Nebeneinander im Sinne einer Stufenfolge von Sittlichkeit und Religion im Katholizismus vgl. Kaftan, Dogmatik, 313. 96 Kaftan, Wesen, 174 (Hervorhebung von C.C.). 97 Zur Konzeption des mystischen Elementes der christlichen Religion vgl. oben 2.3.4 und 2.3.5 sowie unten 3.3.4 und 3.4. 98 Kaftan, Wesen, 151.

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immer dann, wenn das „Bewußtsein von der verpflichtenden Kraft eines sittlichen Ideals […] einer zuwiderlaufenden religiösen Forderung nicht gewachsen“99 ist. Sowohl das Phänomen der Gesetzlichkeit als auch das Phänomen der Weltflucht sind solche Erscheinungen der Verhinderung sittlicher Entwicklung durch Religion. Schließlich bedeutet Gesetzlichkeit Kaftans Verständnis zufolge, dass das Gute nicht aus dem Gefühl des Sollens, sondern aus den Motiven natürlichen Wollens heraus getan wird. Gesetzliche Religion ist in diesem Sinne das Versprechen natürlicher Bedürfniserfüllung als Lohn für gutes Handeln, so dass das Handeln gerade nicht sittlich normiert ist. Weltflüchtige Religion hingegen will sittlich handelnde Weltgestaltung als solche überwinden. Kaftans Beurteilung solcher Phänomene, welche von einzelnen Entscheidungssituationen hin zur Gesamtverfasstheit einer sozialen Gruppe reichen, fußt auf der oben unter 3.1 in Abgrenzung vom Persönlichkeitsideals Nietzsches eingeführten Voraussetzung, dass sich gerade in der sittlchen Entwicklung die Bestimmung des Menschen zur Persönlichkeit verwirklicht. Von dieser Voraussetzung aus ist verständlich, warum die Beeinträchtigungen der Moral durch religiöse Handlungsnormen als Dekadenzerscheinungen zu beurteilen sind, welche im Übrigen auch im Christentum festzustellen sind.100 Gemeinsam ist all diesen Formen der Religion, dass die religiösen Gesetze als wertvoller oder höherstufiger als die sittlichen angesehen werden, was in extremer Weise im „religiösen Fanatismus in allen seinen verschiedenen Gestalten“101 geschieht. Für die Kaftansche Verhältnissetzung von Religion und Moral in gesellschaftstheoretischer Hinsicht ist demnach zu konstatieren, dass er an der westlich-aufgeklärten Unterscheidung von religiösen und säkularen, nichtreligiösen Ansprüchen an das Handeln des Menschen aus persönlichkeitstheoretischen Gründen konsequent festhalten will. Mehr noch: Er sieht jene Unterscheidung im Wesen der christlichen Religion begründet, insofern er feststellt, dass die eben beschriebene Usurpation der Moral durch religiöse Forderungen in anderen hochstufigen Religionen vielfach, aber im Christentum immer in Widerspruch mit der bestimmten Religion selber geschieht und auch von ihrem Standpunkt aus als Verirrung zu beurtheilen ist.102

————— 99 Kaftan, Wesen, 157. 100 Vgl. z.B. Kaftan, Wesen, 370f zum römisch-katholischen Verständnis der Kirche als „Anstalt für die sittengesetzliche Zucht des christlichen Lebens“ (a.a.O., 370; im Original z.T. hervorgehoben) sowie die pietistische Tendenz zur „Unterordnung der einfachen sittlichen Pflichten unter Uebungen der Andacht und besondre Werke der Frömmigkeit“ (a.a.O., 395). 101 Kaftan, Wesen, 160. 102 Kaftan, Wesen, 158 (Hervorhebung im Original).

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Kaftan räumt dennoch ein, dass die Gefahr einer Usurpation des moralischen Bereichs durch die Religion gerade dann gegeben ist, wenn diese „sich vollende[t]“.103 Vollendete Religion ist dem vorangegangenen Kapitel zufolge die gänzliche Ausrichtung des Menschen auf ein höchstes überweltliches Gut, wie sie in der christlichen und in den mystischen Religionen statthat. Diese Ausrichtung auf das Überweltliche wirkt sich konsequenterweise auf das gesamte Leben des Menschen hin aus, auch auf sein nichtkultisches Handeln – beziehungsweise es nimmt dieses in sich auf. Dies geschieht, indem die religiöse Gesetzgebung, welche im Anschluss an das kultische Handeln zur Transzendierung innerweltlichen Güterstrebens anleitet,104 auch das sittliche Verhalten des Religiösen unter das Ziel der Erlangung des höchsten überweltlichen Guts stellt. Wenn Kaftan nun aber zugleich, wie eben festgestellt, die dem Christentum spezifische Unterscheidung von religiöser und moralischer Gesetzgebung in seinem Denken mitführen will, so ist zu fragen, wie jene Unterscheidung auf einer religiösen Stufe möglich sein kann, welche ihrem Wesen nach Ausgehen auf ein höchstes überweltliches Gut ist. Die Frage wird dadurch virulent, dass Kaftan eine einfache Antwort nicht gelten lassen kann: nämlich die, welche eine scharfe Trennung von religiösem Vollzug und sittlicher Weltgestaltung vorsieht. Kaftans Auffassung von der allumfassenden Bedeutung des höchsten Guts, welches in engem Zusammenhang mit der Gottesvorstellung die alles bestimmende Wirklichkeit im Leben des Religiösen ist, steht jenem Modell entgegen. Also bliebe nur die Usurpation der Moral durch die Religion, welche aber wie gerade beschrieben als Dekadenzform ausfällt – oder aber es gilt für die moralische und die religiöse Handlungsnormierung: [W]enn zugleich die sittliche Gesetzgebung sich in ihrer Art vollendet und durchsetzt, wenn sie ein oberstes sittliches Ideal für das gesammte Handeln des Menschen aufstellt, dann müssen sie sich gegenseitig vollkommen durchdringen.105

Hiermit ist zweierlei gesagt. Erstens, dass die anvisierte gelingende Verhältnissetzung von vollendeter Religion und dennoch selbständiger Moral eine solche ist, in welcher beide in noch darzulegender Weise integriert sind. Zweitens, dass eine solche Integration die Vollendung beider voraussetzt, so dass das Modell dieser Integration eine Einheit zweier selbständiger Funktionen darstellen können muss. Kaftan unterscheidet mithin prinzipiell zwischen Religion und Sittlichkeit – aber nicht, um beide voneinander zu trennen, „sondern um sie in reflektierter Form wieder aufeinander bezie————— 103 Kaftan, Wesen, 151. 104 Vgl. dazu oben Kapitel 2.2.3. 105 Kaftan, Wesen, 152.

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hen zu können.“106 Solche reflektierte Verhältnissetzung soll bei Kaftan, soviel sei vorweggenommen, die konstitutive Bedeutung der Religion – besonders der christlichen Religion – für die Sittlichkeit erweisen. Kaftan entwirft das Modell vollendeter Verhältnissetzung von Religion und Moral über die Relation von religiösem Gut und sittlichem Ideal: Dem religiösen Ausgehen auf ein höchstes Gut hat ein „oberstes sittliches Ideal“107 zu korrelieren, wenn die Religion nicht fanatisch-totalitäre Wirkung auf das Weltverhältnis des Religiösen nehmen oder dieses der Intention nach – wie in den mystischen Religionen – negieren soll. Der vollendet moralischen Orientierung an einem obersten sittlichen Ideal wiederum hat ein höchstes Gut zu korrelieren, weil andernfalls die Motivation für die Orientierung an einem obersten sittlichen Ideal beständig mit den natürlichen Lebensinteressen des Individuums konfligiert. Das in der Moraltheorie eingeführte Modell der Korrelation von Gut und Ideal ist es demnach, welches Kaftan in seiner Konzeption des Verhältnisses von vollendeter Religion und vollendeter Moral leitet. Jene Korrelation eröffnet dem Religiösen die Möglichkeit von Weltgestaltung – mehr noch: setzt die Sittlichkeit in innerliche Beziehung zur Religion. Darüber hinaus wird sich zeigen, dass der Religion im Begründungszusammenhang der Korrelation von Religion und Moral wiederum eine besondere Funktion zukommt, indem sie zwischen dem natürlichen Lebensverlangen des Individuums und dessen moralischer Beschränkung vermittelt. Dies kann die Religion, indem sie ein höchstes Gut vorstellig macht, welches zugleich ein oberstes sittliches Ideal ist – mithin, wenn sie den Religiösen auf ein höchstes sittliches Gut ausgehen lässt: Wenn das höchste Gut sittlicher Art ist, ist ein gelungenes Verhältnis von Religion und Sittlichkeit ermöglicht, weil die Moral der Religion nicht mehr bloß äußerlich ist. Sie ist vielmehr als Moral in der Religion begründet. Umgekehrt lässt sich die Problematik von Gesetzlichkeit auf der einen und Weltverneinung auf der anderen Seite dahingehend analysieren, dass in beiden Fällen eine inadäquate „Anschauung von der Seligkeit“108 die Usurpation beziehungsweise Absorption der Moral bedingt – nämlich die Auffassung, Seligkeit „bestehe im Genuß sittlich gleichgültiger Güter.“109 ————— 106 Reiner ANSELM/Reinhard FELDMEIER, Gottes Macht und die Möglichkeiten des Menschen. Zur Unterscheidung von Religion und Ethik, KuD 50, 2004, 126–150, hier: 129. 107 Kaftan, Wesen, 152. 108 Kaftan, Wesen, 167. 109 Kaftan, Wesen, 167 (im Original hervorgehoben). „Die Gesetzlichkeit im eigentlichen Sinn ist an eine ethisch gleichgültige Vorstellung vom religiösen Gut gebunden“ (a.a.O., 165; im Original hervorgehoben). Vgl. ferner ders., Der evangelische Glaube und die kirchliche Überlieferung, 457: „[S]o lange das Heil selbst, das Leben in Gott, als etwas ethisch Indifferentes gefaßt, aber in eine nahe Beziehung zum sittlichen Leben gesetzt wird, ist eine gesetzliche Anschauung die nothwendige Folge.“

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Um Kaftans Konzeption des höchsten sittlichen Guts auf seine zwischen Religion und Moral vermittelnde Funktion hin zu durchleuchten, um mithin zu verstehen, inwiefern der christliche Erlösungsgedanke im Unterschied zu dem der indischen Erlösungsreligionen mit „positiven sittlichen Aufgaben in der Welt“110 nicht nur zu vereinen ist, sondern diese begründet, ist zunächst Kaftans Theorie der Geschichte und Bedeutung der Moral in den Blick zu nehmen.111 Dabei wird zugleich deutlich werden, wie Kaftan die moralische Entwicklung als Verwirklichung der Bestimmung des Menschen zur Persönlichkeit konzipiert – ein Gedanke, der für die materiale Bestimmung des höchsten sittlichen Guts, wie die christliche Religion es vorstellig macht, von entscheidender Bedeutung ist. 3.2.2 Die Geschichte der Moral Dem Gedanken, dass das höchste Gut einer Religion mit ethischen Idealen korrelieren kann, liegt die These zugrunde, dass religiöse Weltorientierung und ethische Normierung voneinander zu unterscheidende Phänomene von Wertsetzung und Lebensbestimmung sind. In der Beschreibung der Moralentwicklung in phylo- und ontogenetischer Hinsicht entwickelt Kaftan freilich zugleich jenen Schlüsselbegriff, über welchen Religion und Moral so miteinander verbunden werden, dass beide zugleich als in sich vollkommene Größen zu stehen kommen: der Begriff des sittlichen Guts. Die Geschichte der Moral, mithin die Moralentwicklung in phylogenetischer Hinsicht112 ist nach Kaftan durch die Herausentwicklung von sittlichen Idealen aus natürlichen Gütern geprägt.113 In der Beschreibung der Entstehung der Ideale, um welche es in der Grundlegung einer Moraltheorie zu gehen hat, tritt allerdings nicht nur die Differenz zwischen Ideal und Gut zutage, sondern liegt zugleich die Verbundenheit beider begründet – ausgedrückt im Begriff des sittlichen Guts. Deshalb ist hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Moral die Rekonstruktion sowohl der Unterscheidung als auch der Korrelation von Gütern und Idealen entscheidend. Der Prozess der Entstehung sittlicher Ideale in der Geschichte der Menschheit ist folgendermaßen vorzustellen:114 Sittlichkeit entwickelt sich ————— 110 Kaftan, Wesen, 169. 111 Vgl. dazu neben Kaftan, Wesen, 145–194 auch ders., Wahrheit, 519–536 und ders., Philosophie, 144–150. 112 Auf die ontogenetische Hinsicht wird im Kontext der Untersuchung des Kaftanschen Erziehungsverständnisses einzugehen sein; vgl. dazu unten 3.2.3. 113 Vgl. Kaftan, Wesen, 149, wo er betont, „daß dem Verhältnis zwischen Religion und Sittlichkeit das allgemeinere zwischen Gut und sittlichem Ideal zu Grunde liegt.“ 114 Es wird sich zeigen, dass für Kaftan durchgängig die geschichtliche Perspektive die Ethik leitet. Das heißt nicht, dass er wie Alexander von OETTINGEN die herrschende individualethische

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in der Gemeinschaft von jeweils nach bestimmten natürlichen Gütern strebenden Individuen, das heißt von Individuen, welche in unterschiedlicher Weise auf Güter aus sind, von denen sie sich die Erfüllung ihres je eigenen Lebensverlangens versprechen. Dieses natürliche Strebeverhalten als anthropologische Konstante fand eingehende Betrachtung im vorangehenden Kapitel über den anthropologischen Ursprung und Sinn der Religion. Wie dort die Grenzen des menschlich Machbaren, interessieren hier die durch jenes Strebeverhalten hervorgerufenen sozialen Konflikte, auf die oben 3.1 im Zusammenhang der Kaftanschen Nietzsche-Rezeption bereits verwiesen wurde: Schon in kleinsten Gruppen nämlich widerstreiten die jeweiligen individuellen Strebungen und ihre Umsetzungsweisen einander; in anderen Worten: Es entstehen Interessenkonflikte, da jedes Individuum zunächst sein eigenes Lebensverlangen zu befriedigen strebt und hierbei von anderen Individuen gehindert werden oder, umgekehrt, diese bei der Umsetzung ihrer natürlichen Interessen hindern kann. Um diesen Widerstreit individueller Interessen zu regulieren, einigen115 sich die Mitglieder der betreffenden sozialen Gruppen zunächst auf sittliche Güter. Es handelt sich hierbei um Güter, welche von den Individuen einer Gruppe analog zu den natürlichen, sozusagen primären Gütern des Lebens angestrebt werden, weil auch sie Befriedigung des Lebensverlangens versprechen – allerdings in vermittelter Weise: Sittlichen Gütern korrelieren als Gütern nämlich „bestimmte Pflichten“.116 Diese Korrelation ist so zu verstehen, dass ein Objekt gleichermaßen „Sache der Neigung“117 ist und eine Verpflichtung darstellt. Exemplarisch kann Kaftan die „Sicherheit des Lebens und des Eigentums“, die „Gastlichkeit“, die „Wahrhaftigkeit“, den ————— Betrachtungsweise durch eine sozialethische ersetzen will (vgl. ders., Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Sozialethik, Erlangen 21874 und dazu Kaftan, Ethik und Statistik, 228 und 238–240). Vielmehr ist das sittliche Subjekt der Einzelne als Einzelner (vgl. auch ders., Das sittliche Leben, 122f, wo Kaftans sich kritisch mit Wundts Ethik auseinandersetzt; vgl. Wilhelm WUNDT, Ethik. Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 1886). Allerdings dependiert des Einzelnen sittliche Entscheidung Kaftan zufolge vom sozialen Kontext, in welchen er gestellt ist. Mehr noch: Er ist als sittliches Subjekt immer zunächst ein „Produkt der Geschichte“ (Kaftan, Ethik und Statistik, 239). Vgl. dazu auch ders., Das Gewissen, 26–28, 30f, 36f, 53f; ders., Das sittliche Leben, 110–114. 115 Kaftan führt nicht näher aus, wie diese Eingung vorzustellen ist; so legt er auch keine Theorie einer diskursiven Ethik vor (vgl. dazu grundlegend Jürgen HABERMAS, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983 und dann ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991). Entscheidend ist, dass Kaftan den Ursprung moralischer Gesetze im geschichtlichen Sich-Verhalten von Menschen zueinander lociert. Diese geschichtlich-soziale Dimension der Sittlichkeit wird im Folgenden interessieren, wenn es um die Bedeutung von Geschichte und Sozialität für die menschliche Persönlichkeit geht. Vgl. dazu unten 3.2.3. 116 Kaftan, Wesen, 77. Die entsprechende Definition von sittlichen Gütern lautet: „Sittliche Güter sind solche Güter, als deren Correlat uns bestimmte Pflichten bekannt sind.“ (Ebd.; im Original hervorgehoben.) 117 Kaftan, Wesen, 78 (im Original hervorgehoben).

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„Gehorsam“118 aufführen. Güter wie diese, welche zugleich verpflichtend auftreten, dienen somit der optimalen Verwirklichung der individuellen natürlichen Interessen, und zwar im Sinne der Einschränkung des natürlichen Egoismus des Individuums. Sie sichern über diese Einschränkung das Funktionieren des Gemeinschaftslebens und gewährleisten wiederum gerade so die Verwirklichung von Lebensbedürfnissen des Individuums in sozialen Kontexten. Mithin sind sie zwar Güter für den einzelnen […], ihm erstrebenswert und wünschenswert, [können] aber nie als Güter nur für ihn vorgestellt werden.119

Für das Individuum „erstrebenswert“ sind sittliche Güter, weil ohne ihre Geltung das soziale Zusammenleben nicht möglich wäre, ohne welches wiederum auch der Einzelne nicht leben könnte, so dass ihm „eine natürliche Nöthigung zur Werthschätzung solcher Güter“120 entsteht. Sie sind zugleich keine „Güter nur für ihn“, da sie voraussetzen, dass sie auch von allen anderen Individuen derselben sozialen Gruppe erstrebt werden. Mithin leisten sie in basaler Weise eine Vermittlung zwischen Individualität, das heißt: dem anthropologisch begründeten egoistischen Streben des Einzelnen, und Allgemeinheit, das heißt: der Tatsache, dass ein Individuum nur im sozialen Kontext überhaupt leben und seine natürlichen Interessen verfolgen kann. Diese Vermittlung beruht dabei gerade darauf, dass weder Individualität noch Allgemeinheit negiert werden: Ein sittliches Gut wird in der Tat von dem Einzelnen erstrebt, aber sein Egoismus ist ein geläuterter, insofern er den Interessen anderer Mitglieder der sozialen Gruppe gerade aus Eigeninteresse heraus Raum gibt. Die Geltung von sittlichen Gütern innerhalb einer Gemeinschaft zeigt Kaftan zufolge, dass diese sich bereits über bestimmte Grenzen des natürlichen Zusammenlebens hinaus begeben hat, da sie beispielsweise durch ein „geordnete[s] Familienleben […] von der bloßen Geschlechtsgemeinschaft“,121 durch ein „staatlich verfaßte[s] Zusammenleben eines Volks […] von dem Leben der Horde“122 unterschieden ist. Hier tritt deutlich zutage, dass Kaftan dem sittlichen Leben insgesamt eine Qualität zuschreibt, welche im Sinne einer Überhöhung des zunächst egoistisch bestimmten natürlichen Lebens zu verstehen ist, dass mithin Versittlichung eine positiv konnotierte Entwicklungstendenz ist – und zwar nicht nur in Hinsicht auf das ————— 118 Kaftan, Wesen, 180. Eine andere Passage nennt als sittliche Güter „ein geordnetes Familienleben, eine sociale Gliederung, welche jedem seinen Beruf anweist, die Verbindung des Volks zu einer Gemeinschaft gegenseitiger Rechte und Pflichten“ (a.a.O., 184) – hier sind also als Sphären sittlicher Gestaltung die Familie, der Beruf und der Staat bzw. die Öffentlichkeit anvisiert. 119 Kaftan, Wesen, 77. 120 Kaftan, Wesen, 180. 121 Kaftan, Wesen, 77. 122 Kaftan, Wesen, 77.

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Kollektiv, sondern auch in Hinsicht auf das Individuum im Rahmen seiner Persönlichkeitsentwicklung: Das Ziel sittlicher Erziehung besteht darin, dass der Mensch die sittlichen Güter höher wertet als die natürlichen.123 An den sittlichen Gütern bildet sich Kaftans Analyse zufolge die Beachtung „primitive[r] sittliche[r] Gebote“124 heraus; in der Konfrontation mit ihnen entwickelt sich dann jenes Bewusstsein, welches Handeln als ein sittliches qualifiziert: „das Gefühl des Sollens“.125 Im Bewusstsein des Sollens werden in wiederum nicht ableitbarer Weise bestimmte, das soziale Leben regelnde Gebote als solche bewusst, welche nicht aus ihnen externen Gründen – der Angst vor Strafe beziehungsweise der Hoffnung auf Belohnung – verpflichtend sind, sondern „um ihrer selbst willen“.126 Die Gebote werden zu „sittlichen Ideale[n]“127 oder „sittlichen Gesetze[n]“,128 welche wiederum als Maßstab für die Ausbildung neuer situativ erforderlicher Handlungsgebote dienen können. Mit der Ausbildung jener Ideale als Repräsentanten für das unbedingt Gesollte ist mithin jene Stufe der Moralentwicklung erreicht, auf der Handeln im eigentlichen Sinne als sittliches bezeichnet werden kann.129 Dabei ist die pluralische Verwendung des Begriffs Ideal an dieser Stelle Ausdruck der moraltheoretischen Intention Kaftans und ihrer Profilierung gegenüber alternativen Positionen. Kaftan will nämlich die Auffassung, es sei ein sittliches Ideal zu beschreiben, welches moralischem Handeln zu jeder Zeit und an allen Orten als Maßstab diene, von vornherein ausschließen. Vielmehr ist Sittlichkeit geschichtlich, das heißt der Inhalt sittlicher Ideale von der Geschichte einer sozialen Gruppe abhängig. Ebenso wie sittliche Güter und Gebote aus konkreten Verhältnissen erwachsen und diese abbilden, so auch das jeweils geltende sittliche Ideal. Mithin liegt für Kaftan die adäquate Erfassung des Wesens sittlicher Ideale darin, in formalisierender Weise ihre Struktur und ihre Bedeutung für das Handeln zu beschreiben, um auf diese Weise dem Begriff des Ideals seine verschiedenen geschichtlichen Ausprägungen subsumieren zu können. Das heißt, Kaftan nähert sich dem Wesen sittlicher Ideale formal über ihren Status als das eigentliche Definiens von Moral, welche so als Bewusstsein und Verwirklichung unbedingten Sollens gefasst wird. Dass Kaftans eigentliches Augenmerk aber darauf liegt, über die formale Herangehensweise die geschichtliche Mannigfaltigkeit sittlicher Ideale zu ————— 123 Vgl. Kaftan, Wesen, 188 und weiter ders., Wahrheit, 538. Zur Theorie der moralischen Erziehung vgl. unten 3.2.3. 124 Kaftan, Wesen, 180 (Hervorhebung von C.C.). 125 Kaftan, Wesen, 180. 126 Kaftan, Wesen, 148 (im Original hervorgehoben). 127 Kaftan, Wesen, 181 u.ö. (Hervorhebung von C.C.). 128 Kaftan, Das Gewissen, 37 u.ö. 129 Zum Begriff des Unbedingten im moraltheoretischen Zusammenhang vgl. Kaftan, Wahrheit, 445f.

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erfassen, unterscheidet sein Vorgehen von dem Kants. Darauf ist gleich noch näher einzugehen. Zuvor ist festzuhalten, dass Kaftan trotz seiner geschichtlichen Perspektive wie Kant das Wesen der Sittlichkeit darin sieht, dass ein Subjekt eine Norm als unbedingt Gesolltes erfährt. Die insbesondere in der Kantschen Moraltheorie und ihren Nachfolgekonzeptionen zentrale Kategorie der Unbedingtheit wird dabei von Kaftan als Unabhängigkeit eines sittlichen Ideals von den natürlichen Interessen des Individuums reformuliert: Im Gegensatz zu einem Gebot, welches befolgt wird, um der Gefahr möglicher lebensmindernder Sanktionen zu entgehen, im Gegensatz auch zu einem sittlichen Gut, welches zwecks Verfolgung basaler Lebensinteressen anerkannt wird, wird ein sittliches Ideal vom Individuum auch dann als geltend erfahren, wenn seine Umsetzung der Verfolgung der Lebensinteressen des Individuums zuwider läuft.130 Es wird allerdings im Folgenden noch kritisch zu fragen sein, ob Kaftan die moraltheoretische Kategorie der Unbedingtheit überhaupt einholen kann und will, denn wie bereits angedeutet, ist es der Begriff des sittlichen Guts, an welchen die Vermittlung von Religion und Sittlichkeit bei Kaftan anschließen wird. Ein sittliches Gut ist aber, wie gesehen, durch die Integration der natürlichen Interessen des Einzelnen in das sittliche Gebot bestimmt. Damit ist die Kategorie der Unbedingtheit insofern hinterfragt, als die völlige Emanzipation von natürlichen Interessen offensichtlich nicht das Kennzeichen einer vollendeten Sittlichkeit ist. Und in der Tat wird die Rekonstruktion des Kaftanschen Denkens zeigen, dass es eine spezifische Verhältnissetzung von natürlichen Lebensinteressen und sittlichem Sollen, von Glück und Tugend ist, welche Kaftan anvisiert.131 Um dies zu erhellen, ist zunächst Kaftans Rückgriff auf die moraltheoretische Distinktion von Wollen und Sollen vorzuführen. Die sittlichen Ideale der Gemeinschaft und der Vergeistigung gelten insofern unbedingt, als sie nicht aus natürlichen Interessen des Lebens heraus anerkannt werden – das heißt insofern, als sie nicht eigentlich gewollt werden. Der Wille ist bei Kaftan ————— 130 Das als Gefühl des Sollens auftretende Bewusstsein dieser Unbedingtheit ist im Übrigen das Gewissen, welches mithin als Instanz der innerlichen Aneignung des unbedingt Gesollten zu beschreiben ist. Auf das Kaftansche Gewissensverständnis ist unten 3.2.3 im Rahmen der Frage nach der Bildung zur Moral einzugehen. 131 Dass hiermit eine Intention auch der Kantschen formalen Moraltheorie aufgenommen ist, wird ersichtlich aus U. BARTHs Analyse der Kantischen Religionsphilosophie. Barth betont, „daß Kant weit davon entfernt war, das menschliche Glücksstreben ethisch zu desavouieren“ (ders., Kants Begriff, 298). Barth zeigt, dass dieses vielmehr bereits die Bestimmung des Gegenstands der praktischen Vernunft leitet, wie es besonders in der „Dialektik“ gegenüber der „Analytik“ im Rahmen der KpV hervortritt (vgl. a.a.O., v.a. 300). Es wird sich allerdings zeigen, dass Kaftan stärker als Kant bereits in die Frage nach der Konstitution des guten Willens das menschliche Glücksstreben einbezieht und damit letztlich von der scharfen Betonung der Unbedingtheit des Guten Abstand nimmt. Vgl. dazu unten 3.2.3.

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die Gesamtheit der Triebe und Neigungen, welche in Gefühlen der Lust und Unlust einerseits den Menschen zum Handeln treiben, andrerseits sein wirkliches Handeln begleitend beurteilen.132

Mithin ist der Wille der Ausdruck der sinnlich-natürlichen Interessen des Menschen. Auch die sittlichen Ideale gehen zwar, wie oben beschrieben, letztlich auf vom Menschen gewollte Güter zurück, da sie sich im Prozess der Moralentwicklung über sittliche Güter entwickelt haben. Aber zugleich macht es das Wesen eines sittlichen Ideals aus, dass es gerade kein Objekt ist, welches das Individuum aus seinem natürlichen Lebensinteresse heraus anstrebt, das heißt will: Es verspricht ihm nicht notwendigerweise eine Steigerung seiner Lebensqualität, ist mithin gerade kein Gut, welches das Lebensverlangen des Menschen, wie es im vorangegangenen Kapitel als anthropologische Konstante eingeführt wurde, auch nur partiell befriedigt.133 Der Abgrenzung des sittlichen Sollens vom natürlichen Wollen liegt wiederum die Unterscheidung zweier Weisen der Wertbeurteilung zugrunde:134 So unterscheidet Kaftan zwischen natürlichen und moralischen Werturteilen.135 Zwar kennt er als dritte Gruppe auch die ästhetischen Werturteile; er schreibt ihnen allerdings weder im Bereiche der Religion noch, in Abgrenzung von Herbart,136 im Bereiche der Moral eine wesentliche Rolle zu, so dass sie an dieser Stelle keine Berücksichtigung finden müssen. Die moralischen Urteile nun sind nicht etwa im Sinne beispielsweise E. v. Hartmanns als „Specialfall der natürlichen Werturtheile“137 anzusehen; vielmehr ist es eine „erfahrungsmäßig feststehende Thatsache, daß die sittlichen Vorgänge von specifischer Eigenthümlichkeit sind.“138 Diese strikte Unterscheidung zwischen natürlicher und moralischer Werbeurteilung ist darin begründet, dass in beiden jeweils unterschiedliche „oberste[...] Maßstäbe“139 zugrunde gelegt werden:

————— 132 Kaftan, Ethik, 416. Vgl. weiter ders., Das Gewissen, 159. 133 Vgl. Kaftan, Wesen, 181. Vgl. zum solchermaßen umgrenzten Willensbegriff auch unten 3.3.2 die Ausführungen zum Freiheitsproblem. 134 Vgl. zu Kaftans Verständnis des Werturteils unten Kapitel 4.2.2. 135 Vgl. hierzu Kaftan, Wesen, 53–64 und weiter ders., Das Gewissen, 15–21. 136 Mit Herbarts Moraltheorie setzt sich Kaftan in seiner philosophischen Dissertation mit dem Titel Sollen und Sein in ihrem Verhältnis zu einander. Eine Studie zur Kritik Herbarts von 1872 auseinander. 137 Kaftan, Wesen, 54. Zu Eduard von HARTMANN vgl. bes. ders., Das sittliche Bewußtsein. Eine Entwicklung seiner mannigfaltigen Gestalten in ihrem inneren Zusammenhange mit besonderer Rücksicht auf brennende sociale und kirchliche Fragen der Gegenwart, Leipzig 21886 (E. v. Hartmann’s Ausgewählte Werke 2). 138 Kaftan, Wesen, 56 (Hervorhebung im Original). Kaftan verweist als Indizien für diese Eigentümlichkeit auf die Geschichte und auf sprachliche Konventionen. 139 Kaftan, Wesen, 58 (Hervorhebung im Original).

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Allen natürlichen Werthurteilen liegt der in irgend einer Form immer vorhandene Anspruch auf Leben als Maaßstab zu Grunde. Dagegen lassen sich die moralischen Urtheile stets auf eine Idee vollkommenen Lebens oder ein ethisches Ideal als den darin angewendeten Maaßstab zurückführen.140

Die Unterscheidung der sittlichen von natürlichen Beurteilungen spiegelt demnach die moraltheoretische Distinktion zwischen Pflicht und Neigung wider: Ein natürliches Werturteil bringt die wahrgenommene Stellung eines menschlichen Subjektes zu einem Objekt hinsichtlich dessen Potential, das Lebensverlangen des Subjektes zu fördern oder zu hemmen, zum Ausdruck, gibt mithin Gefühle von Lust oder Unlust wieder.141 Ein sittliches Werturteil hingegen spricht aus, was sein soll, unabhängig davon, ob es das Leben des urteilenden Subjektes fördert oder hemmt, Lust oder Unlust auslöst. Während das natürliche Werturteil mithin etwas als ein Gut oder ein Übel bestimmt, sind die basalen Beurteilungskategorien des sittlichen Werturteils Kaftan zufolge „gut“ und „böse“.142 Es ist nun auffälligerweise gerade die Möglichkeit des Konfliktes zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Sollen und Wollen, welche Kaftan zufolge die Ausbildung des Bewusstseins unbedingten Sollens befördert: Dass Sollen und Wollen, sittliche und natürliche Wertbeurteilung einander „gleichgültig“143 sind, dass beide also unabhängig voneinander in der Perspektive ein und desselben handelnden Menschen und bezogen auf ein und dasselbe Objekt Geltung haben, bedeutet nicht, dass zwischen beiden kein Konflikt entstehen kann, im Gegenteil. Das Sollen kann nämlich nicht dadurch modifiziert werden, dass eigentlich etwas anderes gewollt wird, beziehungsweise ein natürliches Wollen verändert sich nicht, wenn ein als gültig anerkanntes sittliches Ideal eine andere als die gewollte Handlung für gut befindet. Kaftan stellt diese Konfliktträchtigkeit aber nun nicht lediglich als Problem dar, sondern konstatiert in zunächst überraschender Weise: Die lebhaftesten sittlichen Erfahrungen, die ein Mensch macht, sind gerade die, wo zwischen dem Anspruch auf Leben in ihm und einer Idee von vollkommenem Leben, welche anzuerkennen er nicht umhin kann, ein Conflict entsteht.144

Dieses Urteil gründet darin, dass es nach Kaftan paradoxerweise gerade das Bewusstsein einer nicht-kausalen Verbindung von Gebotsbefolgung und Wohlergehen, von Pflichterfüllung und Glückserfahrung ist, welche die ————— 140 Kaftan, Wesen, 58 (Hervorhebungen im Original). 141 Vgl. dazu auch oben Kapitel 2.2.2. 142 Vgl. Kaftan, Wesen, 63 (im Original z.T. hervorgehoben): „Nie ist etwas gut, weil wir es wollen, sondern weil wir uns bewußt sind es zu sollen, nennen wir es gut. Aber auch umgekehrt ist nichts ein Gut, weil wir es begehren sollen, sondern weil wir es wünschen, und sein Besitz unsere Neigung befriedigt, nennen wir es ein Gut.“ 143 Kaftan, Wesen, 62. 144 Kaftan, Wesen, 62.

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Ausbildung des Gefühls des unbedingten Sollens befördert. Dies leuchtet durchaus ein: Wer auch auf lange Sicht nicht davon ausgehen kann, dass die tugendhafte Befolgung eines sittlichen Gebots zu einer Luststeigerung führt, sogar erfährt oder erwartet, dass sie Unlust auslösende Erfahrungen hervorbringen kann, muss jenes Gebot aus anderen, was hier nur heißen kann: dem Ideal selbst innewohnenden Gründen befolgen – oder es gänzlich lassen. Hier ist das Thema des Verhältnisses von Tugend und Glücksseligkeit aufgerufen, welches bekanntlich der Kantschen Theorie der vernunftautonomen Selbstgesetzgebung eine religionsphilosophisch gestaltete Wendung gibt. Auch bei Kaftan ist die Möglichkeit und Faktizität von Konflikten zwischen natürlicher und sittlicher Wertbeurteilung nicht bloß Katalysator von Sittlichkeit, sondern zugleich ein Problem, welches der Religion in ihrem Verhältnis zur Sittlichkeit aufgegeben ist. Allerdings deutet sich bereits hier an, dass Kaftan die Funktion der Religion nicht wie Kant vor allem als die gleichsam nachgängige Vermittlung zwischen Tugend und Glück beschreiben will. Während das Postulat der Existenz Gottes bei Kant ein Problem der „Realisierung“ moralischer Freiheit bearbeitet,145 zieht Kaftan, wie noch zu zeigen ist, die Religion in die Konstitution von Moral ein. Der Grund hierfür wird darin zu sehen sein, dass die Kantische Verhältnissetzung von Moral und Religion strukturell den Lohngedanken wieder einzuführen droht, insofern Gott als „Garant“146 der Glückseligkeit zum notwendigen Postulat der praktischen Vernunft in ihrer Realisierung wird.147 Das Problem der konfliktträchtigen Differenz von Pflicht und Neigung, von sittlichem Tun und der Erfahrung von Lebenssteigerung, erfordert aber aufgrund der Distinktion zwischen sittlicher und natürlicher Wertbeurteilung eine über das Schema von Tugenderfüllung und Lohnverheißung hinausgehende Verhältnissetzung von Moral und Religion. Dies wurde bereits oben 3.2.1 deutlich, als die Ablehnung der gesetzlichen Relation von Moral und Religion im eigenständigen Wesen der Moral begründet wurde. Es ist allerdings wieder als Anschluss an Kant zu interpretieren, wenn Kaftan die Entwicklung sittlichen Bewusstseins, mithin des Gefühls unbedingten Sollens als Entwicklung von Persönlichkeit konzipiert. Es ist davon auszugehen, dass Kaftan den Begriff der Persönlichkeit, bezogen auf den Menschen, dem Gedanken nach aus Kants Moraltheorie übernimmt. So beschreibt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die menschliche ————— 145 U. BARTH, Kants Begriff, 287 und weiter AXT-PISCALAR, Wieviel Religion. 146 AXT-PISCALAR, Wieviel Religion, 523. 147 Vgl. KANT, KpV, 124–132. Vgl. dazu Kaftan, Wahrheit, 429f; ders., Zum Beweis, 464f. Vgl. auch das Fazit unten 3.4.

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„Persönlichkeit“ als die Wurzel des Pflichtgefühls.148 Der Begriff „Persönlichkeit“ bezeichnet den Menschen in der Dimension der Freiheit von der durch Kausalität bestimmten Naturwelt, mithin in seiner Zugehörigkeit zur intelligiblen Welt. Persönlichkeit ist der Mensch, wenn und indem er das Sittengesetz achtet. Diese Begriffsverwendung übernimmt Kaftan, konzipiert nun aber vor dem Hintergrund der Kantischen Moraltheorie und diese umformend eine prozessuale Theorie menschlicher Persönlichkeit: Der Mensch wird zur Persönlichkeit, wenn und indem er sich von seinem natürlichen Wollen distanziert und die sittlichen Ideale als Handlungsnormen anerkennt und verfolgt. Es wird sich noch zeigen, dass auf diese Weise zugleich der Geistbegriff loziert wird: Persönlichkeitswerdung bedeutet zugleich Geistwerdung. Persönlichkeit und Geist – hier nun liegt Kaftans Akzent auch gegenüber der Kantischen Ethik – ist der Mensch aber nicht im Sinne einer apriorischen Anlage praktischer Vernunft,149 sondern Persönlichkeit und Geist wird der Mensch. Wie dieses Werden sich in der Geschichte vollzieht, wurde in phylogenetischer Hinsicht bereits thematisiert. Menschliche Gemeinschaften setzen bedingt durch das Wechselspiel von Lebensverlangen des Einzelnen und der Ansprüche der Allgemeinheit sittliche Güter, Gebote und Ideale als das Handeln ihrer Mitglieder normierende Werte. Das Gefühl des unbedingten Sollens ist nur verständlich als Resultat jeweils eines geschichtlichen Prozesses, welcher als geschichtlicher sich von anderen vergleichbaren Entwicklungen in seiner Eigentümlichkeit abhebt. Deshalb betont Kaftan gegenüber Kant die historische Genese der praktischen Vernunft.150 Dies gilt nun auch in ontogenetischer Hinsicht. Das Individuum ————— 148 Vgl. KANT, KpV, 86f (AA V), wo er als Antwort auf die Frage nach der Wurzel des Pflichtgefühls meint: „Es kann nichts Minderes sein, als was den Menschen über sich selbst (als einen Theil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke (welches allein solchen unbedingten praktischen Gesetzen als das moralische angemessen ist) unter sich hat. Es ist nichts anders als die Persönlichkeit, d.i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur, doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens betrachtet, welches eigenthümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen, reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fern sie zugleich zur intelligibelen Welt gehört; da es denn nicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu beiden Welten gehörig, sein eigenes Wesen in Beziehung auf seine zweite und höchste Bestimmung nicht anders als mit Verehrung und die Gesetze derselben mit der höchsten Achtung betrachten muß.“ Vgl. zu Kants Verständnis von Persönlichkeit: Kaftan, Die Lehre Kants vom kategorischen Imperativ, in: ders., Drei akademische Reden, Tübingen 1908, 1–24, bes. 6f. 149 Vgl. v.a. KANT, KpV, v.a. 19–41, 71–106 (AA V). 150 Vgl. besonders deutlich Kaftan, Das Gewissen, 165: „[D]ie praktische Vernunft [ist] ein Produkt der Geschichte“. Dass Kant dies nicht gesehen habe, ist ein zentraler Punkt der Kaftanschen Kant-Kritik; vgl. z.B. ders., Zum Beweis, 458f, 464. Dabei liegt die Marginalisierung des Geschichtlichen als bloßem „Erscheinungsgebiet dessen, was abgesehen von ihr im Menschen, in

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bildet im Laufe seiner persönlichen Entwicklung ein sittliches Bewusstsein aller erst heraus. Genauer noch: Ein solches Bewusstsein wird ihm anerzogen. Auf Kaftans Verständnis der Moralerziehung in ihrer Bedeutung im Zusammenhang der Religion ist unten noch einzugehen.151 Hier ist hervorzuheben, dass Kaftan die Perspektive auf das empirische Subjekt in seiner Individualität in den Vordergrund der Überlegungen dazu stellt, wie es beim Einzelnen zum Bewusstsein unbedingten Sollens kommt. In Zusammenhang damit steht die Hervorhebung der inhaltlichen Dimension der sittlichen Ideale. Kaftan betrachtet Kants Beschreibung des kategorischen Imperativs als einseitig formalistisch und sucht demgegenüber die Inhaltlichkeit der sittlichen Ideale in ihrer geschichtlich bedingten Mannigfaltigkeit in seine Ethik zu integrieren. Grund dafür ist, dass er die Erschließungskraft rein formaler Beschreibung angesichts der tatsächlichen Erscheinung sittlicher Ideale in der Geschichte einer sozialen Gruppe für nicht ausreichend einschätzt, denn: Wirklich gut oder bös im Vollsinn dieser Prädikate ist immer nur eine menschliche Handlung, ein menschliches Wollen in einer bestimmten konkreten Situation. Und wiederum: geboten oder verboten ist gleichfalls nur die bestimmte Handlung in einer konkreten Situation.152

Dementsprechend ist eine ausschließlich formale Beschreibung sittlicher Ideale wie in der Fassung eines kategorischen Imperativs nicht geeignet für die Bestimmung dessen, was sittlich gutes Handeln ist, weder auf der theoretischen Ebene der Bestimmung des Wesens von Moral, noch auf der praktischen Ebene der Handlungsentscheidung ethischer Subjekte.153 Wie sich sogleich zeigen wird, ist neben der prinzipiellen Gebundenheit des sittlich Guten oder Bösen an konkrete Situationen aber ein weiterer, von ————— seiner Vernunft und Sinnlichkeit gegeben ist“ (a.a.O., 464) ebenso wie die moraltheoretische Funktionalisierung der Religion in der Lehre vom apriorischen Sittengesetz begründet. 151 Vgl. unten 3.2.3. Dass die Erziehung bei Kaftan eine theorienentscheidende Fragerichtung markiert, hebt auch WITTEKIND hervor. Vgl. z.B. ders., Geschichtliche Offenbarung, 99, wo er zudem angibt, dass der Fokus auf der Erziehung mit einer „antirousseauistischen Pädagogik“ einhergeht, die „zugleich auf einer pessimistischen Grundlage beruht.“ Dies wird im Zusammenhang des Sünden- und des Freiheitsbegriffs noch einmal zu bedenken sein; vgl. dazu unten 3.3.2. 152 Kaftan, Das Gewissen, 35f. Vgl. ders., Wesen, 177. Zum „Irrthum, als ob es vernünftige Moralprincipien gebe, die auf dem Weg wissenschaftlicher Forschung ausgemacht werden könnten“: ders., Predigt des Evangeliums, 67–73 (Zitat: 68). 153 Vgl. zu dieser Kritik an Kant auch Kaftan, Empirische Methode, 263 (Hervorhebung im Original), wo er darlegt, dass die formale Konstruktion einer praktischen Vernunft immer „schon eine Deutung dessen [ist], was wir in uns finden. Unmittelbar gegeben sind uns eigenartige Erlebnisse, Urteile von eigentümlicher Unabhängigkeit und Gebote, die unbedingt lauten, eben die Erlebnisse, die wir […] unser Gewissen nennen.“ Aus diesen Erlebnissen ein formales Prinzip des sittlichen Urteilens zu konstruieren, bedeutet, die „Mannigfaltigkeit des Gewissensinhalts“ (a.a.O., 264) auszublenden. Kaftan will – zumindest dem Anspruch nach – diese geschichtliche Mannigfaltigkeit in seine Moraltheorie integrieren.

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Kaftan selber nicht explizierter Grund zu rekonstruieren, warum Kaftan stärker auf die Inhaltlichkeit sittlicher Ideale abhebt als Kant. Er liegt in der Orientierung am Wesen der christlichen Religion, wie Kaftan es bestimmt, und zwar in dem Doppelsinn, dass die Charakterisierung des Inhalts sittlicher Ideale immer schon von dieser Wesensbestimmung her kommt und zugleich dem Argumentationsgefälle nach auf diese hin zuläuft. Um nun das Interesse an einer am Inhalt orientierten Beschreibung sittlicher Ideale mit jener zur Bildung eines Allgemeinbegriffs nötigenden Beobachtung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit sittlicher Ideale zu vermitteln, will Kaftan anstatt eines gemeinsamen Kernbestandes aller sittlichen Ideale ihnen „gemeinsame Tendenzen“154 erheben. Er sieht in Anbetracht der verschiedenen geschichtlichen Formationen von Moralsystemen zwei solcher gemeinsamen Tendenzen, nämlich jene, daß das sittliche Gesetz überall irgendwie das eigene Wohl dem Gesamtwohl unterordnet, [und die,] daß die Überwältigung durch den sinnlichen Trieb überall wenigstens in einigen ihrer Äußerungen getadelt wird und daher als verboten gilt.155

Die erste der beiden gemein sittlichen Tendenzen, die Überordnung des Wohlergehens der Gemeinschaft über das individuelle Wohl, mithin die Läuterung des natürlichen Egoismus, wurde bereits als Prinzip der moralischen Entwicklung, näher der Entstehung sittlicher Güter deutlich.156 Als solches kommt ihr größere moraltheoretische Bedeutung zu als der zweiten Tendenz, der Begrenzung des eigenen sinnlichen Trieblebens durch das Subjekt. Allerdings ist auch letztere Tendenz in Hinsicht auf Moralentwicklung unverzichtbar, da erstens nur beide Tendenzen zusammen „die Grundverhältnisse, in welchen menschliches Leben verläuft“,157 zu regulieren geeignet sind, nämlich das Verhältnis des Handlungssubjektes zu Anderen sowie das Verhältnis des Subjektes zu sich selbst. Und zweitens ist das Ideal der Bewältigung des Trieblebens eine unverzichtbare Ergänzung des Ideals des Wohlergehens der Gemeinschaft. Letzteres wird deutlich, wenn Kaftans Näherbestimmung der beiden Ideale betrachtet wird – und nun tritt auch der erwähnte Zug zur Christentumstheorie klar hervor. ————— 154 Kaftan, Das Gewissen, 39 (die Erhebung dieser Tendenzen und damit der Blick auf den Inhalt sittlicher Ideale bestimmt dann auch Kaftans Vorlesung zum Gewissen, welches mithin weniger formal seiner Funktion nach, sondern in Blick auf konkrete – und wie sich zeigen wird: christlich geprägte – Gehalte besprochen wird; vgl. zum Gewissensbegriff Kaftans auch unten 3.2.3); vgl. ders., Wesen, 181; ders., Das sittliche Leben, 124. 155 Kaftan, Das Gewissen, 38. Vgl. auch ders., Wahrheit, 525–527. 156 Sie liegt im Übrigen Kaftan zufolge auch der Kantschen Fassung des kategorischen Imperativs zugrunde, insofern dieser nicht leistungsfähig wäre, wenn jenes Ideal der Orientierung am Gemeinwohl nicht vorausgesetzt wäre. Vgl. Kaftan, Das Gewissen, 43f. 157 Kaftan, Das Gewissen, 39.

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Der erste Idealkomplex schafft die normativen Rahmenbedingungen, ohne welche eine soziale Gruppe nicht existieren könnte. Auch wenn oben gezeigt wurde, wie jene Rahmenbedingungen letztlich auf die Lebensinteressen vieler Einzelner zurückgehen, setzt das betreffende Ideal voraus, „daß es der Zweck des Menschen ist, in der Gemeinschaft zu leben.“158 Um diese These zu begründen, verweist Kaftan darauf, dass das Ideal der Überordnung des Gemeinschaftswohls über das des Einzelnen eine negative und eine positive Ausprägung kennt: Erstere ist die Fassung des Ideals als „Forderung der Gerechtigkeit“,159 welche es verbietet zwecks Verfolgung eigener Lebensinteressen dem Anderen Unrecht zu tun. Hierin trifft das sittliche Ideal mit dem Anspruch rechtlicher Regelung des sozialen Lebens zusammen.160 Kaftan zufolge geht das sittliche Ideal aber über diese einschränkende Funktion hinaus, wie er vor allem an religionsgeschichtlichen Belegen demonstriert: Das Christentum, der Buddhismus, aber auch die Antike kennen „das Gebot der allgemeinen Menschenliebe“,161 zumindest in Ansätzen. Ohne ein solches positives Gebot nun würde das sittliche Ideal der Überordnung des Gemeinschaftswohls letztlich ein durch natürliche Zwecke bestimmtes bleiben – erst jenes positive Gebot der Förderung des Wohls des Anderen zeichnet es als ein unbedingtes, das heißt sittliches aus. Das Wohl des Anderen und damit das Gemeinschaftswohl wird hier unabhängig von den Lebensinteressen des handelnden Individuums gefördert und kommt somit als Selbstzweck zu stehen. Dabei ist dem Ideal des Gemeinwohls eine Tendenz zur Universalisierung eigen: Der Anwendungskreis der Gerechtigkeitsforderung beziehungsweise ihrer positiven Seite, der Liebesidee, wird im Verlauf der Moralgenese sukzessive ausgeweitet, bis er nicht bloß die Mitglieder der eigenen sozialen Gruppe, sondern die Menschheit als Ganze umfasst.162 Wenn durch die unbedingte Forderung der Überordnung des Gemeinschaftswohls über das individuelle Wohl das Leben in der Gemeinschaft – schließlich in der universalen Gemeinschaft – als „Zweck des Menschen“163 bestimmt wird, so betrifft der zweite Idealkomplex den einzelnen Menschen. Die hier versammelten Werte sind direkt auf jene oben eingeführte Idee menschlicher Persönlichkeit bezogen. Sie repräsentieren die Forderung, die eigenen natürlichen Lebensinteressen zugunsten des als gesollt Erkannten zu überbilden. Wenn Kaftan an dieser Stelle vorwiegend auf die Bewältigung des je eigenen sinnlichen Lebens, des Trieblebens, abhebt, so ————— 158 159 160 161 162 163

Kaftan, Das Gewissen, 47. Kaftan, Das Gewissen, 45. Vgl. zum Verhältnis von Sittlichkeit und Recht Kaftan, Wesen, 182. Kaftan‚ Das Gewissen, 45. Vgl. zum sittlichen Ideal als eines universalen und positiven Kaftan, Das Gewissen, 154. Kaftan, Das Gewissen, 47.

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ist dies nicht nur als der konservativ-bürgerlichen Weltanschauung Kaftans geschuldet zu verstehen. Im Gegenteil impliziert es die anthropologischphilosophische Sicht des Menschen als eines von der Tier- und Pflanzenwelt qualitativ zu unterscheidenden Lebewesens, welches über den Intellekt fähig ist, die ihn umgebende Natur und die Natur, die es selbst ist, gestalterisch zu bearbeiten.164 Kaftan zufolge gründet in dieser ausgezeichneten Stellung des Menschen in der Welt dessen „geistige[s] Selbstgefühl“,165 welches wiederum der Grund für die Entstehung des Ideals der Bewältigung des natürlichen Trieblebens ist. Jenes Ideal wird von Kaftan demzufolge dahingehend ausgelegt, dass es den einzelnen Menschen in der Bildung „seiner selbst als geistiger Persönlichkeit“166 anleitet, mithin zur Bildung und Bewahrung seiner Individualität angesichts der gleichzeitigen Bestimmung zum Leben in der Gemeinschaft.167 Mithin bedeutet die sittliche Entwicklung, wie sie sich als Struktur verstanden in verschiedensten historischen Formationen menschlicher Gemeinschaft abzeichnet, die Verwirklichung der moralischen Bestimmung des Menschen, nämlich als Persönlichkeit in der Gemeinschaft anderer Persönlichkeiten zu leben. Kaftans gegen die „humane“ Moral gewendete These beinhaltet nun aber, wie oben 3.1 gezeigt, dass die Bildung zur geistigen Persönlichkeit im Konnex menschlicher Gemeinschaft im Gottesglauben gegründet ist. Eine erste Annäherung an die Begründung dieser These ergibt sich über die Frage, aus welchem Grund die sittliche Entwicklung nicht aus sich heraus zu dem ihr eigenen Ziel führen kann. Die Antwort ist sowohl anthropologisch als auch dogmatisch zu formulieren: Der Mensch ist aufgrund seines individuellen Lebensverlangens nicht in der Lage, sich stetig im Sinne vollendeter Sittlichkeit zu entwickeln; die Erfüllung des Sollens wird immer aufs Neue gehindert durch das eigene natürliche Wollen. Wie sich noch zeigen wird, ist in theologischer Perspektive der Sündenbegriff aufgerufen. Kaftan verortet den Sündenbegriff allerdings strikt als dem Begriff des höchsten Guts nachgängig, welcher, wie bereits gezeigt, der „praktische Grundbegriff der Religion“ ist. Deshalb ist hier zunächst der zentralen Gedankenlinie entlang zu gehen, auf welcher Kaftan die Vermittlung von Religion und Moral über den Begriff des höchsten Guts konzipiert. Sodann ist zu zeigen, wie die Sündenlehre, sowohl in religionstheoretischer als auch in christlich-theologischer Perspektive, als eine zweite Gedankenlinie der ————— 164 Vgl. Kaftan, Das Gewissen, 48–51. 165 Kaftan, Das Gewissen, 49. 166 Kaftan, Das Gewissen, 50. 167 Hier ist nun die positive Verwendungsweise des Begriffs des geistigen Selbstgefühls umrissen, von welchem oben Kapitel 2.2.3 gesagt wurde, dass Kaftan ihn in der Fassung der Ritschlschen und Herrmannschen Religionstheorie kritisiert.

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ersten zugeordnet ist – eine Zuordnung, aus welcher sich gewichtige Entscheidungen im Aufbau der Dogmatik ergeben. Die zentrale Gedankenlinie Kaftans, in welcher er die Vorstellung vom höchsten Gut in ihrer Bedeutung für das jeweilige Verhältnis einer bestimmten geschichtlichen Religion zur Sittlichkeit hinterfragt, ruht aber wie seine Hamartiologie auf der These auf, dass des Menschen natürliches Wollen seinen sittlichen Vollzug hindert. Es ist der Erziehungsbegriff, an welchem veranschaulicht werden kann, auf welche Weise die christliche Religion im Unterschied zu anderen Religionen diesen grundsätzlichen Zwiespalt zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Lebensverlangen und sittlicher Selbstbeschränkung bearbeitet. 3.2.3 Die Erziehung zur Moral Wenn es dem Subjekt nicht natürlich ist, sittliche Ideale zum Maßstab seiner Handlungen zu machen, sein Wille dem vielmehr entgegensteht, so ist es Sache der moralischen Erziehung, sowohl die Fähigkeit als auch die Bereitwilligkeit zu sittlicher Wertbeurteilung auszubilden. Grundlage solcher Erziehung muss es dabei konsequenterweise sein, im Menschen die Fähigkeit heranzubilden, in bestimmten Handlungssituationen von seinem natürlichen Willen Abstand zu nehmen, mithin ein Bewusstsein des Sollens allererst zu entwickeln. Um das Kaftansche Verständnis des solchermaßen umrissenen Erziehungsprozesses nachzuvollziehen, ist zu vergegenwärtigen, welche Funktionen das Gewissen in der Ausbildung und Anwendung sittlicher Werturteilsfähigkeit übernimmt, denn das Gewissen ist genau jenes Bewusstsein des Sollens, welches Zielpunkt der Moralentwicklung ist. Kaftan will dabei angesichts der Definitionenvielfalt in der Ethik sowohl vom „populären Sprachgebrauch“168 ausgehen als auch die Tatsache berücksichtigen, dass das Gewissen nicht eine einheitlich definierbare Seelengröße ist, sondern „eine Gruppe von Vorgängen des inneren Lebens.“169 Seine begriffsgeschichtlich orientierte Beschreibung170 der dem Begriff Gewissen ————— 168 Kaftan, Das Gewissen, 2; vgl. a.a.O., 8. Der ThStKr 101, 1929, 1–54, 151–171 von F. Kattenbusch posthum herausgegebene Text Kaftans beruht auf dessen Ethikvorlesungen. 169 Kaftan, Das Gewissen, 3 (im Original z.T. hervorgehoben). Dementsprechend der methodische Ansatz: Statt eines vorwegnehmend definitorischen bemüht Kaftan sich um ein empirisches Vorgehen, indem er die Funktionen des Gewissens im tatsächlichen Leben moralischer Subjekte beschreibt. 170 Orientierung verschafft Kaftan sich hier bei Martin KÄHLER, Das Gewissen. Die Entwicklung seiner Namen und seines Begriffes. Geschichtliche Untersuchung zur Lehre von der Begründung der sittlichen Erkenntniß (Erste Hälfte: Alterthum und Neues Testament), in: ders., Das Gewissen. Ethische Untersuchung (Erster, geschichtlicher Theil), Halle 1878.

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subsumierten Vorgänge ist die Beobachtung, dass alle diese Vorgänge solche der „unwillkürliche[n] Beurteilung des eigenen Handelns und Lebens“171 sind, wobei die missbilligende Beurteilung, das so genannte böse oder schlechte Gewissen, das ursprüngliche Phänomen ist. Solche Vorgänge der Handlungsbeurteilung setzen wiederum voraus, dass dem urteilenden Subjekt ein Maßstab zur Hand ist, nach dem es urteilt, ein Maßstab, welcher angesichts der radikalen Situationsbezogenheit des Handelns letztlich vom urteilenden Subjekt angesichts einer konkreten Handlung selber zu generieren ist – auch dieser Vorgang der Gesetzgebung ist nach Kaftan eine Funktion des Gewissens.172 So kann Kaftan schließlich zwischen zwei Grundfunktionen des Gewissens unterscheiden: zwischen der gesetzgebenden und der richterlichen Funktion des Gewissens.173 Die gesetzgebende meint er als „vorangehende“,174 die richterliche als „nachfolgende“175 beschreiben zu können – stellt aber zugleich fest, dass „die richterliche Funktion die ursprüngliche und die gesetzgebende Funktion die abgeleitete ist“.176 Die gesetzgebende Funktion des Gewissens als vorangehende und dennoch abgeleitete, die richterliche als nachfolgende und dennoch ursprüngliche – wie ist mit diesem scheinbaren Widerspruch umzugehen? Kaftan hebt mit der Unterscheidung zwischen „vorangehend“ und „nachfolgend“ auf die Abfolge ab, welche den reifen oder vollendeten sittlichen Vorgang beziehungsweise die Logik einer sittlichen Handlung als solcher bezeichnet: Das Gewissen sagt dem Subjekt in einer Entscheidungssituation, was das sittliche Ideal ist; sodann beurteilt es die erfolgende beziehungsweise erfolgte Handlung nach diesem Maßstab, ob sie gut oder böse ist beziehungsweise war. In der individuellen Moralentwicklung jedoch hat eine andere Reihenfolge statt: Das menschliche Individuum macht als Kind die Erfahrung von Beurteilungen des eigenen Handelns als gut oder böse, indem es mit diesen Beurteilungen zunächst von außen konfrontiert wird und sie sodann selber imitierend auf sich und andere anwendet. Das Be————— 171 Kaftan, Das Gewissen, 6. 172 Damit steht Kaftan im Gegensatz zu solchen Gewissenstheorien, welche im Gewissen lediglich die Instanz der Überprüfung des Handelns im Blick auf externe oder bereits im eigenen Normbewusstsein verortete Normen sehen wollen. Vgl. dazu z.B. die Denkschrift der EKD Gewissensentscheidung und Rechtsordnung, z.B. Thesen 10. und 20.1–3 (Gewissensentscheidung und Rechtsordnung. Eine Thesenreihe der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD-Texte 61, Hannover 1997, 12 und 15f). Kaftans demgegenüber erweiterter Gewissensbegriff, nach welchem Gewissen und Normbewusstsein zusammen fallen, hat weit reichende moraltheoretische Konsequenzen, wie insbesondere hinsichtlich der Frage nach der Fehlbarkeit des Gewissens deutlich wird (vgl. dazu ders., Das Gewissen, 31–34). Dies kann an dieser Stelle außen vor bleiben. 173 Vgl. Kaftan, Christliche Ethik, 416. 174 Kaftan, Christliche Ethik, 416. 175 Kaftan, Christliche Ethik, 416. 176 Kaftan, Christliche Ethik, 416.

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wusstsein eines allgemein geltenden Ideals hingegen, welches als formaler Maßstab fungiert, selber entsprechende Wertbeurteilungen auch in gänzlich neuen Handlungssituationen zu entwerfen, also das gesetzgebende Gewissen, entwickelt sich erst prozesshaft in der Konfrontation mit jenen zunächst heteronomen Wertbeurteilungen – und kommt auch beim reifen moralischen Subjekt nur in Extremsituationen zum Vollzuge.177 Deshalb kann Kaftan schließen, dass nicht das Bewußtsein von einem Gesetz oder kategorischen Imperativ, sondern moralische Urteile der Billigung und Mißbilligung die letzten Thatsachen des individuellen Lebens sind, auf welche sich das Gewissen zurückführen lässt.178

Wieder wird die Profilierung gegenüber Kants Moraltheorie deutlich. Zwar erkennt auch Kaftan die Bedeutung des Gewissens als Bewusstsein eines unbedingt geltenden sittlichen Ideals, welches das moralische Subjekt in der Frage nach dem gesollten Handeln leitet. Er betont aber, dass sowohl der Ursprung als auch die Mehrheit der empirischen sittlichen Vorgänge nicht im Vollzug moralischer Autonomie als vernünftiger und bewusster Selbstgesetzgebung besteht, sondern in unwillkürlicher Handlungsbeurteilung, welche im Rückgriff auf das eigene Gewissen als Bewusstsein unbedingt geltender Ideale nachträglich plausibilisiert werden kann, bei welcher aber heteronome und zudem der geschichtlichen Situation unterworfene Maßstäbe eine weit größere Rolle spielen als die Selbstgesetzgebung. Wenn sich die beiden Funktion des Gewissens erst im Laufe einer individuellen Geschichte entwickeln, so ist mit einem solchen Gewissensverständnis zugleich die Annahme einer dem Menschen angeborenen sittlichen Anlage im Sinne eines moralischen Apriori, einer natürlichen Intuition des sittlichen Ideals ausgeschlossen.179 Kaftan akzeptiert die Rede von einer sittlichen Anlage nur im Sinne „solche[r] natürliche[r] Factoren […], welche in ihrer Bethätigung zum sittlichen Leben führen.“180

————— 177 Jener Prozess der Herausentwicklung der gesetzgebenden aus der richterlichen Funktion des Gewissens wird dabei v.a. dadurch befördert, dass sich das Gewissensurteil auf in der Zukunft liegende Handlungen beziehen kann. Die prospektive Beurteilung einer Handlung und die Frage nach dem Gesollten, also das Sich-selbst-ein-Gesetz-Geben sind sich so nahe, dass die Selbstgesetzgebung in solchen Vorgängen quasi erwacht. Vgl. dazu Kaftan, Das Gewissen, 14f. Mit seiner Konzeption der gesetzgebenden Funktion des Gewissens als geschichtlichen Phänomens wendet sich Kaftan gegen die Kantsche Auffassung der „Prioriät des Gesetzes“ und damit der praktischen Vernunft als „selbst gesetzgebend“ (ders., Das Gewissen, 12); vgl. a.a.O., 12–14 und 21. 178 Kaftan, Christliche Ethik, 416. Vgl. ders., Wesen, 60f. 179 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 519f. Vgl. zur Ablehnung der Kantschen Auffassung eines moralischen Apriori ders., Philosophie, 134–143. 180 Kaftan, Wesen, 178 (im Original z.T. hervorgehoben); vgl. auch a.a.O., 60f.

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Angesichts der solchermaßen profilierten Gewissenskonzeption muss die Erziehung zur Moral eine entscheidende Rolle spielen.181 „Sittliches Leben entsteht nur durch Erziehung.“182 Deshalb streift Kaftan, ohne dezidiert pädagogische Schriften vorgelegt zu haben, in seinen moraltheoretischen Ausführungen immer wieder Fragen der Moralerziehung. Dies ist hier nicht in extenso zu verhandeln; es sollen aber die zwei für das Verhältnis der Religion zur Sittlichkeit entscheidenden Grundmomente des Kaftanschen Erziehungsverständnisses zusammenfassend extrahiert werden. Erstens ist Moralerziehung geprägt durch das Moment der Heteronomie. Da der natürliche Wille nicht aus sich heraus zu moralischem Tun neigt, ist auf diesen einzuwirken. „Erziehung vollzieht sich stets so, daß dem Einzelwillen ein fremder Wille als Autorität gegenübertritt.“183 Dies wurde bereits in der Beschreibung der Gewissensentwicklung deutlich. Die Ausbildung des Gewissens ist bedingt durch die Konfrontation mit und Verarbeitung von externen moralischen Wertbeurteilungen und Geboten, welche das geltende sittliche Ideal ausdrücken. Unter dem Gesichtspunkt der Heteronomie nun spiegelt die Moralentwicklung beim Einzelnen eine bestimmte Ausprägung des Verhältnisses von Religion und Sittlichkeit wider. Der Rolle des Erziehers, welcher durch Aufstellen von Geboten und durch die Bestrafung von Nichtbefolgung oder Belohnung bei Befolgung dieser Gebote dem Kind zu eigener moralischer Beurteilung und auf diesem Wege zu selbständiger Applikation des sittlichen Ideals zu kommen verhilft, entspricht die Rolle der Gottesvorstellung in jenem Stadium der Entwicklung einer sozialen und religiösen Gemeinschaft, in welchem die Religion über die Vorstellung der göttlichen Strafgerechtigkeit auf das sittliche Leben Einfluss nimmt.184 Es ist zu bemerken, dass Kaftan solcher Funktionalisierung der Religion im Bereich der Moral über gesetzliche Strukturen durchaus ihr Recht zugesteht, insofern das Übergreifen der Religion auf sittliches Gebiet förderlich für letzteres sein, mithin den „sittliche[n] Fortschritt in der Geschichte“185 unterstützen kann. In diese Beobachtung spielen die Überlegungen zur Moralbildung hinein. Auch eine zur Gesetzlichkeit tendierende Verknüpfung von sittlichem Tun und Belohnung durch Gott kann zu solcher Beförderung von Sittlichkeit beitragen, indem über die Habitualisierung des zunächst rein äußerlichen Gehorsams gegenüber dem Gottesgebot mit der ————— 181 Zu Fragen der Moralentwicklung und der moralischen Erziehung vgl. bes. Kaftan, Wesen, 60–64; 161f, 185, 188f sowie ders., Das Gewissen, 21–30. 182 Kaftan, Wesen, 162. 183 Kaftan, Wesen, 162. 184 Vgl. Kaftan, Wesen, 162–164. 185 Kaftan, Wesen, 165.

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Zeit eine bestimmte „innere Stellung“186 zum Gottesgebot eingenommen und so spezifisch sittliches Handeln eingeübt wird. Die moralbildende Valenz des Gehorsams gegen das Gottesgebot in Erwartung einer entsprechenden Vergeltung hat ebenso wie das Phänomen des Schuldgefühls auch im Rahmen der christlichen Religion eine bleibende Bedeutung.187 Zweitens gelingt Moralerziehung dann, wenn sie als positive Einwirkung auf den natürlichen Willen gestaltet ist. Ziel ist zwar die Fähigkeit und Bereitwilligkeit zur Abstandnahme von bestimmten natürlichen Willensregungen – dies wird nach Kaftan aber letztlich weniger durch die Androhung von Strafen als vielmehr dadurch befördert, dass „die Motive der natürlichen Lust und Unlust auf das Ziel des gebotenen Handelns hin in Bewegung gesetzt werden.“188 Auch wenn Kaftan das Sollen vom Wollen so deutlich unterscheidet, wie oben dargestellt, auch wenn er Tugend und Lust gerade nicht zusammen fallen lässt, so hält er daran fest, dass eine gewisse Form der Wertschätzung gegenüber sittlichen Geboten nötig ist, um Moralität zu entwickeln: Es kommt „auf einen freudigen Gehorsam gegen die sittlichen Gebote“189 an. Auch die höchste sittliche Stufe, die des Befolgens sittlicher Ideale um ihrer selbst willen, kann nur dadurch erreicht werden, „daß der einzelne Güter kennt, die seinen Pflichten entsprechen“.190 Kaftan meint, mit einem solchermaßen angedeuteten Modell der Korrelation von Gut und Ideal, welche sich oben im Begriff des sittlichen Gutes andeutete, „die Auflösung der alten Controverse über Tugend und Lust“191 befördern zu können. Hier deutet sich demnach an, in welche Richtung Kaftan bei der Verhandlung des oben problematisierten Verhältnisses von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit gehen will. Weder fallen Tugend und Lust in eins noch kann Glück der Lohn von Tugend sein – dennoch ist ein wirklich sittliches Tun nur möglich, wenn der Mensch mit dem Ideal einhergehende „Güter kennt, in denen er sein Leben findet.“192 Diese Phase der Moralentwicklung spiegelt den Übergang einer religiös-sozialen Gemeinschaft in ein Stadium wider, in welchem die Religion sittliche Vorgänge nicht bloß äußerlich über den Lohn- oder Strafvorstellung reguliert, sondern in welchem das erstrebte religiöse Gut mit einem sittlichen Ideal innerlich verbunden ist. Solche innerliche Verbundenheit begründet denn auch die Funktion der ————— 186 Kaftan, Wesen, 167. 187 Vgl. dazu unten 3.3.2. 188 Kaftan, Wesen, 161. 189 Kaftan, Wesen, 189. 190 Kaftan, Wesen, 189. 191 Kaftan, Wesen, 190; im Original hervorgehoben. 192 Kaftan, Wesen, 190. So meint Kaftan zum Gegensatz zwischen der stoischen und der epikureischen Philosophie: „Die Auflösung der Controverse liegt […] in dem correlaten Verhältniß von Pflichten, Tugenden oder sittlichen Idealen einerseits, sittlichen Gütern andrerseits“ (a.a.O., 191).

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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Religion, zwischen den natürlichen Strebungen des Menschen und den Einschränkungen der Sittlichkeit vermittelnd einzutreten. Dieser für die von Kaftan anvisierte gelingende Integration von Religion und Moral entscheidende Gedanke der Korrelation eines Gutes und eines Ideals wird damit nicht lediglich theologisch postuliert, sondern an der Theorie der Moralentwicklung ausgewiesen. Es wird sich zeigen, dass der pädagogische Zuschnitt dieser Theorie sich auch in der Auslegung der Gehalte des christlichen Offenbarungsglaubens, dessen ethische Dimension nun in den Blick zu nehmen ist, an Schlüsselstellen Wirkung verschafft.

3.3 Das Christentum als ethische Erlösungsreligion Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

Die Rekonstruktion von Kaftans moraltheoretischen Ausführungen in Hinsicht auf die Relation von Moral und Religion ergibt den Rahmen, innerhalb dessen sein Verständnis der christlichen Erlösungsreligion als einer wesentlich ethischen nachzuzeichnen ist. 3.3.1 Das Reich Gottes als höchstes sittliches Gut Allem voran hat nach den bisherigen Überlegungen die These zu stehen, dass das in der christlichen Religion erstrebte höchste überweltliche Gut zugleich ein oberstes sittliches Ideal ist, dass mithin die Erfahrung der Erlösung von der Welt schon jetzt und in gewisser Hoffnung der zukünftigen Weltvollendung zugleich vor eine genuin sittliche Forderung stellt. Kaftan entwickelt dies aus einer Beschreibung der Ethik Jesu, welche, wie sich zeigen wird, innerlich mit dem durch Jesus nicht nur verkündeten, sondern in die Welt gebrachten höchsten Gut des Gottesreichs zusammen hängt. Grundlegend hierfür ist Kaftans Unterscheidung zwischen dem eschatologischen „Gedankenkreis[...]“193 der Verkündigung Jesu und dem ethischen, welche seiner Distinktion zwischen Religion und Ethik entspricht.194 Wie im vorangegangenen Kapitel gesehen, ist der ethische Gedankenkreis der jesuanischen Verkündigung nicht ohne weiteres so zu verstehen, dass aus ihm die Gegenwart des Gottesreichs zu erklären ist. Diese Gegenwart ist schließlich als schon jetzt anhebende Erlösung von der Welt zu verstehen – gerade nicht als ethischer Vollzug. Das Profil der Reichgotteslehre Kaftans liegt darin, dass die ethische Dimension des Gottesreichsgedankens die gegenüber der eschatologischen nachgängige ist. Nicht ist das sittliche ————— 193 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 42. 194 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 40.

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

Handeln als das Gottesreich der Zukunft herbeiführende Mitarbeit zu verstehen. Sondern vielmehr bedeutet die Teilhabe am in Jesus gegenwärtigen Gottesreich der Zukunft die Enthebung von der Welt, in welcher als Enthebung erstens die Erkenntnis der sittlichen Forderung, zweitens die Motivation und drittens die Befähigung zu ihrer Umsetzung liegt. Das Reich Gottes als höchstes überweltliches Gut und mithin die christliche Vorstellung der Erlösung von der Welt gelten Kaftan als der vollständige Bestimmungsgrund christlicher Ethik. So ist zunächst zu zeigen, inwiefern in der Vergegenwärtigung des Gottesreichs durch Jesus die Erkenntnis eines sittlichen Ideals – und zwar, wie sich zeigen wird, des vollendeten sittlichen Ideals – liegt. Kaftan zufolge tritt die Erfahrung des Gottesreichs als eines höchsten überweltlichen Guts per se „in Widerspruch mit seinem [des Menschen] natürlichen Wesen, das an den Gütern der Welt hängt.“195 Sie entspricht damit dem Wesen der Sittlichkeit, welches im Gefühl unbedingten Sollens und damit in der Distanzierung vom natürlichen Wollen liegt.196 Diese Analogie zwischen Gottesreichserfahrung und allgemein sittlicher Forderung zeigt Kaftan aber auch materialiter in der expliziten Ethik Jesu auf. Denn auch Kaftan kennt neben der eschatologischen die ethische Dimension der Verkündigung und des Wirkens Jesu. So weist er an Jesu Reich-Gottes-Predigt einen ethischen Gedankenkreis aus, als dessen Zentrum er „die Forderung der neuen Gerechtigkeit“197 bestimmt, wie sie besonders im Matthäusevangelium als wesentliches Moment von Reden und Wirken Jesu dargestellt wird (Mt 5,20; 6,33). Kaftans Auslegung der in der Gerechtigkeitsforderung zusammen gefassten materialen Ethik Jesu steht dabei unter einem Vorbehalt, der an Weiß’ Auffassung der Ethik Jesu als einer Interimsethik198 gemahnt: Aufgrund der Nähe des Gottesreichs vertritt Jesus als Lehrer der Gerechtigkeit nicht die Details des jüdischen Gesetzes – sei es in Erfüllung, sei es in Überbietung, sei es in Reform. Vielmehr stellt er – und repräsentiert zugleich in seiner Person – die Frage nach dem „wahren Sinn des Gesetzes“.199 Dieser Sinn besteht zunächst darin, dass nicht der Kult, sondern „die einfachen sittlichen Pflichten […] die höchsten Religionspflichten der Jünger

————— 195 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 44. 196 Vgl. als zusammenfassenden Ausdruck hierfür Jesu Wort vom Nicht-Sorgen (Lk 12,22–32/ Mt 6,25–34) und dazu HENGEL/SCHWEMMER, Anspruch Jesu, 75. 197 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 46 (Hervorhebung im Original). 198 Die das Leben in der Welt betreffenden Anweisungen Jesu zielen nach WEISS allein auf „die sittliche Vorbereitung“ (ders., Predigt Jesu, 228) auf das kommende Reich Gottes hin. 199 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 56 (Hervorhebung von C.C.). Vgl. Mt 5,17 zur prinzipiellen Haltung Jesu zum Gesetz.

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Jesu“200 sind. In jenen so genannten „einfachen sittlichen Pflichten“, nicht in der Befolgung kultischer Regeln, erfüllt der Mensch der Kaftanschen Auslegung zufolge den Willen Gottes, wie ihn Jesus verkündet. Damit ist die Ethik Jesu dadurch grundlegend gekennzeichnet, dass sie die Selbständigkeit sittlichen Tuns gegenüber kultischen Verpflichtungen herausstellt. In der Neutestamentlichen Theologie fasst Kaftan diese Grundbestimmung der Sittlichkeit darin zusammen, dass Jesus ihren „intensiven“,201 das heißt das ganze Leben des Einzelnen bestimmenden Charakter, vor Augen stellt. Dass Jesus die Sittlichkeit nicht etwa auf die Reglementierung des kultischen Handelns beschränkt oder die kultischen Vorschriften als Normierung des sozialen Handelns begreift – wie es besonders in den Auseinandersetzungen mit Pharisäern und Schriftgelehrten zum Ausdruck kommt –,202 wird auch deutlich im Blick auf den Inhalt der sittlichen Pflichten, wie Jesus sie vorstellt. Als den konkreten Gehalt der jesuanischen Forderung einer neuen Gerechtigkeit bestimmt Kaftan die Ideen der Gottes- und Nächstenliebe sowie der Bewältigung der sinnlichen Triebe.203 Indem er diese Ideen predigt und verkörpert, repräsentiert Jesus den Willen Gottes: Die Gerechtigkeitsforderung, welche Jesus erhebt, ist die Zusammenfassung all dessen, „was Gott vom Menschen fordert, Gerechtigkeit und Liebe im Verkehr untereinander, dazu Herzensreinheit, d.h. geistige Zucht der Sinne.“204 Es fällt sofort ins Auge, dass sich in Kaftans Zusammenfassung der Ethik Jesu die beiden Grundtendenzen aller sittlichen Ideale spiegeln, wie er sie andernorts im Rahmen der Moraltheorie aufweist: nämlich zum einen das Gemeinwohl über die eigenen Interessen zu stellen und zum anderen in Distanz zu dem eigenen natürlich-sinnlichen Verlangen zu treten.205 Jesu Forderung einer neuen Gerechtigkeit fasst damit in nuce die das Verhältnis des Menschen zu anderen und zu sich selbst betreffenden Tendenzen der sittlichen Entwicklung zusammen. Aber noch grundlegender entspricht das in Jesu Reich-Gottes-Verkündigung aufgewiesene sittliche Ideal der Idee vollendeter Sittlichkeit: ————— 200 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 57. Kaftan verweist zur Begründung auf die Perikopen über das Ährenraufen am Sabbat (vgl. Mt 12,3–8), über Reinheit und Unreinheit (vgl. Mk 7,1–23) und über die Kritik an den Schriftgelehrten und Pharisäern (vgl. Mt 23,1–36). 201 Kaftan, Wahrheit, 539 (Hervorhebung im Original). 202 Vgl. z.B. die in Mk 2,13–17 par.; 3,1–6 par. usf. eingebetteten Schul- und Streitgespräche. 203 Kaftan bezieht sich dabei – implizit – nicht nur auf die von der alttestamentlichen Forderung (vgl. z.B. Lev 19,18) her gestalteten Stellen von der Gottes- und Nächstenliebe (Mt 5,43; 19,19; 22,37.39), sondern ausdrücklich auch auf das Gebot der Feindesliebe (vgl. Mt 5,43–48), in welcher sich ihm zufolge die aus der Liebesforderung erwachsende Forderung der „Versöhnlichkeit“ (ders., Neutestamentliche Theologie, 58) zeigt. Die Forderung nach Überwindung der eigenen Triebhaftigkeit findet er in Jesu Worten vom Abhauen von Hand und Arm und Ausreißen des Auges zum Ausdruck gebracht (vgl. Mk 9,43–48). 204 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 46. 205 Vgl. oben 3.2.2.

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Diese besteht gemäß den in aller Moralentwicklung nachzuweisenden Tendenzen in der Universalität des Ideals, das heißt: in der „Verbindung aller Menschen durch das Gebot der Liebe“.206 Eben dieses Telos der sittlichen Entwicklung wird im Reich Gottes, wie Jesus es als Ideal verkündet hat, anschaulich und durch das Gebot der Liebe normativ formuliert. Die Entschränkung des ethischen Gebots in Richtung des Ziels der universalen Menschengemeinschaft findet nach Kaftan seinen Ausdruck darin, dass Jesus die Liebe als „unbedingte Pflicht“207 vor Augen stellt – besonders anschaulich im Gebot der Feindesliebe.208 Die Beschreibung der Ethik Jesu und damit der Grundlagen christlicher Ethik als vollendete Sittlichkeit in sich zusammenfassend legt die kritische Frage nahe, ob die Moraltheorie Kaftans nicht von vornherein durch seine spezifische Auslegung der ethischen Gehalte christlicher Religion, wie sie in der Verkündigung und dem Wirken Jesu begründet werden, konfiguriert ist. Hier interessiert jedoch weniger die allgemeine Gültigkeit der Moraltheorie Kaftans als vielmehr die spezifische Auslegung der ethischen Gehalte des Christentums als einer wesensmäßig eschatologischen Religion. Deshalb ist umgekehrt nachzuvollziehen, inwiefern die zuvor erörterten moraltheoretischen Erwägungen Kaftans ihm nun als Modell zur Verfügung stehen, Eschatologie und Ethik in der christlichen Theologie zu vermitteln. Es soll mithin nicht gefragt werden, ob Kaftans These, dass die christliche Religion zugleich vollendete Sittlichkeit bedeutet, als allgemeine, das heißt: auch jenseits der binnenchristlichen Verständigung geltende Wahrheit erwiesen werden kann. Vielmehr ist umgekehrt zu überlegen, welche Konsequenzen diese These für die Wesensbestimmung des Christentums selber und sodann für die Dogmatik hat.209 Entscheidend in dieser Perspektive ist, dass Kaftan nicht nur behauptet, das christliche Ideal, wie es in Jesu Gottesreichpredigt gründet, sei das Ideal vollendeter Sittlichkeit, sondern dass der christliche Glaube an das in Christus gegenwärtig gewordene Gottesreich zugleich die Kraft idealen sittlichen Vollzugs ist. Damit ist die zweite ethische Konsequenz des eschatologischen Gottesreichsverständnisses erreicht: In der Erfahrung des Gottesreichs als höchstes Gut liegt nicht nur die Erkenntnis idealer sittlicher Forderung, sondern zugleich die Motivation zu einem Handeln, welches jener Erkenntnis entspricht. Kaftan führt, um dies zu zeigen, seine oben in Kapitel 2 erörterte Grundvoraussetzung durch, dass nämlich das Gottesreich zuvörderst als eschatologisches Gut, als Teilgabe am ewigen Leben, zu begreifen ist und erst in zweiter Linie als ethisches Ideal. Für das die christliche Religion ausma————— 206 207 208 209

Kaftan, Wahrheit, 543 (Hervorhebung im Original). Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 58 (Hervorhebung im Original). Vgl. Mt 5,44; Lk 6,27f (vgl. dann auch Röm 12,14.20). Zur hier virulenten Frage nach der Absolutheit des Christentums vgl. unten Kapitel 4.2.6.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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chende Verhältnis von eschatologischer Heilswirklichkeit und ethischer Weltgestaltung gilt Kaftan zufolge sogar: Nur weil das Gottesreich eschatologisches Gut ist, kann es zugleich als Ideal überhaupt verwirklicht werden. Das Gottesreich ist nicht bloß ein sittliches Ideal in der Welt, sondern vor allem ein überweltliches höchstes Gut, in dessen Besitz und Genuß die Seligkeit besteht. Das und das allein ist es, wodurch dieses Ideal die Kraft gewinnt, was es an sittlichen Tendenzen in der Geschichte giebt, zusammenzufassen und zum vollendeten Abschluß zu bringen.210

So schreibt Kaftan im Schlussteil seiner Wahrheitsschrift, wo es ihm darum geht, „die christliche Idee vom Reiche Gottes“211 als die der Vernunft entsprechende und damit allgemeingültige Idee vom höchsten Gut zu erweisen. Er greift dabei zurück auf die moraltheoretische Korrelation eines Guts mit einer Pflicht, in welcher die tatsächliche Erfüllung der Pflicht begründet liegt. Ein Gut, welches dem vollendet sittlichen Ideal der „Verbindung aller Menschen durch das Gebot der Liebe“212 korreliert, in dessen Genuss mithin die Kraft der Verwirklichung jenes Ideals läge, ist Kaftan zufolge empirisch nicht auszuweisen. An einem solchen Gut müssten „alle [Menschen] in der gleichen Weise Theil haben“, und es dürfte „nicht etwas untergeordnetes sei[n], sondern die höchste Beziehung menschlichen Daseins und Lebens.“213 Kaftans Ausführungen bleiben an dieser Stelle dunkel. Es ist aber davon auszugehen, dass er meint, die Gemeinschaft der Menschen, welche das vollendet sittliche Ideal vorstellig machte, müsste als Wert erfahrbar sein, wenn jenes Ideal Geltung beanspruchen können sollte. Er weist in diesem Zusammenhang die „Idee[...] von Menschenwürde“214 als kraftlos aus, weil sie selber erst aufgrund der Gewissheit jener universalen Gemeinschaft gültig ist.215 Solche universale menschliche Gemeinschaft ist aber kein möglicher Gegenstand empirischer Welterfahrung. Kaftan schließt, dass sie nur als überweltliche Wirklichkeit erfahrbar und wirksam ist. Anknüpfend an diese Feststellung introduziert Kaftan den Glauben an „die Gleichheit aller Menschen vor Gott“, an „das gleiche Ziel aller im ewigen Gottesreich“216 als Grund des vollendet sittlichen Ideals und mithin als Voraussetzung der sittlichen Entwicklung. Jesus stellt das Reich Gottes als überweltliche Bestimmung des Menschen als Einzelnen und als Ge————— 210 Kaftan, Wahrheit, 542. 211 Kaftan, Wahrheit, 506; zusammenfassend für das Schlusskapitel der Wahrheitsschrift: „Der Beweis des Christenthums“ (490–578). 212 Kaftan, Wahrheit, 543 (Hervorhebung im Original). 213 Kaftan, Wahrheit, 543. 214 Kaftan, Wahrheit, 544. 215 Vgl. hierzu die Kritik Kaftans an der so genannten „humanen“ Ethik, wie sie oben 3.1 dargestellt wurde. 216 Beide Zitate: Kaftan, Wahrheit, 544.

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meinschaft vor: nämlich als Bestimmung „zu einem durch das Band der Liebe verbundenen Reich persönlicher Geister“.217 Damit ist die christlicheschatologische Vorstellung der Erlösung von der Welt, das heißt der Teilhabe am Leben Gottes und damit des ewigen Lebens, nicht nur in ihrer Bedeutung für die sittliche Entwicklung der Menschheit herausgestellt, sondern im Vergleich zu den anderen Erlösungsreligionen spezifiziert. Der Genuss des höchsten überweltlichen Guts, des Gottesreichs, ist, erstens, gleichbedeutend mit der Verwirklichung der eigenen Bestimmung zur Persönlichkeit. Die Individualität des Menschen wird nicht etwa als im überweltlichen Ziel des Lebensverlangens aufgehoben vorgestellt, sondern als hier erst zur Vollendung gebracht. Diese Vollendung wird aber weiterhin dezidiert sittlich spezifiziert: Nicht die Individualität des Menschen als natürlichen Wesens, sondern seine geistige Persönlichkeit kommt im Gottesreich zur Erfüllung. Das bedeutet aber schon per definitionem, dass auch der Erlöste nicht für sich lebt, sondern in Gemeinschaft mit anderen „persönlichen Geistern“, das heißt aber so, dass das natürliche Lebensverlangen des Einzelnen mit dem „Wohl anderer oder einer Gesammtheit“218 vermittelt ist. Da der Persönlichkeitsbegriff wie oben gesehen bei Kaftan ethisch bestimmt ist, tritt neben die im Kapitel 2 dargelegte eschatologische Bestimmung des Gottesreichs nun eine ausdrücklich ethische Beschreibung, welche streckenweise die Beschreibung des Gottesreichs als Gut sogar dominiert. Seine sittliche, das heißt weltgestaltende Kraft freilich erfährt der Glaube an die überweltliche Wirklichkeit universaler menschlicher Gemeinschaft im Gottesreich darin, dass diese Wirklichkeit in Jesu Person und Wirken in der Wirklichkeit der Welt gegenwärtig wird. Zumindest ist das der Inhalt des christlichen Glaubens: Die universale menschliche Gemeinschaft verwirklicht sich als Gabe Gottes, an welcher der Mensch im Glauben teilhat. Es fragt sich freilich, inwiefern aus dieser präsentischen Teilhabe an der überweltlichen Bestimmung der Menschheit die motivationale Kraft fließt, ————— 217 Kaftan, Das Gewissen, 51. Vgl. weiter ders., Das sittliche Leben, 101f, wo Kaftan meint, die Kraft des sittlichen Ideals der Verbindung aller Menschen „durch das Gesetz der Liebe“ (a.a.O., 102) dependiere vom Glauben an Gott als den „Vater“ aller Menschen und „an sein ewiges Reich als unser aller höchstes Ziel“ (ebd.). In seinen Ethikvorlesungen trägt Kaftan diesen Gedanken unter den Ausführungen zum Gewissen vor, näherhin im Abschnitt „Der absolute Ursprung des Gewissens“ (vgl. ders., Das Gewissen, 151–157). Hier tritt deutlich hervor, dass die eschatologische Perspektive die anthropologische Perspektive überbietet: „Die Bestimmung des Menschen liegt nicht in der bloßen Realisierung dessen, was er von Natur ist, seines natürlichen Willens zum Leben. […] Der Mensch ist dazu bestimmt, einen allgemeinen Zweck zu realisieren, der über ihm steht […]. Und dieser Zweck ist nichts anderes als das Leben in einer durch die Liebe organisierten Gemeinschaft, in einem auf die Liebe als Grundgesetz gegründeten Reich persönlicher Geister.“ 218 Kaftan, Wahrheit, 537.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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dem in ihr liegenden sittlichen Ideal in der Welt nun auch selbsttätig handelnd Gestalt zu geben.219 Kaftan beantwortet diese Frage wiederkehrend im Bild von Gabe und Aufgabe. Das Reich Gottes, wie Jesus es verkündigt und in personam in die Welt bringt, ist zuvörderst eine Gabe – und zwar eben die „Gabe […], in deren Besitz man selig ist, in keiner Weise und unter keinem Gesichtspunkt Frucht und Erfolg des eigenen Tuns und Wirkens.“220 Hier spiegelt sich Kaftans Ablehnung der gesetzlichen Verhältnissetzung von Religion und Moral wider, die mithin als Schriftauslegung zu stehen kommt. Das Reich Gottes ist demnach nicht die Gabe, die durch sittlichen Selbstvollzug verdient wird. Es bringt jedoch als Gabe diesen sittlichen Vollzug mit sich, da es „zugleich eine große Aufgabe, hinter der alles zurücktritt“,221 ist. Kaftan führt diese nicht-gesetzliche Verhältnisbestimmung von Aufgabe und Gabe in Hinsicht auf die Aneignung des höchsten Guts aus und bietet hier implizit eine Auslegung der lutherischen Verhältnissetzung von Glaube und guten Werken.222 Die Gabe des Gottesreichs, mithin die Teilhabe an dem überweltlichen Reich persönlicher Geister, begründet die Erfüllung der Aufgabe, das heißt ein Handeln, welches am Gottesreich als Ideal seine Norm hat. Damit drängt die Erfahrung des überweltlichen Heils auf das sittliche Handeln hin. Kaftans Rede von der „Kraft“ des Gottesreichs als sittlichen Ideals impliziert aber weiterhin nicht bloß die motivationelle Valenz der Gottesreichsvorstellung, sondern – und hiermit ist die dritte ethische Konsequenz der eschatologischen Gottesreichsvorstellung benannt – weist darauf hin, dass in der Erfahrung des Gottesreichs auch und allererst die Befähigung dazu liegt, der idealen sittlichen Forderung nachzukommen. Es ist das Wortfeld um den Begriff der Freiheit, in Rückgriff auf welches er diese ebenfalls an Luther angelehnte These erörtert. Die Erfahrung des Gottesreichs als Gut bedeutet die Befreiung von aller Bindung an natürliche Güter. Jesu Reichspredigt bringt die sittliche Bewegung der Distanznahme zum natürlichen Wollen nicht nur in vollendeter Weise zum Ausdruck, sondern in der Erfahrung der Gegenwart des Gottesreichs liegt die Erfüllung menschlichen Lebensverlangens, so dass der Mensch diese nicht mehr in den natürlichen Gütern suchen muss. In diesem Zusammenhang reformuliert Kaftan die reformatorische und darin genuin christliche Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, welche wegen der Bedeutung dieses Topos in ————— 219 Vgl. zur Frage nach der motivationellen Valenz der Vorstellung des höchsten Guts am Beispiel der Kantschen Moraltheorie: AXT-PISCALAR, Das gemeinschaftliche höchste Gut, 240–242. 220 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 44. 221 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 44 (Hervorhebung von C.C.). 222 Vgl. dazu vor allem die oben 3.1 bereits zur Sprache gekommene Freiheitsschrift (WA VII, bes. 29–38).

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einem eigenen Abschnitt Darstellung finden muss, obwohl in der Kaftanschen Theologie der Sündenbegriff und die Vorstellung der Sündenvergebung oder Rechtfertigung, wie sich gleich zeigen wird, nicht die zentrale Stellung einnimmt. 3.3.2 Sünde und Sündenvergebung Kaftan konzipiert, wie eben gesehen, die Ethik Jesu als das Modell einer gelingenden Verhältnissetzung von Religion und Moral, um so den Grundstein für eine christliche Ethik zu legen, die keine Einschränkung der zuvor als wesentlich eschatologisch bestimmten christlichen Religion darstellt. Umgekehrt liegt in seiner Konzeption der Ethik Jesu die Grundlegung dafür, das Reich Gottes als überweltliches Gut, welches dem Menschen zugeeignet wird – das heißt: die Erlösung als durch Gottes Macht bewirkte radikale Entweltlichung –, mit der Selbsttätigkeit endlicher Subjekte und damit einer veritablen Ethik vermitteln zu können. Die Konstruktion des Verhältnisses von christlicher Eschatologie und Ethik hebt mithin zugleich auf eine Theorie endlicher Freiheit unter der Prämisse schlechthinniger Bestimmung durch Gott ab. In dogmatischer Perspektive meint Kaftan, dass es „eine für das christliche Denken nicht abzuweisende Frage [ist], wie sich Gottes Allmacht und der Menschen Freiheit zueinander verhält“.223 Auf diese Frage zielen letztlich auch Kaftans moraltheoretische Überlegungen zum Freiheitsproblem, wie er sie in seinen Vorlesungen zur Ethik vorgetragen hat.224 Angesichts der Kontroverse zwischen Indeterminismus und Determinismus tritt Kaftan zunächst einen Schritt zurück und betont, dass bezüglich des Freiheitsproblems immer zunächst nach dem Subjekt der gemeinten Freiheit und nach dem Wovon der Freiheit zu fragen ist.225 Kaftan selber meint, dass die klassische Kontroverse die verschiedenen Erfahrungen von Freiheit verwischt. Zunächst ist von der eigentlichen Willensfreiheit zu reden, welche die Ungehemmtheit des natürlichen Willens von äußeren und inneren ————— 223 Kaftan, Das Problem der sittlichen Freiheit, 2. Dieser posthum von F. Kattenbusch in ThStKr 104, 1932, 1–53 herausgegebene Teil der Kaftanschen Ethikvorlesungen ist die ausführlichste Abhandlung von Kaftan zur Frage nach der moralischen Freiheit, welche er gerade nicht Willensfreiheit nennt. Vgl. weiter ders., Dogmatik, §§35 und 57. 224 Vgl. Kaftan, Freiheit und weiter ders., Ethik und Statistik, 227f, 234–236. – In den Vorlesungen zur Statistik (ebenfalls von Kattenbusch posthum herausgegeben: ThStKr 105, 1933, 226– 240) wird auch der zeitgeschichtliche Kontext der Ausführungen zur Freiheit des Handelns deutlich: Kaftan verweist am Beispiel der statistischen Methode darauf, dass die Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden auf die Ethik sich großer Beliebtheit, aber auch irreführender Überschätzung erfreut, womit eine Fehleinschätzung menschlicher Freiheit einhergeht. Vgl. zur damit zusammenhängenden Verkennung der Naturgesetze als gleichsam „mythische[r] Gewalten“ (a.a.O., 232) auch unten Kapitel 4.2.4. 225 Vgl. Kaftan, Freiheit, 33.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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Hindernissen ist und welche sich in einem Zusammenfallen von Wollen und Handeln äußert.226 Sodann ist von der „sittlichen Freiheit“ zu sprechen, das heißt: der „Freiheit zum Guten“,227 welche sich darin äußert, dass der Mensch nicht durch seine sinnlichen Neigungen vom Tun des Guten abgehalten wird. Das liberum arbitrium228 wiederum meint zunächst die Fähigkeit zur Wahl zwischen verschiedenen Handlungen, das heißt aber: die Möglichkeit, sich vom natürlichen Wollen solchermaßen zu emanzipieren, dass die durch den Intellekt vorgestellten Maximen der Klugheit das Handeln leiten. Auch die Wahlfähigkeit kann in moralischer Perspektive betrachtet werden und meint dann die Fähigkeit zur Wahl des Guten, wenn auch das Böse möglich wäre. Als solche fällt sie sodann mit der sittlichen Freiheit zusammen. Kaftans Differenzierungsversuch hebt darauf ab, an zweierlei zugleich festzuhalten, was seines Erachtens in der Theologie- und Philosophiegeschichte zumeist in problematischer Weise auseinander gefallen ist:229 Es ist auf der einen Seite von der Fähigkeit des Menschen zu sprechen, zwischen verschiedenen Handlungen zu wählen, denn hierin ist erstens seine Verantwortlichkeit und gegebenenfalls seine Schuldfähigkeit begründet. Zweitens äußert sich in dieser Wahlfähigkeit des Menschen Personsein, insofern der Mensch Person wird, indem er über seine spontane Vorstellungstätigkeit Einfluss auf sein Handeln nimmt, worin sowohl sein Selbstbewusstsein und seine Selbstbestimmung gründet.230 Es ist aber auf der anderen Seite daran festzuhalten, dass des Menschen Fähigkeit, das Gute zu wählen und mithin seine sittliche Freiheit keinesfalls ein angeborener beziehungsweise natürlicher Besitz des Menschen ist. Zum guten Handeln muss der Mensch vielmehr befreit werden, weil er von sich aus die Objekte seines natürlichen Wollens den sittlichen Idealen in der Normierung seines Handelns immer wieder voranstellt. In Kaftans Moraltheorie ist es der Begriff der Erziehung, welcher hier stets fällt, insofern sowohl die Fähigkeit zur Wahl des Guten als auch damit die sittliche Freiheit „Produkt der Erziehung“231 ist. In theologischer Perspektive wird das Abheben auf die moralische Erziehung freilich noch einmal überboten, weil die Idee menschlicher Unfähigkeit zum Guten radikalisiert wird. So verweist Kaftan in der Vorlesung zur sittlichen Freiheit auf die paulinische Distinktion zwischen Sarx und Pneu————— 226 Vgl. Kaftan, Freiheit, 21–28. 227 Beide Zitate: Kaftan, Freiheit, 29. 228 Vgl. Kaftan, Freiheit, 33–49. 229 Vgl. Kaftan, Freiheit, 32. 230 Vgl. Kaftan, Freiheit, 42f. Vgl. zum sittlich begründeten Personwerden des Menschen unten 3.3.4. 231 Kaftan, Freiheit, 45.

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ma,232 welche zum einen das Behaftetsein des Menschen bei seinem natürlichen Wollen und damit seine Unfähigkeit zum Tun des Guten und zum anderen seine Befreiung zu jenem Tun zum Ausdruck bringt. Dementsprechend ist in der auf die christliche Dogmatik abhebenden Auslegung des Neuen Testaments nun der Sündenbegriff aufzusuchen, um über diesen zu zeigen, wie Kaftan in christlich-theologischer Perspektive die menschliche Freiheit zum Tun des Guten begründet. Dabei wird sich zeigen, dass auch in Kaftans Sündenlehre das gleichzeitige Festhalten an der Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit des Menschen und an der Behaftung des Menschen bei seiner natürlichen Unfähigkeit zum Guten die Gedankenführung leitet. Ferner wird sich zeigen, dass auch hier – analog zum pädagogischen Zuschnitt der Moraltheorie – das Werden des Menschen als sittlicher Persönlichkeit der Zielpunkt der Ausführungen ist. Zunächst nun ist angesichts der Moralgenese, wie sie oben beschrieben wurde, radikal pessimistisch festzustellen: Die Sünde der Welt hat den Heiland der Welt an’s Kreuz geschlagen: das ist es, wozu es die sittliche Entwicklung der Menschheit von sich aus gebracht hat.233

Es ist deutlich, dass diese Beurteilung der faktischen sittlichen Entwicklung, in welcher zugleich das Urteil über ihr prinzipielles Gehemmtsein mitschwingt, aus der Perspektive des Glaubens an Christus – den „Heiland der Welt“ – formuliert ist. In der Tat meint Kaftan wie Ritschl und später Barth,234 dass die Sündenerkenntnis nicht in der Selbstbeurteilung des natürlichen Menschen liegt, sondern eine durch die Offenbarung Gottes in Christus vermittelte Erkenntnis des Glaubens ist. Kaftan scheint direkt an den §34 von Ritschls Unterricht anzuknüpfen, wenn er meint: Das christliche Verständniß der Sünde und das heißt in diesem Zusammenhang die unentbehrliche Voraussetzung für das richtige Verständnis der Versöhnung, darf nur aus dem Christenthum selbst entnommen werden. Genauer: Es läßt sich nur auf Grund dessen feststellen, was das höchste Gut der christlichen Religion ist.235

Wenn Kaftan nun dennoch den Ritschlschen „Standpunkte der Versöhnungsgemeinde“236 in der Wesensschrift dahingehend verlässt, dass er den Sündenbegriff als einen allgemein religiösen nachzeichnet und dies auch in der Dogmatik aufgreift,237 so dient dies zum einen dazu, die Abhängigkeit der Sündenvorstellung von der Vorstellung des höchsten Guts religions————— 232 Vgl. Röm 8,3f u.ö. 233 Kaftan, Dogmatik, 597. 234 Vgl. RITSCHL, Unterricht, §34; ders. RuV III3=4, 310. Vgl. K. BARTH, KD IV/1: Die Lehre von der Versöhnung, Erster Teil, Zürich 1953, §60,1. (395–458). 235 Kaftan, Wesen, 272f. Vgl. auch ders., Dogmatik, 323, 325; ders., Rechtgläubigkeit, 14. 236 RITSCHL, RuV III3=4, 310 (im Original hervorgehoben). 237 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 336f.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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theoretisch auszuweisen, und zum anderen dazu, die Eigenart der christlichen Sündenvorstellung in der Religionsgeschichte und damit einhergehend die besondere Art der Vermittlung von Religion und Ethik im Christentum darzutun. Der Sündenbegriff als solcher ist bei Kaftan mithin dezidiert religionstheoretisch eingeführt, das heißt zunächst als integraler Bestandteil aller geschichtlichen Religionsformationen – freilich in variabler Fassung – beschrieben. Wie im vorangegangenen Kapitel dargelegt, versucht Kaftan die in Geschichte und Gegenwart beobachtbaren Phänomene des Religiösen an jenes anthropologische Motiv zurück zu binden, welches er als fundamental für jegliche Religion ansieht: das menschliche Verlangen nach Leben und die Erfahrung des Mangels an Gütern, welche jenes Verlangen befriedigen könnten. Wie die Ausdrucksformen des Religiösen aus jenem innerweltlich unstillbaren Lebensverlangen erwachsen, wurde bisher vor allem für den Kultus und die Gottesvorstellung dargestellt. Dabei ging es primär um das Verhältnis des Menschen zu den Gütern, welche seinen Lebensanspruch befriedigen sollen – natürliche Güter, die er durch kultische Betätigung von Gottheiten oder der Gottheit erbittet, und die letztlich durch ein höchstes überweltliches Gut substituiert werden können. Die Stellung des Menschen in seiner Welt ist aber nicht bloß durch die Erfahrung von Gütern geprägt, sondern auch durch die von Übeln. Dies muss nun eingehende Betrachtung finden, denn an die Erfahrung des Übels lässt Kaftan die religiöse Vorstellung der Sünde und in Zusammenhang hiermit die Vorstellungen von Zorn und Strafgerechtigkeit Gottes anschließen. Dabei ist sogleich einzuräumen, dass diese nun zu behandelnden Phänomene für Kaftan nicht im Zentrum der Religion stehen. Dies ist eine konsequente Folge seines religionstheoretischen Ansatzes, nach welchem das entscheidende Motiv, der „praktische Grundbegriff aller Religion“238 das Gut ist. Von ihm dependieren die jeweiligen Ausdrucksformen einer Religion239 – und damit auch die jeweiligen religiösen Umgangsformen mit der Erfahrung des Übels, so dass jene Bewältigungsformen als indirekte, sekundäre Vollzüge von Religion zu stehen kommen. Von daher ist für jede Religion zu sagen, was oben für die christliche Religion behauptet wurde: Die jeweilige Vorstellung dessen, was Sünde ist, hängt von der Vorstellung dessen, was das Gute ist und wie dieses vermittelt wird – mithin von der Offenbarung240 – ab. Nun könnte man fragen, ob es nicht gerade Kaftans religionstheoretischem Modell zufolge eigentlich die Erfahrung des Übels ist, welche über————— 238 Kaftan, Wesen, 195 (im Original z.T. hervorgehoben). 239 Vgl. zum Gottesbegriff oben 2.2.4. 240 Zum Verständnis der Offenbarung als Mitteilung des in einer Religion jeweilen angestrebten Guts vgl. v.a. oben Kapitel 2.2.4 und unten Kapitel 4.2.6.

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haupt erst religiöse Vorstellungen und Kulte hervorbringt. Schließlich bearbeitet die Religion die ausbleibende Befriedigung des Lebensverlangens. Angesichts der Kaftanschen Rückführung der Religion auf Mangel- und Kontingenzerfahrungen erschiene es deshalb konsequent, die Entwicklung der Religion anhand der menschlichen Übelerfahrungen zu beschreiben und die verschiedenen Vorstellungs- und Vollzugsformen der Religion sowie die bereits vorgestellte Typologie der Religionen nicht an die Vorstellung von Gütern, sondern an den Umgang mit erfahrenem Übel zurück zu binden. Kaftan tut dies aber nicht; im Gegenteil lässt er die Erfahrungen des Übels im ersten Teil seiner Wesensschrift deutlich hinter dem menschlichen Streben nach Lebenserfüllung zurücktreten. Dabei ist es jene Strebehaltung des Menschen, welche auch die Erfahrung eines Übels in sich trägt: [W]as jeweilen mit seinem [des Menschen] gerade vorhandenen Anspruch auf Leben streitet, oder nach früherer Erfahrung denselben in der Zukunft bedroht, das beurtheilt er als Uebel, es führt Unlust für ihn mit sich […].241

Stehen die Übelerfahrungen also in der Entstehung der Religion hinter dem prinzipiellen Verlangen nach Lebenserfüllung zurück, so bewirken sie doch spezifische Vorstellungs- und Vollzugsformen der Religion. Wenn diese im Folgenden zur Sprache kommen, so ist dabei stets mitzuführen, dass Kaftan die betreffenden Vorstellungen im Sinne der religionsgeschichtlichen Herangehensweise zunächst als allgemeine religiöse Grundformen behandelt, welche im Verlauf der Religionengeschichte spezifische Transformationen erfahren. So auch die Sündenvorstellung, welche nun an erster Stelle thematisch werden muss, da die anderen hier interessierenden Vorstellungen an sie anschließen. Kaftan definiert das, was in den Religionen gemeinhin als Sünde verstanden wird, folgendermaßen: Sünde ist jeder Verstoß gegen die religiöse Gesetzgebung, und heilig ist, wer ihr durch sein Verhalten in allen Beziehungen entspricht.242

Den Hintergrund für diese Bestimmung von „Sünde“ stellt die religiöse Vorstellung dar, die Gottheit sei durch Befolgung bestimmter Regeln – hier „religiöse Gesetzgebung“ genannt – zu beeinflussen, das heißt gegenüber dem Menschen wohlwollend zu stimmen, so dass sie die erbetenen Güter gewährt. Die „religiöse Gesetzgebung“ normiert mithin vor allem das kultische Leben, von welcher aus sie aber auf weitere Bereiche des Lebens, auch des Alltags, übergreifen kann.243 In allen Fällen jedoch betrifft jene Gesetz————— 241 Kaftan, Wesen, 59. 242 Kaftan, Wesen, 154. 243 Hieran schließen sich Kaftan zufolge „religiöse Satzungen von allerlei Art“ (Kaftan, Wesen, 153; im Original z.T. hervorgehoben) an: „Dies oder jenes ist verboten, weil es eine Beleidigung der

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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gebung die Gestaltung der menschlichen Gottesbeziehung und ist von einer ethischen Gesetzgebung, welche den sittlichen Umgang der Menschen untereinander zum Gegenstand hat, zu unterscheiden. Insofern ist festzuhalten, dass Kaftan aus zwei Gründen von vornherein gegen eine moralisierende Engführung des Sündenbegriffs gefeit ist. Erstens lässt er die religiöse Sündenvorstellung nicht im sittlichen, sondern im natürlichen Leben gründen, das heißt im Bereich menschlicher Lust- und Unlustempfindungen.244 Im Hintergrund steht die prinzipielle Differenzierung zwischen sittlichem und natürlichem Leben. Zweitens wird die Sünde dadurch von Phänomenen des sittlichen Lebens unterschieden, dass ihr Ursprung im Bereich der Gottesbeziehung lociert wird. Sünde ist demnach primär nicht als ein moralischer Verstoß, sondern als eine Störung des Mensch-Gott-Verhältnisses gefasst. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn der Gottesglaube einer Volksgemeinschaft oder kleineren Gruppe eine Pervertierung erfahren hat, das heißt Kaftan zufolge wenn „der Glaube an Götter fast ganz in dem […] Glauben an böse Geister untergegangen“245 ist. Übelerfahrung wird dann auf böswillige Aktionen dieser Geister zurückgeführt und gar nicht als „Sünde“ erfahren. Die Sündenvorstellung dependiert demnach vom Glauben an prinzipiell gerechte und wohlgesonnene Götter oder deren einen.246 Mithin basiert die religiöse Sündenvorstellung auf einem Rückschluss aus der Erfahrung eines Übels auf das momentane Nicht-Wohlwollen der Gottheit und weiter auf das Vorliegen einer Übertretung des göttlichen Gebots. Der Mensch erfährt das Ausbleiben eines Guts oder ein Übel und nimmt deshalb an, die Gottheit, von der er sich die Zuwendung von erbetenen Lebensgütern erhofft, entziehe ihm ihr Wohlgefallen. Dies nun wird er, da er das Wohlgefallen der Gottheit auf regelgerechte kultische Praxis oder Lebensführung zurückführt, damit begründen, dass er einen religiösen Regelverstoß begangen haben muss, oder anders: seinen Verkehr mit Gott nicht dem Willen Gottes entsprechend gestaltet hat. Dieser Verstoß wird „Sünde“ genannt. Die Sündenvorstellung wird demnach dadurch befördert, dass der religiöse Mensch sich bestimmten göttlichen Forderungen gegenübergestellt sieht, welche es einzuhalten gilt, wenn die göttliche Lebenshilfe ————— Gottheit einschließt und folglich Unglück bringt. […] Ebenso gilt anderes als Gott wohlgefällig, und das Versäumniß desselben ist eine Sünde, seine Beobachtung bringt Glück.“ (Ebd.) 244 Gleichwohl besteht eine Analogie zwischen der religiösen Vorstellung der Sünde und der Heiligkeit und der sittlichen Lebensbeurteilung: „Wie man in dieser zwischen gut und bös unterscheidet, so wird dort zwischen Sünde und Heiligkeit unterschieden“ (Kaftan, Wesen, 154). 245 Kaftan, Wesen, 116. 246 Dass es sich freilich bei der beschriebenen Sündenvorstellung zunächst um die Vorstellung von Tatsünden handelt, wird ebenfalls deutlich. In beiderlei Hinsichten, also sowohl im Blick auf das Verhältnis der Sündenvorstellung zur Sittlichkeit als auch auf das Verständnis der Sünde als einer Tatsünde erwächst die Frage, welche Transformation die eingeführte Sündenvorstellung im Bereich der christlichen Religion erfährt, der unten nachgegangen wird.

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gewährt werden soll. Bleibt die Erfahrung eines Gutes aus, wird auf Nichteinhaltung der göttlichen Forderungen geschlossen.247 Damit setzt die einfache religiöse Sündenvorstellung eine heteronome Struktur der Wirklichkeitssicht voraus, die zugleich ein anthropomorphes Gottesbild bedeutet. Der Religiöse begegnet in seiner Gottesbeziehung den „Forderungen eines fremden Willens, welche ihm gegenüber stehn,“248 so dass Sünde näher bestimmt werden kann als Verstoß gegen den Willen der Gottheit, der aber, wo die Vorstellung von demselben nicht durch sittliche Gesichtspunkte bestimmt wird, als ein privater Wille nach Analogie eines menschlichen Einzelwillens gedacht werden muß.249

Die Ausformung der solchermaßen vom göttlichen Gesetz her beschriebenen Grundstruktur der Sündenvorstellung variiert in den unterschiedlichen positiven Religionen. Entscheidend ist dabei wiederum, welche Güter im religiösen Vollzug eigentlich erstrebt werden. Besonders deutlich ist dies bei jenen Religionen zu sehen, in welchen die mystische Tendenz der Religion im Vordergrund steht, also vor allem in den indischen Erlösungsreligionen. In diesen erfolgt, wie bereits gesehen, eine Abwendung von den verschiedenartigen weltlichen Gütern hin zu einem höchsten überweltlichen Gut, das heißt: der ersehnten Vereinigung mit dem göttlichen Leben.250 Die religiöse Gesetzgebung, welche das Erreichen jenes Guts regelt, sieht konsequenterweise „die religiöse Contemplation und die asketische Weltver————— 247 Kaftan nennt hier keine religionsgeschichtlichen Beispiele, sondern bezieht sich im betreffenden Abschnitt wieder ganz allgemein auf die WAITZ/GERLANDsche Anthropologie der Naturvölker (hier z.B. Bd. VI, 303, 309). Gleichwohl fallen allein aus dem Bereich der biblisch bezeugten Religionsformen exemplarische Belege ein: Generell ist der sog. Tun-Ergehen-Zusammenhang zu nennen, vor dessen Hintergrund aus dem unglücklichen Geschick eines Menschen auf eine Widersetzung gegen den göttlichen Willen und damit auf Sünde geschlossen wird. So werfen die Freunde des Hiob diesem vor, er müsse gesündigt haben, wenn es ihm schlecht ergehe – vgl. z.B. Hi 4,1–5,7. 248 Kaftan, Wesen, 155. 249 Kaftan, Wesen, 155. Kaftan setzt diese Sündenbestimmung fort mit Worten zum implizierten Gottesverständnis, welche stark an die Kritik VON HARNACKs an Anselms Gotteslehre aus Cur deus homo erinnern: „[D]ie Sünde ist daher eine Beleidigung der Gottheit, und die Vorstellung davon ist dieselbe, die der Mensch sonst von der Beleidigung eines Machthabers hat.“ (Kaftan, Wesen, 155; im Original z.T. hervorgehoben.) Vgl. dazu Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte III (1889), Tübingen 51932, 388–409, davon bes. 401–409. In der Kaftanschen Wortwahl kündigt sich bereits die Kritik an der einfachen religiösen Sündenvorstellung und dem vorausgesetzten Gottesverständnis an, wobei es v.a. das vorsittliche Gepräge der betreffenden Sündenvorstellung ist, welches einer Läuterung bedarf, und welches insbesondere durch die christliche Vorstellung von der Sünde radikal verändert wird. Auf der anderen Seite ist hervorzuheben, dass die Zuschreibung eines persönlichen Willens an Gott Kaftan zufolge zu den bleibenden Grundmomenten der allgemeinen religiösen Gottesvorstellung gehört und auch in der christlichen Gottesvorstellung entscheidend ist; vgl. hierzu v.a. unten 3.3.4. 250 Vgl. dazu oben Kapitel 2.2.3.

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neinung als die höchsten alles andere überbietenden Pflichten“251 an. Sünde ist dementsprechend schon „das natürliche Leben in der Welt.“252 Von dieser Vorstellung der Sünde nun ist die christliche Vorstellung deutlich abzugrenzen.253 Bevor darauf eingegangen wird, sind aber noch die weiteren aus der Erfahrung des Übels erwachsenden religiösen Vorstellungen und Vollzüge zu umreißen, da auch sie in Kaftans Modell einer christlichen Ethik entscheidende Funktionen innehaben. Nicht nur dependiert die Sünden- von der Gottesvorstellung, sondern der Religiöse schließt auch umgekehrt aus der Sündenvorstellung auf Eigenschaften oder Handlungsweisen der Gottheit. So kann Kaftan an die Sündenvorstellung die Vorstellungen vom Zorn Gottes einerseits und von der göttlichen Strafe und Belohnung andererseits anschließen. Denn die Annahme, die Gottheit durch eine Übertretung der religiösen Gesetze missgestimmt zu haben, impliziert bereits die Annahme, Gott zürne dem Übertreter und enthalte ihm deshalb die erbetenen Güter vor beziehungsweise wende ein Übel nicht ab.254 Und während der Religiöse, wenn er die Erfahrung eines Gutes macht, dies als göttliche Belohnung für Befolgung der religiösen Gesetze wertet, so versteht er die Erfahrung eines Übels wiederum als Strafe Gottes für eine Übertretung der religiösen Gesetze, mithin für begangene Sünde.255 Jene Vorstellungen göttlicher Reaktion auf menschliche Sünde führen wiederum zu spezifischen religiösen Gefühlen und zu Weisen der Bewältigung sowohl dieser Gefühle als auch der angenommenen Störung im Gottesverhältnis. So ist die Landschaft möglicher religiöser Empfindungen angesichts der erhabenen Gottheit abgesteckt durch „[g]emeine Furcht und Scheu“256 auf der einen, „unbedingte Ehrfurcht vor der sittlichen Majestät Gottes“257 auf der anderen Seite. Und um mit der Furcht umzugehen und den Zorn Gottes abzuwenden beziehungsweise einer drohenden Strafe zu entgehen, kennt jede Religion spezifische Sühneriten, welche sich auf die ————— 251 Kaftan, Wesen, 170. 252 Kaftan, Wesen, 170 (im Original z.T. hervorgehoben); vgl. a.a.O., 186f. Kaftan stellt diese spezifische Vorstellung von der Sünde am Beispiel der indischen Brahmalehre und der buddhistischen Moral vor, weist aber auch – allerdings ohne expliziten Beleg – auf entsprechende christliche Auslegungen der biblischen Erzählung vom sog. Sündenfall hin. Vgl. a.a.O., 171f. 253 Einer solchen Haltung der Weltverneinung steht in christlicher Perspektive schon der Schöpfungsglaube entgegen. Vgl. z.B. Kaftan, Ein neues Dogma, 24. 254 „Der Mensch glaubt, daß diese oder jene Handlung ihm die Gunst der Gottheit zuwendet oder ihren Zorn hervorruft: Gunst oder Zorn der Gottheit bedeuten aber für ihn Förderung oder Schädigung in seinem Leben.“ Kaftan, Wesen, 150. 255 Vgl. Kaftan, Wesen, 155. 256 Kaftan, Wesen, 120. 257 Kaftan, Wesen, 120. Furcht und Ehrfurcht sind dabei auch Ausdruck der Vorstellung der Verborgenheit der Macht Gottes – vgl. a.a.O., 118.

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vorangegangene Verletzung des Willens der Gottheit beziehen oder vorausschauend solche Verletzungen ausgleichen sollen.258 Festzuhalten ist: Kaftan weist am religionsgeschichtlichen Material einen allgemeinen Begriff von Sünde aus, welcher in der Erfahrung des natürlichen Menschen insofern gründet, als das Erleben von Leid und Übel eine Entfremdung von der Gottheit als des Guten schlechthin annehmen lässt. Diese Entfremdungserfahrung wird als eigene Schuld, mithin als Verstoß gegen den Willen der Gottheit – jedoch zunächst nur als kultischer Regelverstoß – vorgestellt. Dabei dependiert die Vorstellung dessen, was Sünde ist, von der jeweiligen Vorstellung des höchsten Guts. Für Kaftans spezifische Verzahnung der Religions- mit der Moraltheorie ist nun aber entscheidend, dass seiner Beobachtung nach die Sündenvorstellung zwar im eigentlich religiösen Bereich entsteht – das heißt hier im Bereich der vor allem kultischen Hinwendung zu einem oder mehreren Göttern –, von dort aus aber auf das soziale Leben ausgreift. So können die Sündenvorstellung und die mit ihr verbundenen Vorstellungen Bedeutung auch für das sittliche Leben bekommen. Dieses Ausgreifen der Religion auf den Bereich der Moral, welches bereits oben Darstellung fand,259 reflektiert Kaftan mithin auch im Zusammenhang der Sündenvorstellung. Wenn nämlich die religiöse Gesetzgebung nicht mehr nur die im engeren Sinne kultischen Vollzüge regelt, sondern auch soziale Verhaltensweisen, so können auch Verstöße gegen solche Regeln als Sünde bezeichnet werden. Auch die sittlichen Vergehn sind Sünde und können nun als persönliche Beleidigung der Gottheit aufgefasst werden.260

Dementsprechend fungieren ursprünglich im religiösen Bereich entstandene Vorschriften als Regulatoren des sittlichen Lebens. Die Gottheit, als dessen Wille die entsprechenden Vorschriften gelten, hat dann nicht mehr bloß religiöse Bedeutung, sondern ist zugleich Garant der sittlichen Strukturen. Wo nun überhaupt an eine Ordnung geglaubt wird, da ist sie eine Macht, meist die oberste Macht über das Leben, welche der Mensch kennt. Eben dadurch eignen sich die Götter dazu die obersten Wächter der sittlichen Ordnungen zu sein: diese werden, sobald sie überhaupt einen festen Bestand gewonnen haben, unter den Schutz der Götter gestellt.261

Gerade die Sündenvorstellung und die mit ihr verbundenen Vorstellungen eignen sich dazu, eine solche stabilisierende Funktion für den sittlichen ————— 258 Vgl. Kaftan, Wesen, 155f. Kaftan bezieht hier sich auf die „Religionen der Naturvölker“ (a.a.O., 155) ebenso wie auf die römische und die israelitische Religion. 259 Vgl. oben 3.2.1. 260 Kaftan, Wesen, 164. 261 Kaftan, Wesen, 162.

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Bereich zu übernehmen. Die Furcht vor göttlicher Strafe beziehungsweise die Aussicht auf göttlichen Lohn motivieren das Individuum zur Anpassung nicht nur an religiöse, sondern auch an sittliche Regeln, wenn die Gottheit in dem Sinne erhaben vorgestellt wird, dass ihre Macht auch auf den sittlichen Bereich ausgreift.262 Es wird hier erneut deutlich, dass Kaftan trotz seiner Kritik an der Usurpation der Sittlichkeit durch die Religion eine positive Funktion des Übergreifens der Religion auf die Sittlichkeit kennt.263 Es sind bei Kaftan mithin zwei Verwendungsweisen des Begriffs „Gesetz“ zu unterscheiden. Auf der einen Seite kennzeichnet er solche Verhältnissetzungen zwischen Religion und Sittlichkeit, welche strukturell den Tun-Ergehen-Zusammenhang zeigen und mithin als „gesetzlich“ zu bezeichnen sind. Auf der anderen Seite wird sich zeigen, dass auch in der christlichen Religion das Gesetz eine bleibende und positive Bedeutung hat, weil es den Willen Gottes ausdrückt.264 Dass es somit auch eine normierende Funktion für das sittliche Handeln ausüben kann, heißt nicht, dass die wechselseitige Selbständigkeit von Religion und Moral aufgehoben wäre. Vielmehr ist hier neben dem Gedanken des sittlichen Guts ein weiteres Moment angezeigt, über welches Religion und Moral als unterschiedene in enge Beziehung gesetzt werden, über welches näherhin die konstitutive Bedeutung der Religion für die Moral aufgezeigt wird. Zugleich allerdings ist festzuhalten, dass die sittlich stabilisierende Wirkung des religiösen Gesetzes insofern Gefahren in sich birgt, als sie allzu leicht in Gesetzlichkeit umschlagen kann, womit die Selbständigkeit der Moral aufgehoben wäre. Kaftan führt deshalb eine grundlegende Unterscheidung im Gottesverständnis ein, welche weit reichende Bedeutung für die Religionstheorie gewinnt – und letzhin in der christlichen Theologie gründet. Obwohl in den meisten Religionen, auch in den Naturreligionen, die Götter als Garanten der sittlichen Ordnung fungieren, werden sie selber deswegen nicht notwendigerweise „mit ihrem Wesen und Handeln in eine innere Beziehung zum sittlichen Leben gesetzt.“265 Die hier gemeinte „innere Beziehung“ bestünde dann, wenn die Gottheit nicht nur Garant der sittlichen Ordnung ————— 262 Als religionsgeschichtliche Beispiele für die Bedeutung auch des nichtchristlichen Gottesglaubens im sittlichen Bereich führt Kaftan die Institution des Gottesgerichtes sowie die Unterstellung des Eides und das Wohlergehen des Fremden unter göttlichen Schutz an (mit Verweis auf WAITZ/GERLAND, Anthropologie und NÄGELSBACH, Homerische Theologie). Vgl. Kaftan, Wesen, 162. 263 Dies deutete sich schon oben 3.2.3 an, wo festgestellt wurde, dass im Prozess der Erziehung eine Verinnerlichung heteronomer Forderungen durch Habitualisierung erfolgt. 264 Deshalb ist es Kaftan zufolge falsch, „zwischen Gesetzes- und Erlösungsreligion“ (ders., Religionsphilosophische Anschauung Kants, 10) zu unterscheiden. Dass Gottes Gesetz gilt, ist vielmehr die Voraussetzung dafür, Erlösung erfahren zu können. 265 Kaftan, Wesen, 163 (Hervorhebung von C.C.).

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wäre, auch nicht bloß ihr Urheber, sondern wenn sie „selber sittliche Autorität[...]“266 wäre. Dies ist jedoch in vielen geschichtlichen Religionen nicht der Fall, sondern oftmals stehen Gottheit und sittliche Ordnung gleichsam nebeneinander, wird also die Gottheit selber nicht als sittlich qualifizierte und qualifizierende vorgestellt. Zwar erstreckt sich ihre Macht auf das sittliche Leben, welches dem göttlichen Leben aber äußerlich bleibt und in rein sozialen Kontexten gründet. Angesichts solcher Religionen gilt für die Entwicklung des Verhältnisses von Gottesglauben und Sittlichkeit: Nicht die sittliche Vollkommenheit, sondern die Strafgerechtigkeit den Menschen gegenüber ist das erste ethische Attribut der Gottheit.267

Gutes religionsgeschichtliches Anschauungsmaterial hierfür bietet die griechische Religion, in welcher den Göttern selber sowohl gutes als auch böses Handeln – gemessen am geltenden ethischen Kanon – zugeschrieben wird. Sogar die Verführung zum bösen Handeln kann Homer zufolge von Göttern ausgehen, die jenes Handeln gleichwohl strafend ahnden.268 Voraussetzung für die Vorstellung der Strafgerechtigkeit Gottes ist die bisher dargestellte Vorstellung der Sünde als Verstoß gegen das Gesetz Gottes und damit gegen den Willen Gottes.269 Dabei dürfte deutlich sein, dass – legt man eine traditionelle Unterscheidung christlicher Hamartiologie zugrunde – die Sünde bisher als Tatsünde, besser noch: als Pluralität von Tatsünden, und zwar religiös-kultischer und sittlicher Art, in den Blick kam. Wenn nun die christliche Sündenvorstellung vorgestellt wird, so wird sich diese Perspektive verändern, indem die Sünde nicht als Vielzahl von Tatsünden, sondern als grundsätzliche Verkehrung im Verhältnis des Menschen zu Gott begriffen wird. Kaftans religionstheoretische Grundlegung des Sündenbegriffs bestimmt aber auch die christlich-theologische Verständigung über die Sünde, wie sie in der Offenbarung Gottes in Christus erkannt wird. Erstens versteht Kaftan die Sünde prinzipiell vom Gesetz Gottes her, und das heißt als Fehlen in dem, was Gott vom Menschen fordert. Inwiefern die christliche Religion dennoch wesentlich gerade nicht im negativen Sinne gesetzlich verfasst ist, erörtert Kaftan über die Rechtfertigungsthematik.270 Zweitens ist Kaftans Rekonstruktion auch der christlichen Sündenvorstellung davon bestimmt, dass die Sünde eine Störung im menschlichen Gottesverhältnis ist, welche trotz ihres, wie sich zeigen wird, radikalen Charakters, je und je neu vom Menschen handelnd in Vollzug ————— 266 Kaftan, Wesen, 164 (im Original z.T. hervorgehoben). 267 Kaftan, Wesen, 163 (im Original z.T. hervorgehoben). 268 Kaftan bezieht sich hier erneut auf NÄGELSBACH, Homerische Theologie. 269 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 336: „Der Wille Gottes ist das Erkenntnissprinzip der Sünde […] Dieser Wille Gottes ist das Gesetz d.h. der gebietende Gotteswille.“ 270 Vgl. dazu unten 3.3.3.

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gebracht wird.271 Kaftan legt dabei durchaus den Akzent auf die im Handeln des Menschen liegende bedingte Freiheit, um solchermaßen den Schuldcharakter der Sünde herauszustellen. Demgegenüber tritt das Moment des Tragischen zurück. Trotz der Problematik, welche im Begriff der Freiheit als einer relativen Wahlfreiheit liegt, hat dieses Vorgehen den Vorteil, die Verantwortlichkeit des Menschen für sein Tun herausstellen zu können und das in der Selbsterfahrung des Menschen auftretende Schuldgefühl beziehungsweise das schlechte Gewissen einer Bearbeitung durch die Religion zuzuführen.272 Für die christliche Sündenvorstellung nun ist entscheidend, dass Kaftan in der christlichen Religion die oben bereits angedeutete Transformation des Gottesbegriffs vollzogen sieht. Gott wird nicht lediglich als Gesetzgeber vorgestellt, welcher die Gesetze des sittlichen als gottwohlgefälligen Handelns über Strafe oder Belohnung durchsetzt, wie es in der Vorstellung der göttlichen Strafgerechtigkeit liegt. Sondern Gott wird selber als „sittliche Autorität[…]“273 verstanden. Dies heißt, wie in der Reflexion auf den Gottesbegriff noch genauer gezeigt werden wird,274 nichts anderes, als dass sich Gott in seinem Gesetz selber bestimmt, so dass Gottes Wille seinem Wesen entspricht. Was die Vorstellung von der Sünde als Zuwiderhandeln gegen das göttliche Gebot betrifft, bedeutet die Vorstellung Gottes als sittlicher Autorität eine Radikalisierung des Sündenbegriffs. Die Sünde ist nicht bloß ein Verstoß gegen ein göttliches Gebot, sondern darin das Zuwiderhandeln gegen Gott selber.275 Als solche bedeutet sie eine fundamentale Störung des menschlichen Gottesverhältnisses, die dem Menschen als Gefühl tiefster Entfremdung von Gott als dem Ziel des eigenen Lebens bewusst wird. Diese Entfremdung äußert sich in der Selbstwahrnehmung des

————— 271 Kaftan kritisiert an der Unterscheidung von Sünde als habitus und Sünde als actus, dass zwischen beiden „kaum eine Grenze [zu] ziehen“ ist, da „der Mensch überhaupt nur Mensch im Wollen und Handeln“ ist (beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 343). – Vgl. zum „unauflöslichen Zusammenhang zwischen der Erbsünde und den Tatsünden“, welchen herauszustellen genuines Anliegen der refomatorischen Theologie ist, Christine AXT-PISCALAR, Art. Sünde VII. Reformation und Neuzeit, in: TRE 32, 2001, 400–436, hier: 401. 272 Vgl. Kaftan, Wesen, 167. 273 Kaftan, Wesen, 164 (im Original hervorgehoben). 274 Vgl. dazu unten 3.3.4. 275 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 341: Die Sünde ist damit „eine in thatsächlichem Widerspruch mit Gottes ewigem Wesen stehende Richtung des Lebensprozesses.“ Vgl. zur im Gottesgedanken begründeten Radikalisierung der Sündenvorstellung in der christlichen Religion a.a.O., 225, wo er aus dem „Monotheismus und Universalismus des biblischen Gottesgedankens“ die „Unbedingtheit“ des „Urtheil[s] über die Sünde“ ableitet. Mit dieser Radikalisierung geht auch die Individualisierung einher: Die Sündenvorstellung betrifft zuvorderst den Einzelnen in seiner Beziehung zu Gott. Vgl. a.a.O., 298.

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Menschen in der Verzweiflung darüber, der eigenen Bestimmung fehl zu gehen.276 Für die Frage nach dem Verhältnis von Religion und sittlichem Vollzug heißt das nichts anderes, als dass in der christlichen Religion die Verstrickung des Menschen in sein natürliches Wollen in radikaler Weise wahrgenommen wird. Dabei ist es wieder die spezifisch christliche Vorstellung vom höchsten Gut, von welcher das Urteil über die Sündigkeit des Menschen herkommt. Auf der einen Seite gilt vom „Leben der natürlichen Menschheit, daß es ganz und gar sündig ist, daß es von der Sünde beherrscht wird.“277 Dieses Beherrschtsein durch die Sünde äußert sich darin, dass der Mensch die Befriedigung seines natürlichen Wollens durch endliche Güter sucht, sich dabei auf sich selber fixiert und so die sittliche Bildung seiner selbst als geistiger Persönlichkeit in Gemeinschaft mit Anderen gehindert ist. Kaftan meint sogar, hier vom „Wesen des natürlichen Menschen“278 sprechen zu müssen, welches durch die Sünde gänzlich gezeichnet ist. Er will damit zum Ausdruck bringen, was auch die Reformatoren gegenüber der katholischen Anthropologie betont haben: Dass der Mensch ganz und gar sündig ist – und nicht etwa nur, wie im Trienter Konzil vorgetragen, durch den Verlust der Urstandsgerechtigkeit geschwächt.279 Dass Kaftan damit aber auf der anderen Seite nicht etwa die in den lutherischen Bekenntnisschriften abgelehnte Meinung des Flacius teilt, die Sünde mache die substantia280 des Menschen aus, wird deutlich daran, dass er im Gegensatz zum Sündenverständnis in den so genannten mystischen Religionen nicht „das Leben in der Welt als solches“281 als Sünde bezeichnet wissen will. Das heißt, das kreatürliche Dasein ist nicht deshalb ein sündiges, weil es durch das „Gesetz der Lust und Unlust“282 bestimmt ist. Vielmehr nimmt die christliche Religion das Lebensverlangen des Menschen in sich auf, indem das höchste Gut als die „Seligkeit“283 auch die natürlichen Lebensinteressen des Menschen endgültig befriedigt. Zur Sünde wird das Lebensverlangen des Menschen erst als „Jagen nach endlichen Gütern“,284 worin zugleich die Abkehr vom höchsten überweltlichen Gut liegt. Dieses „Jagen“ ————— 276 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 342. 277 Kaftan, Wesen, 278 (im Original z.T. hervorgehoben). 278 Kaftan, Wesen, 278; vgl. auch ders., Dogmatik, 314 („dass die Sünde ein Verderben ist, das den Menschen in seinem innersten Wesen ergriffen und verändert hat“) sowie a.a.O., 335. 279 Vgl. CA II (BSLK, 53). Für das auf dem Trienter Konzil vorgetragene Sündenverständnis vgl. DH 1555 und 1521. Vgl. dazu insgesamt AXT-PISCALAR, Sünde, 401f, 405f. 280 Vgl. das insgesamt würdigende Referat bei K. BARTH, KD III,2: Die Lehre von der Schöpfung, Zweiter Teil, Zürich 1948, 29f. 281 Kaftan, Wesen, 279 (Hervorhebung im Original). 282 Kaftan, Wesen, 279. 283 Kaftan, Wesen, 279 (im Original hervorgehoben). 284 Kaftan, Wesen, 279.

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ist aber das das Leben des Menschen in der Welt faktisch bestimmende „Prinzip“,285 wie es im neutestamentlichen Verständnis der Sarx anschaulich wird.286 Die christliche Vorstellung der Sündenvergebung oder – synonym gebraucht – der Versöhnung wird von Kaftan nicht auf die tragische Sündenverstricktheit bezogen, sondern auf die Sünde, wie sie dem Menschen als eigene Schuld zuzurechnen ist.287 Dabei leitet Kaftan aus der Vorstellung der Sündenvergebung ab, dass der Mensch dem christlichen Urteil nach nicht nur in den sündigen Zusammenhang hineingeboren wird, sondern durch eigenes Tun und Lassen gegen das Gebot Gottes zu diesem Zusammenhang beiträgt. Im Neuen Testament findet das seinen Ausdruck darin, dass im Kontext der Rede von der Sündenvergebung der Sündenbegriff im Plural gebraucht wird.288 Die Unterscheidung von Sünde und Schuld, wie sie Kaftan programmatisch einfordert,289 oder besser: die Unterscheidung des Moments der Schuld an dem übergeordneten Phänomen der Sünde, wie Kaftan sie an einer Stelle vorträgt,290 ist die Konsequenz aus der spezifisch christlichen Auffassung des höchsten Guts. Insofern dieses seinem Wesen nach ethisch ist, das heißt zugleich ein oberstes sittliches Ideal vorstellig macht, trifft es den Menschen als verantwortlichen Gestalter seines Lebens ————— 285 Kaftan, Wesen, 279. Vgl. ders., Dogmatik, 340: „[I]m Menschen waltet das […] Gesetz, ohne jede Rücksicht auf eine Regel der Vollkommenheit das eigene Leben zu suchen, das eigene Ich, seine Lust und seine Ehre.“ Zum Ursprung der Sünde und der Lehre vom Urstand vgl. Kaftan, Wesen, 274–278 sowie ders., Dogmatik, 302, 306–318, 318–323, 362–375, 383–392. Kaftan schließt aus seiner Analyse der katholischen und orthodox-protestantischen Lehren von Urstand und Fall, dass aufgrund der zwangsläufig entstehenden Widersprüche es „prinzipiell falsch [ist], das Erkenntnissprinzip der Sünde in der Urstandslehre zu suchen“ (ders., Dogmatik, 317). Dieses negative Urteil entspricht Kaftans positivem Vorgehen in der Sündenlehre: das „Erkenntnisprinzip der Sünde“ in der Vorstellung des höchsten Guts zu suchen. Von ihr her ergibt sich dann auch die Bestimmung des „Ursprung[s] des Bösen“ (a.a.O., 323; vgl. 328). Die materiale Grundaussage Kaftans hierzu ist, dass das Böse im „Willen der persönlichen Kreatur“ (a.a.O., 368) begründet ist – mithin nicht im Wesen Gottes, sondern im Widerspruch gegen dieses Wesen. 286 Vgl. Joh 6,63; Röm 7,5 u.ö.; Gal 5,13 u.ö.; 2. Petr 2,9f; Jud 1,23. Vgl. dazu Kaftan, Dogmatik, 298f. 287 Vgl. Kaftan, Wesen, 281: „Vergebung ist gar nichts anderes als Nicht-Zurechnung und setzt als besonderer Act stets voraus, daß ohne dieselbe die Zurechnung mit ihrer Folge (der Strafe) eintreten werde.“ Dass die Sünde zugerechnet oder nicht zugerechnet wird, setzt aber wiederum voraus, dass sie als Schuld auftritt. 288 Vgl. Kaftan, Wesen, 282. 289 Vgl. Kaftan, Wesen, 283 (im Original hervorgehoben): Es ist „für ein richtiges Verständnis der christlichen Religion nothwendig […], bestimmter als gewöhnlich geschieht zwischen Sünde und Schuld zu unterscheiden.“ Vgl. auch ders., Dogmatik, 335, 337f. 290 Vgl. Kaftan, Wesen, 295: „Die Sünde ist also das umfassendere Prädicat, welches beides einschließt, die nicht zugerechnete und die verschuldete Sünde“. Es ist nun aber so, dass letzthin „wirklich[e] Sünde“ nur ist, „was Schuld begründet“ (beide Zitate: ders., Dogmatik, 372), so dass „schliesslich alle Sünde Schuld ist“ (a.a.O., 373).

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und setzt bedingte Freiheit beim Menschen voraus. Wie oben zu Kaftans moraltheoretischer Besinnung auf den Freiheitsbegriff gesagt wurde, verfolgt Kaftan ein zweifaches Anliegen.291 Er betont, dass es genuin reformatorisches Anliegen ist, sowohl „die sittliche Verantwortlichkeit“ als auch „die Unfähigkeit des Menschen, selbst etwas zu seinem Heil beizutragen“,292 auszusagen. Dabei ist es bezeichnend, dass Kaftan beide Momente prozessual versteht. Wegen seines natürlichen Wollens weicht der Mensch vom Guten ab, so dass zu sagen ist: „[D]er natürliche Mensch hat […] keine Freiheit zum Guten“.293 Dementsprechend ist die Freiheit zum Guten ein „Produkt der Erziehung“ zum Guten – letzthin ein „Produkt der Erziehung durch den Geist Gottes“,294 wie sie sich in der Mitteilung des höchsten Guts ereignet. Im Prozess solcher – menschlicher und göttlicher – Erziehung des Einzelnen steigt allerdings zugleich der Grad der Zurechenbarkeit seiner Sünde und mithin seine Schuld an der nun im eigentlichen Sinne möglich gewordenen Wahl des Bösen als Abweichung vom Guten. Weil der Mensch seine durch Erziehung hervorgebrachte Freiheit immer wieder in verkehrter und verkehrender Weise in Vollzug bringt, ist die Sündenvergebung ein integraler Bestandteil der Erlösung. Kaftan begründet die christliche Vorstellung der Sündenvergebung im Wirken und Predigen Jesu. Dabei betrachtet er sie neben Reichgottesgedanken und Messiasidee als drittes Hauptelement des Evangeliums, welches Jesus verkündet und in personam repräsentiert hat. Entscheidend hierbei ist – und Kaftan exponiert diesen Gedanken bereits zu Beginn seiner Behandlung der Sündenvergebung in der Neutestamentlichen Theologie –, dass die Vorstellung der Sündenvergebung „ein eschatologischer Gedanke“295 ist. Das heißt, die Sündenvergebung ist ein Moment des zukünftigen, endzeitlich-überweltlichen Heils. Kaftan leitet den christlichen Sündenvergebungsgedanken näherhin aus dem alttestamentlich-jüdischen Verständnis ab, nach welchem „Vergebung und Strafnachlaß, d.h. neue[s] Leben und Glück“296 aufs Engste zusammengehören. Dementsprechend versteht und ————— 291 Aus dem Festhalten an der sittlichen Verantwortlichkeit des Menschen und der darin gründenden starken Betonung des Schuldcharakters der Sünde erklärt sich Kaftans Reserviertheit gegenüber der Rede von der Erbsünde: Zwar ist die Sünde immer zugleich ein Verstrickungszusammenhang und wird insofern gleichsam vererbt, aber die Sünde als Schuld kann nicht als Erbsünde bezeichnet werden, da der „Begriff der Erbschuld“ (ders., Dogmatik, 321) eine „contradictio in adiecto“ (ebd.; Hervorhebung im Original) ist. Schuld ist immer die je eigene und kann nicht übertragen werden. Hier schließt Kaftan sich implizit an die Kantsche Bestimmung des Schuldbegriffs an; vgl. KANT, Rel., 72 (AA VI). 292 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 327. 293 Kaftan, Dogmatik, 349. 294 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 349 (Hervorhebung von C.C.). 295 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 51 (Hervorhebung von C.C.). Vgl. ders., Zur Dogmatik, 302f. 296 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 51.

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bewirkt Jesus die Vergebung der Sünden als Voraussetzung des Eingangs in das eschatologische Gottesreich. Sie ist die „Vorwegnahme des göttlichen Urtheils im letzten Gericht“.297 Der Vollzug der Sündenvergebung durch den irdischen Jesus ist aber Kaftan zufolge nicht an seinen Tod als Opfer gebunden, wie es die spätere kirchliche Theologie in Anschluss an die paulinischen Schriften meinte. Dies ist vielmehr die – aus der Geschichte zu erklärende – Deutung der Nachlebenden. Jesus selber hat die Sündenvergebung weniger mit seinem Tod verbunden, sondern vor allem – dies bezeugen die Evangelien – „während seines Erdenwandels die Vergebung der Sünden erteilt“.298 Die Sündenvergebung durch den irdischen Jesus ist damit ein Moment des zukünftigen Heils, wie es in Jesus gegenwärtig geworden ist. Kaftan betont entsprechend seines Verständnisses neutestamentlicher und christlicher Eschatologie freilich, dass auch die Sündenvergebung an dem Schon jetzt und noch nicht des Heils teilhat. Dies findet seinen Ausdruck in der Ansage des Gerichts durch Jesus, welche spannungsvoll neben der Rede von der Sündenvergebung steht: Die Wirklichkeit der Sündenvergebung durch Jesus enthebt weder den Einzelnen noch die Menschheit als Ganze der zukünftigen Konfrontation mit der eigenen Sünde im letzten Gericht. Und dennoch bedeutet sie wirklich-wirksames Heil in der Gegenwart. Solches Heil ist sie näherhin nicht bloß als die Nichtzurechnung der Schuld, sondern darin, dass der Mensch aus dem tiefsten Übel, welches in der Abkehr vom höchsten Gut liegt, errettet wird: vom „ewige[n] Tod“.299 Die Vorstellung des ewigen Todes bringt dem eschatologischen Wesen der christlichen Religion gemäß eine Transformation der Übelerfahrung mit sich. Entsprechend der Radikalisierung der Sündenvorstellung erfährt auch die Sichtweise auf die Übel, die der seiner Sündenschuld bewusste Mensch als von Gott gewirkte Strafe erkennt, eine Vertiefung. Die irdischen Übel werden als Mittel der göttlichen Erziehung und damit als Mittel zum Guten verstanden werden.300 Es ist in Analogie zur Hoffnung auf das ewige Leben der ewige Tod, welcher als das wahre, eschatologische Übel gefürchtet wird.301 ————— 297 Kaftan, Dogmatik, 488 (Hervorhebung von C.C.). 298 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 52 (Hervorhebung von C.C.). 299 Kaftan, Wesen, 298. Vgl. dazu ders., Dogmatik, 549–552. 300 Das Verständnis der zeitlichen Übel als Mittel der Erziehung – mithin als „Erziehungsstrafe“ (Kaftan, Dogmatik, 358) – durch Gott geschieht im Rahmen der gleichsam teleologischen Hinordnung alles Erfahrenen auf das Reich Gottes, ist mithin „durch den Zweckgedanken des sich verwirklichenden Gottesreichs bestimmt“ (a.a.O., 305). In diesen Zusammenhang ordnet der Christ auch das Übel des leiblichen Todes ein (vgl. a.a.O., 360f). 301 Vgl. dazu Kaftan, Wesen, 296–299; ders., Dogmatik, 356 und 303, wo Kaftan die christliche Übelbewertung vor dem Hintergrund der alttestamentlichen profiliert, in welch letzterer „der

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Die Erfahrung der Trennung von Gott als dem höchsten Gut, mithin das Bewusstsein, aus sich heraus dem ewigen Tod anheimfallen zu müssen, stellt Kaftan zufolge die Bedeutung der Sündenvergebung für den christlichen Glauben heraus. [D]ie Offenbarung des Reiches Gottes als unsres höchsten Gutes [wäre] gar nicht für die Menschen […], wie sie sind, wenn sie sich nicht an die verschuldeten Sünder wendete, allererst Vergebung der Sünden und Versöhnung mit Gott vermittelte.302

Weil das höchste Gut wie oben gezeigt zugleich eine Aufgabe ist, insofern in der gegenwärtigen Erfahrung des Gottesreichs der göttliche Wille bewusst wird, und weil der Mensch gerade in der Begegnung mit dem höchsten Gut seiner Schuld bewusst wird, verbindet sich die Hoffnung auf das ewige Leben mit der Hoffnung auf die endgültige Sündenvergebung. Die Vorwegnahme solcher Sündenvergebung schon jetzt bedeutet freilich nicht nur die Aufhebung der individuellen Furcht vor dem ewigen Tod, sondern darin liegt zugleich die ethische Valenz der Sündenvergebung. Diese ethische Valenz wird besonders deutlich an Kaftans Entfaltung der Rechtfertigungsthematik, wie er sie im Ausgang von den paulinischen Schriften bespricht. 3.3.3 Die Rechtfertigungslehre als kritisches Prinzip des Protestantismus Entsprechend der im vorangegangenen Kapitel dargestellten terminologisch-thematischen Verschiebung vom Reich-Gottes-Gedanken zur Auferstehungspredigt303 ergibt sich auch im Blick auf die christliche Ethik eine charakteristische Umbildung der Predigt Jesu durch Paulus. Jesu Botschaft von der Sündenvergebung wird von Paulus in der Rede von der Rechtfertigung zum Ausdruck gebracht, welche in einem das „Gericht über die Sünde“ und der Freispruch von der Sünde ist.304 Gott spricht den als Sünder Gerichteten von der Sündenschuld frei, was positiv gewendet heißt, dass er ihm Gerechtigkeit zuspricht – allerdings eine fremde Gerechtigkeit, welche nicht im Handeln des Menschen, sondern im Tod Jesu begründet ist. Kaftan kann hinsichtlich dieses Begründungsverhältnisses ————— Gesichtskreis auf das irdische Leben beschränkt ist“, so dass hier „die zeitlichen Uebel als die eigentliche Strafe der Sünde angesehen“ werden. 302 Kaftan, Wesen, 299 (im Original z.T. hervorgehoben). 303 Vgl. dazu oben Kapitel 2.3.4. 304 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 556. Dass Paulus somit in der Rechtfertigungsbotschaft die Heilspredigt Jesu zu einem angemessenen Ausdruck bringt, meint später auch Ernst KÄSEMANN (vgl. ders., Rechtfertigung und Sühne bei Paulus. Eine hermeneutische und theologische Besinnung, NTS 39, 1993, 80–93) im Gegenüber zu Rudolf BULTMANN (vgl. ders., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953 [91984], bes. 190).

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sagen, dass das rechtfertigende Urteil Gottes im Tod Jesu geschehen ist bzw. das der Tod Jesu dieses rechtfertigende Urteil ist.305 Entscheidend ist die Betonung des perfekten Charakters der Rechtfertigung – wobei, wie sich noch zeigen wird, damit gerade nicht die eschatologische Dimension ausgeschlossen ist.306 Kaftan schließt sich in seiner Auslegung der paulinischen Schriften an die vielfach rezipierte Betrachtungsweise Ritschls an, nach welcher die forensisch307 verstandene göttliche Rechtfertigung ein „synthetisches“308 Urteil über den Menschen bedeutet, das heißt eines, welches dem Menschen etwas zuspricht, was er nicht aus sich heraus ist oder hat. Er führt diese Betrachtungsweise aber nicht aus, sondern widmet seine Aufmerksamkeit vor allem der Frage der Zuordnung von Erlösung und Rechtfertigung.309 Wie bereits gesehen,310 betrachtet Kaftan die Rechtfertigungsthematik in den paulinischen Schriften als der Erlösungslehre untergeordneten Gedanken. Dies wird nicht erst in der Neutestamentlichen Theologie von 1927 deutlich, sondern äußert sich bereits in der Dogmatik von 1897. In seinen Erläuterungen Zur Dogmatik betont Kaftan, dass die bereits am Aufbau der Dogmatik erkennbare Voranstellung der Erlösungs- vor die Rechtfertigungslehre311 sich der Paulus-Auslegung verdankt: ————— 305 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 544 und 547. 306 Die Begründung der Rechtfertigung im Tode Jesu bedeutet eine Verschiebung gegenüber der Rede Jesu von der Sündenvergebung, welche aber wie die oben Kapitel 2.3.4 konstatierte Verschiebung vom Reich-Gottes-Gedanken zur Auferstehungspredigt der Sache angemessen ist: Während Jesus seinen eigenen Tod als den „gleichartige[n] Abschluss seines Lebens“ (Kaftan, Dogmatik, 490) verstand, fasste sich für Paulus in Jesu Tod als einem in der Vergangenheit liegenden Ereignisses das Leben Jesu konzentriert zusammen. Dass der Tod Jesu tiefster Ausdruck der sich durch das Leben Jesu mitteilenden Sündenvergebung durch Gott ist, findet dabei seinen Ausdruck in dem Verständnis dieses Todes als „Sündopfer“ (ebd.). Kaftan versteht diese Ausdrucksweise als in der Schrift- und Gemeindetradition vorgebildet und von Paulus als selbstverständlich adaptiert. Für das gegenwärtige Verständnis birgt die Rede vom Sündopfer Christi allerdings Probleme, die einer Bearbeitung nur zugeführt werden können durch eine historisch-kritische Rekonstruktion, welche auf die theologische Intention jener Rede abhebt (vgl. a.a.O., 491f). Zu Kaftans Verständnis des Todes Jesu in neutestamentlich-theologischer Perspektive vgl. weiter ders., Dogmatik, 538–549 sowie den ganzen §60 zur „Heilsnothwendigkeit des Todes Christi“. 307 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 542. 308 Kaftan, Dogmatik, 489; vgl. a.a.O., 543f. Vgl. dazu Albrecht RITSCHL, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung I: Die Geschichte der Lehre, Bonn 31889, 164f sowie ders., RuV III3=4, 77–83. Ritschls Begriffsverwendung kommt von KANTs Definition analytischer und synthetischer Urteile in der Einleitung zur KrV her. 309 Vgl. dazu Kaftan, Dogmatik, §§50, 53, 55, 56 und 57. 310 Vgl. oben Kapitel 2.3.4. 311 Vgl. Kaftan, Dogmatik: Der §56 „Erlösung oder Wiedergeburt“ steht vor dem §67 „Rechtfertigung oder Versöhnung“.

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[E]s ist überhaupt falsch, im Verständnis der Paulinischen Predigt von den Gedanken auszugehen, die sich um Rechtfertigung und Versöhnung, um Gesetz und Freiheit vom Gesetz gruppieren.312

Damit greift er einer zentralen These des Paulus-Buches von Wrede, welches erst 1904 erschien,313 ebenso voraus wie der bekannten Formulierung Schweitzers, die Rechtfertigungslehre sei bei Paulus „ein Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre des Seins in Christo bildet“.314 Wie Wrede und Schweitzer hält Kaftan dafür, dass im Verständnis der paulinischen Schriften von der Erlösungsvorstellung auszugehen und die Rechtfertigungsthematik von jener her zu verstehen ist. Anders als Wrede, für den die paulinische Rechtfertigungslehre nur eine situationsbedingte und religionsgeschichtlich erklärbare „Kampfeslehre des Paulus“315 ist, hebt Kaftan allerdings die prinzipielle Bedeutung auch der Rechtfertigungsthematik für die paulinische Theologie und im Anschluss hieran für die christliche Dogmatik hervor. Und anders als Schweitzer betont Kaftan – hier ganz im Geiste Kants und Ritschls –,316 dass jene prinzipielle Bedeutung gerade die ethische Valenz des Rechtfertigungsglaubens ist. Hierzu ist zunächst negativ zu konstatieren: Kaftan meint in der Dogmatik, dass die Rechtfertigungserfahrung anders als die Erlösungserfahrung nicht zugleich die Erfahrung einer „Aufgabe“317 ist, weil sie nicht „auf etwas hin, was der Mensch in sich erzeugt, an ihm vollzogen wird“318 – während die Erlösung, wie oben 3.3.1 gezeigt, als Gabe und Aufgabe angeeignet wird. In der Neutestamentlichen Theologie tritt die ethische Dimension der Rechtfertigung nun aber stärker hervor, welche festzuhalten angesichts der Integration der Rechtfertigungs- in die Erlösungsvorstellung auch konsequent ist. Kaftan legt hier nämlich die paulinische Vorstellung vom Gerechtfertigtsein auf die neue Gerechtigkeit hin aus, die dem Menschen nicht bloß als Widerfahrnis zukommt, sondern die er sodann handelnd nachvollzieht. Zu sehen ist dies an der Zusammenstellung der paulinischen Begriffe ————— 312 Kaftan, Zur Dogmatik, 269 (Hervorhebung im Original). Zur damit vollzogenen Abgrenzung von Baur und Holsten vgl. oben Kapitel 2.3.4. 313 Vgl. WREDE, Paulus. 314 SCHWEITZER, Mystik, 220. 315 WREDE, Paulus, 72 (Hervorhebung im Original). 316 KANT reformuliert die Rechtfertigungslehre im Gefüge seiner Moraltheorie als „Bedingung der Möglichkeit von vollendeter Glückseligkeit“ (Alexander HEIT, Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen 2006, 162), wobei das Fürwahrhalten der Sündenvergebung zugleich eine moralische Besserung des Menschen möglich macht (vgl. zu Kants Auffassung der Sünde und ihrer Bearbeitung v.a. Rel., Erstes und Zweites Stück, AA VI, 17–89.) – RITSCHL betont die durch Gott herbeigeführte Aufhebung des Schuldbewusstseins als Voraussetzung für das Tun des Gotteswillens (vgl. RuV III3=4, z.B. 46–77). 317 Kaftan, Dogmatik, 555. 318 Kaftan, Dogmatik, 555.

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zoe und dikaiosyne, welche Kaftan zufolge das Zentrum der Predigt des Apostels markieren.319 Menschliche Gerechtigkeit als getreue Erfüllung des göttlichen Gesetzes ist nicht als Voraussetzung oder gar Bedingung des ewigen Lebens, sondern ebenso wie das ewige Leben selber strikt als Zueignung an den Glauben durch Gott zu begreifen (Röm 1,17; Gal 3,11). Damit greift Kaftan auf der einen Seite die paulinische Überzeugung auf, dass aus den Gesetzeswerken „kein Fleisch gerecht gesprochen“ wird (Röm 3,20). Auf der anderen Seite aber stellt er die ethische Bedeutung der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft heraus, gerade indem er den paulinischen Begriff der dikaiosyne konsequent von dem Begriff der zoe her interpretiert: Die zoe bringt die dikaiosyne mit sich.320 Kaftan betont, dass Paulus nicht nur die Werkgerechtigkeit verurteilt, sondern positiv den Zusammenhang von Gerechtigkeit als Gabe Gottes und gerechtem Tun des Menschen herausstellt. Besonders im sechsten Kapitel des Römerbriefs tritt zu Tage, dass die Rechtfertigung nicht bloß ein forensischer Akt ist, sondern eine Neuschöpfung bedeutet. Der von Gott gerecht gesprochene Mensch kann und wird nicht in der Sünde verharren, sondern als Neugeschaffener seine „Glieder hin[geben] an den Dienst der Gerechtigkeit“ (Röm 6,19). Das „neue[…] Leben“ des von Gott gerecht Gesprochenen wird „als eine sittlich befreiende Macht“ erfahren.321 Mithin ist es wieder wie in der Verkündigung Jesu die Teilhabe am höchsten Gut, von welcher der sittliche Vollzug dependiert. Das heißt aber: „[D]as Ethische [ist] in den höchsten Gedanken vom ewigen Gut, vom ewigen Leben aufgenommen“.322 Bei Paulus äußert sich dies weiter darin, dass er den „Geistesbesitz als ethisches Prinzip“323 fasst, mit dem Geist aber denjenigen begabt sieht, welcher Teil hat am Auferstandenen.324 Sittliches Handeln ist der sichtbare Ausdruck des In-Christo-Seins, oder anders: Die große Gabe Gottes in Tod und Auferstehung wird nur dem zum dauernden Eigentum, bei dem die Aneignung von Stund’ an und immer wieder neu aus sittlicher Wurzel fließt.325

Die inhaltliche Bestimmtheit solchen sittlichen Handelns sieht Kaftan wiederum analog zur Verkündigung Jesu im Liebesgebot zusammengefasst, ————— 319 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 83. 320 Zur Korrelation von Gerechtigkeit und Leben bei Paulus vgl. weiter Kaftan, Jesus und Paulus, 42. 321 Beide Zitate: Kaftan, Zur Dogmatik, 293. 322 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 96. 323 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 85; vgl. 102 und weiter 136 („Wandel nach dem Geist“). 324 Vgl. Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 107. Dementsprechend ist der Geist der „Gegensatz zur sarx“ (a.a.O., 129) als dem Handeln und Leben im Widerspruch zum Willen Gottes. 325 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 100.

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und auch der zweite der beiden als Grundtendenzen aller Sittlichkeit benannte Aspekt der Triebbewältigung erscheint in den paulinischen Äußerungen zur Ethik. Es ist die „asketisch[…]“326 gefärbte Forderung, das Fleisch zugunsten des Lebens im Geist zu kreuzigen, in welcher er hier zutage tritt. Kaftan benennt auch materialethische Grundentscheide des Apostels zu den Fragen der Ehe und des Verhältnisses zum Staat. Es ist aber – ganz zu schweigen davon, dass Kaftan bei Paulus weder eine „Kulturethik“327 noch eine „Sozialethik“328 finden zu können meint – nicht die materiale Ethik, welche ihn hier interessiert. Wie in der Auslegung der Verkündigung Jesu auch ist es die Bedingung der Möglichkeit christlicher Ethik überhaupt, die er hier sondieren will. Christliche Ethik ist darin begründet, dass das religiöse Subjekt im Genuss des höchsten Guts des Gottesreichs zugleich mit einer Forderung Gottes konfrontiert und zu deren Erfüllung befähigt wird. Hier liegt für Kaftan nun nicht nur die Pointe der Auslegung von Jesu Reichspredigt und der daran anknüpfenden Theologie des Paulus, sondern zugleich das Spezifikum der christlichen Religion: „Die Gerechtigkeit ist ein integrierendes Moment der Seligkeit.“329 Damit laufen in der christlichen Religion die beiden religionsgeschichtlichen Entwicklungslinien, die der Vergeistigung und die der Versittlichung, zusammen. Zum einen ist das Christentum wie die so genannten mystischen Religionen vollendete Erlösungsreligion, zum anderen aber begründet es ein im eigentlichen Sinne sittliches Agieren des religiösen Subjekts – es ist mithin als „ethische Erlösungsreligion“330 zu bezeichnen. Wie bereits durch das Bild der sich schneidenden Entwicklungslinien suggeriert, wird das „Gleichgewicht“331 aus mystischem und ethischem Moment von Kaftan nicht lediglich als Ergebnis deskriptiver Annäherung an die christliche Religion verstanden, sondern zugleich als normatives Kennzeichen vollendeter Religion aufgestellt. Diese Zuspitzung der Wesensbeschreibung des Christentums durchzieht alle religionsphilosophischen und theologischen Schriften Kaftans und ist deshalb als ein Hauptmotiv seines Denkens anzusehen.332 Damit fungiert auch die an den paulinischen Briefen entwickelte Rechtfertigungslehre als Element der Ausmittelung von Heilserfahrung und ethischem Tun: Die Rechtfertigung erfährt der Sünder im Glauben als der An————— 326 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 149. 327 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 150. 328 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 151. 329 Kaftan, Wesen, 244 (im Original hervorgehoben). Vgl. ders., Jesus und Paulus, 51. 330 Kaftan, Dogmatik, 20 (Hervorhebung im Original). 331 Kaftan, Jesus und Paulus, 73; vgl. ders., Jesus, 414. 332 Vgl. nur Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 12, 49, 81, 96, 111 u.ö.; ders., Jesus und Paulus, 42, 50 f, 73; ders., Wesen, 244, 317, 319, 408; ders., Jesus, 414; ders., Erlösungsreligionen, 12f; ders., Lehre von der Erlösung, 279, 282f; ders., Dogmatik, 20, 46, 275f.

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teilhabe am gestorbenen und auferstandenen Christus.333 Wirksam wird sie im ethischen Tun, das heißt im Vollzug der neuen Gerechtigkeit. Als Zueignung der neuen Gerechtigkeit ist die Rechtfertigung – beziehungsweise die Sündenvergebung oder die Versöhnung – insofern ein integraler Bestandteil der christlichen Heilserfahrung, als die Sünde radikales Zuwiderhandeln gegen Gott als die höchste sittliche Autorität ist. Die darin gründende Schuld „kann nur durch die Verzeihung der sittlichen Autorität getilgt werden.“334 Deshalb ist die Rechtfertigung als „das logische Prius“335 der Erlösung zu beschreiben, welche als Gemeinschaft im Gottesreich voraussetzt, dass dem Einzelnen seine Sünden vergeben sind.336 Indem Kaftan solchermaßen die paulinische Rechtfertigungspredigt von der Erlösungsvorstellung her versteht, kann er die oftmals verkannte337 genuin eschatologische Dimension der Rechtfertigungsvorstellung trotz des perfekten Charakters der Rechtfertigung hervorheben. Ausdrücklich betont er, dass die Rechtfertigung im „endgeschichtlichen Zusammenhang“338 verortet ist. Die Rechtfertigungserfahrung in der Zeit ist das vorweggenommene „freisprechende Urtheil Gottes im letzten Gericht“339 und die Voraussetzung für die Teilhabe am ewigen Leben. In dieser eschatologischen Ausrichtung bildet die Rechtfertigungspredigt des Paulus wieder die Parallele zum Vollzug der Sündenvergebung Jesu.340 Die paulinische Rechtfertigungspredigt bringt mithin zum Ausdruck, „dass die Heilszukunft in diesen Ereignissen [von Sündenvergebung und Rechtfertigung] Gegenwart geworden ist.“341 Die beiden Gedanken von der Rechtfertigung durch den Glauben und dem neuen Leben in Christo, das mit dem Geistesbesitz zusammenfällt, stehen im Mittelpunkt der Paulinischen Heilspredigt. […] Sie hängen unzertrennlich zusammen und bedingen sich wechselseitig. […] Die Rechtfertigung ist der allein mögliche Zugang zum

————— 333 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 489, 524, 531f. 334 Kaftan, Wesen, 314 (Hervorhebung im Original). 335 Kaftan, Dogmatik, 496. 336 Vgl. auch Kaftan, Dogmatik, 554f, wo er betont, „dass die Rechtfertigung [der Erlösung] vorangeht und schlechterdings das Begründende ist.“ Vgl. weiter ders., Wesen, 308–311. 337 Vgl. Otto H. PESCH/Albrecht PETERS, Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 1981, 125f zur Verdrängung des „endzeitlichen Skopus der Rechtfertigung“ (im Original hervorgehoben), wie sie auch in den Konsensustexten zur Rechtfertigungslehre in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. a.a.O., 335f zur Leuenberger Konkordie von 1973 und 336– 338 zum Malta-Dokument von 1972) zumindest teilweise zu verzeichnen ist. 338 Kaftan, Dogmatik, 488. Vgl. ders., Zur Dogmatik, 302f. 339 Kaftan, Dogmatik, 488. Dabei kann Kaftan sich an Luther als Interpreten der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft anschließen; vgl. zum eschatologischen Skopus der Rechtfertigungslehre Luthers PESCH/PETERS, Gnade und Rechtfertigung, 120–125. 340 Vgl. zum eschatologischen Charakter sowohl der Predigt Jesu als auch der Rechtfertigungsbotschaft des Paulus: Eberhard JÜNGEL, Paulus und Jesus, HUTh 2, Tübingen 31967, 267. 341 Kaftan, Dogmatik, 489.

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neuen Leben im Geist, und dieses wieder bezeugt, wo es sich findet, daß die Rechtfertigung vollzogen ist.342

Mit dieser Zusammenfassung der paulinischen Heilspredigt hebt Kaftan erstens darauf ab, Erlösung und Rechtfertigung als Momente in der einheitlichen Heilserfahrung des Christen zu beschreiben, welche voneinander nicht zu trennen sind. In Kritik an der altprotestantischen Lehre vom ordo salutis343 betont Kaftan, dass sich das Heil in der Glauben erweckenden Evangeliumsverkündigung ereignet und darin als die eine göttliche Tat zu verstehen ist. Diese göttliche Tat ist Erlösung und Rechtfertigung zugleich,344 „einheitlich in Tod und Auferstehung Jesu vollzogen“.345 Kaftan betont in dieser Hinsicht freilich zugleich, dass die Rechtfertigung nicht als einmaliger Akt, welcher in einen geradlinigen Prozess der Versittlichung mündet, zu verstehen ist, sondern als immer wieder neu notwendiges göttliches Heilshandeln am immer wieder der Sünde verfallenden Menschen.346 Zweitens ist zu sehen, dass Kaftan die Fixierung auf die Rechtfertigungslehre als Wesensbestimmung des christlichen Glaubens aufbricht, ohne sie dabei als randständige und zeitbedingte Vorstellung zu marginalisieren. Er stellt damit nicht nur eine Alternative neben die bereits angesprochenen Entwürfe Weiß’ und später Schweitzers, sondern auf der anderen Seite auch neben die Entwürfe vor allem lutherisch-konfessioneller Theologen seiner Zeit. So meinten vor allem Cremer und Kähler, die Rechtfertigungslehre zum Zentrum ihrer Dogmatik und zum allein bestimmenden Prinzip christ-

————— 342 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 83. 343 Die Kritik gilt vor allem dem Aueinanderreißen von objektivem Heilsgeschehen in Tod und Auferstehung Jesu und subjektiver Heilserfahrung, wie Kaftan es im Übrigen nicht erst für die altprotestantische Orthodoxie konstatiert, sondern bereits für Theologien der Alten Kirche und des Mittelalters. Vgl. ders., Dogmatik, 508–518, bes. 509, 515, 516f. Vgl. zur Lehre vom ordo salutis a.a.O., 526f, 530f. 344 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 528, 552f. 345 Kaftan, Dogmatik, 553. Dabei wird die Erlösung der Auferstehung, die Rechtfertigung dem Tod Jesu zugeordnet. Vgl. a.a.O., §56 und 57 sowie explizit a.a.O., 553. Mit PANNENBERG gesprochen, ist Kaftans Verhandlung der Rechtfertigung als zutreffende Interpretation der lutherischen Theologie zu verstehen, in welcher die Rechtfertigung als die Gerechtsprechung des Glaubenden verstanden ist. Die Rechtfertigung beruht für Luther auf der Teilhabe des Glaubenden an Christus. Dies ist bereits gegen Melanchthons Forschreibung der reformatorischen Lehre zu verstehen, welcher analysierend die Teilhabe an Christus als die Folge der Rechtfertigung fasst. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie III, Göttingen 1993, 253–258. 346 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 556: Die Rechtfertigung hat „bleibende Bedeutung für den Christen“, da die Sünde bleibt, „so lange dieses Leben dauert, der Streit zwischen Fleisch und Geist erlischt erst mit dem letzten Athemzug. […] Eben desshalb ist […] das Verhältniss des Christen zu Gott dauernd das in der Rechtfertigung gesetzte, d.h. es beruht dauernd auf der vergebenden Gnade Gottes, die der Glaube annimmt und empfängt.“ Vgl. auch ders., Das Gewissen, 163.

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licher Wirklichkeitssicht erheben zu sollen.347 Demgegenüber betrachtet Kaftan die Rechtfertigung wie gesehen als ein Moment der Heilserfahrung. Deshalb kann die Rechtfertigungslehre bei Kaftan nicht alleine die alles bestimmende Theorie des christlichen Glaubens im Ganzen sein.348 Hinsichtlich des Neuen Testaments wie auch der späteren Zeugnisse christlicher Frömmigkeit drückt sich dies darin aus, dass dem Rechtfertigungsgedanken andere Vorstellungskomplexe nebengeordnet sind. Für das Neue Testament am Beispiel der paulinischen Theologie benennt Kaftan die Versöhnungsvorstellung und die Vorstellung der Gotteskindschaft.349 Alle diese Gedanken bringen auf je verschiedene Weise zum Ausdruck, wie das überweltliche Gottesreich für den Glaubenden bereits gegenwärtig Realität ist. Das Zentrum, um welches diese Gedanken kreisen, ist die im Reich Gottes symbolisierte Gemeinschaft des Glaubenden mit dem Auferstandenen und darin mit Gott selber.350 Die Rechtfertigung vermittelt den „Zugang“ zum „Leben in Christus“351 als der Teilhabe am überweltlichen Reich Gottes in der gegenwärtigen Welt. Umgekehrt stellt die Rede von der Rechtfertigung deutlich heraus, dass die Erlösung von der Welt nur als Gabe Gottes an den Menschen vorzustellen ist, nicht als Resultat eigenen sittlichen Tuns, dass die Erlösung anders als nach den mystischen Religionen mithin keine Selbsterlösung ist.352 Dieses in der Rechtfertigungslehre exponierte Thema durchzieht als Kritik an der gesetzlichen Verhältnissetzung von Moral und Religion die gesamte Theologie Kaftans. Um dieses kritische Potential der Rechtfertigungsthematik näher zu beleuchten, ist die Kaftansche Konstruktion der Christentumsgeschichte in den Blick zu nehmen. ————— 347 So konnte CREMER in einem Brief an KÄHLER sich der gemeinsamen Programmatik darin versichern, gegen Jahrhundertwende „die einzigen unter den gegenwärtigen Dogmatikern“ zu sein, „die die genuine lutherische Rechtfertigungslehre vertreten und unserer Jugend dazu verhelfen können, sich selbst über den Punkt klarzuwerden, der der Quellpunkt aller wahren Theologie […] ist“ (Brief von Cremer an Kähler am 26.11.1893, zit. nach Christoph SEILER, Die theologische Entwicklung Martin Kählers bis 1869, Gütersloh 1966, 158) – vgl. dazu PESCH/PETERS, Gnade und Rechtfertigung, 319–328. – Vgl. Hermann Cremer, Die paulinische Rechtfertigungslehre im Zusammenhange ihrer geschichtlichen Voraussetzungen, Gütersloh 21900, bes. VIIf; Martin Kähler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Leipzig 31905, Neudruck Neukirchen-Vluyn 1966, bes. 67–80. 348 Vgl. das Programm von Wilfried HÄRLE/Eilert HERMS: dies., Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens. Ein Arbeitsbuch, Göttingen 1980, v.a. 9–14 sowie 16–18. Vgl. zur Klärung der Frage auch Wolfgang SCHRAGE, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testaments in der neueren Diskussion, in: Rechtfertigung, Festschrift für E. Käsemann zum 70. Geburtstag, hg. v. J. Friedrich u.a., Tübingen 1976, 415–442. 349 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 494f. 350 Vgl. insgesamt die erläuternden Bemerkungen Kaftans in ders., Zur Dogmatik, 255–337. 351 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 495. 352 Vgl. Kaftan, Erlösung.

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Sie fußt auf der bisher erreichten Verhältnisbestimmung von Religion und Ethik im Christentum: Dass Jesus die sittlichen Ideale als den Willen Gottes verkündet und durch die Mitteilung des höchsten Guts allererst zum Tun dieses Willens befreit, wie es in konsequenter und zugleich kritischer Weise die paulinische Botschaft von der Rechtfertigung zum Ausdruck bringt, begründet Kaftan zufolge das Spezifikum der christlichen Religion als Erlösungsreligion. Das höchste überweltliche Gut, welches im Glauben an Christus erstrebt und bereits erlangt wird, stellt das religiöse Subjekt zugleich wieder in die Welt ein. Dabei liegt allein in der Teilhabe am höchsten Gut sowohl die Erkenntnis des Guten als auch die Motivation und die Befähigung dieses handelnd zu vollziehen – wenn auch in fragmentarischer, weil stets durch die Sünde bedrängter Weise. So ist das Wesen der christlichen Religion im Gegenüber zu den anderen geistigen Erlösungsreligionen „die Synthese von Seligkeit und Gerechtigkeit“.353 Dabei gereicht die „Synthese von Seligkeit und Gerechtigkeit“ – oder anders: von Eschatologie und Ethik – Kaftan zufolge zugleich zum Kennzeichen des Wesens des Protestantismus. Es kommt so als Kriterium der Kirchen- und Dogmengeschichte zu stehen, welche als Auslegungs- und Aneignungsgeschichte der durch Jesus und Paulus inaugurierten Synthese von Seligkeit und Gerechtigkeit verstanden wird. Im Laufe dieser Geschichte kommt es zu epochalen Verzerrungen der ursprünglichen Synthese und zu ihrer gleichfalls epochalen Wiederherstellung. Kaftan stellt, um dies zu zeigen, eine Konstruktion der kirchen- und dogmengeschichtlichen Epochen vor, die Einteilung in das griechisch-morgenländische, das römischkatholische und das evangelisch-protestantische Christentum.354 Das Kriterium, mit Hilfe dessen jene Epochen voneinander geschieden werden können, ist die „Art und Weise, das überweltliche Heilsgut zu dem sittlichen Leben in der Welt in Beziehung zu setzen.“355 Mithin ist hier zunächst zugestanden, dass in allen drei geschichtlichen Formationen des Christentums das erstrebte Gut ein höchstes überweltliches ist, dass also die griechische ————— 353 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 81; vgl. a.a.O., 49, 111 u.ö. 354 Vgl. Kaftan, Dogmatik, §7 u.ö. Vgl. weiter ders., Wesen, 360–398 sowie ders., Wahrheit, 77–79. Kaftan verweist in einem Brief an seinen Bruder vom 10. Juni 1905 (vgl. Göbell, Briefwechsel I, 324–327) darauf, dass die konfessionelle Bedingtheit der dogmatischen Lehrgestalten in der Geschichte herausgestellt zu haben, nicht etwa Harnacks Verdienst war. Schon vor dem ersten Erscheinen der Dogmengeschichte Harnacks 1886 hat Kaftan eigenem Bekunden nach in seiner Vorlesung zur Symbolik jenen Gedanken ausgeführt, und wie sich im Folgenden zeigen wird, bestätigt die 1881 erstmalig erschienene Wesensschrift die Unabhängigkeit der Kaftanschen Epochenkonstruktion von der Harnacks. Kaftan selber führt die konfessionsorientierte Beschreibung der Dogmengeschichte auf den gemeinsamen Lehrer Ritschl zurück – dieser habe „die Bahn gebrochen […], und wir andern alle, jeder in seiner Weise, [haben] an der Durchführung gearbeitet“ (a.a.O., 327). 355 Kaftan, Dogmatik, 77. Vgl. ders., Ein neues Dogma, 19f.

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Orthodoxie, der römische Katholizismus und der Protestantismus gleichermaßen geistige Erlösungsreligion sind. Was sie voneinander unterscheidet, ist das Weltverhältnis, in welches das religiöse Individuum durch die Erfahrung des höchsten überweltlichen Guts eingestellt wird. Die griechische Orthodoxie ist geprägt durch die griechische Theologie der alten Kirche, welche wiederum noch von der Naherwartung der Urgemeinde bestimmt ihren Schwerpunkt in der „stark gespannten Bejahung der zukünftigen Welt“356 nahm. Die Konsequenz ist eine weltflüchtige Gestimmtheit, welche insbesondere in herausragenden Personen aus den mönchischen Bewegungen Gestalt annimmt. Es ist dabei Kaftan zufolge entsprechend der griechisch-antiken Hochschätzung der Gnosis vor allem die Erkenntnis Gottes, durch welche die Teilhabe am überweltlichen Leben Gottes gesucht wird. Dabei wird in der griechischen Orthodoxie die Bedeutung der Ethik keinesfalls geleugnet, sondern im Gegenteil der Ernst der sittlichen Forderung des Evangeliums wach gehalten – aber die Sittlichkeit steht unverbunden neben dem Streben nach Vereinigung mit Gott. Zum Ausdruck kommt dies in der Verfasstheit sowohl der orthodoxen Kirche als auch in der Sittlichkeit des Kulturkreises, welcher durch jene Kirche geprägt ist. Die Kirche ist bestimmt durch die orthodoxe Lehrformel und die genaue Befolgung von Kult und Liturgie. Die durch die solchermaßen verfasste kirchliche Institution bestimmte Sittlichkeit bleibt durch „nationale[…] Schranken“357 begrenzt und kommt deshalb als Sittlichkeit nicht zur Vollendung durch Universalisierung. Bedeutsam ist hier, abgesehen von der Frage nach der religionswissenschaftlichen Adäquanz, eine Hypothese, welche der Epochenkonstruktion Kaftans zugrunde liegt: Die Art der Frömmigkeit, der Grundgedanke der Theologie, die Verfasstheit der kirchlichen Institution und die gesellschaftlich-sittliche Gestaltung bedingen einander. Kaftan ist stets bemüht, dieses Bedingungsgefüge, ausgehend von der Frage nach dem höchsten Gut, offen zu legen. Damit legt er in Ansätzen eine historisch-soziologische Beschreibung des Christentums vor, nach welcher dieses ein Gefüge von individuellen Einstellungen und institutionellen Gestaltungen ist, um so die überkommene Fixierung auf die Theologie als Lehre, welche Kaftan schon in der Auslegung des Neuen Testaments ablehnt, zu überwinden.358 Die zweite epochale Konfiguration des Christentums, der römische Katholizismus ist in ihrer Gestaltung durch den „römische[n] Geist“359 bestimmt. Kaftan spitzt dies zu auf die These, die römische Kirche habe als ————— 356 Kaftan, Dogmatik, 79. 357 Kaftan, Dogmatik, 81. 358 Vgl. dazu z.B. Kaftan, Der evangelische Glaube, 479f; ders., Die Einheit des Erkennens, in: ders., Drei akademische Reden, Tübingen 1908, 48–71, bes. 70; ders., Ein neues Dogma, 46. 359 Kaftan, Dogmatik, 81.

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Institution das römische Weltreich beerbt, indem sie sich als „Reich Gottes auf Erden“360 und das heißt als „ein staatliches Gebilde höherer Ordnung“361 versteht. In diesem Gebilde hat die Vorstellung vom höchsten Gut, obschon dieses nach wie vor als überweltlich verstanden wird, eine neue Form gefunden. Es wird „nun doch in eine enge Beziehung zum sittlichen Leben gesetzt“,362 indem das sittliche Tun als „Mittel zur Förderung im gegenwärtigen religiösen Besitz“363 verstanden wird – mithin im Sinne der Gesetzlichkeit. Umgekehrt beeinflussen die Heilsmittel, das heißt die Sakramente, den sittlichen Status des Religiösen – Kaftan urteilt: in „magische[r]“364 Weise. Diese spezifische Relation von Religion und Sittlichkeit äußert sich darin, dass die Kirche, obschon nach wie vor als „übernatürliche Heilsanstalt“365 verstanden, zugleich als „System […] von sittlicher Zucht und Disziplin“366 zu stehen kommt, wie sich vor allem im römisch-katholischen Beichtwesen zeigt. Der Grund, warum Kaftan auch diese Form der Verhältnissetzung von höchstem Gut und sittlichen Idealen als dem Wesen der christlichen Religion nicht entsprechend beurteilt, wird anschaulich in der dualistischen Struktur, in welche jene Verhältnissetzung einmündet. Der römische Katholizismus kennt zwei Stufen des Weltverhältnisses, nämlich zum einen das Leben des Laien in der Welt, zum anderen aber das höherstufige Ideal der mönchischen Abkehr von der Welt. Dies zeigt, dass der Katholizismus nur über den Gedanken der Verdienstlichkeit und seiner Konsequenzen, mithin nur über äußerliche Disziplinierung dem sittlichen Leben eine Gestalt geben kann.367 Die Art und Weise, wie er das höchste ————— 360 Kaftan, Dogmatik, 82. 361 Kaftan, Dogmatik, 82 (Hervorhebung im Original). 362 Kaftan, Dogmatik, 83 (im Original z.T. hervorgehoben). 363 Kaftan, Dogmatik, 83. 364 Kaftan, Dogmatik, 83. 365 Kaftan, Wesen, 375. 366 Kaftan, Dogmatik, 83. 367 Vgl. dazu auch Kaftan, Wesen, 371 (im Original z.T. hervorgehoben): „Die Kirche schreibt […] in oberster Instanz das entsprechende Verhalten vor, ohne daß die Pflicht für das christliche Gewissen als solche erkennbar zu werden braucht. Sie hilft dem Menschen auf den Weg der Seligkeit, indem sie ihn mit ihren Geboten als Gottes Geboten bekannt macht, ihn darnach straft, mahnt, freispricht kraft der göttlichen Vollmacht Christi, die ihr einwohnt.“ Während in der Wesensschrift und in den meisten anderen Äußerungen Kaftans zum Verhältnis von Katholizismus und Protestantismus die differente Verhältnissetzung von Religion und Sittlichkeit leitend ist, meint er in der Philosophie des Protestantismus (1917): Der „Unterschied katholischen und evangelischen Christentums […] beruht vor allem auch darauf, daß Religion und Erkennen (Wissenschaft) je auf verschiedene Weise zueinander gesetzt werden.“ (A.a.O., 22; Hervorhebung von C.C.) Er meint, dass das katholische Verständnis vom Glauben, durch Aristoteles und Thomas beeinflusst, das theoretische Moment in der Glaubenserkenntnis überbetont und damit den Glauben als „die vollkommenere Stufe der Erkenntnis“ (a.a.O., 21) fasst – welche zu erreichen freilich nicht allen Glaubenden aufgegeben und möglich ist, an der aber alle qua Zugehörigkeit zur Kirche teilhaben. Inwiefern die Überbetonung der theoretischen Erkenntnis im Katholizismus Kaftan zufolge mit dessen unvollkommener Durchdringung der sittlichen Sphäre zusam-

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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überweltliche Gut der Seligkeit vorstellig macht, verweist das religiöse Subjekt nicht notwendigerweise an das sittliche Tun in der Welt, sondern verschafft erneut dem Ideal der Weltabkehr Geltung, indem es eine „kirchliche Extrasittlichkeit“,368 repräsentiert vor allem durch das Mönchtum, vorstellt.369 Das evangelische Christentum nun, welches aus dem Katholizismus heraus entsteht und mit ihm das Bestreben teilt, das sittliche Leben in enge Beziehung zum überweltlichen Heil zu setzen, ist insofern reformatorisch, als es konstruktiv auf die Ursprünge der christlichen Religion zurückgeht: Es fasst das Heilsgut als „ein selber sittlich bestimmtes“370 auf. Zum Ausdruck kommt dies darin, dass die Rechtfertigungsbotschaft im Anschluss an Paulus nicht im Sinne eines „magisch-gesetzlichen Prozess[es]“371 verstanden wird, sondern als prinzipielle Kritik der gesetzlichen Relation von sittlichem Tun und Heil. Die ethische Dimension der christlichen Auffassung vom Heil – an welcher freilich auch der Katholizismus festhalten will, gerade indem er die guten Werke als Voraussetzung des Heils begreift –, wird hier erst im eigentlichen Sinne erkannt: Die christliche Predigt von der Rechtfertigung aus Gnaden allein durch den Glauben hat die genuin christliche Erkenntniss des Heilsguts, dass es ein innerlich ethisch bestimmtes ist, zur Voraussetzung.372

Zum Ausdruck kommt dies darin, dass die dualistische Struktur des katholischen Weltverhältnisses überwunden wird, indem der mönchische Rückzug aus der Welt abgelehnt wird und im Anschluss an die Ethik Jesu „die einfachen sittlichen Pflichten [als] die obersten Religionspflichten des Christen“373 verstanden werden. Dies zeigt sich in prominenter Weise im evangelischen Berufs- und Familienverständnis;374 weiter darin, dass der Kultus in seiner Bedeutung zurück tritt und der „Wandel in den Geboten Gottes […] als der eigentliche und wahre Gottesdienst erkannt“375 wird. Wie Kaftan die Funktion des kirchlichen Kults und überhaupt der Kirche als Institu————— menhängt, ist in Kapitel 4 zu zeigen. Vorwegnehmend kann gesagt werden: Kaftan visiert eine praktische Bestimmung der Glaubenserkenntnis an. 368 Kaftan, Wesen, 374. 369 Ähnlich beurteilt Kaftan den Pietismus. So würdigt er zwar die distanzierte Haltung des Pietismus zum modernen Kulturleben als aus evangelischem Erlösungsbewusstsein rührend, warnt aber vor dem Umschlagen dieser Distanz in die Idee einer „selbsterwählte[n] Heiligkeit, die nicht den geraden Weg wandelt in den von Gott uns gesetzten Pflichten, sondern die besondern Werke der Frömmigkeit höher schlägt“ (ders., Ein neues Dogma, 24). 370 Kaftan, Dogmatik, 84. 371 Kaftan, Dogmatik, 84. 372 Kaftan, Dogmatik, 85. 373 Kaftan, Dogmatik, 85. 374 Vgl. Kaftan, Ein neues Dogma, 19f. 375 Kaftan, Dogmatik, 85. Vgl. KANT, Rel., 358–163 (AA VI).

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tion in der Gestalt protestantischen Christentums näherhin begreift, wird im nächsten Kapitel zu fragen sein. Entscheidend ist hier, dass Kaftan zufolge im Protestantismus das Wesen der christlichen Religion zum Ausdruck kommt: Der Protestantismus ist daher zwar eine geschichtlich spätere Gestalt des Christenthums als der Katholizismus, will aber nichts andres sein als eine Erneuerung desselben nach der ursprünglichen und bleibenden Norm des christlichen Glaubens.376

Solche Erneuerung ist der Protestantismus seinem in der Reformation zum Ausdruck gebrachten Anliegen nach trotz der bleibenden Verquickung mit dem Katholizismus377 und trotz erneuter Verzerrungen in protestantischer Orthodoxie, Pietismus und moderner Theologie,378 weil er im Anschluss an die Verkündigung Jesu und die paulinischen Schriften das sittliche Tun als integralen Bestandteil der Seligkeit darstellt.379 Kaftan sieht dies in der lutherischen Rechtfertigungslehre zum Ausdruck gebracht. Diese legt ihrer Überwindung des gesetzlichen Schemas die Einsicht zugrunde, dass das höchste überweltliche Gut eine Gabe Gottes ist, welche nicht als Folge einer sittlichen Pflichterfüllung zu verstehen ist, sondern die sittliche Pflichterfüllung allererst begründet. Dabei ist es gerade der Genuss des höchsten überweltlichen Guts schon jetzt im Glauben an den Auferstandenen, welcher zur Erfüllung der sittlichen Aufgabe befähigt – in lutherischer Terminologie: die guten Werke mit sich bringt. Auf diese Struktur hin legt Kaftan, wie gezeigt, auch die paulinische Theologie aus – im Unterschied zur Theologie des Neuen Testaments, wo der Ton ganz darauf liegt, die Rechtfertigungsthematik der Erlösungsthematik einzuordnen, stellt Kaftans Besprechung der lutherischen Rechtfertigungslehre nun aber eine Theorie des Protestantismus vor, in welcher die Rechtfertigung eine zentrale Stellung einnimmt. Es scheint sogar, als widerspreche Kaftan der eigenen Verhältnissetzung von Erlösung und Rechtfertigung, wenn er wie in einem Vortrag vor dem Evangelischen Bund die Rechtfertigungslehre als den „Grundartikel der protestantischen Kultur“380 zeichnet. Die Widersprüchlichkeit ist allerdings auszugleichen, wenn deut————— 376 Kaftan, Wesen, 360; vgl. a.a.O., 441. 377 Vgl. Kaftan, Wesen, 389f. 378 Vgl. Kaftan, Wesen, 393–398. 379 Vgl. Kaftan, Wesen, 387. 380 Vgl. den 1901 herausgegebenen Vortrag Kaftans Die Rechtfertigung durch den Glauben als Grundartikel der protestantischen Kultur. Kaftan begründet jene Zentralstellung in der Theologie Luthers, deren Antrieb in der „Frage nach dem gnädigen Gott“ (a.a.O., 4) liege. Durch die Rechtfertigungstheologie als Antwort auf diese Frage „hat Luther den evangelischen Glauben erneuert.“ (A.a.O., 5.) Luther selber hat Kaftan zufolge die Rechtfertigungslehre als die zentrale Lehre der evangelischen Kirche betrachtet, wie es sich in der Betrachtung als articulus stantis et cadentis ecclesiae ausdrückt (vgl. ebd.) – eine Zusammenfassung einer These LUTHERs (vgl. WA 40 III, 352, 3) durch V.E. Löscher. Vgl. auch Kaftan, Dogmatik, 528 und 531.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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lich gehalten wird, dass die Rechtfertigungsthematik das kritische Prinzip ist, welches die – um mit Tillich zu sprechen – „Substanz“381 der christlichen Religion, nämlich die Vorstellung des höchsten Guts des Gottesreichs, in allen theologischen, kirchlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungssetzungen bewahren hilft. Eben insofern ist sie das Signum protestantischen Christentums – nicht bloß der theologischen Lehrgestaltung, sondern der Vermittlungen christlicher Religiosität mit dem kirchlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben einer Zeit. Einmal mehr sei daran erinnert, dass hierauf überhaupt Kaftans Augenmerk liegt. Das Christentum ist in seinen jeweiligen Konfessionen nicht lediglich von der Lehre oder der Theologie her zu begreifen, sondern als Gesamtlebensform. Das kritische Prinzip, welches die von Luthers Paulusauslegung her verstandene Rechtfertigungslehre aufrichtet, ist gegen jegliche Vergesetzlichung des Verhältnisses von Seligkeit und sittlichem Tun gerichtet. Somit ist auch die zentral gesetzte Rechtfertigungslehre als eine Funktion der Eschatologie zu begreifen: Sie bringt zum Ausdruck, dass – in individueller Perspektive – das ewige Leben als Leben in Gottesgemeinschaft und – in kollektiv-universaler Perspektive – das Gottesreich als Ende der Welt sich nicht dem individuellen oder kollektiven menschlichen Tun verdanken und auch nicht verdanken können. Sie ist weiter weniger als Lehre, sondern entsprechend dem praktischen Wesen der Religion als „Prinzip für die Frömmigkeit“382 zu begreifen.383 In seinem Vortrag zur Rechtfertigungslehre kommt es Kaftan nun darauf an, den engen Zusammenhang des Rechtfertigungsprinzips mit dem Protestantismus als gesellschaftlicher und kultureller Lebensgestalt aufzudecken. Drei Punkte führt er hierfür an: erstens, die hierarchiekritische Valenz der Rechtfertigungsthematik, zweitens, den Zusammenhang von Rechtfertigungsglauben und protestantischem Moralverständnis, sowie drittens, die Potenz der Rechtfertigungsthematik hinsichtlich der Begründung wissenschaftlicher Freiheit.384 Besonders aufschlussreich für die hier verhandelte Verhältnissetzung von Eschatologie und Ethik in der christlichen Religion sind die beiden erstgenannten Punkte. Kaftan meint, dass der Rechtfertigungsgedanke zum einen der hierarchisch strukturierten Verfassung der römisch-katholischen Kirche ————— 381 TILLICH, ST I, 61 (Hervorhebung von C.C.). 382 Kaftan, Rechtfertigung, 7. 383 Als solche drückt die Rechtfertigungslehre aus, „daß es nichts als den Glauben braucht, um das Evangelium von der Gnade Gottes in Christo anzueignen, daß wir, wenn wir glauben, bei Gott gerecht und selig sind. Oder noch anders ausgedrückt: unser Verhältnis zu Gott […] ist niemals und in keinem Maß […] auf das gegründet, was wir sind oder leisten, sondern immer auf Gottes Liebe, die uns in Christo verbürgt und im Glauben gegenwärtig ist.“ (Kaftan, Rechtfertigung, 7.) 384 Vgl. Kaftan, Rechtfertigung, 7 die Zusammenfassung und a.a.O., 8–15 die Ausführung.

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entgegengestellt wird. Damit ist nun aber nicht bloß ein ekklesiologieinternes Argument vorgetragen. Vielmehr richtet sich der Rechtfertigungsgedanke gegen die Vorstellung, auch „die weltlichen Dinge“,385 das heißt hier: alle sittlichen, gesellschaftlichen und politischen Handlungen, seien durch die allen gesellschaftlich-politischen Instanzen übergeordnete Institution der Kirche zu regeln. Demgegenüber bringt das kritische Prinzip der Rechtfertigung zum Ausdruck, dass dem evangelischen Verständnis gemäß „weltliche Dinge weltlich geregelt werden, nicht ohne Gott, sondern im sittlichen Geist des Evangeliums“.386 Mithin wird die Selbständigkeit der Moral – wie auch der Politik, des Rechts und der Kultur – gegenüber der kirchlichen Gestaltwerdung der christlichen Religion durch den Rechtfertigungsgedanken theologisch begründet. Dieser Gedanke wird vermittels eines Umwegs über das Heilsverständnis dargestellt. Während die römischkatholische Kirche als Vermittlerin des Heils auftritt, besagt das sola fide der Rechtfertigungslehre, dass es „nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen [gibt], Jesus Christus.“387 Damit wird die Bedeutung der Institution der Kirche relativiert. Welche soteriologische Bedeutung ihr evangelischen Verständnis nach überhaupt zukommt, wird im nächsten Kapitel zu fragen sein. Umgekehrt ist über die Rechtfertigungsthematik die bleibende Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft zu begründen. Denn angesichts der Kritik, welche auch aus dem modern-aufgeklärten Geist heraus an der Hierarchie der römisch-katholischen Kirche vorgetragen wird, ließe sich folgern, dass die Gesellschaft überhaupt ohne Religion auszukommen habe. Kaftan meint hingegen, dass der Protestantismus über die Rechtfertigungsbotschaft vermitteln kann, daß die religiöse Frage [mithin die Frage nach dem ewigen Leben388 ] die Existenzfrage unseres Volkes und unserer Kultur ist.389

Denn die Rechtfertigungsbotschaft bearbeitet „die großen und schweren Fragen von Schuld und Vergebung, von Sünde und Gnade“,390 wobei die christliche Religion gerade wegen ihrer Integration von Religion und Moral, nach welcher zugleich beide selbständig bleiben, dem modernen Menschen Antworten auf jene Fragen offen legen kann. Der zweite der Punkte, an welchen ein besonderer Zusammenhang zwischen Rechtfertigungsthematik und Protestantismus aufgewiesen werden ————— 385 386 387 388 389 390

Kaftan, Rechtfertigung, 8. Kaftan, Rechtfertigung, 9. Kaftan, Rechtfertigung, 10 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu oben Kapitel 2.3.5 und 2.4. Kaftan, Rechtfertigung, 11. Kaftan, Rechtfertigung, 11.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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kann, ist die Aufstellung eines genuin „protestantischen Lebensideal[s]“391 gegenüber einem katholischen Lebensideal. Der Begriff „Lebensideal“ benennt dabei die Norm, aus welcher die Gesamtausrichtung der Lebensgestaltung besonders in sittlicher Perspektive gewonnen wird. Der Kern des katholischen Lebensideals liegt Kaftan zufolge in der Unterscheidung zwischen klösterlicher und weltlicher Lebensweise und der Überordnung der ersteren über das zweite, sprich: im „Ideal mönchischer Vollkommenheit“.392 Er betrachtet mithin historisch zutreffend die reformatorische Kritik am Mönchtum nicht als Teilmoment reformatorischer Anliegen, sondern als Brennpunkt dieser Anliegen, so dass hier „das Ganze […] in Frage“393 steht. Der katholischen Vorstellung, die mönchische Lebensweise übertreffe die weltliche Lebensweise im Gehorsam gegen Gottes Gesetz, steht der von Luther und von Luther her entworfene evangelische Berufsgedanke gegenüber. Diesen legt Kaftan auf das soziale Tun überhaupt aus und trägt den bereits zitierten Ausspruch Kants vor, „die einfachen sittlichen Pflichten des täglichen Lebens [seien] die höchsten Religionspflichten des Christen“,394 mithin verweise das göttliche Gesetz an das soziale Leben und seine sittliche Gestaltung. Umgekehrt besagt das evangelische Lebensideal, dass das sittliche Leben der „innerlich nothwendige[…] Weg zu Gott“395 ist. Abgesehen von der These, welche Webers Protestantischer Ethik von 1904 en passant vorgreift, dass nämlich im protestantischen Lebensideal eine besondere Potenz der protestantisch geprägten Gesellschaften „in aller Kulturbearbeitung und Weltbeherrschung“396 begründet ist, deutet Kaftan hier den entscheidenden Gedanken der Vermittlung von christlicher Eschatologie und Ethik an: Das sittliche Tun wird in der refomatorischen Theologie – wie es dem Wesen der christlichen Religion entspricht – im Gottesgedanken begründet. Dieser These, welche letztlich die Begründung für die bisher vorgetragene Integration der Sittlichkeit in die Religion ist, ist im Folgenden nachzugehen.

————— 391 Kaftan, Rechtfertigung, 11. 392 Kaftan, Rechtfertigung, 11. 393 Kaftan, Rechtfertigung, 11. 394 Kaftan, Rechtfertigung, 12. 395 Kaftan, Rechtfertigung, 12. 396 Kaftan, Rechtfertigung, 13. Vgl. zum Zusammenhang von lutherischer Rechtfertigungslehre und aktiver Weltgestaltung auch ders., Soziale Frage, 10f. So meint Kaftan hier, d.h. aber fünf Jahre vor Webers Protestantischer Ethik: „[W]o katholische und protestantische Bauern in unserm Vaterland unter einander wohnen, sei, so wird versichert, für das kundige Auge von ferne erkennbar, ob das Feld ein katholisches oder protestantisches ist.“ (A.a.O., 11; vgl. ders., Rechtfertigung, 13.)

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3.3.4 Gott und das Werden der menschlichen Persönlichkeit Dass die gesetzliche Relation von sittlichem Tun und religiöser Heilserfahrung überwunden ist, bedeutet in der Perspektive auf das religiöse Subjekt, dass dieses der sittlichen Forderung nicht aus ihr äußerlichen Gründen wie der Angst vor Bestrafung oder der Hoffnung auf Belohnung nachkommt. Vielmehr verinnerlicht es jene Forderung im Gefühl des unbedingten Sollens, wie oben in moraltheoretischer Perspektive festgestellt wurde. Eben dies entspricht dem Sinn der Gesetzeserfüllung, wie Jesus ihn in Verkündigung und Wirken zu verstehen gibt. Die sittlichen Pflichten sind aus eigener Überzeugung heraus zu übernehmen, nicht zum Zweck der Gebotserfüllung. Es kommt in der Bestimmung einer Tat als sittlicher mithin auf die „Gesinnung“, die „Motive“397 an, aus der heraus sie getan wird. Was Jesus will, ist, daß das Gesetz Gottes in der Seele Wurzeln schlagen und das Tun nun aus dieser Wurzel hervorwachsen soll – in reicher Fülle, weit über den Wortlaut des einzelnen Gebots hinaus.398

Von Bedeutung ist dies nicht allein wegen des Gedankens der Verinnerlichung zuvor heteronomer Forderungen. Kaftan selber meint in einem Brief an seinen Bruder: „Daß die Autorität eine innerliche sein soll, ist freilich eine Binsenwahrheit.“399 Entscheidend ist vielmehr die Frage, welche Konsequenz für die Relation von Gottesglaube und handelndem Selbstvollzug des Menschen eine solche Auffassung von Sittlichkeit hat. Objekt der Verinnerlichung ist im eben zitierten Satz eben nicht irgendein Gesetz, sondern ausdrücklich „Gottes Gesetz“. Es ist nun zu zeigen, wie Kaftan die Synthese von Religion und Moral, welche er in der christlichen Religion verwirklicht sieht, letzten Endes auf den christlichen Gottesbegriff zurückführt. Der Gedankengang ist folgendermaßen zu umreißen: „Gottes Gesetz“ wird in der christlichen Religion in seinem tiefsten Sinne als die Selbstbestimmung Gottes verstanden wird, insofern das „Gesetz Gottes“ der in sittliche Forderungen gefasste Ausdruck des Willens Gottes ist. Der Wille Gottes wiederum ist für den Menschen gleichbedeutend mit dem Wesen Gottes, das heißt: in seinem Willen zeigt sich Gott, wie er ist. Die Gewissheit der Übereinstimmung von Willen und Wesen Gottes gründet in dem Glauben an die Offenbarung Gottes in Christus, welche Selbstoffenbarung ist.400 Es wird sich ferner zeigen, dass Kaftan zufolge Gott von dem erkannt wird, der sich mit seinem Willen in den Willen Gottes einstellt. Die Gotteserkenntnis ist, ————— 397 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 58. 398 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 58. Kaftan sieht dies v.a. in der matthäischen Bergpredigt, insbesondere im Kapitel 5, belegt und illustriert. 399 Kaftan, Brief vom 10. Juni 1905 (Göbell, Briefwechsel I, 325). 400 Zum Gedanken der Selbstoffenbarung vgl. unten Kapitel 4.2.6.

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wie in Kapitel 4 darzulegen ist, Sache der praktischen, nicht der theoretischen Vernunft.401 Den Gedanken, dass Gottes Wesen und Gottes Wille – verstanden als sittliche Forderung an den Menschen – identisch sind, begründet Kaftan nicht nur im Zusammenhang christlicher Dogmatik, sondern er führt ihn bereits in seinen religionstheoretischen Überlegungen im Zusammenhang des religionsgeschichtlichen Vergleichs ein. Es ist noch einmal auf Kaftans religionsgeschichtliche Beobachtung zurück zu verweisen, dass von dem in einer Religion erstrebten Gut die Gottesvorstellung dependiert (und nicht etwa umgekehrt).402 Während beim Überschritt vom Ausgehen auf mannigfache innerweltliche Güter zur Orientierung an einem höchsten überweltlichen Gut zugleich die Transformation der polytheistischen in die monotheistische Gottesvorstellung erfolgt, so führt auch die Transformation des Strebens nach natürlichen Gütern in eines nach sittlichen Gütern zu einer veränderten Gottesvorstellung. Oben wurde im Kontext des Sündenbegriffs bereits davon gesprochen, dass das Sündenbewusstsein religionsgeschichtlich gesehen so verschiedenartige Gefühle wie „[g]emeine Furcht und Scheu“ oder „unbedingte Ehrfurcht […] vor der sittlichen Majestät […] Gottes“403 mit sich bringen kann. Letzteres, die „unbedingte Ehrfurcht“ ist Kaftan zufolge ein Spezifikum der christlichen Religion. Das Gefühl der Ehrfurcht bringt zum Ausdruck, dass Gott nicht lediglich als sittliche Ideale offenbarend und durchsetzend vorgestellt wird, sondern als „sittliche[…] Autorität“.404 Mit dieser Formulierung bringt Kaftan jene Übereinstimmung von Wesen und Willen Gottes zum Ausdruck, von welcher eben die Rede war: Gott und sein im sittlichen Gesetz geäußerter Wille fallen dem christlichen Glauben an die Selbstoffenbarung Gottes in Christus gemäß in eins. Kaftan stellt im Zusammenhang der religionsgeschichtlichen Beschreibung der sittlichen Qualifizierung weiter fest: Unwillkürlich verklären sich auch die Göttergestalten aus dunklen verschwommenen Naturgewalten zu konkreten Personen, wenn ein solcher praktischer Fortschritt [der Abwendung von natürlichen Gütern hin zu sittlichen Gütern] stattfindet.405

Mithin ist Implikat der Vorstellung Gottes als sittlicher Autorität, dass Gott als Person beziehungsweise Persönlichkeit vorgestellt wird. Damit ist zugleich gesagt, dass es Kaftan zufolge Implikat der Integration von vollende————— 401 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.2. 402 Vgl. dazu oben Kapitel 2.2.3 und 2.2.4. 403 Beide Zitate: Kaftan, Wesen, 120. 404 Kaftan, Wesen, 191. Für die Bedeutung des Offenbarungsgedankens in diesem Zusammenhang vgl. unten Kapitel 4.2.6. 405 Kaftan, Wesen, 125f.

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ter Religion und vollendeter Moral ist, die Gottesvorstellung als eine personale zu gestalten. Es ist hier zurück zu verweisen auf das vorangegangene Kapitel, wo bereits angedeutet wurde, dass Kaftan den Gedanken der Persönlichkeit Gottes als eminent ethischen Gedanken versteht, das heißt: den sittlichen Selbstvollzug des Menschen, mithin dessen Persönlichkeitswerdung im persönlichen Wesen Gottes begründet sein lässt. Es wurde bereits gezeigt, was Kaftan zufolge Persönlichkeitswerdung des Menschen bedeutet.406 Es ist nun zu zeigen, dass Kaftans dogmatische Gotteslehre im Ganzen dadurch geprägt ist, dass der Gottesgedanke strikt in seiner Beziehung auf jene menschliche Persönlichkeitswerdung erörtert wird. Sodann ist zu fragen, wie genau der Zusammenhang von Wesen Gottes und menschlichem Persönlichkeitswerden gedacht wird, das heißt zugleich: inwiefern der Glaube an Gott und das Werden der Persönlichkeit zusammenhängen (wie sich zeigen wird: wechselseitig korrelieren).407 Dabei ist zugleich nachzuvollziehen, wie Kaftan auf die Kritik Nietzsches an der christlichen „Sklavenmoral“ in konstruktiver Weise reagiert.408 Kaftan geht entsprechend seiner religionstheoretischen Bestimmung des Gottesbegriffs409 von der Bezeichnung Gottes als des Absoluten aus, welche als allgemeine Bestimmung dessen, was mit dem Begriff Gott in den geistigen Religionen gemeint ist, zugleich der „erste Satz der christlichen Gotteserkenntniss“410 ist. Er bringt mithin noch nicht das Spezifische des christlichen Gottesbegriffs im Unterschied zu den so genannten mystischen Religionen zum Ausdruck, sondern jenes Spezifische ist an der allen geistigen Religionen gemeinsamen Vorstellung Gottes als überweltlichen Geistes auszumachen. Von Konsequenz für die Dogmatik ist dieser Ansatzpunkt in der Gotteslehre insofern, als Kaftan sich hier – mit einem stichhaltigen Argument – von der Theologie ausdrücklich absetzt, welche ihn mit Sicherheit am stärksten beeinflusst hat: Anders als Ritschl411 nimmt er auch in der christlichen Gotteslehre nicht die Bestimmung Gottes als der Liebe zum Ausgangspunkt, da diese insofern zunächst unbestimmt ist, als „die Liebe […] etwas [ist], was auch in der endlichen Welt vorkommt, und was wir zunächst in dieser endlichen Form kennen.“412 Das mögliche Gegenargu————— 406 Vgl. oben 3.2.2 und 3.2.3. 407 Die Fokussierung auf den Persönlichkeitsbegriff in der Verhandlung aller dogmatischer Topoi tritt anstelle der Fokussierung auf den Logosbegriff; vgl. Kaftan, Logoslehre, 22. 408 Vgl. oben 3.1. 409 Vgl. oben 2.2.4. 410 Kaftan, Dogmatik, 181. Vgl. insgesamt a.a.O., §16: „Die christliche Gotteserkenntniss (das Absolute)“, und weiter ders., Glaube und Dogmatik, 488–493. 411 Vgl. RITSCHL, RuV III3=4, 256–270 sowie ders., Unterricht, §11 (21f). 412 Kaftan, Dogmatik, 185; vgl. auch a.a.O., 201. Kaftan erklärt Ritschls Voranstellung des Liebesbegriff aus der Funktionalisierung des Gottesbegriffs für die „teleologische[…] Welterklärung“ (a.a.O., 186; vgl. auch a.a.O., 202f).

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ment lautet, Ritschl und jene, die ihm hierin folgen,413 begriffen Gott als die Liebe schlechthin und die endliche Liebe als Akt der Partizipation an jener Liebe, welche Gott ist. Kaftan legt aber mit seinem Ausgangspunkt im Begriff des Absoluten offen, dass alle Näherbestimmungen dessen, was Gott im Unterschied zur endlichen Kreatur ist – so auch die Bestimmung als Liebe schlechthin – von einer Grundübereinkunft darüber dependieren, dass Gott in der christlichen Religion als einer geistigen Religion von der Kreatur kategorial zu unterscheiden und – allerdings in bestimmter Weise – als das Unbedingte zu beschreiben ist. Auffallend ist nun aber, dass Kaftan bereits in den ersten Sätzen der christlichen Gotteslehre die Verschränkung des Gottesbegriffs mit der Persönlichkeit des Menschen unternimmt. So wendet er erstens die Reflexion auf das Absolute – anstatt dieses zunächst dem Begriff nach zu bestimmen – in die erkenntnistheoretische Problematik und konzipiert die Erkenntnis des Absoluten in Rückbesinnung auf die anthropologische Konstante des Verlangens nach Leben als Sache der praktischen, nicht der theoretischen Vernunft:414 Der Begriff des Absoluten benennt die definitive Erfüllung menschlichen Lebensverlangens – eben „das absolute Ziel unseres Daseins“415 – und zugleich die Macht, welche solche Lebenserfüllung überhaupt begründen kann – „die absolute Macht über alles Wirkliche“.416 Der Begriff des Absoluten ist damit seinem Ursprung und seinem Wesen nach nicht Gegenstand theoretisch-spekulativer Reflexion, sondern bringt das Telos zum Ausdruck, welches sich der nach Erfüllung strebende Mensch vorstellt. Dass dieses Telos gleichwohl theoretisch-spekulativ bedacht werden kann, ist damit nicht ausgeschlossen – wird von Kaftan aber als letztlich fehlgehende Erfassungsweise des Absoluten verstanden, wie noch zu zeigen ist.417 Damit ist zugleich eine Perspektive eröffnet, in welcher das Absolute nicht in Fichtescher Weise über seine schlechthinnige Unverwobenheit mit der Welt begriffen wird, sondern von vornherein in seiner Beziehung mit dem Bedingten gesehen wird. Dass Kaftan den Weltbezug ————— 413 Vgl. z.B. für die gegenwärtige Theologie Wilfried HÄRLE, Dogmatik, Berlin/New York 2000, 235–269. 414 Näherhin ist es der „endliche Wille“ des Menschen als „ruhelose[r] Wille“, welcher überhaupt erst zur einer Vorstellung des Absoluten im Unterschied zum Relativen führt: „Der endliche Wille ist Streben nach Befriedigung, nach Leben und vollem Genüge. Weil er dies nicht in sich selbst findet, sucht er es in Anderem und setzt in dieser Linie unwillkürlich ein Letztes, Definitives – Absolutes.“ Kaftan, Dogmatik, 182. – Zu den erkenntnistheoretischen Implikationen vgl. unten Kapitel 4.2.4. 415 Kaftan, Dogmatik, 183. 416 Kaftan Dogmatik, 183. Dass damit gerade nicht in Abrede gestellt werden soll, dass das Absolute nicht „eine höchste Steigerung der relativen Bedürftigkeit oder der relativen Macht“, sondern „ein der Art nach Anderes“ (a.a.O., 183; Hervorhebung im Original) ist, wird an Kaftans Konzeption des Offenbarungsbegriffs unten Kapitel 4.2.6 zu zeigen sein. 417 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.4.

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Gottes in dessen Wesen aufnimmt, wurde bereits im vorangegangenen Kapitel angedeutet.418 Es wird nun näher zu bestimmen sein, inwiefern dieser Weltbezug das dezidiert ethische Wesen der christlichen Religion begründet. Mit der These eines wesensmäßigen Weltbezugs des Absoluten hängt zweitens die Verortung des Gottesbegriffs in der Perspektive des glaubenden Menschen zusammen. Es wird für alle weiteren Erörterungen des Gottesbegriffs entscheidend sein,419 dass Kaftan – im Anschluss an die Kantschen Vernunftkritiken, an Schleiermachers Glaubenslehre und die Gotteslehre Ritschls – die Reflexion auf Gott, wie er an sich ist, als unmöglich ablehnt. Die christliche Gotteslehre argumentiert ausdrücklich und in allen ihren Teilen aus der Perspektive des Glaubenden, für den die Erfahrung der Gottesbeziehung beziehungsweise das Handeln Gottes am Menschen das Mittel aller Erkenntnis Gottes ist.420 Dies hat Konsequenzen vor allem für die Trinitätslehre: Kaftan enthält sich – obwohl er feststellt, dass die geschichtliche Offenbarung Gottes als dreieinigen „das ewige Wesen Gottes erkennen lehrt“421 – einer ausgeführten Reflexion auf die immanente Trinität. Damit steht er unverkennbar in der Tradition der Theologie im Gefolge Schleiermachers, welche solche Reflexion als spekulative Folgeüberlegungen vom eigentlichen Inhalt des christlichen Gottesglaubens scheidet.422 Es zeigt sich mithin, dass Kaftan zwar einen dem Ritschlschen Ausgangspunkt alternativen Ansatz wählt, diesen aber der theo-logischen Grundmaxime Ritschls entsprechend zu gestalten sucht: ————— 418 Vgl. oben Kapitel 2.2.4. 419 Vgl. z.B. die Vorordnung des Glaubens an den in der Geschichte offenbaren Gott vor den Glauben an Gottes Schöpfersein (vgl. Kaftan, Dogmatik, 142). 420 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 186 (Hervorhebung im Original): „Der Gläubige erkennt Gott in den Beziehungen zu seinem persönlichen Leben, als seinen Gott, damit dann auch als Gott seiner Welt und d.h. der Welt überhaupt.“ Vgl. weiter a.a.O., 197–199, 202, 207, 228. Allerdings erblickt der Glaubende in der geschichtlichen Offenbarung Gottes in Christus, welche Selbstoffenbarung Gottes ist, das Wesen Gottes – „das geschichtlich Gegebene reflektirt sich im Spiegel der Ewigkeit.“ (A.a.O., 245.) Davon ist aber die theoretische Spekulation über das Wesen Gottes, wie es an sich ist, strikte zu unterscheiden. 421 Kaftan, Dogmatik, 232. Vgl. auch den Leitsatz zu §17 zum Wesen Gottes, wo es heißt: Die hier dargestellte „Erkenntniss ist dem Glauben durch die Offenbarung vermittelt, erreicht aber wirklich das ewige Wesen Gottes und nicht bloss seine Beziehung zur Welt.“ (A.a.O., 187.) 422 Vgl. zu dieser im 19. Jahrhundert Raum greifenden, auch durch die Metaphysikkritik Ritschls beeinflussten Ausscheidung der trinitätstheologischen Reflexion auf das innergöttliche Wesen als spekulativ PANNENBERG, ST I, 319f. Vgl. zur gegenläufigen Bewegung bei den Schleiermacherschülern Nitzsch und Twesten: Christine AXT-PISCALAR, Der Grund des Glaubens. Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zum Verhältnis von Glaube und Trinität in der Theologie Isaak August Dorners, Tübingen 1990, 97–120. Gemeinsam ist den betreffenden theologischen Entwürfen, dass sie die Trinitätslehre dezidiert nicht wie in der idealistischen Philosophie seit Lessings Anstoß in der Reflexion auf das Absolute (als selbstbewussten Geistes), sondern, so auch Kaftan, in der geschichtlichen Offenbarung Gottes zu begründen suchen. Vgl. dazu a.a.O., 318–320, 330f.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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Die Gotteserkenntnis des Glaubens hat es […] nicht mit Gott wie er an sich ist zu thun, sondern mit dem Gott der Offenbarung.423

Es ist diese Betonung des Offenbarungsprinzips als alle Erkenntnis Gottes bestimmend, welche bedingt, dass Kaftans Gotteslehre – trotz des Ausgangs beim Begriff des Absoluten – ausdrücklich nicht über Gottes Anderssein und seine Freiheit von der Welt entworfen wird. Vielmehr ist die Weltbeziehung Gottes notwendigerweise in jeder Aussage über Gott mitzuführen, weil die Welt der unhintergehbare Ort der Gotteserkenntnis ist.424 Bei Kaftan ist es geradezu Kriterium der rechten Rede von Gott, ob die „innere Einheit“425 des Seins Gottes mit seinem Weltverhältnis ausgesagt ist. Damit weist der Begriff des Absoluten nicht auf „absolut einfaches, schrankenloses Sein“426 hin, wie Kaftan es in der „einseitig negative[n] Fassung der Transcendenz Gottes“427 in der dogmatischen Tradition aufzuweisen können meint.428 In Kaftans kritischer Betrachtung jener Gotteslehren, welche in einseitiger Weise die Transzendenz Gottes zum Ausgangspunkt ihrer Sätze von Gott nehmen, äußert sich in negativer Weise die ethische Zuspitzung seiner Gotteslehre. So tragen die ethischen Ausführungen im Zusammenhang einer radikal transzendenten Gotteslehre in konsequenter Weise ein „Gepräge der Weltflucht“.429 Umgekehrt, so lässt sich schließen, bringt die von vornherein auf den Weltbegriff bezogene Gotteslehre mit sich, dass die Bestimmung des Gott erkennenden Subjekts zu ethischer Weltgestaltung dem Gottesbegriff nicht äußerlich ist, sondern in diesen aufgenommen gedacht werden kann. Das erkenntnistheoretische Argument dafür, warum Kaftan die Absolutheit Gottes von vornherein mit der Welt und damit der ethischen Weltstellung des erkennenden Menschen zu vermitteln sucht, spiegelt sich in der Intention Kaftans, am Offenbarungsprinzip in wechselseitigem Verhältnis mit dem Glaubensprinzip als den Prinzipien festzuhalten, welche die dogmatische Gedankenführung leiten. Dass die christliche Rede von Gott in der Kundgabe Gottes gründet, findet Ausdruck in der wiederholten Bezugnahme auf die Offenbarung Gottes in der Geschichte. Der Offenbarungsbegriff ————— 423 Kaftan, Dogmatik, 169; vgl. auch a.a.O., 178f. 424 Voraussetzung ist weiter, dass jede Erkenntnis, und damit auch die Gotteserkenntnis, „subjektiv-objektiv“ (Kaftan, Philosophie, 374 u.ö.) ist. Das bedeutet auch für die Erkenntnis Gottes, dass diese nicht lediglich nach dem in ihr gesetzten Objekt – Gott – analysiert werden kann, sondern dass die Subjektivität der Erkenntnis beständig mitzuführen ist. Vgl. dazu unten Kapitel 4.2.3–4.2.5. 425 Kaftan, Dogmatik, 156. 426 Kaftan, Dogmatik, 155. 427 Kaftan, Dogmatik, 157. 428 Er bezieht sich hier auf den durch die antike Philosophie bestimmte Gotteslehre der Alten Kirche, welche auch in die altprotestantische Dogmatik Einzug gehalten hat. 429 Kaftan, Dogmatik, 157.

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bildet gewissermaßen die Klammer um die gesamte Gotteslehre. Sie setzt mit einem Kapitel zur „Offenbarung Gottes nach der heiligen Schrift“430 ein und schließt mit dem Kapitel: „Die christliche Gotteserkenntniss (Trinität)“431. Das erstgenannte Kapitel präsentiert das biblische Material, aus welchem unter der Voraussetzung, dass die heilige Schrift das Zeugnis der geschichtlichen Offenbarung Gottes ist,432 die christlichen Aussagen über Gott gewonnen werden. Das zweitgenannte und die eigentliche Gotteslehre abschließende Kapitel zur Trinitätslehre entwirft eine erkenntnistheoretische Begründung des christlichen Gottesglaubens: Es ist die Selbstoffenbarung Gottes in dem „geschichtliche[n] Personleben Jesu Christi“,433 in welcher der Glaube Gott erkennt, indem er durch den Geist zur Gemeinschaft mit Gott, das heißt „zur Gemeinschaft des göttlichen Lebens und Geistes“434 geführt wird. Während die Implikationen, die dieser trinitätstheologische Abschluss der eigentlichen Gotteslehre für eine Theorie religiöser Erkenntnis hat, erst im folgenden Kapitel erläutert werden,435 sind nun die materialen Grundbestimmungen zu bedenken, welche Kaftan aus der geschichtlichen Gottesoffenbarung in Christus als Näherbestimmungen des spezifisch christlichen Gottesbegriffs gewinnt. Methodisch folgt Kaftan dabei der traditionellen Unterscheidung zwischen Wesen und Eigenschaften Gottes.436 Allerdings legt er in einem eigenen Kapitel zur „Lehre von den göttlichen Eigenschaften“ die Schwierigkeiten offen, welche jene Unterscheidung mit sich bringt.437 Zum einen besteht, da die Eigenschaften Gottes aus seinem Wirken in der Welt und am Menschen erkannt werden, die Gefahr, dass in der Eigenschaftenlehre späteren Ausführungen der Dogmatik vorgegriffen wird – gerade dann, wenn sie kein abstraktes „Verzeichniss göttlicher Eigenschaften“438 sein will. Zum anderen meint Kaftan einen inneren Widerspruch in der traditionellen439 Lehre von den göttlichen Eigenschaften darin aufweisen zu können, dass diese zum einen aus spekulativer Reflexion auf den philosophischen Gottesbegriff, zum anderen aus der Auslegung der heiligen Schrift als Zeugnis————— 430 Kaftan, Dogmatik, §13, 136–152. 431 Kaftan, Dogmatik, §21, 231–246. 432 Zum Schriftprinzip vgl. oben Kapitel 2.3.1. 433 Kaftan, Dogmatik, 238 (im Original z.T. hervorgehoben). 434 Kaftan, Dogmatik, 241. 435 Vgl. dazu unten Kapitel 4.2. 436 Vgl. z.B. den Aufriss der altlutherischen Dogmatik bei Heinrich SCHMID, Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche dargestellt und aus den Quellen erfasst, Gütersloh 71893, §17 und 18. 437 Vgl. den §15 in der Dogmatik (168–181). 438 Kaftan, Dogmatik, 168. 439 Kaftan bezieht sich auf Augustin, den Aeropagiten, die altprotestantische Dogmatik am Beispiel Gerhards und die neuere Dogmatik am Beispiel Schleiermachers, Biedermanns, Philippis, Dorners und Franks.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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ses der geschichtlichen Gottesoffenbarung gewonnen ist. Die darin mitgesetzte Problematik berührt er nur am Rande: Sind die verschiedenen Eigenschaften Gottes real voneinander und dem einheitlichen Wesen Gottes unterschieden, oder sind sie „bloss subjektive“440 Unterscheidungen, welche sich aus dem Wirken Gottes an Welt und Mensch schließen lassen? Kaftan will diese Frage nicht prinzipiell klären – und zwar aus dem Grund, dass er – im Anschluss an Ritschl – sowohl die Frage nach dem Wesen Gottes als auch die Frage nach den göttlichen Eigenschaften gleichermaßen aus dem Glauben heraus darzustellen sucht, so dass die prinzipielle Frage nach dem Ding an sich und seinen Eigenschaften dem hier behandelten Gegenstand unangemessen ist. Es ist allerdings die die Glaubenserkenntnis bestimmende „Logik“,441 welche die Unterscheidung zwischen Wesen und Eigenschaften Gottes „zweckmässig“442 sein lässt: Wesensprädikate Gottes sind solche, die wir immer denken, wenn wir Gott dem Glauben und d.h. der Wahrheit entsprechend denken […]. Gottes Eigenschaften dagegen sind solche Prädikate, die auf eine bestimmte Beziehung Gottes achten, aber nicht nothwendig in jedem christlichen Gedanken von Gott enthalten sind.443

Damit liegt in gewisser Hinsicht eine Doppelung zu dem oben besprochenen Abschnitt über den Absolutheitsbegriff vor: Wie dort der allgemeine Begriff Gottes den geistigen Religionen gemäß bestimmt wurde, geht es in der Frage nach dem Wesen Gottes um den allgemeinen Begriff Gottes, wie er jeder christlichen Aussage über Gott zugrunde liegt. Dabei fällt auf, dass es eigentlich nur eine Bestimmung aus dem Kapitel über das Wesen Gottes ist, welche den christlichen Gottesbegriff vor dem Hintergrund der Rede von Gott als dem Absoluten spezifiziert: die, dass Gott „Persönlichkeit“444 ist. Wie im vorangegangenen Kapitel im Blick auf die Abgrenzung des christlichen Gottesglaubens vom Pantheismus bereits festgestellt, liegt in dem Gedanken der Personalität Gottes mithin das Argumentationszentrum der Kaftanschen Gotteslehre. So fasst Kaftan die Wesensbestimmung Gottes, wie sie im christlichen Glauben mitgesetzt ist, folgendermaßen zusammen: „Gott wird im christlichen Glauben erkannt als überweltlicher persönlicher Geist“.445 Geist ist Gott – Kaftan zufolge ist dies der „erste Satz über das Wesen Gottes“,446 so dass alle weiteren Bestimmungen am Geistbegriff vorzuneh————— 440 Kaftan, Dogmatik, 170. 441 Kaftan, Dogmatik, 179. 442 Kaftan, Dogmatik, 179. 443 Kaftan, Dogmatik, 179. 444 Kaftan, Dogmatik, 187 u.ö. 445 So der Beginn des Leitsatzes von §17 zum Wesen Gottes (Kaftan, Dogmatik, 187; Hervorhebung von C.C.). Die Formel von Gott als überweltlichem persönlichen Geist durchzieht die gesamte Gotteslehre Kaftans; vgl. z.B. a.a.O., 189, 195, 201, 208 u.ö.

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men sind –, insofern er sich von der „natürlich-materielle[n] Welt“447 unterscheidet, das heißt selber nicht Materie und mithin unkörperlich ist. Der Begriff der Überweltlichkeit hängt eng mit dieser Grundbestimmung des Wesens Gottes zusammen, insofern die Geistigkeit Gottes gleichsam die Voraussetzung dafür ist, Gott als unabhängig „von allen Schranken des Raumes und der Zeit“448 zu denken. Mitgesetzt im Attribut der Überweltlichkeit ist mithin Gottes Erhabenheit – als Unabhängigkeit vom Raum – und seine Ewigkeit – als Unabhängigkeit von der Zeit. Über den Begriff der Überweltlichkeit versucht Kaftan somit, die Absolutheit Gottes zu reformulieren. Dabei kehrt schon rein terminologisch die oben besprochene Eigentümlichkeit des Kaftanschen Verständnisses vom absoluten Sein Gottes wieder. Es kann nicht unter Absehen vom Weltbegriff erkannt werden (ohne dass damit die gleichsam ontologische Bedingtheit Gottes durch die Welt ausgesagt wäre). Eben dies impliziert die Überweltlichkeitsterminologie: die Beziehung des transzendenten Gottes auf die Welt. Denn der Begriff der Überwelt tritt nicht nur dem Begriff nach als Korrelat des Weltbegriffs auf, sondern die Vorstellung des Überweltlichen wird überhaupt nur verständlich als Ausdruck des Telos menschlichen Strebens.449 Darin liegt zugleich die Korrelation des Gottesbegriffs mit der endlichen Persönlichkeit des Menschen, von der oben gesagt wurde, dass sie die Gotteslehre im Ganzen durchzieht. Der Sinngehalt des Überweltbegriffs liegt darin, dass Gott als das Ziel menschlichen Lebens erkannt wird, insofern dessen Bestimmung darin liegt, dass er [der Mensch], der doch aus der Welt kommt, einmal unabhängig werden soll von allen in dieser Welt zusammengefassten Daseinsbedingungen: er ist zu einem ewigen Leben berufen.450

Mithin ist das Attribut der Überweltlichkeit Gottes zugleich als Ausdruck des eschatologischen Wesens der christlichen Religion zu verstehen, und zwar in der Spannung des Schon jetzt und noch nicht.451 Es korreliert dem Glauben des Christen an die Erlösung von der Welt, welcher sich in Hoffnung auf Gemeinschaft mit dem überweltlichen Gott und in Erlösungsgewissheit äußert – letzteres insofern, als die glaubende Teilhabe am auferstandenen Christus die Erlösung von der Welt schon jetzt bedeutet. Zugleich liegt in der Beziehung des überweltlichen Gottes auf die Welt in noch näher zu bestimmender Weise begründet, dass der Christ in der ge————— 446 447 448 449 450 451

Kaftan, Dogmatik, 187. Kaftan, Dogmatik, 187. Kaftan, Dogmatik, 193. Vgl. dazu oben Kapitel 2.2.2–2.2.4. Kaftan, Dogmatik, 194 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu oben Kapitel 2.3.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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genwärtigen Erlösungserfahrung wieder an die Welt und ihre sittliche Gestaltung verwiesen wird. Aber auch der Geistbegriff, welcher gleichsam die Voraussetzung dafür ist, Gott als überweltlich denken zu können, ist strikte auf die menschliche Glaubenserkenntnis bezogen und darin auf die sittliche Bestimmung des Menschen in der Welt: Kaftan begründet die Erkenntnis des geistigen Wesens Gottes in der Selbsterkenntnis des Menschen als seiner Bestimmung nach geistigen Wesens. Während im Zusammenhang des Überweltbegriffs vor allem die eschatologische Dimension der Verzahnung von Gottes- und Selbsterkenntnis auffällt, so ist es im Zusammenhang des Geistbegriffs die sittliche Dimension. Wie oben 3.2.2 rekonstruiert, ist die sittliche Entwicklung als Vergeistigung zu begreifen, insofern der Mensch in Distanz zu seinem natürlichen, und das heißt immer auch: auf natürlich-materielle Güter gerichteten Wollen tritt. Gott als Geist begriffen macht die Wirklichkeit Gottes als Telos nicht bloß des Strebens nach ewigem Leben, sondern zugleich als das „Seinsollende[…]“, mithin als höchsten Ausdruck der „geistigen Zwecke“452 des Menschen vorstellig. Damit ist der sittliche Vollzug, das heißt: die Ausrichtung des eigenen Handelns am Geist als dem „Seinsollenden“, in Gottes geistigem Sein begründet. In dieser Bestimmung liegt nun der Grund für die Aufnahme des dritten Attributs in die Wesensbestimmung Gottes: der Persönlichkeit. Mit der ethischen Fassung des Geistbegriffs ist angezeigt, welche Funktion und welchen Sinn der Persönlichkeitsbegriff in Anwendung auf das Wesen Gottes bei Kaftan hat: menschliche Handlungsorientierung am überweltlichen Geist als dem höchsten Zweck im Wesen Gottes selber zu begründen. Der Persönlichkeitsbegriff in Anwendung auf Gott kam bereits im vorangegangenen Kapitel zur Sprache, als die drei religionstheoretischen Grundbestimmungen der verschiedenen geschichtlichen Gottesvorstellungen dargestellt wurden.453 Dort wurde deutlich, dass Kaftan die personale Gottesvorstellung bereits aus religionstheoretischen Überlegungen heraus als der pantheistischen überlegene versteht. Es wurde auch festgestellt, dass dieses Urteil in der Problemgeschichte des Personalismus in Frage gestellt wurde, indem die Vermittlung des Begriffs des Absoluten – und damit der Vorstellung der Geistigkeit und Überweltlichkeit Gottes – mit der Vorstellung Gottes als Persönlichkeit für denkerisch unmöglich erachtet wurde. Wie bereits bedeutet, setzt Kaftan sich mit den in der betreffenden Problemgeschichte vorgetragenen Argumenten wie dem Vorwurf des Anthropomorphismus und der damit einhergehenden Verendlichung des Absoluten ————— 452 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 187 (im Original z.T. hervorgehoben). 453 Vgl. oben Kapitel 2.2.4.

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kaum explizit auseinander.454 Vielmehr führt Kaftan mit dem Abschnitt der christlichen Gotteslehre, welche den Persönlichkeitsbegriff in Anwendung auf Gott vorstellt,455 sein Programm der Vermittlung der Ethik mit dem Gottesbegriff durch. Voraussetzung dafür ist, dass der Begriff der menschlichen Persönlichkeit in der Beschreibung genuin sittlichen Vollzugs verortet ist. Persönlichkeit ist der Mensch, welcher seine natürlichen Strebungen in Richtung auf seine Bestimmung zur Persönlichkeit überbildet, welche zugleich die Bestimmung zum geistigen Sein ist. Es ist mithin die sittliche Erfahrung, aus welcher das „Bild[…]“456 der Persönlichkeit entnommen und auf Gott übertragen wird. Kaftan gesteht somit zu, dass die personale Gottesvorstellung eine bildliche, das heißt als Analogieschluss aus endlicher Erfahrung heraus gestaltete Vorstellung ist. Zwei Argumente sprechen aber für die unübertreffliche Angemessenheit dieser Vorstellung: Erstens ist die Erfahrung des eigenen Selbst als Persönlichkeit die höchste Erfahrung von Geist, die der Mensch machen kann. Die Übertragung des Persönlichkeitsbegriffs auf Gott hat demnach ungleich höhere Valenz als die Konzeption des geistigen Gottesbegriffs als „eine[r] Naturkraft höherer Ordnung“.457 Zweitens – und hier liegt der Grund, warum oben von der Umkehrung des Anthropomorphismus gesprochen wurde – erfährt sich der Mensch nur insofern als zur geistigen Persönlichkeit bestimmt, als er einen „persönliche[n], Werthe unterscheidende[n], Zwecke setzende[n] Wille[n] [als] die absolute Macht in allem Wirklichen“458 annimmt. Es ist der Glaube an die Persönlichkeit des überweltlichen Geistes, welche dem sittlichen Handeln seinen Inhalt und seine Kraft gibt. Kaftan schließt den christlichen Gottesbegriff hier ausdrücklich an die Gottesvorstellung an, welche ihm zufolge den Höhepunkt des im Alten Testament bezeugten Gottesglaubens darstellt und in der Predigt und Wirken Jesu „wiederhergestellt ist, ja überboten wird“459 – überboten insofern, als Gott selber in Jesu Wirken gegenwärtig ist: „Gott tritt uns […] bei den ————— 454 Kaftans Ansatz ist von spekulativ-theistischen Konzeptionen der Zeit schon darin unterschieden, dass er seine Überlegungen zum Gottesbegriff nicht im Rahmen einer Theorie des Absoluten vorträgt, sondern von seiner Konzeption einer neutestamentlichen Theologie aus im Rahmen der Wesensbestimmung des Christentums auf der einen und der Abzweckung auf die kirchliche Dogmatik auf der anderen Seite – und das heißt von der positiven Religion her. Vgl. Ingolf U. DALFERTH, Art. Theismus, TRE 33, 2002, 196–205, bes. 198 zur Differenzierung der Gottesrede nach Ausgangspunkten, Zielen, Adressaten, Kriterien und Status. 455 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 189–193. Vgl. auch ders., Ueber den Glauben, 22. 456 Kaftan, Dogmatik, 192. 457 Kaftan, Dogmatik, 193. 458 Kaftan, Dogmatik, 192. 459 Kaftan, Dogmatik, 149.

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Propheten als die höchste Energie des persönlichen Wollens entgegen.“460 Dieser Satz aus dem die „Offenbarung Gottes nach der heiligen Schrift“461 darstellenden Kapitel wird im Kapitel zum Wesen Gottes, das heißt an zentraler Stelle, explizit wieder aufgenommen.462 Es ist dieses höchste Wollen, in welches sich der Mensch einstellt, insofern er sittlich handelt, das heißt: sich selber zur Persönlichkeit entwickelt. Das religiöse Strebeziel, das heißt das Ziel der Gemeinschaft mit Gott als überweltlichem Geist, ist damit als ethisch bestimmtes Ziel gedacht. Konkret ausgedrückt wird dies in der Vorstellung des Reiches Gottes, welche nun als biblisches Symbol zugleich als konsequenter Ausdruck des christlichen Gottesbegriffs erscheint. Es bedeutet, dass die Erlösung von der Welt den Einzelnen in eine „mit Gott und unter sich verbundene[…] Gemeinschaft von Menschen“463 einstellt. Das heißt aber, dass der Mensch dem christlichen Glauben gemäß in der Gegenwart die Erlösung von der Welt in der sittlich bestimmten Beziehung als Persönlichkeit zu anderen Persönlichkeiten erlebt. Dabei sind es alle drei die Existenz des Glaubenden bestimmenden Relationen – die Beziehung zu Gott, die Beziehung zum Mitmenschen (als dem Repräsentanten des Anderen, wie es in der Welt erfahren wird) und zu sich selber –, welche personal verfasst sind. Dass das Reich Gottes sich in der Gestaltung dieser Relationen auch empirisch verwirklicht, hebt jedoch nicht das prinzipielle Schon jetzt und noch nicht des christlichen Erlösungsglaubens auf. Augenfälliger Ausdruck hierfür ist das Abendmahl als Vorgeschmack der eschatologischen Reichgottesgemeinschaft schon jetzt in der Zeit.464 Die soziale Verfasstheit des christlichen Erlösungsglaubens wird aus einem Vergleich der paulinischen Christusmystik mit den so genannten mystischen Religionen deutlich: Während letztere auf den verborgenen „Gott“ ausgehen und die Erfahrung der Einung mit diesem eine apophatische ist, erkennt Paulus durch das In-Christo-Sein den durch Christus offenbarten Gott und dessen Willen. Es ist ein „ethische[s] Gottesbild“,465 welches in der Gemeinschaft mit Christus vermittelt wird; seine Züge sind die, welche in der Verkündigung des geschichtlichen Jesus vom Reich Gottes anschaulich werden. Mithin kann Kaftan vom „ethische[n] Charakter der Paulinischen Mystik“466 sprechen. Diese Wendung deutet an, worauf Kaftans Ausführun————— 460 Kaftan, Dogmatik, 141 (im Original z.T. hervorgehoben). 461 Kaftan, Dogmatik, §13 (136–152). 462 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 189. 463 Kaftan, Dogmatik, 606. 464 Zum Abendmahl als „Gemeinschaftsfeier“ vgl. Kaftan, Dogmatik, 648. 465 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 109. 466 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 110. Vgl. hierzu später die nachdrückliche Feststellung SCHWEITZERs, Mystik, 323: „In der natürlichsten Weise setzt sich bei ihm [Paulus] die Mystik des Sterbens mit Christo und des Auferstehens mit ihm in lebendige Ethik um.“

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gen zu den Bedingungen christlicher Ethik insgesamt zulaufen. In der christlichen Religion ist das höchste überweltliche Gut deshalb ein sittliches Ideal, weil das religiöse Subjekt in der gleichsam mystischen Teilhabe am Leben Gottes, obwohl sie Erlösung von der Welt bedeutet, mit dem Willen Gottes als Bestimmung des eigenen Handelns konfrontiert wird. Dies kann nichts anderes heißen, als dass sich diese spezifische Form mystischer Erfahrung als personale Begegnung ereignet. Gott wird in der mystischen Erfahrung der Erlösung durch Teilhabe am Auferstandenen als Persönlichkeit bewusst, deren Willen sich der Erlöste aneignet. Gleichzeitig bedeutet jene Erfahrung deshalb gerade nicht, dass sich der Einzelne der Nichtung durch Eingehen in das göttliche Leben hingibt, wie Kaftan die Mystik der eigentlich mystischen Religion zusammenfasst. Sondern für den Einzelnen fällt die Erlösungserfahrung zusammen mit der Erfahrung seiner Selbst als vollendeter geistiger Persönlichkeit, das heißt, sie wird als Erfüllung der ethisch-personalen Bestimmung des Menschen gedacht. In der Vorstellung des Gottesreichs liegt weiterhin, dass der erlöste Einzelne sich eingestellt findet in eine Gemeinschaft der Erlösten, welche gemäß der personalen Näherbestimmung der Erlösungsvorstellung eine Gemeinschaft persönlicher Geister ist. Eine solche ideale Gemeinschaft, in welcher die Hemmung sittlichen Personwerdens durch die Sünde endgültig aufgehoben ist, und in welcher sich mithin für den Einzelnen die Erfüllung seines Lebensverlangens mit seiner sittlichen Selbstbeschränkung zugunsten der Gemeinschaft verträgt, kennt der christliche Glaube als die Bestimmung des Menschen und der Menschheit und vermittelt darüber als „den ewigen Weltzweck Gottes“.467 Mithin ergibt sich auch für die Beziehung des Einzelnen zum anderen Menschen, dass sie in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen ist und von dieser her persönlich-sittlich durchgestaltet wird. Es zeigt sich in Kaftans Gotteslehre aber eine deutliche Akzentverschiebung gegenüber der Ritschlschen Bestimmung des Gottesreichs als „vollkommene Gemeinschaft der Menschen […], deren Glieder unter einander durch das Band der Liebe verbunden sind“.468 Bei Kaftan steht die Gotteserfahrung des Einzelnen voran, was mit seiner mystischen Wesensbestimmung der christlichen Religion zusammenhängt, wie es sich auch an betreffender Stelle in der dogmatischen Gotteslehre äußert. Die Erlösung als Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott als persönlich-überweltlichem Geist wird hier darin gesehen, dass eine Seele ihren Gott findet und erkennt. Und gerade in dem Wort von der Liebe Gottes klingt etwas vom Schrei des Entzückens, den diese höchste nicht weiter aufzulösende Erfahrung entlockt.469

————— 467 Kaftan, Dogmatik, 606; vgl. ders., Pflicht des Glaubens, 97f. 468 Kaftan, Dogmatik, 203. Vgl. RITSCHL, Unterricht, §5 und 6 (13–16). 469 Kaftan, Dogmatik, 203 (Hervorhebung im Original).

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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Mithin ist auch die Erlösungserfahrung des Christen, gerade weil sie Erlösung von der Welt bedeutet, gleichsam ekstatisch verfasst – das Andere überhaupt und so auch der Mitmensch treten gegenüber der Erfahrung des überweltlichen Gottes zurück. Kaftan hält sich angesichts der Tatsache, dass er den Reich-Gottes-Gedanken an zentraler Stelle der eschatologisch konfigurierten Theologie verortet, auffallend zurück mit Ausführungen zur Verfasstheit des zukünftigen Gottesreichs.470 Die Gemeinschaft mit anderen Menschen wird weniger als eschatologische Heilswirklichkeit geschildert als vielmehr von der individuellen Heilserfahrung her als innerweltliches Geschehen in den Blick genommen. Sie ist der Ort, an welchem solche Heilserfahrung gegenwärtig einzig wirksam wird. Hiermit ist eine entscheidende Näherbestimmung genuin christlicher Mystik im Unterschied zu anderen Formen der Mystik getroffen. Auch die christliche Erfahrung des überweltlichen höchsten Guts bereits in der gegenwärtigen Welt ist als mystische zu beschreiben, insofern der Einzelne in ihr Gemeinschaft mit Gott als Erlösung von der Welt erlebt. Sie unterscheidet sich aber von vielen anderen Formen der Mystik dadurch, dass sie wesentlich von der meditatio her auf die actio zutreibt: Die individuelle Erlösungserfahrung wirkt sich aus im Vollzug sittlicher Weltgestaltung, das heißt zuvorderst in der Gestaltung des Verhaltens zum anderen Menschen nach dem sittlichen Ideal der Liebe und „Zucht des Geistes“.471 Kaftan bringt diese Form der Mystik auf den Begriff, indem er den sittlichen Vollzug an zentralen Stellen als Einübung in die Ewigkeit beschreibt.472 Damit wird die Sittlichkeit als Gestaltung der Interaktion in der Welt zugleich im Blick auf die Ritschlsche Gottesreichstheologie zurückgestellt, insofern die Erfahrung des Gottesreichs als Gemeinschaft mit Gott bei Kaftan zunächst eine Erfahrung des Einzelnen als Einzelnen ist. Zum anderen aber wird die Sittlichkeit untrennbar mit der Gotteserfahrung verwoben, insofern Gottesgemeinschaft als Erlösung von der Welt im Akt des sittlichen Sich-Verhaltens wirksam wird. Phänomenologisch macht dies ————— 470 Vgl. hingegen die ausführlichen Überlegungen KANTs zur Verfasstheit des Gottesreichs als eines Reichs des Guten v.a. in KpV und Rel., wie sie AXT-PISCALAR, Das gemeinschaftliche höchste Gut, 234–245 auslegt. 471 Kaftan, Askese, 5. 472 Vgl. Kaftan, Askese, 5: „Das ist der Weg zum wahren, lebendigen Gott, zu seiner Erkenntnis und seiner Gemeinschaft […]: wir müssen uns einüben in ihn und sein Leben, sonst werden wir nicht zu ihm kommen und in ihm leben lernen. Solche Einübung geschieht aber durch Liebe und durch Zucht des Geistes, d.h. wieder durch positive sittliche Arbeit, die das Gegenteil der Weltflucht und der Askese ist.“ Vgl. ders., Dogmatik, 204: „[D]er Zweck ist, dass wir in Gott und mit Gott leben lernen.“ Vgl. ders., Erlösung, 114: „Da wird es dann zum innersten Verlangen unsres Herzens, diesen Weg zu gehen, dies Ziel zu erreichen, uns hineinzuleben und hineinzulieben in das ewige Leben und die ewige Liebe unseres Gottes.“ Vgl. zum Begriff der Einübung auch ders., Dogmatik, 577; ders., Neutestamentliche Theologie, 49.

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

zumindest auf dem Hintergrund einer Moraltheorie wie der Kaftans Sinn. So äußert sich die Erfahrung des Losseins von der Welt gerade darin, dass der Mensch sich von seinem natürlichen Wollen, das heißt seinem Hängen an den Gütern dieser Welt frei macht und auf diese Weise sein Handeln neu, nämlich sittlich bestimmt sein lassen kann. Damit meint Kaftan sowohl die Gesetzlichkeit auf der einen und die Weltflucht auf der anderen Seite als Bestimmungsweisen des Verhältnisses von Ethik und Erlösung vom Gottesbegriff her überwinden zu können. Die mystische Erfahrung überweltlicher Gottesgemeinschaft bedingt keine Weltflucht, sondern verweist – solange es die Welt gibt – gerade in die sittliche Weltgestaltung hinein. Dabei ist die Gedankenrichtung nicht die, dass sittliche Weltgestaltung in gesetzlicher Weise die Bedingung für die Erfahrung der Gottesgemeinschaft ist, sondern umgekehrt die Gottesgemeinschaft als Gabe im sittlichen Vollzug angeeignet wird. Der Mensch kann sich die Erlösung nicht verdienen, aber im Bewusstsein ihrer Wirklichkeit vollzieht er sich so, wie es ein Erlöster tut. Dagegen nun lässt sich der Einwand formulieren, jene Bestimmung werde durch die Wahrnehmung der Wirklichkeit entkräftet. Wenn die im christlichen Glauben bewusste Erlösung von der Welt mit einem dem Gottesreich als Ideal entsprechenden sittlichen Handeln einherginge, so müsste entweder ein solches Handeln das Leben im Bereich christlicher Vollzüge in stärkerem Maße bestimmen, als es empirisch evident ist, oder die Erlösungsgewissheit entbehrte ihrer Wahrheit. Demgegenüber ist von der Moraltheorie Kaftans her zu betonen: Sittlichkeit ist keine Anlage, welche dem Menschen von Natur aus eignet. Vielmehr ist Sittlichkeit gerade durch ihre Unfertigkeit bestimmt. Wenn nämlich Kaftan meint, der Mensch werde Mensch nur unter Menschen,473 so ist impliziert, dass der Begriff der sittlichen Persönlichkeit das Werden einschließt. Es ist sogar geradezu das Wesen der Sittlichkeit, zur sittlichen Person allererst zu werden. Dieser Gedanke nun ist nicht lediglich moraltheoretische Einsicht, sondern erschließt sich für die christliche Ethik aus der Auslegung des Neuen Testaments, insonderheit der Predigt Jesu von der neuen Gerechtigkeit, wie sie oben zur Sprache kam: Diese [neue] Gerechtigkeit ist aber etwas, was werden und wachsen muß, nicht etwas, was der Mensch mitbringt und von Haus aus besitzt.474

Dieser Gedanke entspricht dem eschatologischen Wesen der christlichen Religion: Das Gottesreich ist das Reich der Zukunft, auf das hin der an den Auferstandenen Glaubende in seiner ganzen Person orientiert ist. Er lebt im ————— 473 Vgl. Kaftan, Wesen, 179 sowie weiter ders., Das sittliche Leben, 124. 474 Kaftan, Neutestamentliche Theologie, 59. Vgl. zur Ethik Jesu oben 3.3.1.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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Schon jetzt und noch nicht und fasst sich gerade in diesem Zwischen-denZeiten-Sein nun selber als einen Werdenden auf, von dem gilt, dass noch nicht erschienen ist, was er sein wird.475 Damit ist die mystisch begründete Verhältnissetzung von Gotteserfahrung und ethischem Tun in einer Weise näher bestimmt, wie sie auch das zitierte Wort von der Einübung in die Ewigkeit zum Ausdruck bringt:476 Kaftan fasst die entrückende Erfahrung der Gottesgemeinschaft weniger als Erfahrung einer in einem Nu je und je einbrechenden überweltlichen Wirklichkeit auf, sondern eher prozessual im Sinne eines – nicht unbedingt stetig fortschreitenden, aber doch mit anderer Welterfahrung gleichförmigen – Werdens auf, welches vom Menschen aus gesehen den Charakter des SichÜbens trägt.477 Dieses Werden will, insofern es nicht nur Gabe, sondern darin auch Übung ist, vom Menschen gestaltet sein. Dabei trägt dieses Üben die Merkmale allen menschlichen Übens, wie sie insbesondere bereits im obigen Abschnitt zur Moralerziehung besprochen wurden:478 Es setzt einen Anleitenden voraus, welcher in gleichsam heteronomer Weise, das heißt als von außen kommende Anleitung die Gehalte des Einzuübenden und so zu Verinnerlichenden vorgibt. Es stellt in die Gemeinschaft mit anderen Übenden ein. Und die Übung wird durch Übungsregeln geführt. Es ist die Ekklesiologie, welche den Ort und die Weise der Einübung in die Ewigkeit, das heißt die Einübung in die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen und in ihm Gott, näher bestimmt. Wie die Kirche von Kaftan als „Erzieherin zur Ewigkeit“ konzipiert wird, ist im folgenden Kapitel zu zeigen. Zuvor allerdings soll in exemplarischer Weise gezeigt werden, wie Kaftans eschatologisch-theologisch begründetes Prinzip christlicher Ethik seine materialethischen Entscheidungen leitet. Wie gesagt hat Kaftan keine materiale Ethik vorgelegt, doch es finden sich einige Gelegenheitsschriften, an welchen seine Entscheidungsfindung in ethischen Fragen nachvollzogen werden kann. So stellt er dem Vortrag Naumanns auf dem durch Kaftan mitbegründeten Evangelisch-Sozialen Kongress von 1892 zu Christentum ————— 475 Vgl. 1 Joh 3,2. 476 Vgl. Kaftan, Askese, 5; ders., Dogmatik, 204, 577; ders., Erlösung, 114; ders., Neutestamentliche Theologie, 49. 477 Vgl. dazu auch Kaftans (strikt individualisierende) Besinnung auf die particula veri der Askese als Übung des Glaubens: Sie ist Teil des sittlichen Berufs und besteht im Verzicht auf solche Güter, welche den jeweils Einzelnen im konkreten Fall von seiner überweltlichen Bestimmung abziehen: ders., Askese, 14–20. – Um den oben entfalteten Zusammenhang zwischen (eschatologischer) Gottesbeziehung und Tun des Menschen aufzuzeigen, verwendet Kaftan zuweilen die alte Formulierung zur Übersetzung von 1 Kor 6,12 und 10,23: „alles ist mir erlaubt, aber es frommt […] nicht alles“ (ders., Neutestamentliche Theologie, 148; Hervorhebung von C.C.; vgl. ders., Jesus und Paulus, 52). 478 Vgl. oben 3.2.3.

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

und Familie479 einen Artikel zu Ehe und Familie entgegen,480 in welchem er die schöpfungstheologisch begründete Engführung der Ehe auf die Erzeugung von Kindern hinterfragt. Dabei wird deutlich, dass die Integration der Ethik in die Eschatologie die Neubesinnung auf den Ehezweck bestimmt: Kaftan argumentiert von einem „Bruch“481 her, welchen die Entwicklung des Sittlichen in der Geschichte der Menschen gegenüber dem Natürlichen bedeutet. Dieser „Bruch“ bedeutet, dass dem Menschen seine „in die Ewigkeit hineinragende Bestimmung“482 bewusst wird, welche in der göttlichen Schöpfungsordnung zwar ihre Grundlage hat, aber über die geschaffene Welt hinausweist. Demzufolge geht der Zweck der Ehe nicht in der geschlechtlichen Reproduktion auf, sondern besteht in der „gegenseitige[n] Erziehung zum Höchsten“,483 das heißt: der personalen Gottesgemeinschaft. Naumann hat zwar – so meint Kaftan – gesehen, dass in der Erziehung der Kinder auf das Gottesreich hin ein sittlicher Sinn der Ehe liegt. Er hat aber aufgrund seiner romatisch-sentimentalischen Fehleinschätzung der ehelichen Gemeinschaft als Wahlverwandtschaft die Erziehung der Ehepartner untereinander nicht in den Blick genommen.484 Zum anderen zeigt Naumanns einseitig auf Reproduktion gerichtete Bestimmung des Ehezwecks, dass er die Ehe zuvörderst als Mittel der kulturellen Weltbeherrschung versteht.485 Dem entgegen betont Kaftan, dass das Wesen der sittlichen Entwicklung nicht in der kulturellen Weltbeherrschung liegt, sondern im Reich Gottes als ihrem Telos. Ihre Vollendung geschieht damit – der eschatologischen Betrachtungsweise gemäß – nicht im Kulturprozess, sondern durch das weltenthebende Handeln Gottes. Von daher ist die Ehe als vorzüglicher Ort der Einübung in die Ewigkeit zu verstehen, nicht als Instrument des kulturellen Fortschritts, so dass die Erziehung der Ehepartner auf das Reich Gottes hin als selbständiger Sinn der Ehe neben die mögliche Erziehung von Kindern tritt. Damit ist an Kaftans Eheverständnis nachzuvollziehen, dass das eschatologische Argument, das heißt: die Ausrichtung auf das zukünftige Reich Gottes, an die Stelle von schöpfungs- oder kulturtheologischen Argumenten tritt. Ähnliches gilt für Kaftans Behandlung des Themas Christenthum und Wirthschaftsordnung, über welches er ein Jahr nach Naumanns Vortrag ————— 479 Veröffentlicht in: Bericht über die Verhandlungen des dritten Evangelisch-sozialen Kongresses, Berlin 1892. 480 Veröffentlicht in ChW 6, 1892, 590–599. Vgl. weiter Kaftan, Ethik, 427 zu Ehe und Familie als „Formen der sittlichen Gemeinschaft“. 481 Kaftan, Ehe und Familie, 595. 482 Kaftan, Ehe und Familie, 595. 483 Kaftan, Ehe und Familie, 595. 484 Vgl. Kaftan, Ehe und Familie, 595. 485 Vgl. Kaftan, Ehe und Familie, 597.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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zum Thema Ehe referiert.486 Er geht die Frage nach einer spezifisch christlichen Wirtschaftsethik dabei so an, dass er zunächst entsprechend seiner Wesensbestimmung des Christentums die tiefe Kluft zwischen der christlichen Religion und jeder denkbaren Wirtschaftsordnung betont. Dort das Streben nach ewigem Leben, die Hineinversetzung in Gottes Geist und Leben, hier die Ordnungen dessen, was in unserem Leben zeitlich und vergänglich ist.487

Während die christliche Religion für den Einzelnen die Teilhabe am ewigen Leben schon in der Gegenwart und damit die Erlösung von der Welt bedeutet, ist es die Funktion der Wirtschaftsordnung, die „Erzeugung und Vertheilung“488 der innerweltlich-natürlichen Güter durch bestimmte Normen zu regulieren. Diese grundsätzliche Diastase zwischen Christentum und Wirtschaftsordnung entspricht dem Ursprung beider: Während das Christentum Kaftan zufolge „unabhängig von aller Wirtschaftsordnung und ohne innere Berührung damit“489 durch göttliches Wirken in die Geschichte eintrat, verdankt sich die Wirtschaftsordnung „natürlicher Nöthigung“.490 Das heißt, sie reguliert die Weise, wie der Mensch durch Welterkenntnisund Bearbeitung seine natürlichen Lebensbedürfnisse befriedigt. Darin liegt, dass die christliche Religion die „universelle Religion der Menschheit“491 ist, während jede Wirtschaftsordnung von den Bedingungen des jeweiligen Kulturkreises abhängig ist. Zweierlei folgert Kaftan aus der Diastase von Christentum und Wirtschaftsordnung – welche, wie sich sogleich zeigen wird, als kategoriale zu verstehen ist. Zum einen sind einer möglichen christlichen Wirtschaftsethik prinzipielle Grenzen gezogen. Dies verdeutlicht Kaftan daran, dass es unmöglich ist, aus der Schrift eine solche in direkter Weise zu gewinnen. Zum anderen aber meint Kaftan: „[D]as Christentum verträgt sich mit jeder Wirthschaftsordnung“492 und erläutert diese problematische These an der Situation der urchristlichen Gemeinde im hellenistisch-römischen Kulturraum. ————— 486 Veröffentlicht in ZThK 3, 1893, 427–492. 487 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 256. 488 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 248. 489 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 257; vgl. a.a.O., 249. Die urchristliche Gemeinde war aufgrund ihrer endzeitlichen Frömmigkeit gegenüber der Wirtschaftsordnung gleichgültig eingestellt (vgl. a.a.O., 252). In jener Frömmigkeit ist zugleich die „Grundrichtung“ (a.a.O., 253) begründet, in welche die christliche Religion den Einzelnen einstellt: fort von der Welt hin auf das ewige Leben, dessen Zukunft sich im Glauben gegenwärtig manifestiert. Jene Grundrichtung bedeutet mithin „einen Abstand […] zwischen den wirthschaftlichen Dingen und dem Heiligthum unseres christlichen Lebens“ (a.a.O., 254). 490 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 254. 491 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 257. 492 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 257 (Hervorhebung von C.C.).

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

Die in der eschatologischen „Grundrichtung“ des Christentums begründete Zurückhaltung in der Frage nach einer christlichen Wirtschaftsethik wird dann freilich in einem zweiten Schritt ergänzt, indem Kaftan feststellt, „daß Christenthum und Wirthschaftsordnung in einer sehr engen Beziehung zu einander stehen.“493 Im Aufweis dieser „engen Beziehung“ liegt die Begründung einer dezidiert christlichen und damit kritischen Wirtschaftsethik. Dabei widerspricht Kaftan zunächst allen, welche jene „enge Beziehung“ und damit eine christliche Wirtschaftsordnung ausschließlich schöpfungstheologisch begründen wollen. Solche schöpfungstheologische Argumentation fußt auf der These, dass eine bestimmte Wirtschaftsordnung als Gestaltung des natürlichen Lebens auf den „Schöpferwillen Gottes“494 zurückzuführen ist. Dem steht zum einen entgegen, dass zwar das natürliche Leben in Gottes Schöpferwillen gründet, seine kulturell-moralischen Gestaltungsformen jedoch nicht spezifisch christlich bestimmt sein müssen, wie es am Beispiel der Ehe oder des Staats zu sehen ist.495 Zum anderen begründet Kaftan hamartiologisch, dass alles Geschaffene dem durch die Sünde begründeten Verderben unterliegt und mithin nicht durch das Argument des Geschaffenseins als Gehalt einer christlichen Ethik zu erweisen ist. Ausgehend von dieser Abgrenzung fragt Kaftan nach dem „inneren Band zwischen dem Christenthum und dem Leben in der Welt“,496 von welchem her sich eine christliche Wirtschaftsethik begründen lässt. Er baut den Ausweis einer solchen inneren Verbindung zwischen Christentum und Wirtschaftsordnung sodann nach dem oben präsentierten Modell der Integration der Ethik in die personal-theozentrisch formulierte Eschatologie auf. Die sittliche Entwicklung zur Persönlichkeit wird als Weg zum eschatologischen Telos verstanden, indem sie die Einübung in Gottes Wesen bedeutet.497 Die Wirtschaftsordnung rückt hier in die Funktion ein, die Bedingungen, unter welchen sich persönliches Leben gestaltet, zu formieren. Weil sie die Voraussetzungen der sittlichen Entwicklung des Menschen zur Persönlichkeit mitgestaltet, und weil die Entwicklung zur geistigen Persönlichkeit christlichem Verständnis nach die Aneignungsweise des höchsten Guts ist, ist eine spezifisch christliche Wirtschaftsethik überhaupt erforderlich: nämlich um die Wirtschaftsordnung so zu gestalten, dass sie die Gestaltung des Lebens nach den christlichen sittlichen Idealen möglich macht.498 Im ————— 493 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 258. 494 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 259. 495 Vgl. zu dieser These auch unten Kapitel 4.1 und 4.3.1. 496 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 261. 497 Vgl. Kaftan, Wirthschaftsordnung, 261–263. Zum Begriff der Einübung vgl. Kaftan, Askese, 5; ders., Dogmatik, 204, 577; ders., Erlösung, 114; ders., Neutestamentliche Theologie, 49. 498 Kaftan bespricht daneben auch die Förderung, die die Wirtschaftsordnung durch eine christlich-sittliche Gestaltung erfährt: vgl. ders., Wirthschaftsordnung, 265–270.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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Schlussteil seines Vortrags zieht Kaftan die praktischen Konsequenzen, welche sich für eine christliche Wirtschaftsethik im zeitgenössischen Kontext – und das heißt: angesichts der durch die Industrialisierung erwachsenen sozialen Probleme – ergeben. Die erste Folgerung bestimmt die Grundrichtung christlicher Wirtschaftsethik: Die christliche Religion bringt es mit sich, dass der Einzelne in seinem täglichen Leben im sittlichen Vollzug seinen Glauben betätigt – dies setzt aber voraus, dass er die Möglichkeit zur rekreativen „Selbstbesinnung“499 erfährt und nicht durch den „Druck übermäßiger Arbeit“ oder die „quälende[…] Sorge um das tägliche Brot“500 daran gehindert wird. Dass dies ganz konkret im Blick auf das Elend der in den Fabriken arbeitenden oder gar arbeitslosen Schichten gesprochen ist, wird im Kontext der zweiten wirtschaftsethischen Folgerung deutlich: Kaftan meint, dass eine christliche Wirtschaftsethik für die bestehende Wirtschaftsordnung, welche durch die Sicherung des Privateigentums und durch die „berufsständische Gliederung“501 gekennzeichnet ist, positiv eintreten kann. Er hebt neben den sachlichen Argumenten für diese Ordnung allerdings zugleich hervor, dass eine christliche Wirtschaftsethik aufgrund des egalitär-universellen Zuschnitts des christlichen Menschenbilds die prinzipielle Gleichberechtigung aller Menschen hervorzuheben hat: Jedem, der will und seine wirtschaftliche Pflicht erfüllt, ist der Weg zum Privateigentum zu eröffnen, und die berufsständische Stellung eines Menschen darf diesen nicht von der Teilhabe am geistig-kulturellen Leben der Allgemeinheit abhalten. Besonders hinsichtlich des letztgenannten Punktes wird ersichtlich, wie Kaftan seine materialethische Forderung – das Recht auch der arbeitenden Klassen auf geistige Bildung – aus seiner Wesensbestimmung der christlichen Religion ableitet: Weil die christliche Religion ihr Wesen in der Teilgabe am überweltlichen Leben Gottes schon hier und jetzt hat, ist auf der einen Seite an der Gleichheit aller Menschen und an der berufsständischen Gliederung festzuhalten. Die Gleichheit, von der wir wissen, ist die vor unserem himmlischen Vater und die gleiche Bestimmung zum ewigen Leben.502

Die solchermaßen eschatologisch begründete Gleichheit aller Menschen schließt ihre unterschiedliche Stellung in der Wirtschaftsordnung, näher: in der Arbeitsaufteilung, nicht aus, wenn diese ihren näheren, nämlich streng wirtschaftlichen Zweck erfüllt. Zugleich allerdings ist jedem Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich im sittlichen Vollzug zur geistigen Persönlichkeit zu entwickeln, weil die christliche Religion auf jeden Menschen in ————— 499 500 501 502

Kaftan, Wirthschaftsordnung, 371, Beide Zitate: Kaftan, Wirthschaftsordnung, 271. Kaftan, Wirtschaftsordnung, 271. Kaftan, Wirthschaftsordnung, 273.

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

seinem je eigenen Gottesverhältnis hin abhebt, und dieses im geistigsittlichen Prozess erfahrbar wird. Daraus schließt Kaftan die praktische Folgerung, dass den arbeitenden Schichten geistig-sittliche Bildung zu ermöglichen ist und meint damit ganz konkret die Befriedigung des „intellectuellen Hunger[s]“,503 das heißt: die Unterrichtung aller in Schulen und in Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Er denkt mithin hier die Ritschlsche Orientierung an der Berufsarbeit504 unter den Bedingungen industrieller Arbeitsteilung weiter: Die moderne Arbeitswelt beraubt den Einzelnen der Erfahrung, dass seine Arbeit einen Zweck hat, denn dieser rückt aus seinem Gesichtsfeld.505 Weil nun aber – pragmatisch geurteilt – die repetitiv-entfremdete Arbeit im industriellen Bereich gesamtgesellschaftlich notwendig ist, ist dem einzelnen Arbeiter durch Teilgabe an Bildung und Kultur die Möglichkeit zu eröffnen, sich selber als selbsttätige Persönlichkeit zu erleben.506 Denn dies wiederum ist die Bedingung der Möglichkeit sittlichen Einlebens in Gottes Ewigkeit, wie es dem Kaftanschen Modell der Integration der Ethik in die Eschatologie entspricht. Es kann mithin am Beispiel der Arbeiterbildung nachvollzogen werden, wie jenes notwendigerweise abstrakte Modell zu sehr praktischen Folgerungen anleitet.507 Und auch an der dritten und letzten, allerdings recht vage bleibenden praktischen Folgerung aus den Überlegungen zu einer christlichen Wirtschaftsethik ist die Begründung in jenem Modell abzulesen: Kaftan formuliert in Anlehnung an Mk 2,27, dass „die Wirthschaftsordnung […] um des Menschen und nicht der Mensch um der Wirthschaftsordnung willen gemacht“508 ist. Damit bringt er in Anlehnung an Kant zum Ausdruck, dass der Mensch nie „zum bloßen Mittel herabgewürdigt werden“509 darf – aus welcher Maxime sich konkrete Forderungen nach Arbeitszeit- und Lohnregelung sowie in der Frage der Wohnungssituation ergeben. Sie ergeben sich deshalb, weil auch hier die christliche Idee zum Ausdruck kommt, ————— 503 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 274. 504 Vgl. RITSCHL, RuV III3=4, 624–634. 505 Vgl. Kaftan, Wirthschaftsordnung, 269. – Es wird deutlich, dass Kaftan hier sozialistischsozialdemokratische Beschreibungsmuster der gesellschaftlichen Wirklichkeit ansatzweise aufgreift, wie sie im marxschen Gedanken der entfremdenden Arbeit exponiert werden. 506 Zu der Bedeutung menschlicher Selbsterfahrung schöpferischen Tuns vgl. unten Kapitel 4.2.5. 507 Vgl. dazu weiter Kaftan, Ethik, 428: „Die Forderung des Christentums geht […] auf eine Verteilung der Arbeit und des Arbeitsvertrages, bei der allen der Weg zu innerer Freiheit und sittlicher Selbständigkeit offen steht.“ Ausdrücklich hält er hier des Weiteren fest, dass „den Frauen der oberen Stände, die unverheiratet bleiben, Berufsbildung, Berufsarbeit und ökonomische Selbständigkeit zugänglich gemacht werden.“ Das heißt, weder übermäßige Arbeit noch der Ausschluss von Arbeit sind mit einer christlichen Wirtschaftsethik vereinbar. 508 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 275. 509 Kaftan, Wirthschaftsordnung, 275.

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Das Christentum als ethische Erlösungsreligion

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dass der Mensch aus religiösen Gründen Freiraum für seine individuelle sittliche Entwicklung benötigt. Dieser Freiraum ist in keinem Falle gesamtwirtschaftlichen Anforderungen zu opfern, wenn die Wirtschaftsordnung den Ansprüchen einer christlichen Wirtschaftsethik entsprechen soll. Es ist besonders hervorzuheben, dass Kaftans praktische Vorschläge zur Wirtschaftsordnung allesamt auf einer strikt theologischen Auffassung beruhen, das heißt: im Gottesgedanken der christlichen Religion und dem davon abhängigen Menschenbild begründet sind. Sie sind der Anwendungsfall seiner aus der christlichen Eschatologie abgeleiteten Ethik. Wie die oben besprochenen Entscheidungen zum Zweck der Ehe beruhen sie außerdem auf der Meinung, dass vom christlichen Glauben die Gestaltung des sozialen Miteinanders in der Gesellschaft eine sittliche Förderung erfährt,510 dass aber umgekehrt die Bildung zum christlichen Glauben in gewissem Sinne von der sittlichen Gestaltung der Gesellschaft abhängt. Letzteres wird ersichtlich an den an Schleiermachers Reden erinnernden Forderungen, die gesellschaftlich-staatliche Ordnung so zu gestalten, dass dem Einzelnen die Möglichkeit zur geistigen Erfahrung – gewissermaßen zum Anschauen der Ewigkeit, in welche sich einzuüben der christliche Glaube bedeutet – eingeräumt wird.511 Mehr noch: Nicht nur eine formale Möglichkeit zur Religion, sondern auch die Konfrontation mit den Gehalten des christlichen Glaubens muss Kaftan zufolge durch die Gestaltung der öffentlichen Ordnung gewährleistet sein. Dies ist der Grund, warum er in einem an Graf von Hoensbroech gerichteten Brief im Deutschen Wochenblatt von 1898 der Ansicht, die Religion sei „Privatsache“512 entschieden widerspricht: Das Christentum ist deshalb „die wichtigste Angelegenheit unseres öffentlichen Lebens“, weil es zwar seinem Wesen nach auf die persönliche Gotteserfahrung des Einzelnen abhebt, diese Erfahrung allerdings dem „Einfluß“ unterstellt ist, „den das Gesammtleben auf den Einzelnen ausübt“.513 In anderen Worten: ————— 510 Vgl. z.B. Kaftan, Religion und „Gesellschaft“, 3f. 511 Vgl. Friedrich SCHLEIERMACHER, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), zitiert nach KGA, hg. v. H.-J. Birkner u.a.: I. Abt. Bd. 2, hg. v. G. Meckenstock, Berlin/New York 1984, 185–326, vor allem die Dritte Rede: Über die Bildung zur Religion (KGA I.2: 248–265), bes. 260: „Alles also muß davon anheben, daß der Sklaverei ein Ende gemacht werde, worin der Sinn des Menschen gehalten wird […]“. 512 Vgl. den Titel des Briefs: Ist Religion Privatsache? (Deutsches Wochenblatt 42, 1898, 496–498, 508–510). Paul Graf von HOENSBROECH hatte zuvor in einem Brief mit dem Titel „Religion ist Privatsache“ (Deutsches Wochenblatt 37, 1898, 433–435) versucht, diesem aus sozialdemokratischer Programmatik entlehnten Diktum einen für das Christentum positiven Sinn zu geben – ein Versuch, dessen Scheitern Kaftan in seinem Text aufzuweisen bemüht ist. Im Hintergrund beider Briefe steht die Ablehnung des Ultramontanismus (vgl. Kaftan, Ist Religion Privatsache?, 510). 513 Alle Zitate: Kaftan, Ist Religion Privatsache?, 497. Vgl. zur Beeinflussung des Glaubens durch die „Sitte“ als „eine die Gemeinschaft und die Umgebung beherrschende Macht“ ders., Die neue Aufgabe, 130. Dieser für Kaftan wichtige Gedanke, dass der geschichtlich-gesellschaftliche

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

Der in der Tat private, weil persönliche Glaube des Einzelnen hängt vom geschichtlich-sozialen Kontext ab, in welchen dieser Einzelne gestellt ist. Dies betrifft freilich nicht bloß die gesellschaftlichen Bezüge des Individuums, sondern innerhalb dieser ganz besonders die Art und Weise, wie sich ihm der christliche Glaube vermittelt. Damit ist die Frage gestellt, wie die Erziehung des Einzelnen zur Ewigkeit, das heißt: die Anleitung darin, sich durch das sittliche Tun in das Leben Gottes einzuüben, zu gestalten ist. Es ist bei Kaftan die Ekklesiologie, welche die Verständigung über die Erziehung des Einzelnen zur Ewigkeit leitet. Deshalb ist die Ekklesiologie der dogmatische Ort, an welchem Kaftan den christlichen Erlösungsglauben – und damit die Eschatologie – und das in jenem Glauben begründete sittliche Tun des Menschen – und damit die Ethik – praxisorientiert zusammenführt.514

3.4 Fazit: Das höchste Gut und das gute Handeln Fazit: Das höchste Gut und das gute Handeln

Die Rekonstruktion der Kaftanschen Moraltheorie im Zusammenhang seiner Theologie hat gezeigt, dass die eingangs gestellte Frage nach der Möglichkeit einer christlichen Ethik von Kaftan nicht als von außen an die Wesensbestimmung des Christentums herangetragene behandelt wird, sondern das Christentum aus sich heraus zur Entfaltung einer Ethik drängt. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass es vor allem die gesetzliche Struktur ist, welche Kaftan für die Verhältnissetzung von Religion und Moral durchgängig ablehnt. Auch diese Intention gründet in der Wesensbestimmung des Christentums. Die Erfüllung des Lebensverlangens ist in keiner Weise als Lohn für sittliches Handeln zu begreifen, weil damit sowohl die Selbständigkeit der Religion als auch die Selbständigkeit der Moral aufgehoben wäre: Der Gottesgedanke wäre lediglich eine Funktion der Ethik, welche umgekehrt nicht aus sich heraus sittliches Tun begründen könnte. Kaftan entfaltet diese an Schleiermachers Reden515 gemahnende Kritik an der Gesetzlichkeit theologisch am Rechtfertigungsprinzip: Die Erfüllung des Lebensverlangens ist als Zueignung durch Gott zu begreifen, nicht als Resultat eigner sittlicher Anstrengung. Gerade die Korrelation von Sündenbegriff und Rechtfertigungsgedanken zeigt aber, dass Kaftan die Religion trotz der prinzipiellen Unterscheidung von der Moral als übergeordnetes Bezugssystem menschlichen Lebens und damit auch der Moral konzipiert. Denn dass der Mensch nicht durch eige————— Kontext eine entscheidende Rolle in der Vermittlung der christlichen Religion und ihrer Ideale an den Einzelnen spielt, ist unten Kapitel 4.2.6 noch einmal aufzunehmen. 514 Vgl. das sogleich folgende Kapitel 4. 515 Vgl. SCHLEIERMACHER, Über die Religion, KGA I.,2: 202.

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Fazit: Das höchste Gut und das gute Handeln

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nes Tun gerecht wird und sich durch solche Gerechtigkeit die Gottesgemeinschaft als Lebenserfüllung erwirkt, weil er durch die Sünde beständig auf sich selber und sein natürliches Wollen zurückgeworfen ist, impliziert ja, dass das Ziel der Gottesgemeinschaft das sittliche Tun einschließt. Und in der Tat stellt Kaftan alles darauf ab, die in sich selbständige Moral im Gottesgedanken zu begründen. Es ist das Modell einer Integration der Sittlichkeit in die Religion, nach welchem die Sittlichkeit gerade nicht absorbiert, sondern allererst zur Vollendung gebracht wird, welches Kaftan in verschiedenen Anlaufwegen vorträgt. Er profiliert dieses Modell gegenüber den so genannten mystischen Religionen. In diesen kommt es gerade aufgrund der Vervollkommnung des Religiösen im Streben nach einem höchsten Gut ohne gleichzeitige Ausbildung eines selbständigen Ideals für moralisches Handeln dazu, dass jedes Handeln durch die Religion absorbiert wird. Kaftan meint hierzu: Es ist aber nicht nothwendig, daß bei der vollkommenen Verbindung von Religion und Sittlichkeit die letztere absorbiert werde. Es ist eine Durchdringung möglich, in welcher die sittliche Gesetzgebung ihre selbständige Bedeutung behält.516

Die Möglichkeit einer solchen Durchdringung gründet in dem korrelaten Verhältnis von Gütern und Idealen. Sie wird verwirklicht, „wenn in der Religion vorzüglich der Besitz und Genuß sittlicher Güter erstrebt wird.“517 Dann wird nämlich der Genuss der in der Religion erstrebten Güter oder des höchsten Gutes zwar ebenfalls in engen Zusammenhang mit einem durch sittliche Gesetze und Ideale normierten Handeln gestellt – aber nicht nach dem Modell der Belohnung oder Bestrafung, so dass zuerst die handelnde Gesetzeserfüllung und als Vergeltung für diese das erstrebte Gut käme. Vielmehr gründet das in sittlicher Hinsicht gute Handeln in der Erkenntnis und im Genuss des höchsten Guts: Das Handeln geschieht im Aufblick zu der Gottheit, welche im Besitz der sittlichen Güter schützt, und der religiöse Genuß erhält den Antrieb, im sittlichen Handeln treu zu sein und Ausdauer zu beweisen.518

Die Gründung des sittlichen Handelns in der Gotteserkenntnis bedeutet, dass diese Erkenntnis zugleich die Erkenntnis des Guten auch im sittlichen Sinne ist. Dies meint Kaftan, wenn er die Gottheit als „sittliche[…] Autorität“519 bezeichnet. Gott als das höchste Gut ist auch das höchste Gute, oder in biblischer Terminologie: Der lebendige Gott ist der heilige Gott.520 Mit————— 516 517 518 519 520

Kaftan, Wesen, 175. Kaftan, Wesen, 191. Kaftan, Wesen, 191. Kaftan, Wesen, 191. Vgl. z.B. Jer 10,10 und Dan 6,27 sowie Jes 5,16 und Ez 39,7.

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„Einübung in die Ewigkeit“ – Religion und Moral

hin ist das erstrebte Gut in diesem Modell der Durchdringung von vollkommener Religion und vollkommener Sittlichkeit kein sittlich gleichgültiges, wie für die mystischen Religionen festgestellt. So steht nach ethischen Kriterien eine Religion, welche sittliche Güter erstrebt, im Vergleich zur mystischen Religion höher, auch wenn die mystische ebenfalls vollkommene Religion ist. Vom religiösen Standpunkt aus betrachtet, übertrifft nämlich die mystische Religion solche Religionen, welche mannigfaltige sittliche Güter anstreben, da sie „ein höchstes überweltliches Gut kennt“,521 anstatt „ihre Seele an den sittlichen Gütern des irdischen Lebens“522 zu haben. Mit diesem wertenden Vergleich unterschiedlicher Religionstypen visiert Kaftan die Verortung der christlichen Religion als die Religion an, welche beide Vervollkommnungstendenzen integriert: „Erst das Christentum gestaltet die Durchdringung von Religion und Sittlichkeit zu einer in sich vollendeten Religion“,523 welche zugleich „die vollendete sittliche Gesetzgebung“524 ist. Dabei ist die Religion das primäre und bedingende, so wie auch „die Güter stets die sittlichen Ideale überragen, und das vollkommene Leben für immer eine Erscheinung innerhalb des Lebens bleibt.“525 Das Profil der solchermaßen vermittelnden Konzeption des höchsten Guts als oberstem sittlichen Ideal erhellt aus einem abschließenden Vergleich mit der Kantschen Beschreibung der Funktion der Religion für die Moral. Während für Kant die Funktion der Religion in der „Bewältigung eines Folgeproblems des moralischen Bewusstseins“526 besteht, nämlich darin, die Vermittlung zwischen autonom begründetem sittlichem Handeln des Individuums und seinem damit einhergehenden, aber noch nicht einge————— 521 Kaftan, Wesen, 192f. 522 Kaftan, Wesen, 193. 523 Kaftan, Wesen, 193. 524 Kaftan, Wesen, 194. 525 Kaftan, Wesen, 194. Die Priorität des religiösen Momentes vor dem Sittlichen steht in Zusammenhang mit Kaftans positiver Würdigung der mystischen Elemente der christlichen Religion. Vgl. dazu oben Kapitel 2 und weiter Kaftan, Wesen, 186. Über die Deutung des Gottesreichs als Gut und Ideal, als Gabe und Aufgabe versucht Kaftan mithin die Aufgabe zu bearbeiten, welche sich aus einer „Gegenläufigkeit“ in den theologischen Entwürfen zum Gottesreich ergibt (Günter MECKENSTOCK, Einleitende Beobachtungen zum Reich-Gottes-Gedanken, in: W. Härle/R. Preul [Hg.], Reich Gottes, Marburg 1999, 1–9, hier 5): Der Reich-Gottes-Gedanke kann sowohl der Eschatologie als auch der Ethik zugeordnet werden, was „grundlegende Auswirkungen für die Aussagen zur Konstitution“ (a.a.O., 6) hat. „Die Subjektstellung Gottes bei der Konstitution seines Reiches und die weltgestaltende Ausrichtung des Glaubens auf dieses Reich stehen dann gegeneinander.“ (Ebd.) Kaftan legt mithin einen Versuch vor, die Gegenläufigkeit des eschatologischen und des ethischen Reich-Gottes-Verständnisses miteinander zu vermitteln – freilich in gestufter Weise, weil die theonome Konstitution des Gottesreichs voran steht. 526 Wolfhart PANNENBERG, Moral und Religion, in: ders., Beiträge zur Ethik, Göttingen 2004, 80-89, Zitat: 88.

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Fazit: Das höchste Gut und das gute Handeln

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lösten Anspruch auf Glückseligkeit zu leisten, sieht Kaftan zwar ebenso das aufgrund der Dichotomie zwischen Glück und Tugend entstehende Problem der Motivation zum sittlich guten Handeln.527 Seine Kritik der Gesetzlichkeit528 führt aber dazu, dass das motivationstheoretische Problem bei ihm zum Teilproblem der Verhältnissetzung von Moral und Religion wird, indem es in den größeren Zusammenhang des Verhältnisses des höchsten Guts – das heißt: des Guten an sich – zum moralisch guten Handeln des Menschen gerückt wird. Damit greift Kaftan – unausgesprochener Weise – auf eine Figur platonischen Denkens zurück: Das Gute im Menschenleben – das heißt sowohl der Genuss von Glück oder Lust verschaffenden Lebensgütern natürlich-sinnlicher oder geistiger Art als auch das gute Handeln – wird als Teilhabe an dem höchsten Gut verstanden, welches wiederum mit der Gottesvorstellung verbunden wird. In dieser Teilhabe am höchsten Gut, mithin an Gott selber als dem einen Guten gründet die Bestimmung des Menschen in Hinsicht auf sein Glück und in Hinsicht auf sein Handeln in der Welt.529 Das summum bonum der christlichen Religion bedeutet die eschatologische Erfüllung des Lebensverlangens, aber nicht so, dass das Endliche im göttlichen Leben aufgeht. Vielmehr will Gott als summum bonum zugleich das Gute für den Anderen als Anderen, so dass hierin die gute Gestaltung der Welt als Aufgabe begründet ist. Es sind zwei Voraussetzungen dafür zu benennen, dass das summum bonum zum Bestimmungsgrund der Ethik wird: Zum einen ist es als in sich sittlich bestimmt zu sehen, was wie gesehen heißt, dass Kaftan dem höchsten Gut der christlichen Religion nicht lediglich ein oberstes sittliches Ideal korrelieren lässt, sondern darauf hinzielt, den Gottesgedanken selber ethisch zu bestimmen. Zum anderen ist es die Eschatologie, wie sie in Kapitel 2 eingeführt wurde, über welche er nicht nur die Erkenntnis des Guten, ————— 527 Vgl. dazu oben 3.1 und 3.2. 528 Die Kritik der Gesetzlichkeit führt Kaftan, wie gesehen, an gesetzlich verfassten geschichtlichen Religionen vor. Sie betrifft aber zugleich jegliche philosophische Ethik, die in ähnlicher Weise der Religion ihre Rolle zuweist. Ob dieses beispielsweise bei Jean-Jacques ROUSSEAU explizierte Modell vernünftiger Religion (vgl. hierfür z.B. das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars in Rousseaus Émile: ders., Œuvres Complètes 4, hg. v. B. Gagnebin/M. Raymond, Paris 1969, 565–691) nicht auch Kants Religionsphilosophie in weiten Teilen trägt, ist an anderer Stelle zu fragen. Vgl. zur Kant-Interpretation AXT-PISCALAR, Das gemeinschaftliche höchste Gut, 234–237 und weiter PANNENBERG, Moral und Religion, 87–89. – Vgl. zur „Eschatologie im Dienst des Moralismus“ der Aufklärungszeit die Ausführungen von Peter MÜLLERGOLDKUHLE, Die Eschatologie in der Dogmatik des 19. Jahrhunderts, Essen 1966, 33–42. 529 Vgl. neben Kaftans Wesensschrift auch ders., Dogmatik, 206f; 354. Ähnlich hat dies RITSCHL getan; vgl. AXT-PISCALAR, Das gemeinschaftliche höchste Gut, 252. – Es ist anzumerken, dass Kaftan selber gemeinhin nicht den Platonismus als Quelle seines Denkens angibt, sondern diesen als intellektualistisch-idealistische Anschauungsweise des höchsten Guts von seiner eigenen ethischen unterscheidet (vgl. z.B. Kaftan, Predigt des Evangeliums, 29; ders., Zum Beweis, 448f; ders., Das Christentum und die Philosophie, Vortrag, Leipzig 1895, 2/31896, 9, 22).

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sondern auch die Motivation und Befähigung das Gute handelnd zu vollziehen, konzipiert. Jene zweite Voraussetzung wird an der eben umrissenen Kritik Kaftans an Kant deutlich: Kaftan meint, Kant habe „die Bedeutung des religiösen Moments in unserem geistigen Leben verkannt“, was sich darin äußere, dass er die Religion – zugespitzt formuliert – „als Anhängsel an die Moral“530 fasse. Gemäß seiner Wesensbestimmung der Religion visiert Kaftan mit der Rede vom „religiösen Moment“ das Drängen des Menschen nach endgültiger Lebenserfüllung in der Gottesgemeinschaft an, welches völlig unabhängig von dem Konflikt zwischen Lebenserfüllung und Tugend immer schon die menschliche Existenz bestimmt. Und die Rede vom „religiösen Moment“ heißt bezogen auf die christliche Religion weiter, dass die erlösende Erfahrung der Gottesgemeinschaft in der gegenwärtigen Existenz des Menschen durch den Glauben stattfindet. Mithin meint Kaftan, dass Kant kein Verständnis für das „‚ewige Leben[…]‘ hier schon in der Zeit“531 zeigte. Hingegen ist es gerade die eschatologische Bestimmung des Gottesreichgedankens, über welche Kaftan das gute Handeln des Menschen begründet: In der Vergegenwärtigung des Gottesreichs als höchsten Guts, das heißt in der Erfahrung des ewigen Lebens schon jetzt in der Zeit liegt der Antrieb und die Befreiung zum Tun des Gottesreichs als sittlichen Ideals. Weil der Mensch im Glauben an den Auferstandenen am höchsten Gut teil hat, ist er in seinem Verlangen gleichsam umgewendet: Er kann aus gutem Grund sein Hängen an den natürlichen Gütern lassen und sein Handeln an den sittlichen Idealen, wie sie im Gottesreich mitgesetzt sind, ausrichten. Die Hoffnung auf die ausstehende Vollendung des Gottesreichs in der Zukunft bedeutet dementsprechend keine Hoffnung auf Belohnung des sittlichen Tuns, sondern gründet in der gegenwärtigen Heilserfahrung. Das heißt aber, auch das kritische Prinzip der Rechtfertigung ist strikt im eschatologischen Sinne zu verstehen. Es expliziert die gegenwärtige Erlösungserfahrung als Vorwegnahme des zukünftigen Heils, welches allein göttlichem Tun – durch Christus – verdankt ist. Insofern ist gegenüber Kant festzuhalten, dass Kaftan die Unbedingtheit sittlichen Sollens insofern relativiert, als das sittliche Sollen sehr wohl begründet wird und vom Menschen als begründete erfahren wird: Das Gefühl sittlichen Sollens ist die andere Seite der im Glauben an den Auferstandenen erfahrbaren Teilhabe am Gottesreich und hat seinen Grund mithin im Glauben (nicht ist der Glaube eine ————— 530 Beide Zitate: Kaftan, Philosophie, 230. Vgl. auch ders., Religionsphilosophische Anschauung Kants, 8, wo Kaftan kritisiert, dass Kant den „eigentliche[n] Kern“ der christlichen Religion, nämlich „das verborgene Leben in Gott durch Jesum Christum“ als unwesentlich verkannt hat. 531 Kaftan, Philosophie, 250. Vgl. dementsprechend a.a.O., 249, wo Kaftan der Kantschen Philosophie einen „Mangel an Verständnis für das mystische Element der Religion“ bescheinigt.

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Konsequenz des sittlichen Bewusstseins in seiner Kollision mit dem in der Glückswürdigkeit begründeten Anspruch auf Glückseligkeit, wie es für Kant letztlich gesagt werden muss). Kaftan bestimmt damit das moralische Tun als Aneignung und Wirksamwerden des Erlöstseins in der Zeit. Zugleich ist hiermit eine Art Phänomenologie der Präsenz des Ewigen in der Zeit entworfen, welche von den gemeinhin als mystisch bezeichneten Erfahrungsformen dezidiert abgegrenzt ist, worin aber zugleich ein genuin christlicher Mystikentwurf liegt. Es ist nicht vornehmlich die innere Erfahrung des Entrücktwerdens, der geistlichen Ekstase oder der spirituellen Verinnerlichung, in welcher die Gottesgemeinschaft schon jetzt erfahren wird. Es ist vielmehr das sittlich gestaltete Miteinander, das heißt die vom Ideal vollendeter Gemeinschaft der Menschheit her gestaltete Interaktion mit dem Anderen. Von daher ist die Erlösung von der Welt als Eingestelltwerden in die Welt zu beschreiben; umgekehrt ist das sittliche Tun im sozialen Konnex als Einübung in die Ewigkeit zu deuten, wie Kaftan wohl bewusst in Anspielung auf gegenläufige Modelle eines meditativen Sich-Einübens in Gott meint.532 Insofern die Einübung in die Ewigkeit auch in der christlichen Religion vom Telos der Gottesgemeinschaft, das heißt: von der Teilhabe am göttlichen Leben bestimmt ist, legt Kaftan implizit einen Entwurf genuin christlicher Mystik vor. Mystik meint hier die Integration von Erlösungserfahrung und sozialem Handeln, so dass in der Erlösungserfahrung die Erkenntnis des Guten liegt und zugleich die Motivation und Befähigung zu seiner selbsttätigen Verwirklichung in der Welt. Solche Mystik ist dadurch gekennzeichnet, dass die Differenz zwischen Gott und Mensch auch letzthin nicht aufgehoben wird, wie im Gegenüber nicht nur zur herkömmlichen Mystik, sondern auch zur Inversion des Gottesgedankens in die Selbstbeschreibung durch Nietzsche gesagt werden muss. Mit jener Differenz ist die erstgenannte, weil auch sachlich allem voran stehende Voraussetzung christlicher Ethik, ihre Integration in den Gottesgedanken ausgesprochen. Diese Integration beschreibt Kaftan über die Konzeption Gottes als überweltlichen persönlichen Geistes. Da das sittliche Tun als Entwicklung des Menschen vom triebbestimmten Naturwesen zur geistigen Persönlichkeit verstanden wird, rückt die Gottesvorstellung in die Funktion des Telos nicht nur des Lebensverlangens, sondern auch der Persönlichkeitswerdung ein: Gott als summum bonum zu erkennen, heißt Gott als Persönlichkeit zu erkennen. Umgekehrt liegt in der Gotteserkenntnis als der Erkenntnis des eigenen Lebensziels, dass der Mensch seiner individuellen Bestimmung zur Persönlichkeit bewusst wird. Dieser Gedanke ist erst in ————— 532 Vgl. Kaftan, Askese, 5; ders., Dogmatik, 204, 577; ders., Erlösung, 114; ders., Neutestamentliche Theologie, 49.

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Kapitel 4 in seinem vollen Umfang zu erhellen, insofern dort die Vorstellung der Gottebenbildlichkeit auf die menschliche Selbstbildung als Persönlichkeit hin ausgelegt wird, worin schließlich zugleich die vollumfängliche Bestimmung des Glaubensbegriffs liegt. Um dies auszuführen, ist zuvor die Ekklesiologie zu besprechen, weil sich sogleich zeigen wird, dass diese bei Kaftan die Theorie der Verwirklichung des Guten in der Welt ist. Dabei wird sich das eschatologische Prinzip der Ethik auch in der Ekklesiologie Geltung verschaffen. In der Ethik wie in der Ekklesiologie geht es „um die Bestimmung des menschlichen Geschlechts“; die Prinzipien einer christlichen Ethik sind „nicht zuerst rückwärts im Ursprung der Dinge, sondern zuerst vorwärts in unserm ewigen Ziel zu suchen“ und damit im „Reich Gottes“.533

————— 533 Alle Zitate: Kaftan, Das sittliche Leben, 13 (Hervorhebungen im Original).

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4. „Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube „Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube Das Wesen der Kirche

4.1 Das Wesen der Kirche 4.1.1 Kirche als Reich Gottes Die Darstellung der Kaftanschen Verhältnissetzung von Eschatologie und Ethik hob bisher auf den einzelnen Menschen ab, freilich im Kontext sozialer und religiöser Gemeinschaften. Es zeigte sich, dass nach Kaftan die Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit, mithin das sittliche Handeln im sozialen Konnex die Aneignungs- und Vollzugsweise der individuellen Erlösungserfahrung ist. Augenfälliger Ausdruck dafür ist die Auslegung des Gottesreichssymbols als Gut und Ideal für den Einzelnen in seinen Beziehungen zu Anderen: Das Gottesreich ist Gabe Gottes und bedeutet die Erlösung von der Welt schon jetzt in gewisser Hoffnung auf ihre zukünftige Vollendung. Zugleich ist es Aufgabe, indem es den Menschen mit dem Willen Gottes und damit seiner eigenen Bestimmung zur sittlichen Persönlichkeit konfrontiert. Damit steht zunächst der Einzelne in seiner Gottesbeziehung im Fokus der Wesensbestimmung der christlichen Religion, was auch durch die Prävalenz des mystischen Elements Ausdruck findet.1 Zu erwarten wäre demgemäß eine Marginalisierung der Ekklesiologie in der Dogmatik, insofern die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen allenfalls als ein Folgegedanke aus der individuellen Heilserfahrung zu stehen käme. Die eschatologische Zuspitzung der Wesensbestimmung der christlichen Religion verstärkt diesen Eindruck in Richtung auf die Kirche als irdische Insti————— 1 Vgl. Kaftan, Ehe und Familie, 599, wo Kaftan die Prävalenz des Einzelnen vor der Gemeinschaft unter Bezugnahme auf das Denken Kierkegaards betont. – Anspielungen auf Kierkegaard finden sich bei Kaftan im Übrigen des öfteren (vgl. z.B. ders., Das Gewissen, 158 zur Wiederholung der „Erfahrung des Geschlechts“ im Einzelnen), aber nur dieser eine explizite Verweis ist mir aufgefallen. Es ist durchaus anzunehmen, dass Kaftan Kierkegaard im Original gelesen hat – aufgrund seiner eigenen Herkunft war Kaftan des Dänischen mächtig (vgl. oben Kapitel 1). Auch Kaftans Moraltheorie hebt auf die Voranstellung des Einzelnen ab, wie er gegen Wundt akzentuiert: Es „ist uns […] der Einzelne das eigentliche und einzige Subjekt des sittlichen Lebens, wie und weil das Ziel, das ‚Zweckobjekt‘ desselben ein solches ist, daß der einzelne mit seinem Lebensinteresse darin einbegriffen werden muss.“ (Ders., Das sittliche Leben, 122.) Wenn man bedenkt, dass das Ziel des sittlichen Lebens in Kaftans Darstellung das Gottesreich ist, und den Verweis auf des Einzelnen Lebensverlangen beachtet, so wird deutlich, dass auch die individualethische Perspektive von der anthropologisch verorteten Eschatologie Kaftans herrührt.

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tution. Wird das Heil über die Vorstellung der Erlösung von der Welt in der überweltlichen Gottesgemeinschaft gesehen und gehört die drängende Hoffnung auf Erlösung von der Welt zum Wesen des Christentums, so scheint der Kirche in der Welt allenfalls die Funktion einer Übergangsgemeinschaft zuzukommen, deren Gestaltung eine arbiträre sein kann, so dass konsequenterweise nicht nur die dogmatische Ekklesiologie, sondern auch die praktische Kirchentheorie ein der Theologie äußerliches Unternehmen ist. Kaftan legt aber eine ausgeführte Ekklesiologie vor, welche von zentraler Stellung in der Dogmatik ist und zugleich den Rahmen einer praktisch ausgerichteten Kirchentheorie abgibt, die selber wiederum von Kaftan weniger konzeptualisiert als vielmehr kirchenleitend umgesetzt wurde.2 Grundlegend für beides – sowohl für die dogmatische Ekklesiologie als auch für Kaftans eigenes kirchenleitendes Handeln – ist dabei folgende, angesichts der mystisch-eschatologischen Wesenbestimmung des Christentums zunächst überraschende Behauptung: „Die Kirche“ ist mehr als ein Glaubensgedanke unter andern, sie steht im Mittelpunkt aller Glaubensgedanken. Es handelt sich in den Sätzen über die Kirche um eine christliche Grundwahrheit.3

Im Folgenden ist nachzuvollziehen, inwiefern die Kirche Kaftan zufolge Objekt der zentralen christlichen Glaubensaussage ist, und welche Folgerungen aus dieser These für Ekklesiologie und Kirchentheorie zu ziehen sind. Es wird sich dabei zeigen, dass die über den Reich-Gottes-Gedanken aufgebaute Vermittlung von Eschatologie und Ethik bei Kaftan der Ekklesiologie innerlich bedarf. Zugleich ist an Kaftans Ekklesiologie nachzuvollziehen, wie der Gottesreichgedanke das Nachdenken über die Kirche leitet. Die Stellung dieses Gedankens insbesondere in seinem Verhältnis zur Kirchenlehre zu reflektieren ist angesichts seiner Bedeutung für die Wesensbestimmung der christlichen Religion systematisch-theologisch aufgegeben.4 ————— 2 Weil Kaftan sowohl als Dogmatiker als auch als kirchlicher Praktiker seine ekklesiologischen Ausführungen deutlich vom zeitgenössischen Kontext her bestimmt sein lässt (ohne dabei die Frage nach dem Wesen der Kirche aus den Augen zu verlieren), sei im Folgenden an besonders wichtigen Stellen auf jenen Kontext verwiesen. Damit ist der Forderung Anselms Genüge getan, welcher zu Recht meint, die dogmatische Ekklesiologie bleibe defizitär, wenn sie lediglich von der „ihr inhärente[n], eigene[n] ekklesialen Logik“ her entworfen wird (Reiner ANSELM, Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik, Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, 14). Stattdessen seien „die Strukturprinzipien gelebter Kirchlichkeit adäquat zu beschreiben“ (ebd.), was wiederum den Kirchen- und Theologiehistoriker herausfordert, die jeweilige „Situationsgebundenheit“ (a.a.O., 20) eines ekklesiologischen Entwurfs zu untersuchen (vgl. auch programmatisch a.a.O., 236–245). 3 Kaftan, Dogmatik, 616; vgl. auch ders., Kirche, 81. 4 Für die Gegenwart hat diese Aufgabe PANNENBERG herausgestellt, wenn er eingangs des betreffenden Kapitels seiner Systematischen Theologie (ST III, 40) schreibt: „Die Klärung des

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Das Wesen der Kirche

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Der Ausgangspunkt für Kaftans Ekklesiologie5 ist im Rekurs auf die Bestimmung des Reichs Gottes als zukünftiger und als eben solcher zugleich gegenwärtiger Wirklichkeit gegeben – und hier gründet zugleich die durchgängig eschatologische Dimension auch des Kirchenbegriffs: Die Kirche ist das Gottesreich im gegenwärtigen Stadium seiner Verwirklichung. Die Zeit der Kirche ist die Zeit zwischen der Erhöhung Jesu Christi und der Endzukunft.6

Damit begründet Kaftan die Ekklesiologie ausdrücklich in der Auslegung der Gottesreichpredigt Jesu und ihrer Transformation durch Paulus als Repräsentant urchristlichen Glaubens: Die Kirche bezeichnet die Gemeinschaft derer, die am Gottesreich teilhaben, wie es in Jesu Person bereits gegenwärtig geworden ist.7 Als solche partizipiert die Kirche freilich auch an der für die urchristliche Heilsvorstellung charakteristischen Spannung des Schon jetzt und noch nicht,8 indem auch sie von der Zukünftigkeit des vollendeten Gottesreichs her zu bestimmen ist. Dies zeitigt entscheidende Konsequenzen für die Frage nach der Verhältnissetzung von Kirche und Reich Gottes. Das Reich Gottes ist in der Geschichte als geistige Wirklichkeit gegenwärtig, an der jene teilhaben, welche an den auferstandenen und erhöhten Christus glauben. Damit ist auch die Kirche in prinzipieller Weise als geistige Gemeinschaft bestimmt. Wie sich noch zeigen wird, ist hiermit – letztlich also in der Eschatologie – das Verständnis der Kirche als creatura verbi divini und die protestantische Umbildung der Lehre von den notae (ecclesiae) externae, wie sie sich in CA VII findet,9 begründet. Bevor darauf eingegangen wird, ist zuvor für das Verhältnis von Reich Gottes und Kirche festzuhalten: Die äußerliche Verwirklichung des Gottesreichs und damit seine Vollendung steht noch aus und bedeutet das Ende der Welt und die ewige Seligkeit. Die Kirche ist mithin nicht einfach identisch mit dem vollendeten Gottesreich, sondern dessen vorläufige Vergegenwärtigung in der Weltgeschichte. Sie ist die Gemeinschaft der Glaubenden, welche aufgrund ihrer Gemeinschaft mit dem Auferstandenen auch untereinander in Gemeinschaft stehen und in dieser Gemeinschaft die Erlösung von der Welt innerlich-geistig erfahren. Damit ist die Kirche aber auf der anderen Seite ————— Verhältnisses von Kirche und Reich Gottes ist unerläßlich für die Beantwortung der Frage nach dem Konstitutionsgrund der Kirche.“ 5 Die Textgrundlage besteht im Folgenden nicht nur aus den ekklesiologischen Ausführungen in der Dogmatik (vgl. hierfür das fünfte Lehrstück, die §§62–68: Kaftan, Dogmatik, 603–650), sondern auch aus weiteren Einzelschriften Kaftans, die sich direkt oder indirekt mit der Frage der Kirche auseinandersetzen und jeweils an Ort und Stelle genannt werden. 6 Kaftan, Dogmatik, 617 (im Original z.T. hervorgehoben). 7 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 617. 8 Vgl. oben Kapitel 2.3.2–2.3.5. 9 Vgl. BSLK, 61.

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

keine Utopie, denn als Gemeinschaft der Christgläubigen ist in ihr das Heil tatsächlich gegenwärtig. Diese Kirche […] ist nichts Fingiertes und Erdachtes, kein platonischer Idealstaat oder etwas dem Aehnliches. Sie ist wie alles, was Objekt des Glaubens ist, eine übersinnliche Realität. In ihr ist der Weltzweck Gottes, das Reich Gottes, realisiert.10

Kaftans Bestimmung der Kirche als des gegenwärtigen nicht sichtbaren Gottesreichs stellt mithin vor die Frage, ob die Wirklichkeit der Kirche überhaupt empirisch ausweisbar ist, oder ob die Gemeinschaftsformen, welche gemeinhin als Kirche benannt werden, gar nicht im eigentlichen Sinne Kirche sein können. In letzter Konsequenz hieße dies, dass der Kirchenbegriff eine überflüssige Doppelung des Begriffs vom Gottesreich seiner gegenwärtigen Realität nach darstellte. Wie der Kirchenmann Kaftan diese Konsequenz ausschließt, wie er mithin die Kirche in ihrer empirischen Gestalt einer Bestimmung zuführt und dennoch die geistig-glaubensmäßige Bestimmung der Kirche strikt im Zentrum seiner Ekklesiologie hält, ist die leitende Frage der folgenden Abschnitte. Es wird sich zeigen, dass in diesem Vermittlungsbemühen der Schlüssel für die Vermittlung von Eschatologie und Ethik liegt. 4.1.2 Der Glaube an die Kirche Um nachzuvollziehen, wie Kaftan mit der vom Gottesreichgedanken her entfalteten Konzeption der Kirche als nur dem Glauben erkennbarer Heilswirklichkeit eine kirchentheoretische Besinnung auf die Kirche als empirischer Gemeinschaft vermittelt, ist seine Profilierung des genuin evangelischen Kirchenbegriffs gegenüber dem katholischen aufzusuchen, wie sie sich in den beiden für die Ekklesiologie relevanten Phasen seines Lebens vom kirchen- und theologiepolitischen Kontext her aufgibt. Zum einen gehörte Kaftan in einer ersten Phase seines ekklesiologischen Denkens, in welcher unter anderem die Dogmatik entstand, zum Kreis der sich in der 1886/87 begründeten Zeitschrift Die christliche Welt äußernden Theologen. Zum anderen sah er sich durch die Berufung in den Preußischen Oberkirchenrat im Jahr 1904 vor die Aufgabe gestellt, als Theologe kirchenleitende Funktionen wahrzunehmen – überdies in einer Zeit, die durch innerkirchliche und gesamtgesellschaftliche Krisen11 die Frage nach der Gestalt evangelischer Kirche zu einer wahrhaft existentiellen Frage werden ließ. ————— 10 Kaftan, Dogmatik, 617. 11 Im Blick sind hier vor allem die innerprotestantischen Streitigkeiten um Fragen des Glaubens und seiner normativen Formulierung, wie sie sowohl im so genannten Apostolikumsstreit 1892 als auch angesichts der Fälle Carl Jatho und Gottfried Traub Ausdruck finden (vgl. z.B.

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Das Wesen der Kirche

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Vor allem in den ersten Jahrgängen der nur drei Jahre nach dem LutherJubiläum im Jahr 1883 begründeten Zeitschrift Die christliche Welt wird deutlich, wie sehr die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus in Geschichte und Gegenwart als Movens der Bearbeitung der theologischen, aber auch der kirchenpolitischen und kulturtheoretischen Fragen der Zeit zu begreifen ist. Dabei ist jene Auseinandersetzung durch die Überzeugung weiter Kreise des liberal und vermittlungstheologisch geprägten Protestantismus bestimmt, der protestantischen Überzeugung sei nicht nur in Hinsicht auf die Gestaltung evangelischer Kirchlichkeit Geltung zu verschaffen, sondern ihr komme auch entscheidende Bedeutung für die Formierung des 1870/71 gegründeten Deutschen Reichs zu. Dabei wird der Protestantismus als gesellschafts-, staats- und kulturprägende Kraft begriffen, welche den inneren Zusammenhalt und die Identität der Nation begründe.12 Der Katholizismus wurde demnach nicht nur als Beeinträchtigung des Geltungsanspruchs der evangelischen Kirchen im engeren Sinne gesehen, sondern auch des Fortschritts des noch jungen Staats als einer Nation, deren Lebenselixier den betreffenden Theologen zufolge ihr eminent protestantischer Geist sei.13 Wie Kaftans Haltung zum Verhältnis von Nation und christlicher Religion zurückhaltender ist als die mancher seiner Mitstreiter für einen modernen Protestantismus,14 so auch seine Stellungnahmen zum Katholizismus und zum katholischen Kirchenbegriff. Im Unterschied zu manchen rein konfrontativ gerichteten Erklärungen ist er um den Ausweis der particula veri des Katholizismus, genauer noch: jener Momente bemüht, welche den Katholizismus als eine zeitlich bedingte und als solche legitime Ausdrucksgestalt des Wesens der christlichen Religion positionieren.15 In diesem ————— ZAHN-HARNACK, Harnack 144–160, 303–316; Lucian HÖLSCHER, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, 228f, 403), und der Zusammenbruch der gesamtgesellschaftlichen und staatlichen Ordnung 1918 (vgl. FISCHER, Theologie, 9–14). Vgl. zur Kirche im Kaiserreich weiter Reiner ANSELM, Lutherische Leitkultur. Kirche und Gesellschaft in der Sicht des konservativen Kulturluthertums im Kaiserreich, in: A. Grözinger/G. Pfleiderer/G. Vischer (Hg.), Protestantische Kirche und moderne Gesellschaft. Zur Interdependenz von Ekklesiologie und Gesellschaftstheorie in der Neuzeit, Christentum und Kultur, Zürich 2003, 169–189. 12 Vgl. dazu z.B. GRAF, Protestantische Theologie, bes. 42–45. 13 Zu den im so genannten Kulturkampf einen Höhepunkt findenden Kontroversen um die Rolle des Katholizismus im Staat vgl. NOWAK, Geschichte, 149–158; vgl. weiter RATHJE, Protestantismus, 42f. 14 Vgl. oben Kapitel 2.2.3 zum Verhältnis von Nation und Reich Gottes. – Zur Haltung Kaftans zum Gedanken der Nation vgl. den Vortrag Christenthum und Nationalität, wo er zwischen dem universalen Anspruch der christlichen Religion und der notwendigen Umbildung der Religion nach national-kulturellen Besonderheiten zu vermitteln sucht. Vgl. weiter ders., Ein neues Dogma, 21, wo Kaftan das christliche Erlösungsbewusstsein vom Evangelium her als prinzipielle „Heimatlosigkeit“ auslegt und so die Bedeutung von „Volk und Vaterland“ gegenüber der Gemeinschaft des Reiches Gottes relativiert. 15 Vgl. Kaftan, Wesen, 361.

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

Bemühen geht er der Harnackschen Konstruktion der kirchengeschichtlichen Epochen parallel, aufgrund welcher es Harnack möglich ist, in der ansonsten in jenen Jahren eher durch die Negation des Katholizismus auffallenden Christlichen Welt zu fragen, was „wir von der Römischen Kirche lernen und nicht lernen sollen“.16 Kaftans abwägende Verhandlung des Katholizismus exponiert den Grundgedanken, dass die katholische Konfession auf der genuin christlichen Idee des höchsten Guts beruht,17 aber diese in einer gegenüber dem Wirken Jesu und dem urchristlichen Glauben veränderten Weise vorstellig macht. Seiner Kritik am Katholizismus liegt damit eine These zugrunde, welche die religionstheoretische Einsicht in die fundamentale Bedeutung des jeweiligen höchsten Guts für eine Religion zum Ausdruck bringt, nämlich die Hypothese, es möchte dem Katholicismus eine Verschiebung der christlichen Idee vom höchsten Gut […] zu Grunde liegen.18

Jene Verschiebung besteht darin, dass im Katholizismus wie in der „mystische[n] Naturreligion“19 in der Gotteserkenntnis das höchste Gut für den Menschen liegt. Dies bedeutet eine Umbildung der urchristlichen Religion im Zuge der Vermittlung des christlichen Glaubens in der durch die antike griechisch Philosophie geprägten „griechisch-römischen Culturwelt“.20 Die Pointe dieser These liegt darin, dass Kaftan zufolge im Prozess solcher Vermittlung der sittliche Charakter des höchsten Guts zugunsten des Strebens nach „unmittelbarer Berührung mit Gott“21 zurückgetreten ist. Diese „unmittelbare[…] Berührung“ eignet sich das christliche Subjekt nicht in der Erfüllung seiner sittlichen Pflichten als des Willens Gottes an, wie dies für das Wesen der christlichen Religion im vorhergehenden Kapitel festgestellt wurde. Sondern sie vermittelt sich dem endlichen Subjekt über die ————— 16 ChW 5, 1891, 18, 401–408; vgl. dazu RATHJE, Protestantismus, 58–60. Vgl. weiter Kaftan, Logoslehre, 1, wo er darauf hinweist, dass die Themenstellung des Vortrags, welchen er auf der Eisenacher Versammlung der Freunde der Christlichen Welt 1896 gehalten hat, aus einer Anregung Harnacks hervorging. Harnack brachte damit Kaftan zufolge die Forderung zum Ausdruck, „daß wir gut thäten, neben aller Kritik den positiven Zusammenhang mit der Vergangenheit zu pflegen und uns auf die Oekumenicitaet und Continuität des christlichen Glaubens zu besinnen.“ Dementsprechend hat Kaftan zum Verhältniß des evangelischen Glaubens zur Logoslehre gesprochen, welch letztere auf ihre particula veri („die bleibende Wahrheit des Christenthums“, die in der Logoslehre zum Ausdruck kommt; a.a.O., 2) und sodann auf die in evangelischer Perspektive zu überwindenden Momente befragt wird. Zu diesem einigen Wirbel in der theologischkirchlichen Öffentlichkeit auslösenden Vortrag vgl. unten 4.2.6. 17 Vgl. zu den Wahrheitsmomenten des Katholizismus z.B. Kaftan, Wesen, 363, 365, 370, 371, 374, 378, 380. 18 Kaftan, Wesen, 361 (im Original z.T. hervorgehoben). 19 Kaftan, Wesen, 361. 20 Kaftan, Wesen, 362 (im Original hervorgehoben). 21 Kaftan, Wesen, 363 (im Original hervorgehoben); vgl. a.a.O., 365.

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Menschwerdung Gottes in Christus beziehungsweise über die Teilhabe an „den durch Christum der Welt eingepflanzten hyperphysischen Kräften.“22 Diese Umbildung der urchristlichen Christologie, angetrieben durch die griechische Tradition,23 bringt nun freilich weitere Umbildungen mit sich, allen voran solche der Ekklesiologie. Kaftan visiert hier nun vor allem die römisch-katholische Theologie und Kirche seit dem frühen Mittelalter an.24 Die Kirche verwaltetet der römisch-katholischen Anschauung nach jene „hyperphysischen Kräfte“, über welche das religiöse Subjekt in der Welt an Gottes überweltlichem Leben Teil hat. Sie fungiert weiter als Auslegeinstanz der göttlichen Offenbarung, da diese als „absolute[s] Mysterium“25 verstanden wird und dementsprechend der autoritativen Auslegung durch die Kirche bedarf.26 Auf diesen Punkt ist im Folgenden zurückzukommen.27 Und sie ist die „Anstalt für die sittengesetzliche Zucht des christlichen Lebens“,28 insofern auch der Katholizismus die sittliche Dimension der Reichgottesverkündigung Jesu anerkennt, sein höchstes Gut aber sittlich indifferent ist und damit der Ergänzung durch ein sittliches Gesetz bedarf. Mithin tritt hier, wie bereits im vorhergehenden Kapitel beschrieben,29 die gesetzliche Relation von Sittlichkeit und Religion wieder zu Tage: Die Kirche verfügt über das höchste Gut der Seligkeit und gewährt es demjenigen, welcher sich ihren als Gottes Gebote deklarierten Geboten in seinem Handeln und Unterlassen unterwirft.30 In dieser dreifachen Umbildung des ursprünglichen christlichen Kirchenbegriffs gründet nun die spezifische katholische Verhältnissetzung von Kirche und Reich Gottes. Kaftan zufolge erklärt die katholische Kirche sich selber in ihrer Eigenschaft als die Kirche auf Erden, d.h. die durch die hierarchische Anstaltskirche kirchlich organisirte christliche Gesellschaft für das Reich Gottes.31

Diese Identifikation von Kirche und Reich Gottes kann nun aber nicht an die der urchristlichen Religion entsprechende Relation von Kirche und Reich Gottes anschließen, welche Kaftan der genuin evangelischen Kirchenlehre zugrunde legt. Zwar wurde auch für diese eingangs gesagt, dass ————— 22 Kaftan, Wesen, 367. 23 Auch Harnack meint, in Theologie und Frömmigkeit der Alten Kirche besonders der griechischen Tradition sei das sittliche Element der christlichen Religion marginalisiert worden. Vgl. HARNACK, Wesen, 217. 24 Vgl. zur ostkirchlichen Theologie und Kirchenauffassung oben Kapitel 3.3.1. 25 Kaftan, Wesen, 366 (im Original hervorgehoben). 26 Vgl. Kaftan, Wesen, 369f; ders., Wahrheit, 112. 27 Vgl. unten 4.3 zu Kaftans Autoritätsbegriff. 28 Kaftan, Wesen, 370 (im Original hervorgehoben). 29 Vgl. oben Kapitel 3.2.1. 30 Aus den genannten drei Verschiebungen in der Ekklesiologie ergibt sich der katholische Amtsbegriff; vgl. Kaftan, Wesen, 371f. 31 Kaftan, Wesen, 373 (im Original z.T. hervorgehoben).

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sie Kirche und Reich Gottes in engen Zusammenhang bringt – jedoch sind in ihr beide Relate in grundlegender Weise anders verstanden als es die katholische Verhältnissetzung impliziert. Katholischem Verständnis zufolge ist es zum einen die irdische Kirche als Anstalt, das heißt aber die institutionell verfasste, als empirisches Sozialgebilde wirkende, welche mit dem Reich Gottes gleich gesetzt wird. Und es ist zum anderen das Reich Gottes als „eine besondere religiöse Gemeinschaft neben und über den Formen der sittlichen Gemeinschaft“,32 welche mit der Kirche identifiziert wird. Von beiden Seiten her lässt sich Kaftans der Intention nach genuin evangelischer Kirchenbegriff in einem ersten Anlauf ex negativo profilieren. Die irdische Kirche ist nicht als ein Bereich religiöser „Extrasittlichkeit“33 zu begreifen, welche den Religiösen aus den verschiedenen Sphären weltlichen Handelns zumindest dem Anspruch nach herausnimmt.34 Vielmehr ist ihr Verhältnis zu jenen anderen Sphären wie Familie, Gesellschaft und Staat so zu bestimmen, dass die sittlichen Pflichten in nicht-gesetzlicher Weise als Pflichten gerade des zur Kirche Gehörenden zu stehen kommen. Weiter kann die empirische Kirche nicht einfach mit dem Reich Gottes gleichgesetzt werden, sondern die Konzeption der empirischen Kirche muss der Verborgenheit des Gottesreichs in der Geschichte, das heißt aber: seiner Geistigkeit Rechnung tragen.35 Dass eine Konzeption der empirischen Kirche aber auch dem christlichen Dogmatiker aufgegeben ist, wird für Kaftan spätestens mit seiner Berufung in den Preußischen Oberkirchenrat im Jahr 1904 zu einer Herausforderung. Es stellt sich dem Kirchenleitenden nun ganz praktisch die Frage, in welcher positiven, innerlichen Beziehung die empirische Kirche zur so genannten unsichtbaren Kirche als dem gegenwärtigen Gottesreich steht. Diese Frage gewinnt durch die Bedrohung der Ordnung der evangelischen Kirche im Ersten Weltkrieg und durch die Arbeit an einer neuen Kirchenverfas————— 32 Kaftan, Wesen, 376 (Hervorhebungen gegenüber dem Original verändert von C.C.). 33 Kaftan, Wesen, 374. 34 Dies ist am Verhältnis von Mönchtum und Laiendasein in der katholischen Kirche zu sehen; vgl. dazu z.B. Kaftan, Wesen, 377. 35 Vgl. Kaftan, Wesen, 373f. Vgl. auch ders., Dogmatik, 445. Damit ist nebenbei SAMSEs pauschalierender Behauptung widersprochen, die Theologie des 19. Jahrhunderts habe der des 20. Jahrhunderts „das Problem einer transzendenzlosen Identifikation von Kirche und Kultur infolge der fortschreitenden Säkularisierung der Reich-Gottes-Botschaft“ (ders., Tillich, 78) hinterlassen. Jene „transzendenzlose Identifikation“ verdankt sich vielmehr vor allem dem rekonstrutiven Zugriff auf den so genannten „Kulturprotestantismus“ (ebd.), wie er im Abbruch-Pathos der Dialektischen Theologie und der späteren Barthianer wurzelt (vgl. hierzu ähnlich WALTHER, Typen, 168–169). Die Kaftansche Theologie kann jene Etikettierung überhaupt nicht zutreffend beschreiben, aber auch die Ritschlsche Theologie ist damit nur in verzerrender Weise erfasst. Samse weist allerdings darauf hin, dass das hier angesprochene Problem vom frühen Tillich im Gegensatz zu den meisten anderen Dialektischen Theologen nicht als „Bruch“, sondern als „Gabe und Aufgabe“ begriffen wurde (ders., Tillich, 78).

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sung nach dem Ersten Weltkrieg noch an Dringlichkeit. Schon bevor jene Bedrohung der preußischen Staatskirche durch den Zusammenbruch des deutschen Reichs zur Realität wird, beschreibt Kaftan in gleichsam prophetischer Weise die zeitgeschichtliche Situation hinsichtlich der Frage nach der Gestaltung der evangelischen Kirche. So meint er in einem Brief an seinen Bruder vom 19. September 1911: [N]ach meiner Einsicht ist in Preußen die Landeskirche, wie sie ist, (wesentlich versteht sich) gerade auch in der Verbindung mit dem Staat selbst so organisch verbunden, daß nur eine Umwälzung auf dem ganzen Gebiet unseres öffentlichen Lebens ihr ein Ende bereiten wird. Ich denke an eine Bewegung wie die von 1848, die ja eine große Umwälzung gebracht hat. Dann wird es aber mit der Landeskirche [als Staatskirche] überhaupt vorbei sein.36

Kurz vor der radikalen „Umwälzung“, welche die evangelische Kirche mit dem Ende des Ersten Weltkriegs tatsächlich – wenn auch in anderer Weise als durch „eine Bewegung wie die von 1848“ – ereilt, befasst Kaftan sich ausdrücklich mit der Frage der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche. Im Jahr 1917 publiziert er einen Artikel zur Kirche als Objekt des Glaubens und als Subjekt des kirchlichen Handelns.37 Hier zeigt sich, dass der Frage der positiven Beziehung zwischen empirischer und geglaubter Kirche eine Schlüsselfunktion in der evangelischen Kirchenlehre zukommt. Ihre Beantwortung stellt die Matrix dar, nach welcher die Entscheidungen kirchenpraktischen Handelns auf die Bestimmung des Wesens der Kirche zurückbezogen werden. Dies ist wichtig festzuhalten, da das Problem der Ekklesiologie im Überschneidungsbereich von systematischer und praktischer Theologie nicht einfach die Frage ist, ob bestimmte kirchliche Erscheinungen einem andernorts erörterten Wesen der Kirche entsprechen.38 Es ist vielmehr allererst zu fragen, wie ein solches Entsprechungsverhältnis prinzipiell zu denken ist, mithin in welcher Weise überhaupt gesagt werden kann, dass die empirische Kirche der geglaubten Kirche entspricht. Diese Frage stellt sich Kaftan angesichts der Herausforderung, ————— 36 Göbell, Briefwechsel II, 494 (Hervorhebungen im Original). 37 Erschienen in der Festschrift zu G. Kaweraus 70. Geburtstag: Studien zur Reformationsgeschichte und zur praktischen Theologie, 2 Bd., Leipzig 1917, Band 2, 93ff. 38 Vgl. zu dieser Frage ANSELM, Ekklesiologie, 11–29. Anselm hinterfragt in den systematischen Teilen seiner Studie zum Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seiner Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert das gegenwärtig gängige dogmatische Verfahren, welches seines Erachtens darin besteht, dass von einem zuvor dogmatisch erhobenen Wesen der Kirche bestimmte kirchliche Vollzüge bewertet werden, und fordert, die rekonstruktive Beschreibung der „Strukturprinzipien gelebter Kirchlichkeit“ (a.a.O., 14) in die Ekklesiologie einzubeziehen. Auch eine empirisch gesättigte Ekklesiologie muss sich allerdings die schlechterdings prinzipielle Frage stellen lassen, wie das Verhältnis von kirchlicher Wirklichkeit und Wesen der Kirche überhaupt zu denken ist (vgl. hierzu bei Anselm selber das Schlusskapitel: „Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik“, a.a.O., 232–248).

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als Dogmatiker kirchenleitende Funktion wahrzunehmen, einer Herausforderung, welche durch die sich bald stellende Aufgabe der Mitarbeit an der neuen Verfassung der Kirche noch verschärft wird.39 Dabei ist wieder die Konfrontation mit dem durch den Katholizismus repräsentierten Verständnis dessen, was die Kirche in der Welt sein kann, gedankenleitend. So geht Kaftan im genannten Aufsatz von Schleiermachers Strukturmodell des protestantischen und des katholischen Christseins aus, nach welchem der Unterschied beider in ihrer jeweiligen Stellung zu Kirche und Christus bestimmt wird.40 Kaftan führt diesen Unterschied auf ein unterschiedliches Verständnis des Protestantismus und Katholizismus allerdings gemeinsamen Kirchenbegriffs zurück. Die gemeinsame Wurzel beider abendländischen Konfessionen […] liegt in der Paulinischen Verkündigung vom Gesamtchristus […], in dem alle an ihn Gläubigen mit ihm zur Einheit eines Geistes und Lebens verbunden sind.41

Mithin gesteht Kaftan den Vertretern des Katholizismus zu, dass sie nicht einfach „Christus hinter der Kirche ungebührlich zurückstellen“,42 wie der aus Schleiermachers Strukturmodell generierte Vorwurf lauten müsste. Das katholische Kirchenverständnis fußt Kaftan zufolge auf der glaubensmäßigen Identifikation von Kirche und „Gesamtchristus“ – das heißt der in der Teilhabe an Christus verbundenen Gläubigen –, auf welcher auch das evangelische Kirchenverständnis aufruht. Kaftans Vorschlag eines Modells, welches den Unterschied zwischen katholischem und evangelischem Kirchenbegriff vor Augen führt, überzeugt allerdings zunächst nicht. Er meint, jenen Unterschied darin ausdrücken zu können, dass im Katholizismus die Überzeugung gelte, die Kirche sei Christus, während im Protestantismus umgekehrt Christus als die Kirche verstanden werde. Eine Intention dieser im Detail nicht aufschlussreichen Doppelformel ist freilich deutlich. Kaftan will klarstellen, dass sowohl Katholizismus als auch Protestantismus von der Gleichsetzung von (Gesamt)Christus und Kirche ausgehen. Dies ist gegen eine Katholizismuskritik gerichtet, welche nicht die Zentralität der Christusfrömmigkeit in der katholischen Kirche anerkennt.43 Es ist weiter ————— 39 Vgl. dazu die Briefe an seinen Bruder in Göbell, Briefwechsel II, bes. 708f, 711f, 727, 752f, 757f, 779f, 790, 858, 919. 40 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (1830/31), §24: Der Protestantismus macht „das Verhältniß des Einzelnen zur Kirche abhängig […] von seinem Verhältniß zu Christo“, der Katholizismus macht „umgekehrt das Verhältniß des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältniß zur Kirche.“ (Zitiert aus dem Leitsatz, KGA I.,13,1: 163.) 41 Kaftan, Kirche, 80 (im Original z.T. hervorgehoben). 42 Kaftan, Kirche, 79. 43 Vgl. dazu auch Kaftan, Ein neues Dogma, 69f, wo er allerdings feststellt, dass die Zentralstellung Christi in der Frömmigkeit der katholischen Kirche in der Realität oftmals hinter der Vorstellung der kirchlichen Hierarchie als für das Heil des Einzelnen entscheidenden Größe zurücktritt. Aber es gilt: „[J]ene Sätze über die Einheit der Kirche und Christi sind die idealen und

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gegen ein Protestantismusverständnis gerichtet, nach welchem die Vergemeinschaftung der Christusgläubigen in der Kirche als zweitrangiges Phänomen erscheint. Für den Protestantismus, dessen Theorie hier im Mittelpunkt stehen muss, ist deshalb festzuhalten: Die Kirche als Gemeinschaft derer, die an Christus und dadurch am gegenwärtigen Gottesreich teilhaben, gehört zum Wesen des christlichen Glaubens auch seiner evangelischen Form nach, steht sogar, wie eingangs zitiert wurde, „im Mittelpunkt aller Glaubensgedanken.“44 Nicht nur der Katholizismus, sondern auch der Protestantismus kennt somit Kaftan zufolge die Kirche als Glaubensgegenstand. Der Gehalt des Glaubens an die Kirche, wie das Apostolikum denn auch formuliert, ist der, dass die Vergemeinschaftung der religiösen Individuen untereinander, welche ihren Grund in der gemeinsamen Teilhabe am Auferstandenen hat, der göttlichen Zwecksetzung entspricht und mithin nur in ihr das Individuum Seligkeit erfährt. Umgekehrt formuliert: Die individuelle Teilhabe am Leben Gottes und damit das ewige Leben bringt mit sich, dass das Individuum zugleich in eine ideale Gemeinschaft eingestellt wird. Individuelle Heilserfahrung gibt es so gesehen im Christentum überhaupt nicht – beziehungsweise nur als Erfahrung, mit der die Erfahrung von Gemeinschaft einhergeht.45 Dass somit die Kirche dezidiert in die Wesensbestimmung des christlichen Glaubens auch seiner protestantischen Gestalt nach aufgenommen ist, entspricht der Ritschlschen Erweiterung des „protestantischen Prinzips“. Ritschl hat in der hierum kreisenden zeitgenössischen Debatte die vielfach und heftig angefochtene These vertreten, dass neben der Schrift und der Rechtfertigung aus Glauben – dem sogenannten formalen und materialen Prinzip des Protestantismus – unabdingbar die Kirche zur Bestimmung des genuin protestantischen Prinzips dazugehört.46 Der gravierende Unterschied zwischen der katholischen und der evangelischen Anschauung von der Kirche ist mithin an der gemeinsamen Überzeugung von der Kirche als Gegenstand des Glaubens auszuweisen. Kaftan tut dies, indem er dem Katholizismus attestiert, „die Kirche, die das Objekt ————— christlichen Grundwahrheiten des römischen Katholizismus.“ (A.a.O., 70; Hervorhebung im Original.) 44 Kaftan, Dogmatik, 616; vgl. auch ders., Kirche, 81. 45 Vgl. dazu Kaftan, Kirche, 85 (Hervorhebung im Original): „Es gehört zum Wesen des Christentums, daß es sich in Gottes Ratschluß und Heilstat nicht um einzelne als solche handelt, wie viele immer, sondern vielmehr um ein Reich des Geistes und der Geister.“ 46 Vgl. Arnulf von SCHELIHA, Protestantismus und Kirche. Albrecht Ritschls ekklesiologische Korrektur von Schleiermachers Protestantismusformel, in: A. von Scheliha/M. Schröder (Hg.), Das protestantische Prinzip in seiner Geschichte. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, 77–101; zur Debatte um das „protestantische Prinzip“ im 19. Jahrhundert und Ritschls Position vgl. ferner den gleichnamigen Abschnitt bei AXT-PISCALAR, Grund, 7–27.

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unseres Glaubens ist, mit der Kirche als Subjekt des kirchlichen Handelns“47 zu identifizieren. Diese kritische Beobachtung bietet ihm den Ausgangspunkt dafür, die klassisch gewordene Distinktion zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche umzubilden. Er ersetzt sie durch die Unterscheidung zwischen Kirche als Glaubensobjekt und Kirche als Handlungssubjekt. Damit kann Kaftan die Gefahr vermeiden, welche er mit der traditionellen Distinktion gegeben sieht: Die Bezeichnung der empirischen Kirche als Handlungssubjekt impliziert nicht, dass die geglaubte Kirche sichtbar gemacht wird. Von einem solchen Sichtbar-Machen ist nämlich aufgrund der Identifizierung der Kirche und des gegenwärtigen Gottesreichs nicht zu sprechen. Es gibt keine sichtbare Erscheinung der Kirche, ihres wahren Wesens, so lange diese Weltzeit dauert. Denn diese Zeit ist die des Glaubens und nicht des Schauens.48

Wird die so genannte sichtbare Kirche als Handlungssubjekt bezeichnet, so eröffnet dies eine dezidiert empirische Perspektive auf die Kirche als ein handelndes Kollektiv, welches, wie sich noch zeigen wird, als eine „Organisation“49 begriffen werden kann. Diese empirische Perspektive ist kategorial von der Perspektive des Glaubens zu unterscheiden, welche die Kirche als das gegenwärtige Gottesreich begreift, in welchem sich der einzelne Glaubende in der Heilserfahrung an den Anderen verwiesen sieht. Inwiefern allerdings auch die handelnde Kirche letztlich erst dem Glauben vollumfänglich durchsichtig wird, wird noch zu besprechen sein. ————— 47 Kaftan, Kirche, 82. 48 Kaftan, Dogmatik, 618. Zur Konzeption des Glaubens als auf unsichtbare Realität gerichtete Erkenntnisform vgl. ders., Ein neues Dogma, 8f sowie unten 4.2.2. Die Ablehnung der Rede von der unsichtbaren Kirche ist mithin folgendermaßen begründet: Kaftan begreift die Kirche als das gegenwärtige Gottesreich in der Zeit zwischen der Erhöhung des auferstandenen Jesus und der Vollendung der Welt im zukünftigen Gottesreich. Ihm zufolge gehört es zum Kern der christlichen Zukunftshoffnung, mit dieser Vollendung die Manifestation des Gottesreichs zu erwarten, womit aber zugleich die Zeit der Kirche als Wirklichkeit des Gottesreichs in der Gegenwart beendet ist. Damit geht die christliche Zukunftshoffnung nur insofern auf eine Versichtbarung der Kirche aus, als das Gottesreich „alles in allem“ (1 Kor 15,28) sein wird – womit aber zugleich verbunden ist, dass es die Kirche als in der Welt gegenwärtiges Gottesreich nicht mehr gibt. Eine Kirche, welche in dieser Welt sichtbar würde, ist insofern nicht Gegenstand christlicher Hoffnung. Solche Sichtbarwerdung wird aber durch die Charakterisierung der Kirche als unsichtbar impliziert, insofern die Eigenschaft der Unsichtbarkeit eine Negation der Sichtbarkeit ist. Damit erwächst die Versuchung, die Sichtbarwerdung der Kirche in irgendeiner Weise als ausstehend zu begreifen, oder es als Aufgabe zu fassen, eine solche Sichtbarwerdung in der Welt auszuweisen (vgl. Kaftan, Dogmatik, 618). Aber auch umgekehrt, das heißt von der so genannten sichtbaren Kirche aus führt die Distinktion zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zur Konfusion: Auch die so genannte sichtbare Kirche ist Kaftan zufolge unsichtbar, nämlich insofern auch von ihr zu gelten hat, dass sie Kirche proprie dictu, das heißt gegenwärtiges Gottesreich ist – allerdings in fragmentarischer und dem menschlichen Urteil entzogener Weise. 49 Kaftan, Kirche, 87. Auf den Organisationsbegriff in seiner Verwendung durch Kaftan ist unten 4.1.3 näher einzugehen.

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Es ist hervorzuheben, dass die kategoriale Unterscheidung im Kirchenbegriff keine Trennung zwischen Kirche als Handlungssubjekt und Kirche als Glaubenssubjekt bedeutet, sondern den Grund für eine positive und kirchentheoretisch konstruktive Verhältnisbestimmung beider legt. Dass eine solche Verhältnisbestimmung gefordert ist, ist das Resultat der von Kaftan gewiss wahrgenommenen Kritik Ritschls an der traditionellen Distinktion von sichtbarer und unsichtbarer Kirche.50 Die Distinktion zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche geht Ritschl zufolge auf Zwingli zurück, welcher in Fidei christianae expositio51 die Gemeinschaft der von Gott Erwählten aus dem Grunde als unsichtbar beschreibt, dass diese nur durch göttliches, nicht durch menschliches Urteil bestimmt wird. Sichtbar ist hingegen die Gemeinschaft derjenigen, die den christlichen Glauben bekennen. Zwingli beschreibt nun im Anschluss an die traditionelle Vorstellung von der irdischen Kirche als corpus permixtum52 die sichtbare Kirche als Versammlung von wahrhaft Glaubenden und das heißt Erwählten auf der einen Seite und solchen, die nur äußerlich den christlichen Glauben bekennen, auf der anderen Seite. Dies ist allerdings problematisch, weil hier ein Modell entworfen wird, nach welchem die unsichtbare Kirche als Gemeinschaft der Erwählten eine Teilsumme aus der sichtbaren Kirche als Kirche der Christusbekenner bildet, so dass beide sich wie konzentrische Kreise zueinander verhalten. Ritschl nun kritisiert an dieser Vorstellung, dass sie der „Identität des vorausgesetzten logischen Subjects, der Einen allgemeinen Kirche“53 verlustig geht. Deutlicher noch: Zwingli und jene, die ihm in der Distinktion der sichtbaren von der unsichtbaren Kirche folgen, denken „zwei Kirchen“.54 Dieses Problem wird dadurch noch verschärft, dass die Beziehung beider Kirchen zueinander keine innerlich notwendige ist.55 In anderen Worten: Der so genannten sichtbaren Kirche kommt keine positive Bedeutung zu für die so genannte unsichtbare Kirche, denn ihr Definiens ist allein die Tatsache, dass sie corpus permixtum ist. Im Bilde gesprochen bildet der äußere konzentrische Kreis, den die sichtbare ————— 50 Vgl. Albrecht RITSCHLs Aufsatz Ueber die Begriffe: sichtbare und unsichtbare Kirche, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Freiburg i.B./Leipzig 1893. Kaftan bezieht sich wohl auf diesen Aufsatz, wenn er in der Dogmatik (vgl. 618) beiläufig auf Ritschl verweist. 51 Geschrieben 1531, erstmals gedruckt 1536; auf dt. vgl. z.B. Huldreich ZWINGLI, Erklärung des christlichen Glaubens, in: ders., Hauptschriften 11: Zwingli, der Theologe III, bearbeitet v. R. Pfister, Zürich 1948, 295–354, hier bes. 333f. 52 Vgl. dazu HÄRLE, Art. Kirche VII. Dogmatisch, TRE 18, 1989, 277–317, bes. 286. 53 RITSCHL, Ueber die Begriffe, 69. 54 RITSCHL, Ueber die Begriffe, 69. 55 Vgl. RITSCHL, Ueber die Begriffe, 69: Zwingli denkt „gar kein anderes Verhältniß zwischen beiden, als daß die sichtbare Kirche die unsichtbare örtlich in sich schließt; an eine innere Nothwendigkeit gegenseitiger Beziehung beider wird nicht gedacht.“ Dieser Kritikpunkt (und überhaupt der Ritschlsche Aufsatz) ist die – unausgesprochene – Grundlage der Problematisierung der Distinktion von sichtbarer und unsichtbarer Kirche bei HÄRLE, Kirche, 287f.

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

Kirche um die unsichtbare bildet, einen defizitären Überschuss oder einen „Erdenrest“,56 der geradezu hinweggedacht werden muss, um die Anschauung der wahren Kirche zu gewinnen. Härle fasst diese Kritik Ritschls in programmatischer Weise zusammen: Damit droht aber die unverzichtbare positive Bedeutung der sichtbaren, leiblichen, äußerlichen Kirche für die Gemeinschaft der Glaubenden aus dem Blick zu geraten. Auf diese Gefahr hat die römisch-katholische Ekklesiologie immer wieder (und nicht grundlos) aufmerksam gemacht. Es gibt gute theologische Gründe für eine evangelische Ekklesiologie, sich diese Warnung zu eigen zu machen und sie zu beherzigen.57

Dass er diese „guten theologischen Gründe“ gesehen hat, bringt Kaftan zum Ausdruck, wenn er im genannten Aufsatz zur Kirche zwar zunächst auf der strikten Unterscheidung der Kirche als Objekt des Glaubens und der Kirche als Subjekt des Handelns insistiert,58 dann aber darauf hinzielt, ihren „engen Zusammenhang mit einander“59 zu entfalten: Die Kirche auf Erden hat ihren immanenten Zweck an der Kirche des Glaubens […]. [Sie] dient unmittelbar dem höchsten Zweck, verliert ohne diese Zweckbeziehung Sinn und Bedeutung. Und zwar dem höchsten Zweck durch die Erziehung zum ewigen Leben.60

Die eingeforderte positive Bestimmung des Verhältnisses der empirischen Kirche zu der geglaubten Kirche wird somit hier über den Begriff des Zwecks versucht. Die empirische Kirche hat nicht nur ihre Legitimation, sondern auch ihre Notwendigkeit darin, Mittel für den Zweck der geglaubten Kirche zu sein. Um nachzuvollziehen, inwiefern die handelnde Kirche Mittel für den Zweck der geglaubten Kirche ist, ist zwei Gedankenkomplexen nachzugehen. Kaftans Auffassung der Relation von empirischer und geglaubter Kirche als Zweckbeziehung impliziert, erstens, die Verhältnissetzung der empirischen Kirche zu anderen menschlichen Vergemeinschaftsformen oder Organisationen. Es ist mithin zu fragen, was das Spezifische der Organisation der empirischen Kirche ist (vgl. 4.1.3). Zweitens verweist Kaftans Verhältnissetzung von handelnder und geglaubter Kirche darauf, dass die Frage nach Grund und Auftrag der empirischen Kirche aus ihrer spezifischen Beziehung zur geglaubten Kirche abgeleitet wird. Dass dies ————— 56 HÄRLE, Kirche, 287. Vgl. Eberhard JÜNGEL, Credere in ecclesiam – Eine ökumenische Besinnung, ZThK 99, 2002, 177–195, der vor einem Verständnis der so genannten sichtbaren Kirche als eines „defiziente[n] Modus der Kirche“ warnt (a.a.O., 182). 57 HÄRLE, Kirche, 288. 58 Vgl. Kaftan, Kirche, 82: Es „wird für den Protestantismus [im Unterschied zum Katholizismus] die Formel gelten, daß beides strikte unterschieden, auseinandergehalten werden muß.“ 59 Kaftan, Kirche, 87. 60 Kaftan, Kirche, 88.

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letztlich auf die Frage nach dem Grund und Wesen des Glaubens verweist (vgl. 4.2), wird zu zeigen sein. 4.1.3 Die Kirche als Organisation Was das Verhältnis der Kirche als Organisation61 zu anderen Organisationen betrifft, so ist zunächst festzustellen, dass Kaftan ihre Bedeutung für die geglaubte Kirche und mithin für das Reich Gottes sowohl in der frühen Dogmatik als auch im späteren Aufsatz über die Kirche – also auch zu Zeiten eigenen kirchenleitenden Handelns – ausdrücklich relativiert. Dies geschieht, indem die Organisation Kirche in bestimmter Perspektive auf eine Ebene mit anderen Sozialgebilden wie zuvorderst Familie und Staat gestellt wird. Dies ist in Kaftans Auslegung des Reichgottesgedankens, genauer noch: in der im vorhergehenden Kapitel dargestellten Ethik angelegt. Das höchste Gut des Gottesreichs wird im moralischen Vollzug, das heißt in der Orientierung am Gottesreich als oberstem Ideal, angeeignet. Von dieser Konzeption her ist jedes menschliche Sozialgebilde, deren Mitglieder ihr Handeln untereinander durch das sittliche Ideal des Gottesreichs bestimmt sein lassen, als Ort solcher Heilsaneignung zu verstehen. Und in der Tat formuliert Kaftan in der Dogmatik die dezidiert dem katholischen Kirchenbegriff entgegen gesetzte Überzeugung, dass die empirische Kirche nicht der exklusive Ort solcher Aneignung im sittlichen Vollzug ist: Wir (Protestanten) […] wissen, dass das Evangelium d.h. der Glaube, der das Evangelium sich angeeignet hat, die das ganze Leben beherrschende Macht sein soll, und

————— 61 Kaftan selber verwendet den Organisationsbegriff selten (vgl. z.B. ders., Neutestamentliche Theologie, 151). Er spricht aber in der Dogmatik definitorisch von der „kirchlich organisirte[n] Christenheit“ (a.a.O., 622; Hervorhebung von C.C.), um diese von der „Christenheit auf Erden im umfassenden Sinn“ (ebd.) zu unterscheiden. Damit ist es aber in seinem Sinne, den Organisationsbegriff auf sein Verständnis der empirischen Kirche anzuwenden. Dies bestätigt sich darin, dass der Organisationsbegriff in der sich an Kaftans Vortrag anschließenden Aussprache auf dem Zweiten Deutschen Evangelischen Kirchentag 1921 wiederholt verwendet wird. Vgl. Verhandlungen des 2. Deutschen Evangelischen Kirchentages 1921, Stuttgart 11.–15.IX.1921, hg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, Berlin o.J. [1921], z.B. 141, 142, 150, 153, 154, 155. Kaftan hatte zu der „neue[n] Aufgabe, die der evangelischen Kirche aus der von der Revolution proklamierten Religionslosigkeit des Staates erwächst“, vorgetragen. Wenn im Folgenden von „Organisation“ gesprochen wird, um Kaftans Verständnis der Kirche als Subjekt des Handelns darzustellen, so ist mit jenem Begriff eine dauerhafte menschliche Vergemeinschaftungsform gemeint, welche sich Ziele setzt, die handelnd zu erreichen sind (vgl. zum Begriff der Organisation auch Eilert HERMS, Religion und Organisation. Die gesamtgesellschaftliche Funktion von Kirche aus der Sicht der evangelischen Theologie, in: Kirche und Gesellschaft. Analysen – Reflexionen – Perspektiven, hg. v. W. Härle, Stuttgart 1989, 59–86, bes. 60–66).

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

dass die Bethätigung des Glaubens [im sittlichen Handeln] auf dem nicht unmittelbar kirchlichen Gebiet oft wichtiger ist als die in der Kirche.62

In Ansätzen liegt hier eine Theorie gesellschaftlicher Ausdifferenzierung vor, nach welcher entgegen der Gesellschaftskonzeption nicht nur mittelalterlicher Provenienz, sondern noch der altprotestantischen Dogmatik die sittliche Funktion der Gemeinschaftsformen Staat und Familie nicht in die Kirche einbefasst werden. Vielmehr ist die empirische Kirche als Gemeinschaft neben andere Gemeinschaftsformen wie eben Staat und Familie gestellt.63 Freilich unterscheidet sich Kaftans Gesellschaftskonzeption in einem entscheidenden Punkt von modernen pluralistischen Theorien. Er formuliert noch den Anspruch, dass die Gesellschaft als Ganze in idealer Perspektive eine christliche sein soll, dass mithin sowohl die Kirche als auch Staat und Familie „Ordnungen und Funktionen der Christenheit“64 sein können und sollen. Dieser Gedankengang hat die Pointe, dass eigentlich „die Christenheit auf Erden im umfassenden Sinn“65 als empirische Kirche zu bezeichnen ist, während die „empirische[…] kirchliche Organisation“66 wiederum nur ein Teilmoment der solchermaßen entgrenzten empirischen Kirche ist. Diese Konzeption impliziert – was zunächst widersprüchlich scheinen mag, aber nicht ist – sowohl eine dezidiert antikatholische als auch eine ökumenische Pointe. Zum einen wendet sie sich gegen die katholische Auffassung, die hierarchische kirchliche Organisation mit ihren kultischen und sittlichen Regelungen sei „die alles umfassende und alles einschliessende Form des Christenthums in der Welt“.67 Zum anderen bedeutet die Entschränkung der ————— 62 Kaftan, Dogmatik, 621 (Klammer im Original). Vgl. a.a.O., 622: „[W]ir empfinden, dass ein Unterschied zwischen Christenthum und (empirischer) Kirche besteht, dass nicht alles, was zum Christenthum gehört, unter diese Kirche befasst werden kann.“ 63 Vgl. dazu auch Kaftan, Kirche, 87: „Neben ihr [der Kirche] stehen unter denselben Menschen, in demselben Volk andere Ordnungen wie die Familie und vor allem der Staat“. 64 Kaftan, Dogmatik, 621. Vgl. zur Forderung einer christlichen Prägung der gesellschaftlichen Ordnung auch ders., Das Gewissen, 170f; ders., Ist Religion Privatsache?, 498 und 509f; ders., Religion und „Gesellschaft“, 2–4. – Mithin ist hervorzuheben, dass Kaftans beispielsweise im Vortrag zu Christenthum und Nationalität vorgetragene Kritik an der Verquickung von Christentum und Nation nicht impliziert, die Nationalität spiele für das Glaubensleben keine Rolle. Im Gegenteil fasst er die Nationalität als „eine erweiterte Individualität“ (a.a.O., 73) und meint, die (sittliche) Aneignung des christlichen Glaubens dürfe und müsse beeinflusst werden durch die die Nation bestimmende Kultur und Sitte. Im Anschluss hieran trägt er dann die Forderung vor, den universalen Anspruch der christlichen Religion mit der „Liebe zum deutschen Volksthum“ darin zu vereinen, „daß wir es unser höchstes Anliegen sein lassen, unserem Volk den christlichen Glauben zu erhalten“ (a.a.O., 77). 65 Kaftan, Dogmatik, 622. Vgl. ders., Das sittliche Leben, 100f (Hervorhebung im Original): Das Evangelium hat die „Weltkirche in der Geschichte aufgerichtet und in derselben die abendländischen Völker zu dem Ganzen einer sittlichen Gesellschaft zusammengefügt“. 66 Kaftan, Dogmatik, 622. 67 Kaftan, Dogmatik, 621.

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Das Wesen der Kirche

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empirischen Kirche auf die Christenheit auch außerhalb einer bestimmten Organisationsgestalt der Kirche eine Relativierung der konfessionellen Unterschiede. Wenn Kaftan an anderer Stelle aber wiederum daran festhält, dass die Organisation der Kirche „im eminenten Sinn als Mittel der wesentlichen Kirche“68 zu bezeichnen ist, so fragt sich in Rückbesinnung auf die im Anschluss an Kant vorgetragene These, „die einfachen sittlichen Pflichten“ seien „die obersten Religionspflichten des Christen“,69 dreierlei. Zum einen ist zu klären, inwiefern sich die Kirche kategorial von anderen Sozialgebilden innerhalb der christlichen Gesellschaft unterscheiden lässt. Dies ist zum zweiten zugleich die Frage nach der besonderen Beziehung der Organisation der Kirche zur geglaubten Kirche und damit dem Reich Gottes. Und schließlich ist zu bedenken, inwiefern die organisierte Kirche aufgrund jener Beziehung eine konstitutive Bedeutung für die so genannte „Christenheit auf Erden“ hat. Es wird sich zeigen, dass es die traditionell reformatorische Lehre von den notae ecclesiae ist, mithin die Lehre von der rechten Evangeliumsverkündigung und evangeliumsgemäßen Sakramentsdarreichung, welche es Kaftan ermöglicht, das Handeln der Kirche als Organisation auf andere Sozialgebilde wie Familie und Staat in konstitutiver Weise zu beziehen – mit anderen Worten: das sittliche Handeln und damit den Vollzug des Glaubens in Familie und Staat letzten Endes im Handeln der empirischen Kirche zu gründen. Die genannten drei Fragen verweisen zurück auf die zum Ende des letzten Abschnitts zitierte These Kaftans, im Unterschied zu anderen menschlichen Gemeinschaften sei die geglaubte Kirche und damit aber das Reich Gottes der „immanente[…] Zweck“ der empirischen Kirche, was sogleich durch die These erläutert wird, die empirische Kirche „diene[…] unmittelbar dem höchsten Zweck“70 des Gottesreichs. Damit soll zugleich gesagt sein, dass die Kirche niemals Selbstzweck sein kann;71 allerdings vermeidet Kaftan die Problematik jenes Begriffs, indem er stattdessen von einer Stufung von Zwecken ausgeht, die sich eine Organisation setzen kann. Er führt dabei die Familie und den Staat als prominente Exempel menschlicher Gemeinschaftsformen vor Augen, welche mit der empirischen Kirche gemeinsam haben, dass auch sie „letzten Endes dem Reich Gottes und damit der Kirche des Glaubens dienen.“72 Die Wendung „letzten Endes“ ist hier ————— 68 Kaftan, Dogmatik, 623. 69 Kaftan, Dogmatik, 621 u.ö. 70 Beide Zitate: Kaftan, Kirche, 88 (Hervorhebungen von C.C.). 71 Vgl. Kaftan, Kirche, 88, wo Kaftan ausdrücklich hervorhebt, dass die Kirche „rein Mittel, nichts als Mittel“ ist. 72 Kaftan, Kirche, 87. Zur ethischen Bedeutung der Familie vgl. ders., Ehe und Familie. In seinem Vortrag vor dem Evangelisch-Sozialen Kongress von 1893 (vgl. ders., Christenthum und

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

bewusst verwendet: Familie und Staat haben ihren näheren Zweck im natürlichen Leben, das heißt: entspringen direkt dem Verlangen nach Leben, welches Kaftan zufolge die entscheidende anthropologische Konstante ist, wie im 2. Kapitel dargestellt.73 In ihren geschichtlich vielfältigen Ausprägungen wächst ihnen nun jeweils eine andere sittliche Gestalt zu – im Kulturbereich des Christentums ist es idealiter eben die Hinordnung auf das Reich Gottes als oberstes sittliches Ideal. Sie sind aber in all ihren geschichtlichen Ausprägungen immer Familie und Staat, insofern ihr jeweiliges Wesen sich aus ihrer Funktion für das natürliche Leben ergibt, nicht aus der jeweiligen sittlichen Zwecksetzung. Erst vermittels jener Funktion sind sie in der christlich geprägten Gesellschaft dem Zweck des Gottesreichs zugeordnet. Das Wesen der empirischen Kirche hingegen würde alteriert, mithin wäre die empirische Kirche nicht mehr Kirche, wenn sie sich nicht dem Zwecke des Reichs Gottes verschriebe. Im Unterschied zu Familie und Staat verliert die empirische Kirche ohne jene Zweckbeziehung, wie oben zitiert, „Sinn und Bedeutung“. Kaftan erhebt für die empirische Kirche mithin den Anspruch, dass sie eine Organisation menschlicher Handlungssubjekte ist, welche sich zuvorderst dem Zweck der geglaubten Kirche und damit dem Reich Gottes verschrieben weiß und alle weiteren Zwecksetzungen diesem einen Zweck unterordnet. In dieser Gedankenführung ist zugleich die für die Frage nach dem Wesen der Kirche in beiderlei Gestalt entscheidende Besinnung auf den Ursprung oder den Konstitutionsgrund der Kirche angezeigt. Kaftan meint, Familie und Staat „stammen aus der Schöpferordnung Gottes“,74 was nichts anderes heißen soll, als dass sie eine Funktion des natürlichen, in religiöser Perspektive gesprochen geschöpflichen Lebens sind, mithin in diesem gründen. Familie und Staat finden ihren Grund mithin in Anforderungen, welche das natürliche Leben in der Welt an menschliche Sozialität stellt und sind in ihrem Wesen deshalb empirisch beschreibbar. Die Kirche auch in ihrer empirischen Gestalt hingegen hat ihren Grund in der göttlichen Bestimmung der Welt zur Vollendung im Reich Gottes. Das heißt aber, dass die empirische Kirche insofern von anderen Sozialgebilden abzuheben ist, als sie „keine Naturgrundlage“ hat, sondern „aus der geschichtlichen Gottesoffenbarung“75 stammt. Es gilt damit auch von der Kirche als Handlungssubjekt, was Kaftan andernorts von der geglaubten Kirche sagt,

————— Wirthschaftsordnung) führt Kaftan die Wirtschaftsordnung als weiteres Teilsystem innerhalb der Gesellschaft ein, welches dem Teilsystem der empirischen Kirche nebengeordnet ist. 73 Vgl. oben Kapitel 2.2.2. 74 Kaftan, Kirche, 88 (Hervorhebung im Original). 75 Kaftan, Kirche, 88.

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Das Wesen der Kirche

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nämlich, dass es ihr Wesen ausmache, „aus der Offenbarung in Jesus Christus geschichtlich herauszuwachsen.“76 Hierin liegt die Besonderheit der empirischen Kirche als Organisation, welche sie von anderen Organisationsformen wie Verein und Staat sowie dem Sozialgebilde der Familie unterscheidet. Der Unterschied kann am Organisationsbegriff ausgewiesen werden, näherhin an der Bedeutungsvarianz, welche diesem Begriff seit seinem Aufkommen in der Soziologie zukommt. So kann der Begriff Organisation prozessual, funktional, struktural und institutionell verstanden werden.77 Für die Bezeichnung der empirischen Kirche als Organisation ist entscheidend, dass sie in prozessualer und funktionaler Hinsicht nicht als menschliche Organisation – und damit möglicherweise gar nicht als Organisation zu bezeichnen ist. Wird Organisation prozessual verstanden, das heißt als Tätigkeit, aus welcher ein Sozialgebilde hervorgeht, so ist von der empirischen Kirche zu sagen, dass sie ihrem Selbstverständnis nach keine menschliche Organisation ist. Ihre Entstehung schreibt sie selber der Offenbarung Gottes in Christus und damit göttlichem, nicht menschlichem Handeln zu. Wird Organisation funktional verstanden, das heißt als Aufgabe im Rahmen eines größeren Ganzen, so ist von der empirischen Kirche ihrem Selbstverständnis nach zu sagen, dass ihr Zweck und mithin ihre Aufgabe kein von Menschen gesetzter Zweck ist, sondern das in der Welt gegenwärtige Gottesreich. Nur in strukturaler und in institutioneller Hinsicht ist die empirische Kirche ihrem Anspruch nach eine menschliche Organisation. Ihre auf relative Dauer angelegte Struktur gibt sich die empirische Kirche selber, indem sie ihren Aufbau und ihre Abläufe organisiert. Und mithin ist sie als Institution, das heißt als konkretes zielgerichtetes Sozialgebilde eine Organisation menschlicher Individuen. Um die These Kaftans zu erhellen, dass die empirische Kirche zwar menschliche Organisation ist, aber nicht in menschlicher Organisation gründet, und inwiefern dies die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass sie einzig dem Zweck der geglaubten Kirche dient, ist somit zu klären, in welcher Weise auch die empirische Kirche in der Gottesoffenbarung in Christus gründet.

————— 76 Kaftan, Dogmatik, 619. 77 Vgl. die Einführung in den Organisationsbegriff bei Martin ABRAHAM/Günter BÜSCHGES, Einführung in die Organisationssoziologie, Studienskripten zur Soziologie, Wiesbaden 32004, 19–29.

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

4.2 Der Grund der Kirche und der Glaube Der Grund der Kirche und der Glaube

Die Rede vom Herauswachsen78 der Kirche aus der geschichtlichen Gottesoffenbarung verweist zurück auf die Beobachtung, dass Kaftan den Offenbarungsbegriff im religionstheoretischen Zugriff als Mitteilung des höchsten Guts reformuliert.79 Von dieser religionstheoretischen Grundbestimmung aus ist in Anwendung auf die christliche Religion zu folgern: Die geschichtliche Gottesoffenbarung, aus welcher die Kirche beiderlei Gestalt herauswächst, ist die Vergegenwärtigung des Gottesreichs durch Jesu Verkündigung und Person, und die Mitteilung des Gottesreichs in der Teilhabe am Auferstandenen und Erhöhten. Die Ekklesiologie nun ist der Ort, die Bedingung der Möglichkeit solcher Teilhabe zu explizieren. Als solcher ist sie zugleich der Ort dafür, auf das Wesen des Glaubens zu reflektieren. Denn die Teilhabe am Gottesreich als geistiger Realität wird, wie bereits angedeutet, in der so genannten „Zeit der Kirche“80 im Glauben – nicht im Schauen – bewusst. Mithin ist es der Glaube an das in der Gemeinschaft mit dem Auferstandenen wirklich werdende Gottesreich, in welchem die Wirklichkeit der Kirche gegeben ist. Dass die Kirche der zentrale Glaubensgegenstand ist, heißt demnach nicht lediglich, dass sie ein Objekt des Glaubens ist, sondern dass sie mit dem Glauben allererst entsteht. Diese These ist die notwendige Konsequenz der reformatorischen Konzeption der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden und hat insbesondere für die Frage nach dem Verhältnis von empirischer zu geglaubter Kirche und für die Bestimmung des kirchlichen Auftrags entscheidende Konsequenzen. 4.2.1 Die Gleichursprünglichkeit von Kirche und Glaube Für die Frage nach dem Grund der Kirche ergibt sich, dass sie gleichbedeutend ist mit der Frage nach dem Ursprung des Glaubens. Es handelt sich mithin um die Frage der Aneignung der geschichtlichen Gottesoffenbarung und das heißt um die Frage der Vermittlung des höchsten Guts des Gottesreichs. Diese Frage nun stellt sich nicht erst durch den Fortgang der Geschichte nach Jesu Tod und damit angesichts der Problematik des „garstigen breiten Grabens“,81 welchen die nicht zu Jesu Zeiten Lebenden überspringen müssten, um Gemeinschaft mit Jesu Christus zu erleben. Denn ————— 78 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 619. 79 Vgl. dazu oben Kapitel 2.2.4 und 2.3 sowie weiter unten 4.2.6. 80 Hans CONZELMANN, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen 4 1962, 5 u.ö. 81 Gotthold E. LESSING, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: ders., Sämtliche Werke 13, hg. v. K. Lachmann/F. Muncker, Leipzig 1897, 7.

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Der Grund der Kirche und der Glaube

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„genau genommen“82 standen auch die Jünger Jesu vor einem garstigen Graben, da sie des in Jesu Verkündigung und Person verwirklichten Guts nicht bereits zu dessen Lebzeiten teilhaftig wurden. In den synoptischen Evangelien stellt sich dies als Unverständnis der Jünger dar, welches erst durch die Erscheinungen des Auferstandenen in „volle Erkenntniss“83 transformiert wurde. Kaftan greift deshalb schon für die Beschreibung des Jüngerglaubens auf die Pneumatologie zurück, welche der „gemeinchristliche[n] Tradition“84 als Lehre von der Vermittlung des Heils gilt: Erst als nach seinem Sterben und Auferstehen der Geist ausgegossen ward, haben [Jesu] Jünger die volle Erkenntniss und Kraft gewonnen.85

Das heißt, es gehört zum Wesen der christlichen Gottesoffenbarung, dass es der „Geistesmittheilung“86 bedarf, um an ihr glaubend teilzuhaben. Das heißt weiter, dass die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen, welche gleichbedeutend ist mit der Zugehörigkeit zur Kirche als gegenwärtigem Gottesreich, wesentlich geistvermittelt ist. Diese Konzeption hat ihre Pointe darin, dass Kaftan solchermaßen die paulinische und die lukanische Begründung der Kirche als Gemeinschaft des Gottesreichs zusammen zieht. Während Paulus die Kirche christologisch begründet, indem er sie als Gemeinschaft derjenigen bestimmt, welche am Auferstandenen teilhaben, fundiert Lukas die Kirche pneumatologisch in der Mitteilung des heiligen Geistes.87 Kaftan zieht diese Begründungsmodelle insofern zusammen, als er die Teilhabe am Auferstandenen als vom Geist vermittelte begreift. Damit entspricht er der johanneischen Vorstellung des Geistwirkens als die Erkenntnis des Christus vermittelnd.88 Ihrem Wesen nach ist die Kirche aber demnach die Gemeinschaft des Geistes […], die Schöpfung Gottes unter den Menschen durch Jesus Christus im heiligen Geist. Wo diese Kirche ist, da ist der Geist, und wo der Geist ist, da ist die Kirche in diesem eigentlichen und wahren Sinn.89

Von den Jüngern und den ersten Christen unterscheiden sich die Christen späterer Generationen mithin nicht darin, dass sie der Geistmitteilung bedürfen, um am gegenwärtigen Reich Gottes und damit der Kirche teilzuha————— 82 Kaftan, Dogmatik, 625. 83 Kaftan, Dogmatik, 626. 84 Kaftan, Dogmatik, 625. 85 Kaftan, Dogmatik, 626. 86 Kaftan, Dogmatik, 626. 87 Vgl. z.B. den paulinischen Leib-Christi-Gedanken (1 Kor 12,12–27; Röm 12,4f u.ö.) mit Apg 2 sowie dazu PANNENBERG, ST III, 25–33. 88 Vgl. z.B. Joh 7,39; 14,16f. Zur Bedeutung der johanneischen Theologie für Kaftans Denken vgl. oben Kapitel 2.3.4. 89 Kaftan, Dogmatik, 617.

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

ben. Der Unterschied besteht darin, „woran diese Mitteilung sich anschließt, wodurch sie bewirkt wird.“90 Sind es in der frühen Christenheit die Erscheinungen des Auferstandenen, welche der Geist zum Erlebnis der Teilhabe am Gottesreich macht, so ist es nach der Erhöhung des Auferstandenen „das Wort von Jesus Christus“,91 an welchem und durch welches der Geist wirkt. Die pneumatologische Begründung der Kirche wird von Kaftan somit worttheologisch ausgedeutet. Jeder worttheologisch begründeten Ekklesiologie stellt sich die Frage nach der Unterscheidung des Wortes Gottes vom Menschenwort, insofern sie die Frage nach der wahren Kirche an der Wirklichkeit des Gottesworts beantwortet sein lässt. Kaftan schließt sich in seiner Beantwortung dieser Frage an das reformatorische sola scriptura an, mithin an die Überzeugung, dass auf noch näher zu bestimmende Weise die Heilige Schrift das Gotteswort ist. Damit wird aber – und dies ist entscheidend für die Frage nach der wahren, das heißt in der Christusoffenbarung gegründeten Kirche – die Vorstellung vom Gotteswort in zirkulärer Weise an das Geistwirken zurückgebunden. Die Konsequenz ist, wie sich sogleich zeigen wird, dass die Frage nach der Unterscheidung von Gotteswort und Menschenwort nur im Glauben beantwortet werden kann. Der Ansatz beim sola scriptura setzt nämlich eine Problematik aus sich heraus, für welche die nachreformatorische Kirchen- und Dogmengeschichte das Anschauungsmaterial bietet. Kaftan zufolge wird in der altprotestantischen Orthodoxie das Schriftprinzip in die so genannte Inspirationslehre verkehrt. Der Kern dieser Lehre ist in all ihren Ausprägungen die Identifikation von „Buchstaben der Bibel“92 und Wort Gottes. Den entscheidenden Einwand, welchen Kaftan hiergegen vorträgt ist, dass auf diese Art und Weise die geschichtliche Entstehung der Schrift zugunsten einer „abstrakten und ungeschichtlichen“93 Betrachtungsweise geleugnet wird. Entscheidend ist dieser Einwand deshalb, weil er zeigt, inwiefern für Kaftan historische Betrachtungsweise und Glaube nicht in Konflikt, sondern in unauflöslicher Beziehung miteinander stehen. Es ist seines Erachtens Luthers Verdienst, diese Beziehung herausgestellt zu haben.94 Wenn die Schrift als Wort Gottes ausgelegt werden soll, so ist sie geschichtlich zu verstehen, weil ihr „menschlich geschichtlich[er] Ursprung […] einfach die wirkliche Beschaffenheit der wirklichen heiligen ————— 90 Kaftan, Dogmatik, 626 (Hervorhebungen von C.C.). 91 Kaftan, Dogmatik, 626. 92 Kaftan, Dogmatik, 630. 93 Kaftan, Dogmatik, 631. 94 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 60 (im Original z.T. hervorgehoben): „Unzweifelhaft war es nun ein richtigeres geschichtliches Verständniss der Schrift, aus welchem Luther die Predigt vom Glauben schöpfte.“

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Der Grund der Kirche und der Glaube

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Schrift“95 ist. Als geschichtlicher Urkunde kommt der Schrift ihr konstitutiver Wert für den Glauben zu, weil sie als solche von der geschichtlichen Gottesoffenbarung in Christus zeugt. Es ist mithin nicht der biblische Buchstabe, der Wortlaut der Schrift, sondern ihr Inhalt, welcher als Wort Gottes zu verstehen ist, und zwar ihr Inhalt, insofern er die geschichtliche Gottesoffenbarung zum Ausdruck bringt. Dies gilt nun aber nicht lediglich für den Ursprung der Schrift, sondern auch für ihre Rezeption. Die Schrift ist insofern Wort Gottes, als sie „in lebendiger geschichtlicher Betätigung“96 von der Gottesoffenbarung zeugt – das heißt insofern sie dem Rezipienten zum Wort Gottes je und je wird. Die biblischen Schriften „bringen den Leser in eine lebendige Beziehung zu der Wirklichkeit […], von der sie berichten“.97 Es ist ihre „Unmittelbarkeit und innere Wahrheit […], durch die sie sich gerade je und je als das Wort Gottes am Glauben der Christen“98 erweisen. Diese Vorwegnahme eines entscheidenden Gedankens der Barthschen Wortgotteslehre99 ist mithin Kaftan zufolge genuin lutherische Überzeugung, insofern es wie bereits bedeutet Luthers Verdienst war, die geschichtliche Dimension der Schrift als Komplement des Glaubens zu fassen.100 Gerade aufgrund des Verständnisses der Schrift als je und je zum Wort Gottes werdender geschichtlicher Urkunde wird nun aber das trotz aller Kritik berechtigte Anliegen der orthodoxen Inspirationslehre mitgeführt: die Einsicht darin, „dass die Schrift Geist und Leben aus Gott ist.“101 Denn es ist der Geist Gottes, welcher die Schrift je und je zum Wort Gottes werden lässt, indem sie durch Geistmitteilung zum Gegenstand wird, an welchem der Glaube an den Auferstandenen und Erhöhten entsteht. Geist und Wort Gottes stehen dabei in wechselseitigem Abhängigkeitsverhältnis zueinander, wie Kaftan erneut im Anschluss an Luther zu bedenken gibt.102 Weder bedeutet das Hören oder Lesen der Schrift notwendigerweise, dass sie als Wort Gottes Glauben wirkt – dies wäre eine magische Auffassung des Heilsmittels, wie es der katholischen Sakramentenlehre entspricht. Noch ————— 95 Kaftan, Dogmatik, 62f (im Original z.T. hervorgehoben). 96 Kaftan, Dogmatik, 632. 97 Kaftan, Dogmatik, 633. 98 Kaftan, Dogmatik, 634. 99 Vgl. Karl BARTH, KD I,1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, Zürich 1932, §4, 2. 100 Zur Bedeutung Luthers für die historische Bibelkritik vgl. Gottfried HORNIG, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Göttingen 1961. 101 Kaftan, Dogmatik, 634. 102 Vgl. Martin LUTHERs Gedanken vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes, welches das Wort der Verkündigung in den Herzen der Menschen als Gotteswort beglaubigt; vgl. z.B. an besonders prominenter Stelle: ders., De servo arbitio. 1525, WA 18,653,13ff, auch a.a.O., 695,26.

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

kann der Geist ohne das Gotteswort als verbum externum Glauben wirken – dies wäre eine schwärmerische Auffassung der Entstehung des Glaubens. Allerdings bedeutet das pneumatologisch verstandene sola scriptura nun gerade nicht, dass nur die Schrift ein solches verbum externum repräsentiert: Auch die kirchliche Verkündigung und Unterweisung gehört zu diesem Wort Gottes. Personen, die aus Gottes Geist wiedergeboren sind, und Institutionen, die aus der Offenbarung stammen, werden für andere zum Wort Gottes und zum Mittel, wodurch die Offenbarung wirkt. Es lässt sich da keine äußerliche Schranke ziehen.103

Predigt und Katechese, Vorbilder des Glaubens und „Institutionen, die aus der Offenbarung stammen“ wie diakonische Einrichtungen, mithin alle Gestaltformen kirchlichen Lebens können zum Wort Gottes werden, da sie – und dies impliziert die Voranstellung der Schrift, wie sie auch sachlich in deren direktem Bezug zur Christusoffenbarung gegeben ist – wesentlich als Schriftauslegung zu begreifen sind. Es ist an Kaftans Entgrenzung der empirischen Kirche in Richtung einer nicht nur in der Organisation der Kirche befassten Christenheit zu erinnern,104 um auch das Zitatende zu begreifen: Letztlich kann jede Institution, jede Person und jedes Ereignis zum Wort Gottes werden, wenn und indem der Inhalt der Schrift zur Wirkung gebracht wird. Über diese Konzeption beansprucht Kaftan, auf der einen Seite die Bedeutung der Schrift als „Wort Gottes im eminenten Sinn“105 herauszustellen und auf der anderen Seite der Gefahr eines „einseitigen gefährlichen Biblizismus“106 zu wehren. Die Kirche entsteht mithin je und je dort, wo der Geist die im weitesten Sinne verstandene Schriftauslegung zum Wort Gottes macht. Das heißt aber: wo die Mitteilung des höchsten Guts des Gottesreichs glaubend angeeignet wird. Diese Gleichursprünglichkeit von Glaube und Kirche stellt Kaftan auch in seiner Sakramentenlehre als wesentlichen Bestandteils der Theorie kirchlicher Verkündigung heraus, indem er jeweils bereits im Leitsatz der betreffenden Paragraphen festhält: Bedeutung haben Taufe und Abendmahl „nur für den Glauben“.107 Die Taufe hat ihre Bedeutung darin, „dem Einzelnen die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde und die Theilnahme an ihrem Heilsgut als von Gott auch ihm persönlich bestimmt zu verbürgen“,108 das Abendmahl darin, „die Feiernden der persönlichen Theilnahme am Heilsgut dieser Gemeinde objektiv zu vergewissern“.109 Hier kündet sich die Pointe der Kaftanschen Sakramentenlehre an, welche ————— 103 104 105 106 107 108 109

Kaftan, Dogmatik, 635. Vgl. oben 4.1. Kaftan, Dogmatik, 635; vgl. a.a.O., 626. Kaftan, Dogmatik, 636. Kaftan, Dogmatik, 636 und 643. Vgl. schon a.a.O., 627. Kaftan, Dogmatik, 636. Vgl. zur Taufe weiter a.a.O., 535f. Kaftan, Dogmatik, 643.

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Der Grund der Kirche und der Glaube

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zugleich aufnimmt, was er über die Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Kirche denkt: Auch die Sakramente machen die Kirche nicht sichtbar,110 obwohl sie in ihrem Vollzug selber sichtbar sind. Ihre eigentliche Bedeutung ist ebenso wenig wie die der handelnden Kirche empirischer Beobachtung zugänglich – sie erschließt sich „nur für den Glauben“. Es findet auch im Vollzug von Taufe und Abendmahl „keine Versichtbarung des Geglaubten“111 statt. Diese Zuspitzung auch der Lehre von den Sakramenten auf den Glauben kommt als Umbildung lutherischer Überzeugung von der Prävalenz des Wortes zu stehen. Als sinnlichen Vollzügen kommt den Sakramenten ihre soteriologische Bedeutung nur durch das sie begleitende Wort der Verkündigung zu, welches dem Glaubenden zum Wort Gottes wird. Kaftan zufolge ist die gemein evangelische Auffassung: [A]ls das Wesentliche im Sakrament wird die mit der sinnlichen Handlung verbundene Verheissung Christi betont.112

Die genuin lutherische Auffassung der Sakramente, welche mithin gegen die katholische Ansicht ihres Wirkens als ex opere operato gewendet zu verstehen ist,113 wurde Kaftan zufolge aber in der altprotestantischen Lehrbildung verdunkelt, insofern sie die missverständliche Distinktion zwischen objektiver und subjektiver Heilslehre auf die Sakramente anwendet.114 In Taufe und Abendmahl werde das „durch Christus objektiv verwirklicht[e]“115 Heil „an die Einzelnen herangebracht“.116 Dieses Verständnis wird in der Vorstellung der materia coelestis anschaulich, als welche Wasser sowie Brot und Wein bezeichnet werden können.117 Das von Christus erwirkte Heil wird in Wasser, Brot und Wein „als himmlische Materie“118 jenen, die das Sakrament empfangen, „auf eine mysteriöse übersinnliche“119 Weise mitgeteilt. Die Kirche als Sakramentswalterin erscheint hier in gleichsam katholisierender Weise als heilsvermittelnde Anstalt. Kaftans Kritik an einem solchen Sakramentsverständnis spiegelt sich in der Verwendung der Begriffe „mysteriös“ und „übersinnlich“. Sie bilden im Rahmen seiner Sakramentskonzeption die Gegenbegriffe zu dem Begriff des Wortes. Zwar ist auch und gerade dem evangelischen Verständnis nach ————— 110 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 623: Es „darf nicht in den Gnadenmitteln eine Versichtbarung der Kirche gesucht werden. Das thun heisst in die Bahnen des Romanismus einbiegen.“ 111 Kaftan, Dogmatik, 623. 112 Kaftan, Dogmatik, 627. 113 Vgl. z.B. Can. 8 des Dekrets über die Sakramente des Konzils von Trient (DH 1608). 114 Vgl. dazu auch Kaftan, Dogmatik, 526 zur altprotestantischen Lehre des ordo salutis. 115 Kaftan, Dogmatik, 526. 116 Kaftan, Dogmatik, 526. 117 Vgl. SCHMID, Dogmatik, 397–399. 118 Kaftan, Dogmatik, 639. 119 Kaftan, Dogmatik, 640.

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daran festzuhalten, dass das Heil nicht vom Glauben abhängt, sondern als von Gott gewirkte Gegenwart des Reichs Gottes eine vom Glauben unabhängige Realität ist. Gerade in der Unabhängigkeit des Heils vom Glauben liegt, wie im nächsten Abschnitt zu entfalten ist, seine Bedeutung für den Glauben.120 Umgekehrt aber wird die Teilhabe am Heil, welche durch die Sakramente verbürgt, und das heißt: vergewissert wird, nur im Glauben bewusst. Dies bedeutet auch, und darauf ist ebenfalls im nächsten Abschnitt einzugehen, dass die Objektivität der Wirklichkeit Gottes nur dem Glauben verständlich ist, dass aber umgekehrt der Glaube wesensmäßig auf solche Objektivität ausgeht. Es ist nun das Wort, welches das Sakrament zu jener Verbürgung und Vergewisserung des Heils für den Glauben macht. Das heißt nicht in mysteriöser oder übersinnlich-magischer Weise „wirkt“ das Sakrament, sondern weil das Wort den Zusammenhang des Sakraments mit der Offenbarung Gottes in Christus bewusst macht. Damit intendiert Kaftan aber keine Engführung von Taufe und Abendmahl als Gedächtnishandlungen, welche sich einzig dem Verstand erschließen. Vielmehr bedeutet die Hinordnung der Sakramente auf den Glauben, dass sie ein „Erleben“ der Heilstat Gottes „als gegenwärtig“121 ermöglichen. Ihr Wesen liegt darin, dass sie die Vergegenwärtigung der geschichtlichen Gottesoffenbarung in der ganzheitlich verstandenen Erfahrung des Menschen sind. Dass es das Wort der Verkündigung ist, welches, wenn es zum Wort Gottes wird, die Sakramente zur Heilsvergegenwärtigung macht, entspricht dabei der Wesensbestimmung der christlichen Religion als einer geistigen, und es entspricht der Auslegung der neutestamentlichen Auffassung vom Reich Gottes. Als geistige Religion richtet die christliche Religion das religiöse Subjekt auf ein höchstes überweltliches Gut aus, welches in der Teilhabe am Leben Gottes selbst genossen wird. Jesus stellt dieses Gut als zukünftiges und das Ende der Welt bedeutendes Reich Gottes vor, dessen Gegenwart in der Welt der Natur und Geschichte nur als geistige zu begreifen ist. Wie bereits bedeutet, wird auch in den Sakramenten das Geglaubte und damit das in der Welt verborgen gegenwärtige Reich Gottes nicht sichtbar gemacht. Allein das Wort als selber geistige Realität vermittelt dem Glaubenden das Erlebnis der Teilhabe am Gottesreich. Kaftans Lehre von den „Gnadenmitteln“122 und in ihrem Rahmen insbesondere die Verhältnissetzung von Wort der Verkündigung, Wort Gottes und Sakramenten hebt mithin darauf ab, das Wesen der Kirche als einer geistigen Gemeinschaft zu begründen, nämlich als „die Gemeinschaft aller derer, die durch den Glau————— 120 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 649. 121 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 648 (Hervorhebung von C.C.). 122 Kaftan, Dogmatik, 625 u.ö.

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ben mit Christus zur Einheit Eines Geistes und Lebens verbunden sind“.123 Da dies nun aber nicht nur von der geglaubten Kirche, sondern auch von der Kirche als Subjekt des Handelns gilt, kommt den so genannten Gnadenmitteln, das heißt der Verkündigung und den Sakramenten, eine vermittelnde Funktion zu. Sie repräsentieren zum einen den Grund der Kirche als eines je und je geschehenden Geistwirkens, zum anderen gehören sie traditionell zum Kern dessen, was als Aufgabe der handelnden Kirche verstanden wird beziehungsweise an dem die handelnde Kirche von anderen Organisationen unterschieden wird. Damit liegt in ihnen eine Ambivalenz, welche im Bereich der evangelischen Kirche nicht aufzuheben ist. Auf der einen Seite sind die Gnadenmittel das, was sie ihrem Wesen nach sein sollen, nur indem Gott sie dazu macht. Sie sind menschlichem Zugriff genauso entzogen wie der Grund der Kirche in der Christusoffenbarung. Auf der anderen Seite werden sie durch Menschen „gereicht“.124 Sowohl die Verkündigung als auch die Austeilung der Sakramente sind auch menschliches Werk und erfahren als solches auch menschliche Gestaltung und Ordnung. Durch die menschliche Verwaltung der Gnadenmittel dient die empirische Kirche ihrem unmittelbaren Zweck, nämlich der geglaubten Kirche; näher: dem Wachsen der geglaubten Kirche als in der Offenbarung gründender Glaubensgemeinschaft beziehungsweise als gegenwärtiges Reich Gottes. Sie dient diesem Zweck aber „ubi et quando visum est deo“,125 denn die Kirche als Glaubensgemeinschaft besteht, indem der Geist das Wort der Verkündigung zum Wort Gottes macht und so Teilhabe am Gottesreich stiftet. Dies ist für die Bestimmung des Verhältnisses von empirischer Kirche und geglaubter Kirche von entscheidender Bedeutung. Die handelnde Kirche dient ihrem unmittelbaren Zweck der geglaubten Kirche nur, wenn Gottes Geist dies wirkt. Auch in ihrer empirischen Gestalt begreift Kaftan die Kirche somit von jener Dimension her, welche er als geistige bezeichnet. Dass die empirische Kirche unmittelbar dem Zweck der geglaubten Kirche dient, impliziert, dass auch sie „Kirche im idealen Sinn“ ist, was wiederum bedeutet, „dass sie in der Beziehung, in der es von ihr gilt, eben auch unsichtbar ist.“126 Das heißt: In welcher Weise beziehungsweise welche Vollzugsmomente der empirischen Kirche ihrem eigentlichen Zweck dienen, ist nicht empirisch zu erfassen. Dass die wahre Kirche dort ist, wo das Evangelium recht gepredigt und die Sakramente recht verwaltet wer————— 123 Kaftan, Dogmatik, 617. 124 CA VII (BSLK, 61). 125 CA V (BSLK, 58). 126 Kaftan, Dogmatik, 618. Dies ist letztlich auf den Gottesbegriff selber zurückzuführen, insofern Gott als geistig begriffen und vom „natürlich-sinnliche[n] Dasein“ unterschieden wird (a.a.O., 188).

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den,127 ist Kaftans Konzeption gemäß eine Glaubensaussage. Allerdings hat der Glaube mit den Sakramenten eine Ortsbestimmung dessen, wo er die wahre Kirche erkennen kann. Die Schrift bezeugt die Kontinuität zwischen Taufe und Abendmahl und der geschichtlichen Gottesoffenbarung in Christus, indem sie die Einsetzung der Sakramente durch Christus und die mit ihnen verbundene Heilverheißung überliefert.128 Dass damit aber kein empirischer Beweis der wahren Kirche gegeben sein kann, sondern die Sakramente sich an den Glauben richten, hat weit reichende Konsequenzen. Allen voran ist von hier her zu sagen, dass die kritische Überprüfung der organisierten Kirche an der geglaubten Kirche, mithin die Frage, ob bestimmte kirchliche Erscheinungsformen dem Wesen der Kirche entsprechen, nicht einer unbeteiligt empirischen Betrachtungsweise offen steht. Vielmehr betont Kaftan, dass die positive Beziehung der handelnden, empirischen Kirche zur geglaubten Kirche nur für den Glauben erkennbar ist. Die konstitutive Bedeutung des Glaubens für die Bestimmung des Wesens der Kirche auf der einen und für die Beschreibung des Verhältnisses von handelnder und geglaubter Kirche auf der anderen Seite macht es erforderlich, eine Zwischenbesinnung auf Kaftans Glaubensbegriff vorzustellen. Aus dieser Zwischenbesinnung wird sich zugleich ergeben, wie die Kirche als menschliche Organisation Kaftan zufolge verfasst sein muss. Dabei wird schließlich die Bedeutung des Glaubensbegriff für Kaftans Theologie als ganze deutlich werden, so dass in dem nun folgenden Abschnitt zugleich die vorangegangenen Ausführungen einem systematischtheologischen Fazit zugeführt werden können, welches bezeichnenderweise als Beschreibung der dogmatischen Aufgabe darzustellen ist. 4.2.2 Glaube als Erkenntnis Dass die Glaubenstheorie hier als Teil der Ekklesiologie verhandelt wird, hat nicht nur seinen guten Grund darin, dass Glaube und Kirche gleichursprünglich der Offenbarung Gottes als Mitteilung des höchsten Guts zugeordnet sind. Es soll auf diese Weise auch zum Ausdruck gebracht werden, was das Grundanliegen der Kaftanschen Glaubenstheorie ausmacht. Der Glaube129 wird als individuelle Beziehung auf seinen wie auch immer näher ————— 127 CA VII (BSLK, 61). 128 Vgl. Kaftan, Dogmatik, 627–629, 636–638 und 643–645. 129 Kaftan reserviert den Glaubensbegriff nicht für die christliche Religion, sondern betrachtet ihn als gemeinreligiöses Phänomen neben den beiden anderen basalen Erscheinungsformen der Religion, nämlich „Kultus und Lebensordnung“ (ders., Dogmatik, 29). Das Spezifikum der christlichen Religion ist allerdings, dass hier der Glaube die dominierende Erscheinungsform der Reli-

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gefassten Gegenstand stets zugleich in seinen überindividuellen Bezügen gesehen.130 Als solch überindividuelle Bezüge sind namentlich die spezifische Auffassung des Verhältnisses von Offenbarung und Glaube auf der einen und damit einhergehend die konstitutive Bezogenheit des individuellen Glaubens auf seinen sozialen Kontext auf der anderen Seite zu verstehen. Diesem Gepräge der Kaftanschen Glaubenslehre, welches er allerdings zu Recht als über Ritschl vermittelte Rezeption des lutherischen Glaubensbegriffs darstellt, soll in diesem Abschnitt nachgegangen werden. Wie sich zeigen wird, wird damit das zentrale methodische Problem Kaftans thematisch, dessen spezifische Behandlung die Umbildung der Dogmatik als ganzer steuert, nämlich die Frage nach dem Zusammenhang von Objektivität des Glaubensgegenstandes und Subjektivität seiner individuellen Aneignung.131 Kaftans Auseinandersetzung mit dem Glaubensbegriff gründet in einer Einsicht, welche er im Rahmen der kurz vor seinem Tod verfassten Selbstdarstellung in einem von E. Stange herausgegebenen Sammelband zur Religionswissenschaft der Gegenwart rückblickend beschreibt.132 Er schildert, wie sich ihm, nachdem er in jungen Jahren das Prinzip theologischer Arbeit zunächst in der religiösen Erfahrung gesucht, so genannte Religionspsychologie zu betreiben versucht hatte, das Erfahrungsprinzip mehr und mehr als nicht brauchbar für die Grundlegung einer Wissenschaft mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Objektivität erwiesen hatte.133 Während seiner Basler Zeit (1873–1883) sei er dann über die Lektüre von Ritschls Rechtfertigung und Versöhnung auf das an der Auslegung des ersten Gebots ausgewiesene theologische Prinzip Luthers gestoßen: „Gott und Glaube gehören zusammen“.134 Er habe so erkannt: Die Erfahrung kann ————— gion ist, d.h. die christliche Religion „in ihrer konkreten Erscheinung Glaube“ ist (ders., Dogmatik, 29). 130 Vgl. hierzu WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 96. 131 Vgl. neben den oben Kapitel 1.2 genannten Schriften Kaftans zur Glaubenstheorie bes. ders., Wahrheit, 266–435. Vgl. weiter Kaftans Erwiderung auf Max REISCHLEs Rezension der Wahrheitsschrift (ThStKr 1, 1891, 51–102), in welcher er insbesondere die von Reischle verfochtene Aufnahme der Erkenntnistheorie Kants in den Beweis der Wahrheit des Christentums seinerseits einer eingehenden Kritik unterzieht (vgl. Kaftan, Zum Beweis für die Wahrheit des Christentums, ThStKr 3, 1891, 425–478). Dass hier ein Problem liegt, an welchem sich die Theologie Kaftans abarbeitet, bestimmt auch WITTEKINDs Rekonstruktion dieser Theologie (vgl. ders., Geschichtliche Offenbarung, 80–252). Wittekind kommt aber zu einer anderen Gewichtung der Momente von Objektivität und Subjektivität, wie bereits oben Kapitel 1.3 dargestellt wurde und unten v.a. 4.2.3 und 4.2.4 noch einmal Berücksichtigung finden wird. 132 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung. 133 Vgl. neben Kaftan, Selbstdarstellung auch ders., Wahrheit, 239 (hier gegen F.H. Reinhold von FRANK; vgl. dessen System der christlichen Gewissheit, 2 Bd., Erlangen 1870/73). 134 Kaftan, Selbstdarstellung, 18; vgl. LUTHER, Großer Katechismus, Das erste Gebot (BSLK, 560).

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nur das Mittel, nie das Prinzip der Theologie sein, der es nicht um Selbst-, sondern um Gotteserkenntnis geht.135 Da sich Kaftan zufolge solcher Gottesglaube einzig aus der Offenbarung Gottes, wie sie in der Schrift bezeugt ist, speisen kann, er jedoch die Einsicht in die Notwendigkeit des streng historischen Verständnisses der Schrift für unhintergehbar hält, stellt sich ihm nun das grundsätzliche Problem der Vermittlung von Autorität der Schrift und kritischer Vernunft in seiner ganzen Schärfe.136 Zu lösen versucht er es mit einem Verständnis des Glaubens als einer Erkenntnis eigener Art. Die Erkenntnis, die wir im Glauben gewinnen, ist eine Erkenntnis ihrer Art. Ihre Wurzeln liegen nicht im Intellekt, sondern im fühlend-wollenden Geist, d.h. in der Sphäre unseres geistigen Lebens, in der Norm und Autorität legitimerweise zur Geltung kommen.137

Dieses Verständnis des Glaubens stellt Kaftan als das Ergebnis einer gleichsam reformatorischen Entdeckung dar,138 und dass die Schilderung an Luthers Darstellung seines so genannten Turmerlebnisses angesichts Röm 1,17 erinnert, ist wohl kein Zufall.139 So meint Kaftan, mit seiner Sicht auf den Glauben jene Grundeinsichten Luthers in das Wesen des Glaubens reformulieren und in der Dogmatik zur Anwendung bringen zu können, welche die Motivation und Basis des reformatorischen Prozesses in Theologie und Kirche waren.140 Alle wesentlichen Aspekte der Kaftanschen Glaubenstheorie, über welche diese ihr Profil im Vergleich zu alternativen Konzeptionen gewinnt, kommen im eben zitierten Abschnitt aus der Selbstdarstellung zur Sprache. ————— 135 Hier klingt an, was Kaftans Schüler TILLICH später in seinen Prolegomena zur systematischen Theologie entfaltet. Vgl. ders., ST I, 9–83, v.a. 51–58. 136 WITTEKIND führt dieses Problembewusstsein biographisch auf Kaftans „Leipziger Begegnung mit Adolf von Harnack“ zurück (ders., Geschichtliche Offenbarung, 80). Es ist aber, wie oben zu sehen ist, in der Theologie Kaftans selber angelegt, wie ja auch Wittekind in dem hier aufgerissenen Fragekreis – dem Verhältnis von Geschichte und Glaube – ein Movens der Gedankenbildung von Ritschl über Kaftan zu Barth sieht (vgl. dazu oben Kapitel 1.3). 137 Kaftan, Selbstdarstellung, 216 (erste Hervorhebung im Original, zweite Hervorhebung von C.C.). 138 „[D]iese Lösung,“ schreibt Kaftan, „stand […], wie aus dem Unterbewußtsein aufsteigend, plötzlich in voller Klarheit vor mir. Ich dachte sie mir nicht aus, ich fand sie. Richtiger noch: ich empfand sie nicht als eine Meinung oder Auffassung, die ich mir bildete, sondern als eine Tatsache, die ich entdeckte, an der es nichts zu ändern oder zu deuteln gab.“ Ders., Selbstdarstellung, 216f (Hervorhebung im Original). Vgl. auch ders., Dogmatik und Glaubenspsychologie, 384–386. 139 Vgl. zum so genannten reformatorischen Erlebnis LUTHERs bekannte Vorrede zum 1. Bd. d. Gesamtausgabe seiner lat. Schriften (Wittenberg 1545), bes. WA 54,185,12 – 186,20. 140 Zu Gestaltung und Bedeutung der kirchen- und dogmengeschichtlichen Epochengliederung, die bei Kaftan wie auch bei Harnack zugleich die theologische Intention ausdrückt, vgl. z.B. Kaftan, Wahrheit, 20–265; ders., Ein neues Dogma, 65–71.

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Erstens handelt es sich beim Glauben um Erkenntnis. Zwar zeichnet auch Kaftan den Glauben in evangelischer Perspektive als ein Beziehungsverhältnis, welches nicht auf das Fürwahrhalten einer Aussage zu begrenzen ist. Dies kommt in der bisher gegebenen Bestimmung des Glaubens als Anteilhabe am Auferstandenen zum Ausdruck, indem solche Anteilhabe ein personales Verhältnis und damit ein holistisches, nicht auf den Intellekt begrenzbares Geschehen ist.141 Kaftan zielt aber durchweg darauf ab, die erkenntnismäßigen Implikationen, welche der Glaube als personales Verhältnis hat, zu explizieren. Zu diesem Zweck bestimmt er den Glaubensbegriff durch eine Theorie religiöser Erkenntnis, die im Folgenden zu skizzieren ist.142 Zuvor aber zur zweiten und dritten Implikation des obigen Zitats, welche zugleich anzeigen, worauf jene Erkenntnistheorie näherhin abhebt: Der Glaube ist zweitens eine spezifische Form des Erkennens, welche aufgrund ihres spezifischen Zustandekommens nicht intellektuell-theoretischer Art, sondern emotional-voluntativ-praktischer Art ist. Wie sich zeigen wird heißt dies zugleich, dass sie eine zutiefst subjektive Weise des Erkennens ist. Die Subjektivität dieses Erkennens aber, und dies ist der dritte Aspekt der im Zitat angezeigten Glaubenstheorie, heißt gerade nicht, dass es nicht auf Objektivität ausgeht. Das Proprium der Kaftanschen Glaubenstheorie liegt vielmehr darin, die Objektivität der subjektiven Glaubenserkenntnis zu behaupten, was sich darin äußert, dass er die subjektive Glaubenserkenntnis als autoritativ normierte und zu normierende zeichnet. Hierin gründet sodann die Bedeutung der Dogmatik. ————— 141 So kann Kaftan den Glauben als Vertrauen (vgl. z.B. ders., Ein neues Dogma, 37, 39, 40) und d.h.: als „Heilsglauben“ (ders., Ein neues Dogma, 40) charakterisieren. 142 Der Grund, warum Kaftan zumeist einschränkend von dem Unternehmen einer Erkenntnistheorie spricht (vgl. z.B. ders., Wahrheit, 432; ders., Philosophie, 67–73, 80f, 282; ders., Zum Beweis, 450f) ist in seiner Wertschätzung des Kantschen „kritischen Gedanken[s]“ (ders., Philosophie, 55 u.ö.) begründet, an welchen er sich anschließt, um die Grenzen der theoretischen Erkenntnis zu erörtern (vgl. a.a.O., 43–54). Kaftan meint im Abschluss hieran, auch den begrenzten Wert der Erkenntnistheorie in der Wahrheitsfrage festhalten zu müssen: Nicht die Theorie der menschlichen Erkenntnis gibt Aufschluss über die höchste Wahrheit, sondern nur das praktisch begründete Glaubenserkennen – wie sogleich zu zeigen ist. Gleichwohl kann Kaftans Beschreibung eben dieses Erkennens als Erkenntnistheorie bezeichnet werden, da sie selber theoretisch den Bedingungen und Möglichkeiten von Erkenntnis nachgeht – ohne freilich in diesem Nachgehen die Wahrheit selber spekulativ entwickeln zu wollen, also Erkenntnistheorie „im absoluten Sinn als Fundament der Philosophie“ (a.a.O., 70; Hervorhebung im Original) sein zu wollen. Vgl. zu den Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen einer Erkenntnistheorie in diesem Sinne, d.h. einer „relativen“ Erkenntnistheorie im Gegensatz zu einer „absoluten“: a.a.O., 80–84, 284f sowie ders., Wahrheit, 266–282, 433–435; ders., Balfours Einleitung in die Theologie, PrJ 82, 1895, 402–432, bes. 430–432. – Die hiermit erhobene These, Kaftan betrachte die Erkenntnistheorie wie auch die Werturteilslehre (vgl. dazu unten) als untergeordnete Hilfsmittel der eigentlich theologischen Aufgabe, entspricht wohl dem von WITTEKIND Gemeinten, wenn dieser sagt, Kaftans Ausführungen zu jenen Theoriegebilden seien „nur uneigentlich zu lesen[…]“ (Geschichtliche Offenbarung, 95).

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Kaftans Glaubenstheorie findet sich in nuce bereits in der im Jahr 1879 publizierten programmatischen Schrift zur Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben.143 Diese Schrift bietet weniger, wie es der Titel nahe legen könnte, eine homiletische Theorie als vielmehr eine grundlegende Reflexion auf die Probleme, vor welche sich das protestantische Christentum in der Moderne, d.h., in der durch die Aufklärung eingeleiteten und weithin bestimmten geistes- und kulturgeschichtlichen Epoche der eigenen Gegenwart gestellt sieht. Anlass der Schrift ist die Tatsache fortschreitender „Entfremdung von der Kirche namentlich in den gebildeten […] Kreisen der Gesellschaft“.144 Um dieser Entfremdung auf den Grund zu gehen, nimmt Kaftan zunächst eine zeitdiagnostische Bestimmung der eigenen Gegenwart, der Moderne vor. Die Moderne charakterisieren zwei Ideenkomplexe: Der eine wird durch den „Trieb zur geistigen Herrschaft über die Dinge“145 ausgemacht, in welchem der unübersehbare Fortschritt in den Naturwissenschaften und in der Technologie wurzelt, der das Zeitalter prägt. Innerlich damit zusammen hängt ein weiterer Ideenkomplex, welchen Kaftan in der „Betonung des selbständigen Werthes der einzelnen Persönlichkeit“146 zusammengefasst sieht. Die Pointe des Kaftanschen Ansatzes bei diesen beiden Grundformen der „modernen Ideen“147 liegt darin, dass er den gegenwärtigen Konflikt zwischen Christentum und Moderne nicht in der Entgegensetzung jener modernen Ideen mit dem christlichen Menschen- und Weltbild sieht, sondern im Gegenteil betont, dass beides nicht grundsätzlich im Widerspruch zueinander steht. Mehr noch: Die Wertschätzung der einzelnen Persönlichkeit ist, wie im vorangegangenen Kapitel gesehen, ein Grundmoment christlicher Ethik und Gotteslehre; die Idee geistiger Herrschaft findet sich bereits in der christlichen Vorstellung der Welt-überwindung durch den Glauben angelegt.148 Dieser Zusammenklang moderner und christlicher Überzeugungen findet seinen zeitgeschichtlichen Ausdruck darin, dass eine kirchliche Erneuerungsbewegung von erheblicher Prägekraft, der Pietismus, ————— 143 Die Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben, Basel 1879. Dass diese frühe Schrift quasi das Programm ist, welches Kaftan in allen folgenden Schriften auszuführen bemüht ist, äußert dieser bereits in seinem Vorwort zur Wahrheitsschrift von 1888 (vgl. Kaftan, Wahrheit, VII). Aufgenommen wird dies in der Darstellung der Kaftanschen Theologie durch REISCHLE (vgl. ThLZ 27, 1902, 646), zu welcher Kaftan sich wiederum billigend äußert; vgl. Brief an den Bruder vom 13.10.1918 (Göbell, Briefwechsel II, 672f) sowie Kaftan, Dogmatik und Glaubenspsychologie, 386. 144 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 1. 145 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 8. 146 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 8. 147 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 9 u.ö. 148 So auch Kaftan, Wahrheit, 187f.

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aufklärerische Ideen wie das moderne Persönlichkeitsverständnis aufgreift und mitträgt.149 Der Konflikt zwischen Christentum und Moderne, welcher die Wurzel der oben konzedierten Entfremdung der Gebildeten ist, liegt vielmehr in einer Verschiebung sowohl der modernen Ideen als auch in einer Umbildung der christlichen Religion. Auf der einen Seite entwickeln sich die modernen Ideen zu Anschauungen fort, welche vom christlichen Menschenund Weltbild nicht nur „unabhängig[…]“150 sind, sondern diesem „feindselig[…]“151 gegenüberstehen. Zum einen entwickelt sich die Herrschaftsidee zur Weltanschauung des Diesseits als der alles bestimmenden Wirklichkeit, zum anderen wird aus der Persönlichkeitsidee eine radikale Autoritätskritik abgeleitet. Dass diese beiden Transformationen nicht allein der christlichen Überzeugung widersprechen, sondern auch eine Degeneration der modernen Ideen selbst bedeuten, findet seine Entsprechung darin, dass auch das Christentum sich in einer Weise weiterentwickelt hat, welche nicht lediglich als Widerspruch gegen die Moderne, sondern auch und zuvörderst als Selbstentfremdung zu werten ist. Das Christentum der Gegenwart ist vor allem in der Außenwahrnehmung durch die so genannten Gebildeten durch restaurative Tendenzen gezeichnet, durch welche voraufklärerische und – dies ist christentumsintern gravierender – sogar vorrefomatorische Überzeugungen systembildende Funktion erhalten. Dies zeigt sich vor allem in der sowohl die Predigt als auch die Dogmatik der Gegenwart bestimmenden, gleichsam orthodoxen Festschreibung bestimmter Lehren als „Gegenstand der Frömmigkeit“152 und der damit einhergehenden Überbetonung des „intellectuellen Moments in der christlichen Religion“.153 Der gegenwärtige Konflikt zwischen christlicher Religion und modernem Geist, welcher vor allem den Gebildeten zur Infragestellung ihrer Partizipation an der Kirche wird, hat somit auf einer Ebene statt, auf welcher die modernen Ideen wie auch die christliche Überzeugung in verzerrter, wenn nicht degenerierter Gestalt auftreten. Das Ziel theologischer Besinnung auf Wesen und Aufgabe protestantischer Predigt und Dogmatik muss mithin sein, das zeitkritische Potential des Christlichen aus dem falschen Widerspruch gegen die Moderne zu befreien; umgekehrt ist die Aus-

————— 149 Vgl. Kaftan, Predigt des Evangeliums, 8f und 11f (dort auch zur zeitgenössischen Erweckungsbewegung). 150 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 16. 151 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 16. 152 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 26. 153 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 28.

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einandersetzung mit der Moderne in der Besinnung auf das Wesen von Religion und Christentum zu begründen.154 Diesen zeitgeschichtlichen Hintergrund der eigenen Glaubenstheorie beschreibt Kaftan näher, indem er eine ausführliche Schilderung der gegenwärtigen „Predigtnot“155 unternimmt. Die Predigt ist seiner Beobachtung nach weithin dadurch bestimmt, dass sie dem Einzelnen „die Lehre oder das Dogma“156 als Gegenstände vorstellig macht, in deren Anerkennung sich seine Frömmigkeit äußere, worin letztlich sein Heil liege. Kaftan beschreibt diese Predigtweise im Rückgriff auf seine religionstheoretische Grundlegung als eine spezifische Auffassung des höchsten Guts: nämlich als Ausdruck der Überzeugung, dass jenes höchste Gut in der „vollendete[n] Gotteserkenntniß“157 liegt. Diese Ausrichtung auf die Gotteserkenntnis kennzeichnet die so genannte orthodoxe Periode und Gestalt des Christentums, welche im Zuge der Akkomodation des Christentums in der griechischantiken Welt eine gewisse Berechtigung hatte – insbesondere was die mehr mystische Auffassung der Gotteserkenntnis betrifft.158 Schon aus religionstheoretischer Erwägung heraus, welche dann durch die Bestimmung des Wesens der christlichen Religion bestätigt wird, ist die intellektuellorthodoxe Fassung der Frömmigkeit jedoch als Verkehrung der Religion zu ————— 154 Vgl. Kaftan, Predigt des Evangeliums, 4: Es gilt „dahin zu wirken, daß der Gegensatz zwischen Bekennern und Gegnern des Christenthums wirklich ganz und gar auf religiös-sittlichem Gebiet liege, als wohin er gehört“. Ähnlich argumentiert Kaftan in dem Theologie und Kirche betitelten Aufsatz, welcher der an erster Stelle stehende programmatische Beitrag in der ersten Ausgabe der neu gegründeten Zeitschrift für Theologie und Kirche ist (vgl. ZThK 1, 1891, 1–27): Die gegenwärtige Lage ist in vielerlei Hinsicht durch eine Spannung zwischen Theologie und Kirche gezeichnet. Diese Spannung gründet darin, dass auf der einen Seite die kirchliche Verkündigung durch eine restaurative Erneuerungsbewegung bestimmt ist, die gegenüber der Moderne verschlossen an den alten orthodoxen Formen festhält und letzthin die überlieferte Lehre als Gegenstand der Frömmigkeit verfestigt, während die Theologie in ihren namhaften Vertretern durch eine Aufnahme moderner wissenschaftlicher Methoden, v.a. der Geschichtsforschung, geprägt ist. Kaftan entwirft vor dem Hintergrund dieses Auseinandertretens von Theologie und Kirche das Programm einer wechselseitigen Bezogenheit beider, welches durch produktive Aufnahme geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse und „[i]nnere Betheiligung am Christenthum, am Glauben“ (a.a.O., 16) miteinander verbindet. Dabei ist es gerade die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit christlicher Glaubenszeugnisse, allen voran der Bibel, welche die Umsetzung des reformatorischen Glaubensprinzips in der Gestaltung der kirchlichen Verkündigung befördert. 155 Damit verdankt sich Kaftans theologisches Programm ebenso wie dasjenige Karl BARTHs der Wahrnehmung einer Krise der öffentlichen Rede von Gott (vgl. für Barth dessen klassisch gewordenen Vortrag von 1922: Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, ChW 36, 1922, 858–873, neu abgedruckt in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie, München 1925, 156–178). 156 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 26. 157 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 27. 158 Kaftan unterscheidet zwischen einer „rationellen“ und einer „mystischen“ Variante des Ausgehens auf Gotteserkenntnis: letztere hebt auf ein „zukünftige[s] Schauen“ Gottes ab, erstere äußert sich in „speculativer“ Systematisierung der Glaubenssätze über Gott. (Alle Zitate: Kaftan, Predigt des Evangeliums, 29.)

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bezeichnen. Erstens gründet die Religion im Verlangen des Menschen nach Leben, mithin in sinnlich-natürlichen Bedürfnissen. Diese werden in der geistigen Religion zwar sublimiert, aber auch die geistige Religion ist als Religion eine „praktische Angelegenheit des menschlichen Geistes“,159 welche „den ganzen Menschen trägt und beseelt.“160 Zweitens erhebt sich ein erkenntnistheoretischer und letzthin theologischer Einwand gegen ein Verständnis der Lehre als „Object der Frömmigkeit“.161 In der geistigen Religion als Ausdrucksform der Beziehung zu einem höchsten überweltlichen Gut handelt es sich um unsere Beziehung zum unsichtbaren Gott und unsre dadurch bedingte Stellung zur Welt d.h. um die Beziehung zu einem Object, welches nicht zur Annahme seiner Existenz nöthigt. Darum enthält die Frömmigkeit stets eine freie d.h. nicht abgenöthigte Anerkennung des Daseins Gottes.162

Oben wurde herausgestellt, dass Kaftan eine Theorie religiöser Erkenntnis vorlegt, in welcher sein Glaubensverständnis gründet. Hier nun ist angedeutet, in welcher Weise religiöse Erkenntnis, welche sich in Gotteserkenntnis konzentriert, zum einen wirkliche Erkenntnis ist, zum anderen sich aber von anderen Formen der Erkenntnis unterscheidet. Zwar bezieht sich die Religion auf ein Objekt, dessen Existenz sie anerkennt und ist in dieser Anerkennung auch Erkenntnis.163 Doch handelt es sich bei ihrem Objekt um ein solches, welches die Erkenntnis nicht erzwingt, sondern welches in freier Anerkennung erkannt wird. Die Unterscheidung zwischen einer Erkenntnis, welche auf dem Zwang durch ihre Objekte beruht, und einer Erkenntnis, welche in der freien Anerkennung ihrer Objekte besteht, verweist auf Kaftans Beschreibung einer Zweistämmigkeit menschlichen Erkennens164 und seine hierin begründete Werturteilslehre. Um Kaftans Glaubensbegriff – und damit letzthin sein Verständnis von Aufgabe und Methode der Dogma————— 159 Kaftan, Wesen, 50 sowie oben Kapitel 2.2. 160 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 34f. 161 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 33 u.ö. 162 Kaftan, Predigt des Evangeliums, 33. 163 Auf den Zusammenhang von Erkenntnisbegriff und Wahrheitsbegriff wird noch einzugehen sein. 164 Vgl. KANTs Einleitung zur Transzendentalen Logik in KrV, wo er darlegt, dass die menschliche Erkenntnis „aus zwei Urquellen des Gemüths“ (KrV B, 74, AA III) entspringt. Wie sich allerdings sogleich zeigen wird, unterscheidet sich Kaftans Beschreibung einer solchen Zweistämmigkeit von der Kantschen erkenntnistheoretischen Distinktion zwischen „Vernunft und Gegebnem“ (Emanuel HIRSCH, Christliche Rechenschaft 1, in: ders., Werke III 1,1, bearb. v. H. Gerdes, Berlin und Schleswig-Holstein 1978, 164). Die Formulierung „Zweistämmigkeit der Erkenntnis“ (Ulrich BARTH, Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York 1992, 476) findet sich als solche bei Kaftan nicht. Er kann aber beispielsweise von den „beiden verschiedenen Stammformen menschlicher Erkenntnis“ (ders., Philosophie, 170) sprechen.

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tik als Funktion der Kirche – nachzeichnen zu können, ist es erforderlich, zuvor die Grundzüge jener Erkenntnislehre und Werturteilstheorie zu rekonstruieren. Sie findet sich – sei es in ausführlicher Darlegung, sei es in Andeutungen – in nahezu allen Schriften Kaftans. Besondere Bedeutung kommt ihr in der Wesensschrift zu, wo sie die Selbständigkeit der religiösen Erkenntnis im Rahmen der praktischen Religionstheorie begründet. Weiter entfaltet wird die werttheoretische Begründung religiöser Erkenntnis sodann in den Schriften zur Wahrheit der christlichen Religion und zur Philosophie des Protestantismus.165 Kaftan begründet seine Erkenntnistheorie dezidiert in der Beschreibung des gewöhnlichen menschlichen Bewusstseins166 und beobachtet hier jene grundsätzliche Zweistämmigkeit des Erkennens.167 Die beiden Seiten der Erkenntnis nennt er mit Wundt Vorstellung und Gefühl.168 Auf der einen Seite macht sich der Mensch Vorstellungen von den Objekten in der Welt, auf der anderen Seite nimmt er fühlend zu ihnen Stellung. Alle menschlichen Erkenntnisurteile sind mithin „von doppelter Art“:169 Entweder drücken sie einen Thatbestand aus, den wir vorstellen, oder sie drücken ein Verhältniß aus, welches wir als lebendige Wesen zu dem vorgestellten einnehmen.170

Kaftan unterscheidet somit zwischen einer interesse-unabhängigen Erkenntnis eines Objektes und einer interessegeleiteten Objekterkenntnis. ————— 165 Vgl. zum Inhalt dieser beiden Schriften und ihrer Stellung zueinander unten 4.2.4. 166 Kaftan betont, dass er seinen Ausgangspunkt bei dem nimmt, was er das „gewöhnliche Bewusstsein“ nennt (ders., Wahrheit, 473; vgl. auch a.a.O., 271–282, 473; ders., Zum Beweis, 451f). Er verficht damit das Anliegen, Theologie und Philosophie gleichsam zu demokratisieren, indem er ihre Fragestellungen als auf alltägliche und damit allgemeine Vollzüge menschlichen Lebens zurückgehend beschreibt. Kaftan will „die Philosophie aus dem engen Zusammenhang der Schule [herausheben] und auf das weite Feld des Lebens [stellen]. […] Die Philosophie ist für alle.“ (Ders., Philosophie, 11.) Dieses Interesse konnte schon in der Zurückführung des Religiösen auf Grundphänomene des Lebens beobachtet werden (vgl. oben Kapitel 2.2), und es zeigt sich auch in der philosophischen Erkenntnistheorie Kaftans. 167 Vgl. dazu z.B. Kaftan, Wesen, 39–45 (im Original z.T. hervorgehoben). In Glaube und Dogma beschreibt Kaftan die Zweistämmigkeit der Erkenntnis im Sinne einer Entwicklung von der theoretischen zur praktischen Erkenntnis, wobei nicht ganz deutlich wird, ob Kaftan meint, beim Kind herrsche die durch den Zwang der Gegenstände gewirkte Erkenntnis vor und mache erst sukzessive der subjektiv-interessierten Erkenntnis Platz – eine Theorie, die angesichts entwicklungspsychologischer Einsichten in das kindliche Welt-Begreifen nicht überzeugen würde. Möglicherweise – und dies wäre stichhaltiger – will Kaftan mit der prozessualen Fassung der Zweistämmigkeit der Erkenntnis aber zum Ausdruck bringen, dass für die Reifung der Persönlichkeit die subjektive Erkenntnis entscheidend ist. (Vgl. ders., Glaube und Dogma, 54f.) Auf diesen Gedanken wird noch zurückzukommen sein. 168 Vgl. Wilhelm WUNDT, Grundzüge der physiologischen Psychologie 3, Leipzig 61911; ders., Logik 1: Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie, Stuttgart 41919, 15. 169 Kaftan, Wesen, 42 (im Original hervorgehoben). 170 Kaftan, Wesen, 42 (im Original hervorgehoben).

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Jene interesse-unabhängige, „Vorstellung“ benannte Erkenntnis fasst der Mensch Kaftan zufolge in „theoretische Urtheile“171 oder „Seinsurtheile“172. Sie ist zu unterscheiden von jener Objekterkenntnis, welche untrennbar mit einem durch das Objekt ausgelösten Gefühl der Lust oder Unlust einhergeht und in „Werthurteile[n]“173 ausgedrückt wird. Mit dieser Unterscheidung theoretischer Urteile von Werturteilen – mit anderen Worten: praktischen Urteilen – will Kaftan aber ausdrücklich nicht hinter die Erkenntniskritik Kants zurückfallen. Ein theoretisches Urteil über einen Gegenstand zu fällen bedeutet ihm zufolge nicht etwa die Erkenntnis des Objektes, wie es an sich ist, sondern so, wie es sich ihm, dem Menschen, bietet. Die Beziehung des erkennenden Subjektes zum erkannten Objekt kann also auch in der Analyse der theoretischen Erkenntnis nicht ausgeblendet werden. Kaftan bringt dies darin zum Ausdruck, dass er alle Erkenntnis als „subjektiv-objektiv“174 bezeichnet. Der Unterschied der theoretischen zur praktisch-wertenden Form der Erkenntnis ist allerdings nach Kaftan keinesfalls ein nur gradueller. Es ist nämlich nicht nur der erkenntniskritische Gedanke Kants unhintergehbar, sondern auch die Beobachtung, dass der Mensch auf der einen Seite einem „Zwang der Thatsachen“175 unterliegt, der theoretische Erkenntnis allererst ermöglicht. Auf der anderen Seite gibt es solche Erkenntnis, in der eine „innere Freiheit“176 dadurch ————— 171 Kaftan, Wesen, 44 u.ö. 172 Kaftan, Dogmatik, 37. 173 Kaftan, Wesen, 44 u.ö. Nach Kaftan ist es RITSCHL gewesen, welcher die Theorie der Glaubenserkenntnis durch eine Aufnahme des Werturteilsdenkens „[w]esentlich gefördert“ hat (Kaftan, Dogmatik, 37). In der Forschung ist es umstritten, wodurch Ritschls Aufnahme des Werturteilsbegriffs in die zweite Auflage von RuV (1882/1883) angestoßen wurde. Vgl. zu den kontroversen Positionen v.a. Matthias NEUGEBAUER, Lotze und Ritschl. Reich-Gottes-Theologie zwischen nachidealistischer Philosophie und neuzeitlichem Positivismus, Frankfurt a.M. u.a. 2002, 153f (vgl. zum Einfluss Lotzes: Rolf SCHÄFER, Ritschl. Grundlagen eines fast verschollenen dogmatischen Systems, Tübingen 1968, 170–173; zum Einfluss Herrmanns: GEISLER, Gottesbeweis, 13). Neugebauer meint, dass aber durchweg Ritschls Orientierung an Kaftan und Herrmann angenommen werde – dieser Annahme widerspricht Kaftans eben ausgewiesene Selbstaussage, die auf einen umgekehrten Einfluss Ritschls auf Kaftan hinweist. Allerdings erschien die zweite Auflage von Ritschls RuV nach der ersten Auflage von Kaftans Wesensschrift, in welcher, wie hier gezeigt wird, der Wertbegriff bereits eine entscheidende Rolle spielt. Möglicherweise hat Kaftan den Anstoß zur Übernahme des Wertdenkens nicht aus RuV, sondern aus anderen Zusammenhängen der Ritschlschen Theologie – und sei es auf mündlichem Wege – erhalten. Den genetischen Zusammenhängen der Aufnahme des Wertdenkens in die Theologie der Ritschl-Schule ist hier nicht weiter nachzugehen, sondern es soll die Funktion des Wertbegriffs bei Kaftan erfragt werden. – Zu den jeweiligen Spezifika der Werturteilstheorie bei Ritschl, Herrmann und Kaftan vgl. ansonsten Geisler, Gottesbeweis, 13. 174 Vgl. Kaftan, Philosophie, 374 sowie weiter ders., Glaubensgewißheit und Denknotwendigkeit, in: F. Traub (Hg.), Studien zur systematischen Theologie. Festgabe für Theodor v. Haering, Tübingen 1918, 36–48, bes. 43–46; Zum Beweis, 446f; Zur Dogmatik, 113. 175 Kaftan, Wahrheit, 356 u.ö. 176 Kaftan, Wahrheit, 476 u.ö.

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Ausdruck findet, dass des Erkennenden eigenes, subjektives Interesse ihn in der Erkenntnis von Objekten leitet.177 Ein Objekt kann mithin im Vorgang des Erkennens also einmal so wahrgenommen werden, wie es sich dem Erkennenden darstellt – Kaftan rekurriert hier gegen eine radikal idealistische Theorie auf die Programmatik der empirischen Wissenschaften. In der Welt sind Gegenstände gegeben, die von sich ausgehend eine Wirkung auf den Betrachter ausüben, indem sie seine Sinne reizen, ihn zur Erkenntnis gleichsam zwingen. Es ist darüber hinaus eine der den Menschen vom Tier unterscheidenden Fähigkeiten, sich von seinem Willen und seinem Lebensinteresse emanzipierte Vorstellungen von den Gegenständen seiner Welt zu machen.178 Hier liegt die Möglichkeit der wissenschaftlichen Betrachtung der Weltgegenstände begründet.179 Zum anderen aber kann ein Objekt als lebensfördernd oder lebenshemmend wahrgenommen werden, das heißt als Lust oder Unlust auslösend. Wenn der Mensch diese im Gefühl auftretende Erkenntnis in Werturteile fasst, so heißt dies, dass er das erkannte Objekt danach beurteilt, ob es ihm lebenshemmend oder lebensfördernd ist. Wie in der Grundlegung der Religionstheorie180 ist es somit auch hier der Lebensbegriff, welcher die Werturteilslehre fundiert. Werturteile sind Aussagen über Sachverhalte oder Ereignisse in ihrem Verhältnis zum eigenen Lebensverlangen und drücken die Erfahrung von Befriedigung oder Enttäuschung des Lebensverlangens aus – beziehungsweise die Hoffnung auf Befriedigung oder die Angst vor Enttäuschung. Im Rückblick auf das 2. Kapitel wird eine erste Konsequenz für die ————— 177 Vgl. Kaftan, Philosophie, 170 (Hervorhebung im Original): „Es gibt nichts, wodurch dieser Unterschied verwischt werden kann, Überzeugung und Wissen ist und bleibt zweierlei.“ Vgl. auch ders., Balfour’s Einleitung, 422f; Kirche und Wissenschaft, in: Weltanschauung, Philosophie und Religion. In Darstellungen von Wilhelm Dilthey u.a., Berlin 1911, 457–472, bes. 469f. 178 Vgl. Kaftan, Philosophie, 99. Dass hier von interesse-unabhängiger, nicht von interesseloser Erkenntnis gesprochen wird, um Kaftans Analyse theoretischer Erkenntnis zu rekonstruieren, geschieht deshalb mit Absicht: Der Mensch wird wie das Tier bei jeder Objekterfahrung von seinen natürlichen Interessen bestimmt; er kann sich aber im Unterschied zum Tier von diesen zumindest zeitweilig und partiell emanzipieren. Es ist allerdings zu sagen, dass auch die so genannte theoretische Erkenntnis letztlich den Interessen des Menschen als Lebewesen dient; mithin das aktuelle Lebensinteresse zugunsten eines langfristigen Lebensinteresses zurückgestellt wird. Außerdem ist nicht außer Acht zu lassen, dass die wissenschaftlich-theoretische Erkenntnis trotz ihres Abstandes von den natürlichen Lebensinteressen einem „Zwang […], einem Nichtanderskönnen“ unterliegt – nämlich dem Zwang des Objekts –, „während, was wir Glauben nennen, mit Recht so nennen, Überzeugung ist und eine Tat der Freiheit einschließt“ (a.a.O., 313). Damit ist letzthin nicht die wissenschaftliche, sondern die religiöse Erkenntnis die wahrhaft freie. Vgl. zur Frage nach der wahren Freiheit des Glaubens unten 4.3.1 und 4.3.2. 179 Freilich ist auch die Wissenschaft insgesamt „dem obersten praktischen Zweck des Lebens untergeordnet“ (Kaftan, Wahrheit, 322; im Original z.T. hervorgehoben), doch kann sie diesem Zweck eben nur nachkommen, wenn sie auf der Verfahrensebene sich von jenem Lebensinteresse emanzipiert (vgl. a.a.O., 323). Vgl. zur wissenschaftlichen Methodik a.a.O., 317–354. 180 Vgl. oben Kapitel 2.2.

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religiöse Erkenntnistheorie deutlich: Religiöse Urteile, das heißt aber Aussagen über Gott und Aussagen über mit Gott in Beziehung gesetzte Erfahrung gründen in Werturteilen, denn der Gottesbegriff wurzelt Kaftan zufolge im Verlangen nach nichtendlicher Erfüllung des Lebensverlangens und benennt die Wirklichkeit, in der oder von der her schlechthinnige Lebenserfüllung erfahren oder erhofft wird. Dass hier nun nicht gesagt wird, Aussagen über Gott seien Werturteile, ist einer angesichts der Begründung der Religion im Lebensverlangen und der damit einhergehenden religionstheoretischen Voranstellung des Gefühls181 zunächst überraschenden Behauptung Kaftans geschuldet: Die religiösen Urteile sind nicht Werturteile, sondern „theoretische Sätze“.182 In entsprechender Weise beschreibt Kaftan die Gottesidee als zentrale Bestimmung aller religiöser Erkenntnis183 als den „theoretische[n] Grundbegriff“184 der Religion. In Abgrenzung vor allem zu Biedermann will Kaftan die Bezeichnung der Gotteserkenntnis als theoretischer nun aber nicht als Unterminierung des praktischen Wesens der Religion, mithin ihrer Begründung im Lebensverlangen und der dieser geschuldeten Bedeutung des Gefühls, begriffen wissen. Nicht etwa entspringt religiöse Erkenntnis ebenso einem praktischen wie einem theoretischen „Trieb“,185 wie Kaftan Biedermanns Religionstheorie zusammenfasst, sondern sie wurzelt allein im Lebensverlangen. Dies ist eine weit reichende Behauptung, insofern hier alle Versuche abgewiesen sind, die Religion primär als Versuch zu begreifen, Erkenntnisprobleme zu bewältigen. Nicht nur würde die Religion angesichts des Fortschritts in den Wissenschaften von der Welt als defizitäre Erkenntnisform zu stehen kommen, wenn sie im Verlangen nach Welterkenntnis begründet würde. Sondern weiterhin und vor allem ist von der religionsvergleichenden Betrachtung geschichtlicher Religionen her zu sagen, dass eine Begründung der Religion in der Suche nach Welterkenntnis nicht dem praktischen Wesen der Religion entspricht.186 ————— 181 Vgl. oben Kapitel 2.2. und Kaftan, Wesen, 29, 31f. 182 Kaftan, Wesen, 49 (Hervorhebung von C.C.). 183 Vgl. Kaftan, Wesen, 97, 116; ders., Wahrheit, 3; ders., Dogmatik, 169; ders., Philosophie, 13. Es ist die Gotteserkenntnis, von der aus sich die spezifisch religiöse Erkenntnis von Welt und Mensch ergibt. 184 Kaftan, Wesen, 195 (Hervorhebung geändert von C.C.). 185 Kaftan, Wesen, 49. Vgl. zu Alois E. BIEDERMANN v.a. dessen Christliche Dogmatik, 2 Bd., Berlin 21884/85, v.a. Bd. 1: Der principielle Theil, 174–327. 186 Vgl. Kaftan, Philosophie, 180: Die Religion ist „auf Erkenntnis der Wahrheit gerichtet, ohne doch sich mit ihrer Absicht darin zu erschöpfen.“ Dementsprechend kehrt Kaftan Arthur SCHOPENHAUERs Diktum über das Verhältnis von Religion und Metaphysik um: Nicht ist die Religion eine Folge des metaphysischen Bedürfnisses des Menschen, sondern die Metaphysik gründet in Religion, ist selber Religion. Vgl. dazu a.a.O., 184f (und 270); ders., Wahrheit, 481 sowie unten 4.2.4; zu Schopenhauer vgl. ders., Die Welt als Wille und Vorstellung 2, Erstes Buch, Kap. 17, SW 2, Darmstadt 1976, 206–243.

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Wenn Kaftan nun dennoch den Gottesglauben auf seine theoretischen Implikationen hin auslegt, mithin Gotteserkenntnis als theoretische Erkenntnis fasst, so ist deshalb die Rückführung der Gotteserkenntnis auf freie Werturteile mitzuführen. An sich liegt dies schon in der im 2. Kapitel entfalteten Ableitung des Gottesgedankens aus der Vorstellung vom höchsten Gut. Die Gotteserkenntnis kommt mithin als eine subjektiv ausgeprägte und praktisch abgezweckte Erkenntnis zu stehen. Alle Aussagen über Gott sind immer auch von den Lebensinteressen des Subjekts her zu verstehen. Zugleich werden die einfachen, Lust oder Unlust ausdrückenden Werturteile potenziert, indem sie in die Dimension des Unbedingten eingerückt werden. Es ist, wie noch zu zeigen ist, die Gottesoffenbarung, welche für die Transformation von Werturteilen in Gotteserkenntnis die entscheidende Rolle spielt.187 Hier interessiert das Resultat solcher Transformation: So wird Gott als das Gute schlechthin begriffen, welches das Lebensverlangen des Menschen in vollkommener Weise erfüllt oder erfüllen wird. Die Gotteserkenntnis kommt so als eminent praktische zu stehen. Sie dient nicht der objektiven Welterklärung, sondern der Bewältigung individuellen Lebens angesichts widerstreitender Lebenserfahrungen. Allerdings kommt für das Verständnis der Theologie Kaftans alles darauf an, den theoretischen Charakter der Gotteserkenntnis festzuhalten. So meint er, sich von Ritschls Integration der Werturteilslehre in die Theologie abgrenzen zu müssen, indem er festhält, dass die religiöse Erkenntnis nicht etwa in Werturteilen „verläuft“,188 sondern in theoretischen Urteilen. Eben mit der praktischen Erkenntnis der Religion ist eine theoretische Erkenntnis gegeben. Damit ist sie „Erkenntniss im eigentlichen Sinn“, „folgend aus der Erkenntniss, dass Gott ist und was Gott ist.“189 Kaftan entwickelt also mitnichten eine subjektivistische Theorie religiöser Erkenntnis. In zwei Richtungen ist dies festzuhalten. Zum einen erhebt die subjektive religiöse Erkenntnis den Anspruch darauf, dass sie zu allgemeingültigen Aussagen über Gott und seine Beziehung zur Welt führt. Dass sie in individuellen Werturteilen wurzelt, heißt nicht, dass sie eines überindividuellen Wahrheitsanspruches entbehrt. Die Religion „steht und fällt“ vielmehr „mit der Ueberzeugung von der objectiven Wahrheit [des] Inhalts“190 der in ihrem Rahmen zum Ausdruck gebrachten Erkenntnis. Denn anders würde sie gar nicht den ————— 187 Vgl. unten 4.2.6. 188 Kaftan, Dogmatik, 37 (Hervorhebung im Original). 189 Beide Zitate Kaftan, Dogmatik, 37. Dementsprechend hebt Kaftan in seiner Rekonstruktion der Kantschen Religionsphilosophie hervor, dass er Kants „ängstlich […] betonte Unterscheidung zwischen speculativer Gewißheit und der auf praktischem Weg gewonnenen“ (ders., Religionsphilosophische Anschauung Kants, 5) überwinden will zugunsten der Betonung des Gewissheitsmoments, welches auch in der praktischen Erkenntnis liegt. 190 Kaftan, Wesen, 399.

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praktischen Wert für das religiöse Subjekt besitzen, welcher ihr Wesen ausmacht. Dieser Gedanke ist sogleich unter 4.2.3 zu verfolgen. Zum anderen zieht Kaftan wie angedeutet das Begründungsgefüge religiöser Erkenntnis insofern weiter aus, als er über den Begriff der Offenbarung aufzuzeigen versucht, wie es aus einzelnen individuellen Werturteilen zu jener überindividuell geltenden Gotteserkenntnis kommt. Dabei gilt es besonders zu begründen, inwiefern die Rückführung aller Gotteserkenntnis auf Werturteile nicht im Sinne der Konstitution der Gotteserkenntnis allein im erkennenden Subjekt gemeint ist – womit letztlich die Frage anvisiert ist, ob der Gottesgedanke ein Produkt des menschlichen Bewusstseins ist oder auf eine bewusstseinsexterne Wirklichkeit bezogen ist. Dies wird in den Folgeabschnitten zu besprechen sein. 4.2.3 Glaube und Wahrheit Der Glaube ist Kaftan zufolge dadurch geprägt, dass er sowohl „inneres persönliches Leben (eben die Frömmigkeit)“ als auch „Vorstellung, Gedanke, Fürwahrhalten“191 ist. Es ist diese „innere[…] Einheit“,192 welche Kaftan über die Beschreibung der religiösen Erkenntnis als einer in Werturteilen gründenden theoretischen Erkenntnis einholen will. Wie bereits angedeutet, ist Kaftans Glaubenstheorie deshalb von einer eigentümlichen Spannung von Subjektivität und Objektivität gezeichnet. Eine Marginalisierung des einen Pols bedeutete ein Missverständnis jener Theorie – und in der Tat sah sich Kaftan in seinen Jahren als öffentlichkeitswirksamer Theologe auch immer wieder den Folgen solchen Missverstehens gegenüber. Vor allem die Tatsache, dass Kaftan sowohl von der so genannten Rechten als auch von der so genannten Linken angegriffen wurde, weist zurück auf jene Doppelpoligkeit der Theologie. Die eher links stehenden Theologen brachten Kritik an Kaftans Betonung der normativen, dogmatischen Elemente des christlichen Glaubens vor, die eher rechts stehenden Theologen betrachteten seine Kritik am Dogma als Destruktion der christlichen Glaubensgehalte. Damit fand Kaftan sich häufig zwischen den Stühlen der beständig neu formierten theologischen Parteien um die Jahrhundertwende wieder.193 ————— 191 Beide Zitate: Kaftan, Dogmatik, 31. 192 Kaftan, Dogmatik, 31. 193 Vgl. den Brief Kaftans an seinen Bruder vom 11.12.1898, in welchem er – in Bezug auf die Rezensionen seiner Dogmatik – meint: „[E]s ist das Gewöhnliche, […] [dass] die von der Rechten finden, ich müßte noch mehr zum ‚Kirchenglauben‘ zurückkehren, die von der Linken dagegen meinen Supranaturalismus tadeln.“ (Göbell, Briefwechsel I, 188.) Im Aufsatz Glaube und Dogma (1889) begründet Kaftan seine ambivalente Stellung in der zeitgenössischen Landschaft der theologischen Parteien biographisch und deutet zugleich an, welcher Bedeutung der Glaubenstheorie für jene Stellung zukommt. So beansprucht er aufgrund seiner eigenen theologischen

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Wenn dies hier als Folge der Zweipoligkeit seiner religiösen Erkenntnistheorie gedeutet wird, so muss sich damit zugleich die kritische Anfrage verbinden, ob Kaftans Theorie am eigenen Anspruch gescheitert ist, d.h., die behauptete Vermittlung zwischen Subjektivität und Objektivität nicht leisten – oder zumindest nicht einsichtig machen – konnte.194 Grundlegend für jene Theorie ist die Beobachtung, dass alle Religion Gottes- und Welterkenntnis formuliert, wie im 2. Kapitel an der Entwicklung des Gottesglaubens aus dem menschlichen Verlangen nach Leben gezeigt wurde.195 Dass nun mit der jeweiligen Gottes- und Welterkenntnis ein Anspruch auf Wahrheit einhergeht, das heißt hier darauf, dass die Aussagen über Gott und seine Beziehung zur Welt erstens der Wirklichkeit entsprechen und ihnen zweitens deshalb allgemeine Geltung zukommt,196 liegt im praktischen Wesen der Religion. Wird nämlich die Überzeugung von der Wahrheit der religiösen Erkenntnis unsicher, dann geräth die Religion selbst in’s Wanken, und wenn sie aufhört, ist es auch mit der Religion vorbei. Oder wer wird bei Gott Hülfe und Schutz suchen, wer

————— Entwicklung „für Orthodoxe, Pietisten und Vermittler“ (a.a.O., 9) reden zu können. „Er [Kaftan selber] ist nämlich von Hause aus ein Orthodoxer und Pietist; er hat auch niemals aufgehört es zu sein, sondern bekennt sich freudig zu den idealen Forderungen dieser Richtungen, Autorität und Weltflucht eingeschlossen: sie sind ihm unveräusserliche Momente der persönlichen christlichen Überzeugung geblieben, auch nachdem er sich der Theologie entfremdet hat, welche in jenen Kreisen die herrschende ist. Eben dadurch aber ist er dann unter die ‚Vermittler‘ geraten […]“ (a.a.O., 9f). Zu Kaftans Wahrnehmung des theologischen Parteiwesens und seiner eigenen Stellung hierin vgl. ders., Das Gewissen, 167. Vgl. ferner sein polemisch-satirisches Essay Von der öffentlichen Meinung in ChW 16, 1902, 1219–1222, wo er in Anspielung auf die auch in den nicht-theologischen Zeitungen ausgetragenen und beurteilten theologischen Parteikontroversen meint: „Die öffentliche Meinung ist vor allem auf Ordnung bedacht. Jeden weist sie an seinen Platz und bringt ihn in seiner Partei und Richtung unter. […] Der Fehler ist […], daß mancher glaubt, das sei nur so ein Hilfsmittel, um etwas Übersicht in die bunte Wirklichkeit zu bringen, man müsse es mit Vorsicht gebrauchen […]. Nein, sagt die öffentliche Meinung, das ist eine arge Verkennung des Sachverhalts. Diese Abteilungen sind die Sache selbst, die eigentliche Wahrheit […]“ (a.a.O., 1219). Und weiter (ebd.): „Was du sagst oder schreibst, es wird mit unerschütterlicher Konsequenz aus dem gedeutet, was du bist. Und du bist, was die Nummer besagt, die du trägst.“ 194 Vgl. dazu Kaftan selber: Zur Dogmatik, 117–139, 202–204. 195 Vgl. oben 2.2. Vgl. dazu Kaftan, Dogmatik, 31: „Denn ob sie [die Religion] nun auf Schutz und Weihe des irdischen Lebens durch die Gottheit oder über alle Welt hinaus auf die Theilnahme an Gottes Leben sich richtet, so existirt sie nur in und mit irgendwelcher Vorstellung von der Gottheit“. Zur analogen Bildung von Weltanschauung vgl. a.a.O., 32. 196 Kaftan bestimmt den Wahrheitsbegriff als Bezeichnung der Übereinstimmung einer Aussage mit der Wirklichkeit, zweitens und damit zusammenhängend als Aufschluss über „die höchste Wirklichkeit“, welche eschatologisch erwiesen wird (ders., Glaube und Dogma, 47). Vgl. zur Definition des Wahrheitsbegriffs weiter ders., Philosophie, 34; ders., Wahrheit, 4–6, 275f, 457, 477 und 481f. – Die Wahrnehmung von etwas als „wirklich“ ist sodann das, was unter „Erkenntnis“ zu verstehen ist (vgl. ders., Philosophie, 303; ders., Wahrheit, 396).

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vollends alles lassen, um in Gott sein höchstes Ziel und Gut zu suchen, wenn er nicht vom Dasein und der Macht Gottes überzeugt ist?197

Es wird deutlich, dass hiermit keine Aussage über die Wahrheitsgeltung religiöser Erkenntnis getroffen ist – was angesichts der geschichtlichen Divergenz religiöser Wahrheitsansprüche in dieser Allgemeinheit auch gar nicht möglich wäre. Es wird vielmehr behauptet, es liege im Wesen der Religion, Wahrheitsgeltung zu beanspruchen.198 Dies ist, wie sich sogleich zeigen wird, für die Auseinandersetzung Kaftans mit der Religionstheorie Troeltschs von Wichtigkeit. Hier ist festzuhalten, dass die Religion deshalb einen Anspruch auf Wahrheit ihrer Erkenntnis erhebt, weil sie andernfalls aufhörte überhaupt Religion zu sein. Der Mensch kann in der Religion „Hülfe“ in der Erfüllung seines Lebensverlangens nur finden, wenn er davon ausgeht, dass die in ihr gültige Erkenntnis im eben definierten Sinne wahr ist. Dieser Gedanke hat aber auch in seiner Umkehrung eine hier interessierende Pointe: Man kann sich diese [religiöse] Erkenntniss nicht aneignen, ohne sich mit seinem inneren Leben unter die Herrschaft jener Ideen zu stellen.199

Hiermit bringt Kaftan zum Ausdruck, dass die Objektivität religiöser Erkenntnis in zweifacher Weise subjektiv rückgebunden ist. Erstens ist religiöse Erkenntnis nur für den wahr, der sich das ihr jeweilen zugrunde liegende Werturteil zu eigen macht. Das heißt aber, dass die Wahrheit einer Religion sich nur dem erschließt, der die praktische Valenz der betreffenden Religion erfährt. Ob religiöse Erkenntnis als wahr erachtet wird, hängt davon ab, ob sie als tragfähige Bewältigungsform individueller Fragen und Nöte angeeignet werden kann.200 Hier nun hat mithin auch der Erfahrungsbegriff seinen Ort, welcher wie oben angedeutet und sogleich zu explizieren ist, nicht als Verweis auf den Grund religiöser Erkenntnis in die Theologie zu integrieren ist. Er benennt vielmehr das Mittel, über welches die religiöse Erkenntnis angeeignet wird.201 Zweitens bringt das Zitat die Korrelation der religiösen Erkenntnisobjekte mit dem menschlichen Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Wittekind legt diese Korrelation seiner gesamten Kaftan-Interpretation zugrunde und ent————— 197 Kaftan, Dogmatik, 33f. 198 Vgl. dazu später die religionspsychologische Wahrheitstheorie des Kaftan-Schülers Georg WOBBERMIN; vgl. z.B. ders., ST I, 389, wo Wobbermin als das wichtigste Moment des religiösen Bewusstseins das „Wahrheits-Interesse“ benennt. 199 Kaftan, Dogmatik, 33 (Hervorhebung von C.C.) 200 Vgl. Kaftan, Ein neues Dogma, 75: „Die Gründe [hier: für den Glauben an Christi Gottheit] muß schließlich jeder in sich selber finden. […] Es ist also schließlich etwas Unbeweisbares, etwas, das man erleben muß, aber nicht demonstriren kann.“ 201 Vgl. Kaftan, Dogmatik und Glaubenspsychologie, 385. – Vgl. TILLICH, ST I, 51–58.

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wickelt aus ihr eine komplexe Beschreibung der Dogmatik von der Idee der Selbstdurchsichtigkeit endlicher Subjekte her.202 Um Kaftans Funktionsbestimmung menschlicher Subjektivität für die Glaubenstheorie rekonstruieren zu können, ist ein erneuter Rückgang auf seine Erkenntnistheorie aufschlussreich. Die oben vorgetragene Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer beziehungsweise objektiver und subjektiver Erkenntnis ist nicht als strikte Trennung zu verstehen. Vielmehr gehen im menschlichen Erkennen beide Formen eine komplexe Verbindung ein, so dass Kaftan in seiner 1917 erschienenen Philosophie des Protestantismus den „subjectivobjectiv[en]“203 Charakter allen menschlichen Erkennens beschreibt. Es gibt keine Objekterkenntnis ohne subjektiven Anteil, das heißt ohne gestaltende Beteiligung des Erkenntnissubjektes.204 Und es gibt keine subjektive Erkenntnis, die sich nicht zugleich und immer auf ein irgendwie gegebenes Objekt richtet. Der Kantsche kritische Gedanke wird also dahingehend aufgenommen, dass in der Erkenntnistheorie – und das wird ebenfalls von der Theorie religiöser Erkenntnis gelten – Subjekt und Objekt nicht strikt getrennt voneinander nach ihrer Beteiligung im Erkenntnisprozess analysiert werden können. Zwischen der oben so genannten theoretischen Erkenntnis, die auf Vorstellung beruht, und der im Werturteil ausgedrückten Gefühlserkenntnis besteht aber ein fundamentaler Unterschied, was das Involviertsein des Subjekts betrifft: Der Unterschied ist dieser: Die Vorstellung ist Bild eines anderen, im Gefühl werden wir uns selbst als lebendige Wesen inne.205

Die hier vorgestellte Distinktion impliziert eine für die Glaubenstheorie entscheidende Bestimmung, insofern das Gefühl zugleich als Objekt- und darin als Selbsterkenntnis gefasst wird.206 Indem der Mensch ein Objekt so wahrnimmt, wie es sich zu seinem Lebensinteresse verhält, nimmt er zugleich sich selber wahr. Für die Gotteserkenntnis knüpft sich hieran eine These, welche die Umbildung der gesamten Dogmatik nach sich zieht – eine Umbildung, die insofern revolutionär ist, als sie das orthodoxe Schema der Auffassung der Lehre als Gegenstand der Frömmigkeit von Grund auf umzuwälzen zumindest beansprucht. Kaftan meint, wie bereits angedeutet, damit aber keineswegs der Entdecker neuer dogmatischer Prinzipien zu sein, sondern das Programm Luthers und damit die reformatorische Theo————— 202 Vgl. oben Kapitel 1.3. 203 Kaftan, Philosophie, 45. 204 Diese innere Beteiligung des Subjektes am Erkenntnisprozess ist sogar so weit auszuziehen, dass theoretische Erkenntnis ohne jene innere Beteiligung nicht möglich ist, da schon die Auswahl der Erkenntnisgegenstände eine vom Interesse des Erkennenden geleitete ist. 205 Kaftan, Wesen, 40 (im Original hervorgehoben). 206 Vgl. oben Kapitel 2.2.2 zur Profilierung gegenüber dem Schleiermacherschen Gefühlsbegriff.

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logie in der Dogmatik durchzuführen.207 Der Grundgedanke bezüglich der Vermittlung von Objekt- und Selbsterkenntnis in der Gotteserkenntnis ist der, dass letztere auf den innersten und darum subjektivsten Erfahrungen des persönlichen Lebens beruht, dass [sie] aber den allerobjektivsten Gegenstand hat und desshalb objektive, Welt umspannende Wahrheit zu sein beansprucht.208

In der Erkenntnis Gottes liegt die tiefste Selbsterkenntnis, welche dem Menschen möglich ist. Dieser Gedanke Kaftans ist nicht lediglich bis zu Luther, sondern über diesen in der für jede reformatorische Theologie bedeutsamen Traditionslinie zu Augustin und weiter zu Paulus zurückzuverfolgen. Gott zu erkennen bedeutet sich selber zu erkennen, und zwar in vertiefter und unübertrefflicher Weise, insofern Gott zugleich die objektivste Wirklichkeit ist. Bei Augustin findet sich dieser Gedanke im dritten Buch seiner Confessiones, wenn er von Gott als der eigenen Person Innerlichstes und zugleich als höchster subjekttranszendenter, teleologisch verstandener Wirklichkeit spricht: „tu autem eras interior intimo meo et superior summo meo.“209 Paulus spricht von der wahren Selbsterkenntnis als eschatologischer Wirklichkeit und gründet sie auf diese Weise in der Gottesschau.210 Zugleich meint Kaftan von der zutiefst subjektiven Gotteserkenntnis sagen zu können, dass sie objektivste Erkenntnis zu sein den Anspruch erhebt, indem sie die Welt im Ganzen erkennt – „Welt umspannende Wahrheit“ ist –, das heißt: Grund und Zweck der Welt zu bestimmen vermag. Dieser These ist zunächst nachzugehen, da erst von ihr her recht deut————— 207 Vgl. zum Verhältnis von Gottes- und Selbsterkenntnis bei Luther: Joachim RINGLEBEN, Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Beobachtungen anhand von Luthers Römerbrief-Vorlesung, in: ders., Arbeit am Gottesbegriff 1, Tübingen 2004, 18–28. 208 Kaftan, Dogmatik, 33 (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu auch ders., Philosophie, 205f; ders., Glaube und Dogmatik, 483. Dass gerade die subjektivste Erkenntnis die objektivste Erkenntnis ist, begründet Kaftan in ders., Religion und Wissenschaft, Die Hilfe 1, 1895, 2–4 damit, dass die „innere Erfahrung […] ein Stück der Wirklichkeit“ zeigt, welches „wirklich so ist, wie wir es sehen“ (a.a.O., 3). Damit unterscheidet sich die innere Erfahrung von aller Erfahrung von Äußerem, an welcher, wie Kaftan am Beispiel der „Physiologie der Sinneswahrnehmungen“ (ebd.) erläutert, welche nie völlig nach ihren subjektiven und objektiven Bestandteilen analysiert werden kann. Dass diese Bezugnahme auf die innere Erfahrung aber keineswegs bedeutet, auf ihr allein die religiöse Erkenntnistheorie und sodann die Dogmatik aufzubauen, betont Kaftan ausdrücklich – vgl. ders., Zur Dogmatik, 153–161. 209 AUGUSTIN, Bekenntnisse III,6,11. Vgl. dazu Joachim RINGLEBEN, Interior intimo meo. Die Nähe Gottes nach den Konfessionen Augustins, Theologische Studien 135, Zürich 1988, bes. 18–24 und 44–49. – Kaftan schätzt Augustin als den Urhebers einer „evangelische[n] Nebenströmung“ (ders., Ein neues Dogma, 68). 210 Vgl. 1 Kor 13,12: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

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lich wird, welche Funktion die Selbsterkenntnis in Kaftans Theorie der Gotteserkenntnis einnimmt. Dabei wird sich zeigen, dass die Korrelation von objektivster und subjektivster Erkenntnis auf ein Prinzip zuläuft, welches die dogmatische Methode in jedem Topos entscheidend bestimmt. Mithin handelt es sich im Folgenden weniger um eine erkenntnistheoretische Position als vielmehr um die – apologetisch zugespitzten – Prolegomena zur Dogmatik. Diese sind zunächst darzustellen, bevor dann exemplarisch an der Christologie gezeigt werden kann, wie Kaftan den Zusammenhang von Selbst- und Gotteserkenntnis dogmatisch umsetzt. 4.2.4 Glaube und die Einheit des Erkennens Mit ihren in Werturteilen gründenden Urteilen über Gott erhebt die Religion – auf der Stufe der geistigen Religionen – den Anspruch, allumfassende Wirklichkeitserkenntnis zu sein, das heißt: die Erkenntnis von Grund und Zweck der Welt. Kaftans Voraussetzung für diese These ist, dass das Streben nach solcher Erkenntnis, welche er zumeist als Erkenntnis der „letzte[n] und höchste[n] Wahrheit“211 bezeichnet, eine Konstante im menschlichen Weltverhältnis ist. Obwohl er, wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, die Begründung der Religion im menschlichen Verlangen nach umfassender Welterkenntnis ausdrücklich ablehnt, ist es ihm eine unabweisbare Tatsache, dass der Mensch die „Frage nach der Lösung des Weltproblems“ und damit auch dem „Sinn des Daseins“212 stellt. Entscheidend für die Frage nach der Funktion der Religion ist eine weitere Voraussetzung, welche Kaftan in diesem Zusammenhang macht. In der „Lösung des Weltproblems“ liegt zugleich die Zusammenführung aller menschlichen Erkenntnis. Wie oben gezeigt, geht Kaftan von der im Anschluss an Kant eingeführten Zweistämmigkeit allen Erkennens aus, wonach theoretischwissenschaftliche Welterkenntnis von praktisch begründeter Welterkenntnis grundlegend unterschieden ist. Kaftan setzt aber nun voraus, dass es nicht nur dem Menschen ein unhintergehbares Bedürfnis ist, diese beiden Formen der Erkenntnis miteinander zu vereinbaren – und das heißt bei Kaftan: zu vereinen –,213 sondern dass in der Einfachheit der Wahrheit die Notwendig————— 211 Kaftan, Philosophie, 5; vgl. ders., Wahrheit, 272 u.ö. 212 Beide Zitate: Kaftan, Philosophie, 5. Vgl. a.a.O., 171: Die Frage nach der Lösung des Weltproblems führt zu dem Versuch, „die Welt als ein Ganzes zu verstehen“. Dieser Versuch beinhaltet die Fragen nach „der ersten Ursache“ und dem „letzte[n] Zweck[…] aller Dinge“ (ders., Wahrheit, 3 [im Original hervorgehoben]; vgl. auch a.a.O., 345, 376f, 413). In Wahrheit, 353 spricht Kaftan von der „Erklärung der Welt im absoluten Sinn“. 213 Kaftan begründet diesen Drang anthropologisch damit, dass der Mensch „nur einer“ ist (ders., Wahrheit, 556; Hervorhebung im Original). Aufgrund der Einfachheit seines Wesens liegt in der Pluralität der Erkenntniswege und deren Weltdeutungen ein Stachel, welcher den Menschen

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keit solcher Vereinbarung liegt.214 Die so begründete Frage nach der „Einheit des Erkennens“,215 oder anders: der „Einheit des Geistes“,216 ist es, welche Kaftans Apologetik religiöser und vor allem christlicher Wahrheitsansprüche leitet. Kaftans Werk umfasst zwei umfängliche Schriften, welche die Apologetik des christlichen Wahrheitsanspruches auf dem Grund einer allgemein religionsphilosophischen Erkenntnistheorie unternehmen: Die Wahrheit der christlichen Religion und Die Philosophie des Protestantismus.217 Beide Untersuchungen richten sich nicht nur nach außen, sondern ebenso nach innen. Kaftan meint ausdrücklich, dass die Apologetik ein „unabweisbares Bedürfnis des Christen“218 befriedigen soll. Dieses Bedürfnis und von ihm her die Methode der Apologetik bestimmt er in seinen beiden dezidiert apologetischen Schriften mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung. In der Wahrheit der christlichen Religion von 1888 spricht er von einem „Beweis“ der Wahrheit des christlichen Glaubens, welcher aufzeigen soll, dass der christliche Offenbarungsglaube angesichts der letzten und höchsten Fragen des Weltverständnisses vernünftig und allgemeingültig ist.219 Dieses ————— zur Vereinheitlichung dieser Weltdeutungen treibt. A.a.O., 299 wendet Kaftan diesen Gedanken bewusstseinstheoretisch: „Es ist „die Einheit unsres Bewußtseins […], welche der Rede von einheitlichen Dingen zu Grunde lieg[t].“ In ders., Philosophie, 25–27 wird der zeitgeschichtliche Hintergrund des Bemühens um eine Vereinheitlichung alles Erkennens deutlich: die Ausdifferenzierung von Wissenschaft als empirischer Naturwissenschaft und ihre Emanzipation von Philosophie und Theologie. In Zusammenhang damit ist auch die kritische Zeitdiagnose Kaftans zu sehen, nach welcher einem populären „Irrthum[…]“ (ders., Wahrheit, 352) zufolge die höchste Wahrheit und damit die Einheit allen Erkennens in den empirischen Wissenschaften liege – ein Irrtum, der auf den unübersehbaren, aber falsch verstandenen Fortschritt dieser Wissenschaften zurückzuführen ist. Vgl. zur populären Überzeugung von der Reduzierbarkeit aller Erkenntnis auf naturwissenschaftliche Erkenntnis, welche Kaftan als „Naturalismus“ bezeichnet, auch ders., Balfour’s Einleitung, 404–407; ders., Kirche und Wissenschaft, 466–468; ders., Religion und Wissenschaft, 2f. 214 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 8 und weiter ders., Philosophie, 272: „Doppelte Wahrheit gibt es nicht, auch keinen doppelten Weg zur Wahrheit.“ Die Wahrheit ist deshalb als einfach zu bezeichnen, weil auch die Wirklichkeit, an welcher sich eine Erkenntnis als wahr erweist, eine ist: vgl. a.a.O., 233 u.ö. – Dass freilich die Einheit der Wahrheitserkenntnis eine in sich differenzierte ist, wie im Folgenden darzulegen ist, betont Kaftan mehrfach; vgl. ders., Kirche und Wissenschaft, 470f; ders., Die Einheit des Erkennens, 58f, 61; ders., Zur Dogmatik, 86. 215 Kaftan, Dogmatik, VIII, 39, 126. Vgl. ders., Philosophie, 5; ders., Predigt des Evangeliums, 62f. 216 Kaftan, Philosophie, 393 u.ö. 217 Die Wahrheitsschrift erschien 1888 in Basel; die Philosophie 1917 in Tübingen. – Vgl. weiter die Rede Kaftans gehalten zur Gedächtnisfeier des Stifters der Berliner Universität König Friedrich Wilhelm III. am Jahrestag von dessen Geburtstag 1907: Die Einheit des Erkennens, in: Kaftan, Drei Akademische Reden, Tübingen 1908, 48–71 (auch als Separatdruck Berlin 1907). Zur apologetischen Funktion der Dogmatik vgl. ders., Zur Dogmatik, 80–82. 218 Kaftan, Philosophie, 14. Damit ist die Philosophie als Apologetik eine Funktion des Glaubens. 219 Vgl. v.a. Kaftan, Wahrheit, 14 sowie das gesamte fünfte Kapitel des zweiten Abschnitts der Wahrheitsschrift als Versuch eines Beweises der Vernunftgemäßheit der christlichen Vorstel-

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Ziel verfolgt letztlich auch die nahezu 30 Jahre später erschienene Philosophie des Protestantismus, welche stärker noch als die Schrift zur Wahrheit die Notwendigkeit der „Einordnung des Glaubens in das geistige Gesamtleben“ betont.220 Die Methode solchermaßen abgezweckter Apologetik ist es, ausgehend von der Frage nach der Einheit allen Erkennens nachzuweisen, dass solche Einheit alleine in praktisch-persönlicher Wertsetzung gegeben ist. Von diesem grundsätzlichen Entscheid aus wendet Kaftan sich der spezifisch christlichen Wertsetzung, ausgedrückt in der spezifisch christlichen Vorstellung vom höchsten Gut, zu und beschreibt sie als Erkenntnis, in welcher alle Erkenntnis einheitlich zusammengefasst ist.221 Dabei ist entscheidend, dass Kaftan die Einheit des Erkennens in der Erkenntnis des Absoluten liegen sieht. Näherhin, gemäß der oben 3.3.4 erläuterten Begriffsbestimmung des Absoluten, ist die Erkenntnis des Absoluten in seinem Weltverhältnis gemeint,222 insofern die Suche nach der Einheit des Erkennens durch die Frage nach Grund und Zweck der Welt angestoßen ist. Die Erkenntnis des Absoluten ist die Erkenntnis der „unbedingte[n] Macht“ – als Grund der Welt – und des „höchsten Wert[s]“223 – als Zweck der Welt. Solche Erkenntnis ist aber nun per definitionem Sache der Religion. Diese weit reichende These ist zunächst negativ zu begründen. Eine Erkenntnis von Grund und Ziel der Welt ist dem theoretisch Urteilenden nicht möglich, da die Implikation und sogar Intention der theoretisch-wissenschaftlichen Betrachtung der Welt die Überordnung des Erkennenden über das Erkannte ist. Wissenschaftliche Erkenntnis steht im Dienste der Beherrschung des Erkannten. Zur Welt im Ganzen aber kann der Mensch ein solches Verhältnis nicht einnehmen, kann also auch Fragen ————— lung vom höchsten Gut (a.a.O., 490–578) – dort auch zu den „Schranken“ (a.a.O., 493) eines solchen Beweises (vgl. a.a.O., 493–505). 220 Kaftan, Philosophie, 16 (Hervorhebung von C.C.); vgl. a.a.O., 14 und ders., Wahrheit, 8. Vgl. dazu ferner ders., Glaubensgewißheit und Denknotwendigkeit, 48f. 221 Dabei ist besonders in der Philosophie eine gewisse Spannung insofern festzustellen, als Kaftan auf der einen Seite den christlichen Glauben in das geistige Gesamtleben einordnen will, die Schrift aber letzthin auf eine Darbietung des christlichen Glaubens protestantischer Gestalt als Zusammenfassung allen Geistes hinausläuft. Eine gewisse Aufhebung dieser Spannung ist wohl darin zu erreichen, dass Kaftans Verhältnissetzung von Philosophie und Dogmatik beachtet wird: Die Philosophie fasst alle Erkenntnis zusammen und geht damit über das, was der Dogmatik als Aufgabe gestellt ist, hinaus (vgl. Kaftan, Philosophie, 337) – aber solchermaßen vorgehend entspricht sie dem protestantischen Glaubensprinzip und zeigt, dass „Einheit des Erkennens nur vom christlichen Gottesgedanken aus erreicht werden kann.“ (A.a.O., 397.) Deutlich wird dies im Schlusskapitel der Wahrheitsschrift gesagt, wo Kaftan zu zeigen versucht, dass „die christliche Idee vom Reiche Gottes […] die vernünftige und allgemeingültige Idee vom höchsten Gut der Menschheit“ ist (a.a.O., 492). Vgl. zu den „Schranken“ (a.a.O., 493) eines solchen Beweises a.a.O., 493–505 sowie zum Verhältnis von Apologetik und Dogmatik ders., Philosophie, 17f. 222 Vgl. z.B. Kaftan, Philosophie, 333. 223 Beide Zitate: Kaftan, Philosophie, 211. Vgl. zum Begriff des Absoluten in diesem Sinne auch a.a.O., 237 sowie ders., Wahrheit, 441–444.

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über Ursache und Zweck dieses Weltganzen niemals auf theoretischem Wege beantworten. Theoretische Erkenntnis ist ihrem Wesen nach relativ und nie absolut.224 Dies erhellt beispielsweise aus der Betrachtung des Zweckgedankens. Die Naturwissenschaften beschreiben das Werden in der Natur nach dem Kausalitätsprinzip.225 Eine Entwicklung in der Natur kann nur dann dargestellt werden, wenn eine Idee des Zweckes eingeführt wird, welcher nicht aus der Natur selber stammt. Nur ein ihr transzendenter Zweckgedanke ermöglicht die Deutung des natürlichen Entstehens und Vergehens im Sinne einer Entwicklung.226 Es ist somit, positiv gewendet, die Religion, welche die Frage nach dem Absoluten in sich aufnimmt und eine Antwort auf diese Frage vorstellt. Die Erkenntnis des Absoluten, in welcher die „Lösung des Weltproblems“227 liegt, ist nur als praktische Erkenntnis möglich, welche ausgehend von Werturteilen auf den höchsten Wert und damit die höchste Macht schließt. Etwas technologisch gewendet (und damit dem Stil her kaum seiner Intention angemessen) meint Kaftan: „[D]as höchste Wissen ist auf Grund einer Idee vom höchsten Gut zu ermitteln“.228 Die – geistige – Religion als Beziehung auf ein höchstes überweltliches Gut vollendet somit auch die wissenschaftliche Erkenntnis zur Einheit der Erkenntnis, da sie über die Grenzen, ————— 224 Vgl. dazu Kaftan, Wahrheit, 352–354, 377f. Vgl. a.a.O., 282–317 zu einer ausführlichen Besinnung auf das Wissen im gewöhnlichen Sinne sowie a.a.O., 317–376 zu Bedeutung und Aufgabe der Wissenschaft. Die Beurteilung des wissenschaftlich-theoretischen Erkennenswegs als im Relativen verbleibend verbindet sich freilich keinesfalls mit einer Herabsetzung der Naturwissenschaften. Im Gegenteil ordnet Kaftan sie als unverzichtbare Mittel der Erkenntnis des Absoluten ein, wie es der Intention nach ja auch darin Ausdruck findet, dass Kaftan theoretische und praktische Erkenntnis in einer „Einheit des Geistes“ (ders., Philosophie, 393 u.ö.) zusammenzuführen sucht. Die Funktion der Naturwissenschaften in Hinblick auf eine solche Einheit, mithin der „praktische Zweck der Wissenschaft ist vor allem auch die geistige Herrschaft über die Dinge, an der wir irgendwie Theil gewinnen müssen, um geistige Personen zu werden und zu sein. Er ist die Weltstellung des menschlichen Geschlechts, welche dasselbe befähigt, sich über die Welt zu erheben und nach einem ewigen Zweck auszuschauen.“ (A.a.O., 325; Hervorhebungen im Original.) – Zur Frage der Vereinbarkeit (natur)wissenschaftlich-erfahrungsmäßiger und christlichreligiöser Erkenntnis vgl. a.a.O., 555–569. Vgl. weiter ders., Religion und Wissenschaft. Man sieht, wie Kaftan hier Friedrich SCHLEIERMACHERs Argumentation aus §4 seiner Glaubenslehre erkenntnistheoretisch wendet: Relative Freiheit, die im Verhältnis zu Weltgegenständen möglich ist, ist hier bei Kaftan relatives Wissen. Wie bei Schleiermacher absolute Freiheit menschenunmöglich ist, so ist bei Kaftan absolutes Wissen unmöglich. Vgl. Schleiermacher, Der christliche Glaube (1830/31), KGA I.,13,1: 40. – Die Ablehnung eines höchsten Wissens als Verlängerung der theoretischen Wissenschaften entspricht zugleich gerade dem Selbstverständnis dieser Wissenschaften. Vgl. z.B. Kaftan, Wahrheit, 579. 225 Vgl. in diesem Zusammenhang zu Kaftans Verständnis der Naturgesetze als Elemente einer deutenden Konstruktion der Wirklichkeit ders., Gebet, 7–12; ders., Jesus selbst, 296; ders., Wesen, 429–436; ders., Ein neues Dogma, 73; ders., Wahrheit, 329–338, 342f, 558f, 560–562; ders., Ethik und Statistik, 229–234; ders., Balfour’s Einleitung, 423; ders., Pflicht des Glaubens, 549f. 226 Vgl. Kaftan, Philosophie, 357–370. 227 Kaftan, Philosophie, 5. 228 Kaftan, Wahrheit, 431 (im Original hervorgehoben); vgl. auch a.a.O., 389f.

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welche durch Erfahrung gesetzt sind, hinaustreibt und Grund und Zweck der Welt denkt.229 Damit liegt jeder Philosophie als Versuch der Beantwortung der letzten Fragen umgekehrt ein religiöses Moment zugrunde.230 Der technologische Sprachstil ist deshalb der Kaftanschen Intention nicht angemessen, weil die Pointe seiner Ausführungen darin liegt, dass die Erkenntnis des Absoluten im anthropologischen Sinne als holistisch zu beschreiben ist. Sie ist nicht Sache einer theoretischen Ermittlung von Gegebenheiten, sondern geht zusammen mit einer bestimmten „Lebensordnung“,231 insofern das höchste Gut als die alles bestimmende Wirklichkeit zu verstehen ist. Es bestimmt mithin nicht lediglich den Gehalt der Erkenntnis des Absoluten, sondern zugleich die Ausrichtung von Gefühl und Wille. Mithin korreliert der Erkenntnis des Absoluten die Lebensgestaltung im umfassenden Sinne. Dieser Einsicht entspricht die apologetische Methode Kaftans, wie er sie in Kritik und Würdigung der üblichen erkenntnistheoretischen Methode entwickelt und als „Selbstbesinnung des Geistes“232 bezeichnet. Es darf sich in der „Erkenntnistheorie“ nicht nur um das theoretische Erkennen als solches handeln […]. [N]ein, alles, was wir an Erkenntnis haben, muß in den Bereich der Prüfung einbezogen werden, auch was uns als persönliche Überzeugung, in Moral und Religion vor allem, feststeht.233

————— 229 Vgl. Kaftan, Philosophie, 176–195. 230 Diese Beantwortung der letzten Fragen wird von Kaftan „Deutung“ genannt (vgl. ders., Philosophie, 303; ders., Wahrheit, 406). Nicht nur jede teleologische Weltbetrachtung, sondern überhaupt jede Weltanschauung ist damit von persönlicher Wertsetzung abhängig (vgl. ders., Wesen, 424f). Dazu ders., Diesseits, 321: Nietzsche „wußte es, daß die Namen der Werte die letzten Worte sind, die es für Menschen giebt, daß es neben dem Sinn, den sie ins Dasein legen oder aus ihm nehmen, keinen andern Sinn giebt.“ Dass Kaftans eigene Beantwortung der Sinnfrage eminent teleologisch strukturiert ist, marginalisiert GEISLER, wenn er das Proprium der Kaftanschen Wertetheorie im Vergleich zu denen Ritschls und Herrmanns so beschreibt: Während „für Ritschl der Schwerpunkt auf […] der sittlichteleologischen Ausrichtung auf das Reich Gottes liegt, für Herrmann in der geschichtlichen Grundlegung des Glaubens in der Person Jesu Christi“, ist „für Kaftan der universale (kultur- und) religionsgeschichtliche Ansatz typisch“ (Geisler, Gottesbeweis, 13). Diese Stellungnahme ist für Kaftan insofern zu korrigieren, als dessen „Ansatz“ in der Religions- und Kulturgeschichte in eine teleologische Betrachtung der Geschichte mündet, welche – so die These der vorliegenden Arbeit – im Ganzen von der Einsicht in die eschatologische Dimension des christlichen Glaubens bestimmt wird (welcher die Ethik gleichsam eingeordnet wird). Der Glaube an das Reich Gottes ist zugleich die Idee eines allgemeinen Weltzwecks. 231 Kaftan, Philosophie, 274 (Hervorhebung von C.C.). 232 Kaftan, Philosophie, 79 (Hervorhebung von C.C.) und das gesamte Kapitel 3. Diese „Selbstbesinnung des Geistes“ unternimmt Kaftan in Gestalt einer Geschichtsphilosophie: vgl. a.a.O., 324, 327–330. Vgl. zum geschichtsphilosophischen – und d.h. immer auch: anthropozentrischen – Prinzip weiter ders., Wahrheit, 249–255, 380, 405–419, 507–511. 233 Kaftan, Philosophie, 81 und 82.

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Die apologetische Methode, wie Kaftan sie vor allem in der Philosophie des Protestantismus – als kritische Reformulierung des Kantschen erkenntnistheoretischen Unternehmens234 – in Anwendung bringt, ist mithin das selbstreflexiv verfasste Fragen nach den Gehalten und Begründungen menschlicher Geistestätigkeit im Ganzen.235 Und das Resultat solchen Fragens ist die These, dass die religiös begründete Erkenntnis des Absoluten nicht zuvörderst Sache des Denkens, sondern des Willens ist. Verständlich wird diese These vor dem Hintergrund der überlieferten Apologetik, wie Kaftan sie vor allem in der Wahrheitsschrift als die Apologetik sowohl der altkirchlichen, mittelalterlichen als auch protestantischorthodoxen Theologie rekonstruiert und ablehnt.236 Sie ist auf eine bestimmte Fassung der Idee des höchsten Gutes begründet, nämlich die Annahme, dieses liege im theoretisch verstandenen Erkennen, im Wissen des Absoluten. Als terminologische Schwierigkeit ist dabei zu beachten, dass Kaftan den Begriff der Erkenntnis äquivok verwendet. Zum einen verweist er auf das verstehende Innewerden eines Gegenstands in umfassender Weise, zum anderen bezieht er sich im engeren Sinne auf das theoretische Erkennen im Unterschied zum Werturteil. Besser wäre es, für letzteres stets den Begriff des Wissens zu verwenden, weil damit auch zum Ausdruck kommt, inwiefern Kaftan das theoretische Erkennen als dem Absoluten unzureichende Form der Erkenntnis beschreibt: Zu meinen, ein Wissen des Absoluten zu entwickeln, bedeutet, die Bedingungen empirischen Wissens, wie es den Naturwissenschaften zugrunde liegt, auf die Erkenntnis des Absoluten zu übertragen. Kaftan sieht in jeder von ihm als spekulativ-idealistisch237 bezeichneten Denktradition einen solchen Versuch, Erkenntnis des Absoluten im Anschluss an theoretische Erkenntnis als höchstes Wissen zu begründen: in der antiken griechischen Philosophie238 ebenso wie in der mittelalterli-

————— 234 Kaftan nimmt in veränderter Form die kritische Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung sowie vor allem die Lehre vom Primat der praktischen Vernunft auf, hinterfragt aber die Lehre Kants von den Bedingungen möglicher Erfahrung, welche zu der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesformen führt. Vgl. z.B. Kaftan, Zum Beweis, 444–450 im Zusammenhang der den ganzen Aufsatz ausmachenden Kritik des „aprioristischen Standpunktes“ (a.a.O., 450) in der Erkenntnistheorie und weiter ders., Zur Dogmatik, 174–177. 235 Kaftan unterscheidet an diesem Ganzen die geistigen Ausdrucksbereiche von Wissenschaft, Kunst, Moral und Religion; vgl. ders., Philosohie, 104 im Zusammenhang des gesamten dritten Kapitels (a.a.O., 79–133). 236 Vgl. Kaftan, Wahrheit, der gesamte erste Abschnitt und sodann das Kapitel 3. 237 Kaftan ist insofern selber als Idealist zu verstehen, als er das, was sein soll, als Movens menschlicher Geistestätigkeit fasst (vgl. ders., Philosophie, 124); er ist aber insofern nicht als Idealist zu verstehen, als er dem Denken keine selbständige schöpferische Bedeutung zuspricht. 238 Vgl. v.a. Kaftan, Wahrheit, 30–39 (im Zusammenhang des ersten Kapitels zur „Entstehung des Dogmas“).

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chen Scholastik (welche auch der altprotestantischen Apologetik zugrunde liegt)239 und der spekulativen Philosophie des Idealismus.240 Die der überlieferten philosophischen Apologetik wie jeder Philosophie zugrunde liegende Religion, welche als Religion Kaftans Ansatz zufolge im Blick auf das in ihr erstrebte höchste Gut beschrieben werden muss, entspricht damit jenem Typus der geistigen Religionen, den Kaftan als den mystischen Typ bezeichnet, und der seine Entsprechung in der theoretischspekulativen Philosophie findet.241 Wie dort in der mystischen Religion das höchste Gut in der Gottesschau unter Abwendung von der praktischen Weltstellung des Menschen gesucht wird, so verortet die theoretischspekulative Philosophie die Erkenntnis des Absoluten im Denken und seinen Gesetzen. Hier ist festzustellen, dass Kaftan die Methode und Intention der theoretisch-spekulativen Philosophie weniger im Sinne ihrer Vertreter selbst darstellt, dass er, mehr noch, möglicherweise in dieser Darstellung manchem Fehlverständnis unterliegt. Mit seiner Konstruktion der theoretisch-spekulativen Denkweise verfolgt Kaftan vor allem das Interesse, seine eigene Position zu entwickeln und darzulegen.242 Diese ist nämlich negativ auf eine Kritik der das Wissen des Absoluten oben an stellenden Methode zurück bezogen. Vor allem aus zwei Gründen speist sich diese Kritik. Zum einen bedeutet die Konzeption des Absoluten in planer Verlängerung des theoretischen Wissens eine Negation des Glaubens als selbständiger Form der Erkenntnis.243 Den Glauben lediglich als „bloße Vorstufe“244 des Wissens zu verstehen, entspricht weder dem Wesen des Wissens als Bearbeitung endlichen Seins noch dem Wesen des Glaubens als auf einem Werturteil beruhender ganzheitlicher Lebensorientierung. Überwunden werden kann die Problematik auch dann nicht, wenn das ————— 239 Vgl. v.a. Kaftan, Wahrheit, 160–169 (im Zusammenhang des dritten Kapitels zur „orthodoxe[n] Dogmatik“, wie sie in der im zweiten Kapitel dargestellten „Entwicklung der Theologie“ im Mittelalter begründet ist). 240 Vgl. v.a. Kaftan, Wahrheit, 219–234 (im Zusammenhang des vierten Kapitels zur „Zersetzung des kirchlichen Dogmas“ in der Aufklärung, welche letzthin zum Versöhnungsversuch von Glauben und Wissen in der idealistischen Philosophie führt – dabei ausführlich zu Schelling und Hegel, kurz zu Strauß und Biedermann). 241 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 378–400 zur Widerlegung der theoretisch-spekulativen Methode. 242 Kaftan rekonstruiert niemals ausführlich die Gotteslehre der spekulativen Philosophie. Er scheint mit seiner Interpretation auf Stellen abzuheben, wie sie beispielsweise in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion vorliegen, in deren erstem Teil der Gottesbegriff und sodann das Verhältnis des Menschen zu Gott verhandelt wird. Um den Zusammenhang zwischen beiden Argumentationsschritten aufzuzeigen, bemüht sich Hegel um eine Verortung der Rede über Gott als Objekt in den Vermögen des menschlichen Subjekts – und kommt zu dem Ergebnis, dass die Religion als „Beziehung auf Gott […] im Denken ist.“ (Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion 1, 336; Hervorhebung von C.C.) 243 Vgl. Kaftan, Philosophie, 275, wo Kaftan einmal mehr auf die Reformation verweist, welche die selbständige Bedeutung des Glaubens ans Licht gebracht hat. 244 Kaftan, Philosophie, 275.

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Wissen des Absoluten in der schöpferischen Kraft des Denkens begründet wird.245 Zum anderen bedingt die spekulative Methode eine unangemessene Abstufung auch auf dem Bereich der „Lebensordnung“,246 insofern das sittliche Handeln als dem Wissen vom Absoluten äußerlich gefasst ist und somit – wie es sich vor allem in den katholischen und mystischen Formen des Rückzugs aus der Welt äußert – von einem Bereich „mönchischer Vollkommenheit“,247 welche vor allem religiöse Vollkommenheit ist, überboten wird.248 Überwunden sind Kaftan zufolge beide Formen der dichotomen Stufung menschlichen Lebensvollzugs und der damit einhergehende „Intellektualismus“,249 wenn das religiös begründete Handeln als „Weg zur Gotteserkenntnis“250 gefasst wird. Kaftan meint mithin in der religionsphilosophischen Apologetik des Christentums explizit, dass die Erkenntnis des Absoluten und damit von Grund und Zweck der Welt sich im sittlichen Handeln nicht nur auswirkt, sondern in ihm statthat. Sein Interesse hierbei ist wie dargelegt, die Gotteserkenntnis als praktische von der theoretisch-spekulativen oder mystisch-spekulativen abzugrenzen. Es fragt sich allerdings, ob er damit nicht das Begründungsverhältnis von Gotteserkenntnis – oder anders: der erlösenden Gottesreichserfahrung – und sittlichem Tun, wie er es in der religionstheoretisch, exegetisch und dogmatisch durchgeführten Wesensbestimmung des Christentums herausarbeitet, geradewegs umkehrt. So konnte gezeigt werden, dass die gleichsam mystische Erlösungserfahrung, wie sie für Kaftan im Glauben an den Auferstandenen gegeben ist, der Grund für den sittlichen Selbstvollzug des Menschen in der Welt ist, welcher mithin als Einübung in die Ewigkeit zu verstehen ist.251 Damit gründet die christliche Ethik in der christlichen Gotteserkenntnis. Wenn Kaftan in den religionsphilosophisch-apologetischen Schriften aber den sittlichen Vollzug als „Weg zur Gotteserkenntnis“ beschreibt, so wird hier nicht immer deutlich, dass der sittliche Vollzug seinerseits theonom konstituiert ist und als solcher Gotteserkenntnis stets schon voraussetzt. Die somit gegebene Spannung ist nicht eindeutig aufzulösen. Sie weist aber auf einen für das Verständnis des christlichen Glaubens grundlegenden ————— 245 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 44–54. 246 Kaftan, Philosophie, 274. 247 Kaftan, Philosophie, 275. 248 Vgl. zur Kritik der spekulativen Methode insgesamt die Kapitel 1 und 2 aus dem zweiten Abschnitt der Wahrheitsschrift (266–378 sowie 435–489) sowie die Darstellung und Kritik der traditionellen so genannten Beweise für das Dasein Gottes: ders., Dogmatik, 160–168. 249 Kaftan, Philosophie, 315. 250 Kaftan, Philosophie, 275. Zu den beiden hiermit angedeuteten möglichen – gleichermaßen religiösen – Wegen von Gotteserkenntnis vgl. weiter a.a.O., 1–27, 77f, 302f sowie ders., Wahrheit, 67–71, 380–383. 251 Vgl. oben Kapitel 2.3.4 und 2.3.5 sowie Kapitel 3.3.4.

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Zusammenhang hin, welchen zu entfalten Kaftans theologisches Anliegen ist, und welcher in seinem Denken genau an der Schnittstelle von christlicher Eschatologie und christlicher Ethik zu verorten ist. Nicht nur wie Ritschl, sondern auch wie Luther versucht Kaftan, die empirische Selbstwahrnehmung des Menschen in die Glaubenstheorie zu integrieren. Ziel ist es, die im Glauben gegebene Gotteserfahrung des Menschen – sein Sein coram Deo – in ihren existentiellen Verwirklichungsweisen offenzulegen. Wenn Kaftan dann den sittlichen Vollzug als Handeln nach dem Ideal des Gottesreichs sogar als „Weg zur Gotteserkenntnis“ beschreibt, so will er damit hervorheben, was auch Luther bewegt hat. Die christliche Gotteserfahrung – sei sie als Gottesreichgemeinschaft, als Erlösung von der Welt oder als christliche Freiheit beschrieben – drängt aus sich heraus auf die Aneignung in ihrem sittlichen Vollzug. In gewisser Weise ist jene Erfahrung nicht anders gegeben als so, dass sie immer zugleich handelnd vollzogen wird. Das ethische Tun als Verwirklichung der imago Dei ist „so die konkrete Erscheinung des Glaubens selbst, nicht bloß eine nachträgliche Folge“, wie Ringleben die lutherische Beschreibung christenmenschlicher Glaubensexistenz zusammenfasst.252 Wenn der ethische Vollzug damit als Selbstauslegung des Glaubens begriffen wird, so ist dabei stets die konstitutive Bedeutung der Gotteserkenntnis – von der Wesensbeschreibung des Christentums her: die konstitutive Bedeutung des Gottesreichs als Gabe des höchsten Guts – mitzuführen. Kaftan bespricht den Glauben niemals nur seiner ethischen Vollzugsweise nach, sondern diese immer nur vom theonomen Glaubensgrund her. So hat Wittekind zwar in der Hinsicht auf die Vollzugsmomente des Glaubens Recht, wenn er meint, Kaftan begreife den Glauben „als persönliches ethisches Bewußtsein“.253 Doch wenn er die überindividuellen Konstitutionsmomente dieses Bewusstseins als „Bestandteile des individuellen Bewußtseins“254 in dieses hineinzieht, so marginalisiert er Kaftans große Emphase für die selbst- und weltüberschreitende Verortung des Glaubensgrundes. Der Glaube ist bei Kaftan zunächst ein Herausgenommenwerden aus den endlichen Zusammenhängen, weil er als eschatologischer Erlösungsglaube an den überweltlichen Gott bestimmt wird, und nur in dieser weltüberhebenden Kraft des Glaubens gründet seine ethisch-selbstbewusstseinsklärende Potenz.255 ————— 252 RINGLEBEN, Freiheit im Widerspruch, 16. 253 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 118 (vgl. ähnlich a.a.O., 120). 254 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 120. 255 Ob diese Konzeption überzeugend ist, oder ob nicht Wittekinds stärker innerlichkeitsbezogener, selbstreflexiver Glaubensbegriff, wie er in der Kaftan-Rekonstruktion zu Tage tritt, vorzuziehen wäre, sei hier dahingestellt. Es ist aber festzuhalten, dass Wittekinds Akzentverlage-

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Wenn Kaftan diese Grundstruktur des Verhältnisses von eschatologischer Glaubenserfahrung und ethischem Selbstvollzug – zuweilen in überdeutlicher Schwerpunktsetzung auf der Ethik – auch der religionsphilosophischen Apologetik zugrunde legt, so steuert diese insgesamt darauf zu, jenes Verhältnis auch religionsphilosophisch-erkenntnistheoretisch zu begründen. Schlüsselgedanke solcher Begründung ist die Konzeption des Absoluten als persönlicher Geist, welche nach Kaftan die einzig mögliche Konzeption ist, wenn in der Erkenntnis des Absoluten tatsächlich die gesuchte „Einheit des Geistes“ erreicht sein soll.256 Nur wenn das Absolute als persönlicher Geist konzipiert wird, ist jeglicher „Intellektualismus“ vermieden und können die verschiedenen Formen der Erkenntnis als Vollzugsweisen des einen menschlichen Bewusstseins gefasst werden. Auf dem Gebiet des inneren persönlichen Geisteslebens aber, wo wir werten und leben und indem wir es tun bei uns selber sind, wird das Absolute zu etwas Positivem, zu etwas, was außer der Reihe steht, eben ein Wert, den wir als einen letzten, höchsten, absoluten inne werden.257

Kaftan geht mithin in seiner Konzeption einer „Einheit des Geistes“ zweischrittig vor. Zunächst begründet er, inwiefern jegliche Antwort auf die Frage nach Grund und Zweck der Welt ein religiöses Werturteil darstellt, das heißt eine Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gut. Sodann fragt er, ob dieses höchste Gut im Wissen oder im Handeln angeeignet wird – und beschreibt den sittlichen Vollzug als Ort der Erkenntnis des Absoluten.258 Dieses Vorgehen erscheint auf den ersten Blick redundant, insofern bereits im ersten Schritt erwiesen zu sein scheint, dass nur ein Werturteil Erkenntnis des Absoluten ausdrücken kann und damit das Wissen von vornherein in der Erkenntnis des Absoluten disqualifiziert wäre. Der Eindruck der Redundanz löst sich auf, wenn bedacht wird, dass Kaftan mit dieser Argumentation zugleich meint, die spekulativ-mystischen Erkenntnisversuche des Absoluten seien ihres eigenen Religions-Seins nicht bewusst, sondern nähmen an, im Wissen zugleich jegliche Begründung im religiösen Werturteil hinter sich gelassen zu haben. Umgekehrt ließe sich – ohne dass Kaftan dies explizit sagt – für die praktische Erkenntnis des Ab————— rung von der Objektivität des Glaubens auf die Subjektivität sich in seiner Darstellung des Kaftanschen Dogmatikverständnisses in konsequenter Weise fortträgt. Vgl. dazu unten 4.3.2. 256 Vgl. Kaftan, Philosophie, 315f. 257 Kaftan, Philosophie, 320f. 258 Dass Kaftan hiermit ein moralisches Werturteil als letzthin religiös bezeichnet, steht in Spannung zu der Unterscheidung zwischen Religion und Moral in der Wesensschrift (vgl. dazu oben Kapitel 3.2), welche in der Unterscheidung zwischen religiösen und moralischen Werturteilen begründet ist. Kaftan thematisiert diese Spannung nicht; es ist aber davon auszugehen, dass vor allem die späte Apologetik in der Philosophie bereits von der idealen Integration der Moral in die Religion herkommt, welche zu zeigen letzthin auch das Anliegen der Wesensschrift ist.

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soluten sagen, dass sie ein Bewusstsein um ihr eigenes Religion-Sein mit sich führt. Der Gedanke lässt sich auf die christliche Religion protestantischer Form als idealen Typus praktischer Erkenntnissuche so applizieren, dass sie in ihrer vollendeten Form ein Wissen um die eigene Bedingtheit wach hält. Es ist nun noch zu fragen, wie Kaftan sich die Verwirklichung der Erkenntnis des Absoluten im sittlichen Vollzug denkt. Dabei wird sich zeigen, dass hier die Glaubenstheorie ihren Höhepunkt erreicht und zugleich die Frage nach der Vermittlung von Eschatologie und Ethik in vertiefender Weise beantwortet wird. 4.2.5 Glaube als geistige Selbstbildung Der Kern von Kaftans These, die religiöse Erkenntnis des Absoluten bestehe nicht im Wissen, sondern in einem moralischen Werturteil, ist darin zu sehen, dass die Erkenntnis des Absoluten sich in einem „Willensakt“,259 in einer persönlichen Entscheidung vollzieht. Die wichtige Folgerung aber, die sich daraus ergibt, Folgerung nämlich in betreff des Geistes und dessen, was sein Wesen ausmacht, ist die, daß der Geist immer zugleich eigene Schöpfung dessen ist und sein muß, in welchem er lebt und wirkt.260

Damit ist die folgenreiche These vorgetragen, dass der Mensch, indem er sich selber als Geist erschafft,261 den absoluten Geist erkennt. Im vorangegangenen Kapitel wurde beschrieben, inwiefern der sittliche Vollzug in der Beobachtung der höchsten sittlichen Ideale das Werden geistiger Persönlichkeit bedeutet. In der Philosophie des Protestantismus klärt Kaftan seine Zuordnung von Geist und Natur noch einmal in prinzipieller Weise, welche die Vergeistigung sowohl im ethischen Handeln und in der Religionsgeschichte in onto- und phylogenetischer Perspektive als auch im Blick auf das Verhältnis von Natur und Geist in der Natur- und Geschichtsphilosophie näher bestimmt. In der frühen Wesensschrift wurde, wie in Kapitel 2 dargelegt, die vollendete Religion als vollkommen geistige Religion beschrieben, das heißt als Religion, die dem religiösen Subjekt ein geistiges Ziel vorstellig macht. In der Ausrichtung auf dieses Ziel wird das natürliche ————— 259 Kaftan, Philosophie, 124. Vgl. ders., Glaubensgewißheit und Denknotwendigkeit, 42 (Hervorhebung im Original), wo heraustritt, dass der Glaube damit auch zuweilen gegen die scheinbare Faktizität der Weltwirklichkeit anglaubt: „[I]m Glauben und seiner Gewißheit [klingt] das Dennoch […], in den entscheidenden Momenten gerade, d.h. daß der Glaube in einem Willensakt wurzelt.“ Ähnlich ders., Ueber den Glauben, 14. 260 Kaftan, Philosophie, 124 (Hervorhebung im Original). 261 Vgl. Kaftan, Philosophie, 242: „[N]ur das ist Geist, was sich selber schafft.“ Vgl. weiterhin a.a.O., 293–295, 350f, 355.

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Strebeverhalten sublimiert. In der Philosophie nun entfaltet Kaftan sein Prinzip für solche Vergeistigung, die als Herausentwicklung des Geistes aus der Natur zu begreifen ist. Dieses Prinzip integriert sowohl den Ansatz beim natürlichen Leben als auch die Bestimmung des Menschen zum Geist. Kaftan zufolge ist alles Menschliche, und damit auch die hier besonders interessierenden Phänomene des Religiösen und des Sittlichen im Bereich des natürlichen Lebens verwurzelt, erfährt seine Vervollkommnung jedoch in der vom Bereich des Natürlichen zu unterscheidenden Sphäre des Geistigen. Derart zwischen Naturmonismus und Natur-Geist-Dualismus vermittelnd, lokalisiert er das Aufbrechen des Geistigen in den Momenten, in denen der Mensch vormalige Mittel zu Zwecken umgestaltet. Es ist die von Kaftan so genannte „Regel des Geistes“,262 welche sich in dieser Höherentwicklung ausdrückt. Sie ist in allen Sphären menschlichen Lebens auszuweisen: Im Bereich der Moral veranschaulicht Kaftan die Regel des Geistes an den Gerechtigkeitsgeboten, die nach den Ausführungen in Kapitel 3 als sittliche Güter das Fungieren des Zusammenlebens gewährleisten sollen.263 Sie dienen also als Mittel, das natürliche Leben in der Sozialität zu erhalten. Begreift das sittliche Subjekt diese Gebote jedoch nicht mehr nur pragmatisch als Mittel zum Zweck des Lebens, sondern als Selbstzweck, transformiert es näherhin die Gerechtigkeitsgebote in das Liebesgebot, so realisiert sich der Geist.264 – Im Bereich der Religion ist es der Überschritt von den natürlichen zu den geistigen Religionsformen, die Kaftan nun nach der Regel des Geistes beschreiben kann. Auf der Stufe der natürlichen Religionen ist das Hängen an der Gottheit das Mittel zur Verwirklichung des unbefriedigten Lebensanspruches; der Glaube an die Macht der Gottheit steht im Vordergrund von Dogma und Kultus. Auf der Stufe der geistigen Religionen gerät die Verbindung, letztlich die Einheit mit der Gottheit, zum Selbstzweck. Kaftan meint nun, dass das Phänomen des Geistes, das heißt der nach der Regel des Geistes beschreibbare Prozess der Vergeistigung, sich von der Moral her den anderen Bereichen des menschlichen Lebens, insbesondere der Religion,265 mitteilt. Das sittliche Erlebnis der Verselbstzwecklichung ————— 262 Kaftan, Philosophie, 105. Simmels Begriff der „Achsendrehung“ wird später eine ähnliche Beschreibung der Entstehung von (objektiver) Wertgeltung bezeichnen, wobei Simmel allerdings aus der Zweck-Mittel-Kategorie überhaupt heraustreten will und die Wertsetzungen als gerade zweckfreie beschreibt (vgl. Hans JOAS, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1997, 124–126). 263 Vgl. oben Kapitel 3.2.2. 264 Ein zweiter Aspekt der Vergeistigung im moralischen Bereich ist das der Umwandlung der Gebote des Maßes in der Sinnlichkeit in „Zucht des Geistes“ (Kaftan, Philosophie, 148). 265 Der dritte Bereich menschlicher Erkenntnis, der Bereich des (wissenschaftlichen) Wissens, wird hier unberücksichtigt gelassen, weil Kaftan in ihm, auch in seinen Geistmomenten, d.h.

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von Idealen, nach Kant die Erfahrung der Unbedingtheit des Sollens, ist gewissermaßen das geistige Urerlebnis.266 Die sich aus diesem Erlebnis ergebende Erkenntnis ist nicht nur die des Sittengesetzes und der sittlichen Weltordnung, sondern vor allem die Idee der Persönlichkeit als Zweck individuellen und gemeinschaftlichen Lebens.267 Für die oben gezogene „wichtige Folgerung“, dass die Erkenntnis des Absoluten in der Selbsterschaffung des Menschen als Geist liegt, heißt dies: Ein Mensch erschafft sich darin selber, dass er – aufgrund von Offenbarung268 – vormalige Mittel zu Zwecken umgestaltet: Indem ich, was sich mir im natürlichen Lebensprozeß als Mittel aufdrängt, als Zweck ergreife, ich selbst in innerer Freiheit, und darin mein Leben sammle und es von diesem Mittelpunkt aus neu bestimme, bin ich Geist; in dem Maß, als es mir gelingt, werde ich Geist.269

Unverkennbar und von ihm selber explizit gemacht, reformuliert Kaftan hier die Idee des Menschen als imago Dei, indem er den Menschen als Schöpfer seiner selbst – das heißt: seiner göttlichen Bestimmung nach270 – fasst. Die These, das Absolute erkenne der Mensch im Sich-selber-alsGeist-Erschaffen, entspricht dem tiefsinnigen Gedanken von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Ebenbild des Schöpfers kann der Mensch nur sein, indem er, das Geschöpf, auf gegebener Grundlage sich selber schafft.271

Abgesehen davon, dass hiermit zugleich der kategoriale Unterschied von Gott und Mensch darin festgehalten ist, dass die göttliche Schöpfung creatio ex nihilo ist, während die Selbsterschaffung des Menschen auf der Grundlage dieser göttlichen creatio geschieht,272 ist hier einmal mehr zum Ausdruck gebracht, dass die Möglichkeit des Personwerdens im Gottesbegriff selber liegt. Denn die Bestimmung des Menschen, sich selber als geistige Persönlichkeit zu erschaffen, gründet darin, dass der Mensch Ebenbild

————— der Verselbstzwecklichung der wissenschaftlichen Erkenntnis, keine Erkenntnis neuer Art, die Aufschluss über die letzten Fragen geben könnte, wurzeln sieht. Vgl. ders., Philosophie, Kapitel 5. 266 Vgl. zur Problematik der Rede von der Unbedingtheit des Sollens oben Kapitel 3.2 und 3.4. 267 Vgl. zur ethischen Geistkonzeption Kaftans auch ders., Logoslehre, 16, 18, 22. 268 Vgl. unten 4.2.6. 269 Kaftan, Philosophie, 125. 270 Vgl. Kaftan, Philosophie, 152 (Hervorhebung im Original) zu dem Gedanken, dass es „die Bestimmung des Menschen [ist], Geist zu werden und zu sein.“ Dazu auch oben Kapitel 3.3.4. 271 Kaftan, Philosophie, 125. 272 Vgl. Kaftan, Philosophie, 352 zu dieser Beschränkung menschlichen Selbsterschaffens als „relative“ Schöpfung.

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Gottes als persönlichen Geistes ist.273 Damit ist zugleich der menschliche relative Schöpfungsakt als theonom konstituiert verstanden. In der Philosophie des Protestantismus wird damit in besonderer Weise deutlich, dass alle Ausführungen Kaftans zum Gottesbegriff, seien es die in den religionstheoretischen Teilen seines Werks, seien es die in der Dogmatik, darauf hinauslaufen, die Freiheit des endlichen Subjekts im Zusammenhang geistiger Religion zu denken. Das heißt aber, dass die Idee endlicher Freiheit mit dem Gedanken eines überweltlichen persönlichen Gottes zu vermitteln ist, welcher das Absolute im Sinne unbedingter Macht ist, weshalb die endliche Freiheit im Gottesgedanken selber begründet werden muss.274 Dies ist nicht einfach ein Verfahren der Projektion, welches aus dem Wunsch nach Bewahrung eigener Individualität im Sein und Handeln den Gottesgedanken personal-theistisch entwirft.275 Vielmehr erweist sich der personal-theistisch verfasste Gottesbegriff in der – Kaftan zufolge – unhintergehbaren Erfahrung endlicher Freiheit276 und sittlichen Sollens, ist also naturwissenschaftlicher Erkenntnis darin analog, dass eine – nicht im eigentlichen Sinne verifizierbare – Hypothese aus endlicher Erfahrung heraus verstanden wird. Kaftan hält aber daran fest, dass der aus Erfahrung geschlossene Gottesgedanke keinesfalls ein zwingender Gedanke ist, weil er seinem Wesen nach nicht bewiesen werden kann. Der Beweis Gottes als persönlichen Geistes steht nicht etwa noch aus, sondern im Wesen Gottes liegt es, dass die Erkenntnis Gottes in einem Akt willentlicher Entscheidung liegt.277 Eben weil Gott persönlicher Geist und mithin die „Substanz des Geistes […] das ethische Sein“ ist, ist Erkenntnis des Absoluten als Einheit alles Erkennens nicht im Denken, sondern im „persönlichen Wollen und Handeln“278 gegeben. Mithin bestimmt umgekehrt der Gottesgedanke als Bezeichnung des Telos allen Geistes darüber, wie der Weg zur Gotteserkenntnis bestimmt wird.279

————— 273 Zu dieser Struktur als die christliche Ethik bestimmend vgl. Kaftan, Wirthschaftsordnung, 262f und ders., Empirische Methode, 261. Zur Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen vgl. weiter ders., Dogmatik, 375–383. Ähnlich ders., Die neue Aufgabe, 128f: „Wir können nur werden, was wir sein sollen, wenn ein Funke göttlichen Schöpfergeistes in uns selber springt. […] Menschen Gottes sollen wir werden und werden es nur, wenn wir uns einleben und einüben in Gott.“ 274 Vgl. Kaftan, Philosophie, 220–22 und 296 zu Gott als persönlichem Geist, wie der Gottesgedanke oben Kapitel 3.3.4 ausgelegt wurde. 275 Zu Kaftans Reaktion auf den möglichen Projektionsverdacht vgl. ders., Dogmatik, 191f, 196, wo Kaftan besonders die Notwendigkeit bildlich-analoger Rede von Gott bespricht. 276 Zum Freiheitsbegriff in diesem Zusammenhang vgl. v.a. Kaftan, Philosophie, 293f. 277 Vgl. Kaftan, Philosophie, 381 u.ö. 278 Beide Zitate: Kaftan, Philosophie, 276 (Hervorhebung im Original). 279 Vgl. Kaftan, Philosophie, 293–295.

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Auch das Moment des geistigen Werdens280 ist dabei im Gottesgedanken begründet und keinesfalls lediglich der Sünde des Menschen geschuldet. Es eignet der Schöpfung als guter und nicht erst als gefallener, dass der Mensch seine Bestimmung aller erst verwirklichen muss. Mehr noch ist dieses Werden und somit der „Prozeß des Geistes“ keine notwendige Entwicklung von Gegebenem […], sondern eine Entwicklung, in der alles letzten Endes auf einen Akt der Freiheit, auf einen „schöpferischen“ Akt gestellt ist.281

Was im 2. Kapitel bereits über die Signatur christlicher Existenz von der Auslegung der Gottesreichsverkündigung Jesu gesagt wurde, zeigt sich in der geistphilosophischen Reflexion als im christlichen Gottesgedanken selber angelegt. Des Menschen Bestimmung ist eine eschatologische, insofern sie von der Zukunft her als sich verwirklichende gedacht wird – wobei die endgültige Verwirklichung, so muss hinzugefügt werden, zugleich die Transzendentierung aller weltlich-natürlichen Bedingtheit bedeutet. An der Philosophie des Protestantismus ist freilich zu kritisieren, dass sie weniger die Angewiesenheit des Menschen auf das erlösende Handeln Gottes legt, als vielmehr das selbstschöpferische Handeln des Menschen in den Vordergrund stellt. Dass dieses nicht im Sinne der Selbsterlösung zu denken ist, ergibt sich erst aus der dezidiert theologischen Nachfrage, wie Kaftan denn auch zugesteht, dass die Dogmatik der Philosophie hinzutreten muss.282 Es ist die dogmatische Konzeption des Geistes als Gottes Geist, welche hier zu konsultieren ist. So heißt es in der Dogmatik, dass der Geist „das Personbildende Prinzip im Christen“283 ist und somit das Personwerden des Menschen theonom gegründet und geleitet ist. Von diesen Gedanken her wird einsichtig, warum Kaftan die christliche Vorstellung vom höchsten Gut als Ausdruck vollendeter Religiosität sieht: Der Reichgottesgedanke bedeutet, dass der sittliche Vollzug in der Welt in die höchste Seligkeit integriert wird. Damit ist das höchste Gut – die Einheit mit dem göttlichen Leben –, solange die endliche Weltexistenz währt, nur vermittelt mit der Weltstellung zu haben. Dies geht mit der Einsicht der praktischen Vernunft zusammen, dass das Absolute nur im Prozess des Personwerdens, das heißt des Geist-Werdens, erkannt werden kann. Die Teilhabe am höchsten Gut und damit zugleich die Erkenntnis des Absoluten schließen per definitionem das Geist-Werden des Menschen und damit sittlichen Vollzug in der Welt ein. Die christliche Idee des höchsten Guts ————— 280 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 540; ders., Philosophie, 153, 207, 222, 242, 293, 326–318, 345f, 352, 355, 357–360 sowie oben Kapitel 3.2.3 und 3.3.4 zum Werden als Signatur der Sittlichkeit. 281 Beide Zitate: Kaftan, Philosophie, 293. 282 Vgl. Kaftan, Philosophie, 336f. 283 Kaftan, Dogmatik, 216.

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und die Kantschen Ausführungen zur praktischen Vernunft entsprechen nach Kaftan einander.284 Das Absolute steht dem Menschen nicht zwingend vor Augen, so dass er es theoretisch urteilend erkennen könnte, sondern es liegt gerade im höchsten Zweck, nämlich dem des Reichs der persönlichen Geister, dass der Mensch sich in seinem Welt- und Selbstverhältnis gemäß der Regel des Geistes selber schafft. Im Blick auf die christliche Vorstellung vom Reich Gottes heißt es dementsprechend in der Dogmatik: Wir erkennen als Christen Gott, indem wir zum Reiche Gottes berufen werden und uns von Gott für dieses Reich erziehen lassen.285

Umgekehrt wird durch die Einbettung des Gedankens der geistigen Selbstschöpfung des Menschen in die Frage nach dem Weg zur Gotteserkenntnis deutlich, dass es der Glaube als Teilhabe am Gottesreich ist, durch welchen solche Selbstschöpfung stattfindet. Der Glaube ist daher näher bestimmt als willentlicher Entschluss, sich selber als geistige Persönlichkeit zu erschaffen, worin allererst die Erkenntnis Gottes als persönlichen Geistes liegt. Damit ist zugleich gesagt, wie Kaftan die Kantsche Antinomie von Naturkausalität und Freiheit286 bearbeitet. Im Glauben verwirklicht sich die Freiheit als Verwirklichung der göttlichen Bestimmung des Menschen. Der Glaube ist Tat der Freiheit, der Akt, in dem sich die Selbstschöpfung des Geistes vollendet.287

Es ist letztlich dieser Gedanke der Selbstschöpfung menschlichen Geistes nach dem Ebenbild Gottes, an welchem die christliche Religion als die wahre Religion erwiesen wird, denn er bedeutet, dass die praktische Bedingtheit aller Erkenntnis des Absoluten in das höchste Gut aufgenommen wird. Im christlichen Glauben ist gerade deshalb die Einheit des Geistes gegeben, weil das höchste Gut des Gottesreichs wesensmäßig nur im sittlichen Vollzug angeeignet werden kann.288 Voraussetzung für die Überzeugungskraft eines solchen Erweises ist freilich, dass das höchste Gut des Gottesreichs wirklich ist. Es ist der Offenbarungsgedanke, welchen Kaftan besonders am Ausgang der Wahrheitsschrift deutlich als Begründung aller möglichen Apologetik des christlichen Glaubens herausstellt. Er verweist auf die Schwäche der Postulatenlehre Kants, die schlicht darin besteht, dass ————— 284 Hier liegt der Grund, warum Kaftan Kant als den „Philosophen des Protestantismus“ bezeichnet; vgl. den gleichnamigen Aufsatz von 1904. Vgl. zu dieser Bezeichnung PAULSEN, Kant. 285 Kaftan, Dogmatik, 191; vgl. a.a.O., 188. 286 Vgl. KANT, KrV B, 308–313 (AA III). 287 Kaftan, Philosophie, 342. So heißt es in der Dogmatik, dass es die „christliche Selbstbeurtheilung nicht ohne den Gottesglauben“ (ders., Dogmatik, 196) gibt, dass mithin die Erfahrung des eigenen Selbst als zur geistigen Persönlichkeit bestimmt und der Freiheit in der Verwirklichung dieser Bestimmung in der Erkenntnis Gottes als persönlichen Geistes gründet. 288 Vgl. dazu oben Kapitel 3.3.

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der Gottesgedanke als Postulat begriffen noch nichts über die Wirklichkeit des Postulierten aussagt.289 In gewisser Weise ist hier die radikale Religionskritik Feuerbachs aufgenommen, welche letztlich wie Kants Postulatenlehre und wie Kaftans eigene Apologetik eine Vernünftigkeit des christlichen Glaubens insofern aufweist, als die Gehalte dieses Glaubens sowohl in ihrer inneren Logik und auch in ihrer Verankerung in der menschlichen Existenz dargestellt werden.290 Und mithin ist von Kaftan klar erkannt, dass der Projektionsverdacht zwingend nur dann widerlegt wäre, wenn die Gehalte jenes Glaubens als Wirklichkeit darstellend erwiesen wären. Dass ein solcher Erweis der Wirklichkeit des höchsten Guts im Unterschied zu dem Erweis der Vernünftigkeit nicht durch die Vernunft, und das heißt: durch die Philosophie als Apologetik erbracht werden kann, gründet in der Überweltlichkeit des höchsten Guts: Kein Verstand, keine Vernunft führt durch bloße Schlußfolgerung aus den gegebenen Thatsachen zur Versicherung über eine Thatsache, welche an und für sich nicht zu dieser Welt gehört. Sie kann lediglich dadurch kund und zur Gewißheit werden, daß sie obwohl von überweltlicher Art doch ein Factor in der Geschichte der Menschen wird und in ihre Erfahrung eingreift. D.h. es kann nur durch göttliche Offenbarung geschehn.291

Dass Kaftan diesen Verweis auf die Offenbarung nicht als supranaturalistischen Versuch der Niederzwingung jeglichen Zweifels an der Wahrheit der christlichen Religion verstanden wissen will, sondern vielmehr in seiner Offenbarungstheorie die schlechthinnige Angewiesenheit des sich selber schaffenden endlichen Geists auf den absoluten Geist reflektiert, ist im Folgenden zu zeigen.292 Dabei wird auch deutlich werden, inwiefern in der Korrelation von Offenbarung und Glaube als Selbsterschaffung des Geistes die Bestimmung des Auftrags der Kirche und darin der dogmatischen Aufgabe liegt. 4.2.6 Glaube und Offenbarung Von zwei Seiten her muss sich Kaftans Glaubenstheorie und die in ihr gegründete Apologetik des christlichen Glaubens herausgefordert sehen. Zum einen ist zu fragen, inwiefern die christliche Gotteserkenntnis, wenn sie sich in subjektiven Werturteilen äußert, vor der subjektivistischen und damit ————— 289 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 548f. Für KANTs Postulate der praktischen Vernunft vgl. ders., KpV, 122–145 (AA V). 290 Vgl. Ludwig FEUERBACH, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1841, 31849. 291 Kaftan, Wahrheit, 550 (Hervorhebung im Original). 292 Hierin liegt auch die Vereinbarung von Vernunft und Offenbarungsglauben: „man muß zeigen, daß es das vernünftige ist, an die Offenbarung zu glauben.“ (Kaftan, Wahrheit, 552.)

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konstruktivistischen Engführung gefeit ist, vor der Kaftan selber warnt. Diese Herausforderung kann die religionskritische genannt werden, insofern es das Zentralargument der radikalen Religionskritik ist, dass die vermeintlichen religiösen Erkenntnisgehalte ins Unendliche projizierte menschliche Bedürfnisse sind.293 Zum anderen sieht sich Kaftan durch die religionsgeschichtliche Argumentation herausgefordert, nach welcher jede – oder doch zumindest jede geistige – geschichtliche Religion den Anspruch erhebt, höchste und letzte Erkenntnis zu bieten, wovon Kaftan in der Wesensschrift selber ausgeht.294 Beide Herausforderungen hängen innerlich zusammen, da sie auf den Erweis des christlichen Wahrheitsanspruches dringen, und ihre Verarbeitung bei Kaftan findet denn auch einen einheitlichen Ausdruck in seiner Auffassung der Offenbarung. Aufschluss sowohl über die Form, in welcher die religionskritische und religionsgeschichtliche Herausforderung an Kaftan herantritt, als auch über Kaftans Verantwortung gegenüber jener Herausforderung, gibt in konzentrierter Weise die Auseinandersetzung Kaftans mit Troeltsch. Diese ist in einigen Artikeln in der Zeitschrift für Theologie und Kirche von 1895/1896 und 1898 öffentlich ausgetragen worden,295 findet aber einen Niederschlag auch in dem Ausruf Troeltschs auf der Versammlung der Freunde der christlichen Welt in Eisenach 1896: „Meine Herren, es wackelt alles“.296 Verständlich wird dieser vielfach zitierte Ausruf allerdings erst, wenn der ihn auslösende Vortrag zur Kenntnis genommen wird: Troeltschs einstiger Lehrer297 Kaftan hatte zum Verhältniß des ————— 293 Vgl. dazu Kaftan, Ein neues Dogma, 10. 294 Vgl. die im Folgenden dargestellte Auseinandersetzung Kaftans mit Troeltsch. 295 Vgl. Ernst TROELTSCH, Die Selbständigkeit der Religion, ZThK 5, 1895, 361–436 und ZThK 6, 1896, 71–110 und 167–218; darauf dann Kaftan, Die Selbständigkeit des Christenthums, ZThK 6, 1896, 373–394; wiederum Troeltsch, Geschichte und Metaphysik, ZThK 8, 1898, 1–69 und schließlich dazu Kaftan, Erwiederung, ZThK 8, 1898, 70–96. 296 Vgl. den Bericht bei Walther KÖHLER, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941, 1 sowie HansGeorg DRESCHER, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 148f; RATHJE, Protestantismus, 89f. Eben so wenig wie Rade berichtet Kaftan von dem Vorfall in Eisenach, welcher übrigens damit endet, dass Troeltsch nach einer Zurechtweisung durch F. Kattenbusch „die Versammlung verläßt und knallend die Tür hinter sich zuwirft“ (Köhler, Troeltsch, 1). 297 Der Student der Theologie Troeltsch war zum Wintersemester 1885/86 von Erlangen nach Berlin gewechselt. Dort hört er Dogmatik und Ethik bei Kaftan und berichtet darüber an seinen Freund Bousset, dass jener ihm „bis jetzt zwar imponiert, aber keineswegs einleuchtet“ (Brief vom 6. November 1885, zitiert bei Drescher, Troeltsch, 41). Dass Kaftan ihm durchaus „imponiert“ hat, zeigt sich auch in Troeltschs Entscheidung nach Göttingen zu wechseln (1886), um beim Urheber jener Bewegung persönlich zu studieren, welche auch auf ihn „mächtig eingewirkt hat“ (Brief vom 23. Dezember 1885; zitiert bei Drescher, Troeltsch, 45, ansonsten unveröffentlicht). Auf die so genannte Ritschl-Schule, deren Bezeichnung als „Bewegung“ sicher in vielem treffender ist, wurde Troeltsch außerdem durch J. Weiß aufmerksam gemacht, wie er in einem Brief an Julius Braun vom 24. Dezember 1885 berichtet (Brief in Auszügen wiedergegeben bei Drescher, Troeltsch, 45, Anm. 34).

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evangelischen Glaubens zur Logoslehre299 gesprochen. Der Vortrag, welcher im Folgejahr im Interesse der Klarstellung von verzerrenden Wahrnehmungen in der kirchlich-theologischen Öffentlichkeit publiziert wurde,300 geht auf eine Anregung Harnacks zurück. Harnack hatte vorgeschlagen, die Wahrheitsmomente der kirchlichen Überlieferung für die evangelische Gegenwart zu eruieren, um so den Zusammenhang evangelischen Christentums mit seiner Vergangenheit trotz aller Kritik am katholischen Lehrbestand zu erweisen. Der zu diesem Zweck von Kaftan exemplarisch herangezogene Gegenstand, die Logoslehre,301 wird auf die ihm zugrunde liegenden „Motive“302 hin befragt und sodann einer Kritik aus evangelischer Perspektive unterzogen. Das dogmatisch interessante Achtergewicht des Vortrags liegt schließlich in dem Versuch, jene der Logoslehre zugrunde liegenden Motive in umgebildeter Gestalt in die evangelische Glaubenslehre zu integrieren. Bei dieser Integration und der sie bedingenden Voraussetzung setzt Troeltschs Ausruf an. Kaftan meint nämlich, dass die Logoslehre zwei innerlich zusammenhängende Motive zum Ausdruck bringt, welche zum Wesen des Christentums gehören und deshalb auch in der evangelischen Dogmatik aufzunehmen sind. ————— Kaftan hat später Troeltschs Lizentiatenarbeit (Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theologie, Göttingen 1891) positiv besprochen; vgl. ThLZ 17, 1892, 208–212. 299 Gehalten am 5. Oktober 1896; erschienen in ZThK 7, 1897, 1–27, und als Sonderdruck Freiburg i.B. 1896. 300 Vgl. die Vorbemerkung in der Publikation des Aufsatzes. – Im Brief an seinen Bruder vom 18. November 1896 (Göbell, Briefwechsel I, 143) beschwert Kaftan sich über Titius, der in der Vossischen Zeitung eine Besprechung des Eisenacher Vortrags von Kaftan veröffentlicht hatte, „ohne Notizen gemacht zu haben“. Inhaltlich moniert Kaftan an Titius’ Besprechung, dass dieser „den positiven Hauptgedanken einfach ausläßt und die Kritik in einer Weise pointiert, als wäre die Bestreitung dessen, um dessen Verteidigung es grade zu tun war, die Tendenz des Vortrags gewesen.“ (A.a.O., 143.) Dies verärgert Kaftan v.a. deshalb, da er durch die grobe Zeichnung die weitergehende Verzeichnung durch die rechtsgerichtete Presse geradezu herbei geschrieben sieht. Hier zeigt sich einmal mehr die Lage Kaftans zwischen den „Fronten“: der zu den jungen, liberalen Theologen im Umkreis der Christlichen Welt gehörende Troeltsch lehnt Kaftans Konzeption ebenso ab wie die positive Richtung. 301 Gemeint ist die durch „die Apologeten des zweiten Jahrhunderts“ (Kaftan, Logoslehre, 2) unter Aufnahme griechischen Denkens entwickelte Lehre von der Menschwerdung des göttlichen Logos in Jesus Christus, welche laut Kaftan „vor Allem kosmologische Bedeutung“ (a.a.O., 3) hatte, insofern der Logos als zwischen Gott und Welt vermittelnd konzipiert wird. Kaftan bedenkt aber die Fortentwicklung der Lehre – namentlich nennt er Tertullian, Origines und Athanasius –, im Zuge welcher problematische Züge transformiert wurden: Die übersteigerte Entgegensetzung von Gott und Welt und gewisse pantheistische Züge werden zurückgenommen. Vgl. a.a.O., 8–10. Zu Kaftans Analyse der „Logosidee“ vgl. weiter ders., Wahrheit, 40–47, 66–85 sowie 232f zur Repristination des Logosdenkens in der spekulativen Philosophie und dann ders., Dogmatik, 220– 222 im Zusammenhang der Erörterung der altkirchlichen Trinitätslehre. 302 Kaftan, Logoslehre, 2.

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Einmal dies […,] daß die christliche Religion die absolute ist, nicht bloß eine unter den anderen, wenn auch die höchste und vorzüglichste, sondern eben die absolute, die außer Vergleich steht. Und sodann das andere, daß diese Bedeutung des Christenthums an die Erscheinung Jesu Christi, an seine Person geknüpft ist.302

Beide Motive hängen deshalb innerlich zusammen, weil die Absolutheit des Christentums im Glauben an die Offenbarung Gottes in Christus gründet, welcher umgekehrt nicht recht verstanden wird, wenn ihm der absolute Anspruch genommen wird. Indem die Logoslehre, welche die Menschwerdung Gottes in Christus expliziert, jene Motive aufnimmt, erfüllt sie eine Aufgabe, die auch die evangelische Dogmatik, will sie am Wesen des Christentums orientiert sein, zu bearbeiten hat. Auf die Logoslehre kann sie zu diesem Zweck aber nicht zurückgreifen, denn diese widerspricht als Dogma aufgefasst dem evangelischen Glaubensverständnis. Zum einen beansprucht sie, „eine ewige Voraussetzung“303 des christlichen Glaubens zum Gegenstand der Frömmigkeit zu erheben, welcher seines eminent spekulativen Charakters zufolge „als heiliges Geheimniß“304 der verständnislosen Anerkennung vorgelegt wird, das heißt aber: nicht im Glauben angeeignet und insofern innerlich verstanden werden kann. Zum anderen entspricht die Logoslehre nicht dem biblischen Zeugnis über das Leben Jesu und muss nachträglich dem Versuch einer Vereinbarung mit jenem zugeführt werden.305 Insgesamt ist die Logoslehre durch das logisch-intellektualistische Verständnis des höchsten Guts geprägt, welches Kaften, wie oben 4.2.4 gesehen, zugunsten des ethisch-voluntativen überwinden will. Die Logoslehre macht das höchste Gut in der Erkenntnis Gottes vorstellig, während die christliche Religion dieses wesensmäßig als im sittlichen Handeln anzueignen lehrt.306 Die die Logoslehre fundierenden Motive – der Absolutheitsanspruch und der Christusglaube – sind mithin in einer Lehre zum Ausdruck zu bringen, welche jegliche „kosmologische Spekulation“307 überwindet. Weil der Ort sittlichen Werdens Kaftan zufolge die Geschichte ist,308 muss eine solche Lehre geschichtsphilosophisch verfasst sein und explizieren können, wie in der geschichtlichen „Erscheinung Jesu Christi“ die Offenbarung Gottes als Grund sittlichen Werdens – und mithin als Grund menschlichen Personwerdens in geistiger Selbsterschaffung – liegt.

————— 302 303 304 305 306 307 308

Kaftan, Logoslehre, 4. Kaftan, Logoslehre, 11. Kaftan, Logoslehre, 11. Vgl. Kaftan, Logoslehre, 12f. Vgl. Kaftan, Logoslehre, 15–19. Kaftan, Logoslehre, 21. Vgl. oben Kapitel 3.2.2 und 3.2.3.

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Wenn es also in der alten Lehre heißt, daß der göttliche Logos in Jesus Christus Mensch geworden ist, so sagen wir statt dessen, daß der persönliche Gott selbst in dem einen Menschen Jesus geschichtliche Gestalt gewonnen hat.309

Das ethisch-geschichtsphilosophisch verfasste Substitut der Logoslehre bringt mithin, wenn es denn christliche Glaubenslehre sein will, wie die Logoslehre zum Ausdruck, dass die christliche Religion aufgrund ihrer konstitutiven Bezogenheit auf das Christusgeschehen die absolute Religion ist: Die Erscheinung Jesu Christi bedeutet in einzigartiger Weise die Selbstoffenbarung Gottes. Kaftan schließt: Es bleibt bei der Ueberzeugung von dem absoluten Charakter unserer Religion, in der wir Gott selbst erreichen, und von der Begründung dessen in Jesus Christus […]!310

Eben an diese Schlussworte, welche die Intention des Vortrags im Ganzen zutreffend wiedergeben, schließt Troeltschs „Es wackelt alles“ an. Mithin besagt dieser Ausruf, dass durch die von Kaftan besprochene und seiner Kritik der Logoslehre zugrunde gelegte Veränderung in der Wirklichkeitsauffassung seit der Aufklärung nicht lediglich die Logoslehre ins Wackeln gekommen ist. Vielmehr ist Troeltsch zufolge der durch sie explizierte Anspruch des Christentums, aufgrund der Christusoffenbarung die absolute Religion zu sein, selber in die Krise geraten. Im Hintergrund steht Troeltschs zeitdiagnostische Einschätzung der angefochtenen Situation der Religion und anderen vormals festgefügt scheinenden Wertesystemen in der Moderne. Die Krise wurde unter anderem durch eben jenes Denken ausgelöst, welches bei Kaftan gerade der Reformulierung des christlichen Offenbarungsglaubens dient: durch das geschichtliche Denken. Die historische Kritik relativiert die Absolutheit des Christentums,311 insofern dieses als Religion neben anderen absolute Offenbarungswahrheit beanspruchenden Religionen zu stehen kommt, und alternative Weltanschauungen versuchen ihre eigenen Wahrheitsansprüche zu etablieren.312 Wenn Troeltsch und Kaftan in ihren Artikeln in der Zeitschrift für Theologie und Kirche als Disputanten um Absolutheit und Offenbarung auftre————— 309 Kaftan, Logoslehre, 22 (Hervorhebungen von C.C.). 310 Kaftan, Logoslehre, 27. 311 Wenn hier von Absolutheit des Christentums gesprochen wird, so soll damit nicht die Unterscheidung zwischen einer Religion und dem Absoluten, auf welches sie ausgeht, aufgehoben werden. Eine Religion als absolut zu bezeichnen, heißt nach dem Verständnis Kaftans vielmehr, sie als wahrhafte Erkenntnisweise des einen Absoluten zu begreifen. 312 Vgl. hierzu schon Ernst TROELTSCHs 1893 auf einem Ferienkurs in Bonn gehaltenen und in ZThK 3, 1893, 493–528 sowie ZThK 4, 1894, 167–231 abgedruckten Vorträge Die christliche Weltanschauung und die wissenschaftlichen Gegenströmungen. – Die Entwicklung des Denkens Troeltschs – insbesondere die Verschiebungen im Nachdenken über den Absolutheitsbegriff – kann hier nicht bedacht werden. Vielmehr liegt der Fokus auf der Auseinandersetzung zwischen Kaftan und Troeltsch in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts.

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ten, so ist zunächst festzuhalten, dass auch Kaftan – möglicherweise entgegen dessen Wahrnehmung durch Troeltsch – mit Troeltsch sagen kann: „Es wackelt alles.“ Auch Kaftan meint, dass religiöse und sittliche Werte in einer Radikalität in Frage gestellt werden, die es nicht mehr zulässt, den alten theologischen Wegen zu folgen.313 Schon in Kaftans frühen Schriften wie der oben herangezogenen zur Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben findet sich somit eine der späteren Unterscheidung Troeltschs zwischen Alt- und Neuprotestantismus ähnliche Beurteilung der evangelischen Theologie und Kirche: Der Glaubensbegriff und die auf ihm aufbauende Methode der protestantischen Orthodoxie sind zu reformieren, wenn den Herausforderungen der aufgeklärten Moderne begegnet werden soll.314 Allerdings unterscheiden sich Kaftan und Troeltsch in der Beurteilung Luthers. Während für letzteren Luther in den Grundzügen seiner Theologie in den durch das Mittelalter bestimmten Altprotestantismus hinein gehört, fordert die Moderne Kaftan zufolge das Zurückgehen der Theologie auf die Reformation und damit die Theologie Luthers heraus.315 Aber Kaftan und Troeltsch sind wieder darin einig, dass die gegenwärtige Herausforderung, sei sie auch krisenhaft, die Chance für Theologie und Kirche bietet, sich auf das Wesen des Christentums und die rechte Methode seiner Bestimmung auf der einen und die dementsprechende dogmatische Umbildung auf der anderen Seite zu besinnen. Ein Zeugnis für diese Überzeugung legt Kaftans religionstheoretisch und geschichtsphilosophisch begründete Kritik an der ————— 313 Vgl. Kaftan, Wesen, 1, wo Kaftan von einer tiefen „Umwälzung im geistigen Leben der christlichen Völker“ spricht, durch welche der Wahrheitsanspruch des Christentums radikal in Frage gestellt wird. Unzutreffend ist deshalb DRESCHERs Behauptung, Kaftan sehe anders als Troeltsch nicht, dass der „gegenwärtige[n] Krise“ des Christentums in der Moderne „mit einem exklusiven Supranaturalismus nicht entsprochen werden kann.“ (Drescher, Troeltsch, 157; im Original z.T. hervorgehoben.) Ausgeglichener fällt Dreschers Urteil a.a.O., 158 aus, wo er Kaftans Aufnahme der religionsgeschichtlichen Methode, der Religionsphilosophie und der Erkenntnistheorie würdigt. 314 Vgl. Kaftan, Predigt des Evangeliums; weiter auch ders., Philosophie, 22, wo Kaftan feststellt, „daß die Apologetik der alten protestantischen Theologen keine andere ist, als die des Katholizismus.“ (Vgl. auch a.a.O., 404f.) Darüber hinaus äußert er sich hier kritisch auch über die eigene theologiegeschichtliche Epoche in ihrem Verhältnis zur Reformation: „Bis heute wirkt das nach. Wir haben den alten Zusammenhang mit der Scholastik weder in der Apologetik noch in der Dogmatik wirklich ganz überwunden.“ (A.a.O., 22f; vgl. 411.) Vgl. hierzu ferner ders., Wahrheit, 138 sowie das gesamte dritte Kapitel („Die orthodoxe Dogmatik“). Zu Ernst TROELTSCHs Lutherverständnis und zu seiner historischen Einordnung der Reformation vgl. v.a. seinen auf dem IX. Historikertag (17.–21.4. 1906) in Stuttgart gehaltenen Vortrag Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: HZ, Der ganzen Reihe 97. Bd., 1–66 (als selbständige Publikation München und Berlin 1911) sowie ders., Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: P. Hinneberg (Hg.), Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele Teil I, Abt. IV, I. Hälfte, Berlin und Leipzig 1906, 253–458. Vgl. aber auch schon ders., Geschichte und Metaphysik, 58. 315 Vgl. Kaftan, Philosophie, 404.

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Logoslehre und das hieran anschließende Umbildungsunternehmen ab, wie eben dargestellt wurde. Die Besinnung auf das Wesen des Christentums führt freilich zu der öffentlich ausgetragenen Kontroverse zwischen Troeltsch und Kaftan, in deren Zentrum die unterschiedliche Offenbarungskonzeption steht, wie sich gleich zeigen wird. Die Auseinandersetzung wird durch einen längeren Artikel Troeltschs zur Selbständigkeit der Religion316 angestoßen, dessen Grundidee aber bereits 1895 vorgetragen wurde, und zwar ebenfalls im Kreise der „Freunde der Christlichen Welt“.317 Es ist hier angezeigt, die Offenbarungskonzeption Troeltschs in ihrer Wahrnehmung durch Kaftan zu berücksichtigen. Verständlicherweise wird Kaftans Offenbarungsverständnis in der reichlich vorhandenen Troeltsch-Literatur zum Thema in der Perspektive Troeltschs dargestellt und kommt insofern zumeist als Negativkonstruktion zu stehen.318 Wird einmal auf Kaftans Offenbarungskonzeption fokussiert, so ergibt sich eine Interpretation, nach welcher Troeltsch und Kaftan nicht so weit voneinander entfernt stehen, wie sie selber – teils äußerst polemisch – bekunden. Zumindest die durch Troeltsch vorgenommene Etikettierung Kaftans als eines „strenge[n] Supranaturalist[en]“319 ist von Kaftans eigener Konzeption her in Frage zu stellen, insofern Kaftan, wie sich zeigen wird, das „geschichtliche Verständniss“320 der Religionen und ihrer jeweiligen Ausdrucksformen auch für das Christentum fordert. Es kann mit Recht gefragt werden, ob Kaftan der Forderung nach geschichtlicher Betrachtung der Religionen nicht sogar deutlicher entspricht als Troeltsch – und zwar gerade weil er den religiösen Anspruch auf absolute Wahrheit und damit die Vorstellung von Offenbarung als übernatürlicher für die christliche Religion so deutlich herausstellt. So setzt Kaftan in seiner Entgegnung auf Troeltschs Aufsatz zur Selbständigkeit der Religion, welche den in programmatischer Weise anders gefassten Titel Die Selbständigkeit des Christenthums trägt,321 bei der problematisch gewordenen Frage nach der Geltung von Werten, oder anders ————— 316 Der Aufsatz erschien in drei Teilen: ZThK 5, 1895, 361–436; ZThK 6, 1896, 71–110 und 167–218. 317 Vgl. den auf der Eisenacher Versammlung von 1905 gehaltenen Vortrag Über den Begriff der Offenbarung. Publiziert ist der Vortrag in umgearbeiteter Form unter dem Titel Christentum und Religionsgeschichte: PrJ 87, 1897, 415–447 und in GS II, 328–363. 318 Vgl. z.B. Trutz RENDTORFF, Art. Troeltsch, Ernst (1865–1923), TRE 34, 2002, 130–143, bes. 132; vgl. weiter DRESCHER, Troeltsch, 151–160. 319 TROELTSCH, Geschichte und Metaphysik, 4. 320 Kaftan, Dogmatik, 56 (Hervorhebung im Original). Vgl. zu Kaftans Einschätzung der relativen Berechtigung der religionsgeschichtlichen Methode auch ders., Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, 1–15. 321 ZThK 6, 1896, 373–394.

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gesprochen: Idealen, an.322 Wertgeltung kann durch die positiven Wissenschaften, welche sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts von der Philosophie emanzipiert haben und einen ungeheuren Fortschritt erleben, nicht erwiesen werden – weder durch die Natur-, noch durch die Geschichtswissenschaften. Die Stoßrichtung des Kaftanschen Aufsatzes liegt nun darin, die Unabhängigkeit der Theologie von der Religionsphilosophie und dem zugrunde liegend die „Selbständigkeit der christlichen Religion aller Religionsphilosophie gegenüber“323 zu erweisen. Das Grundargument ist, dass die Religionsphilosophie die „persönliche[…] Ueberzeugung“324 von Idealen eben so wenig begründen kann wie die positiven Wissenschaften.325 Kaftan anerkennt, wie unter 4.2.4 gesehen, die Religionsphilosophie als apologetische Funktion der christlichen Theologie. So kann die Religionsphilosophie „den lebendigen Kontakt zwischen dem christlichen Glauben und dem übrigen Geistesleben her[…]stellen“326 und somit zum Erweis der „Einheit des geistigen Lebens“327 beitragen. Sie kann hingegen nicht den christlichen Glauben selber als einheitliche Zusammenfassung aller Erkenntnis und mithin als höchste Erkenntnis begründen. Kaftan nähert sich der bereits oben avisierten Schlussfolgerung, dass die Philosophie nur die Vernunftgemäßheit, nicht aber die Wirklichkeit eines höchsten Guts erweisen kann, im Aufsatz zur Selbständigkeit des Christenthums aus zwei einander ergänzenden Perspektiven. Zum einen aus der Perspektive historischreligionswissenschaflicher Beobachtung: Die christliche Religion bezieht sich de facto, so wie sie als geschichtliche Formation auftritt, auf die geschichtliche Gottesoffenbarung in Christus. Zum anderen aus der Perspektive der Wertetheorie: Der christliche Glaube hat wie jedes Ideal „als einzelne konkrete und charakteristische Erscheinung seine Bedeutung und [entfaltet so] seine Kraft“.328 Die Religionsphilosophie kann die Allgemeingültigkeit eines Ideals erweisen, aber wirksam, und das heißt: religiösen Glauben begründend auftreten kann das Ideal „nur als eine höchste, ewige Kraft in sich bergende und entstaltende Einzelerscheinung“.329 Damit zusammenhängend bringt Kaftan das Argument vor, dass das Individuum, welches sich Ideale aneignet, gerade in solcher zutiefst persönlichen Aneig————— 322 Kaftan begreift die Begriffe Wert und Ideal als Synonyme, wobei er letzteren vorzugsweise im Bereich der Moraltheorie verwendet, während Wert eher auf das hinweist, was die ganzheitlich verstandene Lebensausrichtung eines Menschen bestimmt. 323 Kaftan, Selbständigkeit, 377f. 324 Kaftan, Selbständigkeit, 380. 325 Es sei denn, sie träte als Metaphysik alter Provenienz auf; vgl. hierzu Kaftan, Selbständigkeit, 384f. 326 Kaftan, Selbständigkeit, 382. 327 Kaftan, Selbständigkeit, 382. Vgl. ders., Verdienst Kants, 52f. 328 Kaftan, Selbständigkeit, 379 (Hervorhebungen von C.C.). 329 Kaftan, Selbständigkeit, 379 (Hervorhebung von C.C.).

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nung „abhängig [ist] von dem Gegebenen, Ueberlieferten“,330 mithin von konkreten, einzelnen Gestaltungen eines Ideals in der Geschichte. Aus diesen Gründen historischer und wertetheoretischer Art folgert Kaftan, dass die Theologie sich trotz allen apologetischen Werts der Religionsphilosophie in der Begründung des christlichen Glaubens nicht an jene, sondern an die Offenbarung zu halten habe. Dies ist zu betonen: Kaftan führt hier keine religiösen Gründe dafür an, die Offenbarung als den Grund des christlichen Glaubens zu benennen, sondern geschichtswissenschaftliche und erkenntnistheoretische Gründe. Sein „Supranaturalismus“, von dem mit gewisser Berechtigung, wie sich gleich zeigen wird, gesprochen werden kann, ist mithin historisch und erkenntnistheoretisch begründet. Diese Argumentationsstruktur durchzieht die gesamte Auseinandersetzung Kaftans mit Troeltsch – wobei nicht deutlich wird, ob letzterer dies gesehen hat. Es mag den Troeltsch-Kenner verwundern, dass ausgerechnet der „Supranaturalist“ Kaftan von Religionsphilosophie und Theologie fordert, daß klar auseinandertritt, was als eine wissenschaftliche Lehre vom Wesen der Religion und was als Verkündigung der wahren Religion gemeint ist.331

Von dieser Unterscheidung nimmt Kaftans Schrift zum Wesen der christlichen Religion ihren Ausgang. Es ist in der Wesensbestimmung zunächst nicht nach einem Ideal von Religion zu fragen, sondern nach dem, was den geschichtlichen Religionen gemeinsam ist.332 Es ist allerdings zugleich daran zu erinnern, dass Kaftan gleichwohl eine Stufung der Religionen vornimmt und schließlich von der christlichen Religion als „vollendete[r] Religion“ spricht.333 Dies kommt auch im zitierten Schluss des Vortrags zur Logoslehre zum Ausdruck, nach welchem der christliche Glaube wesensmäßig die Überzeugung von der Absolutheit der christlichen Religion impliziert. Der Widerspruch zwischen der Ablehnung eines Idealbegriffs von Religion auf der einen Seite und der Aufstellung eines solchen auf der anderen ist nur aufzuheben, wenn davon ausgegangen wird, dass Kaftan die Beschreibung der christlichen Religion als vollendeter bereits als Audruck seiner „persönliche[n] Überzeugung“334 meint – und das heißt im Glauben an die Offenbarung Gottes in Christus unternimmt. Diese Lesart wird gestützt durch die Rede von einem „Uebergang“335 der wissenschaftlichen und theoretischen Beschreibung von Idealen zur persönlichen Überzeugtheit ————— 330 331 332 333 334 335

Kaftan, Selbständigkeit, 380. Kaftan, Selbständigkeit, 383. Vgl. Kaftan, Wesen, 1–16 und oben Kapitel 2.2.1. Kaftan, Wesen, 193 (Hervorhebung von C.C.) und oben Kapitel 2.2.3 und 2.2.4. Kaftan, Selbständigkeit, 375. Kaftan, Selbständigkeit, 375 (Hervorhebung von C.C.).

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von einem Ideal. Jener Übergang ist als solcher „prinzipieller Natur“336 nicht als allmähliche Fortentwicklung zu begreifen, sondern als „Sprung“337. Geschichtlich zu beschreiben ist mithin – hier ist Kaftan mit Troeltsch einig, was letzterer aber nicht gesehen hat – dass verschiedene geschichtliche Religionen beanspruchen, Wahrheit zu vermitteln und sich zwecks Legitimation dieses Anspruches auf göttliche Offenbarung berufen.338 Nicht geschichtlich zu begründen ist aber, welcher dieser Religionen tatsächlich Wahrheit und schließlich: absolute Wahrheit zukommt – welche dieser Religionen mithin in göttlicher Offenbarung und schließlich: Selbstoffenbarung Gottes gründet. Solche Begründung liegt allein in der Gottesoffenbarung selber, kann also nur von dem erfasst werden, welcher von der Offenbarung persönlich angegangen ist. Kaftan unterscheidet mithin – aus der Perspektive der Troeltsch-Literatur überraschenderweise – radikal zwischen geschichtlicher Methode und der Berufung auf gleichsam übernatürliche Beglaubigung.339 Er wendet sich hiermit gegen den Troeltschen Versuch in dessen Selbständigkeitsschrift, den Wahrheitsgehalt der Religionen auf geschichtliche – genauer: auf religionspsychologische und religionsgeschichtliche – Weise ermitteln zu können. Kaftan legt den Finger darauf, ————— 336 Kaftan, Selbständigkeit, 375. 337 Kaftan, Empirische Methode, 262 (Hervorhebung im Original). In diesem Aufsatz fragt Kaftan nach der Gültigkeit der empirischen Methode in der Ethik und kommt zu dem Schluss, dass in der wissenschaftlichen Ethik die Empirie als Beschreibung dessen, was ist, von Notwendigkeit ist. Die Ethik beschreibt die Wirklichkeit sittlicher Ideale in der Geschichte und kann auf wissenschaftlichem Wege auch zu einer kritischen Vergleichung dieser Ideale gelangen. Was sie nicht kann, ist ein sittliches Ideal als Seinsollendes zu bestimmen. Hierfür ist sowohl auf Seite des Ethikers als auch auf Seite des Adressaten der Ethik „persönliche Überzeugung“ (a.a.O., 265; Hervorhebung im Original) unablässig. Vgl. hierzu auch Kaftan, Das sittliche Leben, wo er sich mit der Ethik Wundts auseinandersetzt; vgl. zur Ethik als geschichtliche Wissenschaft und Auskunft über das Seinsollende – freilich gerichtet an die persönliche Überzeugung – Kaftan, Pflicht des Glaubens, 547f. In seiner Erwiederung auf Troeltsch spricht Kaftan an der betreffenden Stelle von einer Grenzüberschreitung (vgl. ders., Erwiederung, 73). Es wäre allerdings zu wünschen, dass Kaftan diese Grenzüberschreitung bereits in seiner Wesensschrift deutlicher explizierte, insofern die hier als Typologie bezeichnete Systematisierung der Religionen durchaus als eine Stufung auftritt. Kaftan widerspricht diesem Verfahren selber aufs deutlichste in der Erwiederung an Troeltsch, wo er meint, „daß es ohne Vergewaltigung der Thatsachen nicht möglich ist, die Religionen als eine Entwicklungsreihe zu konstruieren“ (ders., Erwiederung, 80). 338 Kaftan beschreibt die Vorstellung von Offenbarung im ersten Teil der Wesensschrift als in allen Religion vorfindliches Element und sieht, dass es der Religion als solcher wesentlich ist, von der Wahrheit dieser Offenbarung auszugehen. Was den Wahrheitsanspruch der Offenbarung betrifft, muss das Christentum sich in die Reihe der anderen Religionen gestellt sehen. Zudem weiß Kaftan auch in jenen Teilen seiner Wesensschrift, die schon vor dem Hintergrund der Überzeugung von der Wahrheit der christlichen Offenbarung stehen, von allgemeiner bzw. natürlicher Offenbarung in anderen Religionen zu sprechen. Vgl. Kaftan, Wesen, 352–358. 339 Dies entspricht der Beschreibung des Verhältnisses von empirischem Vorgehen und persönlicher Überzeugung in den so genannten „Normwissenschaften“ wie der Ethik und der Religionswissenschaft: vgl. Kaftan, Philosophie, 292.

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dass Troeltschs Beschreibung religiöser Entwicklung als einer gestuften und erst recht der Beschreibung der christlichen Religion als der in dieser Stufung relativ höchsten Religion340 ein religiöses Werturteil zugrunde liegt. Dabei ist es zunächst nicht von Belang, dass Troeltsch nicht die Absolutheit, sondern die Höchststellung der christlichen Religion geschichtlich begründen zu können meint.341 Denn auch die Überzeugung, dass eine Religion die höchstgestellte in der Entwicklung der Religionen ist, basiert auf einem Werturteil. Kaftan reagiert damit in gewissem Sinne radikaler auf den von Troeltsch konstatierten Paradigmenwechsel, in welchem sich die Geschichtswissenschaften als Leitwissenschaft auch hinsichtlich der Aufgabe der Sinndeutung etablieren. Er teilt die Troeltsche Auffassung, dass die historische Methode notwendig alle so verstandenen Beweise für die absolute Geltung bestimmter Ideale oder Werturteile in Frage stellt. Kaftan geht aber insofern weiter als Troeltsch, indem er auch bezweifelt, dass über rein historische Betrachtung in der Geschichte aufweisbarer Entwicklungen jemals die Höchstgeltung eines Ideals erwiesen werden kann. Seines Erachtens liegt einem solchen Erweis immer schon ein bestimmtes Ideal zugrunde. Ein solches Ideal bestimmt nach Kaftan auch die von Troeltsch angewandte und deshalb nur scheinbar rein vergleichende Methode. Troeltschs dem Anspruch nach unvoreingenommener Vergleich der christlichen Religion mit anderen Religionen wie dem Buddhismus oder dem Islam mit dem Zweck des Aufweises eines religionsgeschichtlichen Entwicklungszieles ist von der Vorstellung davon geleitet, wie ein solches Ziel sich darstellen muss. So ist es Kaftan etwas bedenklich, ob die Anhänger dieser andern Religionen sonderlich erbaut sein werden von dem ihre Hallen durchziehenden ehrfürchtigen Wanderer, wenn dieser den Strick in der Tasche mitbringt, der ihnen den Garaus machen soll.342

Der „Strick in der Tasche“, den Troeltsch zu seiner Beschreibung der religionsgeschichtlichen Entwicklung mitbringt, ist, wie Kaftan später feststellt, der „entwicklungsgeschichtliche Idealismus“,343 über welchen ————— 340 Vgl. TROELTSCHs Behauptung in ders., Selbständigkeit, ZThK 6, 200: „Auch bei der strengsten wissenschaftlichen Objektivität kann kein Zweifel sein. Es liegt klar zu Tage, daß das Christentum die tiefste, mächtigste und reichste Entfaltung der religiösen Idee ist.“ 341 Vgl. TROELTSCH, Selbständigkeit, ZThK 6, 206f. 342 Kaftan, Methode, 79 (vgl. dazu weiter ders., Erwiederung, 76, 88). Das Bild des „ehrfürchtigen Wanderers“ durch die religionsgeschichtliche Landschaft geht auf einen Vorwurf TROELTSCHs an Kaftan zurück: „Nur wer die Religionsgeschichte lediglich als apologetischer Jäger durchstreift und bloß auf das Wild von Beweisen für die Minderwertigkeit außerchristlicher Religionen lauert, aber nicht wer als stiller und ehrfürchtiger Wanderer diese erhabene Wunderwelt durchzieht, kann von solchen Streifzügen seinen Supranaturalismus unversehrt nach Hause bringen.“ (Troeltsch, Geschichte und Metaphysik, 9.) 343 Kaftan, Erwiederung, 79.

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Troeltsch den spekulativen Idealismus Hegels umbilden will. Troeltsch meint den Maßstab für die Beurteilung der religionsgeschichtlichen Entwicklung aus dieser selber ablesen zu können, insofern die Geschichte objektiv betrachtet einem Telos zustrebt – ein Fortschritt, welcher auf der „Selbstmitteilung des göttlichen Geistes“344 beruht. Jene Religion ist die relativ höchste, welche den in dieser Mitteilung manifesten Idealen am deutlichsten entspricht. Zweierlei ist von Kaftan her hiergegen einzuwenden. Zum einen entspricht der so genannte entwicklungsgeschichtliche Idealismus nicht nur seiner historischen Genese, sondern auch seinem Grundgedanken nach als religionsgeschichtliches Erkenntnisprinzip bereits dem Christentum – nicht aber dem Buddhismus, wie Kaftan exemplifizierend meint.345 Zweitens erkennt Kaftan, dass Troeltschs Erweis der Höchststellung der christlichen Religion auf metaphysischen Voraussetzungen aufruht,346 wie sie sich besonders in dem „Begriff von der Gottmenschheit der Religionsgeschichte“347 zeigen. Mithin ist allerdings die göttliche Wirklichkeit selber zu ergründen, um beschreiben zu können, in welcher der Religionen sich die höchste Offenbarung dieser Realität manifestiert. Kaftans Einwand hiergegen verdeutlicht die generelle Stoßrichtung seiner Troeltsch-Kritik. Letztlich setzt Troeltschs historischer Erweis der Höchststellung der christlichen Religion dessen eigenen Prämissen zufolge Gotteserkenntnis voraus. Kaftan betont hiergegen, was bereits in der Besprechung der Kaftanschen religiösen Erkenntnistheorie deutlich wurde:348 [A]usgeschlossen ist, daß es neben dem Glauben und unabhängig von ihm durch die Wissenschaft einen Weg zur Gotteserkenntnis giebt.349

Hierauf hebt mithin auch Kaftans Selbständigkeitsschrift ab: zu zeigen, dass Gotteserkenntnis praktische Erkenntnis ist, das heißt aber, immer auf einem persönlichen Werturteil beruht. Und es ist der Offenbarungsgedanke, welcher an die Stelle jenes Moments tritt, welches dieses Werturteil und mithin die Gotteserkenntnis begründet. Keine Theorie des Absoluten kann die Glaubenserfahrung überbieten oder auch nur ergänzen. Die Religionsphilosophie kann nur beschreiben, wie die glaubensmäßige Überzeugung einer höchsten Wahrheit entsteht; sie kann diese nicht selbst begründen. Es ist der Vorwurf der supranaturalistisch begründeten Herabwürdigung der nichtchristlichen Religionen, den Troeltsch gegenüber Kaftan erhebt,350 ————— 344 TROELTSCH, Selbständigkeit, ZThK 6, 80. 345 Vgl. Kaftan, Erwiederung, 79. 346 Vgl. Kaftan, Selbständigkeit, 387, 391. 347 Kaftan, Selbständigkeit, 391; vgl. TROELTSCH zur „Gottmenschlichkeit der Religionsgeschichte“: Selbständigkeit, ZThK 6, 97 (Hervorhebung im Original). 348 Vgl. dazu oben 4.2.2. 349 Kaftan, Glaube und Dogma, 50. 350 Vgl. TROELTSCH, Geschichte und Metaphysik, 5, 9 u.ö.

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ein Vorwurf, an welchen sich jene anschließen, die Kaftan von Troeltschs Kritik her lesen.351 Dieser Vorwurf entzündet sich aber gerade an jenen Stellen, an welchen Kaftan eigentlich zeigen will, dass Gotteserkenntnis in jeder Religion auf einem glaubenden Werturteil beruht und nicht theoretisch zu begründen ist. Kaftan weist deshalb in seiner Erwiederung auf Troeltschs Aufsatz zu Geschichte und Metaphysik die Behauptung zurück, er vertrete wie von Frank eine „spezifisch christlich-theologische[…] Methode“.352 Allerdings meint Kaftan selber, dass der Supranaturalismus für ihn „integrierender Bestandtheil [s]einer christlichen Glaubensüberzeugung ist“,353 und er konzediert weiterhin, dass hier der „eigentliche Gegensatz“354 zwischen ihm und Troeltsch liegt. Bei allem Folgenden ist aber festzuhalten: Der Supranaturalismus ist Bestandteil von Kaftans „Glaubensüberzeugung“, welche den oben so genannten „Sprung“ von der religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise in die wertende hinter sich hat. Für den von der Wahrheit einer Religion Überzeugten tritt diese Religion notwendig aus der Religionsgeschichte heraus, und mithin aus dem natürlich-geschichtlichen Weltzusammenhang. Sie bietet für den Religiösen nicht nur relativ höchste Wahrheit, sondern absolute Wahrheit, das heißt: die in der Erkenntnis des Absoluten liegende Erkenntnis der Welt als Ganze und der eigenen Bestimmung. Kaftan hält deshalb daran fest, dass zum christlichen Glauben die Überzeugung der absoluten Geltung der beanspruchten Wahrheit wesensmäßig dazugehört. Diese These speist sich nicht nur aus religionstheoretischer Erwägung, sondern auch aus der Wahrnehmung der Tradition des christlichen Gottesglaubens: [D]er Gott, an den wir glauben, ist der lebendige, der starke und eifrige Gott, der da gesagt hat: Du sollst keine andern Götter haben neben mir.355

Es ist zu bedauern, dass Kaftan in den, der Gelegenheit erwachsenen, Schriften zu Troeltsch seine Offenbarungskonzeption nicht deutlicher vorstellt, denn hier liegt die Begründung für sein Festhaltenwollen am Supranaturalismus. Jene Offenbarungskonzeption ist, wie bereits angedeutet, vom religionstheoretisch-anthropologischen Rahmen her entworfen, wie er in der Wesensschrift gezeichnet wird. Von diesem Rahmen her wird ersichtlich, inwiefern Kaftan zufolge religiöse Offenbarung immer, wenn sie denn wirklich Offenbarung ist, „übernatürlich“ ist. Der Offenbarungsbegriff ————— 351 Vgl. z.B. DRESCHER, Troeltsch, 156. 352 Kaftan, Erwiederung, 72. Vgl. für F.H. Reinhold VON FRANK dessen System der christlichen Gewissheit, 2 Bd., Erlangen 1870/73. 353 Kaftan, Erwiederung, 71. 354 Kaftan, Erwiederung, 82. 355 Kaftan, Glaube und Dogma, 49.

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benennt die „Art und Weise“,356 wie sich aus den von der Gottheit mitgeteilten Gütern zugleich Erkenntnis der Gottheit ergibt.357 Als übernatürlich kann der Ursprung solcher Erkenntnis auf einer ersten Stufe deshalb bezeichnet werden, weil die Güter, aus denen sie erwächst, eben solche sind, welche sich das menschliche Subjekt nicht selber beschaffen kann. Offenbarung entspringt mithin dem religiösen Bewusstsein zufolge nicht menschlichem Reden und Tun, sondern göttlichem. Eine solche Vorstellung von Offenbarung lässt sich insofern für jede Religion feststellen, als Religion per definitionem das gestaltete Ausgehen auf von einer Gottheit erhoffte Güter ist.358 Weiter liegt in der anthropologischen Bestimmung von Offenbarung, dass die Legitimation des in einer Religion erhobenen Wahrheitsanspruchs immer von dem Gegebensein von Offenbarung abhängt. Insofern nämlich Kaftan unter Wahrheit die Entsprechung einer Überzeugung mit der Wirklichkeit versteht, besteht die Wahrheit einer Religion darin, dass das in ihr erstrebte Gut auch tatsächlich mitgeteilt wird – das heißt aber: dass die Religion auf übernatürlicher Offenbarung beruht.359 Nun ist freilich für das Christentum ein gesteigerter Anspruch auf supranaturale Offenbarung in seinem Wesen begründet, insofern die christliche als eine vollendet geistige Religion in der sie begründenden Offenbarung die Mitteilung eines höchsten überweltlichen Guts findet, welches weder natürlichen Bedingtheiten unterliegt noch selber natürlich ist. „Supranaturalismus“ ist mithin auf einer zweiten Stufe die Chiffre dafür, dass die Mitteilung des höchsten Guts allen weltlichen Bedingtheiten enthoben ist und das mitgeteilte höchste Gut selber nicht natürlich, mehr noch, dass es überweltlich ist, wie in Kapitel 2 erörtert. Erneut ist, was den letzten Punkt und damit das spezifisch christliche Offenbarungsverständnis betrifft, ein Vergleich der beiden Typen vollendeter, ————— 356 Kaftan, Wesen, 195. 357 Damit ist der Offenbarungsbegriff neben dem des Guts und neben dem Gottesbegriff der „dritte[…] Grundbegriff aller Religion“ (Kaftan, Wesen, 195). Er stellt näherhin die spezifische Verbindung zwischen den beiden anderen her, insofern er benennt, was der Fromme aus den von Gott mitgeteilten Gütern über Gott selber erfährt. 358 Zu den Unterschieden in den Offenbarungsvorstellungen der einzelnen geschichtlichen Religionen, welche von den Unterschiedenen in den jeweiligen Gütervorstellungen dependieren, vgl. Kaftan, Wesen, 198–204. 359 Vgl. Kaftan, Wesen, 197. – Damit sprengt Kaftans Offenbarungsverständnis und davon abhängig sein Begriff religiöser Wahrheit eine mögliche intellektualistische Engführung von vornherein auf: Offenbarung bedeutet nicht die Mitteilung von Inhalten theoretischer Erkenntnis, sondern die Entstehung von Gotteserkenntnis aufgrund von Werturteilen (vgl. ders., Rechtgläubigkeit, 12). Gegen Troeltsch ist mithin zu sagen, dass Kaftan schon deshalb nicht eine auf Offenbarung gegründete „christlich-theologische Methode“ behauptet (TROELTSCH, Geschichte und Metaphysik, 2), weil Offenbarung sich auf das Lebensverlangen des Menschen bezieht und mithin nicht die „Erweiterung unseres Wissens“ (Kaftan, Wesen, 196), auch nicht unseres theologischen oder religionsgeschichtlichen Wissens bedeutet.

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das heißt, geistiger Religion erhellend. Die in eminentem Sinne mystischen Religionen wie Brahmanismus und Buddhismus gehen ebenfalls auf ein höchstes überweltliches Gut aus, welches letzthin in der Teilnahme am Leben der Gottheit selber gesehen wird. Kaftan kann deshalb für jene mystischen Religionen feststellen, „daß es die Gottheit ist, welche sich selber mittheilend sich dem Menschen erschließt.“360 Er führt mithin den Begriff der Selbstoffenbarung Gottes als Konsequenz der Wesensbestimmung vollendeter, geistiger Religion ein. Wo das religiöse Streben sich auf die Wirklichkeit Gottes selber richtet, ist Offenbarung immer Selbstoffenbarung. Deshalb ist Kaftans Verwendung des Begriffes „supranatural“ im Zusammenhang seiner Offenbarungs- und seiner Wahrheitskonzeption auf einer dritten Stufe darauf gerichtet, Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes zu zeichnen.361 Mithin kann in dreifacher Weise schon aus Kaftans Wesensschrift abgeleitet werden, warum Kaftan am Begriff des Supranaturalismus festhält. Erstens überschreitet jede geschichtliche Religion in ihrer Offenbarungsvorstellung die Grenze der Umwelt und bezieht sich auf eben solche Güter, welche dem menschlichen Subjekt nicht natürlicherweise zur Verfügung stehen oder welche es sich nicht selber beschaffen kann. Zweitens kennen die geistigen Religionen, insofern sie auf ein höchstes überweltliches Gut ausgehen, Offenbarung als Mitteilung eines solchen höchsten überweltlichen, in anderen Worten: geistigen und damit nicht-natürlichen Guts. Und drittens liegt in der Feststellung, dass in den geistigen Religionen Offenbarung stets Selbstoffenbarung Gottes ist, ein abschließender Grund dafür, solche Offenbarung als supranatural zu bezeichnen. So schließt Kaftan seine Erwiederung auf Troeltschs Aufsätze in der Zeitschrift für Theologie und Kirche, indem er seine gleichsam supranaturalistische Offenbarungskonzeption auf den Glauben an die Offenbarung Gottes in Christus zurückführt.362 Er knüpft damit an die Ausführungen in seinem Vortrag zur Logoslehre an, auf welche Troeltsch sein „Es wackelt alles“ vorgebracht hatte. Der Glaube an die Offenbarung Gottes in Christus bedingt den christlichen Anspruch auf Absolutheit – hier ist nun hinzuzufügen: weil das religiöse Subjekt in der Gemeinschaft mit Christus dem Absoluten, das heißt, Gott selbst begegnet. Der Unterschied der christlichen Offenbarungsvorstellung von den gleichsam auf Selbstoffenbarung ausgehenden mystischen Auffassungen dessen, wie sich das höchste überweltliche Gut selber mitteilt, besteht in zwei Momenten. Zum einen ist in der christlichen Religion die „geschicht————— 360 Kaftan, Wesen, 200 (Hervorhebung von C.C.). 361 Vgl. zur Vorstellung der Selbstoffenbarung Gottes weiter Kaftan, Dogmatik, 198, 232, 240. 362 Vgl. Kaftan, Erwiederung, 92.

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Der Grund der Kirche und der Glaube

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liche Bedingtheit“ der Offenbarungserkenntnis „ins Prinzip aufgenommen“.363 Die Mitteilung des höchsten Guts gestaltet sich als Einbruch des Eschaton in die Geschichte, insofern es die geschichtliche Person Jesu ist, in welcher das Gottesreich schon jetzt gegenwärtig ist, und in welcher der christliche Glaube an den Auferstandenen und damit die Teilhabe am Gottesreich gründet. Ein solcher Einbruch des Eschaton in die geschichtliche Wirklichkeit ist die Christusoffenbarung also insofern, als „sie sowohl von überweltlicher Art doch ein Factor in der Geschichte der Menschen wird und in ihre Erfahrung eingreift.“364 Damit birgt die Rede vom Christusprinzip die Gefahr der Verkürzung dieses Vermittlungsgedankens.365 Zum anderen bedeutet der christliche Glaube an die Selbstoffenbarung Gottes, welche als Teilgabe am göttlichen Leben selber zu verstehen ist, kein Aufgehen des Erkenntnissubjekts im Erkannten. Die in der Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes stets mit gesetzte Differenz zwischen Offenbarungsempfänger und Offenbarer wird von Kaftan erneut im Vergleich mit den so genannten mystischen Religionen profiliert, in welchen die Teilhabe an der überweltlichen Wirklichkeit Gottes als „Versenkung in Gott verstanden wird“:366 Diejenigen, welche solche Frömmigkeit auf vollendete Weise in sich verwirklichen, treten der Gottheit innerlich zu nah, um noch […] von Offenbarung zu reden.367

Mithin erfährt die Bestimmung des christlichen Offenbarungsverständnisses hier, allerdings en passant, eine Profilierung, welche für Kaftans Verhältnissetzung von Glaube und Offenbarung und daran anschließend für sein Dogmatikverständnis von Aufschluss ist. Offenbarung in der christlichen Religion bedeutet, dass das Gegenüber von Gott und religiösem Subjekt unaufhebbar ist. In der Terminologie der späteren Dialektischen Theologie368 lässt sich schon für Kaftan sagen: Offenbarung ist der Aufschluss über die Gegen-Ständlichkeit Gottes im eminenten Sinne. Gott steht dem religiösen Subjekt auch und gerade in der Erfahrung der Teilhabe am göttlichen Leben gegenüber – freilich als Persönlichkeit, wie im vorangegangenen ————— 363 Kaftan, Philosophie, 10 (Hervorhebung im Original). 364 Kaftan, Wahrheit, 550. Zur Frage nach der historischen Überprüfbarkeit der Christusoffenbarung bzw. der Frage nach dem historischen Jesus vgl. a.a.O., 564–569. 365 So kritisiert Kaftan Troeltschs „Unterscheidung von Person und Prinzip“ (Kaftan, Selbständigkeit, 392; vgl. dazu TROELTSCH, Selbständigkeit, ZThK 6, 167ff), indem er die Person Christi als Grund der personalen Gottesgemeinschaft des Christen und damit als Grund des christlichen Erlösungsglaubens bestimmt (vgl. a.a.O., 392–394). 366 Kaftan, Wahrheit, 200. 367 Kaftan, Wesen, 200f (im Original z.T. hervorgehoben). 368 Vgl. Karl BARTH, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, Zollikon 21958, 87.

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Kapitel dargelegt wurde,369 so dass der Gegenstandsbegriff nicht apersonal missverstanden werden darf. Dass in der Selbstoffenbarung Gottes zugleich die bleibende Differenz zwischen Gott als absolutem persönlichen Geist und dem endlichen Geist offenbar wird, ist dabei wiederum im Wesen des Absoluten angelegt. Da dieses „ethische[s] Sein“370 ist, und sich Erkenntnis dieses ethischen Seins in der menschlichen Selbsterschaffung als Geist vollzieht, ist auch die Teilhabe am Absoluten, insofern sie Vollendung dieser Selbsterschaffung ist, als persönliches Geschehen zu verstehen – das heißt, als Beziehung von Gott und Mensch als Persönlichkeiten. Am Schluss seiner Erwiederung auf Troeltsch weist Kaftan auf ein mögliches Argument gegen seine These hin, dass der Glaube an die Selbstoffenbarung Gottes in Christus und damit die absolute Wahrheit des christlichen Glaubens das Wesen der christlichen Religion ausmacht: Troeltsch wird entgegnen, daß das nichts als eine unbegründete Behauptung sei, ihm selbst erscheine das Christenthum nicht in diesem Zusammenhang, es sei ihm ohne diesen Offenbarungsglauben innere, überzeugungskräftige Wahrheit.371

Kaftan bedenkt hier, so ist aus dem Text zu schließen, eine gleichsam empirische Methode der Wesensbestimmung des Christentums, welche ausgeht von den gegenwärtigen Erscheinungen christlicher Religion in Staat und Gesellschaft. Diese empirisch-beschreibende Methode, wie sie seines Erachtens Troeltschs Thesen bestimmt, bringt die Trennung von christlich geprägten Wertvorstellungen auf der einen Seite und dem christlichen „Gottesglauben“372 auf der anderen Seite mit sich. Auch Kaftan räumt ein, dass es zahlreiche „Zeitgenossen“373 gibt, welche in ihren Wertvorstellungen und damit in ihrem Handeln von christlichen Idealen bestimmt sind, ohne dass sie sich zum christlichen Glauben bekennen. Daraus nun aber zu schließen, es bestehe kein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Glauben an die Offenbarung Gottes in Christus und einem durch christliche Werte bestimmten Leben ist Kaftan zufolge voreilig. Auf Dauer können die christlichen Werte die Gesellschaft nur dann prägen, wenn in ihr auch der christliche Gottesglaube lebendig bleibt.374 Die Begründung für diese These bringt Kaftan, indem er die seines Erachtens individualisierende Betrachtungsweise Troeltschs hinterfragt. Es ist denkbar, dass Individuen – auch viele Individuen – ihr Leben durch christliche Werte bestimmt sein lassen, ohne in spezifischem Sinne den christlichen Offenbarungsglauben zu teilen. Auf ————— 369 370 371 372 373 374

Vgl. oben Kapitel 3.3.4. Kaftan, Philosophie, 276 (im Original z.T. hervorgehoben). Kaftan, Erwiederung, 92 (im Original z.T. hervorgehoben). Kaftan, Erwiederung, 93. Kaftan, Erwiederung, 92. Vgl. auch Kaftan, Ist Religion Privatsache?, 498.

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Dauer gestellt ist die Bestimmtheit individuellen Lebens durch christliche Werte jedoch nur dann, wenn diese Werte tradiert werden. Solche Tradierung erfährt ihre langfristige Kraft dadurch, dass sie durch eine institutionalisierte Gemeinschaft getragen wird, die ihrerseits durch den christlichen Offenbarungsglauben konstituiert und erhalten wird. In solcher Gemeinschaft wird eine „Tradition der Frömmigkeit“375 – als heilig erachtete Schriften, Riten, Persönlichkeiten umfassend – gebildet, an welcher sich die individuellen Wertüberzeugungen entwickeln und in welcher sie ihren überindividuellen Grund haben.376 Von diesem Gedanken her lässt sich nun abschließend bestimmen, inwiefern die Kirche als zentraler Gegenstand des christlichen Glaubens zugleich Subjekt menschlichen Handelns nicht nur sein kann, sondern sein muss, und wie beides notwendig zusammen hängt. Denn anders als auch Troeltsch zugestehen würde, dass Werte durch geschichtliche Gemeinschaften tradiert werden, meint Kaftan somit, dass der christliche Glaube als Teilhabe an der Gemeinschaft des Gottesreichs und damit auch die christlichen Werte nur dadurch innerlich-persönliche Aneignung finden, dass die in eben beschriebenem Sinne übernatürliche Offenbarung „lebendig weiterwirkt“. Solches lebendige Weiterwirken verortet Kaftan in der empirischen Kirche, wobei wie gesehen die kirchlich organisierte Verkündigung in Wort und Sakrament das Zentrum ist, von welchem her auch das Wirken der Christenheit auf Erden zu verstehen ist. Es bleibt nun zu zeigen, wie Kaftan den Auftrag der Kirche als handelnder ausformuliert, von welcher gilt, dass sie dem Zweck des Gottesreichs dient. Hierbei wird Kaftans Konzeption von Autorität und Gehorsam als Rahmentheorie vorzustellen sein, von welcher her alle kirchentheoretischen Besinnungen auf den Auftrag der Kirche an das spezifisch christliche Verständnis von Offenbarung und Glaube zurückgebunden werden.

————— 375 Kaftan, Erwiederung, 94. 376 In dem offenen Brief Kaftans Ist Religion Privatsache? (1898) findet sich die gesellschaftstheoretische Variation auf diese These: Die Aneignung des christlichen Glaubens untersteht dem Einfluss des sozialen Kontextes, so dass das öffentliche Leben so zu gestalten ist, dass es jene Aneignung befördert (vgl. a.a.O., 497f). Deshalb ist, wenn nach Gründen individueller Wertüberzeugung gefragt wird, der Blick nicht nur auf den Einzelnen, sondern auf den geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext zu richten. Vgl. hierzu weiter ders., Ueber den Glauben, 16–18; ders., Balfour’s Einleitung, 410–412, 424f; ders., Pflicht des Glaubens, 102–104; ders., Bekenntnis, 8f; ders., Religion und „Gesellschaft“, 2. Vgl. zur Geschichte und zur geschichtlichen Überlieferung als Quelle persönlich-individueller Überzeugung ders., Zum Beweis, 470–472.

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4.3 Der Auftrag der Kirche Der Auftrag der Kirche

4.3.1 Kirchliches Handeln als Erziehung zum Glauben Die Weitergabe der „Tradition der Frömmigkeit“377 durch die Kirche wird von Kaftan wie eben gesehen als lebendiges Weiterwirken der Selbstoffenbarung Gottes in Christus gefasst. Als solches Weiterwirken partizipiert die traditio des Gottesglaubens durch die Kirche an der geschichtlichen Offenbarung Gottes in Christus. An der kirchlichen Verkündigung in Wort und Sakrament kann – ubi et quando visum est Deo – dem Einzelnen die absolute Wahrheit aufgehen, wie sie mit der christlichen Gotteserkenntnis gegeben ist. Freilich bedeutet dies nicht, dass der Institution Kirche beziehungsweise ihren Ausdrucksformen selber ein übernatürlicher Charakter zuzuschreiben ist. Dies ist als katholisierende Aufhebung der Differenz zwischen menschlicher Handlung und der Kirche als Objekt des Glaubens – und das heißt als gegenwärtiges Gottesreich – ausgeschlossen.378 Kaftan bemüht sich vielmehr, eine genuin evangelische Konzeption von Autorität und Glaubensgehorsam zu entwerfen, in welcher die durchgängige Bestimmung kirchlicher Gemeinschaft von der als absolut verstandenen Offenbarung her zum Ausdruck kommt, ohne dass dabei der persönliche Glaube als individuelle Aneignung des von Gott allein Gewirkten – des im eminenten Sinne eschatologischen Heils – aufgehoben ist. Im Hintergrund dieser Konzeption steht die These, dass die christliche Gotteserkenntnis nur in Form „innere[r] Unterwerfung und Anerkennung“379 wirkliche Erkenntnis ist, wie es bereits oben zur Rede kam. Aufgrund des sittlichen Wesens Gottes ereignet sich die Gotteserkenntnis im sittlichen Vollzug, das heißt aber im Gehorsam gegen Gottes Willen.380 Umgekehrt impliziert der christliche Offenbarungsglaube, dass sein Gegenstand als Autorität zum Bewusstsein kommt. Die Überzeugungskraft der Kaftanschen Ausführungen zum Autoritätsprinzip in der ethisch ausgerichteten Glaubenstheorie beruht nun darauf, dass er die Autorität des Glaubensinhalts als notwendiges Korrelat menschlicher Freiheit begreift, so dass der Glaubensgehorsam als freier Akt der Persönlichkeit zu stehen kommt. Um diesen Zusammenhang nachvollziehen zu können, ist Kaftans Beschreibung der Geltungskraft des Sittengesetzes aufzusuchen, wie er sie im ————— 377 Kaftan, Erwiederung, 94. 378 Vgl. dazu oben 4.1. 379 Kaftan, Wahrheit, 409. 380 Vgl. besonders deutlich Kaftan, Wahrheit, 86 (im Original z.T. hervorgehoben): Das Christentum ist „auf den Grundsatz gestellt […], daß das Wachsthum in der Gotteserkenntniß nur durch die Unterwerfung des eignen Willens unter den Gotteswillen, durch die thätige Übung in der Erfüllung der göttlichen Gebote erreicht werden kann.“ Vgl. auch a.a.O., 546f.

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Der Auftrag der Kirche

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vierten Kapitel seiner Philosophie im Anschluss an und in Abgrenzung von Kant entwirft. Voraussetzung dabei ist, dass Kaftans Konzeption gemäß die Erkenntnis des Sittengesetzes mit der Erkenntnis Gottes als überweltlichen persönlichen Geistes zusammenfällt.381 Kaftan hinterfragt nun in einem ersten Schritt das Prinzip autonomer Vernunft als gesetzgebender Instanz, von welchem her jegliche Autorität als heteronomes Gegenüber menschlicher Wertsetzung kritisiert wird. Solche radikale Autoritätskritik ist Kaftan zufolge ihrerseits zu beanstanden, weil jede Wertsetzung und mithin auch die Erkenntnis des Sittengesetzes als Sache der praktischen Vernunft von „objektiven Factoren“382 abhängt. Das heißt, die praktische Vernunft arbeitet sich immer schon an Gegebenem ab – Kaftan spricht von dem „[g]eschichtliche[n] Erbe“ –, mehr noch: entwickelt sich erst in der „geschichtliche[n] Erziehung“.383 Zum anderen ist auch von der Seite des vernünftigen Subjekts zu sagen, dass die wertsetzende Erkenntnis keinesfalls sich auf ein Vernunfturteil beschränken lässt, sondern abhängig ist von Freiheit und Willen des Subjekts. Etwas als vernünftig erkennen bedeutet Kaftan zufolge noch nicht, dieses auch zum Wert oder gar zum höchsten Wert eigener Lebensorientierung zu machen, mithin als „Beweggrund des Willens“384 anzuerkennen. Von daher nimmt Kaftan nicht eine abstrakte autonome Vernunft, sondern den sich an autoritativ auftretenden geschichtlichen Idealen abarbeitenden menschlichen Willen als die Instanz an, welche das sittliche Subjekt steuert – und welche immer auch den Einschränkungen durch natürliche Strebungen unterworfen ist.385 In einem zweiten Schritt legt Kaftan, nun zum Teil im positiven Anschluss an Kant, dar, inwiefern das Sittengesetz gerade aufgrund seines imperativen Charakters mit der Freiheit des anerkennenden Subjekts korreliert, mehr noch: diese begründet. Im Rahmen der Kaftanschen Konzeption ist dieses Begründungsgeschehen darin gegeben, dass der Mensch sich durch Gehorsam gegen das Gebot Gottes und damit gegen das Sittengesetz allererst selber als freier Geist erschafft. Seine Freiheit ist mithin nicht als Willkürfreiheit, sondern als Freiheit zum Guten zu verstehen, weil zum einen die Wahlfreiheit des Subjekts immer schon durch geschichtliche und natürliche Faktoren begrenzt wird und zum anderen wahre Freiheit in der Befreiung von diesen Faktoren besteht.386 Damit ist – beide Argumentati————— 381 Vgl. oben Kapitel 3.3.4. 382 Kaftan, Philosophie, 137 (Hervorhebung von C.C.). 383 Beide Zitate: Kaftan, Philosophie, 137. Vgl. auch ders., Das Gewissen, 164–171 (zur Frage nach der „Autonomie des sittlichen Bewußtseins“). 384 Kaftan, Philosophie, 139. 385 Vgl. dazu oben Kapitel 3.2.2 die Kritik Kaftans an Kants ungeschichtlichformalisierender Moraltheorie. 386 Zum Freiheitsbegriff bei Kaftan vgl. oben Kapitel 3.3.2.

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onsschritte zusammengenommen – wahre Freiheit rückbezogen auf die autoritative Geltung eines heteronomen sittlichen Ideals und liegt im Gehorsam gegen dieses Ideal. Diese Verhältnissetzung von Autorität auf der einen und freiheitlichem Gehorsam auf der anderen Seite wird von Kaftan in einem dritten Schritt explizit auf die religiöse Gotteserkenntnis appliziert, wie er sie im sechsten Kapitel der Philosophie erfasst. Dabei tritt hervor, dass Kaftan unter Autorität gerade keinen äußeren Zwang versteht, sondern die Überzeugungskraft, welcher die freie Aneignung durch den Erkennenden korreliert. Während die Gegenstände theoretischer Erkenntnis auf den Erkennenden, wie oben bereits bedeutet, „Zwang“387 ausüben, imponiert der Gegenstand des Gottesglaubens dem Erkennenden so, dass dieser sich zu freier Anerkennung entschließt.388 Der „Glaubensgehorsam“ ist wesensmäßig ein Akt der Freiheit, da die Rede vom Gehorsam gegenüber einem Zwang eine contradictio in adiecto ist. Während die Erfahrung eines Zwangs die Erfahrung von Gezwungenwerden ist, ist Gehorsam nur denkbar als freier Akt der Unterwerfung. Kaftan beschäftigt sich nicht mit möglichen Einwänden aus dem alltagssprachlichen Gebrauch des Wortes „Gehorsam“, sondern bemüht sich um die Plausibilisierung des Gehorsamsbegriffs aus dem evangelischen Glaubensbegriff. Glaube ist evangelischem Verständnis zufolge die Erfahrung unbedingter Abhängigkeit von Gottes Wirken und zugleich innerste und damit persönlichste Aneignung der Mitteilung Gottes durch den Menschen. Solche Aneignung bedeutet, dass das, „was als Autorität gilt, hier also die göttliche Offenbarung […], seinem eignen Inhalt nach wirklich verstanden und verwerthet“389 wird. Als solche ist sie kein passives Überführtwerden, sondern Aktivität sowohl in Hinsicht auf das Verstehen als auch auf das „Verwerten“ – was einmal mehr auf den sittlichen Vollzug der Selbsterschaffung des Geistes als die Aneignungsform des Glaubensgegenstandes verweist.390 So korrelieren Autorität und Freiheit in der christlichen Religion wie in jeder geistigen Religion in unaufhebbarer Weise, weshalb Kaftan hervorhebt, ————— 387 Kaftan, Philosophie, 200 u.ö. Es ist nicht konsequent, wenn Kaftan in ders., Philosophie, 162 den Autoritätsbegriff ausnahmsweise auch auf den Zwang anwendet, welcher ihm zufolge von den Gegenständen des empirischen Wissens ausgeht. 388 Vgl. Kaftan, Wahrheit, 239 (Hervorhebung im Original): „Die Objecte [hier: des christlichen Glaubens] nöthigen nicht, sie sind nicht für alle in der gleichen Weise gegeben, diese Erfahrung kommt auf dem Gebiet der inneren Freiheit zustande.“ Vgl. auch a.a.O., 463. 389 Kaftan, Wahrheit, 89 (im Original z.T. hervorgehoben). In ders., Philosophie, 168 tritt hervor, dass derjenige, welcher eine Norm als Ausdruck praktischer Erkenntnis nicht nur historisch beschreibt, sondern sich ihr zugleich anerkennend unterwirft, mehr an jener Norm erkennt als der Historiker. 390 Vgl. zum „Gehorsam des Glaubens“ weiter Kaftan, Ein neues Dogma, 6–16.

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daß geistige Religion keinen Zwang verträgt, daß sie, wo sie wirklich lebt, Sache der Freiheit ist, in die man sich nicht drein reden läßt. Ebenso nachdrücklich aber beweisen sie das Andere, daß der Fromme in seiner Frömmigkeit Anlehnung an objektive Autoritäten und objektive Wahrheit sucht.391

Solche „objektive Autorität“ ist in der christlichen Religion auch in ihrer evangelischen Gestalt in der traditio der Kirche als handelnden Subjekts gegeben, insofern sie in Verkündigung, Lehre und diakonischem Handeln vorstellig macht, was der Christ glauben soll.392 Diese Wendung, welche die Gehalte des christlichen Glaubens als ihrem Wesen nach normative erfasst, bestimmt Kaftans Kirchentheorie. Die Kirche als handelndes Subjekt wird von Kaftan deshalb an besonders prägnanten Stellen als Erziehungsgemeinschaft charakterisiert.393 Es ist die pädagogische Konzeption der Kirche, welche Kaftans Bestimmung des Auftrags der Kirche und von dort her seinen Dogmatikbegriff konfiguriert. Dabei liegt im Erziehungsbegriff zugleich die Kritik des katholischen Verständnisses der Kirche als autoritativer Instanz. Besonders im Schlussteil der Philosophie grenzt Kaftan sich scharf von der Identifizierung des kirchlichen Lehramts als der autoritativen Instanz ab, welcher sich der „katholische[…] Christ und Theologe[…]“394 unterwerfen muss.395 Dahinter steht Kaftan zufolge die Meinung, die Kirche verwalte die Wahrheit des christlichen Glaubens als eine „letzte höchste Erkenntnis“, welche „dem empirischen Menschen […] schlechthin unzu————— 391 Kaftan, Philosophie, 200f. Vgl. ders., Predigt des Evangeliums, 64–74. Der solchermaßen umrissene Autoritätsbegriff hat zwei Ebenen: Zum ersten meint Autorität wie das englische authority zunächst die geschichtliche Überlieferung (vgl. z.B. ders., Balfour’s Einleitung, 427 und 429). Zum zweiten ist Autorität als normative Instanz zu verstehen. Beides geht ineinander über; vgl. a.a.O., 429f. 392 Vgl. z.B. Kaftan, Dogmatik und Glaubenspsychologie, 383f. Zur Bedeutung der geschichtlich-autoritativen Vermittlung der Glaubensgehalte vgl. weiter ders., Rechtgläubigkeit, 17– 19. Vgl. außerdem Kaftans Formel von der „Pflicht des Glaubens“: Vgl. neben der gleichnamigen Schrift (Deutsche Revue 16, 1891, Bd. 3: 338–351 und Bd. 4: 95–109) auch ders., Zum Beweis, 431f, 434, 453. 393 Vgl. neben Kaftan, Kirche, 88 weiter ders., Rechtgläubigkeit, 20; ders., Ein neues Dogma, 42f und v.a. ders., Die neue Aufgabe, 124: „Was sie [die Kirche] will und wozu sie da ist, ist die Erziehung der Menschen zum ewigen Leben in Gott.“ Vgl. ders., Ein neues Dogma, 13: „[D]ie Ordnungen der Kirche“ müssen so beschaffen sein, dass sie zu dem „Gehorsam“ des Glaubens „anleiten“. Und weiter a.a.O., 26: „[D]ie Kirche soll uns diesen Weg der innern Zucht und Übung zeigen.“ Vgl. schließlich ders., Ethik, 428: Die Kirche dient dem Reich Gottes, indem sie „die Menschen zu Bürgern des Himmelreichs erzieht“. 394 Kaftan, Philosophie, 407. 395 Vgl. auch Kaftan, Wahrheit, 13 die Unterscheidung zwischen dem Glauben nach evangelischem Verständnis und dem katholischen „Autoritätsglaube[n]“ als „Annahme der autoritätsmäßig überlieferten Wahrheit“. Vgl. dazu auch die Ablehnung des katholischen „Autoritätsprincip[s]“ (a.a.O., 88) zugunsten des evangelischen Glaubensprinzips, in welchem das rechte Autoritätsprinzip begründet liegt. – Es wird deutlich, dass Kaftan den Autoritätsbegriff in ambivalenter Weise verwendet: zum einen als Korrelat freien Glaubens, zum anderen zur Bezeichnung der lehramtlichen Dominanz, wie er sie für den Katholizismus feststellen zu können meint.

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gänglich“396 ist. Sie wird dem Christen in den Sakramenten der Kirche vermittelt, was aber nun gerade keine freie innerliche Aneignung, sondern äußerliche Unterwerfung erfordert.397 Es ist mithin im Folgenden zu fragen, wie Kaftan, gerade indem er die handelnde Kirche als Erzieherin konzipiert, den christlichen Glauben als freiheitlichen Akt innerlicher Aneignung des gleichwohl autoritativ Dargebotenen entwirft und so die katholisierende Fassung des Autoritätsprinzips ausschließt. Bevor dies auszuführen ist, muss gefragt werden, inwiefern Kaftan überhaupt den Dienst theoretisch erfassen kann, welchen die empirische Kirche an der geglaubten leistet, wenn doch, wie oben ausgeführt, das Hineinwachsen des Gottesreichs in die Welt nicht durch menschliches Handeln, sondern durch Gott herbeigeführt wird und eben auch die „Wirkung“ von Verkündigung und Sakramenten von Gottes Geistwirken dependiert.398 Es ist hier eine Einschränkung zu machen, welche sich aus dem evangelischen Kirchenbegriff heraus ergibt und im Folgenden mitzuführen ist. Die empirische Kirche als Gemeinschaft menschlicher Handlungssubjekte kann dem Zweck des Gottesreichs nur darin dienen, dass sie es als Wirklichkeit vorstellig macht, welche jeglichem menschlichen Zugriff entzogen ist. Die Teilhabe am Gottesreich, welche im Glauben erfahren wird, wird nicht durch die Kirche selber, schon gar nicht durch die empirische Kirche begründet, sondern verdankt sich dem Wirken Gottes durch seinen Geist, wie oben zu den Sakramenten ausgeführt wurde.399 Genau um dies zu beschreiben, wie nämlich die Kirche als Organisation selber handeln kann, ohne die grundsätzliche Unterscheidung zwischen opus Dei und opus hominum aufzuheben, verwendet Kaftan den Begriff der Erziehung. Die Kirche als Handlungssubjekt dient „dem höchsten Zweck“, dem Reich Gottes, durch ————— 396 Beide Zitate: Kaftan, Philosophie, 406. 397 Im Hintergrund dieser katholischen Auffassung von Autorität steht freilich wieder die Verzeichnung religiöser Erkenntnis als Sache des Intellekts: Kaftan verweist auf die durch Thomas begründete Unterscheidung von „vernünftige[r] Religionswahrheit“ (ders., Wahrheit, 135), welche sich auf der Linie natürlichen Weltwissens bewegt, auf der einen Seite und den gleichsam übernatürlichen Wahrheiten, welche die Vernunft „nicht zu beweisen vermag“ (a.a.O., 128) und welche daher in einem Akt übernatürlicher Mitteilung zugeeignet werden müssen, auf der anderen Seite. „Eine rationalistische Weltanschauung, wie sie den Denkgewohnheiten des vernünftigen Durchschnittsmenschen entspricht, bildet die Grundlage, zu welcher dann die eigenthümlichen Wahrheiten des Christenthums, wie sie die Kirche verkündet, als übernatürlicher Aufsatz hinzugefügt werden“ (a.a.O., 138). Dies zeugt von der durchgängigen Fassung des höchsten Gutes als Gegenstand der theoretischen Erkenntnis. Vgl. dazu insgesamt a.a.O., 126–139. 398 Die hier aufgerufene kirchentheoretische Frage nach dem Auftrag der Kirche betrifft Kaftans Ekklesiologie zufolge immer die empirische Kirche, nicht die geglaubte, da es nur jene ist, welche menschlichen Handlungsvorgaben unterstellt werden kann. Wenn im Folgenden Kaftans Bestimmung des Auftrags der Kirche rekonstruiert wird, ist deshalb stetig mitzuführen, dass das steuernde Moment für alle im engeren Sinne kirchentheoretischen Fragen die oben dargelegte Verhältnisbestimmung von empirischer und geglaubter Kirche ist. 399 Vgl. oben 4.2.1.

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„Erziehung zum ewigen Leben“.400 Diese Verhältnisbestimmung von geglaubter und handelnder Kirche entspricht der in Kapitel 3 dargestellten Reflexion auf das Verhältnis von Ethik und Erlösung: Sittliches Tun verdient sich nicht die in der Gemeinschaft des Reiches Gottes liegende Erlösung von der Welt, sondern eignet sich das zugeeignete Heil in der Einübung in die Ewigkeit401 an, welche in der Orientierung an den sittlichen Idealen des christlichen Glaubens liegt. Solche Orientierung bedeutet die Relativierung weltlich-natürlicher Güter und Werte durch das handelnde Individuum im Aufblick zu seiner ewigen Bestimmung. Wenn die Aufgabe der Kirche nun die „Erziehung zur Ewigkeit“ ist, mithin die Anleitung und Förderung der Individuen in ihrer jeweiligen eschatologischen Praxis, so liegt darin Beschränkung und Auftrag zugleich. Der Kirche als Organisation in der Welt kommt die Aufgabe zu, das Evangelium vom Gottesreich und damit der ewigen Bestimmung des Menschen sowie den darin liegenden Heilszuspruch zu verkündigen402 – und hierin besteht ihre Notwendigkeit –, aber in jener Verkündigung liegt zugleich der Verweis von ihrer eigenen Organisationsgestalt fort auf das überweltliche Reich Gottes. Diese Doppelstruktur von Notwendigkeit und Relativierung der Kirche ist an Kaftans Verständnis von Erziehung abzulesen, welches in der Beschreibung individueller Moralentwicklung in Kapitel 3 thematisch wurde. Erziehung bedeutet, dass dem natürlichen Wollen des Individuums Grenzen gezogen werden, indem es mit heteronomen Forderungen konfrontiert wird. Angetrieben durch die Furcht vor Strafe und die Hoffnung auf Belohnung lernt das Individuum jene Forderungen einzuhalten – und eignet sich die mit den Forderungen einhergehenden Ideale schließlich als eigene Ideale an. Die somit letztlich auf Gewissensbildung abhebende moralische Erziehung hat ihren Dreh- und Angelpunkt darin, dass sie überhaupt dem Individuum äußerliche Forderungen vorstellig macht. Wenn nun bedacht wird, was oben zur Objektivität und Subjektivität des Glaubens gesagt wurde, so wird deutlich: Die Kirche ist insofern Erzieherin zur Ewigkeit – und das heißt in Kaftans Konzeption: Erzieherin zum Glauben an das Gottesreich –, als sie dem Individuum das Objekt und mithin die Inhalte überhaupt erst als autoritative vorstellig macht, welche es dann – gelingt die Erziehung – sich innerlich aneignet. So wie der Erzieher zur Moral sich selber überflüssig macht, wenn die Erziehung gelingt, so impliziert ein Verständnis der Kirche als Erzieherin, dass diese als Vermittlerin der Glaubensinhalte sich selber von jenen Glaubensinhalten zu unterscheiden hat. Wohlgemerkt gilt dies ————— 400 Beide Zitate Kaftan, Kirche, 88. Vgl. ders., Ein neues Dogma, 42f. 401 Vgl. Kaftan, Askese, 5; ders., Dogmatik, 204, 577; ders., Erlösung, 114; ders., Neutestamentliche Theologie, 49. 402 Vgl. zur Verkündigung der Kirche in Predigt, Sakrament und weiteren handelnden, v.a. diakonischen und katechetischen Vollzügen oben 4.1.

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von der Kirche als Organisation; wie oben ausgeführt ist die Kirche als Gemeinschaft des Gottesreichs Gegenstand des Glaubens. Als handelnde Organisation ist die Kirche aber vor allem anderen Dienstgemeinschaft, welche sich von dem höheren Zweck, dem sie dient, wohl zu unterscheiden hat: Sie „dient“403 dem Gottesreich, indem sie es verkündet. Oben wurde gesagt, dass Kaftan nicht die empirische Organisation der Kirche, sondern vielmehr die „Christenheit auf Erden“404 als Ort des sittlichen Vollzugs und mithin als Aneignung des höchsten Guts des Gottesreichs begreift. Angesichts der Kaftanschen Bestimmung der empirischen Kirche als Erzieherin zur Ewigkeit wird nun aber deutlich, inwiefern der Kirche als Organisation eine konstitutive Funktion in bezug auf die anderen Teilsysteme der christlichen Gesellschaft und damit in bezug auf die „Christenheit auf Erden“ zukommt. Wenn die Gottesgemeinschaft als Strebeziel des Menschen dem christlichen Glauben nach im sittlichen Handeln wirksam wird, wenn umgekehrt das sittliche Handeln im Bewusstsein der „ewigen Bestimmung“405 des Menschen gründet, so leistet die Kirche, indem sie den Einzelnen zur Ewigkeit erzieht, zugleich einen exklusiven Beitrag in der moralischen Bildung des Menschen. Dieser Anspruch, den Kaftan hinsichtlich des Auftrags der Kirche erhebt, wird besonders deutlich in einem Vortrag, welchen er auf dem zehnten Evangelisch-Sozialen Kongress im Jahre 1899 gehalten hat – zu einer im zeitgenössischen Kontext des deutschen Protestantismus besonders dringlichen Angelegenheit: dem Verhältnis der lutherischen Kirche zur sozialen Frage.406 Kaftan setzt bei dem gegen den Protestantismus lutherischer Prägung gerne erhobenen Vorwurf an, dieser stelle sich im Gegensatz zum Reformiertentum ausschließlich negativ zur sozialen Frage und verweigere sich der gebotenen Mitgestaltung der sozialen Ordnung.407 Dass dieser Vorwurf eine Variation auf die allgemeiner vorgetragene Kritik am Christentum ist, ————— 403 Kaftan, Kirche, 88. 404 Kaftan, Dogmatik, 622. 405 Kaftan, Das Gebet, 19. 406 Vortrag gehalten auf dem 10. ev.-sozialen Kongress in Kiel am 25. Mai 1899, Göttingen 1899 (Sonderabdruck aus Verhandlungen des 10. ev.-soz. Kongresses). – Vgl. zu den gesellschaftlichen Umbrüchen der Industrialisierungszeit ab 1870 und den damit enstehenden sozialen Nöten vor allem in der Großstadt und vor allem bei den Arbeitern und ihren Familien, welche vor die Kirche und die Theologie vor die „Soziale Frage“ stellte, z.B. NOWAK, Geschichte, 171–181. Zur Gründung des Evangelisch-Sozialen Kongresses vgl. RATHJE, Protestantismus, 53–57 sowie Christoph SCHWÖBEL, Martin Rade. Das Verhältnis von Geschichte, Religion und Moral als Grundproblem seiner Theologie, Gütersloh 1980, 50–56. 407 Kaftan selber nennt für diese These keine Belege; sie ist aber durch Max WEBERs Studien zur Ethik des Protestantismus zu Berühmtheit gekommen. Vgl. ders., Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (zuerst veröffentlicht im Jafféschen Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 20 u. 21, Tübingen 1904 und 1905), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1 (1920), 91988, 17–206.

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es treibe aufgrund seiner Eschatologie zur Weltverneinung, wird in Kaftans Argumentation deutlich. Kaftan bestätigt zunächst, dass die lutherische Kirche im Anschluss an Luther selber „so gut wie ausschließlich auf das höchste und innerste Anliegen des Menschen, auf sein Verhältnis zu Gott gerichtet“ ist.408 Und er begründet diese Ausrichtung in der urchristlichen Religion, welche als Glaube an das ewige Leben als vollendeter Gottesgemeinschaft zu seinem Kern „unverquickt mit den sozialen Ordnungen“409 entstand und damit auf jede direkte Einwirkung auf die soziale Ordnung verzichtete. Dann aber stellt Kaftan in einer rhetorischen Kehrtwendung fest, dass das Christentum anders als es sein geschichtlicher Ursprung hätte erwarten lassen, „den allergrößten Einfluss auf das soziale Leben ausgeübt“ hat.410 Er benennt als die zwei hervorstechenden Ideen die „Werthschätzung der Arbeit“411 und „prinzipielle Gleichstellung aller“.412 Den Einfluss dieser im Evangelium begründeten reformatorischen Ideen auf die soziale Ordnung erörtert Kaftan an der Abschaffung des Klosterwesens katholischer Art. Diese Abschaffung einer Institution bringt eben jene soziale Ideen zum Ausdruck, von welchem eben die Rede war: Die Gleichheit aller, insofern die lutherische Kirche dezidiert als Gemeinschaft gleichgestellter Individuen, deren persönliche Glaubensüberzeugung das Wesen ihrer Frömmigkeit ist, verfasst ist; die Wertschätzung der Arbeit, insofern nicht das spirituelle Leben im Kloster, sondern die aktive sittliche Weltgestaltung die Aneignungsweise der Gotteserfahrung ist. Es wurde bereits gesehen, dass Kaftan zufolge beide Momente einer protestantisch geprägten Lebensordnung Ausdruck der Rechtfertigungslehre Luthers sind.413 Im Vortrag zur sozialen Frage beschäftigt Kaftan sich mit ihnen aber nicht lediglich in ideengeschichtlicher Perspektive, sondern in praktisch-theologischer Absicht. Er stellt fest, was aus der gleichsam mittelbaren, weil nicht eigentlich intendierten sozialpolitischen Wirkung der reformatorischen Frömmigkeit für die Haltung der lutherischen Kirche zur sozialen Frage der Gegenwart zu folgern ist. Dabei greift er zunächst wieder auf das rhetorische Mittel der Zuhörerbefremdung zurück und behauptet, die reservierte Haltung der lutherischen Kirche in Fragen der Einwirkung auf das soziale Leben sei von der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte her zu befürworten. Die Kirche soll und ————— 408 409 410 411 412 413

Kaftan, Soziale Frage, 3. Kaftan, Soziale Frage, 5. Kaftan, Soziale Frage, 5. Kaftan, Soziale Frage, 5. Kaftan, Soziale Frage, 6. Vgl. dazu oben Kapitel 3.3.3 und Kaftan, Soziale Frage, 10.

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kann nicht „in der sozialen Frage mit[…]arbeiten“,414 weil sie andernfalls den katholischen Fehler der Identifizierung der Kirche als der „eigentlich christliche[n] Organisation des christlichen Volks“415 beginge und Aufgaben absorbierte, die im Zuge der neuzeitlichen Geschichte auch vom Wesen des Christentums her zu Recht dem Staat und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen zugefallen sind. Es wird deutlich, dass Kaftan hier die so genannte Zwei-Reiche-Lehre in Umrissen reformuliert. So fordert er seine Gegner, welche ein stärkeres Engagement der Kirche in sozialen Fragen einfordern, denn auch sarkastisch-ironisch auf: Stattet die Spitzen unseres [des geistlichen] Standes wieder mit politischer Machtstellung, mit nahezu fürstlichen Rechten und Einkünften aus, schraubt den Fortschritt des geistigen Lebens um einige Jahrhunderte zurück […] – dann wollen wir im Namen der Kirche die christliche Sozialpolitik machen.416

Kaftans polemische Zurückweisung einer Einmischung der Kirche in sozialpolitische Aufgaben interessiert hier, weil er dabei nicht stehen bleibt. In zweierlei Hinsicht wird er schließlich fordern, „die lutherische Kirche soll die Zeichen der Zeit erkennen und für die Sozialreform eintreten.“417 Zum einen greift Kaftan auf die kirchentheoretische Unterscheidung zwischen verschiedenen Ständen innerhalb der Kirche zurück, wie er sie auch mit dem paulinischen Bild der verschiedenen Glieder eines und desselben Leibes umschreiben kann.418 Es gibt in der Kirche, die „wir alle“ sind, jene, welche „im besonderen Sinn als ihre Diener gelten“,419 insofern diese die konstitutive Aufgabe der Verkündigung des Wortes Gottes wahrzunehmen haben. Aber die Kirche nimmt insofern auch sozialpolitische Aufgaben war, als andere ihrer Glieder mit Ämtern in anderen Teilsystemen der Gesellschaft ausgestattet sind. Diese in der urchristlichen Vision der Kirche angelegte moderne Aufgabenteilung in der christlich geprägten Gesellschaft – verstanden als gleichsam entgrenzte empirische Kirche, als „Christenheit“420 – ist dabei die Voraussetzung zur Professionalität sowohl im Teilsystem der kirchlichen Institution selber als auch in den anderen Teilsystemen wie hier zuvorderst der staatlichen Ordnung. Zum anderen geht Kaftan aber auch über diese gleichsam arbeitsteilige Konzeption einer Kirche als Leib mit vielen Gliedern hinaus, welche für den mit der Verkündigung beauftragten Geistlichen die Zurückhaltung in sozialpolitischen Angelegenheiten fordert. Der empirischen Kirche ist auch ————— 414 415 416 417 418 419 420

Kaftan, Soziale Frage, 14. Kaftan, Soziale Frage, 14. Kaftan, Soziale Frage, 16. Kaftan, Soziale Frage, 22. Vgl. Kaftan, Soziale Frage, 16. Beide Zitate: Kaftan, Soziale Frage, 16. Kaftan, Dogmatik, 622.

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„in ihrer eignen, innersten Sphäre [durch] die soziale Bewegung eine Aufgabe [gestellt], die sie nicht versäumen darf.“421 Kaftan skizziert diese Aufgabe in drei praktischen Forderungen. Erstens soll die Kirche in ihrer Verkündigung „sehen und verstehen lehren“,422 was es mit der geschichtlich notwendigen sozialen Reform auf sich hat, so dass diese den Einzelnen als „Gewissenssache“423 bewusst werden, das heißt: aus einer oktroyierten Maßnahme zur eigenen, selbständig befürworteten Überzeugung werden kann. Zweitens soll sie „die Erziehung zur sittlichen Selbständigkeit“424 als Angelegenheit der Verkündigung begreifen, und damit zusammenhängend drittens den Einzelnen „zur geistigen Genußfähigkeit […] erziehen.“425 Das Interessante an dieser praktischen Zielsetzung kirchlicher Verkündigung ist, dass sie von Kaftan konsequent und ausdrücklich theologisch begründet wird. Was schon im vorhergehenden Kapitel an den materialethischen Konsequenzen der Kaftanschen Moraltheorie deutlich wurde,426 gilt auch in der Bestimmung des sozialethischen Auftrags der Kirche. Es ist letzthin die Vorstellung des höchsten Guts, welche diese leitet. So wurde deutlich, dass Kaftan als das Wesen des christlichen Glaubens die auf innerlicher, persönlicher Überzeugung beruhende Entscheidung des Einzelnen ansieht, sein Leben auf das Ziel der Gemeinschaft mit dem in Christus offenbaren Gott auszurichten.427 Und es wurde gezeigt, dass dieser Glaube den Einzelnen insofern in die Welt hineinstellt, als die Gotteserkenntnis sich im sittlichen Tun des christlichen Ideals vollzieht. Obliegt der Kirche die Aufgabe der Erziehung zu solchem Glauben und damit zur Einübung „in Gott und Gottes Leben“,428 so ist mitgesetzt, dass sie sich um die Bedingungen zu mühen hat, unter welchen solches Einüben gelingen kann. Damit ist die Gewissensbildung des Einzelnen sowie die Anleitung zur moralischen Selbstverwirklichung, welche in der geistigen Erfahrung des durch Christus gegenwärtig gewordenen Gottesreichs gründet, zur Aufgabe der empirischen Kirche bestimmt, eine Aufgabe, welche zugleich die – freilich indirekte – Einwirkung auf das soziale Leben in der Gesellschaft umschließt. Damit ist der soziale Auftrag der empirischen Kirche eschatologisch begründet: Sowohl die egalitäre Bestimmung des Glaubens als je eigener Überzeugung als auch die Verortung des Glaubens im sittlichselbständigen Tun haben ihr Fundament in der Bestimmung des Einzelnen ————— 421 422 423 424 425 426 427 428

Kaftan, Soziale Frage, 18. Kaftan, Soziale Frage, 22. Kaftan, Soziale Frage, 23. Kaftan, Soziale Frage, 23. Kaftan, Soziale Frage, 23. Vgl. oben Kapitel 3.3.4. Vgl. dazu oben 4.2.5. Kaftan, Soziale Frage, 21.

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zum ewigen Leben in persönlicher Gottesgemeinschaft und damit letzthin im Gottesgedanken, wie er Kaftan zufolge durch die Christusoffenbarung mitgeteilt ist.429 An diesen Ausführungen zur sozialen Aufgabe der empirischen Kirche wird deutlich, dass Kaftan deren konstitutive Bedeutung für die Gesellschaft, nach welcher oben unter 4.1 gefragt wurde, in der religiös begründeten Anleitung zum sittlichen Personwerden als Erziehung zur Ewigkeit sieht.430 Von jener Bedeutung her äußert er sich in den Diskussionen um die Verfassung der evangelischen Kirche nach 1918 denn auch kritisch gegenüber allen Konzeptionen einer Vereinskirche und betont die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Kirche als Volkskirche.431 Wie beschrieben, umfasst die Kirche als Organisation verschiedene Funktionen der Verkündigung als Erziehung zur Ewigkeit. Dazu zählen vor allem Predigt und Sakrament im Kontext des gesamten Gottesdienstes sowie Unterricht und Diakonie. Es ist für Kaftans kirchentheoretische Konzeption grundlegend, dass er nach einem diesen verschiedenen Handlungsbereichen gemeinsamen Prinzip fragt, über welches sie zur Einheit einer Organisation mit dem eben beschriebenen Auftrag zusammen finden. Es ist das Dogma, welches jenes Prinzip aufstellt und darin den eminent praktischen Maßstab abgibt, an welchem die einzelnen Handlungsträger der Organisation Kirche ihr je eigenes Handeln zu orientieren haben. Insofern war es nicht nur dem Dogmatiker, sondern auch dem Kirchentheoretiker und späteren Vizepräsidenten des Preußischen Oberkirchenrats Kaftan ein schwerwiegendes Anliegen, auf eine Schrift von Otto Dreyer mit dem Titel Undogmatisches Christentum,432 öffentlich zu reagieren, was er in zwei Aufsatzreihen zum „neuen Dogma“ in der Christlichen Welt tat,433 wieder————— 429 Vgl. Kaftan, Soziale Frage, 7 und 9. Zur theologischen Begründung politischer Predigt vgl. weiter ders., Die neue Aufgabe, 132f. 430 Vgl. Kaftan, Die neue Aufgabe, 124f und 137f. Vgl. zum Verhältnis von Kirche und Staat weiter ders., Ist Religion Privatsache?, 509f. 431 Vgl. Kaftan, Die neue Aufgabe. 432 Untertitel: „Betrachtungen eines deutschen Idealisten“; erschienen Braunschweig 1888. – Otto DREYER, später Oberkirchenrat der evangelischen Kirche im Herzogtum Sachsen-Meiningen, war bei Erscheinen der Schrift Pfarrer und Superintendent an der Augustinerkirche in Gotha und Mitglied des 1863 gegründeten Deutschen Protestantenvereins. Vgl. zu seiner dezidiert liberal„undogmatischen“ Predigt- und Denkweise Matthias WOLFES, Art. Dreyer, Otto, BBKL 20, 2002, 411–413, sowie Rudolf HERRMANN, Thüringische Kirchengeschichte 2, Weimar 1947, 421. 433 Zum einen Glaube und Dogma. Betrachtungen über Dreyers undogmatisches Christentum, ChW 3, 1889, 7ff, 19ff, 43ff, 68ff, 88ff, 150ff, im Separatabdruck Bielefeld und Leipzig 1–3 1889, zum anderen Brauchen wir ein neues Dogma? Neue Betrachtungen über Glaube und Dogma, ChW 3, 1889, 779ff, 803ff, 819ff, 835ff, 859ff, 899ff, 926ff, 947ff, im Separatabdruck Bielefeld und Leipzig 1890 (21893). Zitiert werden die Separatabdrucke in erster Auflage. Vgl. zu Kaftans Beurteilung eines „undogmatischen Christentums“ weiter ders., Rechtgläubigkeit, 6f.

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um kommentiert durch Dreyer.434 Dreyer wollte ausgehend vom historischen Charakter von Lehre und Bekenntnis die christliche Glaubenslehre aus ihren vermeintlichen, dogmatisch-konfessionell normierten Zwängen befreien. Kaftans diesem Programm gegenüber erhobene Formel vom „neuen Dogma“ und ihre programmatische Ausführung provozierten dabei heftige Auseinandersetzungen, welche Martin Rade zufolge die durch ihn herausgegebene Zeitschrift allererst „berühmt gemacht“ hat.435 Daß in unsrer evangelischen Kirche nicht alles ist wie es sein sollte, das ist eine Erkenntnis, die sich heute der wichtigsten Kreise bemächtigt hat.436

Mit dieser Feststellung beginnt Kaftan den ersten der beiden Aufsätze und visiert mit ihr nicht vereinzeltes Fehlgehen kirchlichen Handelns an, sondern einen seines Erachtens fundamentalen Missstand in der Organisation ————— 434 Vgl. Otto DREYER, Glaube und Dogma. Ein Wort zur Erwiederung und Verständigung, ChW 3, 1889, 133. 435 RATHJE, Protestantismus, 68. Zur Diskussion vgl. z.B. Ulrich BEHM, Dürfen wir bei unserem alten Glaubensbekenntnis bleiben? Ein Wort zu Prof. Kaftans Glaube und Dogma, Güstrow 1890; Pater Wilhelm SCHMIDT, Brauchen wir ein neues Dogma? Vortrag am 22. Febr. 1892 im Evangelischen Verein zu Berlin gehalten, Berlin 1892; H. KEMPERT, Das alte und das neue Dogma. Offener Brief an den Verfasser der Schrift: „Brauchen wir ein neues Dogma?“ Herrn D. Julius Kaftan, Berlin 1892; Reinhold SEEBERG, Brauchen wir ein neues Dogma? Vortrag, gehalten auf der Leipziger Pastoralkonferenz am 21. Mai 1891, Leipzig 1892; J. VERAX, Dogmatisches und undogmatisches Christentum. Ein Wort zum Streite Dreyer – Kaftan. Auch eine Behandlung des Egidyschen Problems, Halle a.S. 1891. – Kaftan selber beklagt, dass etliche der empörten Stellungnahmen nicht auf der Lektüre seiner betreffenden Schriften, sondern auf mündlicher Kunde über diese beruhen. Dies führe zu Verzerrungen des mit dem Schlagwort vom „neuen Dogma“ Gemeinten. Als besonders bezeichnend hierfür verweist er auf die Anfrage eines Ungenannten, welcher sich bei ihm „erkundigt [hat], wie der Titel der Schrift laute, in der ich für die Abschaffung des Christentums eingetreten sei!“ (Ders., Ein neues Dogma, 4.) Die Konzeption des „neuen Dogmas“ barg Konfliktpotential auch im privaten Bereich: So trug sich der spätere Schwiegervater von Martin Rade, der lutherisch-konfessionell geprägte Oberpfarrer Naumann in Lichtenstein (Friedrich Naumanns Vater), mit schweren Bedenken gegen die theologischen Kreise, in denen sich Rade bewegte und damit gegen Rade als Schwiegersohn. Der Geist jener theologischen Kreise zeigte sich für den Dorfpfarrer zum einen in der Christlichen Welt und im Evangelischen Bund, zum anderen wurde er eben durch Kaftans Rede vom „neuen Dogma“ zu deutlichem Ausdruck gebracht. Dies hätte nahezu die Heirat Rades mit Dora Naumann vereitelt. Vgl. Brief des Sohnes F. NAUMANN an Rade vom 11. Mai 1888 (zitiert bei RATHJE, Protestantismus, 33). Wie Rathje berichtet, musste Rade sich einer regelrechten Gesinnungsprüfung unterziehen (Rade: „das härteste Examen, das ich in meinem Leben durchgemacht habe“; a.a.O., 34), bevor er Dora Naumann heiraten durfte – ein sprechendes Beispiel dafür, welche lebensweltliche Bedeutung der Auseinandersetzungen der theologisch-kirchlichen Parteien um das rechte Christentumsverständnis in jenen Jahrzehnten um die Jahrhundertwende zukam. Vgl. zu Kaftans Wahrnehmung der parteilichen Auseinandersetzungen die mehrfache Klage im Briefwechsel mit seinem Bruder (z.B. Brief vom 14.1.1894 zu den Parteibildungen auch innerhalb der Freunde der ChW: Göbell, Briefwechsel I, 92–95) sowie die allen Vereinnahmungsversuchen entgegen gesprochene Behauptung: „Ich diene aber keiner Partei und muß mich ganz außerhalb dieses Treibens halten.“ (Kaftan, Ein neues Dogma, 4.) 436 Kaftan, Glaube und Dogma, 5.

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der empirischen Kirche, welcher insofern fundamental ist, als er die Kirche in der „Erfüllung ihrer Aufgabe“437 hemmt, mithin in der Ausübung ihres Dienstes an der geglaubten Kirche. Da jener Missstand Kaftan zufolge in der falschen Auffassung des Verhältnisses von Glaube und Dogma liegt, erhebt er seine soeben besprochene Konzeption des Glaubens als freien Gehorsams zum Programm der Kirchenreform, welche unter dem Schlagwort des „neuen Dogmas“ zusammengefasst werden kann. 4.3.2 „Das neue Dogma“ – Zur kirchlichen Dogmatik Kaftan stellt Dreyers „undogmatischem Christentum“ nicht einfach ein dogmatisches Christentum gegenüber. Vielmehr setzt er bei den Schwierigkeiten der evangelischen Kirchen an, in der Moderne „Gehör“438 zu finden, das heißt: den Wahrheits- und Sinngehalt des christlichen Glaubens in ihrer Verkündigung einsichtig zu machen – und ein entscheidender Grund hierfür liegt in der Tat, wie Kaftan mit Dreyer meint, im überlieferten Dogma als Zusammenfassung evangelisch-kirchlicher Lehre.439 „[D]as Dogma [ist] zu einem Hindernis für die Kirche geworden.“440 Es ist dabei „vor allem die positive Wissenschaft“,441 sowie die mit ihr korrelierende moderne Kultur und Weltanschauung, welche Zweifel und Kritik am kirchlichen Dogma hervorrufen. Kaftan führt dies im betreffenden Aufsatz nicht en detail aus, aber er scheint darauf hinzuzielen, dass Natur- und Geschichtswissenschaften dem modernen Menschen Welterklärungsmodelle anbieten, welche das Kausalitätsprinzip zugrunde legen und dabei alle Ursachen und alle Wirkungen als dezidiert natürlich oder innerweltlich beschreiben – während der christliche Glaube Kaftan zufolge von einer überweltlichen Realität herkommt und auf eine solche hinweist. So fordert er – selber eher im Tone alltagssprachlicher Predigt denn im wissenschaftlichen Stil – von den für die Verkündigung der Kirche Verantwortlichen, dass sie nicht das „halbe Evangelium“,442 sondern das Evangelium in Gänze zu vertreten haben: Habt ihr es aufgegeben, den Menschen zu sagen, daß es sich hier um etwas handelt, was nicht von dieser Welt ist, was einen runden Gegensatz gegen die Welt und alles weltliche Wesen einschließt, beschränkt ihr euch darauf, das andre zu verkündigen,

————— 437 Kaftan, Glaube und Dogma, 5. 438 Kaftan, Glaube und Dogma, 11. 439 Auf die Definition des Dogmenbegriffs und auf die Unterscheidung zwischen einem katholischen und einem evangelischen Dogmenbegriff ist sogleich zu sprechen zu kommen. 440 Kaftan, Glaube und Dogma, 11 (im Original hervorgehoben). Vgl. dazu auch ders., Ueber den Glauben, 19. 441 Kaftan, Glaube und Dogma, 10 (im Original z.T. hervorgehoben). 442 Kaftan, Glaube und Dogma, 12.

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was ja auch dazu gehört, daß das Evangelium unser Leben in der Welt reinigt und verklärt – dann könnt ihr ebenso gut ganz einpacken.443

Hier klingt durch, was in Kapitel 2 und 3 auseinandergesetzt wurde: Der christliche Glaube zieht das religiöse Subjekt von der Welt ab und stellt es gerade so in die Welt hinein. Es widerspricht dem Wesen des christlichen Glaubens, die eschatologische Dimension zu negieren, um den Anschluss an die das 19. Jahrhundert in Kaftans Augen prägende Bewegung hin zur Diesseitigkeit444 mitgehen zu können und auf diese Weise den Erfolg der eigenen Verkündigung zu sichern. Vielmehr liegt gerade in der eschatologischen Dimension, das heißt in der Hoffnung auf vollendende Erlösung von der Welt, das Wesen des christlichen Glaubens, wie es mithin in einer zentral gestellten Erlösungslehre auszulegen ist.445 Allerdings muss die Kirche gleichfalls scheitern, wenn sie ihre eschatologische Wahrheit in gleichsam wissenschaftlicher Form den modernen positiven Wissenschaften entgegenstellt. Hier nun liegt die Problematik der Gegenwart begründet. Das Dogma wird der Kirche dann zum Hindernis, wenn sie es in der Form vorträgt, in welcher es ihr überliefert wurde. Kaftan greift zur Begründung auf die Geschichte des Dogmas aus. Das Dogma ist die Frucht der theologischen Bemühungen in der Alten Kirche, den christlichen Glauben mit der Wissenschaft ihrer Zeit ins Vernehmen zu bringen, und das heißt vor allem: mit der griechischen Philosophie auseinanderzusetzen. Im Dogma tritt der christliche Glaube selber als Philosophie auf und konnte in der Alten Kirche bis zur Aufklärung auf diese Weise Geltung beanspruchen und auch begründen.446 Das Plausibilitätsproblem, welches der evangelischen Kirche in der Moderne gestellt ist, beruht darauf, dass sie nicht mehr nur durch eine als Philosophie auftretende Wissenschaft, sondern allem voran und radikal ————— 443 Kaftan, Glaube und Dogma, 12. In entsprechender Weise richtet Kaftan zeitgenössische Apologeten des Christentums, welche es mit dem „moderne[n] Leben[…]“ vereinbaren wollen, die kritische Frage: „geht ihr, gehen wir nicht zuweilen in dieser Weltoffenheit zu weit?“ Wenig später folgt die Forderung: „es muß doch immer ein Abstand bleiben zwischen dem allen und mir selbst, d.h. meiner Seele, deren Ruhe und Frieden ist in Gott.“ (Alle Zitate: ders., Ein neues Dogma, 21.) 444 Vgl. Kaftan, Selbstdarstellung, 218: [A]ls die herrschenden Mächte […] [im modernen Geistesleben] bezeichne ich diesseitige Kulturseligkeit und Autoritätslosigkeit, im Gegensatz dazu solle die Predigt des Evangeliums das ewige Leben und den Gehorsam des Glaubens verkündigen.“ Vgl. zum Hintergrund weiter ELERT, Kampf. 445 Vgl. dazu oben Kapitel 2.3.5 zur Forderung nach einer evangelischen Erlösungslehre. 446 Zum geschichtlichen Ursprung des Dogmas vgl. auch Kaftan, Wahrheit, 20–88. Kaftan unterzieht somit die Dogmengeschichte einer kritisch würdigenden Betrachtung, indem er die jeweilige Gestaltung des christlichen Glaubens als unablässige Vermittlung mit der jeweiligen Kultur begreift, solche Gestaltung aber zugleich kritisch von seiner Wesensbestimmung der christlichen Religion her durchleuchtet. Damit geht er der HARNACKschen dogmengeschichtlichen Methode parallel. Vgl. Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3 Bd., Tübingen 1886–1890 (41909–1910) sowie ders., Wesen, 188–260.

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durch die empirischen Wissenschaften angefragt wird. Verantwortet sie den Glauben gegenüber den neuen Herausforderungen im Rückgriff auf die alten Formen, so muss sie scheitern, weil die Glaubenserkenntnis wie oben gesehen nicht auf einer Linie mit dem empirischen Wissen liegt.447 Wie bereits bedeutet,448 liegt in dieser misslichen Lage allerdings eine Chance: die Gehalte kirchlicher Verkündigung als das, was sie wesentlich sind, herauszustellen, nämlich Glaubensinhalte. Diese durch die Reformation errungene Einsicht steht allerdings auch einer Fassung des Glaubens als Philosophie entgegen. Deshalb kann Kaftan mit Dreyer die Abschaffung des Dogmas fordern: nämlich des Dogmas als begriffliche Fixierung einer theoretischen Erkenntnis – sei sie auf empirischem, sei sie auf spekulativem Wege gewonnen. Die Kirche hat in ihrer Verkündigung deutlich zu machen, dass die christliche Frömmigkeit sich nicht auf Aussagen richtet, welche denselben epistemologischen Status wie theoretische Aussagen haben. Darin liegt eine Möglichkeit der Re-Plausibilierung ihrer Verkündigungsinhalte: So lange die Kirche die Sprache des Dogmas redet, wird sie bei vielen unsrer Zeitgenossen kein Gehör finden, die sich, eben dieselben, vielleicht der Sprache des Glaubens zugänglich erweisen würden.449

Möglich, dass Kaftan von dem großen Erfolg wusste, welchen der Prediger Dreyer in Gotha hatte450 – er erwähnt diesen Umstand nicht, schließt aber den zweiten Teil seines Artikels über dessen Schrift mit der an die Übertitelung der Dreyerschen Schrift anknüpfenden Forderung, das Dogma aufzugeben.451 – Wenn der dritte Teil des Artikels dann freilich „Für das Dogma“452 übertitelt ist, und mehr noch: die Argumente „für das Dogma“ schließlich – in Aufnahme der voran stehenden Kritik am Dogma – in die Forderung nach einem „neuen Dogma“ münden, so ist zum einen nach der Unterscheidung dieses „neuen Dogmas“ von dem damit so genannten „alten Dogma“, zum anderen nach Funktion und Bedeutung des „neuen Dogmas“ in der evangelischen Kirche zu fragen.453 Zunächst zu Kaftans Unterscheidung eines „neuen Dogmas“ von einem „alten Dogma“ und zu der Bestimmung des Begriffs „Dogma“, welche jener Unterscheidung zugrunde liegt. Unter Dogma versteht Kaftan „eine Lehre, welche gelten soll“;454 das kirchliche Dogma ist mithin „die Lehre, ————— 447 448 449 450 451 452 453 454

Vgl. oben 4.2.2. Vgl. oben 4.2.5. Kaftan, Glaube und Dogmatik, 20. Vgl. HERRMANN, Kirchengeschichte, 421. Vgl. Kaftan, Glaube und Dogma, 21. Kaftan, Glaube und Dogma, 21. Vgl. hierzu auch Kaftan, Der evangelische Glaube, 439–459. Kaftan, Glaube und Dogma, 21.

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welche in der Kirche gelten soll“.455 Kaftan betont, dass die Entwicklung einer solchen normativen Lehre eine notwendige Folge des christlichen Glaubens ist, da Glaube, wie oben beschrieben, immer auch Erkenntnis impliziert, und diese Erkenntnis zur Gestaltung in Form von Lehre von selbst drängt.456 Die Lehre ist eine gleichsam natürliche Ausdrucksform des Glaubens. Kaftan betont, dass entgegen moderner wissenschaftlicher Kritik an der Lehrgestalt religiösen Glaubens „das einfach fromme, gläubige Gemüt“457 um jenes Drängen des Glaubens nach lehrhaftem Ausdruck weiß. Im Glauben gerade als „Vertrauen“458 sind immer schon bestimmte Erkenntnisgehalte mitgesetzt. Aber auch umgekehrt ist die Lehre eine notwendige Funktion des Glaubens. Individueller Glaube als Vertrauen entsteht und klärt sich durch lehrhafte Übermittlung der solches Vertrauen begründenden Wahrheit.459 Die hier drohende Engführung der Entstehung persönlichen Glaubens durch Lehrmitteilung bricht Kaftan auf, indem er darlegt, dass die Kirche als Gemeinschaft, in welcher ganzheitlich verstandener Glaube entsteht, im Dogma als Prinzip der Lehre eine identitätsstiftende Größe gegeben ist.460 Die drei Argumente für das Festhalten am Dogma als Funktion auch der evangelischen Kirche – erstens: die Beobachtung des innerlichen Drängens des Glaubens nach lehrmäßigem Ausdruck, zweitens: die Beschreibung der Funktion des Dogmas als Prinzip der Unterweisung im Glauben, drittens: die Feststellung der identitätsstiftenden und gemeinschaftskonstituierenden Funktion des Dogmas – geben den Hintergrund der Kritik Kaftans am so genannten alten Dogma und damit seines Entwurfs eines neuen Dogmas ab. Der Maßstab jener Kritik liegt in der strikten Ausrichtung des Dogmas am Glauben. So gründen die drei genannten Argumente jeweils in der Beschreibung einer Funktion, welche das Dogma für den Glauben innehat. Damit ist der katholische Dogmenbegriff abgewiesen, welcher Kaftan zufolge nicht auf die glaubensmäßige Aneignung des Dogmeninhalts abhebt, sondern die Bedeutung des Dogmas darin sieht, dass in ihm „als heilige[r] Formel“461 das Heil übermittelt wird. Dabei komme es eben nicht auf die glaubensmäßige, persönliche Aneignung, sondern auf die äußerlich bleibende Akzeptanz der Geltung der im Dogma formulierten Lehre an. Kaftan

————— 455 Kaftan, Glaube und Dogma, 21. 456 Vgl. Kaftan, Glaube und Dogma, 21f, 25f. 457 Kaftan, Ein neues Dogma, 44. 458 Kaftan, Ein neues Dogma, 44; ders., Bekenntnis, 5; ders., Der evangelische Glaube, 467; ders., Die Einheit des Erkennens, 55. Vgl. ähnlich ders., Rechtgläubigkeit, 11. 459 Vgl. Kaftan, Ein neues Dogma, 44. 460 Vgl. Kaftan, Ein neues Dogma, 46; ders., Rechtgläubigkeit, 7. 461 Kaftan, Ein neues Dogma, 47.

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greift auf die Konzeption der fides implicita zurück,462 um den katholischen Dogmenbegriff – wie er seiner Konstruktion zufolge beschaffen ist – zu charakterisieren. Der entscheidende Kern dieser Konzeption ist die Überzeugung, für den kirchlichen Laien reiche die auf allgemeiner Anerkennung des Wahrheitsgehalts der kirchlichen Lehre basierende Unterordnung unter das Dogma völlig aus.463 In seinem oben vorgestellten Vortrag zur Logoslehre lehnt Kaftan eine solche Konzeption von kirchlicher Autorität und individuellem Gehorsam ab, da es nicht „dem evangelischen Glauben entspricht, eine Lehre als heiliges Geheimnis festzuhalten, als eine ewige Voraussetzung, die aber für Glaube und Leben keine Bedeutung weiter hat.“464 Nicht die „Unterwerfung“465 unter unverstandene Sätze, sondern die persönliche Aneignung ist das subjektive Korrelat der objektiven kirchlichen Lehre, wie sie im Dogma konzentriert ist.466 Mithin vertritt das Dogma die Position der recht verstandenen Autorität, von welcher oben gesagt wurde, dass sie im Christentum als geistiger Religion mit der Freiheit des glaubenden Subjekts wechselseitig korreliert. Noch ein weiterer Kritikpunkt öffnet sich dem aus evangelischer Perspektive über das alte Dogma Urteilendem; dieser betrifft die Stellung der Kirche als handelndes Subjekt und näherhin ihr Selbstverständnis. Während die katholische Kirche den Anspruch erhebt, Dogmen feststellen und als geltend proklamieren zu können, betont Kaftan, dass das Dogma, wie es in der evangelischen Kirche als Funktion des Glaubens zu stehen kommt, nicht von der Kirche gemacht wird: Es [das Dogma] muß in geschichtlichen Wandlungen sich aufdrängen als etwas, das der Augenblick fordert und das nun nicht wieder vergessen werden kann – wie es zu geschehen pflegt, wenn Gott der Herr etwas in seiner Kirche auf Erden schafft.467

————— 462 Zur Begriffgeschichte vgl. Georg HOFFMANN, Die Lehre von der „fides implicita“ innerhalb der katholischen Kirche, 3 Bd., Leipzig 1903–1909. 463 Vgl. Kaftan, Glaube und Dogma, 14 (im Original hervorgehoben), wo er die Konzeption der fides implicita darstellt als den „Grundsatz, daß es genügt zu glauben, was die Kirche glaubt“. Vgl. ders., Rechtgläubigkeit, 3f. – Kaftan meint, der katholische Glaubens- und Dogmenbegriff sei in der protestantischen Orthodoxie trotz offizieller Verwerfung dem Sinn nach revitalisiert worden, indem falsch verstandene „Rechtgläubigkeit“ (ders., Glaube und Dogma, 14) als Maßstab von Heilsgewissheit zu stehen kam (vgl. dazu auch ders., Wahrheit, 189–192; ders., Dogmatik, 224). Kaftan entwirft selber einen dezidiert evangelischen Begriff der Rechtgläubigkeit (vgl. ders., Rechtgläubigkeit), wie im Folgenden gezeigt werden wird. 464 Kaftan, Logoslehre, 11. 465 Kaftan, Ein neues Dogma, 15. 466 Dabei integriert der persönliche Glaube gleichwohl das Moment des Sich-Unterwerfens – aber das des freien, überzeugten Sich-Unterwerfens: Das Dogma fasst den „Inhalt des Glaubens […] in bestimmte Formen und Formeln, die geeignet sind, solchen Glauben allen nahe zu bringen, ihn in allen zu wecken und zu nähren, und damit alle dem inneren göttlichen Lebensgesetz zu unterwerfen, das in diesem Glauben enthalten ist.“ (Kaftan, Ein neues Dogma, 59f.) 467 Kaftan, Ein neues Dogma, 4f.

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Es ließe sich einwenden, dass das katholische Verständnis vom Grund des kirchlichen Dogmas missverstanden ist, wenn angenommen wird, die Kirche verstehe sich hier als eigentliche Urheberin des Dogmas. Hier interessiert allerdings das Profil des in der evangelischen Kirche gelten sollenden Dogmas, wie Kaftan es in Absetzung von einem konstruierten katholischen Dogmenverständnis aufstellt. Die Kirche hat in der Vermittlung des Dogmas zugleich offen zu legen, dass nicht sie Grund von Inhalt und Geltung des Dogmas ist, sondern die geschichtliche Offenbarung Gottes in Christus. Dies ist aber nicht so zu verstehen, dass das Dogma selber ein für alle mal offenbart wird, sondern Kaftan spricht diesem ausdrücklich eine Entwicklung zu: „es muß werden“.468 Damit ist der Auffassung widersprochen, das Dogma werde (von kirchlichen Instanzen) gemacht, und es ist zugleich als nicht-statisches charakterisiert, dessen Fortentwicklung darin gründet, dass auch die Gottesoffenbarung in Christus geschichtlich aus sich selber herauswächst, wie oben dargelegt wurde.469 Dieses Werden des Dogmas nun hat statt im Raum kirchlichen Handelns. Hier kehrt die grundsätzliche ekklesiologische Spannung wieder zwischen der Notwendigkeit kirchlichen Handelns und der Überzeugung davon, dass der Erfolg dieses Handelns nicht in ihm selbst, sondern in Gottes Wirken gründet – nun als Spannung zwischen letztlich göttlicher Konstitution des Dogmas und kirchlicher Feststellung und Weitergabe. Somit hat das kirchliche Dogma das Wort Gottes, zu welchem die Verkündigung in Rückbezug auf die Schrift je und je werden kann, als Korrektiv und ist wie die Kirche selber eine Größe semper reformanda.470 Die beiden genannten Unterschiede zwischen dem in der römischkatholischen Kirche geltenden und dem in der evangelischen Kirche zu seinem Recht zu verhelfenden Dogma sind Kaftan zufolge von fundamentaler Bedeutung. Die Bezeichnung des letzteren als „neues Dogma“ besagt nicht etwa, dass der kirchlichen Lehre neue Inhalte eingestellt werden, sondern dass die kirchliche Lehre in ihrer Bedeutung für die Religiosität in eine völlig neue Stellung eingerückt wird. Nur und strikt in diesem Sinne ist Kaftans Forderung nach „Lehrverbesserung“471 zu verstehen. Es ist erneut darauf zu verweisen, dass die Reformation in Kaftans Konstruktion der kirchengeschichtlichen Epochen als radikaler „Bruch“472 zu stehen kommt, ————— 468 Kaftan, Glaube und Dogma, 30 (Hervorhebung im Original). 469 Vgl. oben 4.2.1. 470 Vgl. Kaftan, Glaube und Dogma, 59. 471 Kaftan, Ein neues Dogma, 44. Vgl. dazu weiter ders., Wahrheit, 193–195. 472 Kaftan, Ein neues Dogma, 44. Vgl. ders., Logoslehre, 18; ders., Wahrheit, 18, 247, 257– 262; ders., Theologie und Kirche, 19; ders., Der evangelische Glaube, 433, 481. Vgl. zur Sicht der geschichtlichen Entwicklung des Christentums in Stufen und des reformatorischen Christentums als einer neuen Stufe ders., Ein neues Dogma, 65; ders., Wahrheit, Kap. 1–5 (d.h. der ganze erste Abschnitt der Schrift und besonders das urteilende Kapitel 5). Kaftan setzt sich damit von der

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welcher sich auf dem hier verhandelten Gebiet der Lehre darin äußert, dass die Objektivität kirchlicher Lehre dem evangelischen Glaubensbegriff entsprechend nur in Korrelation mit der Subjektivität religiösen Bewusstseins überhaupt Objektivität ist – freilich auch umgekehrt. Diesen Zusammenhang von autoritativer, objektiver Aufstellung von zu glaubenden Gehalten und der Notwendigkeit innerlicher, verstehender473 Aneignung derselben will Kaftan mit der Formel vom „neuen Dogma“ zum Ausdruck bringen. Kaftans wiederholte Anläufe zur näheren Beschreibung von Funktion und Bedeutung des neuen Dogmas wiederholen eben diese Zweipoligkeit von Objektivität und Autorität auf der einen Seite, Subjektivität und glaubender Aneignung auf der anderen Seite. Komprimiert ist dies in der Forderung zum Ausdruck gebracht: Was wir brauchen, ist eine Lehre, ein Dogma, welches das Mittel ist, unsern Glauben mit Christo in Beziehung zu setzen und zu erhalten […] eine Zusammenfassung der uns geschenkten Wahrheit in ihrer Beziehung zum Glauben, in ihrer Richtung auf den Glauben.474

Eben jene Zweipoligkeit, welche von der Theorie religiöser Erkenntnis her sich in der Forderung nach einem „neuen Dogma“ niederschlägt, bestimmt Kaftans Bestimmung von Bedeutung und Gestaltung der kirchlichen Dogmatik. Auch die Umbildung der Dogmatik ist mithin als Fortsetzung der Reformation, genauerhin der Theologie Luthers zu verstehen, insofern der genuin evangelische Glaubensbegriff als Prinzip zur Durchführung zu bringen ist. Das Dogmatikkonzept Kaftans kommt mithin nicht bloß als Teilüberlegung innerhalb der dogmatischen Prolegomena zu stehen, sondern spiegelt das Programm seiner Theologie im Ganzen wieder. Die Umbildung der Dogmatik steht im Zentrum der Theologie Kaftans, und es kann gezeigt werden, dass diese Behauptung mit der inhaltlichen Akzentuierung, näm————— alternativen Betrachtungsweise der Dogmengeschichte als einheitlich unter Leitung göttlichen Geistes geschehene ab, wie er sie aus Franks, Strauß’ und Baurs Dogmengeschichtsschreibung rekonstruiert (wobei Strauß und Baur freilich auch die Destruktion des Dogmas seit der Aufklärung inkludieren) und schließlich als katholisierende Auffassung beurteilt (vgl. Kaftan, Wahrheit, 235–249). Dass Kaftan die Reformation als „Bruch“ mit der mittelalterlich-katholischen Form des Christentums betrachtet, bedeutet nicht, dass er sie von einem gleichsam ungeschichtlichen Rückgriff auf das Urchristentum her versteht. Vielmehr betont er, dass „das abendländische Mittelalter, das lateinische Christenthum unter den germanischen Völkern […] auch [die] Vergangenheit“ der evangelischen Kirche ist: ders., Christenthum und Nation, 66. 473 Hiermit ist freilich keine bestimmte intellektuelle Verstehensleistung gemeint, sondern das auf einem persönlichen Werturteil basierende Ins-Verhältnis-Setzen von Glaubensgehalt und persönlichem Leben. 474 Kaftan, Ein neues Dogma, 48. Vgl. a.a.O., 27 (Hervorhebung im Original): „Wir brauchen Formeln […] Schläuche für den Wein, dessen Becher Gott unsrer Kirche voll eingeschenkt, damit er nicht zur Erde falle, sondern stärke, was krank ist, und lebendig mache, was sterben will.“

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lich der Zentralstellung der Eschatologie sowohl in Religions- als auch in Christentumstheorie zusammen geht. Für Kaftans Dogmatikbegriff ist zunächst die scheinbar banale Tatsache aufschlussreich, dass er überhaupt eine evangelische Dogmatik fordert und konzipiert. Nicht nur von liberal oder pietistisch gesinnten Kreisen, zu denen Otto Dreyer mit seiner Forderung nach einem undogmatischen Christentum ebenso gehört wie Troeltsch, der in seiner Kaftan zum Widerspruch herausfordernden Selbständigkeitsschrift die Dogmatik als eine „Versteinerung der Religion, oder das Herbarium ihrer getrockneten Vorstellungen“475 bezeichnet, setzt er sich damit ab. Auch Vertreter der so genannten vermittelnden Theologie und der Ritschl-Schule schließen sich der Intention nach an die programmatisch nicht mehr Dogmatik genannte Glaubenslehre Schleiermachers an, nach welcher es dem Theologen weder von der Erkenntnistheorie her möglich noch vom Frömmigkeitsbegriff her aufgegeben ist, die Glaubensgegenstände als objektiv Gegebenes darzulegen.476 Die Glaubenslehre hat stattdessen nach Schleiermacher und denen, die ihm hier folgen, die Aufgabe, die in der christlichen Frömmigkeit mit gesetzten Gehalte zu beschreiben, ist also ausdrücklich keine Lehre von den Gegenständen des Glaubens abgesehen vom Glauben, sondern vom Glauben selber. Parallel zu dieser religionstheoretisch-begründeten Abkehr von der Dogmatik ist im Bereich der protestantischen Kirchen im ausgehenden 19. und anhebenden 20. Jahrhundert ganz allgemein ein Zurücktreten nicht nur des Kultus, sondern auch der Lehre im allgemeinen Bewusstsein historisch festzustellen.477 Kaftan widerspricht wie gesehen der Auffassung, die Religion ereigne sich als „vorstellungsarm[es]“ oder „begriffsleer[es]“478 Erlebnis der Seele, so dass die Dogmatik als Darstellung von Glaubensinhalten bestenfalls Epiphänomene der Religion beschreibt. Er widerspricht weiter auch der gemäßigten Variante, Religion ereigne sich zwar in Vorstellungen und bringe in Begriffe zu fassende Erkenntnis mit sich, diese sei aber nur nachgängig im Rahmen einer Glaubenslehre zu beschreiben. Wenn erstens das ————— 475 TROELTSCH, Selbständigkeit, ZThK 5, 418. Das Bild der Dogmatik als Herbarium gebraucht Kaftan bereits 1893 – allerdings in warnender Weise: Wird nicht gesehen, dass die Theologie die kirchliche Lehre gemäß des reformatorischen Glaubensprinzips umzubilden hat, so wird die Dogmatik ihrer Beziehung auf die lebendige Frömmigkeit beraubt und gerät zum „große[n] Herbarium, in welchem gehörig verwahrt liegt, was in den verschiedenen Epochen der Kirche lebendige Wahrheit gewesen ist, nun aber den Saft längst verloren hat und in der Farbe verblichen ist.“ (Kaftan, Der evangelische Glaube, 459.) 476 Vgl. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (1830/31), prinzipiell in §15 (KGA I.,13,1: 127–130). 477 Vgl. dazu NIPPERDEY, Religion, 77. 478 Beide Zitate: DRESCHER, Troeltsch, 135 zu Troeltschs religionspsychologischer Beschreibung der Religion in seinem Aufsatz zur Selbständigkeit der Religion.

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religiöse Erleben Gottes-, Welt- und Selbsterkenntnis mit sich bringt, und zweitens jenes Erleben an der autoritativen Darstellung der Objekte solcher Erkenntnis entsteht, so kommt der Dogmatik eine bedeutende kirchliche Aufgabe zu. Sie hat die dem christlichen Glauben korrelierenden Erkenntnisobjekte so zu beschreiben, dass die Kirche als Erzieherin zum Glauben eine Anleitung zur Darstellung dieser Erkenntnisobjekte im kirchlichen Handeln hat.479 Somit hat nicht die Dogmatik als solche die Aufgabe der Erziehung im Glauben zu erfüllen, sondern die Kirche, deren – ganzheitlich verstandene – Verkündigung am „neuen Dogma“, wie gesehen, ihr Prinzip hat. Der Begriff der Dogmatik bezieht sich auf jenes „neue Dogma“: Die Dogmatik entfaltet die Gehalte des „neuen Dogmas“ in systematischer Weise und gewährleistet so die innere Einheit des Dogmas und damit der Kirche als Verkündigungsgemeinschaft. An der Konzeption der Kaftanschen Dogmatik ist damit auffallend, dass er auf der einen Seite Schleiermachers Ansatz beim Glaubensbewusstsein als die entscheidende neuzeitliche Reform der Theologie begreift, weil er das praktische Wesen der Glaubenserkenntnis hervorgehoben hat.480 Auf der anderen Seite aber kritisiert Kaftan die Durchführung der Schleiermacherschen Glaubenslehre, welcher das Prinzip zugrunde liegt, dass die Glaubenssätze „Auffassungen der christlich frommen Gemüthszustände in der Rede dargestellt“481 sind. Kaftan meint, dass so der „Anspruch […], objektive Wahrheit zu sein“,482 welcher den Glaubenssätzen gerade aufgrund der praktischen Bedingtheit der Glaubenserkenntnis zukommt,483 nicht berücksichtigt wird. Zwar ist die dogmatische „Lehre nicht als Objekt des Glaubens“484 zu verstehen, aber sie stellt das Objekt des Glaubens so vor, wie der Glaube es aufgrund der in der Schrift bezeugten Offenbarung erkennt.485 Weiterhin macht sie deutlich, dass die ————— 479 Kaftan unterläuft damit dem eigenen Anspruch nach aber nicht die grundlegende Einsicht darein, dass die Erkenntnis der Glaubensobjekte eben Glaubenserkenntnis ist und bleiben muss; vgl. ders., Wahrheit, 12–15 und v.a. a.a.O., 87: „Deshalb bleibt es dabei, daß der Versuch, den Inhalt des Glaubens objektiv zu erkennen, eine sachliche Veränderung desselben mit sich bringt und folglich einer Beeinträchtigung des Christentums gleichkommt.“ Vgl. auch a.a.O., 575–577. 480 Schleiermacher hat Kaftan zufolge gelehrt, „den Glauben zunächst in seinem eignen Sinn, von seinen praktischen religiösen Wurzeln aus zu verstehn“ (Kaftan, Wesen, 103; Hervorhebung im Original). Vgl. zu Kaftans Würdigung des Schleiermacherschen Ansatzes oben Kapitel 2.2.2. 481 SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube (1830/31), Leitsatz zu §15 (KGA I.,13,1: 127). 482 Kaftan, Wesen, 104. 483 Vgl. dazu oben 4.2.2. 484 Kaftan, Rechtgläubigkeit, 10 (Hervorhebung im Original). 485 Zu Schrift und Bekenntnis als Norm der Dogmatik vgl. neben Kaftan, Dogmatik, 9-103 (erstes und zweites Kapitel der Prolegomena) weiter ders., Rechtgläubigkeit, 9f. Vgl. zum Verhältnis der Dogmatik zu den kirchlichen Bekenntnissen ders., Zur Dogmatik, 196–210. Weil die Glaubenserkenntnis wie oben gesehen vor allem Gotteserkenntnis ist, kann der Unterschied der Kaftanschen Dogmatik zur Glaubenslehre SCHLEIERMACHERs vor allem an einer symptomatischen Änderung in der Gotteslehre gesehen werden: Die Trinitätslehre ist nicht eine

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Glaubenserkenntnis zwar nur als subjektiv angeeignete wahr ist, dass ihr aber gerade aus praktisch-religiösen Gründen eine spezifische „Logik“486 eignet und ihre Darstellung mithin nicht subjektivistisch-willkürlich sein darf.487 Als Beschreibung der subjektiv-objektiven Erkenntnis des christlichen Glaubens ist die Dogmatik damit „Normwissenschaft“.488 Ihre Normativität liegt aber nicht – oder nicht in erster Linie! –, darin, „die unmittelbare Darstellung der Selbstdurchsichtigkeit des inneren Lebens“489 zu sein. Vielmehr durchleuchtet sie jenes „innere Leben“ durchweg von dessen theonomen Konstitutionsmomenten her. Wittekinds Kaftan-Rekonstruktion ist instruktiv, was das selbstdurchsichtig Werden des Subjekts betrifft. Aber er stellt nicht immer deutlich heraus, dass Kafans Dogmatik dezidiert die Darstellung dessen sein will, was der Glaube als außerhalb seiner selbst liegend sich selber immer vorgegeben sieht.490 Deshalb partizipiert die Dogmatik als ————— nachträgliche „Verknüpfung“ (Schleiermacher, Der christliche Glaube [1830/31], Leitsatz zu §170 [KGA I.,13,2: 514]) von Glaubenaussagen und somit an den Schluss der Glaubenslehre zu stellen, sondern in die Darstellung der Gotteslehre aufzunehmen, weil in ihr die christliche Gotteserkenntnis zum vollendeten Ausdruck kommt (vgl. Kaftan, Zur Dogmatik, 213–218). 486 Vgl. Kaftan, Dogmatik und Glaubenspsychologie, 381. Dass Kaftan hier aber nicht etwa meint, die Glaubensgehalte seien „vor dem log-mathematischen Denken […] zu rechtfertigen“, wird an seiner Kritik von Karl HEIM, Glaubensgewißheit. Eine Untersuchung über die Lebensfrage der Religion, Leipzig 1916, deutlich; vgl. Kaftan, Glaubensgewißheit und Denknotwendigkeit. Vgl. weiter ders., Glaube und Dogmatik, 505f; ders., Zur Dogmatik, 48–55. 487 Wie die prinzipielle Wahrnehmung der Dogmengeschichte, so ist auch das Kaftansche Verständnis von Dogma und Lehre dem des Berliner Kollegen und Freundes HARNACK nicht so verschieden, wie es von der üblichen Harnack-Rezeption her scheinen mag. Auch für Harnack ist schließlich – trotz seiner bekannten Kritik an der kirchlichen Lehrentwicklung – die Lehre eine unverzichtbare Ausdrucksform der Religion, insofern sie das unmittelbare religiöse Erlebnis erstens kulturvermittelnd und zweitens gemeinschafts- beziehungsweise identitätssstiftend ausspricht. Vgl. nur Harnacks Ausführung zur assimilierenden Kraft der Logosidee sowie zur wirksamen Bekämpfung des Gnosticismus in der griechischen Alten Kirche: ders., Wesen, 196f und 198–200. Vgl. zur Bedeutung und Funktion des Dogmas bei Harnack: AXT-PISCALAR, Harnacks Christologie, 125–129. – Kaftan kritisiert allerdings die von Harnack in den Vorlesungen zum Wesen des Christentums umrissene Methode der „kritischen Reduktion“ (Harnack, Wesen, 240 und dazu Kaftan, Zur Dogmatik, 56–82) und entfaltet den christlichen Glauben in einer ausführlichen Dogmatik, was Harnack aufgrund seiner starken Betonung der Unmittelbarkeit des Individuums zu Gott im religiösen Erlebnis in dieser Weise nicht getan hat und nicht tun konnte (vgl. zur Warnung Harnacks, das kirchliche Bekenntnis ebenso wie die Lehre könne die „Freiheit und Selbständigkeit“ des einzelnen „Gotteskind[es]“ beschränken: ders., Wesen, 201). 488 Kaftan, Dogmatik und Glaubenspsychologie, 384. Vgl. oben 4.3.1 zur Bedeutung der Autorität in der religiösen Erkenntnis. 489 WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 121. 490 Vgl. z.B. auch WITTEKIND, Geschichtliche Offenbarung, 89f: „Die als außer uns angenommenen Objekte der Religion sind danach Darstellungsweisen einer wahren Selbstbeschreibung des Menschen.“ Eher wäre für Kaftan umgekehrt zu sagen: Die wahre Selbstbeschreibung des Menschen erwächst aus seiner Konfrontation mit den Objekten religiöser Erkenntnis – auch wenn diese immer nur für die subjektive Aneignung Objekte sind. Wie bereits angedeutet, ist damit noch nicht dem Kaftanschen Theologiemodell vor dem, welches in der Wittekindschen Kaftan-

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„Normwissenschaft“ freilich an den Selbstunterscheidungsmomenten, welche sowohl die Kirche als auch das Dogma ausmachen. Auch die Dogmatik hat ihre Gehalte als nicht durch sie selber begründete darzustellen,491 wobei hier das entscheidende Augenmerk darauf zu liegen hat, dass nicht durch das Fürwahrhalten der dogmatischen Sätze, sondern durch die glaubensmäßige Partizipation am auferstandenen Christus das in der christlichen Religion erstrebte und gewisse Heil sich ereignet.492 Jenseits dieser dem protestantischen Prinzip verdankten Selbstunterscheidungsmomente betont Kaftan durchgängig die praktische Notwendigkeit und Abzweckung der Dogmatik. Im Hintergrund steht dabei die Forderung der Einheitlichkeit kirchlicher Verkündigung,493 welche wiederum darin gründet, dass Kaftan von der Einheit der Wahrheit ausgeht. Dementsprechend bezeichnet er die Dogmatiker als „Hüter der Wahrheit“,494 eine Wendung, deren restriktiver Charakter eine dynamisch-konstruktive Wendung erfährt, wenn zweierlei beachtet wird. Zum einen hat die Dogmatik über die Aufstellung einer einheitlichen Lehre die Funktion, die Identität der Kirche als handelnde Organisation in ihrem Verhältnis zur geglaubten Kirche nicht zu begründen, aber zum verbindlichen und orientierenden Ausdruck zu bringen.495 Zum anderen bringt Kaftan durchgängig die praktische Abzweckung solcher Dogmatik zum Ausdruck, und zwar in wiederum zweifacher Ausrichtung. Erstens stellt die Dogmatik die „Regel“496 für die Durchführung der Glaubenserkenntnis im individuellen Leben auf. Ohne dies zu explizieren, greift Kaftan in dem Gebrauch des Begriffs „Regel“ wohl bewusst auf die Bezeichnung der für das mönchische Leben aufgestellten Lebensordnungen zurück. Die Dogmatik beschreibt die Ordnung christlichen Lebens als bewusstes Leben, indem sie es von der in der Gotteserkenntnis gelegenen Selbsterkenntnis des Glaubenden her entfaltet. Dabei ist stets mitzuführen, dass die Gehalte des Glaubens nur innerlich und das heißt je persönlich angeeignet Sätze sind, denen Wahrheit zukommt. Aber zugleich bedarf der ————— Rekonstruktion aufscheint, der Vorzug gegeben. Aber Kaftan macht die Objekte religiöser Erkenntnis als außer uns liegender Objekte stärker (vgl. z.B. ders., Dogmatik, 535, 537), als Wittekind dies zu wollen scheint. 491 Vielmehr ist für sie konstitutiv die Beziehung auf das Wort Gottes, wobei Kaftan das Schriftprinzip vom geschichtlichen Verständnis der Schrift her in Anwendung bringt. Vgl. neben Kaftan, Dogmatik, 9–69 weiter ders., Ein neues Dogma, 36. 492 Vgl. Kaftan, Logoslehre, 19. 493 Vgl. dazu in praktisch-zeitgeschichlicher Hinsicht Kaftan, Brief an den Bruder vom 16. Juli 1922: „Es wäre zugleich ein schwerer Schlag gegen den deutschen Protestantismus […], wenn die altpreußische Kirche auseinander gesprengt würde.“ (Göbell, Briefwechsel II, 780; vgl. 919.) 494 Kaftan, Ein neues Dogma, 29. 495 Vgl. Kaftan, Glaube und Dogma, 26. 496 Kaftan, Dogmatik, 274, 279f; ders., Jesus und Paulus, 50f; ders., Jesus, 413, 414; ders., Lehre von der Erlösung, 244, 258 und ders., Predigt des Evangeliums, 61, 95.

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individuelle Glaubensvollzug Kaftan zufolge einer Richtschnur, was wiederum im von Kaftan durchgängig herangezogenen Erziehungsprozess eine Analogie hat. Innerlich werden kann nur, was in zunächst heteronomautoritativer Weise von außen herangetragen wird. Die Ausrichtung der Dogmatik auf das „persönliche Leben“497 findet darin seinen Ausdruck, dass Kaftan in seiner eigenen Dogmatik zuweilen fast psychologisch argumentierend erläutert, welche Bedeutung das Dargestellte für den Lebensvollzug aufweist.498 Zweitens ist die Dogmatik praktische „Handreichung“499 – „Anweisung für die Praxis“500 – für die an der kirchlichen Verkündigung Beteiligten und erfüllt gerade vermittelt hierüber den eben beschriebenen Zweck der Regulierung individueller Frömmigkeit. Näherhin ist sie – wie die theologische Ethik auf die Praxis der Seelsorge501 – auf die Praxis von Predigt und Unterricht bezogen.502 Kaftans Versuch, die Momente der Objektivität und der Subjektivität, von Autorität und Aneignung zusammenzuhalten, sowie sein Verständnis der identitätsstiftenden Funktion der Dogmatik äußert sich – um noch einmal auf den zeitgeschichtlichen Kontext der Position Kaftans zu verweisen – in seiner Haltung zu den Fällen, welche die evangelische Öffentlichkeit seit dem „Fall Schrempf“ und dem hierdurch ausgelösten so genannten Apostolikumsstreit bewegen, Fälle, in welchen evangelische Geistliche in ————— 497 Kaftan, Dogmatik, 337 im Zusammenhang der Sündenvorstellung. 498 Vgl. z.B. Kaftan, Dogmatik, 179f, wo er innerhalb der Eigenschaftslehre die Verbindung zwischen Eigenschaften Gottes und ihrer individuellen Wahrnehmung in spezifischen Lebenssituationen wie dem Wachwerden des Schuldgefühls aufzeigt, oder a.a.O., 318–322, wo er den Zusammenhang zwischen Sündenlehre und Gewissensbildung anspricht. – Vgl. prinzipiell ders., Wahrheit, 576; ders., Glaube und Dogmatik, 534–538 zur Bedeutung der Dogmatik „für das Glaubensleben des Einzelnen“ (a.a.O., 538). Zur (freilich untergeordneten) Bedeutung der Psychologie für die Dogmatik vgl. ders., Dogmatik und Glaubenspsychologie, 386–393; ders., Zur Dogmatik, 95f. 499 Kaftan, Ein neues Dogma, 36. 500 Kaftan, Dogmatik, 560. Vgl. weiter ders., Rechtgläubigkeit, 10. 501 Vgl. Kaftan, Das sittliche Leben, 123. 502 Vgl. Kaftan, Predigt des Evangeliums, 25, 32, 44f; ders., Dogmatik, 543f, 556, 561, 572, 596; ders., Glaube und Dogmatik, 538–549 (dort auch ausführlich zum Unterricht in der Religion und zum gleichsam entwicklungspsychologisch erfassten Problem der Vermittlung des weltüberhebenden Glaubens an Kinder: a.a.O., 542–548). Die Predigt selber ist wiederum auf das persönliche Leben und näherhin die Frömmigkeitspraxis des Einzelnen in der Gemeinschaft bezogen und stellt somit in eminenter Weise den Zusammenhang von Dogmatik und Leben her. Die Predigt legt Schriftstellen so aus, dass sie sie aus dem Wesen der christlichen Religion deutet und auf das praktische Leben, die gelebte Frömmigkeit bezieht. Vgl. Kaftan, Predigt des Evangeliums, 54. Entsprechend der sittlichen Qualität des höchsten Guts des Gottesreichs muss es dabei Ziel der Predigt sein, den Hörenden zu ermöglichen, „zu einer einfachen und bestimmten Position zu gelangen, was doch die Vorbedingung eines kräftigen Handelns ist“ (a.a.O., 3).

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teilweise drastischer Weise von in den Bekenntnissen ausgedrückten Glaubensgehalten Abstand genommen haben. Kaftan will in den hier virulenten Fragen nach beiden Seiten vermitteln. Die so genannten Orthodoxen, welche im Apostolikumsstreit503 jegliche Änderung im kirchlichen Gebrauch des Apostolikums abwehrten und später in den Fällen Jatho und Traub entschieden die Rechtgläubigkeit im Sinne des Festhaltens an einmal geltender Lehre betonten, will er „dazu bringen, die Fragen unter dem Gesichtspunkt des Glaubens anzusehn“.504 Auf der anderen Seite meint er, dass Harnack, der bekanntlich eine auf studentische Anfrage hin geäußerte Kritik am Apostolikum in der Christlichen Welt veröffentlichte,505 damit „etwas recht Törichtes getan“506 habe. Kaftan wirft Harnack vor, dass dieser – vor allem von „theoretischen Interessen bewegt“ – die „Realitäten des Lebens“ nicht deutlich einschätzt und mit seinem Vorstoß diplomatischere Bemühungen um „eine theologische Korrektur der Tradition“507 erschwert. Kaftan meint, dass eine solche Korrektur nur ein langsam fortschreitender Prozess sein kann, wobei wieder seine pädagogische Ausrichtung deutlich wird. Auch den nicht historisch-kritisch geschulten Christen, welche theoretisch begründete Einwürfe gegen die Geltung von Bekenntnisinhalten nicht ohne weiteres verstehen, sind die Inhalte der Bekenntnisse als auf den Glauben bezogene vorstellig zu machen, so dass ein allmähliches Verlassen vorreformatorischer Rechtgläubigkeitsansprüche möglich wird. Eine wichtige Rolle spielt hier die „Erziehung der Gemeinde zum geschichtlichen Verständnis von Bibel und Dogma.“508 In den Äußerungen der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts tut sich insgesamt Kaftans Versuch der Durchsetzung des Glaubensprinzips kund, so dass er beispielsweise – als Mitunterzeichner der Eisenacher Erklärung der Freunde der Christlichen Welt509 – auch den Erlass des Preußischen Oberkirchenrats bezüglich der Apostolikumsfrage als rückgewendet-unrefor-

————— 503 Vgl. Kaftans prinzipielle Ausführungen vor dem Berliner Kandidatenverein im Jahr 1892, veröffentlicht in den Heften zur christlichen Welt Nr. 6, Leipzig 1893, und den in der ZThK 3, 1893, 427–492 veröffentlichten Aufsatz Der evangelische Glaube und die kirchliche Überlieferung. Vgl. weiter seine Kritik an der Erklärung der Positiven Union über das Apostolikum (in: Schleswig-Holsteinisches Kirchenblatt 14, 1913, 27): Brief an den Bruder vom 21. Februar 1913 (Göbell, Briefwechsel II, 527). 504 Brief an den Bruder vom 6. Juni 1892 (Göbell, Briefwechsel I, 48; Hervorhebung im Original). 505 Am 18.8.1892; vgl. ChW 34 (1892). 506 Brief an den Bruder vom 29. September 1892 (Göbell, Briefwechsel I, 51). Zu Harnacks Position vgl. Zahn-Harnack, Harnack, 144–160. 507 Alle Zitate aus Brief an den Bruder vom 29. September 1892 (Göbell, Briefwechsel I, 51). 508 Kaftan, Jesus und Paulus, 8. 509 Vgl. ChW 6, 1892, 949.

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matorisch kritisiert.510 In den späteren Streitigkeiten über das Lehrbeanstandungsgesetz äußert sich Kaftan, nunmehr selber Mitglied der Kirchenleitung deutlicher über die Notwendigkeit einer einheitlichen und deshalb durch die Kirchenleitung zu regulierenden Lehre.511 Aber auch noch 1912 spricht er sich vehement dagegen aus, „das im Bekenntnis enthaltene Erbe aus der katholischen Vergangenheit als Zwangsjacke anzulegen“.512 Lehrbeanstandung ist im Falle einer deutlichen Störung der Handlungsfähigkeit der Kirche als Organisation zwar notwendig, aber sie darf nicht als äußerliche Durchsetzung eines Lehrgesetzes erfolgen. Auffallend ist hier die Betonung des Moments der Persönlichkeit, welche sich sicherlich aus Kaftans theologischen und ethischen Erwägungen speist, auch als Prinzip der Kirchenleitung, wie es in Kaftans Vorschlägen zur Kirchenverfassung zum Ausdruck kommt: Er wünscht „dem bischöflichen Element ein starkes Gewicht […] dem Persönlichen [muss] im Kirchenregiment die entscheidende Bedeutung zukommen“.513 In Bezug auf die Frage nach der Durchsetzbarkeit einer einheitlichen, verbindlichen Lehre bedeutet dies nicht die Forderung einer gleichsam monarchischen Autorität, sondern die These, ————— 510 Vgl. Brief an den Bruder vom 4. Dezember 1892 (Göbell, Briefwechsel I, 58f). Vgl. dazu Zirkularerlass des preußischen Oberkirchenrats, betreffend den Gebrauch und die Wertschätzung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, an die unterstellten Superintendenten, Berlin, den 25. November 1892, auch abgedruckt in der Chronik der ChW 2, 1892, 465–466. 511 Kaftan gehörte dem preußischen Oberkirchenrat an, als dieser auf der preußischen Generalsynode von 1909 einen Gesetzentwurf „betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen“ einbrachte (vgl. Verhandlungen der Sechsten ordentlichen Generalsynode der evangelischen Landeskirche Preußens über das Kirchengesetz, betreffend das Verfahren bei Beanstandung der Lehre von Geistlichen, Sonderdruck, hg. von dem Evangelischen Oberkirchenrat, Berlin 1910). Der einstimmig angenommene Entwurf, welcher 1910 vom Kaiser als Gesetz erlassen wurde, sah die Einrichtung eines so genannten Spruchkollegiums vor, welches die Übereinstimmung der Lehre und Verkündigung eines in die Kritik geratenen Geistlichen mit den in der Kirche geltenden Bekenntnissen zu prüfen hatte. Entschiedener Widerspruch kam von den Kreisen um den Deutschen Protestantenverein, aber auch die der Christlichen Welt nahe stehenden Theologen und Kirchenpraktiker brachten größtenteils Bedenken vor (vgl. RATHJE, Protestantismus, 152–154). Für den protestantischen Theologen stellt sich denn auch in der Tat die Frage, ob nicht ein Gesetz wie das so genannte Irrlehregesetz nicht eine „Beschränkung der Gewissensfreiheit nach katholischem Muster“ darstellt (Protestschreiben der Freunde evangelischer Freiheit in Rheinland-Westfalen, zitiert bei RATHJE, Protestantismus, 153). 512 Kaftan, Brief an den Bruder vom 16. Juni 1912 (Göbell, Briefwechsel II, 515). Vgl. desgleichen Kaftans Haltung im so genannten Präambelstreit in den Diskussionen über eine neue Kirchenverfassung um 1921/22: „Ich bin nicht bekenntnistreu in ihrem [der so genannten Rechten] Sinn – aus Treue zum Bekenntnis“ (Brief an den Bruder vom 19. Juni 1922, Göbell, Briefwechsel II, 778; vgl. a.a.O., 764, 787, 800f, 893f). Diese Haltung hängt mit der Einsicht zusammen, dass die in den evangelischen Bekenntnisschriften zum Ausdruck kommende Theologie nicht mit dem evangelischen Glauben deckungsgleich ist und demgemäß eine restaurative Theologie gerade am evangelischen Glaubensprinzip vorbei geht (vgl. Kaftan, Verpflichtung, 14–16 und ähnlich ders., Der evangelische Glaube, 430). 513 Brief an den Bruder vom 14. Februar 1920 (Göbell, Briefwechsel II, 708f; Hervorhebung im Original).

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dass sich eine solche Lehre nur durch persönliche Überzeugung und Überzeugtheit als normativ durchsetzen lässt. Dementsprechend kritisiert er den offenbar vor allem durch die Juristen im Oberkirchenrat vorgestellten forensischen Charakter eines Lehrbeanstandungsverfahrens: Die Juristen denken es doch wie ein Gerichtsverfahren und schwelgen in Ermittlungen, Zeugenvernehmungen usw. Eben, als wenn er [dessen Lehre beanstandet wird] etwas getan hätte, was bestraft werden soll. Vielmehr handelt es sich darum, wie er denkt und sich stellt, was man nur von ihm selbst erfahren kann.514

Dabei steht freilich im Hintergrund, dass sich der evangelische Geistliche in Lehre und Verkündigung an der „Lehrnorm“ zu orientieren hat, welche in der „inneren Beziehung“ von „Schrift und Bekenntnis“515 gegeben ist, wie sie im „neuen Dogma“ prinzipiellen Ausdruck findet und in der Dogmatik im Zusammenhang dargestellt wird. Die Lehrnorm beziehungsweise das Dogma ist aber, wie oben dargelegt, nicht als Komplex von anzuerkennenden Sätzen zu verstehen, sondern ist nur in innerlich-persönlicher Aneignung wahrhaft Ausdruck des Glaubens – und damit überhaupt Dogma. Dass damit freilich wiederum gerade nicht gemeint ist, dass die innerlich-persönliche Haltung als Religiosität des Einzelnen vom in der Kirche geltenden Dogma isoliert und damit immunisiert wird, liegt in Kaftans These, dass Religion und dogmatischer Ausdruck der in der Religion mit gesetzten Erkenntnis untrennbar zusammen gehören. Eben deshalb kritisiert er an den eher links stehenden Verteidigern des Pastors Jatho aus den Kreisen um die Christliche Welt: Mir ist an den Jatho-Expektorationen das Betrübende, daß alle es nur unter dem Gesichtspunkte sehen, Religion oder Dogma. Gibt es denn nicht etwas, was man christliche Religion nennt? Ist das ein Luftgebilde, das niemand kennt, jeder sich zurecht macht, wie er will? Wo sind die Zeiten hin, wo man auch in der „Christlichen Welt“ davon wußte, daß evangelischer Glaube nicht nur freie Überzeugung ist, sondern auch an einen bestimmten Inhalt gebunden?516

————— 514 Kaftan, Brief an den Bruder vom 16. Mai 1909 (Göbell, Briefwechsel I, 424f); vgl. für weitere briefliche Äußerungen Kaftans zum Lehrbeanstandungsgesetz a.a.O., 405, 423, 425f, 432, 434f, 438f, 442f; Göbell, Briefwechsel II, 617f, 527f, 546, 548f. Bereits vor dem Hintergrund des Apostolikumsstreits hatte Kaftan darauf gedrungen, dass die „Verpflichtung auf das Bekenntnis in der evangelischen Kirche“ auf die Selbstprüfung des Einzelnen abhebt (vgl. ders., Bekenntnis, 23). Vgl. weiter Kaftans Forderung nach einem „examen orthodoxiae“, welchem sich jeder Theologe selber, d.h. in Form einer „Selbstbesinnung“ zu unterziehen hat (ders., Rechtgläubigkeit, 21 und 22) – im Interesse der Gemeinde, die ein Recht hat „auf die Wahrheit, die Gott in seiner Offenbarung unserem Glauben gegeben hat“ (a.a.O., 21). 515 Alle Zitate: Kaftan, Brief an den Bruder vom 17. März 1914 (Göbell, Briefwechsel II, 548f). 516 Brief Kaftans an Rade (24. Februar 1911; zitiert bei RATHJE, Protestantismus, 180). Vgl. auch den Brief Kaftans an seinen Bruder vom 18. Juni 1911 (Göbell, Briefwechsel II, 487; Hervorhebungen im Original): „Ich möchte es den religiösen oder auch kirchlichen Bankerott wohl

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Die wechselseitige Beziehung von Religion und Dogma – oder anders: innerer Überzeugung und Autorität –, mithin der subjektiv-objektive Charakter des Gottesglaubens macht das Prinzip der Dogmatik Kaftans aus. Es wurde bereits oben in der Besprechung des Gottesbegriffs deutlich, dass dieser stricte in der Aneignung durch den glaubenden Menschen zur Darstellung kommt.517 Nun könnte man sagen, diese Vorgehensweise gründe allein im erkenntnistheoretischen Vorbehalt: Gott kann nur so erkannt werden, wie er sich dem Menschen darbietet. Entscheidend für das Verständnis der dogmatischen Intention Kaftans ist aber vor allem ein umgekehrter Schluss. In der dogmatischen Darstellung des objektivst Gegebenen – Gottes selbst – wird zugleich die innerste Disposition des Erkennenden einsichtig gemacht. Für die praktisch-kirchliche Abzweckung der Dogmatik heißt das: In der dogmatisch regulierten Verkündigung der Kirche erschließt sich dem Einzelnen ein Selbstverständnis, in welchem er sich in seinem Innersten erkennt – und das heißt gemäß dem eschatologischen Wesens des Christentums: in welchem er sich seiner Freiheit von der Welt bewusst wird. Damit gründet die Umbildung der Dogmatik in der Wesensbestimmung des Glaubens als weltüberhebender Teilhabe am Reich Gottes. In besonders eindrücklicher Weise entfaltet Kaftan diesen Zusammenhang in der Christologie, wobei hier erneut die auf Dreyer reagierende Schrift Brauchen wir ein neues Dogma? interessiert, da sie in ihrem Abschlussteil gleichsam eine Lesehilfe für die Dogmatik bietet. Unter der Überschrift „Wie dünket euch um Christus?“ stellt Kaftan die Korrelation von Gottes- und Selbsterkenntnis, wie sie durch den Begriff des „neuen Dogmas“ zum Ausdruck gebracht ist, in Anwendung auf das „Grunddogma der Kirche“518 vor.519 Wie bereits im 2. Kapitel begründet, geht Kaftan dabei ————— des theol. Liberalismus nennen, auch bis in die Reihen meiner Schüler hinein: sie wissen nur von Religion und Dogma, daß es einen christlichen an bestimmte Gedanken gebundenen Glauben gibt, wissen sie nicht.“ Vgl. zu weiteren brieflichen Äußerungen Kaftans zu den so genannten Fällen Jatho und Traub: Göbell, Briefwechsel I, 386f; ders., Briefwechsel II, 476, 480f, 484f, 488f, 504, 511, 512f, 519, 520f, 523, 536, 540, 550, 554, 570, 617, 680. Vgl. zur Vorgeschichte die Erklärung des Vorstandes der Vereinigung der Freunde der christlichen Welt (FOERSTER, RADE, WEINEL) in Nr. 6 der ChW 6, 1911, 121, in welcher eindringlich davor gewarnt wird, Jatho vor das Spruchkollegium zu bringen, wie es der Preußische Oberkirchenrat wollte. Vgl. freilich auch die Haltung HARNACKs, wie sie sich in einem Brief an Krüger vom 1. Juli 1911 (zitiert bei ZAHN-HARNACK, Harnack, 309–311 [Zitat: 309; Hervorhebung im Original]) ausdrückt: „Die preußische Landeskirche stand noch um 1866 bei Hengstenberg, um 1890 bei Kögel, um 1900 bei v.d. Goltz, und jetzt steht sie bei Dryander, Kahl und Kaftan. Das ist ein gewaltiger Fortschritt, und schneller kann das Rad der Geschichte nicht getrieben werden! Aber auch in der Haltung, die durch Dryander, Kahl und Kaftan bezeichnet ist, ist sie noch immer Bekenntniskirche, und nur weil sie das ist, hält sie zusammen.“ 517 Vgl. dazu oben 4.2.2. 518 Kaftan, Ein neues Dogma, 49. 519 Vgl. Kaftan, Ein neues Dogma, 49–77.

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„Erziehung zur Ewigkeit“ – Kirche, Dogmatik, Glaube

vom Glauben an die Gottheit Christi aus, da dieser Glaube der Grund der christlichen Erlösungsgewissheit und damit der Grund des Christentums als wesensmäßig eschatologischer Religion ist.520 Zugleich betont Kaftan, dass die Vollkommenheit des christlichen Glaubens darin liegt, dass es „eine wirkliche Persönlichkeit in der Geschichte unseres Geschlechts“521 ist, welche als „Gottes Sohn“522 und damit Gott selbst geglaubt wird. Kaftan stellt hier, die Anliegen der Zwei-Naturen-Christologie aufnehmend, die Gegenwart des Überweltlich-Eschatologischen in der Geschichte heraus.523 Dabei wird sogleich deutlich, inwiefern es sich in der Frage nach dem Christus nicht um eine rein christologische, sondern um eine genuin soteriologische Frage handelt. Die Rede von der Menschwerdung Gottes in der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu leitet unmittelbar über zu der Beschreibung dessen, was die Menschwerdung Gottes für den Menschen bedeutet: Sie öffnet dem Menschen als Sünder den „Zugang zu Gottes Herrlichkeit“.524 In gleichsam mystischen Wendungen umschreibt Kaftan, wie der Christusglaube gleich einem „unvergängliche[n] Same[n]“525 in der menschlichen Seele liegt. Gemeint ist das Bewusstsein zukünftiger Teilhabe am Leben Gottes, welches er sogleich präsentisch wendet: [M]itten in den menschlichen Dingen […] spüren wir es, wie der neue Mensch die Glieder reckt und streckt.526

Damit bringt Kaftan auch christologisch die Verknüpfung von Eschatologie und Ethik auf den Punkt. Der Glaube ist, wie gesehen, als Teilhabe am Auferstandenen bestimmt, in welcher die Erlösung von der Welt liegt. Solche Teilhabe ist als Teilhabe an Gottes überweltlichem Leben zugleich die vollendete Gotteserkenntnis. Zum anderen wurde gesagt, dass solche Erkenntnis in der Welt nicht in ekstatischer Entrückung liegt, sondern der Glaubende im sittlichen Vollzug, das heißt: in der Entwicklung zur Persönlichkeit, Gott erkennt – oder umgekehrt: nur im sittlichen Vollzug Gotteserkenntnis überhaupt möglich ist. In der Christologie bringt Kaftan die Integration der Ethik in die Eschatologie darin zum Ausdruck, dass er den Glauben an die Gottheit Christi – die christusmystische Seite – dem „evangelischen Lebensbild“527 Jesu zuordnet. So stellt Kaftan fest: ————— 520 521 522 523 524 525 526 527

Vgl. dazu oben 2.3.4. Kaftan, Ein neues Dogma, 50. Kaftan, Ein neues Dogma, 50. Vgl. zur Ablehnung der Engführung der Christologie auf das Christusprinzip oben 4.2.6. Kaftan, Ein neues Dogma, 51. Kaftan, Ein neues Dogma, 51. Kaftan, Ein neues Dogma, 51 (Hervorhebung im Original). Kaftan, Ein neues Dogma, 56.

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Der Auftrag der Kirche

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[D]er Glaube [an Christus] bedeutet, daß ich mich selbst hineinrechne in diesen Lebenszusammenhang, der über alles, was Welt heißt, hinausragt in Gott selbst und in die Ewigkeit hinein.528

Gemeint mit „diesem Lebenszusammenhang“ ist die Auferweckung und Erhöhung des gekreuzigten Christus und sein Leben in vollendeter Gottesgemeinschaft. Einmal mehr ist also der Christusglaube als Teilhabe an diesem überweltlichen Leben und damit als Erlösung von der Welt gezeichnet. Entscheidend ist aber, dass Kaftan diesen Glauben als „an das geschichtliche Lebensbild des Herrn“529 rückgebundenen darstellt. Dies trat im 2. Kapitel bereits hervor: Kaftan fordert, das geschichtliche Leben Jesu, wie es sich aus den Evangelien, aber auch aus den apostolischen Schriften rekonstruieren lässt, als Gegenstand des Glaubens an die Gottheit Christi zu beschreiben.530 Es ist in der Christologie deutlich zu machen, inwiefern das Wirken des irdischen Jesus und nicht etwa eine übernatürliche Zueignung, welche als post mortem oder gar als präexistent sich ereignende angenommen wird, den Glauben an die Gottheit Christi begründet.531 In seinem Aufsatz zum „neuen Dogma“ stellt Kaftan nun heraus, dass die Betrachtung des irdischen Lebens Jesu nicht den Zweck hat, in gleichsam distanzierter Weise Jesu gehorsamen, das heißt dem Gebot Gottes folgenden „Weg zum Throne Gottes“532 nachzuzeichnen. Vielmehr liegt gerade dann im geschichtlichen Lebensbild Jesu der Glaube an seine Gottheit begründet, wenn der Betrachter des Bildes sich hinein nehmen lässt in das Bild – das heißt aber nichts anderes als dass er sich zugleich hinaus verwiesen sieht in die Zusammenhänge seines eigenen Lebens. Im Lebensbild Jesu dessen Gottheit zu erkennen bedeutet, „daß ich weiß, wie Christus in uns allen und auch in mir […] mit seinem göttlichen Leben zur Erscheinung kommen und Gestalt gewinnen will“.533 Dabei ist es der Nachvollzug des Gehorsams Jesu und mithin die Erfüllung der „einfachen sittlichen Pflichten“ des je eigenen Lebens,534 in welchen Christus „Gestalt gewinnt“. Somit erkennt der Mensch im Glauben an die Gottheit Christi seine eigene Bestimmung, nämlich die, sich als geistige Persönlichkeit selber zu erschaffen und so „göttlichem Leben“ in sich selber Gestalt zu geben. Darin liegt zugleich, dass es die Christologie ist, von welcher her die Gotteslehre entworfen ist – oder ————— 528 Kaftan, Ein neues Dogma, 57 (im Original z.T. hervorgehoben). 529 Kaftan, Ein neues Dogma, 58. 530 Vgl. dazu oben Kapitel 2.3. 531 In diesem Zusammenhang ist die Kritik Kaftans an der Voranstellung der inkarnationschristologischen Fragestellung im kirchlichen Dogma zu sehen: Vgl. ders., Ein neues Dogma, 53f u.ö. Zu dieser Kritik vgl. oben Kapitel 2.3.4. und 2.3.5. 532 Kaftan, Ein neues Dogma, 58. 533 Kaftan, Ein neues Dogma, 58. 534 Vgl. oben Kapitel 3.3.

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hinsichtlich des Glaubens formuliert: Im Glauben an Christus als Bewusstsein der eigenen Bestimmung zur überweltlich-geistigen Persönlichkeit ergibt sich allererst die Erkenntnis Gottes als überweltlich-geistiger Persönlichkeit.535 In einem Vortrag, welchen Kaftan 1892, im Jahr des Apostolikumsstreits, zur Verpflichtung auf das Bekenntnis in der evangelischen Kirche vor dem Berliner Kandidatenverein gehalten hat,536 betont Kaftan, dass sich jeder zukünftige Geistliche selber gewissentlich fragen muss, ob er den „Glauben der Kirche“537 teilt. Dieser Glaube ist an die geschichtliche Überlieferung gebunden, doch besteht ein kategorialer Unterschied zwischen dem biblischen Offenbarungszeugnis und dem Bekenntnis als Ausdruck dessen, wie die Offenbarung angeeignet wurde.538 Diesen Unterschied und damit „das Verhältnis des evangelischen Glaubens und der überlieferten Theologie zu einander klarzustellen“,539 ist Aufgabe der Theologie. Sie leitet damit die Selbstprüfung des Einzelnen darin, ob der Christusglaube sein eigenes Leben so bestimmt, dass er diesen als wiederum persönliche Wahrheit für Andere durch sein verkündigendes Handeln als Kirchendiener erschließen kann. In diesem Zusammenhang nun betont Kaftan, dass es „Ewigkeitsfragen“540 sind, welche hier gestellt werden und gestellt werden müssen. Der Christusglaube ist das Gewahrwerden des Ewigen in der Zeit; in ihm dringt der Glaubende „durch den Schein zum Wesen der Dinge vor[…]“.541 Darin liegt die weltüberwindende Kraft des Glaubens, welche sich wie gesehen als sittliche Einübung in die Ewigkeit vollzieht. Die evangelisch-kirchliche Dogmatik als systematischer Ausdruck des „neuen Dogmas“ hat diese Ewigkeitsdimension des Glaubens herauszustellen. Sie tut dies, indem sie in allen ihren Teilen die eschatologische Glaubenserkenntnis in ihrer normativen Bedeutung für das persönliche Leben in der Welt aufschlüsselt und damit das zukünftige Hoffnungsziel, das in Christus erschienene Gottesreich, als Referenzrahmen des kirchlichen Handelns und der individuellen Frömmigkeit formuliert.

————— 535 Vgl. Kaftan, Logoslehre, 13: „Jesus Christus ist uns gegeben, damit wir durch ihn zu Gott kommen sollen, zu seiner Erkenntniß und zur Theilnahme an seinem Leben.“ Vgl. weiter ders., Pflicht des Glaubens, 98. 536 Veröffentlicht Leipzig 1893. 537 Kaftan, Bekenntnis, 5. 538 Vgl. Kaftan, Bekenntnis, 8–16 und weiter ders., Dogmatik, 98–103. 539 Kaftan, Bekenntnis, 23. 540 Kaftan, Bekenntnis, 12. 541 Kaftan, Die Religion als Privatsache, 2.

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Fazit: Erlösung und Kirche

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4.4 Fazit: Erlösung und Kirche Fazit: Erlösung und Kirche

Es hat sich gezeigt, dass die Ekklesiologie von Kaftan, obwohl dies aufgrund seiner eschatologisch-individualisierten Bestimmung des Gottesreichsgedankens und weiterhin aufgrund seiner ethischen Bestimmung der Aneignung des Gottesreichs zu erwarten wäre, keinesfalls am Rande der Dogmatik verortet wird. Vielmehr reflektiert Kaftan in seiner auf die Kirchentheorie abhebenden Ekklesiologie auf die konkreten Bedingungen des menschlichen In-der-Welt-Seins, welchen die Aneignung des überweltlichen Gottesreichs und damit die sittlich bestimmte Einübung in die Ewigkeit unterworfen ist. Von daher ist es folgerichtig, die Kirche als zentralen Glaubensgedanken zu fassen.542 Nur von der Ekklesiologie her ist die christliche Religion als in der geschichtlichen Gottesoffenbarung in Christus begründete zu verstehen. Kaftans Ekklesiologie ist dabei strikt von der eschatologischen Wesensbestimmung der Religion her entworfen, insofern die Kirche als Glaubensgegenstand die Vergemeinschaftung der Glaubenden meint, welche sich mit dem Glauben des Einzelnen an den Auferstandenen notwendig ergibt. Die Kirche ist das gegenwärtige Reich Gottes als Einheit der Glaubenden mit Christus und darin untereinander. Die Konsequenz aus diesem Gedanken wird von Kaftan vehement betont: Die Kirche als Glaubensgegenstand ist unsichtbar, weil das Gottesreich unsichtbar ist. Die problematische Begrifflichkeit soll freilich die Kirche nicht als bloßes Ideal definieren, sondern vielmehr hervorheben, dass ihre Wirklichkeit nur dem Glauben erkennbar ist. Kaftan unternimmt es sehr wohl, die Kirche auch in ihrer empirischen Realität auszuweisen – hält aber daran fest, dass sie auch als handelndes Subjekt nur in gewisser Weise empirisch zu beschreiben ist. Wie das Gottesreich ist auch die Kirche als handelndes Subjekt ihrem Wesen nach unsichtbar, das heißt: eine dem Glauben erkennbare geistige Wirklichkeit – nämlich insofern sie das Wachsen der Kirche als Gottesreichgemeinschaft in der Welt befördert. Dem möglichen Einwand, Kaftan rede hiermit einem ekklesiologischen Spiritualismus das Wort, widerspricht seine kirchentheoretische Besinnung auf das Handeln der empirischen Kirche. Das kirchentheoretische Ziel der Ekklesiologie ist es, den inneren Zusammenhang von handelnder Kirche und geglaubter Kirche herauszustellen. Allerdings ist auch hinsichtlich der handelnden Kirche festzuhalten, dass ihr Handeln einer prinzipiellen, weil in der Wesensbestimmung der geglaubten Kirche gründenden Ambivalenz unterworfen ist. Das Handeln der empirischen Kirche entspricht nur dann der geglaubten Kirche, wenn nicht eigentlich sie sel————— 542 Vgl. oben 4.1.1.

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ber, sondern Gott handelt. Es ist zu bedauern, dass Kaftan das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Handeln nicht eingehend bespricht, denn hiermit ist zugleich das grundlegende Problem seiner Theologie, die Relation von Eschatologie und Ethik, aufgerufen. Für die Frage nach dem Entsprechungsverhältnis von empirischer und geglaubter Kirche, welche in Kaftans Ekklesiologie als prinzipielle Frage zu Tage tritt, ist festzuhalten: Jenes Entsprechungsverhältnis zu beurteilen, wirft auf den Glauben selber zurück, weil nur dieser überhaupt das Wesen der Kirche und damit seine Realisierung im empirischen Handeln der Kirche erkennen kann. Es ist weiter die ethische Zuspitzung der präsentischen Eschatologie – freilich in anderer Weise als bei Ritschl543 – von welcher her das Handeln der Kirche und ihre wesensmäßige Bestimmung thematisch wird. Die Kirche hat als Organisation den Auftrag, den Einzelnen zur Einübung in die Ewigkeit zu erziehen – womit sie eben kein Bereich religiöser „Extrasittlichkeit“544 ist, sondern den Einzelnen an die ihm in seinem sozialen Konnex aufgetragenen sittlichen Pflichten verweist. Sie erfüllt diesen Erziehungsauftrag allerdings nicht so, dass sie dem Einzelnen die ihm aufgegebenen sittlichen Entscheidungen abnimmt – beispielsweise durch Vorstellung eines moralischen Regelwerks. Vielmehr macht sie dem Einzelnen seine „ewige[…] Bestimmung“545 vorstellig und erlebbar, indem sie in Verkündigung und Sakrament einen Raum schafft, in welchem Gottes Geistwirken bewusst werden kann. Das Geistwirken in der Kirche ist damit von der Eschatologie her näher bestimmt als die Erlösung des Einzelnen von der Welt, welche ihn befreit zu sittlichem Tun in der Welt. Dass solche Erlösungserfahrung nicht lediglich in der empirischen Kirche als Institution statthat, stellt Kaftan deutlich heraus. Allerdings macht er ebenso deutlich, dass die Erlösungserfahrung als bewusste an den Inhalt der Schrift verwiesen ist, welcher dem Einzelnen das geschichtliche Wirken Jesu und das erlösende Geschehen der Auferweckung bildhaft vorstellig macht. Damit ist die Kirche als Organisation von anderen Organisationen in der pluralistisch verfassten Gesellschaft dadurch unterschieden, dass sie nicht nur strikt auf die göttliche Offenbarung, repräsentiert im Schriftinhalt, zurückbezogen ist, sondern eben darin auch konstitutive Funktion im Blick auf die anderen Organisationen innehat. Referenzrahmen hierfür ist freilich die christlich geprägte Gesellschaft: In ihr übernimmt die empirische Kirche die Rolle, die prinzipielle Endlichkeit weltlicher Gestaltungsmöglichkeiten vorzustellen – aber sie tut dies in affirmativem Sinne, ————— 543 Vgl. oben Kapitel 2.3.2 und 2.3.3. 544 Kaftan, Wesen, 374. 545 Kaftan, Das Gebet, 19.

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Fazit: Erlösung und Kirche

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indem sie nämlich von der Bejahung der überweltlichen Bestimmung des Menschen her die Unbedingtheit weltlichen Seins negiert.546 So ist der Mensch darauf verwiesen, die ihm als Ebenbild Gottes aufgetragene Selbstbildung als Persönlichkeit547 im sozialen Handeln, das heißt Kaftan zufolge: in Familie und Staat, zu realisieren. In solcher Selbsterschaffung äußert sich der christliche Glaube in der Welt, welcher nach seiner inneren Seite die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen und darin die Erfahrung der Erlösung von der Welt ist. Weil der Glaube seinem Wesen als religiöser Erkenntnis entsprechend eine objektive Wirklichkeit als subjektive Wahrheit erfasst, partizipiert auch das Handeln der Kirche an der Polarität von Objektivität und Subjektivität. Sie stellt in ihrer Verkündigung die Wahrheit der übernatürlichen548 Offenbarung als Autorität dar, an welcher sich der Glaubensgehorsam des einzelnen Glaubenden ausrichtet, das heißt: im persönlichen Willensentschluss zur inneren und freien Überzeugung wird. Entscheidend im Blick auf diese Korrelation von Autorität und Freiheit ist, dass die Verkündigung nicht darauf ausgeht, ihre eigenen Sätze als credenda zu etablieren, sondern in ihnen hinweist auf die überweltliche Wirklichkeit, auf welche sich der Glaube bezieht. Weil die Dogmatik die Verkündigung ebenso wie die individuelle Frömmigkeitspraxis reguliert, hat auch sie solche Selbstunterscheidung mitzuführen. Sie stellt keine Lehrsätze auf, welche zu glauben sind, sondern macht die sich aus der Schriftauslegung erhobenen Gehalte des christlichen Glaubens als solche thematisch, wie sie auf den je individuellen Selbstvollzug des glaubenden Subjekts abheben. Darin kann sie gleichsam nur formal vorgehen, weil die Aneignung der Glaubensgehalte durch die Individualität des Glaubenden bestimmt ist. Doch Kaftan betont durchgängig die Regelhaftigkeit der individuellen Aneignung, womit die Dogmatik im Ganzen eine normative Zuspitzung erfährt, wie sie sich in der Forderung nach einem neuen Dogma549 äußert. Die Dogmatik stellt mithin die Regel dafür auf, wie die Erlösungserfahrung als Erfahrung der ewigen Bestimmung sich in sittlicher Selbsterschaffung individualisiert und ist damit als ganze von der in Kapitel 2 entfalteten Integration der Ethik in die eschatologische Erlösungslehre – oder: die Gotteslehre – bestimmt. Dies wurde exemplarisch an der Christologie gezeigt: Im Glauben an die Gottheit Christi erfährt der Einzelne die Gemeinschaft mit dem überweltlichen Gott – wird aber, weil der ————— 546 547 548 549

Vgl. dazu oben Kapitel 2.3.5. Vgl. oben Kapitel 3.3.4 und hier 4.2.5. Vgl. oben 4.2.6. Vgl. oben 4.3.2.

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Glaube sich an dem Bild des geschichtlichen Lebens Jesu aufrichtet, zugleich in die eigenen Lebenszusammenhänge verwiesen, um diesen Christusgestalt zu geben.550

————— 550 Die Frage nach dem Zusammenhang von normativem Glaubensgehalt und subjektiver Aneignung – von Autorität und Freiheit – ist eine der bleibend aktuellen Fragen, der sich die christliche Dogmatik zu stellen hat. Dass dabei der zeitgeschichtliche Kontext jeweils eine besondere Rolle spielt, wird deutlich an der Inflation von theologischen Schriften zum Problem der Autorität immer dann, wenn diese strittig wird. So verweist Gerhard FRIEDRICH in seinem Referat auf der bezeichnenderweise im Jahre 1969 abgehaltenen Jahrestagung des Ökumenischen Gesprächskreises evangelischer und katholischer Theologen darauf hin, dass gerade in den „unruhigen Jahren vor 1933 eine ganze Reihe von Abhandlungen“ zum Autoritätsproblem erschienen sind (ders., Autorität im Neuen Testament, in: W. Anz u.a. [Hg.], Autoriät in der Krise, Göttingen 1970, 9-50; Zitat: 10). Gegenwärtig, d.h. im ersten Jahrzehnt nach der Wende zum 3. Jahrtausend, steht die Frage nach der Autorität in pädagogischen und sozialpolitisch-ökonomischen Betrachtungen und Kontroversen obenan, hervorgerufen durch die Zweifel an der Autoritätskritik der so genannten 68er. Es bleibt abzuwarten, wie die systematische Theologie auf die der pädagogischen Frage analoge Frage reagiert, ob und wie die christlichen Glaubensgehalte im Blick auf die individuell-religiöse Bildung und die kirchlich-kerygmatische Vermittlung noch oder gerade wieder mit Autorität vorzutragen sind.

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5. Schluss Schluss Schluss

Die systematische Theologie hat, auch wenn sie theologiehistorisch vorgeht, ihre Aufgabe in der gegenwartsbezogenen Verantwortung des christlichen Glaubens. Deshalb fragt sich, welche Impulse die hiermit vorgelegte Rekonstruktion der Theologie Kaftans dem konstruktiven theologischen Denken der Gegenwart geben kann. Im zusammenfassenden Rückblick ist zu ersehen, dass solche Impulse vor allem in drei kritischen Anstößen zu sehen sind, welche in der Stellung Kaftans zu zeitgenössischen Strömen der Theologie um die Jahrhundertwende gründen. Erstens zeigte sich, dass Kaftan die (nicht nur) in der Ritschl-Schule gegebene Tendenz der Theologie, den christlichen Glauben vorwiegend auf seine ethisch-weltimmanente Erschließungskraft hin auszulegen, von seinen religionstheoretischen und exegetischen Studien her hinterfragt. Kaftan zufolge ist die christliche Religion die vollendete Bearbeitung der religiösen Frage schlechthin, der Frage nach Leben und Tod. Es ist die Frage nach der Überwindung des Todes und nach ewiger Lebenserfüllung, welche hier im Zentrum des frommen Bewusstseins, der kultischen Vollzüge und der denkerischen Lehrentfaltung steht. Dass somit das Wesen des Christentums von der Eschatologie her zu bestimmen ist, begründet Kaftan in der historisch-kritischen Auslegung der Reichgottesbotschaft Jesu und der neutestamentlichen Glaubenszeugnisse. Das Reich Gottes, wie Jesus es verkündet und wie es in seinem Wirken schon jetzt gegenwärtig wird, ist nicht von dieser Welt, sondern bedeutet den Anbruch der zukünftigen, eschatologischen Heilswirklichkeit. Seine endgültige Verwirklichung wird das Ende der Welt sein, weshalb die gegenwärtige Teilhabe an ihm die Erlösung von der Welt schon jetzt ist. Der urchristliche Glaube an den Auferstandenen, wie ihn vor allem die paulinische Theologie bezeugt, eignet sich diese Botschaft Jesu an und versteht in konsequenter Weise die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen als Erlösung von der Welt. Wie Jesus sich in engster Einheit mit Gott wusste, so bedeutet die Christusgemeinschaft die Teilhabe am ewigen Leben Gottes. Dass von hierher die Existenz des Christen in der Welt vollständig von der Präsenz des Ewigen in der Zeit und der Hoffnung auf die Vollendung alles Zeitlichen zu bestimmen ist, nimmt Kaftans Theologie der späteren Dialektischen Theologie vorweg – und dies als naher Verwandter des später so verachteten Kulturprotestantismus. Der Christ wird im Glauben in eine kritische Distanz zur Welt eingestellt, denn er weiß

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sich als Zugehöriger zu einer ewigen Heimat. Hierin gründet seine christenmenschliche Freiheit von der Welt, welche sich theologisch in der Kritik an jeglicher Vergöttlichung endlich-weltlicher Zusammenhänge äußert. Dass diese Freiheit aber – wie im Übrigen bekanntlich auch im Denken Karl Barths – gerade nicht eine weltflüchtige oder quietistische Gestimmtheit bedeutet, liegt gerade in der Erlösungsgewissheit begründet. Wenn Kaftan deshalb, zweitens, die ethische Dimension des christlichen Glaubens aufschlüsselt, so bringt er die Einsicht zum Ausdruck, dass eine rein weltflüchtige Religiosität nicht nur der radikalen Religionskritik der Neuzeit – oder anders: schlicht den Anforderungen des Lebens in der Welt – nicht standhalten kann, sondern dass sie auch dem Wesen des Christentums nicht entspricht. Jesu Botschaft stellt vor eine ethische Forderung, gerade weil Jesus die Gegenwart der Ewigkeit in der Zeit bedeutet. Denn das ewige Leben – oder anders: das höchste Gut – ist in Jesu Verkündigung wie in der urchristlichen Frömmigkeit in besonderer Weise qualifiziert. Es ist nicht nur das höchste Gut, sondern zugleich der höchste Gute. Der Gott Jesu und der Christen ist nicht als Nichtwelt vorzustellen, in welche der Glaubende im höchsten Genuss aufzugehen sucht. Vielmehr liegt in der Vorstellung Gottes als zwar wahrhaft überweltlichen, aber doch persönlichen Geistes, dass Gott wesentlich auf die Welt als Anderes seiner selbst bezogen ist, weil er sich selber willentlich auf die Welt bezieht. In der Vorstellung Gottes als geistiger Persönlichkeit zeigt sich aufgrund der Identität von Wesen und Willen Gottes zugleich der Inhalt dieses Willens für die Welt. Die Welt wird so zum Ort menschlichen Personwerdens, weil Gott den Menschen zum Ebenbild seiner selbst bestimmt. Diese Bestimmung zur imago Dei verwirklicht der Mensch, wenn er sich selber als geistige Persönlichkeit vollzieht – und solcher Vollzug ist gleichbedeutend mit dem sittlichen Vollzug. Sittliches Handeln heißt demnach, sich selber zur geistigen Persönlichkeit, zum Ebenbild Gottes zu bilden – und zugleich die Lebensbedingungen in der Welt so zu gestalten, dass anderen die Personwerdung gleichermaßen ermöglicht wird, denn die individuelle Bestimmung realisiert sich im Reich Gottes und verweist das Individuum damit auf die Gemeinschaft. Dabei ist entscheidend, dass der Grund allen sittlichen Personwerdens und damit der Sittlichkeit Gott selber ist. Das sittliche Personwerden des Menschen vollzieht sich als die durch Gottes Geist geleitete Einübung in die im Christusglauben erfahrene Ewigkeit Gottes. Es ist die theonome Begründung der Ethik, welche Kaftan an allen Stellen deutlich als Wesen christlicher Ethik markiert. Der Rückbezug aller ethischen Entscheide, auch der materialethischen Detailaussagen, auf den Gottesgedanken ist eine Aufgabe, welche der christlichen Ethik aufgegeben ist, wenn sie christliche Ethik sein will. Diese Aufgabe ist nicht zu verwechseln mit einer biblizistischen Engführung der Ethik, sondern erfordert die theologisch-

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religionsphilosophische Deutung des biblischen Gottesgedankens vor dem Hintergrund situationsbedingter Anfragen. Es ist, drittens, die Ekklesiologie, welche den lebensweltlichen Zusammenhang der christlichen Freiheit von der Welt und der christlichen Freiheit für die Welt ausweist. Denn die empirische Kirche, das heißt: die Kirche als Subjekt kollektiven Handelns, dient der Kirche als Glaubensgegenstand, welche die Gemeinschaft des Gottesreiches in der Gegenwart ist. Die kirchliche Verkündigung in ihren verschiedenen Dimensionen bezeugt die erlösende Gegenwart des Gottesreichs und damit die Freiheit von der Welt. Sie ist so die Erzieherin zur Ewigkeit, welche in ihren Vollzügen den Einzelnen in seiner individuellen Einübung in die Ewigkeit anleitet. Der pädagogische Zuschnitt der Ekklesiologie bedeutet dabei keine totalitäre Bevormundung des Glaubenden, sondern beruht auf der entwicklungspsychologisch und erkenntnistheoretisch nachzuweisenden Korrelation von Objektivität und Subjektivität, von Autorität und Freiheit. Individuelle Überzeugungen formen sich an überlieferten Idealen, und im christlichen Glauben als religiöser Erkenntnis liegen die Gotteserkenntnis als Erkenntnis höchster (absoluter) Wahrheit und die wahrhafte Erkenntnis des eigenen Selbst ineinander. Deshalb setzt die individuelle Aneignung des Glaubens im je eigenen Lebensvollzug voraus, dass seine Gehalte als Inhalte in normativer Weise entfaltet werden. Diese Konfrontation cum verbo externo findet im kirchlichen Dogma ihr Prinzip, so dass die Dogmatik als systematische Entfaltung der Glaubenserkenntnis zu verstehen ist. Damit ist die Dogmatik zum einen ausdrücklich in ihrer Abzweckung auf die kirchliche Praxis bestimmt und zum anderen als Normwissenschaft verstanden. Sie beschränkt sich nicht auf die Darstellung individuellen religiösen Bewusstseins – schon weil nicht ausgemacht ist, wessen Bewusstsein dargestellt werden sollte –, sondern sie zeigt auf, wie die Inhalte des christlichen Glaubens aus sich heraus auf einen bestimmten Selbstvollzug hin abzielen. Dieser Selbstvollzug als ethische Selbstauslegung des Glaubens kann verallgemeinernd beschrieben werden, ist aber existentiell-individuell verschieden. Sein überindividueller Grund wird vermittels der Inhalte des Glaubens zur Sprache gebracht – wesentlich die Botschaft der in Christus begründeten Erlösung von der Welt als Befreiung zur Welt –, welche durch die historisch-kritische Deutung des biblischen Offenbarungszeugnisses vor dem Hintergrund der Kirchen- und Dogmengeschichte und der philosophischen Anfragen zu explizieren sind. Das solchermaßen umrissene theologische Denken Kaftans als klärenden Anstoß zu verstehen bedeutet nicht, seine Schwächen auszublenden. Vielmehr können diese aufzeigen, in welcher Weise sein Entwurf einer eschatologischen Theologie, welche auf die Ethik hin abzielt und über die Ekklesiologie lebensweltlich ausgewiesen wird, weitergedacht werden kann. Hier ist insbesondere zu fragen, ob Kaftan in allen Teilen seiner Theologie die

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Dimension des Geistigen nicht auf Kosten der Dimension des Natürlichen überbetont hat. So gerät die Frage nach der eschatologischen Transformation der Welt in ihrer endlich-natürlichen Gestalt ebenso an den Rand wie die Frage nach der leibseelischen Identität dessen, der an Gottes ewigem Leben Teil hat. Dass diese klassischen Fragen der Eschatologie nur thetisch beantwortet werden – das ewige Gottesreich bedeutet das Ende der Welt in ihrer äußeren Gestalt und ist eine geistige Wirklichkeit; die menschliche Individualität und Personalität bleibt in der Teilhabe am göttlichen Leben bewahrt – ist nicht nur Ausdruck einer allgemeinen Zurückhaltung in der Entfaltung endgeschichtlicher Eschatologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Bei Kaftan hängt sie mit der Überbetonung des Geistigen zusammen, welche sich symptomatisch ebenso in der Zurückstellung der Inkarnationschristologie äußert wie in der Ausrichtung aller Aussagen über die geschaffene Welt am Menschen als eines geistigen Vernunftwesens. Will man die Eschatologie als Zentrum des christlichen Glaubens und damit als Bestimmungsgrund christlicher Ethik entfalten, so könnte es deshalb geraten sein, einmal mehr bei den traditionellen Topoi der Eschatologie anzusetzen, welche bei Kaftan durch das Verständnis der Eschatologie als theologisches Prinzip zurückgedrängt werden. Jene traditionellen Topoi De Novissimis sind schließlich dadurch bestimmt, dass sie von der Frage nach der eschatologischen Zukunft alles dessen, was existiert, her entfaltet werden. Der Glaube als Wahrnehmung alles Zeitlichen im Lichte des Ewigen und auf der theologischen Ebene die präsentische Eschatologie hätten hier eben jenen inhaltlichen Anknüpfungspunkt, welchen Kaftan selber einfordert. Zu zeigen, welche Bedeutung die in der geschichtlichen Christusoffenbarung begründeten Hoffnungsaussagen für den gegenwärtigen Selbstvollzug und für den Weltumgang des Einzelnen im Konnex der menschlichen Gemeinschaft und der nichtmenschlichen Schöpfung haben, wäre dann die Aufgabe einer eschatologischen Theologie.

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Literatur Literatur Literatur

Das Literaturverzeichnis ist mit Ausnahme der Rezensionen um eine vollständige Auflistung aller publizierten Schriften Kaftans bemüht (zu einer ausführlichen Auflistung der Rezensionstätigkeit Kaftans vgl. W. GÖBELL, Briefwechsel II, 969–973). Die Zitate aus Kaftans Werken wurden in der ursprünglichen Schreibweise belassen. Darüber hinaus wird nur Literatur aufgeführt, die in der Arbeit genannt wird. Bei der Erstnennung findet sich in der Anmerkung jeweils der gesamte Titel; bei weiteren Nennungen wird zumeist nur auf Autor, Kurztitel (hier ggf. kursiv) bzw. Abkürzung und Seitenzahl verwiesen. Abkürzungen richten sich nach S.M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG2), Berlin/New York 21992.

Schriften Julius Kaftans in chronologischer Reihenfolge Sollen und Sein in ihrem Verhältnis zu einander. Eine Studie zur Kritik Herbarts, Leipzig 1872. Veterum ecclesiae nostrae doctorum de revelatione divina tanquam principio theologiae doctrina exponitur et dijudicantur, Theol. Diss. vom 7. Aug. 1873, Leipzig (Lipsiae) 1873. Die religionsphilosophische Anschauung Kants in ihrer Bedeutung für die Apologetik, Antrittsrede gehalten beim Antritt des akademischen Lehramts in Basel den 6. Nov. 1873, Basel 1874. Christi Kreuz und Auferstehung, Basel 1874. Claus Harms, Vortrag, Basel 1875. Die Begegnung der Maria Magdalena mit dem auferstandenen Herrn, Osterpredigt, Basel 1875. Die christliche Lehre vom Gebet, Vortrag, Basel 1876. Die christliche Sorglosigkeit, Basel 1876. Grundtvig, der Prophet des Nordens, Zwei Vorträge, Basel 1876 (in dänischer Übers.: Grundtvig, Nordens Profet, To Foredrag 1877). Die Predigt des Evangeliums im modernen Geistesleben, Basel 1879. Das Evangelium des Apostels Paulus in Predigten der Gemeinde dargelegt, Basel 1879. Die Verheißung des Herrn an seine Kirche auf Erden, Pfingstpredigt über Mt 16,17f, Basel 1879. Das Wesen der christlichen Religion, Basel 1881, 21888. Das Leben in Christo, Acht Predigten, Basel 1883. Die Wahrheit der christlichen Religion, Basel 1888 (in engl. Übers.: The Truth of the Christian Religion, translated by G. FERRIES, 1894). Der christliche Glaube und das sittliche Leben. In Veranlassung von Wundts Ethik, ChW 3, 1889, 98–102, 110–114, 122–124. Glaube und Dogma. Betrachtungen über Dreyers undogmatisches Christentum, Separatabdruck aus ChW 3, 1889, 7ff, 19ff, 43ff, 68ff, 88ff, 150ff, Bielefeld/Leipzig 1–31889.

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Literatur

Brauchen wir ein neues Dogma? Neue Betrachtungen über Glaube und Dogma, Separatabdruck aus ChW 3, 1889, 779ff, 803ff, 819ff, 835ff, 859ff, 899ff, 926ff, 947ff, Bielefeld/Leipzig 1890, 21893. Die jüngste Sitzung der Berliner Stadtsynode, ChW 4, 1890, 656–659. Dogmatik, GThW Teil 5, Bd. 1, Tübingen 1/21897, 3/41901, 5/61909, 7/81920. Gibt es eine Pflicht des Glaubens?, Deutsche Revue 16, 1891, Bd. 3, 338–351 u. Bd. 4, 95–109. Kirche, Recht und Theologie in vier Jahrzehnten. Der Briefwechsel der Brüder Theodor und Julius Kaftan, hg. u. kommentiert v. Walter Göbell, 2 Bd., Bd. 1: 1891–1910, Bd. 2: 1910–1926, München 1967. Theologie und Kirche, ZThK 1, 1891, 1–27. Glaube und Dogmatik, ZThK 1, 1891, 479–549. Zum Beweis für die Wahrheit des Christentums, ThStKr 64, 1891, 425–478. Die Erlösung durch Christum und die Selbsterlösung der Menschheit (Röm 7,24–25a), in: Gottesdienstliche Vorträge in der Schloßkirche zu Karlsruhe, Freiburg i.B. 1892, 111–124. Ehe und Familie. Zu Naumanns Vortrag auf dem jüngsten Evangelisch-sozialen Kongreß, ChW 6, 1892, 590–599. Christenthum und Wirthschaftsordnung, Referat erstattet auf dem vierten Evangelisch-sozialen Kongreß in Berlin am 1. Juni 1893, ZThK 3, 1893, 248–276. Der evangelische Glaube und die kirchliche Überlieferung, ZThK 3, 1893, 427–492. Die Verpflichtung auf das Bekenntnis in der evangelischen Kirche, Vortrag gehalten am 6. Dez. 1892 im Berliner Kandidatenverein, Leipzig 1893, 31898 (HCW 6). Suchet was droben ist!, Predigten gehalten in der Zwölfapostelkirche zu Berlin, Freiburg/ Leipzig 1893. Was ist schriftgemäß?, ZThK 3, 1893, 93–125. Das Christentum und die Philosophie, Vortrag, Leipzig 1895, 2/31896. Erster Advent, ChW 9, 1895, 1137–1138. Zweiter Advent, ChW 9, 1895, 1161–1162. Dritter Advent, ChW 9, 1895, 1185–1186. Weihnachten, ChW 9, 1895, 1209–1211. Balfours Einleitung in die Theologie, PrJ 82, 1895, 402–432. Die Religion als Privatsache, Die Hilfe 1, 1895, 2f. Religion und Wissenschaft, Die Hilfe 1, 1895, 2–4. Religion und „Gesellschaft“, Die Hilfe 2, 1896, 2–4. Die Selbständigkeit des Christenthums, ZThK 6, 1896, 373–394. Eine neue Moral, ChW 10, 1896, 103–110. Diesseits von Gut und Böse, ChW 10, 1896, 320–326. Erfindung oder Entdeckung. Eine Plauderei über die Röntgenstrahlen, ChW 10, 1896, 512–516. Noch einmal: Erfindung oder Entdeckung, ChW 10, 1896, 644–645. Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, Vortrag gehalten im Berliner Zweigverein des Ev. Bundes, Berlin 1/21897, 31902. Das Verhältniß des evangelischen Glaubens zur Logoslehre, ZThK 7, 1897, 1–27 (auch als Sonderdruck erschienen: Freiburg i.B. 1896 [Vortrag gehalten in Eisenach am 5. Okt. 1896]). Zum neuen Anfang, ChW 12, 1898, 1–3. Erwiederung [auf E. TROELTSCH, Geschichte und Metaphysik, ZThK 8, 1898, 1–69], ZThK 8, 1898, 70–96. Ist Religion Privatsache?, Deutsches Wochenblatt 42, 1898, 496–498 u. 43, 1898, 508–510. Heilige Schrift und kirchliches Bekenntnis in ihrem Verhältnis zueinander, Vortrag gehalten auf der sächs. kirchl. Konferenz zu Chemnitz am 12. Okt. 1898, Leipzig 1899 (Sonderabdruck aus Neues sächsisches Kirchenblatt 42–44, 1898). Das Verhältnis der lutherischen Kirche zur sozialen Frage, Vortrag gehalten auf dem 10. ev.sozialen Kongress in Kiel am 25. Mai 1899, Göttingen 1899 (Sonderabdruck aus Verhandlungen des 10. ev.-soz. Kongresses). Über den Glauben. Eine Diskussion, PrJ 95, 1899, 1–26.

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Literatur

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Nord-Schleswig, PrJ 95, 1999, 170–178. Christenthum und Nationalität, Ein Vortrag, PrJ 96, 1899, 57–77. Die Rechtfertigung durch den Glauben als Grundartikel der protestantischen Kultur, Leipzig 1901. Ganz innere Mission, Offener Brief an Dr. Schäfer, MIM 1901, 154–158. Kants Lehre vom kategorischen Imperativ, Rede gehalten zur Feier des zweihundertjährigen Jubiläums des Königreichs Preussen in Verbindung mit der Feier des Geburtstags Sr. Maj. des Kaisers und Königs in der Aula der Friedrich-Wilhelms-Universität am 18. Jan. 1901, Berlin 1901. Gehört Jesus selbst in das von ihm verkündigte Evangelium hinein?, ChW 16, 1902, 295–298. Das Evangelium vom Gottesreich, ChW 16, 1902, 314–317. Der Ursprung des Evangeliums, ChW 16, 1902, 339–342. Die Vergebung der Sünden, ChW 16, 1902, 363–366. Das Evangelium des Johannes, ChW 16, 1902, 387–389. Wer Jesus war, ChW 16, 1902, 411–415. Von der öffentlichen Meinung, ChW 16, 1902, 1219–1222. Das Wesen des Christentums, Deutschland. Monatsschrift für die gesamte Kultur 1902, 313–335. Das Christentum und die indischen Erlösungsreligionen, Vortrag gehalten auf d. kirchl. Konferenz d. Kurmark am 11. Mai 1903, Potsdam 1903. Predigt gehalten am 6. Oktober 1903 in Hamburg St. Johannis – Harvestehude. Röm 4,16–18, in: Sieben Predigten bei der 56. Hauptversammlung des Ev. Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung in Hamburg am 6. und 7. Oktober 1903, Leipzig 1903, 23–32. Zur Dogmatik, Sieben Abhandlungen aus der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“, Tübingen 1904 (ZThK 13, 1903, 95–114, 114–149, 214–266, 457–518, 519–559; ZThK 14, 1904, 148–192, 273–356). Was die Rechtgläubigkeit in der evangelischen Kirche bedeutet, Vortrag gehalten auf d. theol.kirchl. Konferenz d. Provinz Brandenburg am 20. Nov. 1903, Potsdam 1904. Die Verdienste Kants um die evangelische Theologie, Die Wartburg 3, 1904, 52–54. Warum ist die national-soziale Partei gescheitert?, ChW 18, 1904, 64–65. Christentum und Politik, ChW 18, 1904, 78–80. National!, ChW 18, 1904, 108–111. Sozial!, ChW 18, 1904, 130–133. Die Aufgabe, ChW 18, 1904, 154–156. Die Askese im Leben des evangelischen Christen, Vortrag gehalten auf d. Kurmärkischen kirchl. Konferenz zu Potsdam am 26. April 1904, Potsdam 1904. Kant, der Philosoph des Protestantismus, Rede gehalten bei d. vom Berliner Zweigverein des ev. Bundes veranstalteten Gedächtnisfeier am 12. Feb. 1904, Berlin 1904. Jesus und Paulus. Eine freundschaftliche Streitschrift gegen die religionsgeschichtlichen Volksbücher von D. Bousset und D. Wrede, Tübingen 1906. Aus der Werkstatt des Übermenschen, Heilbronn 1906 (Separatabdruck aus: Deutsche Rundschau 1905, 90–110 u. 237–260). Die empirische Methode in der Ethik, in: Philotesia. Paul Kleinert zum LXX. Geburtstag, Berlin 1907, 255–268. Rede zu Friedrich Paulsens Gedächtnis, gehalten am 18. Aug. 1908 zu Berlin, Steglitz 1908. Drei Akademische Reden, Tübingen 1908 (Die Lehre Kants vom kategorischen Imperativ [auch als Sonderdruck erschienen: Berlin 1901], Der ethische Wert der Wissenschaft [auch als Sonderdruck erschienen: Berlin 1906], Die Einheit des Erkennens [auch als Sonderdruck erschienen: Berlin 1907]). Warum kennt die evangelische Kirche keine Lehre von der Erlösung im engeren Sinn? Und wie läßt sich diesem Mangel abhelfen?, ZThK 18, 1908, 237–298. Rede bei der gottesdienstlichen Eröffnungsfeier des 100jährigen Jubiläums der Berliner Universität, Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Berlin 1910, 1372–1380. Landeskirche und Lehrfreiheit, DE 1, 1910, 10–20.

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Literatur

Kirche und Wissenschaft, in: Weltanschauung, Philosophie und Religion. In Darstellungen von Wilhelm Dilthey u.a., Berlin 1911, 457–472. Zur Dogmatik und Glaubenspsychologie, ZThK 21, 1911, 380–393. Vorm Jahr noch – und heute?, Vortrag, Unterm eisernen Kreuz. Kriegsschriften des KaiserWilhelm-Dank 21, Berlin o.J. [1915]. Buße oder Selbstbejahung?, Predigt im akademischen Gottesdienst in der Kaiser-FriedrichGedächtniskirche in Berlin am 1. Adventssonntag 1916, Berlin 1916. Wollen wir wirklich aus Deutschen Mitteleuropäer werden?, Vortrag, Berlin 1916. Die Kirche als Objekt des Glaubens und als Subjekt des kirchlichen Handelns, in: Studien zur Reformationsgeschichte und zur praktischen Theologie. Gustav Kawerau an seinem 70. Geburtstag dargebracht (2 Bd.), Bd. 2: Studien zur praktischen Theologie, Leipzig 1917, 79–91. Philosophie des Protestantismus. Eine Apologetik des evangelischen Glaubens, Tübingen 1917. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!, Predigt, Berlin 1917. Religion und Nation, Missionspredigt über Röm 15,4–13, gehalten am 2. Advent in d. Kirche Berlin-Friedenau, Helferblatt der Gossnerschen Mission 4, 1917, 22–28. Glaubensgewißheit und Denknotwendigkeit, in: F. Traub (Hg.), Studien zur systematischen Theologie. Festgabe für Theodor v. Haering, Tübingen 1918, 36–48. Die Zeichen der Zeit, Predigt über Lk 12,54–56, Berlin 1918. Gott verloren – alles verloren!, Predigt über Mk 8,36, Berlin 1919. Die neue Aufgabe, die der evangelischen Kirche aus der von der Revolution proklamierten Religionslosigkeit des Staates erwächst, in: Verhandlungen des 2. Dt. Ev. Kirchentages 1921, Stuttgart 11.–15. Sept. 1921, 121–138. Zur Frage nach der Aufgabe der neutestamentlichen Theologie, in: Festgabe von Fachgenossen u. Freunden A. v. Harnack zum siebzigsten Geburtstag dargebracht, Tübingen 1921, 134–142. Reden vor der Kirchenversammlung zur Feststellung der Verfassung für die evang. Landeskirche der älteren Provinzen Preußens (als geistl. Vizepräsident des Evang. Oberkirchenrats), in: Bericht über die Verhandlungen d. außerordentl. Kirchenversammlung zur Feststellung d. Verfassung für die ev. Landeskirche d. älteren Provinzen Preußens vom 24. bis 30. Sept. 1921 u. vom 29. Aug. bis 29. Sept. 1922, hg. vom Redaktionsausschuß d. Verfassunggebenden Kirchenversammlung, Erster Teil 1921/22: Sitzungsverhandlungen, 288–295, 585f, 1118–1125, 1182f. Was wir von Kant lernen sollen, Festrede bei der Kantfeier der Schleiermacher-Hochschule am 22. April 1924, Schriften der Schleiermacher-Hochschule 2, Berlin 1924. Neutestamentliche Theologie im Abriß dargestellt, Berlin 1927. Christliche Ethik. Leitsätze von Julius Kaftan, hg. v. C. Fabricius, ZThK NF 8, 1927, 413–429. Julius Kaftan, in: Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 4, hg. v. Erich Stange, Leipzig 1928, 1–32 (201–232) [Selbstdarstellung]. Das Gewissen, ThStKr 101, 1929, 1–54, 151–171. Das Problem der sittlichen Freiheit, ThStKr 104, 1932, 1–53. Ethik und Statistik (§12 aus J. Kaftans Ethikvorlesung), ThStKr 105, 1933, 226–240.

Weitere Literatur ABRAHAM, MARTIN/BÜSCHGES, GÜNTER, Einführung in die Organisationssoziologie, Studienskripten zur Soziologie, Wiesbaden 32004. ÅKERBERG, HANS, Unendlichkeitsmystik und Persönlichkeitsmystik. Zur Beleuchtung von Prämissen und Möglichkeiten in der Mystikdistinktion Nathan Söderbloms, ARPs 18, 1988, 77–113. ANSELM, REINER, Ekklesiologie als kontextuelle Dogmatik. Das lutherische Kirchenverständnis im Zeitalter des Konfessionalismus und seine Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert, FSÖTh 94, Göttingen 2000. –, Lutherische Leitkultur. Kirche und Gesellschaft in der Sicht des konservativen Kulturluthertums im Kaiserreich, in: A. Grözinger/G. Pfleiderer/G. Vischer (Hg.), Protestantische Kirche

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Literatur

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und moderne Gesellschaft. Zur Interdependenz von Ekklesiologie und Gesellschaftstheorie in der Neuzeit, Christentum und Kultur, Basler Studien zu Theologie und Kulturwissenschaft des Christentums 2, Zürich 2003, 169–189. –/ FELDMEIER, REINHARD, Gottes Macht und die Möglichkeiten des Menschen. Zur Unterscheidung von Religion und Ethik, KuD 50, 2004, 126–150. AUGUSTIN, De beata vita, PL 32, hg. v. J.-P. Migne, Paris 1841. –, De doctrina christiana, PL 34, hg. v. J.-P. Migne, Paris 1841. –, Bekenntnisse, Lateinisch und Deutsch, eingel., übers. u. erl. v. J. Bernhart, München 1955. –, De Trinitate, PL 42, hg. v. J.-P. Migne, Paris 1854. AXT-PISCALAR, CHRISTINE, Der Grund des Glaubens. Eine theologiegeschichtliche Untersuchung zum Verhältnis von Glaube und Trinität in der Theologie Isaak August Dorners, BHTh 79, Tübingen 1990. –, Art. Sünde VII. Reformation und Neuzeit, TRE 32, 2001, 400–436. –, Einleitung zu Ritschls „Unterricht in der Christlichen Religion“, in: Albrecht Ritschl, Unterricht in der christlichen Religion, Studienausgabe nach der 1. Auflage von 1875 nebst den Abweichungen der 2. und 3. Auflage, hg. v. C. Axt-Piscalar, Tübingen 2002, IX–XL. –, Das gemeinschaftliche höchste Gut. Der Gedanke des Reiches Gottes bei Immanuel Kant und Albrecht Ritschl, in: W. Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionskritik und die Theologie, Göttingen 2004, 231–255. –, Kontinuität oder Abbruch? Karl Barths Prolegomena zur Dogmatik im Lichte der Theologie des 19. Jahrhunderts. Eine Skizze, ThZ 62, 2006, 433–451. –, Wieviel Religion braucht die Vernunft? Überlegungen zur Bedeutung der Religion im Denken Kants, ZThK 103, 2006, 515–532. –, Der Sohn des Vaters. Adolf von Harnacks Christologie, ThZ 63, 2007, 120–147. BALTHASAR, HANS URS VON, Eschatologie, in: J. Feiner/J. Trütsch/F. Böckle (Hg.), Fragen der Theologie heute, Einsiedeln 1957, 403–421. BARTH, KARL, Der Römerbrief, Bern 1919, München 21922 (Neudruck: Zürich 1971). –, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, ChW 36, 1922, 858–873, neu abgedruckt in: ders., Das Wort Gottes und die Theologie, München 1925, 156–178. –, Die kirchliche Dogmatik I,1: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, Zürich 1932. –, Die kirchliche Dogmatik I,2: Die Lehre vom Wort Gottes. Prolegomena zur Kirchlichen Dogmatik, Zürich 1938. –, Die kirchliche Dogmatik III,2: Die Lehre von der Schöpfung, Zweiter Teil, Zürich 1948. –, Die kirchliche Dogmatik IV/1: Die Lehre von der Veröhnung, Erster Teil, Zürich 1953. –, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 21952. –, Fides quaerens intellectum. Anselms Beweis der Existenz Gottes im Zusammenhang seines theologischen Programms, Zollikon 21958. BARTH, ULRICH, Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York 1992. –, Kants Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie, in: U. Schnelle (Hg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 267–302. –, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ‚Glaubenslehre‘. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie, in: ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 329–351. BAUR, FERDINAND CHRISTIAN, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre. Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristentums, Stuttgart 1845, Leipzig 21866/67 (im Neudruck Osnabrück 1968). –, Vorlesungen über Neutestamentliche Theologie, hg. v. F.F. Baur, Leipzig 1864 (Neudruck Darmstadt 1973).

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Literatur

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Namen- und Sachregister

Abendmahl 83, 128, 221, 262–266 Absolute, das 67–70, 139–141, 212–220, 286–300, 304, 311f, 314, 316 Absolutheit (der Religion) 22, 35–38, 50f, 81, 143, 174, 303–318 Allmacht / allmächtig 67, 76, 116, 178 Alte Kirche / altkirchlich 106, 108, 200, 203, 215, 245, 289, 301–304, 331f, 339 Altes Testament / alttestamentlich 19, 55, 80–83, 86, 92, 94, 97, 102, 146, 173, 192–194, 220f Altprotestantismus / altprotestantisch 19, 200, 215f, 254, 260, 263, 290, 302, 305 Anlage – religiöse 48, 50f – sittliche 161, 168, 224 Anthropologie / anthropologisch 24, 29, 33– 47, 60, 65f, 122, 127, 154f, 158, 165, 176, 181, 190, 213, 239, 256, 284, 288, 312f Apokalyptik / apokalyptisch 29, 31f, 81-85, 92–94, 113, 117 Apologetik / apologetisch 19, 21, 25, 36–38, 142, 284–294, 299f, 300–311 Apostolikum / Apostolikumsstreit 21f, 24, 130, 242f, 249, 341–344, 348 Askese / asketisch 22, 51, 147, 184f, 197f, 225 Auferstehung / Auferweckung 13, 78, 79f, 87, 94, 97f, 99–118, 127f, 194f, 197– 200, 206, 218, 221f, 224f, 236, 241, 249f, 258–262, 269, 291, 315, 340, 346f, 349–351, 353 Aufklärung 33f, 38, 235, 270f, 290, 304, 331, 335f Augustin 48, 55, 61, 216, 283 Autonomie / autonom 160, 168, 234f, 319 Autorität 11, 108, 169, 187f, 189, 199, 210f, 233, 245, 268f, 271, 280, 317–324, 331– 345, 351f, 355 Balthasar, Hans Urs von 9 Barth, Karl 19, 200, 215f, 254, 260, 263, 290, 302, 305 Baur, Ferdinand Christian 92, 96, 103, 196, 336

Bekenntnis 17, 34, 92, 94, 329, 338–348 Biedermann, Alois Emanuel 24, 35, 55, 113, 216, 277, 290 Böse, das / böse 89, 134, 159, 162f, 167, 179, 183, 188, 191f Bousset, Wilhelm 19, 90–92, 100, 301 Brahmanismus 52–55, 69–71, 119, 142f, 147, 185, 314 Buddhismus 52, 62, 119, 142, 147f, 164, 310f, 314, 185 Bultmann, Rudolf 12, 19, 80f, 109, 127, 194 Christologie / christologisch 78, 89–106, 112–118, 127f, 140, 244f, 259, 284, 345–348, 351f, 356 Christus(titel) s. Messias(titel) Cremer, Hermann 200f Dialektische Theologie 9–12, 24, 27, 86, 127, 246, 315, 353 Dogma 22, 272, 279, 295, 303, 328–352, 355 Dreyer, Otto 22, 328–330, 332, 337, 345 Ehe 198, 225f, 228, 231 Einübung / sich einüben 223–228, 237, 291, 323, 327, 348, 349f, 354f Ende (der Welt) 85f, 88f, 97, 103–105, 107f, 120–122, 207, 241, 264, 353, 356 Endlichkeit / endlich 10, 13, 44f, 47, 67, 120–124, 128, 140f, 178, 190f, 212f, 218–220, 235, 244f, 281f, 290, 292, 297f, 300, 316, 350f, 354, 356 Endzeit / endzeitlich 12, 31f, 83, 86–88, 93f, 97f, 110, 192, 199, 227 Entwicklung 10, 27, 42, 46, 49, 51–53, 56, 58, 60–63, 71, 82, 86, 107, 134, 137, 141, 143f, 149f, 153–171, 173–176, 180, 182, 188, 198, 219, 226, 228, 231, 237, 239, 274, 280, 287, 295, 298, 309–311, 323f, 335, 341, 346, 355 Erfahrung 12f, 15–18, 28f, 36, 42–47, 56– 58, 60, 69f, 72, 96f, 99, 103–105, 110, 116f, 120, 122f, 126–128, 158–160, 167, 171f, 174f, 177f, 181–186, 189, 193f, 196, 198–203, 210, 214, 218–225, 230f, 236f, 239, 249f, 264, 267f, 276–278,

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525563519 — ISBN E-Book: 9783647563510

Namen- und Sachregister 281, 283, 287–293, 295–300, 311, 315, 320, 325, 327, 350f Erfüllung (des Lebensverlangens) 42–49, 58f, 61, 64, 67, 73f, 98, 122, 123, 128, 146, 150, 154, 176f, 182, 213, 222, 232– 236, 277, 281, 353 Erhabene, das / erhaben 65f, 68, 185, 187, 218, 310 Erlösung 13, 27–29, 72f, 84, 89, 97, 99, 102–122, 141f, 144, 153, 171f, 176, 178, 187, 192, 195–201, 205f, 218f, 221–225, 227, 232, 236f, 239–243, 291f, 298, 315, 323, 331, 345–347, 350f, 353-355 – Erlösungsreligion 22, 50–52, 54, 61, 69, 71, 74, 96, 103, 108f, 141–153, 171, 176, 184, 187, 198, 202f Erziehung 42, 153, 156, 162, 166–171, 179, 187, 192f, 225f, 232, 252, 299, 319, 321–323, 327f, 338, 340–342, 350 Evangelien, synoptische 77, 79f, 92, 95, 97, 101, 113, 115, 172, 193, 259, 347 Evangelium / Frohe Botschaft 11, 87, 90–92, 99, 101f, 108, 111, 121, 137, 192, 200, 203, 207f, 243, 253–255, 265f, 323, 325, 330f Ewigkeit / das Ewige / ewig 11f, 45, 54, 72, 87, 89, 97–99, 103–105, 111, 117f, 120– 122, 124–128, 139, 174–176, 189, 193f, 197, 199, 207f, 214, 218f, 222–232, 236–238, 241, 249, 252, 287, 291, 303, 307, 321–328, 331, 334, 347–351, 353– 356 Feuerbach, Ludwig 60, 123f, 300 Fichte, Johann Gottlieb 13, 35, 68, 213 Frank, F.H. Reinhold von 113, 216, 267, 312, 335f Freiheit 10, 13, 20, 39f, 70, 137–142, 158, 160–162, 177–180, 189, 191f, 196, 207, 215, 230, 275f, 287, 292, 296–299, 318– 322, 334, 339, 343, 345, 351f, 354f Gebet 22, 46, 49, 53, 66, 125–128 Gebot 63, 85, 133f, 147, 156–164, 169f, 173–175, 183, 189, 191, 197f, 204f, 210, 245, 267, 295, 318f, 347 Gefühl 25, 43f, 56–58, 66, 88, 116f, 120, 123, 150, 156–161, 165, 170, 172, 189, 210f, 236, 274–277, 282, 288, 341 – religiöses 47–54, 59, 61, 65, 71, 120, 122– 125, 185 Gegenwart / gegenwärtig / präsentisch 11, 31–33, 69, 71, 76, 78, 82–89, 91–111, 116, 118, 122, 126f, 171–177, 181, 193f, 199, 201, 204, 207, 220f, 223, 227, 236,

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241f, 246, 249f, 257–259, 263–265, 315, 318, 327, 346, 349f, 353–356 Gehorsam 11, 154f, 169f, 209, 317–322, 330f, 334, 347, 351 Gemeinschaft – menschliche 74, 84f, 121f, 135f, 141, 153– 157, 161–165, 169f, 174–176, 183, 190, 223, 226, 231, 237, 239, 246, 253–255, 296, 317, 321, 356 – mit Christus 59, 96–99, 102, 111f, 115, 201, 221, 241, 249, 258f, 314, 351, 353 – mit Gott 49, 72, 96–98, 105, 116f, 121f, 141, 199, 201, 207, 216–226, 232–237, 240, 243, 249, 259, 292, 315, 317, 323– 328, 347, 349, 351 – religiöse / kirchliche 46, 169f, 239, 241f, 246–252, 258, 264f, 318, 322, 324f, 333, 338f, 341, 349, 354f Gerechtigkeit / gerecht 84f, 88, 134, 164, 169, 172f, 181, 183, 188–190, 194–202, 207, 224, 232f, 295 Gericht 13, 86, 187, 192f, 194, 199, 344 Geschichtsphilosophie / geschichtsphilosophisch 114–117, 288, 294, 303–306 Gesellschaft / gesellschaftlich 9, 14f, 64f, 75, 121, 135, 150, 203, 207–209, 230– 232, 242–246, 254–256, 270, 316f, 324, 326–328, 350 Gesetz 56, 73, 84, 92, 103, 109, 125, 133, 138, 146f, 150f, 154, 156, 160–163, 167f, 172, 176, 178, 182–191, 196f, 209, 210f, 233f, 245, 287, 290, 296, 318f, 334, 343f – Gesetzlichkeit / gesetzlich 146–152, 160, 169, 177, 187f, 201, 204–207, 210, 224, 232, 235, 245f Gewissen 20, 48, 142, 157, 162f, 166–169, 176, 189, 204, 323, 327, 341, 347 Glück 42, 56, 73, 124, 141, 157–160, 170, 182f, 192, 196, 234–237 Gnade 108, 200, 205, 207f, 263–265 Götter 37, 40f, 46, 50, 53, 72, 183, 186–188, 211, 312 Gott – Eigenschaften Gottes 63, 185, 216f, 341 – Gottebenbildlichkeit / imago Dei 66, 238, 292, 296–299, 351, 354 – Gottesbegriff 25f, 37, 60–71, 135, 139, 181, 189, 210, 212–224, 265, 277, 290, 296f, 313, 345 – Gotteskindschaft 117, 201 – Strafe Gottes 146, 148, 156, 169f, 181, 185–194, 204, 210, 233, 323, 344

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Namen- und Sachregister

– Wesen Gottes 191, 210–220, 228, 297 – Wort Gottes 260–266, 326, 335, 340 – Zorn Gottes 46, 181, 185 Gottheit Christi 96, 112–117, 281, 345–348, 351f Gut – höchstes (summum bonum) 13, 29, 33, 48, 50, 60–65, 68f, 72–74, 76–79, 88, 97– 102, 106, 108f, 112–114, 119f, 123f, 126, 142–148, 151f, 165f, 171f, 174– 178, 180f, 184, 186, 190–194, 197f, 202–207, 211, 222f, 228, 233–237, 244f, 258, 262, 264, 266, 272f, 278, 286f, 292f, 298–300, 303, 307, 313-315, 324, 327, 341 – natürliches 48–50, 53, 60, 72, 121, 124, 126, 128, 144, 151, 153f, 177, 181, 184, 211, 227, 236, 323 – sittliches 50, 87, 144, 152–158, 161, 170, 187, 211, 233f, 295 Harnack, Adolf von 17, 20, 24, 90–92, 96f, 101, 117f, 184, 202, 243–245, 268, 302, 331, 339, 342, 345 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 27, 36, 68, 113, 290, 310f Heil 28f, 47, 76, 83f, 86f, 89, 92f, 97, 103– 106, 108, 110, 112–114, 117, 122, 152, 174f, 177, 192–195, 198–202, 204f, 210, 223, 236, 239–242, 248–250, 253, 259, 262–264, 266, 269, 272, 318, 323, 333f, 340, 353 Herbart, Johann Friedrich 16, 142, 158 Herrmann, Wilhelm 10, 26, 37, 55–59, 104, 165, 275, 288 Heteronomie / heteronom 168f, 184, 187, 210, 225, 319f, 323, 341 Hoffnung 10, 13, 31f, 72, 76, 81f, 89, 92, 94, 97, 100, 102, 104, 106–108, 111, 119, 121, 134, 144, 156, 171, 193f, 210, 218, 236, 239f, 250, 276, 323, 331, 348, 353, 356 Hume, David 35, 68 Ideal, sittliches 24, 76, 149f, 151f, 153, 156– 179, 191f, 202, 204f, 211, 222f, 228, 233–237, 239, 253, 256, 292, 294, 296, 306–311, 319f, 323, 327, 355 Idealismus / idealistisch 113, 214, 235, 275f, 289f, 310f Individualität / Individuum / individuell 12f, 20, 22, 27–29, 35, 40, 42, 44, 47, 65, 69f, 104, 120–122, 126, 128, 135f, 141, 144– 146, 148, 152–158, 161–165, 167f, 176, 187, 189, 194, 203, 207, 223, 225, 230–

232, 234f, 237, 239, 249, 254, 257, 266f, 278f, 281, 292, 296f, 307f, 316f, 318, 323, 325, 333f, 339–341, 348f, 351f, 354–356 Inkarnation / Menschwerdung 78, 98, 102, 105f, 117, 244f, 302f, 346f, 356 Innerlichkeit / innerlich 27–29, 39, 47, 51, 77f, 90, 95, 97f, 99f, 104, 116–118, 120, 134, 143, 149, 152, 157, 166, 170f, 178f, 187, 190, 210f, 223, 225, 230, 237, 241, 261, 275f, 279, 281f, 283, 292f, 296, 303, 315–317, 318, 320–323, 325, 327, 333, 336, 339–341, 344f, 351 Inspiration / Inspirationslehre 17, 34, 77, 260f Institution / institutionell 132, 203f, 208, 246, 257, 262, 317f, 325f, 350 Islam 147, 310 Jenseits 11, 13, 145 Johannes(evangelium) 79, 87f, 95–97, 103 Judentum / jüdisch 31, 50, 80–82, 86, 90–94, 97, 144, 146, 172, 192 Kähler, Martin 166, 200f Kaftan, Theodor 15f, 58 Kant, Immanuel 13, 15–19, 21, 24–26, 35, 55f, 58, 61, 73f, 84, 118f, 135, 142, 146f, 156f, 160–163, 168, 177, 192, 195f, 209, 214, 223, 230, 234–237, 255, 267, 269, 273, 275, 278, 282, 284, 289, 295f, 298– 300, 318f Kategorischer Imperativ 162f, 168 Katholizismus, römischer 17, 49, 75, 105f, 119, 149f, 190f, 202–209, 242–254, 261, 263, 291, 302, 305, 318, 321f, 325f, 330, 333–336, 343, 352 Kirche – sichtbare 242, 247, 250–253, 262f, 264f – unsichtbare 242, 246f, 250–253, 262f, 264f, 349 Kreuz 99, 101, 180, 198, 347 Kult(us) / kultisch 46–53, 61, 63, 66–70, 125, 128, 143, 146, 148, 151, 172f, 181– 183, 186, 188, 203, 205f, 254, 266f, 295, 337, 353 Kultur / kulturell 9, 11, 39, 75, 111, 121, 130, 132f, 135, 143–145, 198, 203, 206– 209, 226–230, 243f, 246, 254, 256, 270, 288, 330f, 339 Kulturprotestantismus 9–11, 24, 246 Lebensphilosophie / lebensphilosophisch 40, 45, 135 Lessing, Gotthold Ephraim 214, 258

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Namen- und Sachregister Liberale Theologie 9f, 75, 92, 107, 111, 135, 243, 302, 328, 337, 344f Liebe 84f, 87, 133–138, 140, 147, 164, 173– 176, 197f, 207, 212f, 222f, 254, 295 Lust 42–45, 157–160, 170, 182f, 190f, 235, 275f, 278 Luther, Martin 18, 21, 24, 34, 55, 59, 63f, 77, 137–141, 177, 199–201, 206f, 209, 243, 260–263, 267f, 282f, 292, 305, 325, 336 Macht / mächtig 41, 46f, 50, 53, 56, 62, 64– 68, 75f, 89f, 94–97, 105, 107, 110, 125, 129, 134f, 178, 187f, 197, 213, 220, 253, 281, 287, 295, 297 Materialethik / materialethisch 133, 142, 198, 225, 229, 327, 354 Menschensohn(titel) 85, 92–96, 99, 113 Messias(titel) 82, 85, 90–99, 102, 104f, 111, 192 Messiasbewusstsein 78, 85, 90–99, 102 Metaphysik / metaphysisch 29, 58, 113, 214, 277, 311f Mittelalter 200, 245, 254, 289f, 305, 336 Moderne / modern 9, 11f, 26, 31, 34f, 38, 76, 92f, 106, 113, 117, 121, 205f, 208, 230, 243, 254, 270–272, 304f, 326, 330f, 333 Mönchtum / mönchisch 118f, 203–205, 209, 246, 291, 340 Mystik / mystisch 53f, 59, 71, 73f, 103, 111f, 149, 221–223, 237 Naherwartung 55, 89, 104, 108, 110f, 119, 203 Nation / national 75f, 81, 203, 243, 254 Naturwissenschaft / naturwissenschaftlich 33, 123, 125, 178, 270, 285, 287, 289, 297 Neues Testament / neutestamentliche Theologie 12, 17, 19f, 31f, 42, 55, 59, 74, 77– 79, 82–84, 90, 93f, 98–101, 103f, 106– 108, 110, 112f, 117f, 140, 180, 190f, 193, 201, 203, 220, 224, 264, 353 Nietzsche, Friedrich 20, 24, 42, 45, 60, 74f, 123f, 129–143, 147, 150, 154, 212, 237, 288 Normativität / normativ 18–21, 27f, 99, 107, 164, 174, 198, 242f, 279, 321, 333, 339, 343f, 348, 351f, 355 notae ecclesiae 241, 255 Objektivität / objektiv 16, 27f, 40, 43, 79, 105, 200, 215, 262–264, 267, 269, 275, 278–284, 292f, 295, 310f, 319, 321, 323, 334–341, 345, 351, 355

373

Offenbarung 18, 22, 26–29, 36f, 40–42, 56, 60, 64, 66, 72, 77f, 79, 81, 95, 99, 101, 105f, 113, 124–127, 171, 180f, 188, 194, 210f, 213–217, 221, 245, 256–269, 278f, 285, 296, 299–318, 320, 327f, 335, 338, 344, 348–351, 355f Opfer 46, 52f, 193 Organisation 250, 252–257, 262, 265f, 322– 330, 340, 343, 350f Orthodoxie, altprotestantische 19, 200, 215f, 254, 260, 263, 289f, 305 Otto, Rudolf 43f Overbeck, Franz 74f, 119, 131, 139f, Pädagogik / pädagogisch 16f, 162, 169, 171, 180, 321, 342, 352, 355 Pantheismus / pantheistisch 67–71, 217, 219, 302 Parusie / Wiederkehr Christi 13, 79, 94, 99, 104f, 110f Paulus 17, 24, 75, 94, 96, 99–103, 108f, 111f, 120, 194–199, 202, 205, 207, 221, 241, 259, 283 Persönlichkeit / persönlich / Person / personal 29, 39f, 66–73, 77f, 80f, 87–91, 94– 96, 98, 101, 112f, 115f, 120f, 127f, 135– 141, 150, 153f, 155f, 160–162, 164f, 172, 175–177, 179f, 184, 186, 190f, 197, 211–214, 216–232, 237–239, 241, 258f, 262, 269–271, 274, 279, 283, 286f, 288, 292f, 296–299, 303f, 307–309, 311, 315–320, 325, 327f, 333f, 336, 340f, 343f, 346–348, 351, 354 Pfleiderer, Otto 35f Pflicht 15, 118–120, 144f, 148, 150, 154– 156, 159–161, 166, 170, 172–175, 184f, 204–206, 209f, 229, 244, 246, 255, 347, 350 Pietismus 11, 150, 205f, 271f, 279f, 337 Praxis / praktisch 19, 21f, 37, 39–41, 46, 60– 66, 72, 74, 79, 157, 160–162, 165, 168, 181, 183, 204f, 207, 210f, 213, 228–232, 240, 246f, 269, 273–282, 284, 286f, 289–291, 293f, 298–300, 311, 319f, 323, 325, 327f, 338–341, 345, 351, 355 Predigt / predigen 11, 16f, 22f, 107f, 262, 265f, 271f, 323, 328, 330f, 341 Rechtfertigung 103, 109f, 177f, 188, 194– 209, 232, 236, 249, 325 Reformation / reformatorisch 18, 73, 77, 118, 177f, 190, 192, 200, 205f, 209, 255, 258, 260, 268, 272, 282f, 290, 305, 325, 332, 335–337 Reischle, Max 23, 35, 267, 270

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374

Namen- und Sachregister

Religionsgeschichte / religionsgeschichtlich 19, 25, 31, 35–39, 41, 46, 49, 51f, 54, 57, 67, 72, 77f, 101, 143–145, 149, 164, 180–182, 184, 186–188, 196, 198, 211, 288, 294, 301, 305, 309–313 – Religionsgeschichtliche Schule 12, 24 Religionskritik / religionskritisch 35, 41, 60, 123f, 129, 145, 300f, 354 Religionspsychologie / religionspsychologisch 25f, 267, 281, 309, 337 Ritschl, Albrecht 10–12, 14, 18f, 23–29, 31f, 35–37, 55–59, 61, 72–74, 76, 83–85, 88, 100, 107, 114f, 121, 165, 180, 195f, 202, 212–214, 217, 222f, 230, 235, 246, 249, 251f, 267f, 275, 278, 288, 292, 301, 337, 350, 353 Rousseau, Jean-Jacques 162, 235 Sakrament 128, 204, 255, 261–266, 317f, 322f, 328, 350 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 15– 17, 19, 24f, 34, 36f, 43f, 55, 58, 65–67, 88, 95, 109, 113–116, 120, 123, 146, 214, 216, 231f, 248, 282, 287, 337–339 Schöpfung / erschaffen 68, 81, 95, 117, 123, 185, 197, 214, 225f, 228, 230, 256, 259, 289–291, 294, 296–300, 303, 316, 319f, 347, 351, 356 Scholastik 289f, 305 Schopenhauer, Arthur 52, 277 Schrift 18, 93, 99f, 177, 195, 216f, 221, 227, 249, 260–262, 266, 268, 335, 338, 341, 344, 350f – Schriftprinzip 17, 34–36, 38, 77–79, 260, 340 Schuld 109, 170, 179f, 186, 189, 191–194, 196, 199, 208, 341 Schweitzer, Albert 12, 31f, 59, 103, 196, 200f Selbständigkeit der Religion 37f, 40f, 58, 149, 151, 187, 208, 232, 274, 290, 306f Selbstbewusstsein 43, 77, 94, 96, 106, 116, 179, 214, 281, 292 Selbstoffenbarung 113, 210f, 214, 216, 304, 309, 314–316, 318 Sittengesetz 56, 150, 161f, 245, 296, 318f Sollen (unbedingtes) 146f, 150, 156–162, 165f, 170, 172, 210, 219, 236f, 295–297, 309 Soteriologie / soteriologisch 59, 96, 110, 112–115, 117, 127, 208, 263, 346 Soziale Frage 136, 324–327 Spinoza, Benedictus de 68

Staat / staatlich 9f, 75f, 81, 155, 198, 203f, 228, 231, 242f, 246f, 253–257, 316, 326, 328, 351 Subjektivität / subjektiv 18, 21, 26–29, 36, 43, 76, 79f, 120, 132, 200, 215, 217, 263, 267, 269, 273–284, 292f, 300f, 323, 334, 336, 338f, 341, 345, 351f, 355 Sünde / sündig 86, 98, 103, 109f, 116, 162, 165f, 177–202, 208, 211, 222, 228, 232f, 298, 341, 346 Supranaturalismus / supranaturalistisch 34, 279, 300, 305f, 308, 310–314 Taufe 128, 262–266 Theismus / theistisch 52, 62, 67f, 70, 132, 220, 297 Thomas von Aquin 61, 204, 322 Tillich, Paul 12, 24, 68, 127, 136, 206f, 246, 268 Tod 13, 43, 45, 65–67, 79f, 87, 94f, 97f, 100, 104f, 110, 112, 120–122, 128, 138, 193–195, 197, 200, 258, 267, 353 Transzendenz / transzendent 10, 26, 82, 97, 138, 215, 218, 246, 283, 287, 289, 298 Trieb 49, 57–59, 148, 157f, 163–165, 173, 197f, 237, 270, 277 Trinität / Trinitätslehre 68, 214, 216, 302, 338f Troeltsch, Ernst 9f, 22, 24, 29, 35–38, 61, 81, 281, 301–317, 337 Tugend 157, 160, 170, 234–6 Übel 43, 45, 67, 73f, 109, 123f, 147, 159, 181–186, 193 übernatürlich 81, 85, 106, 126f, 204, 306, 309, 312f, 317f, 322, 347, 351 Überwelt / überweltlich 13, 29, 48–50, 60, 64–75, 82, 85, 89, 95, 106, 111f, 118– 126, 142–148, 151, 171f, 175–178, 181, 184, 190, 192, 201–206, 211f, 217–225, 229, 234, 237, 239f, 245, 264, 273, 287f, 292, 297, 300, 313–315, 319, 323, 330, 346–349, 351f, 354 Umbildung 21, 38, 48–53, 60, 63, 77, 80–82, 97, 113, 144, 194, 241, 243–245, 263, 267, 271, 282, 305f, 310f, 336f, 345 Unendlichkeit / unendlich 45, 53, 111f, 123, 128, 301 Unlust 42–45, 157–160, 170, 182f, 190, 275f, 278 Urchristentum / urchristlich 12, 19f, 32, 55, 74f, 79–81, 92–111, 118–120, 128, 227, 241, 244–246, 325f, 336, 353f

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Namen- und Sachregister Verkündigung Jesu 12, 29, 31–33, 74–109, 117, 171–174, 177, 194, 197–199, 206, 210, 220f, 224, 241, 245, 258f, 298, 353f Vermittlungstheologie 9f, 18–21, 107, 111, 207, 243f, 279f, 331, 339 Versöhnung 110, 173, 180, 191, 194–199, 201, 290 Vollendung – von Mensch und Welt 10, 59, 69, 85, 88, 94f, 97–100, 102, 104–108, 110f, 113, 121f, 171, 175–177, 196, 222, 226, 236f, 239, 241, 250, 256, 272, 316, 325, 331, 346f – der Religion 12, 37, 54f, 57, 59, 70–73, 84, 125, 142–144, 151f, 198, 211f, 234, 287f, 294, 298f, 308, 313–315, 353 Wahrheit / wahr 25–29, 34, 36, 38, 42, 47, 55, 63f, 123f, 131, 154f, 174, 196, 201, 205, 217, 223f, 244, 248–252, 259–261, 265f, 269, 273, 277–285, 299–302, 304– 306, 308f, 311–314, 316, 318–322, 330f, 333f, 336–340, 344, 348, 351, 355 Weber, Max 209, 324 Weiß, Johannes 12, 31f, 74, 76, 80, 83, 88– 91, 104, 107–109, 111, 117, 172, 200, 301 Wellhausen, Julius 91 Welt – Weltflucht 54, 119, 124, 127, 143, 150, 203–205, 215, 223f, 279f, 354 – Weltgestaltung 10, 12f, 29, 69f, 75, 124, 127, 129, 135, 142f, 145, 150–152, 174– 177, 191f, 209, 215, 218f, 223f, 228, 231, 234f, 237, 288, 317, 324f, 347, 350–352, 354 – Weltverneinung 11, 119, 129, 147, 152, 185, 324f Wert / Wertbegriff 36, 39f, 78, 124, 126f, 131–143, 145–148, 150, 153, 155f, 164, 170, 175, 185, 193f, 220, 234, 247, 261, 270f, 286, 288, 293, 295, 304–308, 316f, 319f, 323, 325 Werturteil 26, 39f, 147, 158–161, 166, 168f, 269, 273–279, 281f, 284, 287, 289f, 293f, 300f, 310–313, 336 Wille – göttlicher 64, 66–69, 84f, 125, 133, 173, 183f, 185–189, 194, 196f, 202, 210f, 221f, 228, 239, 244, 318, 354 – menschlicher 73, 125, 136, 145–147, 157f, 166, 169f, 176, 191, 213, 220, 276, 288f, 294, 297, 299, 318f, 351 – Willensfreiheit 178f

375

Wirtschaftsethik / wirtschaftsethisch 227– 231 Wittekind, Folkart 14, 19, 25–29, 38, 120, 162, 267–269, 281f, 292, 339f Wobbermin, Georg 23–25, 35f, 123, 281 Wrede, William 19f, 77, 90–92, 100, 102, 196 Wundt, Wilhelm 154, 239, 274, 309 Zeit 11f, 44f, 84, 91, 97f, 103f, 106, 116– 119, 122, 127f, 161, 193f, 199, 218, 221, 224f, 227, 236f, 241, 250, 258, 348, 353f, 356 Ziel / Telos 13, 44, 48f, 54, 57, 61, 69, 72, 86, 88, 97, 111, 120, 122f, 128, 134, 137, 143, 147f, 151, 174–176, 189, 213, 218f, 221, 223, 226, 228, 232f, 237–239, 253, 257, 280f, 286, 294f, 297, 310f, 324, 327, 348 Zukunft / zukünftig / futurisch 10, 13, 22, 31f, 42, 44, 76, 81–89, 92–111, 118f, 121f, 126–128, 168, 171f, 182, 192f, 199, 203, 223–227, 236, 239, 241, 250, 264, 272, 298, 346, 348, 353, 356 Zweck 46, 48f, 53, 56, 61, 74, 124–128, 144, 147, 161, 164, 176, 193, 219f, 222f, 239, 242, 249, 252, 255–257, 265, 269, 283f, 286–288, 291, 293, 295f, 299, 317, 322– 324 Zwei-Naturen-Lehre 113, 346 Zwei-Reiche-Lehre 326 Zwingli, Huldreich 251

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 123: Michael Coors

Band 118: Stefan Holtmann

Scriptura efficax. Die biblischdogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt

Karl Barth als Theologe der Neuzeit

Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift 2009. 398 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56397-7

Band 122: Katrin Dieckow

Gespräche zwischen Gott und Mensch Studien zur Sprache bei Kierkegaard 2009. 238 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56356-4

Band 121: Thorsten Waap

Gottebenbildlichkeit und Identität Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg

Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie 2007. 444 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56346-5

Band 117: Wieland Kastning

Morgenröte künftigen Lebens Das reformatorische Evangelium als Neubestimmung der Geschichte. Untersuchungen zu Martin Luthers Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis 2008. 458 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56345-8

Band 116: Jun-Hyung Jhi

Das Heil in Jesus Christus bei Karl Rahner und in der Theologie der Befreiung 2006. 245 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56341-0

2008. 575 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56949-8

Band 115: Alexander Heit

Band 120: Gunther Wenz

Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie

Hegels Freund und Schillers Beistand Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848) 2008. 235 Seiten mit 1 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56348-9

Band 119: Kirsten Busch Nielsen / Ulrik Nissen / Christiane Tietz (Hg.)

Mysteries in the Theology of Dietrich Bonhoeffer A Copenhagen Bonhoeffer Symposium 2007. 186 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56347-2

Versöhnte Vernunft

2006. 288 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56343-4

Band 114: Johannes Hund

Das Wort ward Fleisch Eine systematisch-theologische Untersuchung zur Debatte um die Wittenberger Christologie und Abendmahlslehre in den Jahren 1567 bis 1574 2006. 745 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56344-1

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