Reziproke Barmherzigkeit: Theologie und Ethik im Matthäusevangelium 9783170396425, 9783170396432

Als theologischer und ethischer Leitterminus ist Barmherzigkeit bei Matthäus ein Beziehungsbegriff: Der Evangelist konze

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Reziproke Barmherzigkeit: Theologie und Ethik im Matthäusevangelium
 9783170396425, 9783170396432

Table of contents :
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)
1.1 Wissenschaftliche Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens in der Interpretation der Parabel
1.1.1 Strategie I: Rekonstruktionen des ursprünglichen Umfangs der Parabel und deren Begründungen
1.1.1.1 Begründung I: Die Unvereinbarkeit von Erbarmen und Zorn im Gottesbild
1.1.1.2 Begründung II: Die imitatio der Barmherzigkeit Gottes kann nicht gleichzeitig mit Verweis auf Gottes Güte und die göttliche Vergeltung gefordert werden
1.1.1.3 Begründung III: Das Strafhandeln des Königs verrechtlicht die Barmherzigkeit
1.1.1.4 Die Unvereinbarkeit von Barmherzigkeit und Gericht als Prämisse der verschiedenen Begründungen
1.1.1.5 Zusammenfassung und Bündelung der bisher getroffenen exegetischen Entscheidungen
1.1.2 Strategie II: Funktionalisierung der Gerichtsaussagen am Beispiel von U. Luz
1.1.2.1 Die Funktionalisierung der Gerichtsaussagen in der Interpretation von Mt 18,23–35
1.1.2.2 Die Funktionalisierung der Gerichtsaussagen in der Interpretation von Mt 18,15–18
1.1.2.3 Zusammenfassung
1.1.3 Ertrag
1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht
1.2.1 Sprachlich-narrative Analyse
1.2.2 Semantische Analyse
1.2.2.1 Vergelten (ἀποδίδωμι) und Vergeben (ἀφίημι) als Grundformen von Sozialität
1.2.2.2 Der ἔλε-Stamm vor dem Hintergrund seines hebräischen Äquivalentbegriffs חֶסֶד
Exkurs: /ἔλεος in Jos 2,12 und Ruth 1,8; 2,20; 3,10
2. Ἒλεος im Matthäusevangelium (Mt 9,13; 12,7; 23,23) und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 in ARN 4 (A)
2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition und deren Bedeutung für das Matthäusevangelium
2.1.1 Die Relevanz der rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 in der bisherigen Forschung
2.1.2 Hos 6,6 in ARN 4 (A): Liebeswerke als Opferäquivalent
2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)
2.2.1 Sündenvergebung als vornehmste Konkretion von Barmherzigkeit
2.2.2 Barmherzigkeit als nichtkultisches (Sühn-)Opfer
2.2.2.1 Die Deutung der Opposition ἔλεος – θυσία in der neutestamentlichen Forschung
2.2.2.2 Opfer als Ausdruck der Kommunikation zwischen Gott und Mensch
2.2.3 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund: Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheitsliteratur
2.2.3.1 Barmherzigkeit als Opferäquivalent in Tob und Sir
2.2.3.2 Relevanz für das Matthäusevangelium
2.2.4 Auswertung: Hos 6,6 in Mt 9,9–13 und ARN 4 (A)
2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)
2.3.1 Der Zusammenhang von Hunger und Barmherzigkeit
2.3.2 Zum ἔλεος-Bezug des Komparativs μεῖζον
2.3.3 Zur Form und Hermeneutik von Mt 12,5–7
2.3.3.1 Mt 12,5–7: Ein halachisches Argument?
2.3.3.2 Mt 12,5–7: Ein valider qal wa-ḥomer-Schluss?
2.3.4 Auswertung: Hos 6,6 in Mt 12,7 und ARN 4 (A)
2.4 Zur Übersetzung von Hos 6,6 bei Matthäus
2.5 Der matthäische Dreiklang gelingender Sozialität: Recht, Barmherzigkeit und Treue (Mt 23,23)
2.6 Hos 6,6 als hermeneutischer Schlüssel zur matthäischen Version des Doppelgebots der Liebe (Mt 22,34–40)
2.7 Bündelung der Ergebnisse: Barmherzigkeit als gottesdienstliche Handlung und hermeneutisches Prinzip
3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen bei Matthäus
3.1 Verhältnisbestimmung der Goldenen Regel zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), zur Feindesliebe (5,43–48) und zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12)
3.1.1 Die Goldene Regel im Kontext von Mt 7,7–11
3.1.2 Das Verhältnis der Goldenen Regel (7,12) zur „größeren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) und zur Feindesliebe (5,43–48)
3.1.3 Zum Verhältnis der Goldenen Regel (Mt 7,12) zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12)
3.1.4 Zwischenergebnis: Zum Gegenseitigkeitscharakter theologischer Leitbegriffe der Bergpredigt
3.2 Zum Verhältnis von Goldener Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricoeur
3.2.1 Ulrich Luz: Einseitige Liebe als Gegensatz zur Gegenseitigkeit der Goldenen Regel
3.2.2 Bernd Kollmann: Die Goldene Regel als Ausdruck „intendierte[r] Reziprozität“
3.2.3 Ricoeur: Die nicht auflösbare Spannung zwischen unilateraler Liebe und bilateraler Goldener Regel
3.3 Die Goldene Regel zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe
3.4 Zusammenfassende Thesen: Zum Verhältnis der Barmherzigkeit zu den anderen theologischen Leitbegriffen
3.4.1 Goldene Regel (7,12), „größere“ Gerechtigkeit (5,20), Feindesliebe (5,43–48) und die Vergebungs-bitte des Vaterunsers (6,12): Grundlegende Gemeinsamkeiten und spezifische Konturierungen
3.4.2 Thesen zum Verhältnis der Barmherzigkeit zu den anderen theologischen Leitbegriffen
Auswertung und Ausblick
Literatur
Quellen und spezielle Übersetzungen
Hilfsmittel
Kommentare
Sekundärliteratur
Register (in Auswahl)

Citation preview

Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Band 227 Herausgegeben von Walter Dietrich Ruth Scoralick Reinhard von Bendemann Marlis Gielen

Jens-Christian Maschmeier

Reziproke Barmherzigkeit Theologie und Ethik im Matthäusevangelium

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2021 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Print: ISBN 978-3-17-039642-5 E-Book-Format: pdf: ISBN 978-3-17-039643-2 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der EvangelischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum als Habilitationsschrift angenommen und anschließend für die Drucklegung weiter überarbeitet. Mein erster und besonderer Dank gilt Prof. Dr. Peter Wick, der meine Forschung nicht nur in meiner Zeit als Assistent am Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments, sondern auch auf meinen weiteren Stationen an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel und an der Evangelischen Hochschule Freiburg begleitet und gefördert hat: Ohne den Resonanzraum unserer gemeinsamen Gespräche wäre die vorliegende Arbeit in dieser Form nicht entstanden. Dies gilt auch für zwei weitere, mir wichtige Gesprächspartner, Rabbiner Michel Birnbaum-Monheit (Straßburg) und Prof. Dr. Fritz Rüdiger Volz (Bochum). Das gemeinsame Lernen biblischer und rabbinischer Texte im „Bochumer Lehrhaus“ und unser gemeinsames Ringen um Texte und deren Deutungen haben mich immer wieder die existentielle Dimension wissenschaftlicher Forschung erleben lassen. Zu großem Dank verpflichtet bin ich auch Prof. Dr. Reinhard von Bendemann, der das Zweitgutachten zu meiner Habilitationsschrift erstellt und die Aufnahme in die Reihe BWANT befürwortet hat. Hierfür sei auch Prof. Dr. Marlis Gielen herzlich gedankt. Herrn Florian Specker vom Kohlhammer-Verlag danke ich für die Begleitung bei der Erstellung der Reproduktionsvorlage, Herrn Daniel Klinkmann für die Ausführung zahlreicher Hilfsarbeiten. Sehr herzlich für seine vielfältige Unterstützung danken möchte ich auch Prof. Dr. Martin Karrer, u.a. dafür, dass er mir im Sommersemester 2016 die Möglichkeit geboten hat, an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel zu lehren. Prof. Dr. Matthias Millard danke ich ebenso wie Prof. Dr. Carsten Ziegert, dass sie mir bisher unveröffentlichte Arbeiten zur rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 bzw. zur Bedeutung des Begriffs ‫ חֶ סֶ ד‬zur Verfügung gestellt haben. Die in Kürze im Journal for the Study of the Old Testament unter dem Titel „What is ‫ ?חֶ סֶ ד‬A frame-semantic approach“ erscheinende Studie von Carsten Ziegert konnte für die Drucklegung nicht mehr berücksichtigt werden. Danken möchte ich nicht zuletzt der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, die für mich theologische Heimat ist. Prof. Dr. Katharina Greschat danke ich sehr herzlich für die Durchführung des Habilitationsverfahrens. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Annette Maschmeier. Was Gerechtigkeit und Barmherzigkeit konkret und im Alltag bedeutet, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie in Beziehungen. Witten, den 02. Juni 2020

Jens-Christian Maschmeier

Inhaltsverzeichnis Einleitung ........................................................................................................... 11  1.   Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) ............................................................................................ 22  1.1  Wissenschaftliche Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens in der Interpretation der Parabel........................ 1.1.1  Strategie I: Rekonstruktionen des ursprünglichen Umfangs der Parabel und deren Begründungen .......................... 1.1.1.1  Begründung I: Die Unvereinbarkeit von Erbarmen und Zorn im Gottesbild ......................................................................................... 1.1.1.2  Begründung II: Die imitatio der Barmherzigkeit Gottes kann nicht gleichzeitig mit Verweis auf Gottes Güte und die göttliche Vergeltung gefordert werden ............................................................... 1.1.1.3  Begründung III: Das Strafhandeln des Königs verrechtlicht die Barmherzigkeit ..................................................................................... 1.1.1.4  Die Unvereinbarkeit von Barmherzigkeit und Gericht als Prämisse der verschiedenen Begründungen ................................... 1.1.1.5  Zusammenfassung und Bündelung der bisher getroffenen exegetischen Entscheidungen ............................................................... 1.1.2  Strategie II: Funktionalisierung der Gerichtsaussagen am Beispiel von U. Luz ...................................................................... 1.1.2.1  Die Funktionalisierung der Gerichtsaussagen in der Interpretation von Mt 18,23–35................................................... 1.1.2.2  Die Funktionalisierung der Gerichtsaussagen in der Interpretation von Mt 18,15–18................................................... 1.1.2.3  Zusammenfassung ................................................................................ 1.1.3  Ertrag ................................................................................................... 1.2  Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht ............. 1.2.1  Sprachlich-narrative Analyse .......................................................... 1.2.2  Semantische Analyse ........................................................................ 1.2.2.1  Vergelten (ἀποδίδωμι) und Vergeben (ἀφίημι) als Grundformen von Sozialität ........................................................................................ 1.2.2.2  Der ἔλε-Stamm vor dem Hintergrund seines hebräischen Äquivalentbegriffs ‫ חֶ סֶ ד‬......................................................................... Exkurs: ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος in Jos 2,12 und Ruth 1,8; 2,20; 3,10 ......................................

27  28  29  33  39  45  50  53  54  63  71  73  73  74  80  81  89  110 

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Inhaltsverzeichnis

1.3   Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht und die alttestamentliche „Gnadenformel“ (Ex 34,6) ........................................ 1.3.1  Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Parabel und der alttestamentlichen Gnadenformel................................... 1.3.1.1  Sprachliche Gemeinsamkeiten.............................................................. 1.3.1.2  Sprachliche Gemeinsamkeiten zwischen der Parabel und der Fortführung der Gnadenformel (Ex 34,7) .............................................. 1.3.1.3  Inhaltliche Gemeinsamkeiten ............................................................... 1.3.2  Zur Domestizierung des göttlichen Zorns bei der Interpretation der Gnadenformel ................................................... 1.3.3  Die unauflösbare Polarität von Erbarmen und Zorn: Eine theologische Reflexion.............................................................

134  137  137  139  141  145  148 

1.4   Bündelung der Ergebnisse und Auseinandersetzung mit der Position Ecksteins ................................................................................. 152  1.4.1  Die über das Recht hinausgehende Barmherzigkeit .................... 152  1.4.2  Reziprozität des Rechts und Reziprozitätsverzicht des Erbarmens? .................................................................................. 154  1.5   Übersetzung der Parabel und ihrer Vorschaltung .............................. 158 

2.   Ἒλεος im Matthäusevangelium (Mt 9,13; 12,7; 23,23) und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 in ARN 4 (A) 160  2.1  Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition und deren Bedeutung für das Matthäusevangelium .................................................................... 161  2.1.1  Die Relevanz der rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 in der bisherigen Forschung ....................................................................... 162  2.1.2  Hos 6,6 in ARN 4 (A): Liebeswerke als Opferäquivalent............... 169  2.2  Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A) ................................................................................................ 2.2.1  Sündenvergebung als vornehmste Konkretion von Barmherzigkeit ........................................................................... 2.2.2  Barmherzigkeit als nichtkultisches (Sühn-)Opfer........................ 2.2.2.1  Die Deutung der Opposition ἔλεος – θυσία in der neutestamentlichen Forschung ............................................................ 2.2.2.2  Opfer als Ausdruck der Kommunikation zwischen Gott und Mensch ................................................................... 2.2.3  Der traditionsgeschichtliche Hintergrund: Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheitsliteratur ................... 2.2.3.1  Barmherzigkeit als Opferäquivalent in Tob und Sir .............................

176  178  189  190  195  201  202 

Inhaltsverzeichnis

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2.2.3.2  Relevanz für das Matthäusevangelium ................................................ 210  2.2.4  Auswertung: Hos 6,6 in Mt 9,9–13 und ARN 4 (A) ......................... 212 

2.3   Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A) ................................................................................................ 2.3.1  Der Zusammenhang von Hunger und Barmherzigkeit ............... 2.3.2  Zum ἔλεος-Bezug des Komparativs μεῖζον.................................... 2.3.3  Zur Form und Hermeneutik von Mt 12,5–7 ................................... 2.3.3.1  Mt 12,5–7: Ein halachisches Argument? ............................................... 2.3.3.2  Mt 12,5–7: Ein valider qal wa-ḥomer-Schluss?...................................... 2.3.4  Auswertung: Hos 6,6 in Mt 12,7 und ARN 4 (A) .............................

217  220  222  233  233  237  242 

2.4   Zur Übersetzung von Hos 6,6 bei Matthäus........................................... 246  2.5   Der matthäische Dreiklang gelingender Sozialität: Recht, Barmherzigkeit und Treue (Mt 23,23) ..................................................... 248  2.6   Hos 6,6 als hermeneutischer Schlüssel zur matthäischen Version des Doppelgebots der Liebe (Mt 22,34–40)............................................. 250  2.7   Bündelung der Ergebnisse: Barmherzigkeit als gottesdienstliche Handlung und hermeneutisches Prinzip ............................................... 258 

3.   Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen bei Matthäus..................................................... 263  3.1   Verhältnisbestimmung der Goldenen Regel zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), zur Feindesliebe (5,43–48) und zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) ................................................ 3.1.1  Die Goldene Regel im Kontext von Mt 7,7–11 ............................... 3.1.2  Das Verhältnis der Goldenen Regel (7,12) zur „größeren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) und zur Feindesliebe (5,43–48) .............. 3.1.3  Zum Verhältnis der Goldenen Regel (Mt 7,12) zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12)........................................ 3.1.4  Zwischenergebnis: Zum Gegenseitigkeitscharakter theologischer Leitbegriffe der Bergpredigt ..................................

268  268  277  294  298 

3.2   Zum Verhältnis von Goldener Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur ................................................................. 300  3.2.1  Ulrich Luz: Einseitige Liebe als Gegensatz zur Gegenseitigkeit der Goldenen Regel ............................................... 301  3.2.2  Bernd Kollmann: Die Goldene Regel als Ausdruck „intendierte[r] Reziprozität“ ........................................................... 304 

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Inhaltsverzeichnis

3.2.3 Ricœur: Die nicht auflösbare Spannung zwischen unilateraler Liebe und bilateraler Goldener Regel....................... 312

3.3 Die Goldene Regel zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe ........... 3.4 Zusammenfassende Thesen: Zum Verhältnis der Barmherzigkeit zu den anderen theologischen Leitbegriffen ........................................ 3.4.1 Goldene Regel (7,12), „größere“ Gerechtigkeit (5,20), Feindesliebe (5,43–48) und die Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12): Grundlegende Gemeinsamkeiten und spezifische Konturierungen ..................................................... 3.4.2 Thesen zum Verhältnis der Barmherzigkeit zu den anderen theologischen Leitbegriffen .............................................................

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Auswertung und Ausblick .......................................................... 331 Literatur ........................................................................................ 342 Quellen und spezielle Übersetzungen...................................................................... Hilfsmittel .................................................................................................................... Kommentare ................................................................................................................ Sekundärliteratur .......................................................................................................

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Register ......................................................................................... 354

Einleitung Die vorliegende exegetisch-theologische Untersuchung will einen Beitrag zum Verständnis eines der zentralen soteriologischen Leitbegriffe des Matthäusevangeliums leisten. Die Rede ist von dem griechischen Wort ἔλεος, das mit Güte, Barmherzigkeit(stat) oder auch Liebe(serweis) wiedergegeben werden kann1 und das der Evangelist an drei Stellen gegenüber seiner Markusvorlage einfügt (Mt 9,13; 12,7; 23,232). Forschungsgeschichtlich betrachtet finden sich im Vergleich zur Gerechtigkeitsthematik relativ wenig Veröffentlichungen zur Barmherzigkeit: So widmen sich im deutsch- und englischsprachigen Raum nur wenige Monographien dem Begriff ἔλεος im Matthäusevangelium,3 es überwiegen überblicksartige 1

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Vgl. Bultmann, Art. ἔλεος κτλ., 479. Bauer führt darüber hinaus noch die mögliche Wiedergabe mit „Mitleid“ an (Wörterbuch, 504). Wir halten die Wiedergabe mit „Mitleid“ für problematisch, da der Evangelist zwischen dem Affekt des Mitleids, den er in der Parabel und an anderen Stellen durch den Gebrauch von σπλαγχνίζεσθαι zum Ausdruck bringt (9,36; 14,14; 15,32; 18,27; 20,34), und der Barmherzigkeit, die jeweils ein konkretes Handeln im Blick hat, unterscheidet. Hinsichtlich des hebräischen Äquivalenzbegriffs von ἔλεος, ‫חֶ סֶ ד‬, sind die in Betracht gezogenen Übersetzungsmöglichkeiten noch vielfältiger: Hier werden u. a. Güte, Huld, Gnade, Barmherzigkeit, Liebe, Freundlichkeit, Herzlichkeit, Treue, Solidarität, Hingabe, Verbundenheit, Freundschaft als angemessene Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬angeführt (vgl. Abschnitt 1.2.2.2.2). In der Vielfalt der Übersetzungsmöglichkeiten spiegeln sich die verschiedenen Debatten wider, die um ein angemessenes Verständnis des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬geführt werden, insbesondere auch die Debatte darüber, ob der Güte Einseitigkeit oder Gegenseitigkeit eignet. Wir werden sehen, dass diese Frage auch das Verständnis von ἔλεος im Matthäusevangelium wesentlich berührt. Luz nimmt an, dass Mt 23,23 auf die Logienquelle zurückgeht (vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 329). Um einen besseren Überblick und einen schnelleren Zugriff auf die Literatur zu ermöglichen, werden in den Anmerkungen 3–6 die vollständigen Titel der Publikationen aufgeführt. Monographien zur Barmherzigkeit im Matthäusevangelium haben folgende Autoren vorgelegt: Leo Edward Glynn, The Use and Meaning of ἔλεος in Matthew, Berkeley (CA) 1971; Josef Seeanner, Die Barmherzigkeit (ἔλεος) im Matthäusevangelium. Rettende Vergebung, Kleinhain 2009. Bei beiden Arbeiten handelt es sich um Dissertationen aus dem katholischen Bereich. In seiner Einleitung verweist Seeanner auf zwei weitere Dissertationen, die allerdings nur in Teilen (als Exzerpte) publiziert wurden: So hat Vince Balogh einen Teil seiner 1959 verteidigten Dissertation: „Selig sind die Barmherzigen“. Die christliche Barmherzigkeit bei Matthäus im Allgemeinen und in der fünften Seligpreisung im Besonderen im Lichte des Alten Testaments, erst 1984 veröffentlicht. Der zweite, nichtpublizierte Teil der Dissertation diente offenbar dazu, dem semantischen Gehalt des griechischen Terminus ἔλεος vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Begriffe für Barmherzigkeit näher zu kommen (vgl. Seeanner, Barmherzigkeit, 14), ein Unterfangen, dem auch in unserer Arbeit im ersten Kapitel viel Raum eingeräumt wird (vgl. dazu weiter unten im Text). Ein weiteres Exzerpt einer Dissertation, das sich mit der Relektüre von Hos 6,6 im Matthäusevangelium beschäftigt, hat P. Podeszwa vorgelegt: Misericordia voglio e non sacrificio. La rilettura di Os 6,6 nel Vangelo di Matteo, Rom 2001. Beide fasst Seeanner, Barmherzigkeit, 13–17, in seinem knappen forschungsgeschichtlichen Überblick zusammen, und er verweist darüber hinaus auf die Habi-

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Einleitung

Beiträge in Zeitschriften oder thematisch orientierten Sammelbänden, die in der Regel den Fokus auf das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht,4 die Rezeption von Hos 6,6 in Mt 9,13 und/oder Mt 12,75 oder aber das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit richten.6 Dass Barmherzigkeit einerseits als soteriologischer

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litationsschrift Christof Landmessers, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9–13 (WUNT 133), Tübingen 2001. Martinus C. de Boer, Ten Thousand Talents? Matthew’s Interpretation and Redaction of the Parable of the Unforgiving Servant, in: CBQ 50 (1988), 214–232; Frans H. Breukelmann, Eine Erklärung des Gleichnisses vom Schalksknecht (Matth. 18,23–35), in: Eberard Busch (Hg.), Parrhesia (FS K. Barth), Zürich 1966, 261–287; Ingo Broer, Die Parabel vom Verzicht auf das Prinzip von Leistung und Gegenleistung (Mt 18,23–35), in: François Refoulé (Hg.), À Cause de l'Évangile. Études sur les Synoptiques et les Actes (FS Dupont; LD 123), Paris 1985, 145–164; John D. M. Derrett, The Parable of the Unmerciful Servant, in: John D. M. Derrett, Law in the New Testament, London 1970, 32–47; Christian Dietzfelbinger, Das Gleichnis von der erlassenen Schuld. Eine theologische Untersuchung von Matthäus 18,23–35, in: EvTh 32 (1972), 437–451; Martin Leutzsch, Verschuldung und Überschuldung, Schuldenerlaß und Sündenvergebung. Zum Verständnis des Gleichnisses Mt 18,23–35, in: Marlene Crüsemann/Willy Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 104–131; Jesper Tang Nielsen, Das Gleichnis vom Schalksknecht – eine Ökonomie der Generosität, in: ZNT 31 (2013), 31–39; Hanna Roose, Das Aufleben der Schuld und das Aufheben des Schuldenerlasses (Vom unbarmherzigen Knecht) – Mt 18,23–35, in: Ruben Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 445–460; Sebastian Schneider, Barmherzigkeit und Zorn! Überlegungen zum Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35), in: BZ 59 (2015), 161–178; Beat Weber, Alltagswelt und Gottesreich. Überlegungen zum Verstehenshintergrund des Gleichnisses vom „Schalksknecht“ (Matthäus 18,23–34), in: BZ 37 (1993), 161–182; ders., Vergeltung oder Vergebung!? Matthäus 18,21–35 auf dem Hintergrund des „Erlassjahres“, in: ThZ 50 (1994), 124–151. Mary H. Edin, Learning What Righteousness Means. Hosea 6,6 and the Ethic of Mercy in Matthew’s Gospel, in: WW 18 (1998), 355–363; David Hill, On the Use and Meaning of Hosea vi. 6 in Matthew’s Gospel, in: NTS 24 (1977), 107–119; Pierre Keith, Les citations d’Osée 6:6 dans deux péricopes de l’Évangile de Matthieu (Mt 9:9–13 et 12:1–8), in: Eberhard Bons (Hg.), „Car c’est l’amour qui me plaît, non le sacrifice …“. Recherches sur Osée 6:6 et son interprétation juive et chrétienne (JSJ.S 88), Leiden 2004, 57–80; Lena Lybæk, Matthew’s Use of Hosea 6,6 in the Context of the Sabbath Controversies, in: Christopher M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels (BETL 131), Leuven 1997, 491–499; Erik Ottenheijm, The Shared Meal – a Therapeutical Device. The Function and Meaning of Hos 6:6 in Matthew 9:10–13, in: NT 53 (2011), 1–21; Francois P. Viljoen, Hosea 6:6 and Identity Formation in Matthew, in: Acta Theologica 34 (2014), 214–237. Eine Ausnahme bildet hier der Beitrag von Matthias Konradt, „Glückselig sind die Barmherzigen“ (Mt 5,7). Mitleid und Erbarmen als ethische Haltung im Matthäusevangelium, in: JBTh 30 (2015), 129–158, der von der Parabel vom unbarmherzigen Knecht ausgehend das Thema Barmherzigkeit grundsätzlicher erörtert. Auf das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bzw. Erbarmen und Zorn fokussieren Boris Repschinski, Erbarmen und Gericht – Gott zwischen den Fronten im Matthäusevangelium, in: ZKTh 138 (2016), 315–330; Klaus Wengst, Recht und Gerechtigkeit – Gericht und Erbarmen. Beobachtungen im Matthäusevangelium, in: ThQ 195 (2015), 119–134; vgl. aber auch die in Anm. 4 genannten Beiträge von Sebastian Schneider (Barmherzigkeit und Zorn!) und Beat Weber (Vergeltung oder Ver-

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Leitbegriff wahrgenommen und andererseits relativ selten im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses steht, dürfte darin begründet sein, dass der semantische Gehalt von ἔλεος keine allzu großen Rätsel aufzugeben scheint: So ist unstrittig, dass der Evangelist Barmherzigkeit als ethische Forderung konzeptualisiert, die das Handeln Gottes bzw. Jesu nachahmt (18,23–35; 9,13; 12,7; vgl. 23,23)7 und das Gebot der Nächstenliebe (5,43; 19,19; 22,39) konkretisiert.8 Die jeweilige Konkretion, zu der insbesondere die Sündenvergebung zählt (Mt 18,23–35; 9,9–13), orientiert sich dabei an der Notlage des bedürftigen Mitmenschen, dem der Barmherzigkeitserweis9 gilt (vgl. Mt 12,1–7 und Mt 25,31–46). Zudem untersteht die Barmherzigkeit, wie die fünfte Seligpreisung eindrucksvoll vor Augen führt, dem von Gott garantierten und in ihm personalisierten Tun-Ergehen-Zusammenhang: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit [durch Gott] erlangen“ (Mt 5,7).10 Unter den wesentlichen semantischen Gehalten von ἔλεος ist es diese Verschränkung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung und die damit einhergehende Wechselseitigkeit, der u. E. bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Was bedeutet es, wenn die unilaterale Zuwendung zum Nächsten im Rahmen der Vorstellung reziproker Gerechtigkeit verortet wird? Worin unterscheidet sich Barmherzigkeit von der Gerechtigkeit, wenn beiden Gegenseitigkeit und – wie insbesondere die Parabel vom unbarmherzigen Knecht zeigt (18,23–35) – Normativität eignet? Diesen Leitfragen soll in der vorliegenden Arbeit mit dem Ziel nachgegangen werden, das Verhältnis zwischen Barmherzigkeit und Recht im Matthäusevangelium präzise zu bestimmen und so den semantischen Gehalt von ἔλεος genauer zu fassen. Nun ist die angesprochene Gegenseitigkeit der menschlichen Gottesbeziehung nicht unproblematisch. Sie widerspricht nach der Auffassung vieler Theologinnen und Theologen dem reformatorischen Prinzip des sola gratia, dem zufolge die Glau-

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gebung!?). Darüber hinaus sei auf Markus Zehetbauer, Befristete Barmherzigkeit. Die scheinbar willkürliche Ungerechtigkeit der Handlungssouveräne in drei großen Parabeln Jesu Mt 18,23–35, Mt 20,1–16 und Lk 15,11–32 und ihre Konsequenzen für die Eschatologie, in: MThZ 64 (2013), 232–251, und Ansgar Wucherpfennig, Kein Zorn Gottes ohne sein Erbarmen. Biblische Perspektiven zur Barmherzigkeit, in: Diakonia 47 (2016), 9–15, sowie auf JensChristian Maschmeier, The Dynamic Polaritiy Between Justice and Mercy in the Old Testament Formula of Grace (Ex 34:6) and the Parable of the Unforgiving Servant (Mt 18:23–35), in: Peter Wick/Markus Zehnder (Hg.), Biblical Ethics: Tensions between Justice and Mercy, Law and Love (PHSC), Piscataway (NJ) 2019, 235–249, hingewiesen. Auch bei den Krankenheilungen Jesu handelt es sich um konkrete Taten der Barmherzigkeit (vgl. 9,27–31; 15,21–28; 17,14–20; 20,29–34), denen auf Seiten der Schülerschaft Jesu der Besuch der Kranken als Werk der Barmherzigkeit korrespondiert (25,36.39.43.44). Vgl. Burchard, Liebesgebot, 25; Konradt, Mitleid und Erbarmen, 154. In Anlehnung an den rabbinischen Terminus ‫( גְּ ִמילוּת חֲסָ ִדים‬gemilut hassadim) sprechen wir in der vorliegenden Arbeit im Blick auf die Konkretionen der Barmherzigkeit wahlweise von Liebeswerken, Barmherzigkeitserweisen bzw. Taten/Werken der Barmherzigkeit. Eigene Übersetzung. Werden in der vorliegenden Arbeit andere Übersetzungen der griechischen oder hebräischen Quellen verwendet, wird dies kenntlich gemacht.

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benden der ihnen gewährten Gnade nicht entsprechen dürfen. Eine eigenverantwortliche, selbstständige Aktivität des gläubigen Subjekts steht unter dem Verdikt der Werkgerechtigkeit. Das so verstandene reformatorische sola gratia bestimmt in Form der theologischen Sachkritik auch exegetische und theologische Arbeiten zum Neuen Testament, insbesondere auch zum Matthäusevangelium: Der Evangelist wird von Paulus her kritisiert und Paulus von Luther her gelesen.11 Maßstab der Sachkritik ist also der durch eine Lutherbrille wahrgenommene Paulus, der gewissermaßen zum Garanten der Rechtsgläubigkeit wird: Wo eine Verbindung zwischen menschlichem Handeln und einer göttlichen Anerkennung dieses Handelns hergestellt wird, gilt es, solche synergistischen Konzeptionen zu korrigieren und abzuwehren. Die lutherisch-paulinische Botschaft der voraussetzungslosen und an keine nachfolgende Bedingung geknüpften „reinen“ Gnade darf nicht verwässert werden. Die vorliegende Arbeit versucht dieses Paradigma aufzubrechen: Es soll am Beispiel des Matthäusevangeliums gezeigt werden, dass der Beziehungscharakter der menschlichen Gottesbeziehung mit der selbstverantworteten Entsprechung des gläubigen Subjekts zur ihm gewährten Gnadengabe Gottes steht und fällt: Ohne Wechselseitigkeit keine Beziehung. Die angesprochene Fokussierung auf Luther-Paulus zeigt sich in der theologischen Wissenschaft insbesondere in einer facettenreichen theologischen Kritik an jedweder Form von Gegenseitigkeit und Reziprozität. Die auf Gegenseitigkeit verzichtende und jenseits des Prinzips des quid pro quo operierende „reine“ Einseitigkeit der göttlichen Gnade(ngabe) steht im Zentrum reformatorischer Theologie. In diesem Sinne skizziert der Kirchenhistoriker Berndt Hamm das Denken, von dem sich die Reformatoren abgrenzten und damit den (von Hamm so bezeichneten) revolutionären Umbruch der Reformation herbeiführten,12 folgendermaßen: „Die traditionelle Religiosität der abendländisch-lateinischen Christenheit, mit der sich die Reformation kritisch auseinandersetzte, bewegte sich im Rahmen der in anthropologischen, ethnographischen, kultur- und religionsgeschichtlichen Studien oft beschriebenen Logik von Gabe und Gegengabe; das heißt: Sie bewegte sich im Rahmen einer sehr variationsreichen, einerseits urtümlich (archaischen), andererseits immer wieder sehr modernen religiösen Logik, der ein hohes Maß an anthropologischer Plausibilität innewohnt, weil sie offensichtlich bestimmten ‚natürlichen‘ und ‚primärreligiösen‘ Grundbedürfnissen des Menschen entspricht. Sie prägte die Christentumsgeschichte seit ihren Anfängen, erlebte aber im Früh- und Spätmittelalter eine gesteigerte Akzeptanz. Diese Logik besagt, dass es keine unbedingte Güte und keine bedingungslose Gnade gibt, kein Vergehen ohne Strafe und keine Verzeihung ohne Wiedergutmachung und Sühne. In diesem religiösen Sinnzusammenhang ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch prinzipiell nach den Regeln einer Tauschökonomie von Gabe und Gegengabe, Do ut des, Opfer und Süh11 12

Vgl. dazu etwas weiter unten im Text der Einleitung die Bezugnahme auf Christoph Landmesser. Zum Verständnis der Reformation als Revolution vgl. Hamm, Pure Gabe ohne Gegengabe, 241–242.

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ne, Verdienst und Lohn, Tun und Ergehen geordnet“13. Im Titel seines Beitrags zum Jahrbuch für Biblische Theologie, aus dem dieses Zitat stammt, bringt Hamm das reformatorische Verständnis der Zuwendung Gottes zum Menschen, das die von ihm beschriebene Logik von Gabe und Gegengabe auflöst, prägnant auf den Punkt: „Pure Gabe ohne Gegengabe“. Die Reinheit der Gnadengabe Gottes zeichnet sich dadurch aus, dass eine Erwiderung der Gnade nicht erwartet werden darf, weil sie deren Charakter als „reiner Gabe“ entgegensteht. Nur am Rande sei hier die Frage gestellt, was es für die Plausibilität der reformatorischen Logik einer reinen, nicht auf eine Gegengabe zielenden Gabe bedeutet, wenn ihr offensichtlich – anders als der Logik von Gabe und Gegengabe – kein hohes Maß anthropologischer Plausibilität innewohnt? Auf welcher Basis kann ihre Plausibilität kommuniziert und zur Diskussion gestellt werden? Ganz konkret gefragt: Was bedeutet es, wenn eine pure Gabe per definitionem unabhängig und damit jenseits des Tun-Ergehen-Zusammenhangs operiert, um nur einen der Aspekte zu benennen, die nach Hamm durch die reformatorische Logik angeblich verabschiedet werden? Ein solches Geschehen wäre in der Tat nicht plausibilisierbar, weil es im luftleeren Raum schwebt und die geschichtliche Existenz der Menschen unberücksichtigt lässt.14 Wenn der Glaubende auf die Zuwendung Gottes nicht (selbstständig) antworten darf, welche Rolle wird ihm dann zugeschrieben? Ließe sich dann überhaupt noch von einem Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch sprechen? Dass reformatorisches Denken exegetische Arbeit an entscheidender Stelle prägt, zeigt sich im Blick auf das Matthäusevangelium in der 2001 publizierten Habilitationsschrift Christof Landmessers, „Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott“. Diese Arbeit widmet sich mit Mt 9,9–13 einer der zentralen Stellen im Matthäusevangelium, an denen der Begriff Barmherzigkeit im Rahmen des vom Evangelisten zweifach eingefügten Hoseazitats fällt: ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν („Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ [Hos 6,6]; vgl. Mt 9,13; 12,7). Im letzten Kapitel fragt Landemesser nach dem Beitrag von Mt 9,9–13 zur Soteriologie des Matthäusevangeliums und diskutiert darüber hinaus deren Bedeutung für gegenwärtige theologische Urteilsbildung.15 Dabei schließt er sich der von ihm so verstandenen paulinischen Position einer bedingungslosen und durch keine sekundäre Konditionierung verwässerten Rechtfertigung des Sünders an. Problematisch ist unseres Erachtens nun nicht, dass Landmesser den Völkerapostel und den Verfasser des

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Berndt Hamm, Pure Gabe ohne Gegengabe, 244f. Zwischen der von Hamm für reformatorisches Denken postulierten Rechtfertigung jenseits des Tun-Ergehen-Zusammenhangs und einer Rechtfertigung der Unwürdigen, denen das Heil trotz ihrer Sünden zugeeignet wird, die also im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammenhangs operiert, ist u. E. streng zu unterscheiden. So setzt die Annahme der Rechtfertigung des Sünders den Tun-Ergehen-Zusammenhang voraus, auch wenn sie diesen unterbricht (vgl. dazu z. B. Grund, Art. Sünde/Schuld und Vergebung IV. Altes Testament, Sp. 1875). Dass die Unterbrechung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs dessen prinzipielle Validität bestätigt, wird in dieser Arbeit gezeigt werden. Vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 133–157.

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Matthäusevangeliums gegenüberstellt und hier theologisch Stellung bezieht,16 sondern dass diese theologische Positionierung sein Verständnis von Mt 9,9–13 maßgeblich bestimmt. So sieht Landmesser einen Widerspruch zwischen der bedingungslosen und wirksamen Jüngerberufung, wie sie seiner Auffassung zufolge in Mt 9,9 geschildert wird,17 und der vier Verse später gegenüber der Schülerschaft Jesu erhobenen Forderung nach Barmherzigkeit (9,13).18 Somit stehen sich die bedingungslose und mit der Berufung einhergehende, in den Raum des Heils versetzende Sündenvergebung (Mt 9,9) und deren sekundäre Konditionierung durch die Forderung nach ἔλεος auf engstem Raum gegenüber (Mt 9,13). In der Terminologie der Gabe gesprochen: Während Mt 9,9 nach Auffassung Landmessers das Prinzip „Pure Gabe ohne Gegengabe“ vertritt, folgt Mt 9,13 dem Prinzip: „Keine Gabe ohne Gegengabe“.19 Damit aber wird nach Landmesser das Kriterium der Kohärenz verletzt, was die Defizite der matthäischen Soteriologie aufzeige.20 Dem paulinischen Rechtfertigungsverständnis hingegen eigne ein höheres Maß an Plausibilität, weil „Gott eben auch wirklich das schafft, was er in seinem Heilshandeln in Jesus Christus bewirken will.“21 Wir halten dieses Vorgehen für unbefriedigend: Anstatt des Versuchs, der Plausibilität der matthäischen Logik nachzuspüren und diese offenzulegen – der Evangelist sieht offensichtlich keinen Widerspruch zwischen dem Zuspruch des Heils und der Aufforderung zur Nachahmung der Barmherzigkeit Jesu, legt Landmesser von vorherein den Maßstab paulinischer Theologie an 16 17 18 19

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Vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 153–157. Nach Landmesser ist der „Akt der Berufung … wirkungsvoll und bedingungslos“ (Jüngerberufung, 142). Auf der Erzählebene erhebt der matthäische Jesus diese Forderung gegenüber den Pharisäern, für Landmesser gilt sie aber in erster Linie der Schülerschaft Jesu (vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 127). Dass das Einspielen der Gabethematik hier nicht verfehlt ist, zeigt sich daran, dass im Alten Testament Opfer als Gabe verstanden werden können (vgl. dazu Christian Eberhart, Opfer als Gabe). Das von uns monierte Auseinanderreißen von 9,9 und 9,13 funktioniert schon deshalb nicht, weil für den Verfasser des Matthäusevangeliums die Sündenvergebung durch Barmherzigkeit motiviert ist, Barmherzigkeit aber eben nicht ohne nachfolgende Bedingung gewährt wird. Das zeigt sich nirgends so deutlich wie in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35), aber auch in der Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12). Allein dieser Sachverhalt, den auch Landmesser benennt (vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 144 mit Anm. 31), rät davon ab, zwischen einer vermeintlich bedingungslosen und damit reinen Sündenvergebung (9,9) und einer diese Reinheit konterkarierende Forderung nach Barmherzigkeit (9,13) zu unterscheiden. Es wird nicht klar, auf welcher Grundlage Landmesser Sündenvergebung im Matthäusevangelium als bedingungslos beschreibt. Auch das zeigt, dass Landmesser die Vorstellung einer bedingungslosen Sündenvergebung (vgl. das Zitat in Anm. 17) an das Evangelium heranträgt. Landmesser, Jüngerberufung, 155. Landmesser, Jüngerberufung, 155. Während nach Hamm das von Paulus her gewonnene reformatorische Rechtfertigungsverständnis die Logik von Gabe und Gegengabe, „der ein hohes Maß an anthropologischer Plausibilität innewohnt“ (Pure Gabe ohne Gegengabe, 244) in Frage stellt, zeichnet sich das paulinische Verständnis der Rechtfertigung nach Landmesser offenbar gerade durch seine Plausibilität aus.

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das Matthäusevangelium an: Aus der Perspektive des Konzepts einer voraussetzungslos und bedingungslos gewährten Gabe muss die Forderung nach Barmherzigkeit als im Widerspruch dazu stehend wahrgenommen werden. Die matthäische Soteriologie dient hier als Negativfolie paulinischer Theologie, ohne dass der Versuch unternommen worden wäre, das Zusammenspiel zwischen der Gewährung von Barmherzigkeit und der Forderung, diese in den zwischenmenschlichen Beziehungen nachzuahmen, von seinen eigenen Voraussetzungen her zu erheben. Darin aber besteht die eigentliche exegetische Aufgabe. Vor dem Hintergrund der Annahme Landmessers, die Wirksamkeit der göttlichen Gabe (konkret: der Sündenvergebung) werde durch die Forderung einer umfassenden Zuwendung zu Gott (= Barmherzigkeit) konterkariert, ist es das Ziel der vorliegenden Arbeit, der mit dem Begriff ἔλεος verbundenen Beziehungsdynamik zwischen Gott und Mensch nachzuspüren und diese zu plausibilisieren. Sie untersucht den soteriologischen Leitbegriff ἔλεος, der sich an drei Stellen des Evangeliums findet (Mt 9,13; 12,7; 23,23), an den ersten beiden Stellen als Teil des Zitats aus Hos 6,6: „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ (ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν).22 Vor der Analyse dieser drei Stellen im zweiten Kapitel der Arbeit, widmet sich das erste Kapitel der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,21–35), in der der Stamm ἔλε- an prominenter Stelle Verwendung findet und die ethische Forderung zwischenmenschlich zu gewährender Barmherzigkeit theologisch eingebettet wird: So charakterisiert der für Gott transparente König seinen Schuldenerlass als Akt der Barmherzigkeit und schilt seinen Knecht dafür, trotz der ihm gewährten Barmherzigkeit unbarmherzig an seinem Mitknecht gehandelt zu haben (18,32– 33). Diesen beiden Kapiteln, auf denen der Schwerpunkt der Arbeit liegt, folgt mit dem dritten und letzten Kapitel eine Verhältnisbestimmung des Terminus ἔλεος zu anderen theologischen Leitbegriffen bzw. Leitkonzeptionen des Matthäusevangeliums. Hier gilt es, das Verhältnis der Barmherzigkeit zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), zur Liebe (5,43; 19,19; 22,39) und Feindesliebe (5,44) und zur Goldenen Regel (7,12) zu untersuchen. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildet die Exegese und Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,21–35), die Exegetinnen und Exegeten theologisch immer wieder vor ein Problem gestellt hat: Widerspricht das Strafhandeln des für Gott transparenten Herrn der Parabel in der dritten Szene der Parabel (V. 31–34) nicht dem ursprünglich gewährten Barmherzigkeitserweis der ersten Szene (V. 23–27)? Ist auf einen Herrn, der seinen einmal gewährten Schuldenerlass 22

Die Krankenheilungen Jesu, im Kontext derer die Kranken Jesus um sein Erbarmen bitten (vgl. 9,27; 15,22; 17,15; 20,30f.), werden nicht eigens interpretiert, da in dieser Arbeit nicht so sehr die relativ offen zu Tage liegenden Konkretionen der Barmherzigkeit, sondern vor allem diejenigen semantischen Aspekte von ἔλεος im Mittelpunkt des Interesses stehen, die sich aus dem Verhältnis zwischen Barmherzigkeit und Recht/Gerechtigkeit (Parabel vom unbarmherzigen Knecht) und aus der Verhältnisbestimmung von Gottesliebe und Nächstenliebe, die in Hos 6,6 im Blick ist, ergeben. Auch auf die fünfte Seligpreisung (Mt 5,7) wird nicht in einem eigenen Abschnitt eingegangen.

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zurücknimmt, überhaupt noch Verlass? Theologisch gesprochen: Können wir unseres Heils noch gewiss sein, wenn Gott seine Barmherzigkeit zurückziehen kann? Die Frage nach der Vereinbarkeit von Mitleid (V. 27) und Zorn (V. 34) bzw. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Gottesbild stellt sich in der Parabel insbesondere als Frage nach der normativen Dimension der Barmherzigkeit, die die Scheltrede des Königs, auf die die Parabel zuläuft, deutlich vor Augen führt: „Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. 33 Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“ In diesen Aussagen des Königs werden die Gewährung der Barmherzigkeit und die Erwartung ihrer Erwiderung intrinsisch miteinander verknüpft: Die Notwendigkeit23 der imitatio der Barmherzigkeit ist nach Auffassung des Evangelisten offensichtlich nicht von ihrer göttlichen Gewährung zu trennen. Bei unserer Interpretation der Parabel gilt es, der inneren Plausibilität dieser Barmherzigkeitssemantik nachzuspüren, sie zu entfalten und theologisch zu würdigen. Dabei wird sich die Frage nach der Differenz zwischen der Normativität des Rechts (Schulden müssen zurückgezahlt werden) und der Normativität der Barmherzigkeit (ἔλεος muss erwidert werden) als entscheidender hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Parabel erweisen. Wird hier, wie etwa Zehetbauer annimmt, Liebe zum Gesetz?24 Der eigenen Interpretation, deren Fokus auf der sprachlichnarrativen Analyse und vor allem auf einer ausführlichen semantischen Analyse des griechischen Begriffs ἔλεος und seines hebräischen Äquivalents ‫ חֶ סֶ ד‬liegt, wird die Diskussion von zwei wissenschaftlichen Strategien vorgeschaltet, die die normative Dimension der Barmherzigkeit marginalisieren und je auf ihre Weise versuchen, die Reinheit der Gnade und – als deren Kehrseite – die Heilsgewissheit der Glaubenden zu sichern: In kritischer Auseinandersetzung mit Versuchen, die ursprüngliche Version der Parabel ohne das in V. 34 berichtete Strafhandeln zu rekonstruieren (Wolfgang Harnisch)25 bzw. die Gerichtsdrohung als „Einschärfung der Liebe“26 funktional in den Dienst der Liebe zu stellen (Ulrich Luz), soll ein neues Verständnis der Parabel erarbeitet und profiliert werden. Im Rahmen der Exegese von Mt 18,23–35 (und auch der darauffolgenden Kapitel) werden punktuell immer wieder Aspekte der (Maussschen) Gabetheorie eingespielt, die in den verschiedenen theologischen Disziplinen Konjunktur hat.27 So

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Eta Linnemann spricht im Blick auf das Wörtchen ἔδει (V. 33) vom „tiefen Ernst eines heiligen Gesetzes“ (Gleichnisse Jesu, 116), Dan Otto Via von „göttliche[r] Notwendigkeit“ (Gleichnisse Jesu, 136). Zehetbauer, Polarität, 212. Harnisch, Gleichniserzählungen. Luz, Matthäus Bd. 3, 81. Vgl. den 27. Jahrgang des von Bernd Janowski und Berndt Hamm herausgegebenen Jahrbuchs für Biblische Theologie von 2012, der sich dem Thema: „Geben und Nehmen“ widmet, bzw. den 2016 u. a. von der katholischen Theologin Veronika Hoffmann herausgegebenen Sammelband: „Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion“, der ethische, theologische und sozialtheoretische Untersuchungen zur Gabe ins Gespräch miteinander bringt.

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charakterisiert der Systematiker Oswald Bayer im Handwörterbuch Religion in Geschichte und Gegenwart Gabe als „Urwort der Theol[ogie]“28, während der Neutestamentler John M. G. Barclay die paulinische Theologie in seiner neusten Monographie unter das Leitwort der Gabe (gift) stellt.29 Eine Einspielung der Gabetheorie legt sich auch deshalb nahe, weil das matthäische „Vorzugswort“30 ἀποδíδωμι (zurückgeben, erstatten) siebenmal in der Parabel verwendet wird (18,25 [2mal]; 26; 28; 29; 30; 34). Das Verb kann im Matthäusevangelium sowohl den Menschen (an den genannten Stellen der Parabel und 21,41) als auch Gott als Subjekt (6,4.6.18; 20,8; vgl. 16,27) mit sich führen und ist somit Ausdruck der Gegenseitigkeit der Gott-Mensch-Beziehung.31 Die Parallelen und Unterschiede zur Gabetheorie, der zufolge eine freiwillig gewährte Gabe auf eine aus freien Stücken gewährte Erwiderung zielt,32 können dazu beitragen, das matthäische Verständnis von Sozialität besser zu fassen und in seinem historischen Kontext zu verorten.33 Im Anschluss an die Exegese der „Parabel vom unbarmherzigen Knecht“ (Mt 18,23–35) werden im zweiten Kapitel mit Mt 9,13; 12,7 und 23,23 diejenigen Stellen, an denen der Verfasser des Matthäusevangeliums das Substantiv ἔλεος verwendet, in ihrem jeweiligen Kontext untersucht. Dabei soll hinsichtlich der Rezeption von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7 gezeigt werden, dass die auch in der Parabel zu beobachtende Verschränkung der Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen über den Begriff ἔλεος bzw. sein hebräisches Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬erfolgt: Der Evangelist profiliert im Rückgriff auf Hos 6,6, eine der wenigen Aussagen des Alten Testaments, die von einem menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis gegenüber Gott sprechen (Jes 40,6; Jer 2,2; Hos 4,1; 6,4.6; 10,12; 12,7; Mi 6,8; Sach 7,9), die am Mitmenschen geübte Barmherzigkeit als hervorragendsten Ort der Gottesbeziehung und diese als wechselseitige: So wie die Opfer die Beziehung zum Gott Israels gestalten, so gestaltet auch die Zuwendung zum Nächsten diese Beziehung, und das in einem höheren Maße: Barmherzigkeit ist mehr als Opfer und sie gilt wie diese letztendlich Gott selbst. Ein Vergleich mit der Rezeption von Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition kann dabei zeigen, dass die in der Opferdarbringung vorausgesetzte Gottesgegenwart auf die Zuwendung zum Mitmenschen übertragen

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Vgl. darüber hinaus auch den von der Alttestamentlerin Alexandra Grund 2015 herausgegebenen Sammelband „Opfer, Geschenke, Almosen“, der den Untertitel: Die Gabe in Religion und Gesellschaft trägt. Oswald Bayer, Art. Gabe II. Systematisch–theologisch, Sp. 445. Barclay, Paul and the Gift. So Sand, Art. ἀποδίδωμι, Sp. 307; vgl. Weber, Schulden, 253. Dass in der Parabel ἀποδίδωμι konkret die Rückzahlung der Schuld seitens des Knechtes bezeichnet und der König die Schuld erlässt, ist also nicht dahingehend misszuverstehen, als würde der Knecht aus seinem Abhängigkeitsverhältnis entlassen. Der Schuldenerlass verpflichtet, allerdings, wie in dieser Arbeit gezeigt werden wird, auf einer anderen Ebene als die Pflicht, Schulden zurückzuzahlen. Vgl. Mauss, Die Gabe. Eine Interpretation der Parabel vor dem Hintergrund der antiken Gabetheorie haben bisher Jesper T. Nielsen, Ökonomie der Generosität, und Ole Davidsen, Geben und nehmen, 137– 141, vorgelegt.

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wird: So treten in Avot deRabbi Natan 4 (A), einem Kommentarwerk zum Mischnatraktat Avot, die Liebeswerke, zu denen in der rabbinischen Tradition die Aufnahme Fremder und der Besuch von Kranken zählen (vgl. Mt 25,31–46),34 an die Stelle der Opfer. Die Gottesgegenwart in Kult und Ethik erweist sich hier als Voraussetzung dafür, dass die Liebeswerke den nach der Zerstörung des Tempels nicht mehr möglichen Opferkult ersetzen können und gleichsam – so wird im Blick auf die Rezeption von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7 zu zeigen sein – als Voraussetzung für die matthäische Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber den Opfern. Bei der Exegese von Mt 12,1–7 wird zu zeigen sein, dass dieses Verständnis von Barmherzigkeit: Auf Grundlage von – über hinaus (auf der Grundlage der Gottesgegenwart in Kult und Ethik erfolgt eine Priorisierung der Ethik), auch für den Umgang des matthäischen Jesus mit Tora und Propheten ausschlaggebend ist. Der Gegenseitigkeitscharakter der Barmherzigkeit wirft die Frage auf, wie sich ἔλεος zu den anderen theologischen Leitbegriffen bzw. Leitkonzepten im Matthäusevangelium verhält. Dieser Frage soll in einem dritten Kapitel eigens nachgegangen werden. Hier ist insbesondere an das Verhältnis der Barmherzigkeit zur „größeren Gerechtigkeit“ (Mt 5,20), zum Feindesliebegebot (Mt 5,43–48) und zur Goldene Regel (Mt 7,12) zu denken. Die den Hauptteil der Bergpredigt (Mt 5,17– 7,12) abschließende Goldene Regel stellt die Exegeten immer wieder vor das Problem, dass sie auch in ihrer positiven Fassung auf Gegenseitigkeit zielt, was aber der vorausgesetzten Einseitigkeit des Feindesliebegebot (Mt 5,43–48), auf das die Kommentarworte Jesu35 zulaufen (Mt 5,21–48), entgegensteht. Dementsprechend wird die Gegenseitigkeit der Goldenen Regel vom Feindesliebegebot als deren „zentralste[r] Vorspruch“36 korrigiert bzw. zu zeigen versucht, dass sie „weder dem Vergeltungs- noch dem Reziprozitätsdenken verhaftet ist“37. In der vorliegenden Arbeit soll der Spieß einmal umgedreht und im Anschluss an Wolfgang Stegemann der Frage nachgegangen werden, ob Feindesliebe nicht als auf eine positive Gegenseitigkeit zielende Durchbrechung negativer Reziprozität verstanden werden kann.38 Ein Verständnis der Feindesliebe im Rahmen eines Vergeltungs- bzw. Reziprozitätsdenkens stünde zwar der klassischen Interpretation der Feindesliebe als unilaterale entgegen, hätte aber für sich, dass sich zentrale theologische Konzepte wie das der Barmherzigkeit und das der Feindesliebe nicht widersprechen würden. Beide zielen auf Gegenseitigkeit, auch wenn das Risiko, nicht erwidert zu werden,

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Die in Mt 25,31–46 genannte Speisung Hungernder und die Kleidung Nackter zählen in der rabbinischen Tradition zu den Werken der Gerechtigkeit. Zur Unterscheidung von Taten der Barmherzigkeit bzw. Taten der Gerechtigkeit und deren Konvergenzen in der rabbinischen Literatur vgl. Müller, Diakonie, 81–221 bzw. 358–363. Wir verwenden diesen Begriff für die sogenannten Antithesen im Anschluss an Martin Vahrenhorst, Matthäus im halachischen Diskurs. Luz, Matthäus Bd. 1, 511. Konradt, Matthäus, 122. Vgl. Kollmann, Goldene Regel, 112. Vgl. Wolfgang Stegemann, Gabenkultur, 113–115. Ähnlich Maschmeier, Concept of Reciprocity.

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bei der Feindesliebe ungleich größer ist als bei der die Nächstenliebe konkretisierenden Barmherzigkeit. Aber selbst Liebe und Barmherzigkeit sind mit dem Risiko verbunden, dass ihnen nicht entsprochen wird. Das zeigt wiederum die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (18,23–35) in aller Deutlichkeit. Die in dieser Einleitung vorgenommene Einbettung der Untersuchung in ihren theologiegeschichtlichen und zeitgeschichtlichen Kontext hat gezeigt, wie sehr auch die gegenwärtige Theologie inklusive der neutestamentlichen Wissenschaft vom reformatorischen Grundsatz des sola fide im Sinne einer Opposition des passiv empfangenen Glaubens zu den aktiven menschlichen Werken geprägt ist. Die Betonung der Einseitigkeit der Gnade ist mit der Abwehr jeglicher Wechselseitigkeit im Gott-Mensch-Verhältnis verbunden, die als Infragestellung der Wirksamkeit der göttlichen Zuwendung durch sekundäre Konditionierung (Landmesser) bzw. als eine problematische Ökonomisierung der Gott-Mensch-Beziehung und der zwischenmenschlichen Beziehungen gewertet wird (Hamm). Während die Kritik der sekundären Konditionierung mit der negierten Wechselseitigkeit den Beziehungsaspekt gewährter Güte aus dem Blick verliert, der sowohl für den griechischen Begriff ἔλεος als auch sein hebräisches Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬wesentlich ist, verkennt die Gleichsetzung von Gabehandeln mit einem Tauschgeschäft die für das Selbstverständnis antiker Texte zur Gabe wesentliche und fundamentale Differenz zwischen beiden: Beim Gabehandeln geht es anders als in Tauschgeschäften um die Aufnahme und Gestaltung von Beziehungen. Die der Gabe und den Begriffen ἔλεος und ‫ חֶ סֶ ד‬innwohnende Spannung zwischen Freiwilligkeit und Normativität ist gerade kein Kennzeichen ökonomischen Handelns und verhindert ein mechanistisches Verständnis von Beziehung.39 In dieser Arbeit soll der Beziehungscharakter des soteriologischen Leitterminus ἔλεος aufgezeigt und die ihm inhärente Beziehungsdynamik entschlüsselt und theologisch gewürdigt werden. Zugespitzt lautet die Frage, die sich bei einem vermeintlichen Gegenüber von matthäischer und paulinischer Soteriologie ergibt: κοινωνία oder sola gratia.

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Dass Beziehungen nicht mechanistisch instrumentalisiert werden, wird also nicht dadurch verhindert, dass der Gegenseitigkeitscharakter negiert wird. Vielmehr besitzt der Pol der Freiwilligkeit die Funktion, eine mechanistische Vorstellung von Beziehung zu verhindern.

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Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Die Auslegungsgeschichte der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) ist durch zwei einander entgegengesetzte Tendenzen gekennzeichnet. So wurde einerseits immer wieder betont, dass die Parabel in sich selbst verständlich sei. In diesem Sinne bemerkte Theodor Zahn vor mehr als hundert Jahren: „Im übrigen bedarf das Gleichnis kaum einer Auslegung“40. In ähnlicher Weise äußert sich in der Gegenwart Hubert Frankemölle mit seiner Feststellung, dass „[d]ie dreigeteilte Parabel … in sich durch und durch verständlich [wirkt]“ und dass es „[a]uch ohne die Kenntnis der mit einer solchen gewaltigen Verschuldung damals implizierten realen pekuniären und juristischen Dimensionen … einem Leser auch heute durchaus möglich [ist], der Logik der Erzählung zu folgen“41. Diesem Urteil einer auch für den modernen Leser leichten Verständlichkeit der Parabel stehen vielfältige Diskussionen um ihre Gesamtaussage entgegen, die sich in der Regel um das Verhältnis der Affekte des Erbarmens (V. 27) und des Zornes (V. 34) des für Gott transparenten Königs/Herrn der Parabel drehen. Während nach Kurt Erlemann beide Affekte „einander zugeordnet und im Willen Gottes, dem zur Umkehr bereiten Sünder einen Neuanfang zu ermöglichen, begründet“42 sind,43 darf nach Hans Weder das durch den Zorn motivierte „über den Knecht hereinbrechende Gericht … gar nicht mehr erzählt werden, denn es relativiert die zuvorkommende Barmherzigkeit Gottes“44. Und nach Markus Zehetbauer ist das in V. 34 berichtete Vergeltungshandeln des Königs Ausdruck einer „Ressentiment-Moral“45, die Liebe zum Gesetz mache.46 Drastischer noch bringt Boris Repschinski die empfundene Widersprüchlichkeit der Parabel auf den Punkt: „Auf der einen Seite zeigt es Gott als einen Herrn, der sich von Mitleid bewegen lässt und der voller Barmherzigkeit ist. 40 41

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Zahn, Matthäus, 577. Beide Zitate bei Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 267. Vgl. auch die folgende Aussage Weisers: „Der Inhalt der Erzählung ist so einfach, und er zielt so klar auf den Sinngipfel hin, daß man über ihn nicht viele Worte machen muß“ (Knechtsgleichnisse, 93). Ähnlich Jülicher, Gleichnisreden Jesu Bd. 2, 305; Luz, Matthäus Bd. 3, 68. Erlemann, Bild Gottes, 90. Die meisten Exegeten unterteilen die Parabel in drei Szenen (V. 23–27/28–30/31–34): Vgl. z. B. Erlemann, Bild Gottes, 76; Harnisch, Gleichniserzählungen, 255–256; Luz, Matthäus Bd. 3, 65 (Beginn der ersten Szene mit V. 24); Roose, Aufleben der Schuld, 446; Snodgrass, Stories with Intent, 62; Schneider, Barmherzigkeit und Zorn, 161 Anm. 4; vgl. Konradt, Matthäus, 294–295. Gelegentlich findet sich auch der Vorschlag, das Auftauchen der Mitknechte in V. 31 als eigene Szene zu werten (so Leutzsch, Verschuldung, 107; Nielsen, Ökonomie der Generosität, 31–32). Weder, Gleichnisse Jesu, 215 (Kursiv des Originals rückgängig gemacht). Zehetbauer, Polarität, 214 (Kursiv des Originals rückgängig gemacht). Zehetbauer, Polarität, 212, spricht von einer Verrechtlichung der Barmherzigkeit.

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

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Auf der anderen Seite zeigt es einen Gott, dessen Vergeltung schrecklich ist.“47 Erbarmen und Zorn, Barmherzigkeit und Gericht werden also einander zugeordnet oder als sich ausschließende Gegensätze empfunden. Die verschiedenen Auslegungen ringen um eine angemessene Verhältnisbestimmung dieser beiden Pole.48 Wenn in der vorliegenden Arbeit diese Polarität im Gottesbild als Polarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gefasst wird, so ist gleich zu Beginn darauf hinzuweisen, dass die Parabel explizit ausschließlich von einem barmherzigen Handeln Gottes respektive der Notwendigkeit eines solchen auf Seiten des unbarmherzigen Knechtes spricht. So ist in der direkten Rede des Königs, auf die die Parabel in der dritten Szene zuläuft und in der sie ihren Skopus besitzt, gleich zweimal davon die Rede, dass Barmherzigkeit erwiesen wurde bzw. zu erweisen gewesen wäre: „32 Da rief ihn sein Herr herbei und sagt ihm: ‚Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. 33 Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?‘“49 Trotz des Fehlens des δικ-Stamms spielen die Dimensionen der Gerechtigkeit und des Rechts von Anfang an eine hervorgehobene Rolle. So ist das Schuldner-Gläubiger-Verhältnis, als das die Beziehung zwischen dem König/Herrn und seinem Knecht in der Parabel gefasst ist, prinzipiell ein Rechtsverhältnis, und der durch Mitleid motivierte (V. 27) und als Barmherzigkeit gekennzeichnete Akt des Schuldenerlasses (V. 33) als Rechtsverzicht zu verstehen.50 Dabei setzt der Rechtsverzicht die Gültigkeit des Rechts positiv voraus: Nur weil gilt, das Schulden zurückgezahlt werden müssen, wird der Schuldenerlass als Akt der Barmherzigkeit erkennbar. Überspitzt könnte man sagen: Gerade der Rechtsverzicht bestätigt die (bleibende) Gültigkeit des Rechts. Wie zu zeigen sein wird, spielt die Parabel mit dieser Differenz der Barmherzigkeit zum und ihrer Bezogenheit auf das Recht, so dass M. Zehetbauer zuzustimmen ist, wenn er in Anlehnung an Joachim Jeremias davon spricht, dass „das Gleichnis … nur auf dem Hintergrund der Problematik einer Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu verstehen [ist]“51. Zum methodischen Vorgehen: Anders als sonst üblich beginnt die eigenständige Analyse der Parabel mit einer kritischen Auseinandersetzung mit Positionen, die in theologischer Hinsicht paradigmatisch für die Verhältnisbestimmung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind und die Forschungslandschaft bestimmen (zu diesen Positionen und ihrem Vorverständnis siehe die folgenden Absätze). Die eigenen exegetischen Entscheidungen werden in der Diskussion dieser Positionen gewonnen, entfaltet und mit dem Ziel profiliert, ein neues Verständnis der Parabel 47 48 49 50 51

Repschinski, Erbarmen und Gericht, 316. Weber spricht hinsichtlich der beiden Pole von Vergebung und Vergeltung (vgl. Weber, Vergeltung oder Vergebung!?). Dies hat einiges für sich: So stellen die beiden Verben ἀφίημι (vergeben) und ἀποδίδωμι (vergelten) Leitmotive der Parabel dar. Eine vollständige Übersetzung der Parabel findet sich am Ende dieses Kapitels in Abschnitt 1.5. Vgl. Zehetbauer, Polarität, 211. Zehetbauer, Polarität, 204 (Kursiv des Originals rückgängig gemacht).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

zu plausibilisieren. Dabei sind wir uns dessen bewusst, dass die hier angestrebte Interpretation der Parabel in ihrer Distanz zu den kritisierten Positionen und dem damit verbundenen Vorverständnis auf dieses bezogen bleibt und somit selbst nicht voraussetzungslos ist. Ziel ist also nicht so sehr, voraussetzungslose Exegese zu treiben, sondern eine Interpretation anzubieten, die der von der Parabel transportierten und dem Verfasser des Matthäusevangeliums aufgegriffenen Polarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Rechnung trägt. Dass es sich bei der Annahme einer Polarität nicht ihrerseits um eine Prämisse handelt, zeigt sich daran, dass die Interpretation der Parabel häufig von theologischer Sachkritik begleitet wird. Der Umstand, dass in der Parabel barmherziges und richtendes Handeln des für Gott transparenten Königs gegenüberstehen, lässt sich offenbar nur schlecht leugnen. Um welche u. E. unsachgemäßen theologischen Prämissen geht es nun? In vielen Fällen sind die Interpretationen der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) von der Auffassung geprägt, dass die Darstellung eines strafenden bzw. vergeltenden Handeln Gottes im Widerspruch zur Rede von Gottes Barmherzigkeit steht. So habe der Evangelist durch eine als problematisch zu beurteilende stärkere Gewichtung der dritten Szene, die in der Anwendung der Parabel in V. 35 augenfällig werde („So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.“), den Gerichtsgedanken intensiviert, was ihrer ursprünglichen Aussageintention entgegenstehe. Gerechtigkeit werde, so die theologische Kritik, auf Kosten der Prävalenz der Barmherzigkeit stark gemacht.52 Am offensichtlichsten findet dieses Vorverständnis exegetisch dort seinen Niederschlag, wo unter der Prämisse einer Unvereinbarkeit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit V. 34 oder gar die gesamte dritte Szene (V. 31–34) der Tradition oder dem Verfasser des Matthäusevangeliums zugeschrieben wird. Es ist aber auch etwa bei Ulrich Luz vorhanden, der seiner vorsichtig und behutsam vorgetragenen theologischen Kritik am Evangelisten in Frageform Ausdruck verleiht. So stellt er – seine Interpretation der Parabel abschließend – die Fragen, ob „das Gericht bei Matthäus ein Hilfsgedanke [ist], der das Leben in der Gnade einüben hilft? Oder ist das Gericht der eigentlich tragende Gedanke, weil der Mensch sich auf die Gnade nie völlig verlassen kann?“53 Wenn Christfried Böttrich in einem Beitrag zu den Gerichtszenarien im Neuen Testament die behutsame Kritik von Luz seinerseits treffend u. a. in der Frage zusammenfasst, ob „sich nicht der Gerichtsgedanke [verselbständigt], indem er die Verlässlichkeit der Gnade aufhebt?“54, dann zeigt sich

52 53 54

Zur Auseinandersetzung mit dieser und anderer theologischer Sachkritik am Gerichtsgedanken vgl. ausführlich den Abschnitt 1.1. Luz, Matthäus Bd. 3, 78. Böttrich, Gerichtsszenarien, 131. Zehetbauer bringt die dahinterstehende Logik treffend auf den Punkt: „Für viele ist Gott nur dann barmherzig, wenn er es bedingungslos und immer ist“ (Befristete Barmherzigkeit, 237).

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

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hier in besonderer Weise der theologische Maßstab, der an das Matthäusevangelium herangetragen wird: Es geht letztendlich um die Frage, inwieweit theologisch legitim über das Gericht gesprochen werden darf, ohne die Heilssicherheit der Glaubenden in Frage zu stellen. Während die Zuschreibung von V. 34 oder der gesamten dritten Szene zur Tradition respektive Redaktion die Darstellung des vergeltenden Handelns Gottes ganz streicht, wählt Luz eine andere Antwort: Gerechtigkeit wäre in dem Fall mit Barmherzigkeit unvereinbar, dass sie dieser nicht funktional zugeordnet wäre. Käme ihr eine eigenständige Bedeutung zu, käme es also zu einer Verselbständigung des Gerichtsgedankens, würde das die Rede von der Barmherzigkeit bedrohen.55 Es wird deutlich: Unabhängig davon, ob das richtende Handeln ganz ausgeschlossen oder aber die Gerechtigkeit der Barmherzigkeit funktional zugeordnet wird, die Rede vom Gericht bzw. der Gerechtigkeit fordert die neutestamentliche Forschung theologisch heraus: Sie steht offenbar in der Gefahr, die Rede von der Barmherzigkeit von innen her auszuhöhlen. Die Deutungshoheit des skizzierten Vorverständnisses zeigt sich auch dort, wo die leichte Verständlichkeit der Parabel betont und damit zumindest implizit die Polarität zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als zwei Handlungsweisen des für Gott transparenten Königs anerkannt wird. Erstaunlicherweise aber bleibt eine theologische Elaboration dieser Polarität aus, sie wird einfach vorausgesetzt und nicht näher erläutert. So wird nicht nach den theologischen Implikationen einer dynamischen, nicht auflösbaren Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gefragt. Dass dieser Polarität nicht weiter nachgegangen wird, zeigt auf seine Weise die Scheu davor, dem Gerichtsgedanken eine Bedeutung zuzumessen, die nicht zu einem reformatorischen Barmherzigkeitsverständnis passt, dem zufolge die Barmherzigkeit Gottes ein (erneutes) richterliches Handeln ausschließt (und auf diese Weise die von Luz und Böttrich eingeklagte Heilsicherheit sicherstellt). Diese Scheu trägt damit dazu bei, das reformatorische Vorverständnis zu stärken und die Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit außen vor zu lassen. Dieses Forschungsdesiderat beabsichtigt die vorliegende Arbeit zu beheben. Es wird gezeigt werden, dass von Barmherzigkeit theologisch nur in ihrer Differenz und ihrem bleibenden Bezug auf die Gerechtigkeit gesprochen werden kann. Gerade die Eigenständigkeit der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit – bei bleibendem Bezug aufeinander – stellt u. E. einen Schlüssel zum Verständnis des matthäischen Gottesbildes dar. Erst wenn dieses matthäische Verständnis der dynamischen Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit entfaltet worden ist, kann legitimerweise ein Vergleich zwischen dem reformatorischen und matthäischen Verständnis von Barmherzigkeit vorgenommen und (im gegebenen Fall) Sachkritik geübt werden. Es sei schon jetzt gesagt, dass eine einfache Zurückweisung der matthäischen Konzeption, und geschehe sie noch so vorsichtig, nicht mehr möglich ist: Auf dem Spiel steht die Lebendigkeit und der Gegenseitigkeitscharakter der Gottesbeziehung. 55

Luz, Matthäus Bd. 3, 77–78.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Zur Struktur: In einem ersten Schritt (1.1) sollen verschiedene Positionen vorgestellt und kritisch diskutiert werden, die theologische Kritik an dem in der Parabel präsenten Gerichtsgedanken vortragen. Wie wir bereits gesehen haben, bestimmt die Frage, ob erst der Evangelist die Gerichtsvorstellung einführt oder aber, wo diese schon für die ursprüngliche Parabel vorausgesetzt wird, intensiviert, eine Vielzahl von Auslegungen. Unter der Annahme eines unvereinbaren Gegensatzes zwischen Vergebung und Vergeltung zielen diese in der Regel darauf, das in der dritten Szene, besonders in V. 34 narrativ Entfaltete, spätestens aber die Anwendung der Parabel in V. 35 zugunsten der ersten Szene und der dortigen Darstellung der vorangehenden Barmherzigkeit Gottes zu marginalisieren. Die zu diesem Zweck angewandten Strategien sind vielfältig. Zwei übergreifende Strategien, die Rekonstruktion der ursprünglichen Gestalt der Parabel56 und die rhetorische Funktionalisierung der Gerichtsaussagen im Sinne einer „Einschärfung der Liebe“57, sollen dargestellt und kritisch diskutiert werden. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner besteht in der Prämisse, dass die Rede vom Gericht die Rede von der Barmherzigkeit bedroht und deshalb entweder ganz von ihr getrennt oder aber begrenzt werden muss. In der Darstellung und Diskussion dieser Positionen und Strategien, insbesondere der traditions- und redaktionsgeschichtlich orientierten Versuche der Rekonstruktion der ursprünglichen Form der Parabel, werden die eigenen exegetischen Entscheidungen entfaltet und ein neues Verständnis der Barmherzigkeit und ihres Verhältnisses zur Gerechtigkeit plausibilisiert. Daran schließt sich eine eigenständige Interpretation der Parabel (1.2) an, bei der die in den Diskussionen der verschiedenen vorgestellten Strategien vorgenommenen exegetischen Entscheidungen vertieft erläutert werden. Im Zentrum steht hier eine semantische Tiefenbohrung (1.2.2). So soll nach einer sprachlichnarrativen Analyse (1.2.1) der ἔλε-Stamm und sein hebräisches Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬in den Blick genommen werden (1.2.2.2). Hier wird gezeigt werden, dass ἔλεος ebenso wie sein hebräisches Ursprungswort durch die dynamische und unauflösbare Spannung von Freiwilligkeit und Normativität gekennzeichnet ist. Dieser Sachverhalt ist für das Verständnis der Parabel entscheidend, unterstreicht er doch die Notwendigkeit der Erwiderung eines ἔλεος-Erweises, der dessen Freiwilligkeitscharakter nicht konterkariert. Überspitzt formuliert: Dem Begriff ἔλεος selbst ist eine normative Dimension eigen, so dass das richterliche Handeln des Königs nicht nur von den Mitknechten (Mt 18,31), sondern auch von den Leserinnen und Lesern der Parabel geradezu erwartet wird. Dieses Verständnis von ἔλεος wird anhand der Diskussionen um die Bedeutung des hebräischen Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬gewonnen, die sich in struktureller Analogie zum umstrittenen Verständnis der Parabel um die Frage drehen, inwiefern ‫ חֶ סֶ ד‬zu den Rechten und Pflichten innerhalb eines bestehenden Bundesverhältnisses gehört (so die These Nelson Gluecks58) oder aber freiwillige Akte der Güte bezeichnet, die über das Recht hinausgehen (so vor allem 56 57 58

Luz spricht hier von einer „Sachkritik durch Traditionsgeschichte“ (Matthäus Bd. 3, 67). Luz, Matthäus Bd. 3, 81. Glueck, Das Wort ḥesed.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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Alfred Jepsen59). Darüber hinaus spielt wie in der Parabel auch beim Terminus ‫חֶ סֶ ד‬ die Frage nach einer angemessenen Verhältnisbestimmung von göttlich gewährter und zwischenmenschlich zu gewährender Güte eine wichtige Rolle. Gegenüber der Vorstellung einer durch die Rede vom Gericht begrenzten Barmherzigkeit gilt es zu zeigen, dass der Gegenseitigkeitscharakter der Güte für das Verständnis von ἔλεος grundlegend ist: Für ἔλεος und ‫ חֶ סֶ ד‬besteht das Wesen der Gott-Mensch-Beziehung und der zwischenmenschlichen Beziehungen in ungeschuldeter Gegenseitigkeit, wobei der zwischenmenschlich zu gewährende ‫ חֶ סֶ ד‬so geübt werden soll, als gälte er Gott selbst. In Abschnitt 1.3 soll der Blick über das Verb ἐλεέω hinaus geweitet und die Frage nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln des matthäischen Gottesbildes gestellt werden. Dabei wird mit der von Hermann Spieckermann sogenannten alttestamentlichen Gnadenformel: „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte“60, eine mögliche Wurzel vorgeschlagen,61 die auf Grundlage der Prävalenz des Heilswillens Gottes eine Polarität zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit voraussetzt. Wie ein Blick auf die alttestamentlichen Diskussionen um die sogenannte Gnadenformel zeigt, spielt auch in diesen die Frage nach einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit eine hervorgehobene Rolle. Auch hier finden sich Versuche, den Zorn Gottes zu domestizieren und als eigenständiges „Attribut“ Gottes zu nivellieren.62 Im Anschluss an eine Bündelung der Ergebnisse und ihre Profilierung in Auseinandersetzung mit der Position Hans-Joachim Ecksteins (1.4) mündet dieses Kapitels in eine eigenständige Übersetzung (1.5).

1.1

Wissenschaftliche Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens in der Interpretation der Parabel

In diesem Abschnitt sollen zwei verschiedene Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens in der Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht vorgestellt werden. Während eine erste Strategie den Gerichtsgedanken in und 59 60 61 62

Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit. Übersetzung von Psalm 103,8 in der Lutherbibel, Revision von 2017. Eine Auflistung der anderen Stellen im Alten Testament, an denen die Gnadenformel vorkommt, findet sich in Anm. 393. Vgl. Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“, 18. Wenn in den deutschen Übersetzungen die hebräische Wendung ‫אֶ ֶר אַ פַּיִ ם‬, die von der Langsamkeit (Gottes) zum Zorn spricht, mit „geduldig“ (Lutherbibel, Revision 2017) bzw. „langmütig“ (Zürcher Bibel, Revision 2007; Einheitsübersetzung, Revision 2016) wiedergegeben wird, dann verschwindet der Zorn aus dem Blickfeld.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

durch eine Rekonstruktion des ursprünglichen Umfangs der Parabel ausscheidet und so der angeblich vom Evangelisten propagierten Botschaft von der Vergeltung die Botschaft von der Barmherzigkeit (Jesu) gegenüberstellt, stellt eine zweite Strategie die Gerichtsaussagen in den Dienst der Aussagen über die Barmherzigkeit. Sie dienen dann in pragmatischer Hinsicht ausschließlich dazu, den Lesern die absolute Notwendigkeit, einander zu vergeben, vor Augen zu führen, ohne dass die Verweigerung der Weitergabe von Vergebung ein richterliches Handeln Gottes nach sich ziehen würde. In der kritischen Diskussion der jeweiligen Strategien und ihrer Begründungen werden eigene exegetische Entscheidungen entwickelt und entfaltet.

1.1.1 Strategie I: Rekonstruktionen des ursprünglichen Umfangs der Parabel und deren Begründungen Die Rekonstruktionen des ursprünglichen Umfangs der Parabel vom unbarmherzigen Knecht werden in der Regel mit Widersprüchen begründet, die einzeln oder in Kombination miteinander als Argumente für die Zuweisung von Teilen der dritten Szene (V. 34) oder gar der gesamten dritten Szene (V. 31–34) zur Tradition bzw. Redaktion angeführt werden. Drei dieser vermeintlichen Widersprüche werden im Folgenden diskutiert: So wird von Vertretern traditionskritischer bzw. redaktionskritischer Überlegungen immer wieder auf die Unvereinbarkeit von Erbarmen und Zorn im Gottesbild hingewiesen (1. Unvereinbarkeit). Die Figur eines Königs, der seinen einmal gefassten Beschluss des Schuldenerlasses aufgrund eines ihn überkommenen Affektes willkürlich zurücknimmt, sei kein angemessenes Bild für Gott. Dieser in Punkt 1.1.1.1 diskutierten Begründung für traditionskritische Hypothesen korreliert eine weitere in Punkt 1.1.1.2 zu diskutierende Unvereinbarkeit (2. Unvereinbarkeit): Dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Notwendigkeit unbegrenzter Vergebung (Mt 18,21f.) sowohl mit dem Hinweis auf die vorangegangene Barmherzigkeit Gottes (1. Szene) als auch durch die Androhung des göttlichen Gerichts (3. Szene) begründen könnte, ist für viele Exegeten schlicht nicht vorstellbar. Unbegrenzte Vergebungsbereitschaft, wie sie Jesus in der Vorschaltung zur Parabel in Mt 18,21–22 fordert, und ein richterliches Handeln Gottes schließen sich einem solchen Verständnis zufolge aus. Beide vermeintlichen Widersprüche werfen ein grundlegendes Problem auf, dem wir uns unter Punkt 1.1.1.3 zuwenden: Wenn die Rede von der Barmherzigkeit Gottes die Vorstellung des Gerichts ausschließt, dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem von der Parabel vermittelten normativen Charakter der Barmherzigkeit: Wie ist das ἔδει (V. 33) zu interpretieren, im Blick auf das Eta Linnemann vom „tiefen Ernst eines heiligen Gesetzes“63 spricht? Die Beantwortung dieser Frage ist der entscheidende hermeneutische Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Barmherzigkeit 63

Linnemann, Gleichnisse Jesu, 116.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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und Gerechtigkeit in der Parabel (und im Evangelium). In der Auseinandersetzung mit der elaborierten Position Markus Zehetbauers wird gezeigt werden, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums seine Definition von Barmherzigkeit als freiwillige und nicht justitiable durchhält und es deshalb – anders als Zehetbauer annimmt – nicht zu einer Verrechtlichung der Barmherzigkeit kommt: Anders als das Recht kann die über das Recht hinausgehende Barmherzigkeit gerade nicht erzwungen werden. Es besteht also auch kein Widerspruch zwischen dem normativen Charakter der auf der rechtlichen Ebene nicht justitiablen Barmherzigkeit und der Normativität des Rechts (3. Unvereinbarkeit). Hinter diesen holzschnitzartig angerissenen Begründungen traditionskritischer oder redaktionskritischer Entscheidungen gilt es in einem letzten Schritt die Unvereinbarkeit von Barmherzigkeit und Gericht als theologische Prämisse offenzulegen (1.1.1.4). Das Gericht stellt in den Augen vieler Exegetinnen und Exegeten die Verlässlichkeit der göttlichen Gnade in Frage, so dass in der Tat das richterliche Handeln des für Gott transparenten Königs zum theologischen Skandalon wird. Den Abschluss bildet eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse und insbesondere eine Zusammenstellung der exegetischen Entscheidungen, die im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Begründungsmodellen einer traditions- bzw. redaktionsgeschichtlichen Dekonstruktion der Parabel getroffen wurden (1.1.1.5). Ein letztes vorab: Hinsichtlich der Begründungsmodelle beschränken wir uns im Folgenden hauptsächlich auf diejenigen Vertreter, die V. 34 nicht der ursprünglichen Parabel zuordnen. Kann V. 34 als zur Parabel zugehörig erwiesen werden, erledigt sich die Rekonstruktion ihrer ursprünglichen Form ohne die V. 31–34 von selbst.64

1.1.1.1 Begründung I: Die Unvereinbarkeit von Erbarmen und Zorn im Gottesbild Wolfgang Harnisch ist einer der profiliertesten Vertreter unter denjenigen, die den Umfang der Parabel vom unbarmherzigen Knecht dekonstruieren. Er vertritt die Position, dass die Parabel ursprünglich mit dem Vorwurf und der Frage des Königs an den ersten Knecht in V. 32f. endet: „32 Da rief ihn sein Herr herbei und sagt ihm: ‚Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. 33 Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?‘“ Auf textpragmatischer Ebene fasst Harnisch dieses Ende als Signal an die Hörerinnen und Hörer der Parabel auf, die zweite Szene „als eine absurde Fortsetzung des überraschenden Verlaufs der ersten Szene zu entlarven“65, von der sie sich gerade nicht inspirieren lassen sollen: 64

65

Einzig Weder und Fiedler rekonstruieren die ursprüngliche Parabel ohne die gesamte dritte Szene. Dabei beginnt nach Fiedler die matthäische Redaktion bereits mit V. 30b (Jesus und die Sünder, 197–199), nach Weder erst mit V. 31 (Gleichnisse Jesu, 211), wobei Weder nochmals differenziert: Er ordnet V. 31 der Redaktion, V. 32–34 der Tradition zu (vgl. ebd.). Harnisch, Gleichniserzählungen, 268.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

„Unter dieser Prämisse lenkte das Fiasko des Finales den Blick erst recht auf das Plus des Anfangs und forderte die Phantasie des Hörers an, eine andere Nachgeschichte zu erfinden, die der wunderbaren Vorgeschichte entsprechen könnte. Und das wäre dann vielleicht die von der Parabel ermöglichte Geschichte seiner eigenen Existenz.“66 Harnisch zufolge liegt also alles Gewicht auf der ersten Szene der Parabel, was durch die nach seinem Dafürhalten mit V. 33 endende dritte Szene, die das unbarmherzige Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht als unmögliche Möglichkeit entlarvt, augenfällig werde. Die Hörerinnen und Hörer würden durch die direkte Rede des Königs auf die erste Szene verwiesen, die allein sie zur Nachahmung der Barmherzigkeit des Königs motivieren solle. Entscheidend für ihn an der These, dass das Gleichnis ursprünglich mit V. 33 geendet habe, ist aber vor allem, dass der König in diesem Fall seinen Beschluss des Schuldenerlasses nicht revidiert und so der in V. 34 erwähnte Zorn die anfängliche Güte des Königs (V. 27) nicht konterkariert. Der vermeintliche durch V. 34 insinuierte Widerspruch zwischen den Handlungen des Königs, der einmal die Schulden erlässt und sie dann wieder einfordert, wird von Harnisch also durch die Annahme des sekundären Charakters von V. 34 und der dortigen Notiz über die Bestrafung des Knechts aufgelöst. Ein paradoxes, unverständliches Verhalten legt dann allein der erste Knecht an den Tag, der trotz des ihm gewährten Schuldenerlasses die Schulden seines Mitknechts unerbittlich einfordert. Die Rollen sind also klar verteilt: Der König ist und bleibt gütig, der Knecht hingegen agiert unbarmherzig. Die Hörerinnen und Hörer der ursprünglichen Parabel sollen sich, durch die rhetorische Frage von V. 33 auf die erste Szene verwiesen, am barmherzigen Verhalten des Königs orientieren, die zweite Szene fungiert als Negativfolie. Harnisch begründet seine Sichtweise insbesondere damit, dass die Revision des Schuldenerlasses, von der erst in V. 34 die Rede ist, als Einschränkung der Souveränität des Königs verstanden werden müsse: „Müßte die Parabel unter Einschluß von v.34 gelesen werden, wäre die Souveränität der privilegierten dramatischen Figur eingeschränkt. Denn die Güte des Königs machte sich davon abhängig, daß sie in anderen Beziehungen entsprechende Folgen zeitigt. Soll hingegen der Akt der Güte als ein Ereignis in Erscheinung treten, das sich durch die Macht des Faktischen nicht beeinträchtigen läßt, darf das ‚nach v.34 über den Knecht hereinbrechende Gericht … gar nicht mehr erzählt werden‘. Will man also nicht einen Selbstwiderspruch des Handlungssouveräns in Kauf nehmen, ist das Korpus der Parabel auf die vv.23b–33 zu reduzieren.“67

66 67

Harnisch, Gleichniserzählungen, 268. Harnisch, Gleichniserzählungen, 265. Das Zitat innerhalb des Zitats stammt von Weder, Gleichnisse Jesu, 215. Bei Weder erhält die Aussage, dass das „nach V. 34 über den Knecht hereinbrechende Gericht … gar nicht mehr erzählt werden [darf]“ im unmittelbaren Anschluss die Begründung: „denn es relativiert die zuvorkommende Barmherzigkeit Gottes“ (ebd.). Hier tritt die Prämisse, dass der Wesenskern der Barmherzigkeit im prinzipiellen Ausschluss eines richterlichen Handelns besteht, deutlich zu Tage.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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Die Argumentation Harnischs ist von der Prämisse geleitet, dass die sich im Schuldenerlass zeigende Güte des Königs unabhängig von der „Macht des Faktischen“68 ist, dass sie sich also von der wie auch immer gearteten Wirklichkeit nicht tangieren lässt und sich gegen diese unwiderstehlich durchsetzt. So würde eine Abhängigkeit der Güte vom weiteren Verhalten des Knechtes nach Ansicht Harnischs die Souveränität des Königs verletzten. Diese Sichtweise aber wäre u. E. nur dann plausibel, wenn der König durch einen einmaligen Akt der Güte auch weiterhin auf diese Güte festgelegt bliebe. Dafür aber gibt es innerhalb der ersten Szene der Parabel keinerlei Anzeichen. Vielmehr zeigt sich schon im Hinblick auf den Akt der Güte selbst, dass dieser nicht unabhängig von der „Macht des Faktischen“ respektive dem Verhalten des Knechts erfolgt. So fordert der König anfänglich nicht nur die Schulden ein, sondern er ist auch dazu bereit, die Forderung zu Lasten seines Knechts durchzusetzen (V. 23–25). Erst aufgrund der flehentlichen Bitte des Knechts um Zahlungsaufschub lässt er von seinem Vorhaben ab und entschließt sich unerwarteterweise sogar dazu, die Schuld ganz zu erlassen (V. 26–27). Der König ist also zu Beginn weder auf seine Güte, noch auf die Durchsetzung seines Rechtsanspruchs festgelegt. Seine Souveränität äußert sich gerade darin, dass er von dem ursprünglich geplanten und schon in Gang gesetzten (!) Verkauf des zahlungsunfähigen Knechts ablassen kann. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass die Parabel den Schuldenerlass als prinzipiellen Verzicht auf Handlungsoptionen verstanden wissen will, deren motivationaler Ausgangspunkt nicht die Güte des Königs ist. Ist das richtig gesehen, dann verhalten sich das in der ersten Szene geschilderte Mitleid (V. 27), das sich im Schuldenerlass Bahn bricht, und der das Verhalten des Königs in der dritten Szene motivierende Zorn (V. 34), der diesen aufgrund des unbarmherzigen Verhaltens seines Knechts erfasst, schon in der ursprünglichen Parabel spiegelbildlich zueinander. Sie werden jeweils durch ein Verhalten des Knechts, die Bitte um Zeitaufschub einerseits (V. 26) und die Ablehnung der Bitte des Mitknecht andererseits (V. 29), hervorgerufen. Wie die Parallelität in der sprachlichen Konstruktion deutlich macht (V. 27: Σπλαγχνισθείς/V. 34: ὀργισθείς)69, stellen Mitleid und Zorn zwar zwei gegensätzliche Affekte dar, die einander aber gerade nicht ausschließen. Die Souveränität des Königs, der mit seinen Handlungen seinen Empfindungen angesichts der jeweiligen Situation folgt, ist nicht tangiert.70 Sie wäre vielmehr dort in Frage gestellt, wo der König auf seine 68 69 70

Harnisch, Gleichniserzählungen, 265. Es handelt sich in beiden Fällen um ein Partizip Aorist Passiv im Nom. Sg. Stärker noch als Harnisch betont Derrett die auch von ihm angenommene Willkür, mit der der König einmal die Schulden erlasse, um sie dann doch wieder einzufordern. Eine solche Willkür stehe nicht nur einem orientalischen Herrscher, sondern insbesondere Gott schlecht zu Gesicht: „But the most serious problem is the behaviour of the king. He acts in anger, and yet this is supposed to depict the state of affairs as obtaining between man and God. Worse still, he cancels the release which he had solemnly given. For an oriental monarch to rescind a decree was a very serious matter; moreover […] it is not clear why the king should, even in anger, reopen, contrary to justice of the most elementary kind, a state of accounts which was already closed. If this is how God is going to behave, many readers

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Güte festgelegt wäre. Wir gehen also davon aus, dass der König, der in V. 35 mit dem himmlischen Vater (ὁ πατήρ μου ὁ οὐράνιος) identifiziert wird, auch in den V. 31–35 mit der Souveränität agiert, die ihm schon in der ersten Szene zu eigen ist. Ebenso wie Mitleid und Zorn Affekte des einen Königs sind, sind der Verzicht auf die Rückzahlung der Schulden und ihre erneute Rückforderung als zwei Seiten derselben Medaille Ausdruck der einen Souveränität des Königs.71

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must have thought, they would rather be ruled by anyone than by God“ (Unmerciful Servant, 34–35; vgl. Weder, Gleichnisse Jesu, 211). Es ist erstaunlich, wie wenig sich eine solche Sichtweise an der Parabel orientiert. Denn dass es für die Affekte des Erbarmens und des Zorns gute Gründe gibt, bleibt völlig unberücksichtigt. Die Verurteilung in der dritten Szene erfolgt nicht aus einer Laune, sondern aufgrund des Verhaltens des unbarmherzigen Knechts. Harnisch bringt ein weiteres Argument dafür, dass die Parabel ursprünglich mit V. 33 geendet habe. So stellen nach seiner Auffassung die in V. 34 erwähnten „Folterknechte“ ein „die fiktionale Welt störendes Erzählmoment“ (Gleichniserzählungen, 264) dar, das sich nicht in die bisherige Erzählung integrieren lasse und einer unzulässigen Allegorisierung den Weg bereite. Mit den Folterknechten, deren Erwähnung auf der Erzählebene insofern widersinnig sei, als ihre Funktion angesichts der immensen Schulden weder darin bestehen könne, ein vermeintliches Geldversteck preiszugeben, noch darin, Familie und Freunde zur Rückzahlung der Schulden zu bewegen, werde auf das endzeitliche Gericht und damit auf Gott in seiner Funktion als Richter angespielt (vgl. ebd.). V. 34 verweise also „hintergründig auf eine Strafverfügung, die sich Gott als der Herr des Gerichts vorbehält. Der Satz scheint daran interessiert, eine allegorische Lesart der Parabel sicherzustellen, und ist eben aus diesem Grund verdächtig. Er erleichtert jedenfalls die Applikation von v.35“ (ebd.). Hinsichtlich dieser Überlegungen ist nicht ganz klar, welcher Verdacht schwerer wiegt: Ist V. 34 nun in erster Linie deshalb verdächtig, weil er – den theologischen Prämissen Harnischs entgegenstehend – auf Gott als Herrn des Gerichts anspielt, oder etwa deshalb, weil der König implizit mit Gott in Verbindung gebracht wird und damit die Parabel den wissenschaftlichen Anforderungen einer Parabel nicht gerecht wird? Auf jeden Fall scheint uns der von Harnisch geforderte Verzicht auf die Suche und Deutung referentieller Bildelemente gezwungen. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, dass die klassische Unterscheidung zwischen Gleichnis und Allegorie in der jüngeren Gleichnisforschung zunehmend kritisch betrachtet wird. So betont Erlemann, dass zur Identifikation eines Gleichnisses „referenzielle, ‚allegorische‘ Signale notwendig [sind], da sie auf die externe Ebene verweisen. Die Vorstellung von einem allegoriefreien oder kontextlosen Idealtyp von Gleichnis ist ein nicht haltbares Postulat: Schon das Wissen um den Gleichniserzähler Jesus ist ein Signal! ‚Allegorische‘ Elemente sind damit nicht per se nachträgliche Zusätze, sondern Teil der Textproduktion“ (Gleichnisauslegung, 169). Unmittelbar vorher hatte er festgestellt, dass „[e]in Gegensatz zwischen Gleichnis und ‚Allegorie‘ … nicht behauptet werden [kann]. Traditionelle Unterscheidungsmerkmale erweisen sich als nicht tragfähig. Die Allegorie ist keine eigenständige Gattung, sondern ein rhetorisches und poetisches Strukturelement, das sich mit den unterschiedlichsten Gattungen verbinden und unterschiedlichste Funktionen ausüben kann“ (ebd.). Ähnlich urteilt Snodgrass, Stories with Intent, 73.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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1.1.1.2 Begründung II: Die imitatio der Barmherzigkeit Gottes kann nicht gleichzeitig mit Verweis auf Gottes Güte und die göttliche Vergeltung gefordert werden Wie wir bereits im vorangegangenen Punkt (1.1.1.1) gesehen haben, endet für Harnisch das Gleichnis mit den V. 32f., die das Augenmerk gerade aufgrund der Tragik der zweiten Szene wieder auf die erste und die darin berichtete unerwartete Güte des Königs lenken, an der sich die Hörerinnen und Hörer der Parabel orientieren sollen. Selbst wenn aber die Parabel ursprünglich mit V. 32f. enden sollte, kann unserer Ansicht zufolge die dritte Szene nicht exklusiv als Rückverweis auf die erste Szene verstanden werden. Schon V. 33 impliziert, dass die Verweigerung der Nachahmung der Barmherzigkeit Gottes Konsequenzen zeitigt. Ein Entweder-Oder ist hier fehl am Platze: So verbinden die V. 32f. die erste mit der zweiten Szene, indem V. 32 auf die vorangegangene Güte des Herrn („Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast.“), V. 33 vor allem auf die daraus resultierende Verantwortlichkeit des Knechts hinweist („Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“). Diese Verantwortlichkeit, die in dem ἔδει in V. 33 anklingt, greift V. 34 auf und entfaltet sie. Eta Linnemann bemerkt zum ἔδει: „Welcher Ernst hinter dem Wort des Königs steht, erhellt aber auch aus dem Sprachgebrauch. Leider ist unser Wörtchen ‚müssen‘ viel zu verwaschen, als daß es wiedergeben könnte, was hier gemeint ist. Das griechische Wort, das es übersetzen soll, meint den tiefen Ernst eines heiligen Gesetzes.“72 Linnemann verweist in diesem Kontext auch auf die Leidensankündigungen (Mk 8,31 parr) und andere Aussagen der Evangelien (Lk 24,26; Joh 3,14), die den Weg Jesu ans Kreuz durch das unpersönliche Verb δεῖ 72

Linnemann, Gleichnisse Jesu, 116. Im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament bemerkt Grundmann einleitend zum Begriff δεῖ, dass dieser „den Charakter der Notwendigkeit und des Müssens aus[drückt], den ein Geschehen hat. Im Begriff selbst ist die Instanz nicht genannt, die einem Geschehen diesen Charakter gibt. Daher erhält es seine präzise Bedeutung jeweils in Verbindung mit der Macht, die hinter der jeweiligen Notwendigkeit steht“ (Art. δεῖ κτλ., 21). Etwas später verweist er darauf, dass „[e]thische oder auch religiöse Verpflichtungen … durch den Begriff δεῖ wiedergegeben werden“ (ebd.) und dass auch das Neue Testament den Begriff in diesem Sinn verwendet (vgl. ebd., 22). Diese Definition Grundmanns sagt für sich noch nichts darüber aus, ob die Instanz, die hinter den ethischen und religiösen Verpflichtungen steht, zwangsläufig als eine solche gedacht werden muss, die eine Nichtbeachtung dieser Verpflichtungen sanktioniert. Wir halten das für mehr als wahrscheinlich. Theoretisch wäre es zwar möglich, dass Mt 18,33 von Gott als dem „ganz Anderen“ spricht, der prinzipiell auf die Durchsetzung der unbedingten Notwendigkeit, dem Bruder zu vergeben, verzichtet. Dass aber würde nicht nur bedeuten, dass eigentlich nicht mehr von einer Notwendigkeit gesprochen werden könnte, sondern auch, dass Jesus als erster Erzähler der Parabel den Begriff in einem Sinn verwendet, der quer zu seinem ursprünglichen Sinn steht. Wir halten es deshalb für das Naheliegendste, dass das ἔδει in Mt 18,33 die unbedingte Notwendigkeit zur zwischenmenschlichen Vergebung innerhalb der Gemeinde zum Ausdruck bringt, hinter der Gott als (personale) Instanz steht, die die Weigerung zur Nachahmung der Barmherzigkeit auch sanktioniert. Gott vergibt und vergilt.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

als göttliche Notwendigkeit charakterisieren. In Anschluss und in konsequenter Weiterführung der Äußerungen Linnemanns lässt sich deshalb folgern: Erst wenn man die göttliche Notwendigkeit des Leidens und Sterbens Jesu als Analogie zur Forderung zwischenmenschlicher Vergebungsbereitschaft versteht und auf diese überträgt, offenbart sich die normative Dimension der Barmherzigkeit in ihrer ganzen Tragweite. Ihr entspricht die Bestrafung des unbarmherzigen Knechts. Das in V. 34 Berichtete liegt also, wie der semantische Gehalt des Begriffs ἔδει deutlich macht, ganz auf einer Linie mit der rhetorischen Frage von V. 33.73 Hier kommt es weder formal zu einem Bruch noch inhaltlich zu einer Sinnverschiebung.74 Dass dem Bruder verweigerte Vergebung Konsequenzen zeitigt, ist also schon in V. 33 angelegt und letztendlich auch für den antiken Hörer, der um den Reziprozitätscharakter der Barmherzigkeit weiß (vgl. im Matthäusevangelium Mt 5,6; 6,12.14– 15), selbstverständlich. Ein Auseinanderreißen des Verweises auf die vorangehende Güte Gottes und der Androhung von Konsequenzen bei einer Verweigerungshaltung scheint uns deshalb konstruiert. Wir schlagen deshalb vor, das entscheidende Charakteristikum der Güte nicht in ihrer Einseitigkeit zu sehen. Vielmehr sind, wie Mt 18,32f. deutlich macht, die göttliche Gewährung der Güte und die Erwartung ihrer Erwiderung in den innergemeindlichen Beziehungen untrennbar miteinander verknüpft. Beides ist in sachlicher Hinsicht gleichursprünglich, wiewohl die göttliche Zuwendung der zwischenmenschlichen zeitlich vorausgeht. Eine genaue semantische Untersuchung des hebräischen Äquivalents von ἔλεος, ‫חֶ סֶ ד‬, wird zeigen, dass diese Gleichursprünglichkeit75 der Gewährung der 73

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In diesem Sinne bemerkt Weiser, dass „[di]e Folgerung, Vers 34 gehöre zur Integrität der Parabel, … so zwingend [ist], wie eine Folgerung aufgrund formkritischer Beobachtungen nur sein kann“ (Knechtsgleichnisse, 91). Vgl. auch Via, Gleichnisse Jesu, 135; Jülicher, Gleichnisreden Jesu Bd. 2, 309; Snodgrass, Stories with Intent, 69. Einen formalen Bruch sieht Ingo Broer auf sprachlicher Ebene darin, dass V. 34 nicht in die wörtliche Rede des Königs integriert ist (vgl. Broer, Parabel vom Verzicht, 156f.). Dieser Umstand wird für ihn zum entscheidenden Argument für den sekundären Charakter der Notiz über die Bestrafung des Knechts (vgl. ebd., 156f.). Schon vorher hatte Broer betont, dass V. 34 der Parabel in rhetorischer Hinsicht ihre Durchschlagskraft nehme: Die Notiz von der Bestrafung des Knechts bringe die Parabel zu einem Abschluss, der quer zur rhetorischen Frage von V. 33 stehe, die die Hörerinnen und Hörer zu einem eigenen Urteil und einem diesem Urteil entsprechenden Verhalten führen solle (vgl. ebd., 154.156). Beide sprachlichrhetorischen Argumente verfangen u. E. nicht: Während sich im Blick auf die notwendige Integration von V. 34 in die wörtliche Rede des Königs die Frage nach dem Maßstab stellt, den Broer anlegt und zur Voraussetzung der literarischen Einheitlichkeit der Parabel macht, ist im Blick auf die angeblich durch V. 34 geminderte Durchschlagkraft zu betonen, dass V. 34 die durch V. 33 aufgeworfene Notwendigkeit der Applikation auf die eigene Existenz nur erhöht. Dass V. 34 ein eigenes Urteil und die Orientierung an der vorangegangenen Barmherzigkeit obsolet macht, vermag uns nicht einzuleuchten. Wir leihen uns diesen Ausdruck von Fritz Rüdiger Volz, der ihn in seiner Rezeption und Weiterführung der Gabetheorie von Marcel Mauss verwendet (vgl. Volz, Gestaltung wechselseitiger Angewiesenheit, 12). Wenn Volz betont vom Gabehandeln spricht und dieses in die Akte des Gebens, Empfangens, Erwiderns und Weitergebens ausdifferenziert (vgl. Volz, Ethos und Vermögen, 254; Volz macht aus dem Dreiklang durch die Hinzufügung des Weitergebens

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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Barmherzigkeit und der Notwendigkeit ihrer Erwiderung bereits für das hebräische Ursprungswort wesentlich ist und dem Begriff ἔλεος von diesem her zuwächst (vgl. vor allem die Punkte 1.2.2.2.3 und 1.2.2.2.4). Die Gleichursprünglichkeit ist ihrerseits Ausdruck der dynamischen und lebendigen Gottesbeziehung des Menschen, für die Gegenseitigkeit konstitutiv ist und die durch Gegenseitigkeit gestaltet wird. Barmherzigkeit ist ein Beziehungsbegriff ersten Ranges, wobei die innergemeindlich gewährte Barmherzigkeit so geübt werden soll, als gelte sie Gott selbst. Kommen wir zurück zur Annahme einer Sinnverschiebung zwischen V. 33 und V. 34, die auch M. Zehetbauer teilt. Zehetbauer argumentiert folgendermaßen: „Die ethische Begründung für Barmherzigkeit wird … verschoben: nicht das vorbildliche Verhalten von Vergebung steht im Mittelpunkt der Argumentation, sondern die drohende Vergeltung.“76 Auch für Zehetbauer scheint offensichtlich nicht vorstellbar, dass die Nachahmung der Barmherzigkeit Gottes sowohl durch den in V. 33 gegebenen Verweis auf die in der ersten Szene der Parabel geschilderte vorangehende Güte Gottes als auch durch die Gerichtsdrohung in V. 34 motiviert sein kann. In seiner Argumentation verweist er auf die Botschaft der unmittelbar vorangehenden V. 21f. Die Rücknahme des Schuldenerlasses in der dritten Szene der Parabel (V. 34) sei mit der Forderung Jesu nach unbegrenzter Vergebung nicht vereinbar: „Problematisch ist V 34 auch deshalb, weil er Vergebung und Schulderlaß wieder rückgängig macht und damit der ethischen Botschaft der Parabel entgegensteht, die auch Mt in der Aufforderung zu unbegrenztem Verzeihen gesehen hat: jetzt vergibt der Herr nicht mehr und verhindert so mögliche Vergebung.“77 Die weit verbreiteten Annahmen, dass die Forderung unbegrenzter Vergebungs-

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einen Vierklang), dann unterstreicht er damit den Beziehungscharakter der Gabe und deren Dynamik. Zudem können die genannten Verben nach Volz nicht ohne Personalpronomina gedacht werden. Auch dieser Aspekt macht darauf aufmerksam, dass Gabehandeln Beziehungshandeln ist (vgl. ebd., 256–258). In diesem Zusammenhang verdient der Sachverhalt Aufmerksamkeit, dass das griechische Substantiv ἔλεος in erster Linie nicht eine innere Haltung, sondern eine aus einer solchen entspringende Tat bezeichnet. Mit ἔλεος ist der Barmherzigkeitserweis im Blick, und damit ein menschliches Tun. Zehetbauer, Polarität, 214 (Kursiv des Originals rückgängig gemacht). Vgl. Weder, der im Blick auf V. 34, den er der vormatthäischen Tradition zuweist, feststellt, dass „[i]n dieser Form … die Parabel unserer Denkwelt in nichts voraus [ist], sofern hier der Übeltäter seiner Strafe zugeführt wird“ (Gleichnisse Jesu, 217). Und auch in seiner Interpretation der matthäischen Anwendung der Parabel zeigt sich die von Weder geübte theologische Sachkritik. So stellt er betont heraus, dass mit V. 35 „die Argumentationsrichtung der Parabel ins Gegenteil verkehrt [ist]. Movens der menschlichen Vergebung ist nicht mehr die zuvorkommende Freisprechung durch Gott, sondern die dem menschlichen Versagen nachfolgende Verurteilung“ (Gleichnisse Jesu, 217f.). Zehetbauer, Polarität, 214. Hanna Roose sieht im vorliegenden Text ebenfalls einen Widerspruch, bietet dafür aber ein Argument aus dem unmittelbaren Kontext an: „Durch die Vorschaltung von Mt 18,21f. gerät die 1. Szene der Parabel … in Widerspruch zur 3. Denn der König erfüllt nur in der 1., nicht aber in der 3. Szene den in 18,22 geforderten ethischen Standard“ (Aufleben der Schuld, 450).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

bereitschaft nicht mit einem vergeltenden Handeln des Herrn der Parabel vereinbar sei,78 und dass der König in der dritten Szene seinem eigenen Maßstab nicht gerecht werde, seien an zwei Punkten kritisch hinterfragt: 1. U. E. besteht keine Spannung zwischen den V. 21f. und der folgenden Parabel. So ist zum einen zu berücksichtigen, dass die Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft vor allem auf die zweite Szene der Parabel abzielt und somit das Verhältnis der Schülerschaft Jesu im Blick hat79. Allerdings dürfte auch dieser 78

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Auch Ruben Zimmermann sieht einen Widerspruch zwischen den ersten beiden Szenen der Parabel und dem Handeln des Königs in der dritten Szene: „Wie schön waren doch noch die Zeiten der Literarkritik, in denen man jetzt einfach die folgende dritte Szene … abschneiden konnte! Denn was jetzt folgt, durchkreuzt die schöne Ordnung der bisher (re-)konstruierten Indikativ-Imperativ-Ethik … Der König verändert nun seine Haltung. Statt unbegrenzter Vergebungsbereitschaft bestraft er hart, übergibt den Sklaven sogar den Folterern (V. 34). Die Parabel konterkariert durch die dritte Szene die Indikativ-Imperativ-Struktur und das mühsam errichtete ethische Gebäude kommt dabei gleichsam zum Einsturz: Die unbegrenzte Vergebungsbereitschaft kann nicht mehr aus dem Verhalten des Königs abgeleitet werden, denn dieser praktiziert jetzt das Gegenteil“ (Ethico-Ästhetik, 262). Wie andere auch geht Zimmermann hier von der Widersprüchlichkeit der Forderung nach unbegrenzter Vergebungsbereitschaft und dem Handeln des Königs in der dritten Szene aus, macht aber aus der Not eine Tugend: Diese Widersprüchlichkeit sei intendiert: „Die Appellstruktur der Parabel setzt hier nicht auf Logik und rationale Durchdringung, sondern auf affektive Parteinahme. Der König handelt nicht logisch, sondern emotional und leidenschaftlich“ (ebd., 263). Zu Recht stellt Zimmermann u. E. die Bedeutung der Affekte für ethisches Handeln heraus. Allerdings scheint uns zweifelhaft, ob der angenommene Widerspruch in den Handlungen des Königs auf die Irrationalität der Gefühle zurückgeführt werden kann. Das mag vielleicht ein eleganter Weg sein, den empfundenen Widerspruch zwischen Vergebungsund Vergeltungshandeln abzumildern, führt aber u. E. nicht weiter, da die Güte und der Zorn des Königs auch rational nachvollziehbar sind. Der Zorn, von dem die dritte Szene spricht, orientiert sich am Maßstab der Barmherzigkeit, die dem unbarmherzigen Knecht zu Teil wurde. Zwischen Güte und Zorn besteht nur dann ein Widerspruch, wenn Güte als Ausschluss von Zorn verstanden wird. Das aber geht, wie wir bereits gesehen haben, an der Parabel vorbei: Die Güte und der Zorn des Königs sind ebenso wie die daraus resultierenden Handlungen miteinander vereinbar. Allison und Davies widersprechen der Auffassung Joachim Jeremias’, die Parabel tauge als Erläuterung zu den V. 21f. nicht und verweisen auf die verschiedenen Akzente, die mit der Vorschaltung und der Parabel selbst gesetzt werden: „Jeremias … affirms that 18.23–35 is not an apt illustration of vv. 21f., for the king in our parable forgives only once, not seventy plus (or times) seven. This criticism, echoed by others, misses the mark. It was surely as obvious to Matthew—who after all was responsible for the present setting of the parable— as it is to us that 18.23–35 does not illustrate 18.21–2, and he did not join the two units because they teach precisely the same lesson. Rather, although both have to do with forgiving, they have different emphases. 18.21–2 is a memorable call for repeated forgiveness. 18.23– 35 is a vivid reminder that the failure to forgive is failure to act as the heavenly father acts (cf. 5.48). Between the two themes there is scarcely any real tension“ (Matthew Bd. 2, 794). Vgl. auch die Ausführungen Webers zum Verhältnis der V. 21f. zur nachfolgenden Parabel: „Die oft beanstandete Inkompatibilität zwischen Rahmen (Quantität der Vergebung) und Gleichnis (Qualität der Vergebung) trägt dem Erzählprozess, in dessen Ablauf eine Neugewichtung vorgenommen wird, zuwenig Rechnung: Die am Anfang stehende Quantitätsfrage

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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Sachverhalt voraussetzen, dass die Forderung Jesu an seine Schülerschaft, untereinander unbegrenzt zu vergeben, der unbegrenzten Vergebungsbereitschaft Gottes selbst entspricht: Von der Vorschaltung der V. 21–22 her erschließt sich die vom König gewährte Güte in der ersten Szene der Parabel als unbegrenzte. Wenn aber Gott unbegrenzt vergibt, schließt das dann nicht in der Tat ein richterliches Handeln des für Gott transparenten Königs der Parabel aus? Ein solcher Einwand übersieht, dass die Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft die Zeit zwischen der Ankunft des Messias (Mt 1,18ff.) und des zum Gericht wiederkommenden Menschensohnes (Mt 16,27) betrifft. Hat die Abrechnung des Königs mit seinen Knechten (Mt 18,23b) die Gegenwart im Blick, so die Übergabe an die Folterer das Endgericht.80 Es ist die Erwartung des Endgerichts, die die Gegenwart als Zeit der Barmherzigkeit qualifiziert: Die göttliche Güte bricht sich darin Bahn, dass Gott in der Gegenwart Sünden vergibt und selbst den Ungerechten und Bösen die Möglichkeit zur Umkehr durch sein erhaltendes Handeln offenhält (Mt 5,45). Kurzum: Die Forderung einer die unbegrenzte Vergebungsbereitschaft Gottes nachahmenden innergemeindlichen Vergebungsbereitschaft in der Gegenwart setzt das eschatologische Gericht voraus. Auch hier zeigt sich die Polarität von Erbarmen und Zorn, die nicht nur die Parabel, sondern das Evangelium als Ganzes betrifft. Überspitzt formuliert: Es ist die Rede vom Zorn Gottes, die die Rede von der Barmherzigkeit allererst ermöglicht,81 wobei unstrittig ist, worin der Wille Gottes besteht: In der Umkehr der Sünder, die Vergebung in der Gegenwart ermöglicht. 2. Wie insbesondere die Rahmung der Parabel durch die V. 21f. und V. 35 deutlich macht, sind für den Verfasser des Matthäusevangeliums die Forderung nach grenzenloser Vergebung und die Rede vom göttlichen Gericht durchaus kompatibel. So steht der Forderung nach unbegrenzter Vergebung (V. 21f.) mit der Anwendung der Parabel in V. 35 eine Aussage gegenüber, die vom vergeltenden Handeln Gottes spricht: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder

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(Petrus) auf der Ebene ‚Bruder-Bruder‘ wird auf ‚Qualität‘ hin, unter Einbezug der Ebene ‚Herr-Knecht‘, umakzentuierend beantwortet und zugleich mit einem paränetischen Impetus (18,33–35) versehen (dabei wird der Übergang vom quantitativen zum qualitativen Aspekt nicht erst durch das Gleichnis vollzogen, sondern schon in der Jesus-Antwort ‚bis 77mal‘ in nuce vorweggenommen). Vergebungsaufforderung (18,22) und Warnung vor Vergebungsverweigerung (18,35) bilden den Rahmen; dazwischen eingespannt ist die Gleichniserzählung, beides begründend“ (Vergeltung oder Vergebung!?, 135 Anm. 50). Vgl. Erlemann, Bild Gottes, 81–82. Wenn Erlemann die Pointe des Gleichnisses zu Recht wie folgt bestimmt: „Wer die bei der Bekehrung geschenkte Vergebung dem Bruder in der Gemeinde verweigert, kann im Endgericht nicht mehr auf Erbarmen hoffen“ (Bild Gottes, 81), dann kann hier – zur Verdeutlichung des Zeitaspekts – in der ersten Satzhälfte hinter „Vergebung“ ein „in der Gegenwart“ hinzugefügt werden. Unbegrenzte Vergebungsbereitschaft bestimmt die Gegenwart der Gemeinde, die auf das Endgericht zugeht. Vgl. Snodgrass: „As much as people recoil from the theme of judgement, it is an integral part of Jesus’ kingdom message. The kingdom cannot be present if evil is not being named and defeated. If there is no judgement, salvation is not needed“ (Stories with Intent, 72f.).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

seinem Bruder von Herzen vergebt.“ Vergebung und Vergeltung schließen sich für den Evangelisten ganz offensichtlich nicht aus. Da die Vorschaltung und Anwendung der Parabel im Wesentlichen auf den Verfasser des Matthäusevangeliums zurückgehen,82 und – wie Hanna Roose zu Recht herausstellt – die Parabel für sich genommen das barmherzige und vergeltende Handeln Gottes miteinander verbindet,83 ist es nicht plausibel, warum die Vorschaltung von V. 21f. die erste und die dritte in Widerspruch zueinander stellen sollte. Positiv formuliert: Wenn sich sowohl in den vom Evangelisten verantworteten rahmenden Versen (V. 21f. und V. 35) als auch in der für sich genommenen Parabel unbegrenzte Vergebung und Vergeltung bzw. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit komplementär ergänzen, dann sind sowohl die Rahmung als auch die Parabel durch dieselbe Polarität geprägt. Gerade der vom Verfasser des Matthäusevangeliums verantwortete V. 35 zeigt dann, dass der Evangelist die Aufforderung zu unbegrenzter Vergebungsbereitschaft in den ebenfalls von ihm verantworteten V. 21f. nicht im Sinne eines Ausschlusses eines vergeltenden Handeln Gottes interpretiert, so dass ein solches Verständnis auch für die erste Szene der Parabel ausgeschlossen werden kann.84 Durch die Vorschaltung der V. 21f. wird dementsprechend kein Widerspruch hinsichtlich der Begründung der geforderten zwischenmenschlichen Vergebungsbereitschaft eingetragen. Die V. 21f. fordern unbegrenzte zwischenmenschliche Vergebung, die erste Szene verankert diese Forderung in der vorangegangenen Vergebungsbereitschaft Gottes und die dritte Szene mahnt vor den Konsequenzen verweigerter Vergebungsbereitschaft. Der Evangelist begründet somit die Forderung nach unbegrenzter Vergebung sowohl mit dem vorangegangen Vergebungshandeln Gottes als auch mit der Warnung vor dem göttlichen Vergeltungshandeln, ohne darin einen Widerspruch zu sehen. Die Aussage der Parabel und das Verständnis des Evangelisten liegen hier durchaus auf einer Linie. Kurzum: Für den Verfasser des Matthäusevangeliums besteht zwischen der Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft in der Gegenwart und dem vergeltenden Handeln Gottes im Gericht kein Widerspruch.

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Vgl. z. B. Luz, Matthäus Bd. 3, 61 (zu V. 21f.) und 74 (zu V. 35); Weiser, Knechtsgleichnisse, 99–101. Das ergibt sich aus ihrer bereits in Anm. 77 zitierten Aussage, dass „[d]urch die Vorschaltung von Mt 18,21f. … die 1. Szene der Parabel … in einen Widerspruch zur 3. [gerät]“ (Roose, Aufleben der Schuld, 450). Das liegt auf einer Linie mit dem Evangelium als Ganzem: Wenn der Evangelist die Aufforderung zu unbegrenzter Vergebungsbereitschaft als prinzipiellen Ausschluss eines vergeltenden Handeln Gottes verstehen würde, dann stünde Mt 18,21–22 in einem diametralen Gegensatz zu den vielfältigen Gerichtsaussagen des Evangeliums. Zu erinnern ist hier vor allem an die Vergebungsbitte des Vater-Unsers und deren Interpretation (Mt 6,12.14–15), die einen Zusammenhang zwischen göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung im Positiven wie im Negativen belegen. Müsste Mt 18,21f. im Sinne eines Ausschlusses eines vergeltenden Handeln Gottes verstanden werden, dann würde der Evangelist also nicht nur einen Widerspruch in die Parabel eintragen. Vielmehr stünden diese beiden Verse dann auch quer zu seinem sonstigen Gerichtsverständnis.

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1.1.1.3 Begründung III: Das Strafhandeln des Königs verrechtlicht die Barmherzigkeit Im Blick auf das Verhältnis von Recht und Barmherzigkeit ist von entscheidender Bedeutung, das in V. 25 skizzierte ursprüngliche Vorhaben des Königs als Ausdruck seiner Macht und Souveränität nicht vorschnell zu übergehen.85 So setzt die Parabel voraus, dass der König als Gläubiger gegenüber seinem Knecht als Schuldner das Recht hat, die Rückzahlung der Schulden nicht nur einzufordern, sondern auch durchzusetzen.86 Diesen Sachverhalt blendet z. B. Harnisch aus. Er spricht ausschließlich im Blick auf das Verhalten des Knechtes gegenüber seinem Mitknecht (2. Szene) von einem eigentlich alltäglichen Vorgang, der nicht als solcher, sondern nur aufgrund des vorangegangenen Schuldenerlasses moralisch, nicht aber rechtlich fragwürdig sei.87 Ohne die Vorschaltung der ersten Szene füge sich die Rückforderung monetärer Schulden und die Durchsetzung dieser Forderung in den normalen Lauf der Welt.88 Harnisch übergeht nun die Implikationen dieser Annahme für das Verhalten des Königs in der ersten Szene: Auch der geplante Verkauf des rückzahlungsunfähigen Knechts erfolgt im Rahmen geltenden Rechts, auch hier handelt es sich um einen „alltäglichen“ Vorgang, der vom Evangelisten auch durch den freiwillig gewährten Schuldenerlass nicht problematisiert wird.89 85

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So aber verfährt Weder. Für ihn scheint die Differenz zwischen der Bitte um Aufschub der Rückzahlung und der Übererfüllung der Bitte (Schuldenerlass) die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Güte des Königs und dessen ursprünglicher Einforderung der Schuld obsolet zu machen. So versteht er die Differenz exklusiv als Hinweis auf den nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich zuvorkommenden Charakter der Liebe Gottes: „Die Liebe Gottes ist nicht nur im zeitlichen Sinne zuvorkommend: daß der Herr die Schuld erläßt, überholt auch das, was der Knecht zu erbitten wagte (Geduld!). Die Liebe Gottes kommt auch den Erwartungen und Hoffnungen des Menschen zuvor“ (Gleichnisse Jesu, 215). Unberücksichtigt bleibt hier wie bei der unten im Text diskutierten Auslegung Harnischs der bereits in Gang gesetzte Verkauf des Knechts (V. 25). Wir schlagen eine andere Interpretation vor: Barmherzigkeit besteht in einem „Mehr als“. Sie geht auf der Grundlage des Rechts, Schulden zurückzufordern, über dieses Recht hinaus. Auch wenn der Verkauf in die Schuldknechtschaft alttestamentlich-jüdischen Rechtsvorstellungen nicht entspricht (Lev 25,39.47–53 und Dtn 15,12 sehen nur den Selbstverkauf in die Schuldknechtschaft vor) und also mit hellenistischem Rechtseinfluss zu rechnen ist, so kann das die Transparenz des Königs bzw. Herrn für Gott nicht in Frage stellen. Der geplante Verkauf des ersten Knechts wird an keiner Stelle problematisiert. Zu den Rechtsvorstellungen der Parabel und ihrem zeitgenössischen Hintergrund vgl. Weber, Alltagswelt und Gottesreich, 172–175; Leutzsch, Verschuldung. Harnisch, Gleichniserzählungen, 266–267. So auch Davies/Allison, Matthew Bd. 2, 801; de Boer, Unforgiving Servant, 232; Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 308; Zimmermann, Ethico-Ästhetik, 262. Harnisch, Gleichniserzählungen, 266–267. Anders de Boer, der Barmherzigkeit als Infragestellung illegitimer Rechtsansprüche definiert und Barmherzigkeit und Recht als zwei miteinander unvereinbare Prinzipien bzw. Normen gegeneinander ausspielt. De Boer beruft sich in seiner Auslegung der Parabel vom unbarmherzigen Knecht auf Eta Linnemann, die einen radikalen Gegensatz zwischen den

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Im Unterschied zum Verhalten des unbarmherzigen Knechts in der zweiten Szene ist das Handeln des Königs aber nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch nicht verwerflich. Markus Zehetbauer beschreibt den hinsichtlich der ersten Szene von Harnisch ausgeblendeten rechtlichen Aspekt folgendermaßen: „Ein Darlehen verpflichtet zur Rückzahlung, niemand würde mehr Geld verleihen, wenn die Gültigkeit dieses Grundsatzes der Beliebigkeit des Schuldners überlassen bliebe. Wo (Wirklichkeits-)Ordnungen der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit zur Grundlage ihres Verständnisses der Parabel gemacht und die Ordnung des Rechts als Ordnung der eigenen Ansprüche definiert hatte, die durch die Barmherzigkeit begrenzt würden (vgl. Linnemann, Gleichnisse Jesu, 117–118). Eigenes Recht könne es nur insofern geben, als es die „Not des Nächsten“ (ebd., 118) zulasse. Mit explizitem Verweis auf Linnemann legt de Boer sein Verständnis der Parabel wie folgt dar: „The key to the revelatory and world-shattering effect this ‘twist’ would have had on its initial hearers is to recognize that the action of the servant toward his debtor (in Scene II) is quite legal and normal in the ‘real’ world. The servant is entirely within his legal rights; his action is a matter of course. And yet, the initial hearers would immediately have recognized, as any listener still does, that the action of the servant is, in Linnemann’s word, ‘reprehensible.’ It is shown to be reprehensible by dramatic contrast with the new and unfamiliar world of mercy and forgiveness, a world that grants to another what he or she has no legal right to demand or expect (Scene I). This world has broken in upon the familiar world of legal rights and claims, unmasking the brutality that lies underneath attempts to secure legitimate rights and claims over against another (Scene II). The two worlds are mutually exclusive and antithetical. As Linnemann observes, the master’s act of mercy does not represent simply a temporary and unrepeatable ‘exception’ to the world of legal rights and claims, but an entirely different world, a new order. It is in fact the new age, ‘the kingdom of God,’ that invades and shatters the old one“ (Unforgiving Servant, 231). Schon zu Beginn dieser Ausführungen de Boers zeigt sich deutlich, dass das Recht als Maßstab zwischenmenschlichen Handelns ausschließlich negativ in den Blick kommt, indem es auf die „reale Welt“ bezogen wird, deren Kennzeichen die in Szene zwei dargestellte brutale Durchsetzung (nur angeblich) legitimer Rechtsansprüche sei. Die erste Szene aber offenbare diese Rechtsansprüche als Unrecht, indem sie deutlich mache, dass niemandem das Recht zukomme, vom anderen das zu verlangen, was er „zum Leben“ brauche. Dieser von de Boer aufgemachte Gegensatz zwischen der ersten und der zweiten Szene – die erste Szene demaskiere die in der realen Welt erhobenen Ansprüche gegenüber den Mitmenschen (als Leben vernichtend und damit) als illegitim – trifft die Parabel nicht. In der ersten Szene geht es nicht um unrechtmäßige Ansprüche, die der König – einer plötzlichen besseren Einsicht folgend – aufgibt, sondern um rechtmäßige Ansprüche, auf die er verzichtet. Und auch in der zweiten Szene werden nicht etwa die Ansprüche des Knechts gegenüber seinem Mitknecht als illegitim kritisiert, sondern die Durchsetzung dieser Ansprüche angesichts des erfahrenen Schuldenerlasses. Es ist also nicht das Ziel der Parabel, das Recht auf Rückzahlung der Schulden prinzipiell zu negieren, was auf der ökonomischen Ebene, die in der Parabel als Metapher für das Gott-Mensch-Verhältnis bzw. das Verhältnis zwischen Glaubensgeschwistern fungiert, auch gar keinen Sinn ergeben würde. Auch hier zeigt sich: Rechtsverzicht und Desavouierung des Rechts trennen Welten. Die „schöne neue Welt“ der Königsherrschaft Gottes zeichnet sich nach Mt 18,23–35 nicht durch eine Antithetik unrechtmäßiger, gesetzlich manifestierter Ansprüche, die im zwischenmenschlichen Gegeneinander erhoben werden, und einer Gewährung des zum Leben Notwendigen aus, sondern durch den Verzicht auf legitime Rechtsansprüche. Dass sich Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gleichnis antithetisch gegenüberstehen nehmen auch Nielsen, Ökonomie der Generosität, 34–35, und Davidsen, Geben und nehmen, 140, an.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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Schuld nicht gezahlt werden kann, muß Ersatz im Sinne der iustitia commutativa geleistet werden, wozu auch die Strafe für eine nicht mögliche Wiedergutmachung und die Verletzung der legalen Ordnung zählt. Insofern ist die Maßnahme des Herrn (= der Verkauf; J.-C. M) gerecht, schließlich hat der Knecht das Geld ja einmal erhalten, das er jetzt zurückzahlen soll.“90 Versteht man mit Zehetbauer bereits die Abrechnung und die Rückforderung des Königs als Ausdruck seines ihm zustehenden Rechts und sein Eingehen auf die flehentliche Bitte seines Knechts als Ausdruck seiner Souveränität, dann birgt das Implikationen für die Verhältnisbestimmung von Barmherzigkeit und Recht. Der Verfasser des Matthäusevangeliums konzeptualisiert Barmherzigkeit in der ersten Szene dann nicht als Unterminierung oder Negation des Rechts, sondern als freiwilligen Rechtsverzicht.91 Der Aspekt der Freiwilligkeit zeigt sich insbesondere daran, dass der König mehr tut, als der Knecht von ihm erbittet: Er gewährt ihm nicht nur den auf der Ebene des Rechts verbleibenden Zahlungsaufschub, um den der Knecht ihn gebeten hatte, sondern er erlässt ihm die Rückzahlung der Schulden ganz. Damit geht er aus freien Stücken über das Recht hinaus. Wenn V. 33 den Schuldenerlass als Barmherzigkeitserweis deutet, dann wird deutlich, dass Freiwilligkeit ein entscheidender Aspekt der Barmherzigkeit ist. Dieser Barmherzigkeitserweis bzw. Rechtsverzicht setzt nun die Gültigkeit des Rechts, Schulden einzutreiben, bleibend voraus. Rechtsverzicht kann nur dort geübt werden, wo das Recht Gültigkeit besitzt. In diesem Sinne bestätigt gerade der Rechtsverzicht das Recht. Beide bedingen sich gegenseitig und sind in ihrer Polarität bleibend aufeinander bezogen. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass der König in der dritten Szene der Parabel als Reaktion auf das unbarmherzige Verhalten des ersten Knechts die Rückzahlung der Schulden einfordert (V. 34) und damit in seinem Umgang mit dem Knecht auf die Ebene des Rechts zurückkehrt. Wir werden darauf zurückkommen. Wie wir gesehen haben, betont Zehetbauer das Recht des Königs bzw. des Herrn zur Eintreibung der Schulden, das die Barmherzigkeit als freiwilligen Akt kennzeichnet.92 Für Zehetbauer scheint gerade die Differenz zwischen der auch von ihm nicht bestrittenen normativen Ebene der Barmherzigkeit und der Normativität des Rechts einen ursprünglichen Schluss in V. 33 nahe zu legen: „Der Knecht

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Zehetbauer, Polarität, 209. Anders urteilt Davidsen, der im Rahmen seiner Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht feststellt, dass „die Vergebung … die Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit [unterläuft]“ (ebd., 140). Nach seiner Auffassung handelt es sich bei der Vergebung sogar um eine „positive Form von Gesetzlosigkeit“ (ebd., 141), die das in einem diametralen Gegensatz zum „Reich der Gerechtigkeit“ stehende „Reich der Barmherzigkeit“ bestimmt (vgl. ebd.). Zwischen einer Barmherzigkeit, die über das Recht hinausgeht und auf dieses positiv bezogen bleibt, und Gesetzlosigkeit, die das Recht unterminiert, ist u. E. streng zu unterscheiden. Vgl. Zehetbauer, Polarität, 209. Auch Turner gehört zu den wenigen, die den rechtskonformen Charakter des Verkaufs des Knechts in die Schuldknechtschaft explizit festhalten: „It is evidently legal for the king to sell the servant and his family in order to obtain some satisfaction for the debt“ (Matthew, 450).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

hat auf der Ebene der gerechten Barmherzigkeit versagt, nun wird an ihm unbarmherzige Gerechtigkeit geübt. Im vernichtenden Richterspruch wird zwischen den beiden Ebenen ein Rechtsverhältnis hergestellt, d.h. empfangene Vergebung soll auch rechtlich – und nicht nur moralisch – zur Gewährung von Vergebung verpflichten. Die Frage ist, ob dieser Aspekt im Gleichnis stimmig ist. Würde das Gleichnis nicht besser mit der Frage enden, d.h. mit dem Versuch, dem unbarmherzigen Knecht seine moralische Pflicht zur Vergebung einsichtig zu machen und ihn dazu zu bewegen, sein Verhalten zu korrigieren?“93 Indem er die Frage nach dem Rechtscharakter bzw. der Normativität der Barmherzigkeit aufwirft, bereitet Zehetbauer seine später geäußerte Annahme, es handle sich bei V. 34 um einen sekundären Zusatz, vor. Hatte er vorher im Blick auf die Gewährung des Schuldenerlasses zu Recht betont, dass es sich bei ihr um einen „freiwillige(n) und nicht einklagbare(n) Akt“94 handelt, so werden nach seiner Auffassung die rechtliche und die nichtrechtliche, moralische Ebene durch die Revision des Schuldenerlasses in unzulässiger Weise miteinander verknüpft: Nun eignet auch der Barmherzigkeit Rechtscharakter. Zehetbauer wirft dem Evangelisten letztendlich vor, seine Definition von Barmherzigkeit als über das Recht hinausgehende und deshalb auch nicht justitiable durch die Einfügung von V. 34 nicht konsequent durchzuhalten. Auf den ersten Blick hat die Argumentation Zehetbauers einiges für sich. In der Tat handelt es sich bei der Barmherzigkeit um eine freiwillige und vor Gericht nicht einklagbare Zuwendung: Ebenso wenig wie der König rechtlich zum Schuldenerlass verpflichtet war, ist es der Knecht. Er hat das Recht auf seiner Seite. Angesichts dieser offensichtlich nicht-rechtlichen Dimension der Barmherzigkeit legt es sich nahe, zwischen der normativen Ebene des Rechts und der normativen Ebene der Barmherzigkeit bzw. der Moral zu unterscheiden. Wenn nun, so die Logik Zehetbauers, Barmherzigkeit ein freiwilliger, nicht-rechtlicher Akt ist, dann muss auch der verpflichtende Charakter der Barmherzigkeit nichtrechtlicher Natur sein. Er fasst deshalb die Normativität der Barmherzigkeit als eine solche, die im Unterschied zur Normativität des Rechts nicht nur nicht einklagbar und nicht durchsetzbar ist, sondern letzten Endes auch nicht durchsetzbar sein darf.95 Dem-

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Zehetbauer, Polarität, 212. Zehetbauer, Polarität, 209. Im direkten Anschluss an diese Äußerung betont Zehetbauer unter Verweis auf Beat Weber, der die Parabel vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Erlassjahrvorstellungen interpretiert, „daß der Schuldnachlaß nicht aus menschlicher, sondern allein aus göttlicher Perspektive zu verstehen ist“ (Polarität, 209). Richtig daran gesehen scheint uns, dass die über das Recht hinausgehende Barmherzigkeit in der Parabel im göttlichen Handeln ihren Ursprung hat. Aber warum sollte der Schuldenerlass nicht auch aus menschlicher Perspektive nachvollziehbar sein, zumal es Beispiele aus dem ägyptischen und mesopotamischen Raum für Schuldenerlässe z. B. zu Regierungsantritten von Herrschern gibt (vgl. die Ausführungen bei Weber, Alltagswelt und Gottesreich, 177–178)? Das zeigt sich etwa daran, dass Zehetbauer das in V. 34 Berichtete als „Ressentiment-Moral“ kritisiert (Polarität, 214).

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entsprechend kritisch sieht er das Verhalten der Mitknechte (V. 31) bzw. die Bestrafung des unbarmherzigen Knechts durch seinen Herrn (V. 34).96 Auf die Normativität der Barmherzigkeit könne immer nur verwiesen werden, was durch die wörtliche Rede des Königs und deren Verweischarakter auf die erste Szene der Parabel geschehe. Trotz der in sich kohärenten Argumentation Zehetbauers spricht die Parabel eine andere Sprache. Entscheidend für eine angemessene Bestimmung des normativen Charakters der Barmherzigkeit scheint uns der Sachverhalt, dass die Bestrafung des unbarmherzigen Knechts in V. 34 nicht als Durchsetzung der Notwendigkeit, seinem Mitknecht Barmherzigkeit zu erweisen, verstanden werden kann. So kann der König den unbarmherzigen Knecht offensichtlich nicht zum Schuldenerlass zwingen. Dies widerspräche auch dem Charakter der Barmherzigkeit als freiwillige, über das Recht hinausgehende Tat, die eine durch ebensolche Freiwilligkeit geprägte imitatio erfordert.97 Im Unterschied zur rechtlich justitiablen Rückforderung von Schulden ist der Schuldenerlass auf der Ebene des Rechts gerade nicht durchsetzbar. Dementsprechend verbleibt der Mitknecht im Gefängnis (V. 30), auch wenn diese letzte Information, die wir über ihn besitzen, auf den ersten Blick irritieren mag: Hätte der König nicht dafür sorgen müssen, dass der Mitknecht freikommt? Dass der König es nicht tut, entspricht unseres Erachtens der genannten Nicht-Durchsetzbarkeit der Barmherzigkeit: Als freiwillige Zuwendung kann sie nicht erzwungen werden. Kurzum: Recht kann durchgesetzt werden, Barmherzigkeit nicht. Der Verfasser des Matthäusevangeliums hält an dieser Unterscheidung auch in V. 34 fest: Das Strafhandeln des Königs besteht hier nicht in der Durchsetzung der Barmherzigkeit, sondern in der Aufrichtung des Rechts. Von einer Verrechtlichung der Barmherzigkeit kann deshalb nicht die Rede sein. Dass Barmherzigkeit nicht erzwungen werden kann, bedeutet für den Evangelisten nun aber offensichtlich nicht, dass der König den unbarmherzigen Knecht für sein Verhalten nicht zur Rechenschaft ziehen könnte. Zehetbauer und all diejenigen, die jegliches richterliche Handeln des Königs im Sinne einer Verrechtlichung der Barmherzigkeit verstehen, übersehen, dass der König nicht nur den Schuldenerlass nicht durchsetzen kann, sondern auch, wie er den unbarmherzigen Knecht straft: Der König wechselt von der Ebene der Barmherzigkeit wieder auf die Ebene des Rechts, die er durch den Schuldenerlass zwar transzendiert, aber nicht prinzipiell außer Kraft gesetzt hatte. Für ein angemessenes Verständnis der Parabel ist das Changieren zwischen diesen beiden Ebenen von elementarer Bedeutung. Barmherzigkeit geht über das Recht hinaus, ist aber als solche bleibend auf das Recht bezogen, so dass dieses auch wieder angewendet werden kann. Das richterliche Handeln des für Gott transparenten Königs orientiert sich also am Maßstab der Barmherzigkeit (und damit nicht am Maßstab des Rechts), es kann diesen Maßstab aber um des Maßstabs selbst willen nicht durchsetzen (in diesem 96 97

Vgl. Zehetbauer, Polarität, 214. Zudem widerspräche der Zwang zum Schuldenerlass auch dem durch die Parabel nicht in Frage gestellten Recht auf Rückzahlung der Schulden.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Falle würde Barmherzigkeit verrechtlicht, Liebe zum Gesetz) und richtet das Recht wieder auf. Entscheidend ist damit für den Evangelisten nicht, dass der König nicht als Rechtsinstanz ansprechbar wäre, sondern der Maßstab, nach welchem der König sich richtet. Dieser Maßstab aber ist die über das Recht hinausgehende, nicht einklagbare Barmherzigkeit. Angesichts der bleibenden Bezogenheit der Barmherzigkeit auf das Recht ist es unwahrscheinlich, dass die Leserinnen und Leser die Revision des Schuldenerlasses als einen Akt der Willkür verstehen, der die Verlässlichkeit des Königs in Frage stellt. So fordert der König die Schulden etwa nicht deshalb zurück, weil er es sich aus einer Laune heraus doch noch mal anders überlegt hat und nun doch nicht bereit ist, auf sein Geld zu verzichten. Entscheidend für die erneute Rückforderung der Schulden ist vielmehr die Weigerung des Knechts, seinem Mitknecht Barmherzigkeit zu erweisen und darin die ihm gewährte Barmherzigkeit, für die – wie wir gesehen haben98 – Gegenseitigkeit konstitutiv ist, nachzuahmen.99 Problematisch ist also nicht die Revision des Schuldenerlasses, problematisch wäre vielmehr, wenn der König nicht erneut das Recht aufrichten würde und das Verhalten des Knechts ohne Konsequenzen bliebe. In diesem Fall würde der Charakter der Barmherzigkeit als auf Gegenseitigkeit zielende und Beziehung gestaltende unterminiert. Die Normativität von Barmherzigkeit liegt also vor allem darin begründet, dass Barmherzigkeit auf Gegenseitigkeit und damit auf die Gestaltung von Beziehung zielt: Ohne Gegenseitigkeit gäbe es keine Beziehung. Indem der König nun aber auf das Verhalten des Knechts reagiert, nimmt er das Verhalten des Knechts ganz ernst und setzt sich dadurch, dass er ihn nachahmt, in Beziehung zu ihm. Diese Beziehung wird nun allerdings nicht auf der vom König präferierten Ebene der Barmherzigkeit, sondern auf der Ebene des Rechts gestaltet. Der Evangelist unterscheidet somit zwischen zwei Arten von Gegenseitigkeit, einer rechtlich-einklagbaren und einer freiwillig-nicht justitiablen. Die Versuche, das richterliche Handeln des Königs auszuschließen, stellen letztendlich den Gegenseitigkeitscharakter der Barmherzigkeit und damit den Gegenseitigkeitscharakter der Gottesbeziehung in Frage. Im Zusammenhang der Frage nach der Verrechtlichung der Barmherzigkeit ist eine weitere Beobachtung von Bedeutung: So haben die erste und zweite Szene die Gegenwart im Blick, wohingegen V. 34 auf das eschatologische Gericht anspielt.100 Barmherzigkeit ist ausschließlich am Ende der Zeit vor Gott justitiabel und als solche nicht deckungsgleich mit dem innerweltlichen Recht. Vergleichbar sind die sogenannten Antithesen der Bergpredigt: Auf der Grundlage der Halacha fordert der matthäische Jesus von seinen Adressaten Dinge, die – anders als die

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Vgl. Abschnitt 1.1.1.2. Das bringt folgende Äußerung Nielsens treffend auf den Punkt: „Die Grundlage des Urteils [des Herrn der Parabel; J.-C. M] ist die Reaktion des Knechts auf die Barmherzigkeit, die ihm zu Teil wurde“ (Ökonomie der Generosität, 33). 100 Vgl. Erlemann, Bild Gottes, 80.

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Halacha – über das Justitiable hinausgehen.101 Diese Forderungen aber entscheiden über den Eintritt ins Himmelreich (Mt 5,20) und die Gotteskindschaft (Mt 5,45). Barmherzigkeit ist der Maßstab des richterlichen Handeln Gottes, nicht aber der weltlichen Gerichtsbarkeit. Dass die Vorstellung einer normativen Dimension eines durch Freiwilligkeit geprägten Aktes den Menschen der Antike durchaus plausibel sein konnte, zeigt die vom französischen Ethnologen und Soziologen Marcel Mauss entworfene Gabe-Theorie: Eine freiwillige Gabe schließt nach antikem Verständnis die Verpflichtung ihrer Erwiderung ein, ohne dass die Erwiderung eingeklagt werden könnte.102 Wir werden auf diese Parallele schon allein deswegen zurückkommen müssen, weil mit dem in der Parabel siebenmal verwendeten Verb ἀποδίδωμι (V. 25 [zweimal].26.28.29.30.34), einem matthäischen „Vorzugswort“103, der Sinnzusammenhang von Gabe und Gegengabe aufgerufen wird. Schon hier sei allerdings darauf hingewiesen, dass die auf Freiwilligkeit basierende und Normativität setzende Gabe für die Gestaltung sozialer Beziehungen wesentlich ist. Dies scheint auch, wie die Parabel unmissverständlich zeigt, für die Barmherzigkeit zu gelten. Die freiwillige und verpflichtende Barmherzigkeit bestimmt die Gott-Mensch-Beziehung und soll auch die zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmen. Barmherzigkeit ist also im Matthäusevangelium nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass sie die Dimensionen der Freiwilligkeit und der Normativität miteinander verbindet, sondern auch dadurch, dass sie die Gott-Mensch-Beziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen miteinander verschränkt.

1.1.1.4 Die Unvereinbarkeit von Barmherzigkeit und Gericht als Prämisse der verschiedenen Begründungen Bis jetzt ist bei der Darstellung und Diskussion der Begründungen der Notwendigkeit einer Rekonstruktion der ursprünglichen Parabel immer wieder auf die verdeckte theologische Prämisse hingewiesen worden, dass ein vergeltendes Handeln Gottes die Verlässlichkeit seiner Barmherzigkeit unterwandert. Im Folgenden soll diese Prämisse, die auch hinter der im Anschluss zu besprechenden Strategie der paränetischen Funktionalisierung des Gerichtsgedankens steht, am Beispiel der 101 Peter Wick macht die Differenz zwischen einer halachisch-justitiablen Ebene und einer darüber hinausgehenden haggadisch-nichtjustitiablen Ebene der Torainterpretation, die in der rabbinischen Literatur ‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫ =( לִ פְ נִ ים ִמ‬jenseits der Linie des Rechts) genannt wird, zum hermeneutischen Schlüssel seiner Interpretation der sogenannten Antithesen (Mt 5,21–48) und liefert damit einen weiteren gewichtigen Hinweis für die Nähe des Evangelisten zu dem sich nach der Tempelzerstörung neu formierenden Judentum (vgl. Wick, Antithesen,175; vgl. ders., Strategies, 237). Zum haggadisch-nichtjustitiablen Verfahren ‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫ לִ פְ נִ ים ִמ‬vgl. auch Anm. 692 und Anm. 831. 102 Vgl. Mauss, The Gift. Gary Stansell hat die Gabetheorie für die Bibelwissenschaften fruchtbar gemacht, vgl. ders., Gabe und Reziprozität. 103 So Sand, Art. ἀποδίδωμι, Sp. 307; Weber, Schulden, 253, spricht vom „Vorzugsverb“ (vgl. auch ders., Vergeltung oder Vergebung!?, 138).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Position Harnischs offengelegt und in der kritischen Diskussion gezeigt werden, dass sie sich letzten Endes lutherischen Theologumena verdankt. 1. Wir haben bereits unter Punkt 1.1.1.2 dargelegt, dass zwischenmenschlicher Vergebung göttliche Notwendigkeit eignet und dass Gott als Richter die Verweigerung zu einer solchen Vergebung eschatologisch sanktioniert. Harnisch tut sich mit der in V. 33 angesprochenen und durch V. 34 untermauerten Verantwortlichkeit, die gar als ethischer Appell missverstanden werden könnte, schwer.104 Einerseits sollen sich die Hörerinnen und Hörer der Parabel an Mitleid und Güte des Königs orientieren und „eine andere Nachgeschichte … erfinden, die der wunderbaren Vorgeschichte entsprechen könnte“105, andererseits soll sich dieses Verhalten scheinbar wie selbstverständlich ausschließlich aus der Erfahrung des Schuldenerlasses ergeben.106 Die rhetorische Frage, ob sich der Knecht nicht an der Barmherzigkeit seines Herrn hätte orientieren sollen (V. 33), darf nach Harnisch auf keinen Fall als Drohung oder als Aufruf mit appellativen Charakter verstanden werden.107 Die hier zu Tage tretenden argumentativen Paradoxien – die Hörer werden zu etwas aufgerufen, ohne dass dieser Aufruf als Forderung, deren Nicht-Einlösung Konsequenzen zu zeitigen hätte, missverstanden werden darf108 – hängen damit zusammen, dass Harnisch das Verhalten des Königs auf seine Barmherzigkeit festgelegt sieht: Wo der König ausschließlich barmherzig ist, dort kann und darf die Parabel keinen appellativen Charakter entfalten. Ähnlich wie Harnisch betont Linnemann trotz ihrer Charakterisierung des ἔδει (V. 33) als „heiliges Gesetz“109 den ungesetzlichen Charakter der Barmherzigkeit: „Aber nun kommt es darauf an, ein Mißverständnis aus dem Wege zu räumen. Sich auf die Ordnung der Barmherzigkeit einlassen, bedeutet nicht, ein Gesetz über sich aufzurichten, das fordert: Du sollst barmherzig sein, du sollst vergeben usw.“110 Richtig sieht Linnemann hier, dass zwischen Barmherzigkeit und Gesetz zu unterscheiden ist, problematisch ist hingegen, dass sie mit dieser Unterscheidung trotz ihrer Rede vom

104 Vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 269. 105 Harnisch, Gleichniserzählungen, 268. 106 Dieser Schluss ergibt sich zwangsläufig aus der Negation jeglichen appellativen Charakters der Parabel. Explizit findet sich diese Sichtweise bei Weder: „In der ursprünglichen Parabel kommt die Gottesherrschaft insofern zur Sprache, als sie dem Menschen die zuvorkommende Vergebung so nahe bringt, daß ihr Vergebung unter den Menschen selbstverständlich folgt“ (Gleichnisse Jesu, 215f.). 107 Harnisch, Gleichniserzählungen, 269–270. 108 U. E. läuft diese Paradoxie auf die Quadratur des Kreises hinaus: Eine Forderung ohne appellativen Charakter gibt es nicht. Einen ähnlichen Versuch unternimmt Landmesser, wenn er den paulinischen Imperativ als christologisches Performativ verstanden wissen will (Landmesser, Der paulinische Imperativ, 546 Anm. 10). Zur Kritik an dieser Position vgl. Maschmeier, Glaube und Handeln, 26–27. 109 Vgl. Linnemann, Gleichnisse Jesu, 116. Sie spricht dort vom „tiefen Ernst eines heiligen Gesetzes“. 110 Linnemann, Gleichnisse Jesu, 119.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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„tiefen Ernst eines heiligen Gesetzes“111 letztendlich den normativen Charakter der Barmherzigkeit in Frage stellt. Beides, die durch ἔδει zum Ausdruck gebrachte absolute Notwendigkeit der Nachahmung des göttlichen Handelns und die Unterscheidung zwischen Barmherzigkeit und Gesetz, passen dann zusammen, wenn zwischen dem normativen Charakter der Barmherzigkeit, der nicht auf der rechtlichen Ebene des Gesetzes, sondern auf der überrechtlichen Ebene der Barmherzigkeit zu verorten ist, und dem normativen Charakter des Gesetzes differenziert wird. Der In-Frage-Stellung des normativen Charakters der Barmherzigkeit durch Linnemann dürfte ebenso wie der Position Harnischs die lutherische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium zu Grunde liegen, der zufolge sich das Evangelium vom Gesetz dadurch unterscheidet, dass es keine Heilsunsicherheit schürenden Forderungen aufstellt,112 sondern zeigt, was Christus in den Glaubenden bewirkt. Konsequenterweise muss in einer solchen Sichtweise dann auch auf die Spontaneität respektive den Automatismus menschlichen Gehorsams hingewiesen werden. Die Kritik an der Darstellung Gottes als Richter und das nichtappellative Verständnis der Parabel gehen Hand in Hand.113 Die Parabel spricht hier eine andere Sprache. Unbeschadet dessen, dass die geforderte Nachahmung des königlichen Verhaltens in der Erfahrung des Schuldenerlasses und der darin zum Ausdruck kommenden Güte des Königs ihren Ursprung hat, scheint die Folgerung, dass sich das Handeln des Knechts von selbst einstellt, gerade nicht gezogen zu werden. Zwischen dem von der Parabel transportierten Anspruch, das Verhalten des ersten Knechts müsste sich eigentlich aufgrund der ihm widerfahrenen Güte an ebendieser orientieren, und der Wirklichkeit klafft eine Lücke, die in der zweiten Szene (V. 28–30) narrativ entfaltet wird. Die zweite Szene stellt zwar eine zutiefst fragwürdige, aber doch sehr reale Möglichkeit dar. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hängt damit zusammen, dass sich das richtige Verhalten des Knechts nicht automatisch einstellt, dass er also für sein Tun verantwortlich bleibt und die Konsequenzen seines Tuns auch tragen muss. Ebenso wenig wie der König ein für alle Mal auf seine Barmherzigkeit festgelegt bleibt, ist der Knecht auf die Nachahmung des Verhaltens des Königs festgelegt. Die Beziehung zwischen König und Knecht ist gestaltungsoffen 111 Linnemann, Gleichnisse Jesu, 116. 112 Vgl. dazu den Rückblick Luthers in seiner Vorrede zum ersten Band der lateinischen Schriften, M. Luther, Vorrede, 505–507. 113 Im Anschluss an Weder verortet Harnisch die Rede von Gott als Richter „im Umkreis jüdischgesetzlichen Denkens“ und stellt dazu fest: „Es fällt jedenfalls schwer, ihr christliches proprium aufzuweisen“ (Gleichniserzählungen, 257). Sollte das Erzählgefälle der Parabel in der Tat auf ein richterlich-strafendes Handeln Gottes zulaufen, dann sähe sich Harnisch aufgrund „eine[r] kaum erträgliche[n] Spannung zur Aussagetendenz der meisten übrigen Gleichniserzählungen Jesu“ (ebd., 258) zu theologischer Sachkritik genötigt. Sein Anliegen ist es freilich, zu zeigen, dass die ursprüngliche Parabel mit V. 33 endet. Für Harnisch steht also von vornherein fest, dass ein sich-erbarmendes und ein richterliches Handeln Gottes in einem diametralen, unvereinbaren Gegensatz zueinanderstehen. Hierin unterscheiden sich für ihn Judentum und Christum. Das proprium christianum besteht in der unbedingten Vergebungsbereitschaft, die jegliches richterliche Handeln ausschließt.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

und dynamisch. Die Problematik eines Festhaltens des Königs an seiner Güte unabhängig vom Verhalten des Knechts besteht darin, dass unter der Prämisse, dass nach antikem Verständnis Gegenseitigkeit ein wesentliches Merkmal von Beziehungen ist, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch letztendlich als beziehungslos konzeptualisiert wird: Das Verhalten des Knechts würde angesichts der sich durchhaltenden Güte belanglos. Entscheidend scheint uns deshalb nicht, dass Barmherzigkeit nicht als Forderung missverstanden werden darf, sondern dass dieser Forderung freiwillig – nicht automatisch! – entsprochen werden soll. Nur so wird der Knecht als Gegenüber seines Herrn ernst genommen. 2. An zwei Stellen seiner Auslegung von V. 34 kommt Harnisch kurz auf den Tun-Ergehen-Zusammenhang zu sprechen. So weist er darauf hin, dass die Bestrafung des Knechts durch den König dem Verhalten des ersten Knechts gegenüber seinem Mitknecht genau korrespondiert, was durch die nahezu parallelen Formulierungen unterstrichen wird:114 So wie der Mitknecht ins Gefängnis geworfen wird, „bis er das Geschuldete zurückgezahlt hätte“ (V. 30: ἕως ἀποδῷ τὸ ὀφειλόμενον), wird auch der ursprüngliche Schuldner des Königs aufgrund seines Verhaltens gegenüber seinem Mitknecht den „Folterknechten“ übergeben, „bis er alles Geschuldete zurückgezahlt hätte“ (V. 34: ἕως οὗ ἀποδῷ πᾶν τὸ ὀφειλόμενον). Tun und Ergehen des Knechtes entsprechen sich hier. An der zweiten Stelle bemerkt Harnisch zu diesem Sachverhalt lapidar: „Die Schilderung ist deutlich von dem Interesse bestimmt, den Tun-Ergehen-Zusammenhang augenfällig zu machen.“115 Diese Bemerkung ist insofern aufschlussreich, als Harnischs Interpretation ja darauf hinausläuft, V. 34 als sekundär zu erweisen, weil sie der ursprünglichen Aussageintention der Parabel entgegensteht. Die implizite theologische Sachkritik lautet dann: Mit V. 34f. wird der Tun-Ergehen-Zusammenhang wieder eingeführt, was logischerweise voraussetzt, dass er vorher – durch das gütige Handeln des Königs – außer Kraft gesetzt wurde. Nun wird auch deutlich, warum Harnisch die Souveränität des Königs und seine Unabhängigkeit von der „Macht des Faktischen“116, also auch von den Handlungen seiner Untergebenen, betonen musste: Diese Unabhängigkeit und die Außer-Kraft-Setzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs bedingen sich gegenseitig. Sie sichern beide ein protestantisches Verständnis von Rechtfertigung, dem zufolge Gott seine Liebe und Barmherzigkeit darin erweist, dass er unabhängig von den Werken und damit unabhängig vom Verhalten des Menschen rechtfertigt. Würde das Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht Auswirkungen auf die zuvorkommende Güte haben und gar eine Revision dieser Güte bedeuten, dann würden die „Werke“ des Menschen in positiver wie in negativer Hinsicht eine Rolle im Hinblick auf die Rechtfertigung spielen. Von diesem Heilsungewissheit schürenden und Selbstrechtfertigung fördernden Verständnis von Gerechtigkeit, das sich im Tun-Ergehen-Zusammenhang 114 Vgl. Harnisch, Gleichniserzählungen, 261. 115 Harnisch, Gleichniserzählungen, 263. 116 Harnisch, Gleichniserzählungen, 265.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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manifestiert, sind die Glaubenden, so das klassische protestantische Verständnis, befreit. Sie stehen nicht mehr „unter dem Gesetz“. Konsequenterweise muss Harnisch dann auch diejenigen Ausleger der Parabel kritisieren, die der matthäischen Leseanweisung von V. 35 folgen und den Forderungscharakter herausstellen.117 Wo Gottes rechtfertigendes respektive sein barmherziges Handeln den Tun-Ergehen-Zusammenhang prinzipiell außer Kraft setzt bzw. außerhalb dieses Zusammenhanges operiert, da werden Auswirkungen des menschlichen Handelns auf Gottes rechtfertigendes Handeln zum Problem. Die Parabel sieht das anders: Wenn die erste Szene als Durchbrechung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs zu verstehen ist, dann zeigt die dritte Szene, dass dieser Zusammenhang nicht grundsätzlich und prinzipiell zur Disposition steht, auch wenn er sich am Maßstab der Barmherzigkeit (und nicht des Rechts) orientiert. Die Güte des Königs entlässt, wie V. 33 zeigt, den ersten Knecht nicht aus der Verantwortlichkeit für sein Tun. Sie ermöglicht ihm vielmehr eine offene Zukunft. Theologisch formuliert: Vergebung ermöglicht einen Neuanfang, der aber verantwortlich gestaltet sein will. Die Aussetzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs impliziert nicht seine Aufhebung. 3. Die Darstellung der theologischen Prämisse, die hinter den diskutierten Positionen steht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der Problematisierung des normativen Charakters der Barmherzigkeit um ein konfessionsübergreifendes Phänomen handelt. Exemplarisch sein an dieser Stelle wiederum auf Markus Zehetbauer verwiesen, der das in V. 34 geschilderte Verhalten des Königs als „Ressentiment-Moral“ kennzeichnet und hier theologische Sachkritik für angebracht hält: „Außerdem zeugt der Schluß von einer gewissen Ressentiment-Moral. Der Herr funktioniert genau so, wie empörte Mitknechte das gerne tun würden, aber nicht können: er läßt ziemlich hemmungslos seinen Zorn an dem Knecht aus. Und dieses nicht nur nicht vorbildliche, sondern an der Aussageabsicht der Parabel gemessen auch widersprüchliche Verhalten des Herrn wird in V 35 auch noch als Muster für den ‚himmlischen Vater‘ ausgewiesen …“118. Über alles ließe sich hier streiten, insbesondere auch über die Charakterisierung der Übergabe an die Folterer als hemmungsloses Ausleben des Zorns. Es ist u. E. zur Beurteilung der Bestrafung des Knechts von entscheidender Bedeutung, dass der König in V. 34 – wie wir bereits gesehen haben – den Maßstab des unbarmherzigen Knechtes anlegt und von der Ebene der Barmherzigkeit wieder auf die Ebene des Rechts wechselt, ohne dass das Recht zum Schuldeneintreiben in der Parabel als solches kritisiert würde. Die Frage, ob zwischen dem Verkauf in die Schuldsklaverei (V. 25), den ja auch Zehetbauer als gutes Recht des Königs versteht,119 und der Auslieferung an

117 Vgl. seine knappe Diskussion dieser Positionen auf S. 269. 118 Zehetbauer, Polarität, 214. 119 Vgl. Zehetbauer, Polarität, 209; vgl. ders., Befristete Barmherzigkeit, 238.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

die Folterer (V. 34) eine Steigerung vorliegt, ist nicht eindeutig zu beantworten,120 fest steht aber, dass beide Aktionen der Parabel zufolge geltendes Recht umsetzen. Der Zorn des für Gott transparenten Königs äußert sich also in der Umsetzung des Rechts.121

1.1.1.5 Zusammenfassung und Bündelung der bisher getroffenen exegetischen Entscheidungen Die ausführliche Diskussion der Rekonstruktionsversuche der ursprünglichen Parabel hat gezeigt, inwiefern die als Widerspruch zur ersten Szene empfundene Revision des Schuldenerlasses in der dritten Szene zum Einfalltor werden kann, die literarische Einheitlichkeit der im Matthäusevangelium vorliegenden Version der Parabel vom unbarmherzigen Knecht anzuzweifeln und eine vom Gerichtsgedanken freie, ursprüngliche Version zu rekonstruieren. Der vermeintlichen Inkompatibilität von Erbarmen und Zorn im Gottesbild (1.1.1.1) korrespondiert dabei eine vermeintliche Unvereinbarkeit zweier Begründungen der Notwendigkeit zur Vergebung, der Verweis auf die vorangegangene Güte und die Gerichtsdrohung: Dass der Vergebung gewährende Gott die Verweigerung zur Nachahmung seiner Barmherzigkeit in den innergemeindlichen Beziehungen vergilt, ist in einer solchen Sichtweise schlechterdings nicht vorstellbar (1.1.1.2). Die exegetischen Entscheidungen eines solchen Interpretationsmodells wurden kritisch diskutiert und gezeigt, dass sich der vermeintlich sekundäre Charakter von V. 34 oder gar der ganzen dritten Szene (V. 31–34) letztendlich nur unter der dogmatischen Prämisse, Barmherzigkeit und Gericht schlössen sich gegenseitig aus, zu erweisen ist. Die im Blick auf die ursprüngliche Zugehörigkeit von V. 34 gemachte Feststellung Zehetbauers, dass die Frage der Vereinbarkeit von Erbarmen und Zorn „kaum durch Text- bzw. Redaktionskritik zu beantworten [ist]“, sondern „einer theologischliterarischen Klärung [bedarf]“122, hat sich als zutreffend erwiesen. Darüber hinaus hat die Diskussion einer traditions- bzw. redaktionsgeschichtlichen Dekonstruktion der Parabel die normative Dimension der Barmherzigkeit als Schlüssel zu ihrem Verständnis identifiziert (1.1.1.3). Die kritische Auseinandersetzung mit Markus Zehetbauer hat dabei gezeigt, dass das göttliche Vergel-

120 Während Leutzsch den Verkauf in die Sklaverei als schwerwiegenderen Vorgang als durch Folter verschärfte Schuldhaft versteht (vgl. Leutzsch, Verschuldung, 122–123), spielt diese Frage für andere Exegetinnen und Exegeten keine Rolle. 121 Wenn Joachim Jeremias, Gleichnisse Jesu, 208, und im Anschluss an diesen auch Via, Gleichnisse Jesu, 134, den Verkauf des Knechts als Ausdruck des Zorns seines Herrn werten, dann muss auch dieser Charakterisierung sofort hinzugefügt werden, dass der Herr im Rahmen des ihm zustehenden Rechts agiert. Die Verbindung von Recht und Zorn ist durch das Alte Testament vorbereitet: Gottes Zorn konkretisiert sich hier in der Regel nicht in willkürlicher Bestrafung, sondern als Aufrichtung und Durchsetzung verletzten Rechts (vgl. Wälchli, Art. Zorn [Altes Testament], 3.2.3.). 122 Beide Zitate bei Zehetbauer, Polarität, 206.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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tungshandeln die Barmherzigkeit nicht verrechtlicht bzw. die Liebe nicht zum Gesetz macht. So kann Barmherzigkeit gerade nicht erzwungen, wohl aber das Recht, über das die Barmherzigkeit hinausgeht und auf das sie bleibend bezogen ist, erneut angewandt werden. Als Prämisse der literarischen Dekompositionsversuche wurde ferner die Auffassung offengelegt, dass die göttliche Zuwendung um der Heilssicherheit willen bedingungslos gewährt werden muss, und dass ein Strafhandeln des für Gott transparenten Königs überwundenes Vergeltungsdenken reimplementiert (1.1.1.4). Die in der bisherigen Diskussion getroffenen exegetischen Entscheidungen, die die Grundlage für die weitere exegetische Arbeit in diesem Kapitel bilden, sollen an dieser Stelle noch einmal stichpunktartig zusammengefasst werden. Sie sind die wesentlichen Bausteine für unser neues Verständnis der Parabel und plausibilisieren die Differenz zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit und ihren wechselseitigen Bezug aufeinander. 1. Die Souveränität des Königs/Herrn zeigt sich sowohl im unerwartet gewährten Schuldenerlass (V. 27) als auch in dessen Revision (V. 34). Erbarmen und Zorn sind Affekte des einen Königs. 2. Auf pragmatischer Ebene wird die Forderung, in der ἐκκλησία untereinander Barmherzigkeit zu üben, sowohl durch den Verweis auf die vorangegangene göttliche Güte (1. Szene) als auch durch die Androhung eines richterlichen Handelns Gottes (3. Szene) unterstrichen. Vergebung und Vergeltung bzw. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit widersprechen sich nicht, sondern sind zwei Weisen, in denen der König respektive Gott handelt. 3. Die Abrechnung des Königs mit seinen Knechten (V. 23–24) und der geplante Verkauf des zahlungsunfähigen Knechts in die Schuldsklaverei (V. 25) entsprechen ebenso wie das Verhalten des unbarmherzigen Knechts gegenüber seinem Mitknecht (V. 28–30) dem Recht. Der Schuldenerlass verlässt die Rechtsebene. Er geht über das Recht hinaus und wird aus freien Stücken gewährt. Der Aspekt der Freiwilligkeit zeigt sich insbesondere daran, dass der König die Erwartung seines Knechts noch übertrifft und ihm nicht nur den erbetenen Zahlungsaufschub gewährt, sondern – darüber hinausgehend und darin die Rechtsebene transzendierend – auf die Rückzahlung des Darlehens (δάνειον) verzichtet (V. 27). Dass Barmherzigkeit nur aus freien Stücken gewährt werden kann, wird dadurch bestätigt, dass der König den unbarmherzigen Knecht zwar zur Rechenschaft ziehen (V. 34), ihn aber nicht zum Schuldenerlass zwingen kann. So verbleibt der Mitknecht im Gefängnis (V. 30). Dass der König den Schuldenerlass des Knechtes gegenüber seinem Mitknecht nicht erzwingen kann, zeigt, dass der Evangelist sein Verständnis der Barmherzigkeit als über das Recht hinausgehende durchhält.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

4. Der Knecht, dem die Schulden erlassen wurden, muss seinem Mitknecht die Schulden erlassen. Die Notwendigkeit, die göttlich gewährte Barmherzigkeit nachzuahmen, ist untrennbar mit der vorangegangenen Zuwendung Gottes verknüpft. Das zeigt die Anklage des Königs gegenüber seinem Knecht in den V. 32–33 in aller Deutlichkeit: Der Knecht hätte dem ihm gewährten ἔλεος entsprechen müssen (ἔδει). Allerdings muss auch die Nachahmung der Barmherzigkeit aus freien Stücken erfolgen, was sich daran zeigt, dass sie nicht erzwungen werden kann (vgl. Punkt 3). Die dynamische, nicht auflösbare Spannung zwischen Freiwilligkeit und Notwendigkeit prägt den Begriff ἔλεος. 5. Der normative, aber nichtrechtliche Charakter der Barmherzigkeit findet seinen vornehmsten Ausdruck darin, dass Barmherzigkeit auf Gegenseitigkeit zielt. So sind die Gewährung von Barmherzigkeit und die Notwendigkeit ihrer Erwiderung in sachlicher Hinsicht gleichursprünglich: Das eine ist von vornherein mit dem anderen gegeben. Der Evangelist unterscheidet also zwischen zwei Arten von Gegenseitigkeit, eine rechtlich-einklagbare und eine über das Recht hinausgehende, die nicht justitiabel ist. Die entscheidende Differenz von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit besteht damit nicht darin, dass Barmherzigkeit auf Reziprozität verzichtet. Vielmehr zielt sie auf ungeschuldete, aus freien Stücken gewährte Gegenseitigkeit, die für die Gott-Mensch-Beziehung und die innergemeindlichen Beziehungen konstitutiv ist. Somit erweist sich ἔλεος als ein Beziehungsbegriff ersten Ranges. 6. Die Revision des Schuldenerlasses in V. 34 steht nicht im Widerspruch zu dem ursprünglich gewährten Schuldenerlass. Durch die Orientierung des Königs am Verhalten des unbarmherzigen Knechts gegenüber seinem Mitknecht wird deutlich, dass die erneute Rückforderung der Schulden nicht der Willkür des Königs, der es sich in der Zwischenzeit anders überlegt hat und seine Schulden nun doch einfordert, sondern der Unbarmherzigkeit des Knechts geschuldet ist. Der Maßstab der Revision des Schuldenerlasses ist nicht das Recht, sondern die Barmherzigkeit. Die Strafe allerdings, die der König im Zorn vollzieht, besteht in der Anwendung des Rechts, ohne dass Barmherzigkeit zum Gesetz würde (so lautet aber die Annahme Zehetbauers). Die erneute Anwendung des Rechts in V. 34 zeigt auf ihre Weise, dass die Barmherzigkeit als über das Recht hinausgehende bleibend auf das Recht bezogen bleibt. Wo Barmherzigkeit verweigert wird, dort werden die Beziehungen durch das Recht gestaltet. 7. Es ist bereits mehrfach angeklungen, dass die Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft (Mt 18,21f.), die die unbegrenzte Vergebungsbereitschaft Gottes nachahmt, ein vergeltendes Handeln Gottes nicht ausschließt. Angesichts des ausstehenden Gerichts (Mt 18,34) erweist die unbegrenzte Vergebungsbereitschaft die Gegenwart als Zeit der Barmherzigkeit, in der Gott Umkehr (Mt 4,17; vgl. 3,2)

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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unbegrenzt ermöglicht. Wären Mt 18,21f. Ausdruck einer das Gericht Gottes ausschließenden Vergebungsbereitschaft stünde das nicht nur quer zur dritten Szene der Parabel, sondern zum für das gesamte Evangelium wichtigen Gerichtsgedanken als solchem. Hier läge in der Tat ein nicht zu lösender Widerspruch vor. 8. Die Gott-Mensch-Beziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Gemeinde werden in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht intrinsisch miteinander verknüpft. Genauer: Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind eingebettet in die Gott-Mensch-Beziehung. In diesem Sinne rahmen die erste (V. 23–27) und die dritte Szene (V. 31–34) der Parabel, in denen die Beziehung zwischen dem König/Herrn und seinen Knecht im Mittelpunkt steht, die zweite Szene (V. 28–30), in der es um das Verhältnis des Knechts zu seinem Mitknecht geht.

1.1.2 Strategie II: Funktionalisierung der Gerichtsaussagen am Beispiel von U. Luz Nachdem im vorangegangen Abschnitt Begründungen für eine redaktions- bzw. traditionsgeschichtliche Dekonstruktion der Parabel vom unbarmherzigen Knecht vorgestellt und kritisch hinterfragt wurden, soll im vorliegenden Abschnitt eine weitere Strategie offengelegt werden, wie die Rede vom Gericht Gottes von der Barmherzigkeit her unterminiert wird. Exemplarisch wird dies in der Darstellung und kritischen Diskussion der Auslegung der Parabel durch Ulrich Luz geschehen, die er in seinem monumentalen Kommentar zum Matthäusevangelium vorgelegt hat.123 Wie sich zeigen wird, stehen nach Luz die Aussagen über ein richterliches Handeln Gottes funktional im Dienste der Barmherzigkeit: Sie machen auf die Notwendigkeit der zwischenmenschlichen Vergebung aufmerksam, ohne damit den unbedingten und grenzenlosen Charakter der göttlichen Gnade zu begrenzen. Während Harnisch die Gerichtsdrohung aus der vermeintlich ursprünglichen, auf Jesus selbst zurück gehenden Version der Parabel verbannt und auf diese Weise den Weg für eine theologische Kritik an den matthäischen Gerichtsaussagen ebnet, hebt Luz die Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Gottesbild dadurch auf, dass er das richterliche Handel der Barmherzigkeit Gottes funktional zuordnet: Er versteht die zu Recht wahrgenommene Asymmetrie von Erbarmen und Zorn im Sinne einer Aufhebung ihrer Polarität und die Gerichtsaussagen einseitig als paränetische „Einschärfung der Liebe“124. Seine Interpretation läuft letztendlich auf eine Verschmelzung der Gerichtsaussagen mit der Liebe hinaus: Als eigenständige, von der Liebe zu unterscheidende Größe, kommt dem Zorn Gottes keinerlei Bedeutung zu, weil eine solche Unabhängigkeit die Zuverlässigkeit der Gnade in Frage stellen würde. An der Auslegung von Luz zeigt sich auf ihre 123 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 64–78 (Mt 18,21–22: ebd., 61–64). 124 Luz, Matthäus Bd. 3, 81.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Weise, dass die Parabel die theologische Grundfrage nach dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit aufwirft. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt die Interpretation der Parabel von Luz vorgestellt und kritisch diskutiert (1.1.2.1). Im Anschluss daran wird der Blick auf die Gemeinderegel (Mt 18,15–18) ausgeweitet, die mit der als ultima ratio aufgefassten Exkommunikation des umkehrunwilligen Bruders vor ähnliche Probleme stellt wie das richterliche Handeln des für Gott transparenten Königs in der Parabel (1.1.2.2). Abschließend werden auch hier die Ergebnisse in einem letzten Punkt zusammengefasst (1.1.2.3).

1.1.2.1 Die Funktionalisierung der Gerichtsaussagen in der Interpretation von Mt 18,23–35 Bei seiner Interpretation von V. 35 skizziert Luz den Skopus der Parabel folgendermaßen: „Obwohl in der Parabel die göttliche Vergebung der menschlichen vorausgeht, ist für Matthäus die menschliche Vergebung die Bedingung dafür, daß die göttliche Vergebung im Endgericht gilt.“125 Aufschlussreich an dieser Skizze ist der konzessive Charakter des Vordersatzes („obwohl“): Dass nach matthäischer Auffassung die menschliche Vergebung in der dritten Szene Voraussetzung für die göttliche Vergebung ist, passt offenbar schlecht zur Abfolge der ersten beiden Szenen der Parabel, in denen die göttliche der vom Menschen geforderten Vergebung vorausgeht. Erste und dritte Szene stehen also auch nach Luz in einem gewissen Widerspruch zueinander. Diese Sichtweise ist umso erstaunlicher, als Luz vorher festgestellt hatte, dass „[d]as Endgericht … nicht als unverständliche Drohung [funktioniert], sondern … begreiflich [wird], gerade weil das Verhalten des ‚Großen‘ [des ersten Knechts; J.-C. M] unbegreiflich bleibt“126. Luz macht hier zu Recht darauf aufmerksam, dass es einen unmittelbaren und plausiblen Zusammenhang zwischen dem Verhalten des unbarmherzigen Knechts und seiner Bestrafung gibt. Diese Plausibilität gründet nach Luz in dem Akt des königlichen/göttlichen Schuldenerlasses respektive in der Barmherzigkeit, die dem Knecht widerfahren ist.127 Es ist diese in der ersten Szene narrativ entfaltete Barmherzigkeit, die das

125 Luz, Matthäus Bd. 3, 75. 126 Luz, Matthäus Bd. 3, 73. Nach Luz hat der Evangelist die Parabel als erster verschriftlicht (vgl. ebd., 66), dabei aber den paränetischen Akzent verstärkt (vgl. ebd., 75–76). 127 In diesem Sinne bemerkt Luz: „Was im Alltag gang und gäbe war, wird im Licht von Gottes überwältigender Vergebung unerträglich. Insofern ist die erste Szene der Parabel, die darauf hinweist, für die Formulierung der Pointe unabdingbar: Gottes überwältigende Vergebung allein läßt das Handeln des ‚Großen‘ böse werden“ (Matthäus Bd. 3, 73). Ähnlich hatte er bereits bei seiner Interpretation der V. 28–30 auf die für das Verständnis der Parabel grundlegende Funktion der ersten Szene verwiesen: „Wenn die Leser/innen sich über sein Verhalten (das Verhalten des Knechts; J.-C. M) besonders empören, dann deswegen, weil in V 24–27 von dem ungeheuren Schulderlaß erzählt worden ist, der ihm vorher gewährt worden war“ (ebd., 71). Hinsichtlich des ersten Zitats ist zu fragen, wie Luz zu der Annahme

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht in der zweiten Szene so unbegreiflich, die Androhung des Endgerichts in der dritten Szene aber umso begreiflicher macht. Der Zusammenhang zwischen dem Verhalten des unbarmherzigen Knechts und seiner Bestrafung, also zwischen der zweiten und dritten Szene, impliziert u. E. demnach unweigerlich einen Zusammenhang zwischen dem barmherzigen und dem richterlichen Handeln Gottes, also zwischen der ersten und dritten Szene. Ist das richtig gesehen, dann lautet die Aussage der Parabel in ihrem literarischen Kontext: Die göttliche Barmherzigkeit ist dem menschlichen Handeln vorgeordnet und zielt auf das nachahmende Handeln des Menschen, dessen Verweigerung zum Gericht führt. Diese allen drei Szenen gleichermaßen gerecht werdende Logik aber bleibt für Luz, wie der konzessive Charakter seiner anfangs zitierten Skizze des matthäischen Skopus der Parabel zeigt, unbefriedigend, weil er einer Auslegungstradition folgt, für die die Möglichkeit eines richterlichen Handelns Gottes im Endgericht letztendlich ein größeres Skandalon darstellt als das unbarmherzige Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht.128 Aus diesem Grund schließt Luz seine Interpretation von V. 35 mit folgenden Fragen: „Verselbständigt sich hier der Gerichtsgedanke? Hebt der Gerichtsgedanke die Zuverlässigkeit der Gnade auf?“129 Diese Fragen, die, folgte man ausschließlich der von Luz dargestellten parabelinternen Logik, u. E. keinen Anhalt an der Parabel selbst haben, münden für Luz in die „theologische Grundfrage“, „ob der richtende ‚Vater‘ von Mt 18,35 noch als derjenige Vater erfahren werden kann, der durch Christus

kommt, die Pointe der Parabel könne unter Ausblendung der ersten Szene formuliert werden. Diese Annahme zeigt u. E. auf ihre Weise, dass er die Gerichtsaussagen als Infragestellung der Vergebungsbereitschaft Gottes versteht. 128 Die auch für Luz in sich völlig schlüssige Logik der Parabel wird durch das „Obwohl“, mit dem Luz seine Formulierung des matthäischen Skopus einleitet, aufgebrochen. Die Parabel „bietet“ nicht nur, wie Luz zu Recht feststellt, „in ihrer Bildhälfte“, sondern auch in ihrer Sachhälfte „wenig Verstehensschwierigkeiten“ (alle Zitate bei Luz, Matthäus Bd. 3, 68). Wenn Luz – wiederum zu Recht – behauptet, dass der Skopus nicht im Widerspruch zur Aussageintention der ursprünglichen Parabel steht, sondern den paränetischen Akzent verstärkt (vgl. ebd., 76–77), dann widerspricht er sich selbst, wenn sich für ihn aus der matthäischen Gewichtung die Frage ergibt, ob sich der Gerichtsgedanke verselbständigt und die Gnade konterkariert (vgl. ebd., 77). Selbst wenn der Verfasser des Matthäusevangeliums durch seine Anwendung der Parabel das Verhältnis zwischen Erbarmen und Gericht etwas anders gewichten sollte, als es die mündlich überlieferte Version getan hat, so ist es nahezu ausgeschlossen, dass er beide zu Ungunsten des Erbarmens gegeneinander ausspielt. Das gilt umso mehr, als der Evangelist in den V. 21f., die, wie Luz annimmt, zum allergrößten Teil redaktionell geprägt sind (vgl. ebd., 61), die Schülerschaft Jesu zur unbegrenzten Vergebungsbereitschaft auffordert, und damit einen Rahmen schafft, in dem Erbarmen und Gericht Hand in Hand gehen (vgl. dazu Abschnitt 1.1.1.2). Die Frage, ob der Verfasser des Matthäusevangeliums mit V. 35 den Gerichtsaspekt verabsolutiert, ist fehl am Platz. Luz konstruiert ein Problem, das für den Evangelisten keines ist. 129 Luz, Matthäus Bd. 3, 76.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

menschliche Schuld in unendlicher Liebe vergibt.“130 Wie die beiden vorangehenden Fragen erweist sich auch diese Frage von außen an die Parabel herangetragen.131 Die von Luz formulierte theologische Grundfrage legt auch offen, warum er der matthäischen Logik nicht folgen kann: Unter der Prämisse, dass Gott Schuld in Christus in unendlicher Liebe vergibt, kann das richterliche Handeln des Königs/Gottes nicht das letzte Wort haben. Zwangsläufig stellte sich dann die Frage nach der Zuverlässigkeit der göttlichen Gnade. Interessanterweise versucht Luz nun die durch V. 35 intendierte Leserlenkung mit ihrem Fokus auf das richterliche Handeln Gottes durch einen Blick auf die Gemeinschaftsregel als Ganze zu relativieren.132 In diesem Sinne stellt er fest, dass „[i]n der Perspektive von Mt 18 … ein grundlegendes Kennzeichen der Kirche darin [besteht], daß sie die Grenzen, die sie setzen muss, immer wieder aufsprengt. Im Blick auf das Verhalten der Gemeindeglieder ist darum das Suchen des Verlorenen (V 12–14) wichtiger als das Abschneiden von σκάνδαλα und das unendliche und unbegrenzte Verzeihen (V 21f) näher bei der Vollkommenheit, die der Vater will, als die ‚brüderliche Mahnung‘ oder der Ausschluß aus der Gemeinde. Dies zeigt sich daran, daß allein das Suchen, nicht aber das Abschneiden, allein das Verzeihen, nicht aber das irdische ‚Binden‘ dem Verhalten Gottes selbst entspricht, welches das Grundmodell der Vollkommenheit ist“133. Wie Luz angesichts der dritten Szene der Parabel und ihrer „Anwendung“ in V. 35, zu dem Schluss gelangt, dass nach Auffassung des Evangelisten allein das Verzeihen dem göttlichen Verhalten selbst entspricht, will nicht recht einleuchten. Denn unabhängig davon, ob die Bestrafung des unbarmherzigen 130 Beide Zitate bei Luz, Matthäus Bd. 3, 76. 131 Dies gilt gerade auch deshalb, weil Luz den gegenüber den V. 21f. lediglich lockeren Anschluss an die V. 23–35 betont (vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 65) und somit die Parabel folgerichtig unabhängig von der Forderung nach unbegrenzter Vergebungsbereitschaft interpretiert. Würde er allerdings nicht auf diese Weise verfahren, würde die Frage nach einer Verabsolutierung des Gerichtsgedankens hinfällig: Der Betonung des Gerichts in V. 35 stünde die Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft und damit die Betonung der Barmherzigkeit gegenüber. Anders formuliert: Barmherzigkeit und Gerechtigkeit/Gericht sind im Matthäusevangelium aufeinander bezogen und können nicht gegeneinander ausgespielt werden. 132 Der Ort, an dem er diesen Versuch unternimmt, ist von großer Relevanz. So stellt Luz die folgenden Überlegungen nicht bei seiner Interpretation der Parabel an, sondern im Kontext der Zusammenfassung der „Grundaussagen der Rede von der Gemeinschaft“ (Matthäus Bd. 3, 78–81), was – vorsichtig formuliert – als Indiz dafür gewertet werden kann, dass auch für ihn die Aussage der Parabel eigentlich eindeutig ist und die theologische Grundfrage nach dem Verhältnis eines richterlichen Handelns Gottes zu seiner unendlichen Liebe sekundärer Natur. 133 Luz, Matthäus Bd. 3, 80. Dass Luz die Asymmetrie von Barmherzigkeit und Gericht im Sinne einer Aufhebung ihrer Polarität versteht (siehe weiter unten im Text), zeigt sich in unserem Zitat daran, dass er anfangs komparativisch formuliert („wichtiger als das Abschneiden …“/„näher bei der Vollkommenheit“), dann aber zu Formulierungen greift, die einen absoluten Gegensatz zum Ausdruck bringen: „allein das Suchen, nicht aber das Abschneiden, allein das Verzeihen, nicht aber das irdische ‚Binden‘“.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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Knechts im eschatologischen Gericht nicht doch noch aufgrund der unendlichen Liebe Gottes zurückgenommen wird, ist ja auch nach Luz Gott in jedem Fall Subjekt der in V. 34 verhängten Strafe. So gilt zumindest für die Parabel, dass das Gerichtshandeln Teil des göttlichen Verhaltens selbst, damit aber auch Teil der Vollkommenheit Gottes ist.134 Ähnlich kann auch im Blick auf die in V. 18 genannte Löseund Bindegewalt der Gemeinde argumentiert werden. Ihr irdisches Lösen und Binden erlangt himmlische Autorität und Dignität. Gott selbst bestätigt das Urteil der Gemeinde: „Amen, ich sage euch: Was immer ihr auf Erden bindet, wird im Himmel gebunden sein; und was immer ihr auf Erden löst, wird im Himmel gelöst sein“. Hier lässt sich die Übereinstimmung des göttlichen mit dem gemeindlichen Urteil schlechterdings nicht so verstehen, als käme in der Bestätigung des gemeindlichen Verhaltens nicht das Verhalten Gottes selbst zum Ausdruck. Luz treibt also einen Keil zwischen das göttliche und das menschliche Verhalten, indem er das richterliche Handeln der Gemeinde von dem im Matthäusevangelium so wichtigen imitatio-Gedanken abkoppelt, der scheinbar nur im Blick auf die zwischenmenschliche Vergebung Gültigkeit besitzt: Während die Gemeinde die göttliche Vollkommenheit durch Vergebung nachahmen soll, hat die Weisung (des matthäischen) Jesus, den umkehrunwilligen Bruder aus der Gemeinde auszuschließen, anscheinend nichts mit der Nachahmung des göttlichen Verhaltens zu tun.135 Hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass Luz die Frage nach der Relation von Erbarmen und Gericht von der Ebene des göttlichen Handelns weg auf die Ebene des gemeindlichen Handelns hin verlagert. Er umgeht damit die entscheidende Frage, die sich aufgrund seines Verständnisses der Parabel (das richterliches Handeln ist Teil des göttlichen Verhaltens) und seiner Interpretation der vorangehenden Abschnitte der Gemeindeordnung (das richterliche Handeln ist nicht Teil der göttlichen Vollkommenheit) zwangsläufig stellt: Wie verhalten sich Erbarmen und Gericht in Gott bzw. im matthäischen Gottesbild zueinander? Bevor dieser Aspekt erneut aufgegriffen wird, ist das Verständnis der V. 12–14 und der V. 21f. als Begrenzung der jeweils vorangehenden Verse näher zu beleuchten. Wie das soeben angeführte Zitat von Luz deutlich macht, ordnet er das „Suchen des Verlorenen“ (V. 12–14) dem „Abschneiden von σκάνδαλα“ und die Forderung nach „unendliche(m) und unbegrenzte(m) Verzeihen“136 der brüderlichen Ermahnung inklusive der Möglichkeit des Gemeindeausschlusses (V. 15–17.18) inhaltlich vor und bestimmt ihr Verhältnis zueinander als ein asymmetrisches.137 134 Luz erwähnt in dem oben gebrachten Zitat freilich die Parabel nicht, trifft diese Aussagen also quasi unabhängig ihr. Er geht demnach in seiner Interpretation methodisch so vor, dass er in einem ersten Schritt das Verhalten Gottes in Mt 18,1–22 auf seine Barmherzigkeit festlegt, um in einem zweiten Schritt die Parabel erneut in den Blick zu nehmen, wobei er den Gedanken, dass das richterliche Handeln Gottes Teil seines Verhaltens und seiner Vollkommenheit ist, ausblendet. 135 Wie aber, so muss sich Luz fragen lassen, ist es dann begründet? 136 Alle Zitate bei Luz, Matthäus Bd. 3, 80. 137 Diese Asymmetrie darf aber u. E. nicht mit einer Aufhebung der Polarität verwechselt werden. Wird das Verhältnis zweier Größen zueinander als asymmetrisches bestimmt, dann

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Sollte Luz mit dem Terminus σκάνδαλα auf die Verse 6–9 Bezug nehmen wollen,138 ist darauf hinzuweisen, dass in diesen Versen in erster Linie nicht der Abfall der Glaubensgeschwister im Vordergrund steht, sondern desjenigen, der zum Abfall verführt (V. 6–7) bzw. der selbst abfällt (8–9). Der Blick wird also von den Glaubensgeschwistern und deren möglichem Abfall weg auf die eigene Person gelenkt. Anders als Luz annimmt, wird das „Abschneiden von σκάνδαλα“ also nicht durch die „Suche nach dem Verlorenen“ begrenzt und konterkariert, weil die jeweiligen Bezugsgrößen des Abfalls differieren.139 Wie das „Suchen des Verlorenen“ aussehen soll, zeigen die V. 15–17.140 Dieser Sachverhalt ist insofern von hervorragender Bedeutung, als für Luz das „Suchen des Verlorenen“ (V. 12–14) und die Forderung unbedingter Vergebungsbereitschaft (V. 21–22) vor allem im Blick auf ihre Funktion, das richterliche Handeln der Gemeinde zu begrenzen, auf einer Ebene liegen. Folgt man dieser Logik, müssten auch die Forderung, den Bruder zurechtzuweisen und gegebenenfalls auszuschließen (V. 15–17), und die Forderung, das Verlorene zu suchen (V. 12–14), in einer gewissen Spannung zueinanderstehen. Das aber ist u. E. nicht der Fall. Die V. 15–17 konkretisieren vielmehr die Art und Weise, wie den vom Abfall bedrohten Glaubensgeschwistern nachgegangen werden soll: Sie sollen ermahnt und so zur Umkehr bewegt werden, damit sie Teil der Gemeinde bleiben können. Die Möglichkeit des Gemeindeausschlusses liegt auf einer Linie mit der brüderlichen Zurechtweisung und damit auch auf einer Linie mit den V. 12–14.141 Ihr Verhältnis zur Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft (V. 21–22) kann dann so verstanden werden, dass Vergebung die Umkehrbereitschaft des Bruders voraussetzt, während ein umkehrunwilliger Bruder als ultima ratio ausgeschlossen werden soll. Kurzum: Die Forderung, unbegrenzt zu vergeben, gilt nur im Falle einer Einsicht des Bruders in seine Verfehlungen und im Falle seiner Umkehr.142 Hier liegt u. E. kein Widerspruch vor, so dass sich der Gegensatz

138 139 140

141 142

setzt das voraus, dass diese Größen aufeinander bezogen und zugleich selbstständig sind. Diese Eigenständigkeit aber bestreitet Luz. Das Substantiv σκάνδαλον findet sich zweimal in V. 7, in den V. 6.8.9 wird das Verb σκανδαλίζω verwendet. Es könnte sogar gefragt werden, ob nicht bereits die V. 6–9 implizit vor einem falschen Umgang mit dem Bruder im Falle seines Abfalls warnen, indem sie nahelegen, die eigene Schuld an dessen Abfall bzw. den eigenen Abfall zu bedenken. So z. B. Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 256; Fiedler, Matthäusevangelium, 305. Dass die V. 15– 17 die Art und Weise, wie dem Verlorenen nachgegangen werden soll, skizzieren, gälte umso mehr, wenn der Aufruf zur brüderlichen Ermahnung als Implikation des Nächstenliebegebots verstanden werden kann. Das nimmt auch Luz, Matthäus Bd. 3, 43, an. Vgl. dazu Anm. 164. Vgl. dazu ausführlich die Interpretation von Mt 18,15–18 im folgenden Abschnitt 1.1.2.2. In diesem Sinne hält Jülicher fest, dass „eine Frömmigkeit, der die Bitte um Vergebung der Sünden an Gott die selbstverständliche Voraussetzung des Empfanges solcher Vergebung ist, … auch vom Menschen nicht verlangt [hat], dass er vergebe, wo die Vergebung überhaupt nicht beansprucht worden ist; ich möchte sogar trotz hoher Autoritäten nach Lc 17 4 es im Sinne Jesu für Pflicht halten, nicht zu vergeben, falls die Reue nicht eingetreten ist oder nicht noch eintreten sollte. Von dieser Bedingung des Vergebens schweigt Mt 21f. 35 nur,

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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zwischen der Zurechtweisung des Bruders inklusive des Gemeindeausschlusses (V. 15–17) und der Forderung Jesu, unbegrenzt zu vergeben (18,21–22), als konstruiert erweist. Zurück zum Sachverhalt, dass Luz die entscheidende Frage nach dem Verhältnis von Recht und Erbarmen als zwei unterschiedlichen Handlungsweisen des einen Gottes so nicht stellt, obwohl sich diese Frage aufgrund seines Verständnisses von Mt 18,1–22 und der Parabel geradezu aufdrängt. Wenn, wie Luz annimmt, ein richterliches Handeln der Vollkommenheit Gottes nicht entspricht, welche Bedeutung misst er dann der Androhung des Gerichts in der dritten Szene der Parabel und in der vom Evangelisten formulierten Pointe in V. 35 zu? Wie der letzte Abschnitt seiner Ausführungen zur Gemeindeordnung als Ganzer deutlich macht, interpretiert Luz die Gerichtsdrohung der Parabel als Mahnung, der Forderung nach unbegrenzter Vergebungsbereitschaft nachzukommen, und als Warnung davor, mit dem vom matthäischen Jesus geforderten Ausschluss des umkehrunwilligen Bruders wirklich ernst zu machen. Der Gerichtsgedanke hat demnach nur Hilfsfunktion: „Er dient“, so Luz „in unserem Kapitel zur Einschärfung der Liebe“143. Im unmittelbaren Anschluss fährt Luz fort: „Der Gerichtsgedanke relativiert indirekt den geschichtlich so wirkungsvollen V 18: Gott wird auch über seine Jünger, d.h. die Kirche, zu Gericht sitzen und sie fragen, warum sie, die unendliche Vergebung empfangen haben, andere Menschen gebunden haben, statt sie zu lösen.“144 Dieses Zitat macht deutlich, dass die Gerichtsandrohung exklusiv im Dienst der Liebe steht, die allein der göttlichen Vollkommenheit entspreche: Sie soll den nach V. 17 möglichen Gemeindeausschluss verhindern. Mit der so gearteten paränetischen Funktionalisierung der Gerichtsaussagen aber beantwortet Luz die Fragen, mit der er seine Interpretation von V. 35 abgeschlossen und die er nach einer wirkungsgeschichtlichen Skizze der Parabel in ähnlicher Form erneut aufgeworfen hatte: Dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in V. 35 den Gerichtsgedanken verabsolutiere und gegen das königliche/göttliche Erbarmen ausspiele,145 dass „die matthäi-

weil ihm der Gedanke nicht kam, dass man sie je würde eliminieren wollen“ (Gleichnisreden Jesu Bd. 2, 304). Wenn aber Vergebung sowohl in der Gottesbeziehung als auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen die Umkehr des Sünders voraussetzt, dann schränkt dies bereits die Forderung unbegrenzter Vergebung ein. Positiv formuliert: Dem jeweils von neuem umkehrenden Sünder soll unbegrenzt vergeben werden. Ein richterliches Handeln Gottes im Endgericht bzw. der Ausschluss des Sünders aus der Gemeinde ist vorausgesetzt. 143 Luz, Matthäus Bd. 3, 81. Auch angesichts von V. 18 böte sich ja die Möglichkeit, die Frage der Relation von Erbarmen und Gerichtshandeln Gottes aufzuwerfen. 144 Luz, Matthäus Bd. 3, 81. 145 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 76. Das richterliche Handeln als eigenständige und der Liebe gegenüberstehende Handlungsweise Gottes zu verstehen, ist etwas anderes, als eine Verabsolutierung des Gerichtsgedankens. Der Zorn bleibt u. E. in seiner Differenz auf die Liebe bezogen, wie die Liebe in ihrer Differenz auf den Zorn bezogen bleibt. Luz hingegen spielt die Liebe gegen den Zorn aus, indem er die Differenz zwischen beiden von der Liebe her verwischt.

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sche Parabel zur ernsthaften Drohung [würde], weil Gott seine Gnade möglicherweise wieder aufhebt“146, ist nach Luz deshalb ausgeschlossen, weil, wie Mt 18,1– 22 zeige, das von der Gemeinde geforderte richterliche Handeln der göttlichen Vollkommenheit nicht entspricht und deshalb begrenzt werden muss. Die unendliche Liebe kann aus paränetischen Gründen gerade den Gemeindegliedern mit dem Gericht drohen, eine Aufhebung der göttlichen Gnade aber ist ausgeschlossen. Die Gnade bleibt nach Luz auch angesichts des Scheiterns an der Forderung zwischenmenschlicher Vergebung die tragende und auch den Zorn bestimmende Größe. Wenn, wie wir bisher angenommen haben, auch das richterliche Handeln Gottes ein Teil seiner Handlungsoptionen darstellt, dann muss folgerichtig die Definition der göttlichen Vollkommenheit als Ausschluss eines solchen Handelns respektive die Reduktion der göttlichen Vollkommenheit auf „unendliche[s] und unbegrenzte[s] Verzeihen“147 kritisch hinterfragt werden. Wie also begründet Luz seine Identifikation von unendlicher Vergebungsbereitschaft und göttlicher Vollkommenheit? Zum einen verweist er im Kontext seiner Rede vom Verzeihen als „Grundmodell der [göttlichen; J.-C. M] Vollkommenheit“ in einer Anmerkung auf Mt 5,48,148 wo die Schülerinnen und Schülern Jesu im Zusammenhang der Auslegung des Feindesliebegebots (5,43–48) dazu aufgerufen werden, die Vollkommenheit ihres göttlichen Vaters nachzuahmen. Den Aufruf zur Feindesliebe selbst versteht Luz als imitatio des bedingungslosen Jas149 Gottes zur Welt und betont den programmatischen Charakter dieser Forderung.150 In ähnlicher Weise versteht Luz den Aufruf zur unbegrenzten Vergebungsbereitschaft (18,21–22), der der Parabel vom unbarmherzigen Knecht unmittelbar vorausgeht: „Von Petrus wird vollkommen-vollkommenste, grenzenlos-unendliche, unzählbar-wiederholte Vergebung erwartet. Die Antwort, die Matthäus Jesus geben läßt, ist nicht mehr zu überbieten. Sie ist programmatisch, nicht pragmatisch.“151 Letzten Endes spielt Luz die programmatische Forderung nach unbegrenzter Vergebungsbereitschaft gegen die in der Parabel entfaltete Möglichkeit eines richterlichen Handelns Gottes aus, das nach seiner Auffassung nicht dem Verhalten Gottes und seiner Vollkommenheit 146 Luz, Matthäus Bd. 3, 78. 147 Luz, Matthäus Bd. 3, 80. 148 Luz, Matthäus Bd. 3, 80 Anm. 8. Wenn er in dieser Anm. davon spricht, dass „[a]llein die Linie des ‚Suchens‘ und des ‚Verzeihens‘ … dem in den grundlegenden Texten 13,37–43.49f und 22,11–14 ausgesprochenen Verbot einer endgültigen Scheidung vor dem Endgericht [entspricht]“, dann übersieht er dabei, dass die angeführten Texte und die in ihnen ausgesprochene Warnung eine endgültige Scheidung und damit ein richterliches Handeln Gottes gerade nicht ausschließen. Dass die Gemeinde nicht zwischen Glaubenden und Nicht-Glaubenden in ihren eigenen Reihen unterscheiden soll, spricht nicht gegen die Auffassung, dass Gott Subjekt eines endgültigen richterlichen Handelns ist und sein wird. 149 Luz, Matthäus Bd. 1, 416. 150 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 416. Die Bedingungslosigkeit der göttlichen Zuwendung zur Welt scheint dabei zu implizieren, dass das göttliche Ja durch nichts mehr in Frage gestellt werden kann. 151 Luz, Matthäus Bd. 3, 62.

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entspricht, sondern vielmehr die unbedingte Notwendigkeit der Liebe unterstreicht. Eine Spannung scheint für ihn in erster Linie zwischen dem richterlichen Handeln der Gemeinde und der Forderung nach unbedingter Vergebungsbereitschaft zu bestehen.152 Dabei übersieht Luz, dass der matthäische Jesus auch den Gemeindeausschluss des umkehrunwilligen Bruders gebietet (V. 17) und diesen sogar mit göttlicher Legitimation versieht (V. 18). Und im Blick auf das Feindesliebegebot (Mt 5,43–48) ist zu betonen, dass auch die Feindesliebe vom Endgericht begrenzt wird. Wie wir bereits in Abgrenzung zu traditions- bzw. redaktionsgeschichtlichen Rekonstruktionen der ursprünglichen Fassung der Parabel herausgestellt haben, nimmt der Verfasser des Matthäusevangeliums die Gegenwart, in der Gott die Sonne über Guten und Bösen aufgehen lässt (Mt 5,45), deshalb als Zeit der Barmherzigkeit und der Vergebung wahr, weil sie auf das Gericht nach Werken (Mt 16,27) zuläuft. Dass Gott in der Gegenwart Umkehr ermöglicht (Mt 3,2; 4,17) und Feindesliebe (Mt 5,43–48), Barmherzigkeit (Mt 9,13; 12,7; 23,23) und Vergebungsbereitschaft (Mt 18,23–35; 6,12.14–15) fordert, steht dann gerade nicht im Gegensatz zu seinem richterlichen Handeln.153 Wird dieser Sachverhalt ernst genommen, dann zeigt sich, dass die Spannung zwischen richterlichem und barmherzigem Handeln eine Spannung ist, in der nicht nur die Gemeinde lebt, sondern die in Gott selbst besteht. Erbarmen und Zorn stehen sich als zwei voneinander unabhängige Verhaltensweisen Gottes gegenüber und sind gleichzeitig bleibend auf-einander bezogen. In ihrer Differenz zum Zorn erweist sich die Liebe als Liebe und in seiner Differenz zur Liebe der Zorn als Zorn. Die Polarität von Erbarmen und Zorn wird nicht aufgelöst. In der Dynamik zwischen den beiden Polen entfaltet sich vielmehr die menschliche Gottesbeziehung. Zusammenfassend lässt sich die Argumentation von Luz folgendermaßen nachzeichnen: Luz interpretiert in einem ersten Schritt die Parabel unabhängig von ihrem Kontext und gewinnt ihr dabei einen Sinn ab, dem zufolge Erbarmen und Gericht zwei Handlungsoptionen des Königs/Gottes darstellen, die sich gegenseitig bedingen und eng miteinander verbunden sind: So wird das richterliche Handeln des Königs/Gottes gegenüber dem Knecht, der trotz des vorangegangenen Schuldenerlasses seinem Mitknecht die Schulden nicht erlässt, gerade aufgrund der vorangehenden königlichen/göttlichen Barmherzigkeit verständlich. Ihm ist damit jede Willkür genommen. Aufgrund der in V. 35 formulierten Pointe, die nur auf das Gerichtshandeln der dritten Szene Bezug nimmt, stellt sich Luz in einem zweiten Schritt die Frage, ob der Evangelist den Gerichtsaspekt verabsolutiert, ob er also seine Pointe unabhängig vom Aussagegehalt der ersten Szene formuliert und somit das richterliche Handeln Gottes gegen sein Erbarmen ausspielt. 152 Er kann zwar auch betonen, dass die Spannung zwischen der Notwendigkeit einer unbedingten Vergebungsbereitschaft und dem Gemeindeausschluss ausgehalten werden muss (vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 64). Allerdings löst er die Spannung dann doch wieder im Sinne der unbedingten Vergebungsbereitschaft auf, was sich eben daran zeigt, dass nach seiner Auffassung die Gemeinde nur in ihrem Suchen, Lösen und Verzeihen das göttliche Handeln imitiert. 153 Ähnlich wurde bereits in Abschnitt 1.1.1.2 argumentiert.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Bezeichnenderweise stellt Luz diese Frage trotz seiner Annahme, dass der Evangelist den Aussagesinn der Parabel nicht verkehrt, sondern lediglich den schon in der nach seiner Auffassung ursprünglich mündlich überlieferten Parabel vorhandenen Aspekt des Gerichts stärker akzentuiert.154 Zur Beantwortung der von ihm aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Erbarmen und Gericht nimmt Luz in einem dritten Schritt Mt 18 als Ganzes in den Blick, mit dem Ergebnis, dass ein richterliches Handeln – entgegen der Aussage der Parabel (!) – dem Verhalten Gottes selbst und seiner Vollkommenheit nicht entspricht. Er findet also in den V. 1– 22 nicht nur einen Beleg dafür, dass in V. 35 das Gerichtshandeln Gottes nicht verabsolutiert wird, sondern darüber hinaus auch dafür, dass auch im Endgericht die Gnade Gottes das letzte Wort haben wird. Die Rede vom Gericht dient dann letztendlich dazu, den Auftrag zum Gemeindeausschluss als ultima ratio zu begrenzen. Damit wird aber die in der Parabel vorhandene Polarität zwischen Erbarmen und Gericht zu Gunsten des Erbarmens einseitig aufgelöst, so dass in der Tat von einer Verkehrung ihrer Aussageintention gesprochen werden kann, auch wenn diese Verkehrung nicht darin besteht, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums das Gericht, sondern das Erbarmen verabsolutiert.155 Das Grundproblem der Interpre-

154 Eine Akzentuierung des richterlichen Handelns Gottes zu paränetischen Zwecken setzt aber u. E. immer noch voraus, dass das Gerichtshandeln das in der ersten Szene dargestellte Erbarmen nicht konterkariert und also nicht in einem Widerspruch zum selbigen steht. In diesem Fall müsste in der Tat von einer Verkehrung des ursprünglichen Aussagegehalts der Parabel gesprochen werden. 155 Auch Sebastian Schneider verabsolutiert das Erbarmen. So versteht er den Zorn explizit als Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit/Liebe: Gott bewege mittels seines Zorns und der Bestrafung den unbarmherzigen Knecht zur Umkehr und zur Barmherzigkeit an seinem Mitknecht: „Der Zorn des Königs gegen den unbarmherzigen Knecht ist Ausdruck seiner barmherzigen Liebe, denn auf diese Weise sorgt er dafür, dass sein Erbarmen nicht nur diesem ersten Knecht, sondern allen Knechten zugutekommt, besonders dem, der durch den ersten Knecht ins Gefängnis geworfen wurde. Sein Zorn und die sich daraus ergebende Handlung soll dazu führen, dass der erste Knecht alles Geschuldete bezahlt (V. 34), indem er seiner moralischen Verpflichtung, sich seines Kollegen erbarmen zu müssen (V. 33), nachkommt“ (Barmherzigkeit und Zorn, 174). Zudem differenziert Schneider zwischen der Rückzahlung der finanziellen Schuld (angezeigt durch τὸ δάνειον) und der moralischen Schuld, aus Dankbarkeit für die erlassene Schuld seinem Mitknecht zu vergeben (vgl. ebd., 171). Schneider geht dabei zu Recht davon aus, dass τὸ ὀφειλόμενον Geld-Schuld und moralische Schuld bezeichnen kann und der Evangelist beide Bedeutungen zur Geltung bringe (vgl. ebd., 171). Durch diese Unterscheidung gelingt es ihm, ein Verständnis von V. 34 als Revision des ursprünglichen Schuldenerlasses zu umgehen: Gott fordere hier einzig die Begleichung der moralischen Schuld, so dass er auch gegenüber dem unbarmherzigen Knecht als Barmherziger agiere und der Zorn eben Ausdruck dieser Barmherzigkeit sei (vgl. ebd., 173). Wir halten beide Prämissen Schneiders für nicht plausibel. Im Blick auf die Behauptung, V. 34 habe nur die moralische Schuld im Blick, muss sich Schneider fragen lassen, wieso der Evangelist hier von der „ganzen Schuld“ spricht. Dass sich die Schuld hier allein auf das moralische Versagen bezieht, die finanzielle hingegen schon in V. 27 durch den Schuldenerlass getilgt worden sei, halten wir für unwahrscheinlich. Warum dann das Wörtlein πᾶς? Und ebenso wenig wie V. 33 die Umkehr des unbarmherzigen Knechts impliziert (so zu Recht Schneider,

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tation von Luz besteht darin, dass für ihn eine Verselbständigung des Gerichtsgedankens letzten Endes schon dann vorläge, wenn die Rede vom Gericht wirklich ernst gemeint wäre, wenn es also eine Polarität zwischen Erbarmen und Gericht, wie sie die Parabel nahe legt, gäbe. Polarität zeichnet sich aber gerade durch eine nicht auflösbare Spannung aus, was sich aber mit der Prämisse der unendlichen Liebe Gottes schlecht vereinbaren lässt. Anders als Luz suggeriert, ist es also nicht die Parabel selbst, die die Frage aufwirft, ob der Verfasser des Matthäusevangeliums den Gerichtsgedanken verabsolutiert, sondern die genannte theologische Prämisse. Wenn Luz im Kontext seiner Darstellung traditionsgeschichtlicher Rekonstruktionsversuche zu Recht feststellt, dass wir hier „ein Musterbeispiel dafür [haben], wie theologische Prämissen eine traditionsgeschichtliche Rekonstruktion leiten“156 und im unmittelbaren Anschluss fortfährt: „Offensichtlich möchte man den Gerichtsgedanken von Jesus fernhalten“157, dann fällt diese Urteil auf seine eigene Marginalisierungsstrategie zurück: Auch Luz versucht, den Gerichtsgedanken von Jesus fernzuhalten, auch wenn er dabei anders vorgeht als die Vertreter einer traditionsgeschichtlichen Rekonstruktion der Parabel. Bevor im Folgenden eine eigenständige Interpretation vorgelegt wird, sei an dieser Stelle ein Blick auf die Exkommunikationsformel in Mt 18,17 geworfen, hinsichtlich derer sich ähnlich wie bei der Parabel vom unbarmherzigen Knecht die Frage nach dem Verhältnis von Gericht und Erbarmen, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit stellt. Wie lassen sich der Ausschluss eines Sünders aus der Gemeinde (Mt 18,17) und die Forderung nach unbegrenzter Vergebungsbereitschaft (Mt 18,21f.) miteinander verbinden?

1.1.2.2 Die Funktionalisierung der Gerichtsaussagen in der Interpretation von Mt 18,15–18 Wie wir in der Diskussion der Interpretation der Parabel durch Ulrich Luz sehen konnten, werden theologisch als problematisch empfundene und somit erklärungsbedürftige Spannungen zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bzw. zwischen Erbarmen und Gericht auch im Blick auf das mehrstufige Verfahren zur Zurechtweisung eines sich verfehlenden Gemeindeglieds (Mt 18,15–18) wahrgenommen. Die Möglichkeit des Ausschlusses des Sünders, der die ultima ratio dieses Verfahrens darstellt, steht für einige Exegeten im Widerspruch zum Gesamtduktus des Kapitels, das vom göttlichen Willen zum Leben auch der irrenden Gemeindeglieder und von der Forderung zu unbedingter Vergebungsbereitschaft bestimmt wird. In diesem Sinne bemerkt Günther Bornkamm, dass „[d]ie Weisungen für die Barmherzigkeit und Zorn, 172) tut es V. 34. V. 34 zeichnet die Lage des ersten Knechts als ausweglose. Und auch die Annahme, der Zorn Gottes sei geradezu ein Mittel, seine Barmherzigkeit auch dem ersten Knecht zugutekommen zu lassen, scheint uns nicht durch den Text belegt: Am weiteren Schicksal des Mitknechts zeigt die Parabel gerade kein Interesse. 156 Luz, Matthäus Bd. 3, 67. 157 Luz, Matthäus Bd. 3, 67.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Gemeindezucht (18,15–17.18) … zu dem sie umrahmenden Kontext, dem unmittelbar vorangehenden Gleichnis vom verlorenen Schaf [18,12 f] und der unmittelbar nachfolgenden Parabel (18,23 ff), in einer merklichen Spannung [stehen]. Denn die Pointe beider ist die unermüdliche Fürsorge für den irrenden Bruder und die Vergebungsbereitschaft ohne Grenzen (18,21 f) auf Grund der empfangenen göttlichen Gnade. Auch wenn man berücksichtigt, daß in der disziplinären Regel mit der bis zur letzten Instanz durchgehaltenen Unbußfertigkeit des Schuldigen gerechnet wird, der gegenüber die Vergebung sinnlos ist, zielen 18,15–17 doch eindeutig auf den definitiven Ausschluß des verstockten Sünders von der Gemeinde und damit vom Heil“158. Ulrich Luz kommt in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium hinsichtlich der Spannung zwischen der Gemeinderegel und ihrem Kontext zu einem ähnlichen Urteil: „Die Verse 15–18 fügen sich in den Kontext nur schwer ein. In V 12–14 war vom Hirten die Rede, der das verlorene Schaf sucht. Daß man siebenundsiebzigmal vergeben soll, wird der nächste Text sagen (V 21f). In unserem Text dagegen geht es gerade um den Ausschluß aus der Gemeinde, die Exkommunikation.“159 Diese beiden Einschätzungen stimmen insbesondere darin überein, dass sie den Fokus der Gemeinderegel auf den Ausschluss des sündigen Bruders richten, der die Zurechtweisung nicht annimmt. Sowohl Bornkamm als auch Luz verstehen die Gemeinderegel in erster Linie als Exkommunikationsregel und sehen diese in einem Widerspruch zum Gesamtduktus des Kapitels. An diese Sichtweise sind mehrere Anfragen zu stellen: 1. Als erstes muss gefragt werden, ob der Fokus auf den Gemeindeausschluss nicht eine unzulässige Verkürzung darstellt, die einen Keil zwischen die Zurechtweisung des sündigen Bruders und dessen Exkommunikation treibt. Es ist zwar richtig gesehen, dass die Regel „eindeutig auf den definitiven Ausschluß des verstocken Sünders“160 zutreibt. Dieser Ausschluss aber bleibt – was auch Bornkamm nicht bestreitet161 – nur eine letzte Möglichkeit, der drei Versuche zur Zurechtweisung des sich verfehlenden Bruders – unter vier Augen, vor zwei bis drei Zeugen und vor der Gemeindeversammlung (Mt 18,15–17) – vorausgegangen sind. Anders als Luz meint, geht es also nicht so sehr um den Ausschluss aus der Gemeinde, sondern um die Zurechtweisung des Bruders mit dem Ziel seiner Wiedergewinnung. In diesem Sinne liegen die drei Gesprächsgänge auf einer Linie mit dem vorangegangenen Gleichnis vom verirrten Schaf, das auf die Aussage zuläuft, dass der himmlische Vater nicht will, dass „eines dieser Geringen verloren geht“ (V. 14). Die Anweisung zur Zurechtweisung des Bruders (V. 15) erweist sich als Erläuterung dessen, wie den verirrten Gemeindegliedern nachzugehen ist, und steht somit nicht im 158 Bornkamm, Binde- und Lösegewalt, 41f. Im unmittelbaren Kontext stellt Bornkamm dann die Frage, ob „der Evangelist also durch den von ihm sehr bewußt und keineswegs nur unter dem Zwang vorgegebener Überlieferung zugefügten Kontext die Regel auf[hebt]“ (ebd., 42). 159 Luz, Matthäus Bd. 3, 41. 160 Bornkamm, Binde- und Lösegewalt, 42. 161 Vgl. Bornkamm, Binde- und Lösegewalt, 42.

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Widerspruch zum vorangehenden Gleichnis.162 In diesem Sinne stellt Frankemölle die V. 15–18 zu Recht unter die Überschrift „Ein Verfahren zur Rückgewinnung eines Sünders“163. Der sich verfehlende Bruder ist dann zurückgewonnen, wenn er auf die brüderliche Ermahnung hört und sie annimmt, anders formuliert: wenn er umkehrt. Darauf liegt das Gewicht der Gemeinderegel. Die Zurechtweisung des Bruders ermöglicht Umkehr und damit dessen Verbleib in der Gemeinde. Die von Gott nicht gewollte, aber nicht auszuschließende Kehrseite der Zurechtweisung stellt die Verweigerung der Umkehr dar. In diesem Fall soll es zum Ausschluss des Bruders aus der Gemeinde kommen, der, wie V. 18 deutlich macht, nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel Rechtsgültigkeit besitzt. Es zeigt sich, dass für die Wahrnehmung eines Widerspruchs zwischen den V. 15–17 und ihrem Kontext die Schwerpunktsetzung seitens der Exegeten entscheidend ist: Wird das Hauptaugenmerk wie bei Bornkamm und Luz auf die letzte Stufe der disziplinarischen Maßnahmen, den Gemeindeausschluss, gerichtet, hat das zur Folge, dass selbst dort, wo die Gelehrten diese Maßnahme als ultima ratio beurteilen, eine nahezu unüberbrückbare Spannung zur Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft in den V. 21f. und zum Gleichnis vom verlorenen Schaf (V. 12–14) wahrgenommen wird. Werden hingegen die vorausgegangenen Versuche, den sich verfehlenden Bruder zur Umkehr zu bewegen, stark gemacht – das Verhältnis dieser Versuche zur Exkommunikation beträgt immerhin drei zu eins, verschiebt sich der Fokus. Es geht dann nicht in erster Linie um den Ausschluss des Bruders, sondern um dessen Verbleib in der Gemeinde. Damit relativiert sich auch der Widerspruch bzw. er erweist sich dort, wo Umkehr als Voraussetzung der unbedingten Vergebungsbereitschaft verstanden wird, als nicht existent. Interessanterweise gestaltet sich das interpretatorische Verhältnis zwischen der Zurechtweisung des Bruders und seinem Ausschluss aus der Gemeinde bei vielen Forschern gegenläufig zum Verhältnis der Maßnahmen selbst: So wird den auf Umkehr zielenden Zurechtweisungen in den Auslegungen verhältnismäßig wenig Raum geschenkt, während die Ausführungen zum vorausgesetzten Gegensatz zwischen dem Gemeindeausschluss und der Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft und seine Auflösung zur Seite der Barmherzigkeit hin breiten Raum einnehmen. 162 Darauf hatten wir bereits in der kritischen Diskussion der Interpretation der Parabel durch Luz aufmerksam gemacht (vgl. Punkt 1.1.2.1). Fiedler beschreibt den Übergang vom Gleichnis vom verirrten Schaf (Mt 18,12–14) zu den V. 15–20 folgendermaßen: „Wenn Gott so (wie im Gleichnis dargestellt; J.-C. M) eingestellt ist, dann ergibt sich daraus die Verantwortung der Gemeindemitglieder für einander, speziell für solche, die in der Gefahr stehen, verloren zu gehen (wenn es eben von seinem Weg in die Irre nicht zurück geholt wird). Damit leitet Mt zum nächsten Abschnitt über: Hier ist der Umgang mit einem schuldig gewordenen Gemeindemitglied das Thema“ (Matthäusevangelium, 304f.). Dem „Dass“ folgt eine Erläuterung des „Wie“ dieser Verantwortlichkeit. Vgl. Konradt, Matthäus, 290. 163 Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 256. Vergleichbar ist die Überschrift, die Fiedler diesem Abschnitt gibt: „Die Sorge für den sündigen Bruder und die sündige Schwester“ (Matthäusevangelium, 305). In diesem Sinne interpretiert auch Konradt, Matthäus, 291.

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In diesem Kontext ist auch darauf hinzuweisen, dass zwischen den verschiedenen gemeindlichen Maßnahmen zur Disziplinierung in der Regel kein Widerspruch wahrgenommen wird164: Die Zurechtweisung des Bruders mit dem Ziel der Umkehr und sein Ausschluss bei nicht erfolgender Umkehr scheinen sich nicht auszuschließen. Beides bedingt sich vielmehr gegenseitig. Die Ermahnungen und die Exkommunikation stellen somit zwei Seiten derselben Medaille dar. Aus dieser Perspektive betrachtet erledigt sich der postulierte Widerspruch zwischen den V. 15–17 und ihrem Kontext von selbst: Entweder stehen schon die Ermahnungen des Bruders im Widerspruch zur unbedingten Vergebungsbereitschaft,165 da diese als unbedingte notwendigerweise auch unabhängig von der Umkehr des Bruders gedacht werden muss, oder die Exkommunikation stellt in der Tat die letzte Möglichkeit gemeindlichen Handelns dar, die weder im Widerspruch zu den vorangehenden disziplinarischen Maßnahmen noch zum weiteren Kontext des Gesamtkapitels steht. Dabei steht außer Frage, dass das Ziel gemeindlichen Handelns die Rückgewinnung des Bruders sein soll. Es steht aber ebenso außer Frage, dass es keinen Weg an der Umkehr des Sünders vorbei gibt. 2. In den oben zitierten Texten, in denen eine Spannung zwischen Mt 18,15–18 und dem diese Verse umgebenden Kontext konstatiert wird, parallelisieren Bornkamm und Luz das Gleichnis vom verirrten Schaf (V. 12–14) und die Forderung unbedingter Vergebungsbereitschaft (18,21f.23–35). So spricht Bornkamm von der „Pointe beider“ Texte: Die „unermüdliche Fürsorge für den irrenden Bruder“ und die in V. 21f. geforderte „Vergebungsbereitschaft ohne Grenzen“ sagen ein und dasselbe166. Auch für Luz scheinen beide Stellen eine gemeinsame Aussageintention 164 Vgl. exemplarisch die Aussage von Luz, dass „das unendliche und unbegrenzte Verzeihen … näher bei der Vollkommenheit [ist], die der Vater will, als die ‚brüderliche Mahnung‘ oder der Ausschluß aus der Gemeinde“ (Matthäus Bd. 3, 80). In der Zuordnung der „brüderlicher Mahnung“ zur Exkommunikation verfährt Luz konsequent. Unberücksichtigt lässt er allerdings, dass der Evangelist die Ermahnungen vor dem Hintergrund von Lev 19,17 (LXX) als Konkretion der Nächstenliebe versteht. Die Anspielung auf Lev 19,17 (LXX) erfolgt über das Verbum ἐλέγχω aus Mt 18,15 (vgl. Konradt, Matthäus, 290; vorsichtiger Nolland, Matthew, 746). Lev 19,17 lautet: „Du sollst in deinem Geist deinen Bruder nicht hassen; mit Tadel sollst du deinen Nächsten tadeln und so wirst du dir seinetwegen keine Sünde zuziehen“ (Übersetzung: den Hertog/Vahrenhorst, in: Septuaginta Deutsch). Auch wenn die Zurechtweisung des Bruders hier in erster Linie dazu dient, dem eigenen Hass und daraus resultierendem feindlichen und schuldhaften Verhalten vorzubeugen (in diesem Sinne aktualisiert TestGad 6,3 Lev 19,17), kann diese Zurechtweisung ja auch als Möglichkeit verstanden werden, den Bruder zur Umkehr zu bewegen. Dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in diesem Sinne aktualisiert, halten wir durchaus für möglich. Entscheidend aber bleibt, dass die Zurechtweisung des Bruders so oder so als Akt der Nächstenliebe verstanden wird. Nach Konradt zeigt sich dieses Verständnis vor allem daran, dass die Bloßstellung des Sünders vor der Gemeinde wenn eben möglich vermieden werden soll (vgl. Konradt, Matthäus, 290f.). Zurechtweisung soll nicht demütigen, sondern zur Umkehr bewegen. 165 So die Position von Ulrich Luz (vgl. die vorangegangene Anmerkung). 166 Alle Zitate bei Bornkamm, Binde- und Lösegewalt, 41.

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zu besitzen. Nach unserer Auffassung bedarf es aber einer differenzierteren Sichtweise. So liegt im Gleichnis vom verirrten Schaf der Fokus nicht auf der unbedingten Vergebungsbereitschaft, sondern auf der Notwendigkeit, dem irrenden Gemeindeglied nachzugehen und so den Hirten respektive den himmlischen Vater nachzuahmen, dessen Willen es ist, dass nicht „eines dieser Kleinen verloren geht“ (V. 14). Die V. 10–14 ermahnen dazu, den irrenden Bruder nicht zu verachten (V.10), und schärfen der Schülerschaft Jesu die unbedingte Verantwortlichkeit für den Bruder ein. Davon, wie diese Verantwortlichkeit zu realisieren ist, ist hier noch überhaupt keine Rede, also auch nicht von der Verpflichtung zu unbedingter Vergebungsbereitschaft. Der Wille des himmlischen Vaters, dass keines der Gemeindeglieder verloren gegeben werden soll, muss also keineswegs zwangsläufig so interpretiert werden, als „garantiere“ der himmlische Vater das Heil des Sünders unabhängig von dessen Umkehr und damit letztendlich auch unabhängig von dessen geschichtlicher Existenz. Ist das richtig gesehen, ergibt sich eine logische Abfolge der einzelnen Abschnitte: Während die Verse Mt 18,10–14 die unbedingte Verantwortlichkeit für den irrenden Bruder thematisieren, erklären die V. 15– 17.18 wie und mit welcher Zielsetzung diese Verantwortlichkeit in concreto zu gestalten ist: Durch die Zurechtweisung soll der Bruder zur Umkehr bewogen und für die Gemeinde wiedergewonnen werden. Auch in V. 21f.23–35 ist die Umkehr des Bruders die Voraussetzung der geforderten Vergebungsbereitschaft. In diesem Sinne verweist Bornkamm darauf, dass Vergebung gegenüber dem unbußfertigen Sünder „sinnlos“167 ist. Und Luz bemerkt, ohne allerdings diesen Gedanken weiterzuverfolgen, dass „[e]in Ausschluß … ja nur dann nötig [ist], wenn ein Sünder gar nicht um Vergebung bittet; das ist vielleicht V 21f stillschweigend mitgedacht“168. Diese Aussagen gilt es ernst zu nehmen. Vergebung kann nur dort erfolgen, wo auf die Zurechtweisung der Geschwister in Christo gehört wird, wo ein Sünder umkehrt und um Vergebung bittet. In diesem Fall erübrigt sich ein Gemeindeausschluss. Die Forderung unbedingter Vergebungsbereitschaft geht nicht am Sünder vorbei, sondern setzt dessen Umkehr voraus. 3. Ulrich Luz löst das für ihn „wichtigste Sachproblem“169 der Spannung zwischen Exkommunikation und unbedingter Vergebungsbereitschaft bzw. zwischen Gnade und Gericht, indem er die Spannung letzten Endes wie bei seiner Interpretation der Parabel zu Gunsten der Gnade und des Erbarmens auflöst. Allerdings argumentiert er bei seiner Interpretation der V. 15–18 sehr viel vorsichtiger und umsichtiger als in seinen zusammenfassenden Ausführungen zum Abschluss seiner Auslegung von Mt 18.170 So legt er bei der Interpretation des möglicherweise zum Gemeindeausschluss des Sünders führenden Verfahrens zum einen größtes Gewicht darauf, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Exkommunikationsregel 167 168 169 170

Bornkamm, Binde- und Lösegewalt, 42. Luz, Matthäus Bd. 3, 57. Luz, Matthäus Bd. 3, 8. Vgl. die Diskussion dieser Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt (1.1.2.1).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

„nicht nur als Tradition in seinem Text mitschleppt, sondern sie bewußt mit ihm verwoben [hat]“171. Zum anderen betont er, dass der Evangelist den Vorrang der Gnade vor dem Gericht nur andeutungsweise auflöst (s. u.). Die Gemeinderegel besitzt also für Luz ein sachliches Gewicht. Sie fungiert nicht ausschließlich als Negativfolie, vor der sich die Aussagen zur unbedingten Vergebungsbereitschaft nur umso strahlender abheben, und die durch diese Aussagen konterkariert und in ihrer Bedeutung eingeschränkt wird. In diesem Sinne hebt er den Ort der Gemeinderegel im „Zentrum“ 172 von Mt 18 hervor und stellt bei seiner Kommentierung von V. 21f. fest: „Es geht nicht darum, V 15–18 nachträglich aufzuheben, sondern darum, die Spannung zwischen ihnen und V21f auszuhalten.“173 Auch Luz liegt offensichtlich nicht daran, die Spannung zwischen Gemeindeausschluss und Gottes Suche nach dem Verlorenen bzw. der Forderung grenzenloser Vergebung einfach vorschnell aufzulösen. Erst in einem zweiten Schritt betont er die Unterordnung des Gerichts- unter den Gnadengedanken. Mit diesem Vorgehen versucht Luz zu Recht sowohl der Asymmetrie zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als auch ihrer Polarität gerecht zu werden. Allerdings geht diese Asymmetrie für ihn letztendlich zu Lasten der Polarität. Das sei kurz an seinem Verständnis der himmlischen Legitimation des Gemeindeausschlusses und deren Verhältnis zu den V. 19–20 verdeutlicht: Die V. 19f. dienen nach der Auffassung von Luz dazu, die Aussage über die Rechtsgültigkeit der gemeindlichen Binde- und Lösegewalt im Himmel (V. 18) zu relativieren: Der Verfasser des Matthäusevangeliums verbinde „das Binden und das Lösen in V 19f mit dem Gebet und stellt damit alles menschliche Handeln unter die Macht, die Verheißung und die Gnade Gottes. Diese beiden Verse sind Schlüsselverse für das ganze Kapitel. Matthäus deutet mit ihnen an – mehr nicht! –, daß die Spannungen, in denen die Gemeinde lebt, im Gebet zu Gott getragen und in der Verheißung der Gegenwart Christi gelebt werden sollen. Er bleibt Herr und tragender Grund der Gemeinde“174. Der explizite Hinweis darauf, dass es sich hier um „nicht mehr“ als Andeutungen des Evangelisten handelt,175 171 172 173 174 175

Luz, Matthäus Bd. 3, 56. Vgl. Bornkamm, Binde- und Lösegewalt, 42. Luz, Matthäus Bd. 3, 56. Luz, Matthäus Bd. 3, 64. Luz, Matthäus Bd. 3, 58. Mit Hinweis darauf, dass er damit über das hinausgeht, was der Evangelist nur andeutet, formuliert Luz dann explizit seine eigene theologische Position: Die Exkommunikation der Gemeinde, „ihr ‚Binden‘ muß unter der Hoffnung stehen, daß es im Himmel einst ‚gelöst‘ wird“ (Matthäus Bd. 3, 58). Damit schwenkt er bei allen Differenzen dann doch zum Bornkammschen Verständnis der Gemeinderegel als Grenzfall über. Hatte Luz in Abgrenzung zu Bornkamm betont, dass die Gemeinderegel „wohl mehr als ein ‚Grenzfall‘ [ist], der dem eigentlichen ‚Lebensgesetz‘ der Gemeinde widerspricht und den er nur unwillig konzediert“ (ebd., 56), macht er in der von ihm selbst verantworteten, über den Evangelisten hinaus gehenden Deutung deutlich, dass er das Binden und Lösen (V. 18) doch als Grenzfälle gemeindlichen Handelns verstanden wissen will, die eben unter dem Vorbehalt stehen, dass sie durch den himmlischen Richter revidiert werden können. Die wichtigen Unterschiede zwischen Bornkamm und Luz sind damit dennoch nur relativ: Die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit muss zugunsten der Gnade aufgelöst werden. Hier zeigen

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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zeigt, dass der Evangelist nach Auffassung von Luz die Spannung von Gnade und Gericht so lang wie möglich durchhält, um sie dann doch einseitig in Richtung der für Gott und Christus charakteristischen Gnade aufzulösen. Wie auch in der Zusammenfassung zum gesamten achtzehnten Kapitel bedient er sich hier der Unterscheidung zwischen göttlich-himmlischem und gemeindlich-irdischem Handeln: Während gemeindliches Handeln in der Spannung von Gericht und Gnade steht und im Extremfall dazu bemächtigt ist, ein Gemeindeglied auszuschließen, können Gott und der erhöhte Christus, so die vom Evangelisten angedeutete und von Luz hervorgehobene Hoffnung, dieses Urteil revidieren. Das erweckt den Eindruck, als hätte Gott nichts mit dem Binden der Gemeinde zu tun, dem er doch V. 18 himmlische Autorität verleiht. Kurzum: Gerade die Rechtsgültigkeit des Gemeindeausschlusses im Himmel zeigt u. E., dass die Spannung zwischen Gericht und Erbarmen wie in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht in Gott selbst angelegt ist. Das schließt, das sei in aller Deutlichkeit gesagt, die Option einer Revision des Gemeindeausschlusses nicht aus. Nur wäre das dann eine Option, mit der sich Gott quasi selbst in die Arme fällt. Die Polarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als zwei Verhaltensweisen Gottes ermöglicht u. E. beides: Die bleibende Bestätigung des gemeindlichen Urteils und seine Revision. Sollte mit dem Gebet der zwei oder drei ein Fürbittengebet für den Sünder im Blick sein,176 so würde dieses Gebet die Möglichkeit der Reintegration des Sünders offenhalten. Allerdings wäre auch dann die Umkehr vorausgesetzt. Eine Revision des Urteils ohne Umkehr ginge einseitig zu Lasten der Gerechtigkeit.

 

4. Im Gegensatz zu Bornkamm und Luz geht Frankemölle in seiner Kommentierung von Mt 18,15–18 von vornherein davon aus, dass zwischen dem Gemeindeausschluss und dem unmittelbaren und weiteren Kontext von Mt 18 kein Widerspruch besteht. Er vertritt dabei die Auffassung, dass die Exkommunikation des sündigen Bruders ausgeschlossen werden soll: „Denn auch diesem Text kann der Leser nicht entnehmen, wie man jemanden aus der Gemeinde ausschließen kann, sondern wie man ihn wieder ‚gewinnen‘ kann (15b.16b.17a). Entgegen dem üblichen Verständnis dürfte der Leser vom Kontext her … in der Lage sein zu erschließen, daß für Menschen, die sich bemühen, wie ‚Kinder‘ und ‚Kleine‘ ‚in der Herrschaft Gottes‘ zu leben, ein in der Umgebung der Gemeinde praktiziertes Verfahren, das Gemeindemitglieder aus ihrer Gemeinschaft drängt, abgelehnt wird. Kontextuell gelesen,

sich die Prämissen seiner Interpretation, derer sich Luz bewusst ist und die er durch die Hinweise auf die Bedeutung der Exkommunikation für den Evangelisten einzudämmen versucht. Trotz aller Versuche jedoch, die Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit aufrecht zu erhalten und damit dem Text Rechnung zu tragen, muss Luz die Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit von seinen theologischen Prämissen her auflösen. 176 In diesem Sinne nimmt Konradt einen Bezug der Fürbitte auf das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Mt 18,12–14) an (vgl. Konradt, Matthäus, 292).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

plädieren u. E. auch diese Verse für einen Verzicht auf kirchliches Gerichtsverfahren bis hin zur Exkommunikation.“177 Als Kontext, der einen solchen Verzicht gemeindlicher disziplinarischer Maßnahmen nahelegt, verweist Frankemölle auf die V. 19 und 20, die Forderung, unbegrenzt zu vergeben (V. 21–22), und das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (V. 23–35). Diese Verse bzw. Abschnitte versteht er „auf der semantischen Ebene als Kommentar“178 zu den in V. 15–17 beschriebenen Maßnahmen. Insbesondere V. 19 stelle durch das geschwisterliche Gebet für den sündigen Bruder, dem göttliche Erhörung verheißen sei, sicher, dass sich ein Gemeindeausschluss letzten Endes von selbst erledige, da der Bruder aufgrund der durch das Gebet getragenen und begleiteten Zurechtweisung ja auf jeden Fall umkehre. In diesem Sinne schreibt Frankemölle: „Die zwei oder drei Zeugen von Vers 16 sollen nicht nur feststellen, daß jemand gesündigt hat, vielmehr sollen sie zusammen beten um seine Rückgewinnung – in der festen Überzeugung, daß der ‚Vater in den Himmeln‘ die Bitte erfüllt. Gemäß der Maxime von Vers 14 (‚So ist es nicht der Wille eures Vaters in den Himmeln, daß eines von diesen Kleinen verlorengeht‘) kann das gemeinsame Gebet so gedeutet werden, daß es die Kraft hat, ein der Gemeinde an sich zustehendes Ausschlußverfahren überflüssig zu machen.“179 So sehr wir der Aussage Frankemölles zustimmen, dass die Wiedergewinnung des Sünders im Vordergrund steht, so sehr halten wir es für ausgeschlossen, dass die Fürbitte die Exkommunikation als ultima ratio verhindern soll. Insbesondere V. 18, der ausdrücklich die gemeindliche Binde- und Lösegewalt und deren irdische und himmlische Rechtskräftigkeit betont, stellt sich einem solchen Verständnis entgegen. Wir halten es zwar für plausibel, dass das in V. 19 erwähnte Gebet (zumindest auch) als Fürbitte zu verstehen. Allerdings scheint uns die Fürbitte das letzte zu sein, was die Gemeinde für einen ausgeschlossenen Bruder tun kann und soll, der aber ansonsten wie ein Zöllner und Heide zu behandeln ist (V. 17).180 Dass die Verheißung der Gebetserhörung den Gemeindeausschluss von vornherein verhindern soll, ist auch deshalb unwahrscheinlich, weil die in den V. 15–17 beschriebenen Gesprächsgänge und die im Anschluss aufgeführte Möglichkeit der Exkommunikation die Situation durchspielen, dass sich ein Bruder – vielleicht trotz Fürbitte – gerade nicht zur Umkehr bewegen lässt. Anders als Frankemölle meint, ist es also nicht möglich, die unbegrenzte Vergebungsbereitschaft und die Gewissheit der Erhörung der Fürbitte nebeneinander zu stellen und beide so zu deuten, als liefen sie auf einen Verzicht auf die Exkommunikation des umkehrunwilligen Bruders hinaus. So aber versteht Frankemölle das Zusammenspiel der V. 19–20 mit den beiden unmittelbar folgenden Versen: „Wenn Christen ‚immer‘ dem gegen sie sündigenden Mitchristen vergeben sollen und wenn sie 177 178 179 180

Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 256f. Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 257. Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 262. Einen Widerspruch zum Gebot der Feindesliebe (5,43–48) bzw. zur Praxis Jesu, sich Sündern und Zöllnern zuzuwenden (z. B. 9,9–13), sehen wir hier ebenso wenig wie z. B. in 5,46f (hier: Zöllner und Heiden). Diese Zuwendung Jesu zielt auf Inklusion und eine Verhaltensänderung/Umkehr dieser Gruppierungen.

1.1 Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens

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diese Grundhaltung ins Gebet aufnehmen sollen (19–20) mit der Gewißheit der Erhörung, dann – so dürfte der Leser feststellen können – ist die Praxis eines juridisch gestuften Ausschlußverfahrens eines Sünders aus der Gemeinde theologisch illegitim. Bei entsprechendem Verhalten der Mitchristen ist es überflüssig!“181 Wie gesagt, richtig gesehen ist, dass bei der Umkehr des Bruders diesem Bruder vergeben werden muss. Der Ausschluss des umkehrunwilligen Bruders ist aber nicht theologisch illegitim, sondern wird von der Gemeinde als Kehrseite der Möglichkeit der Umkehr gefordert. Auch die Zusage, dass Gott die Fürbitte für den sündigen Bruder erhört, setzt den Zusammenhang zwischen Umkehr und Vergebung nicht außer Kraft.

1.1.2.3 Zusammenfassung In der Diskussion der Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht durch Ulrich Luz wurde eine Strategie der Marginalisierung des Gerichtsgedankens offengelegt, die ohne redaktions- bzw. traditionsgeschichtliche Operationen auskommt. Dabei haben wir gesehen, dass der Gerichtsgedanke von Jesus bzw. dem Verfasser des Matthäusevangeliums auch dadurch ferngehalten werden kann, dass die unzweifelhaft bestehende Asymmetrie zwischen Erbarmen und Zorn im Sinne einer Aufhebung ihrer Polarität verstanden wird. Luz verfährt auf diese Weise: Unter Einbezug des ganzen 18. Kapitels hebt er die Polarität u. a. durch ihre Verlagerung von der Ebene des göttlichen Handelns auf die Ebene gemeindlichen Handelns auf: So treibt er unzulässigerweise einen Keil zwischen die von der Gemeinde als ultima ratio vorzunehmende Exkommunikation (Mt 18,15) und den Willen Gottes,182 übersieht dabei aber, dass der Gemeindeausschluss göttlich legitimiert und mit himmlischer Autorität versehen wird (V. 18). Dem entspricht, dass Luz ausschließlich im Vergebungshandeln der Gemeinde eine Entsprechung zur göttlichen Vollkommenheit sieht.183 Er legt Gott einseitig auf durch Barmherzigkeit motivierte Vergebung fest und untermauert das mit einem Verweis auf das Feindesliebegebot (Mt 5,43–48): Nur die Feindesliebe, nicht aber das Gericht entspreche dem Wesen Gottes. Demgegenüber haben wir gezeigt, dass der Verfasser

181 Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 265. Der letzte zitierte Satz ist entscheidend. „Bei entsprechendem Verhalten“, d. h. dann, wenn der Sünder auf die Zurechtweisung hört, wird ein Ausschlussverfahren überflüssig. Voraussetzung dafür ist aber die Umkehr. Deshalb ist es problematisch, wenn Frankemölle von der theologischen Illegitimität eines Ausschlussverfahrens spricht, das er zuvor noch mehrfach als Recht der Gemeinde bezeichnet hatte, auf das die Gemeinde freilich verzichten sollte (vgl. ebd., 262.264). Rechtsverzicht setzt, wie wir bei unserer Auslegung der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) gesehen haben, die Validität des Rechts voraus (vgl. Abschnitt 1.1.1.3). Ähnlich widersprüchlich ist die Aussage Frankemölles, dass das Ausschlussverfahren „durch die folgenden Texte in 18,19f und 18,21f nicht nur deutlich begrenzt, sondern faktisch aufgehoben wird“ (ebd., 261). 182 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 80. 183 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 80.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

des Matthäusevangeliums die Gegenwart gerade deshalb als Zeit der Barmherzigkeit und Feindesliebe versteht, weil sie durch das göttliche Gericht nach Werken begrenzt wird. Das aber impliziert, dass das Gericht eine eigenständige Größe ist, die nicht mit der Barmherzigkeit in Eins fällt (s. u.). Zudem versteht Luz die Aufforderung zu unbegrenzter Vergebung (Mt 18,21f.) als Begrenzung des richterlichen Handelns der Gemeinde, wie es im Gemeindeausschluss (Mt 18,15) zum Ausdruck kommt. Wie allerdings die Forderung innergemeindlich-zwischenmenschlicher Vergebung (Mt 18,21f.) den durch die Gesamtgemeinde zu verantwortenden Gemeindeausschluss (Mt 18,15–17) begrenzen kann, bleibt offen. Die genannten interpretatorischen Entscheidungen führen dazu, dass vom Zorn nur noch uneigentlich, als Ausdrucksform der göttlichen Liebe, in deren Dienst er steht, gesprochen werden kann. Wo aber der Zorn der göttlichen Vollkommenheit nicht entspricht und also exklusiv von der Liebe her verstanden wird, können die Gerichtsaussagen letztendlich nicht anders als im Sinne einer „Einschärfung der Liebe“184 verstanden werden. Sie werden nicht „zur ernsthaften Drohung“185 und weisen dementsprechend auch nicht auf die tatsächlich bestehende Möglichkeit der Bestrafung im Gericht hin.186 Durch die Negation der Eigenständigkeit des Zorns gegenüber der Liebe wird die Zuverlässigkeit der Gnade sichergestellt. Demgegenüber wurde unsererseits die Auffassung vertreten, dass Liebe und Zorn in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) als eigenständige Größen aufeinander bezogen sind: Erst der von der Liebe unabhängige Zorn macht die Liebe zur Liebe. Ohne das Endgericht ließe sich die Gegenwart schlecht als Zeit der Barmherzigkeit verstehen. Wohlgemerkt: Infrage gestellt wird in unserer Auslegung nicht, dass die Zornesaussagen auch paränetischen Interessen dienen, wohl aber, dass mit dieser Funktionalisierung die Eigenständigkeit des Zorns bzw. die damit verbundene Realität des Gerichts aufgehoben wird. Nochmals: Nur dann, wenn am Ende das Gericht nach Werken steht, können die Zornesaussagen der Einschärfung der Liebe dienen. Dem entspricht im Blick auf den Ausschluss eines sich verfehlenden Gemeindeglieds, dass dieser Ausschluss und die Forderung unbegrenzter Vergebungsbereitschaft zwei Seiten einer Medaille darstellen, die Umkehr heißt. Das Hören des sündigen Bruders auf die Zurechtweisung und seine Umkehr erweisen sich somit als Voraussetzung für die unbedingte Vergebungsbereitschaft, nicht aber als deren Einschränkung.

184 Luz, Matthäus Bd. 3, 81. 185 Im Blick auf die Anwendung des Gleichnisses stellt Luz die Frage, ob die Gnade für den Evangelisten „nicht mehr tragende Größe“ sei und formuliert im Anschluss die Konsequenz: „Dann würde die matthäische Parabel zur ernsthaften Drohung, weil Gott seine Gnade möglicherweise wieder aufhebt“ (Matthäus Bd. 3, 77–78). Die Formulierung im Konjunktiv ist aufschlussreich, weist sie doch darauf hin, dass Luz letztendlich davon ausgeht, dass der Evangelist V. 35 doch nicht im Sinne einer „ernsthaften Drohung“ (und damit im Sinne einer leeren Drohung?) versteht. 186 Ob Luz voraussetzt, dass die im Dienst der Liebe stehenden Gerichtsaussagen den Sünder zur Umkehr führen, wird nicht ganz klar.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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1.1.3 Ertrag Wir haben in diesem Paragraphen zwei unterschiedliche wissenschaftliche Strategien der Marginalisierung des Gerichtsgedankens in der Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) kennengelernt: Während traditionsund redaktionsgeschichtliche Rekonstruktionen des ursprünglichen Umfangs der Parabel entweder die gesamte dritte Szene (Fiedler, Weder) oder aber V. 34 (Harnisch, Zehetbauer, u. a.) der vormatthäischen Gemeinde bzw. dem Verfasser des Matthäusevangeliums zuschreiben, um so den für Gott transparenten König der Parabel auf seine Barmherzigkeit festzulegen, erreicht Ulrich Luz das gleiche Ziel, indem er die Asymmetrie von Erbarmen und Zorn im Sinne einer Auflösung ihrer Polarität versteht: Die göttliche Vollkommenheit bestehe allein in der Vergebung, nicht aber in seinem richterlichen Handeln. Dementsprechend stehen die Gerichtsaussagen exklusiv im Dienste einer „Einschärfung der Liebe“187, ohne dass die Rede vom Gericht letzten Endes wirklich ernst gemeint wäre. Gegenüber beiden Strategien haben wir gezeigt, dass für den Verfasser des Matthäusevangeliums Erbarmen und Zorn in ihrer Gegensätzlichkeit bleibend aufeinander bezogen sind und nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Im Folgenden soll diese Annahme durch eine sprachlich-narrative und vor allem durch eine semantische Analyse verifiziert werden. Dabei wird auf die Ergebnisse der kritischen Diskussionen der beiden Marginalisierungsstrategien zurückgegriffen.188

1.2

Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht

Nachdem im vorangegangenen Abschnitt zwei weit verbreitete Strategien vorgestellt und kritisch diskutiert wurden, die das durch Zorn motivierte richterliche Handeln des für Gott transparenten Königs/Herrn entweder (literarkritisch) ausscheiden oder aber durch funktionale Zuordnung zur Barmherzigkeit marginalisieren, in jedem Fall aber theologisch kritisieren, soll im Folgenden die Parabel selbst ausgelegt werden. Dabei wird gezeigt werden, dass für ihr Verständnis die Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit grundlegend ist. Die Auflösung dieser Polarität und Komplementarität, wie wir sie in den Marginalisierungsstrategien kennengelernt haben, vermag die von der Parabel 187 Luz, Matthäus Bd. 3, 81. 188 Vgl. insbesondere die Zusammenfassung der in der Auseinandersetzung mit Vertretern von traditions- bzw. redaktionsgeschichtlichen Rekonstruktionen der Parabel getroffenen exegetischen Entscheidungen in Abschnitt 1.1.1.5.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

zum Ausdruck gebrachte Logik der Barmherzigkeit als über das Recht hinausgehende und zugleich auf Gegenseitigkeit zielende nicht zu fassen. Wir beschränken uns bei der Interpretation der Parabel im Folgenden auf die sprachlich-narrative und die semantische Analyse und spitzen beide auf die Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu. Unsere grundlegenden exegetischen Entscheidungen, die wir vor allem in der kritischen Diskussion mit traditions- und redaktionsgeschichtlichen Rekonstruktionsversuchen der ursprünglichen Form der Parabel entfaltet haben,189 setzen wir hier voraus und knüpfen an sie an. Die sprachlich-narrative Analyse (1.2.1.) dient vor allem dazu, die Kohäsion der Parabel zu erweisen, die zu dem Urteil ihrer leichten Verständlichkeit geführt hat. Der Schwerpunkt dieses Abschnitts liegt auf der semantischen Analyse (1.2.2), in der unser besonderes Augenmerk dem ἔλε-Stamm und seinen hebräischen Äquivalenten gilt (1.2.2.2). Für die uns interessierende Frage nach dem normativen Charakter der Barmherzigkeit, die eng mit der Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verknüpft ist, ist der semantische Gehalt des ἔλε-Stamms von entscheidender Bedeutung. Dieser Schritt ist notwendigerweise interdisziplinär angelegt und versucht wesentliche Aspekte der Diskussion um den semantischen Gehalt des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬wiederzugeben und für das Verständnis der Parabel fruchtbar zu machen. Es wird sich zeigen, dass sich der semantische Gehalt von Güte zwischen den beiden Polen einer über das Recht hinausgehenden und damit nicht-justitiablen Freiwilligkeit und der Notwendigkeit ihrer Erwiderung bewegt und von der Spannung zwischen beiden geprägt ist. Das verbindet ‫ חֶ סֶ ד‬mit dem antiken Gabeverständnis, dem zufolge eine freiwillig gegebene Gabe zu erwidern ist. Der punktuelle Rekurs auf die Gabethematik legt sich vor allem aufgrund der siebenmaligen Verwendung des Verbs ἀποδίδωμι nahe (18,25 [2mal]; 26; 28; 29; 30; 34). Der semantischen Analyse des ἔλε-Stamms wird deshalb eine ebensolche des matthäischen „Vorzugworts“190 ἀποδίδωμι und seines Pendants ἀφίημι vorangestellt (1.2.2.1). Im Anschluss an die semantische Analyse wird die Frage nach dem matthäischen Gottesbild aufgeworfen und ihre mögliche motivgeschichtliche Verankerung in der sogenannten alttestamentlichen Gnadenformel untersucht (1.3).

1.2.1 Sprachlich-narrative Analyse Die sprachlich-narrative Analyse setzt die exegetischen Entscheidungen, die in der Auseinandersetzung mit den Marginalisierungsstrategien gefällt wurden, voraus, auf sie wird im gegebenen Fall zurückgegriffen. Es geht in diesem Abschnitt aber vor allem darum, den inneren Zusammenhang der drei Szenen zueinander aufzuzeigen und so Erbarmen und Zorn als zwei Handlungsweisen des einen Königs herauszustellen. 189 Eine Zusammenschau der exegetischen Entscheidungen findet sich unter Punkt 1.1.1.5. 190 Sand, Art. ἀποδίδωμι, Sp. 307.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht, die durch die Einleitung in V. 23a und die Anwendung in V. 35 gerahmt wird, lässt sich in drei Abschnitte teilen: V. 23b–27, V. 28–30 und V. 31–34.191 In allen drei Szenen ist der Fokus auf ein Schuldner-Gläubiger-Verhältnis gerichtet, wobei die drei Protagonisten König, Knecht und Mitknecht in unterschiedlichen Konstellationen auftreten: Während in der ersten und dritten Szene das Verhältnis des Königs zum „ersten“ Knecht im Mittelpunkt steht, rückt in der zweiten Szene das Verhältnis des Knechtes zu einem seiner Mitknechte in den Fokus der Erzählung. Der Parabel eignet eine konzentrische Struktur,192 auf der mittleren Szene liegt in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht der Schwerpunkt der Erzählung. Diesem Sachverhalt entspricht die der Parabel vorgeschaltete Frage des Petrus, wie oft er seinem Bruder vergeben müsse (18,20). Die zweite Szene der Parabel beleuchtet die in V. 20 aufgeworfene Frage nach dem Umgang mit Schuld/Sünden unter den Gemeindemitgliedern. Damit ist Wesentliches über die Verknüpfung der Parabel mit ihrer vom Verfasser des Matthäusevangeliums verantworteten Vorschaltung (Mt 18,21f.) gesagt: Die Parabel beantwortet die Forderung unbegrenzter zwischenmenschlicher Vergebungsbereitschaft innerhalb der Schülerschaft Jesu, indem sie die interpersonellen Beziehungen intrinsisch mit dem Gottesverhältnis verknüpft und für dieses transparent werden lässt. Neben den genannten drei Protagonisten, tritt in V. 31 eine Gruppe von weiteren Knechten (σύνδουλοι) auf, die dem König vom unbarmherzigen Umgang des (ersten) Knechts mit seinem Mitknecht berichten. Erzähltechnisch sind die σύνδουλοι für die Leserschaft der Parabel transparent: In ihrem Gefühl der Bestürzung über das Handeln des Knechts gegenüber seinem Mitknecht dürften sich die Leser wiederfinden.193 Die drei Szenen der Parabel sind in sprachlicher Hinsicht eng miteinander verbunden. Der Verfasser des Matthäusevangeliums arbeitet hier mit strenger Parallelität und Kontrast (wie z. B. auch in 7,24–27; 25,31–46). Im Hinblick auf die ersten beiden Szenen zeigt sich beides daran, dass nach der Einführung in eine jeweils analoge Situation: Ein König möchte mit seinem Knecht, ein Knecht mit seinem Mitknecht „abrechnen“ (συνᾶραι λόγον), der jeweilige Schuldner in nahezu identischer Formulierung die Bitte um Zahlungsaufschub äußert, die er mit einer Geste der Demut unterstreicht.

191 So der breite Konsens der gegenwärtigen Forschung, den Schneider wie folgt auf den Punkt bringt: „Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht ist in seinem szenisch-dramatischen Aufbau so folgerichtig und zwingend erzählt, dass in der Forschung im Blick auf die Leserlenkung und den Aufbau eine anerkennende Einmütigkeit herrscht“ (Barmherzigkeit und Zorn, 161). 192 Roose, Aufleben der Schuld, 446. 193 Vgl. Leutzsch, Verschuldung, 107.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

V. 26 (Erste Szene)194

V. 29 (Zweite Szene)

πεσὼν οὖν ὁ δοῦλος προσεκύνει αὐτῷ λέγων·

πεσὼν οὖν ὁ σύνδουλος αὐτοῦ παρεκάλει αὐτὸν λέγων·

μακροθύμησον ἐπ’ ἐμοί, καὶ πάντα ἀποδώσω σοι.

μακροθύμησον ἐπ’ ἐμοί, καὶ ἀποδώσω σοι.

Auf die nahezu identischen Bitten um die Gewährung eines Zahlungsaufschubs (zu den Unterschieden s. u.) folgt im unmittelbaren Anschluss die Darstellung der Reaktionen der jeweiligen Gläubiger, die einander diametral entgegengesetzt sind: Während der König sich aufgrund der Bitte seines Knechts erbarmt und diesem nicht nur Zahlungsaufschub gewährt, sondern darüber hinaus die Schuld erlässt (V. 27),195 ist der Knecht zur Gewährung des von ihm erbetenen Zahlungsaufschubs nicht bereit (V. 30). Vor dem Hintergrund der strukturellen Analogie der ersten und zweiten Szene, die in den gleich lautenden Bitten des Knechts bzw. des Mitknechts in V. 26 und V. 29 ihren Scheitelpunkt besitzt, heben sich die unterschiedlichen Reaktionen von König und Knecht umso stärker ab. V. 27 (Erste Szene)

V. 30 (Zweite Szene) ὁ δὲ οὐκ ἤθελεν

Σπλαγχνισθεὶς δὲ ὁ κύριος τοῦ δούλου ἐκείνου ἀπέλυσεν αὐτὸν καὶ τὸ δάνειον ἀφῆκεν αὐτῷ.

ἀλλ’ ἀπελθὼν ἔβαλεν αὐτὸν εἰς φυλακὴν ἕως ἀποδῷ τὸ ὀφειλόμενον.

Die unterschiedlichen Reaktionen von König und Knecht in ihrer jeweiligen Rolle als Gläubiger spiegeln sich auf sprachlicher Ebene darin wider, dass der Evangelist den die Parabel durchgehend bestimmenden Satzaufbau: Auf eine Partizipialkonstruktion folgt eine finite Verbform im Aorist, in V. 30a verlässt. Die Unterbrechung der vorherrschenden Struktur durch die Auslassung der Partizipialkonstruktion markiert V. 30 als Wendepunkt der Erzählung: Alles Gewicht liegt auf 194 Die tabellarische Darstellung der Gemeinsamkeiten und Differenzen der verschiedenen Szenen orientiert sich an der Darstellung Hanna Rooses, Aufleben der Schuld. 195 Diese Differenz charakterisiert die Güte als Rechtsverzicht. Hätte der König der Bitte um Geduld/Langmut entsprochen, dann hätte das zwar auch ein enormes Entgegenkommen des Königs bedeutet. Allerdings hätte der König in diesem Fall nicht auf sein Recht verzichtet, der Grundsatz, dass Schulden zurückgezahlt werden müssen, wäre unberührt geblieben. Der Rechtsverzicht ist somit entscheidendes Charakteristikum der Güte respektive Barmherzigkeit. Im Rechtsverzicht geht Güte über das Recht hinaus. Dieser Aspekt des „Über-das-RechtHinausgehens“ wird in der Parabel durch die Übererfüllung der Bitte des ersten Knechts veranschaulicht.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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den Worten ὁ δὲ οὐκ ἤθελεν,196 die die Verantwortung des Knechts für sein (verfehltes) Tun hervorheben, die Reaktion anderer Mitknechte hervorrufen (V. 31) und so unweigerlich und folgerichtig in das richterliche Handeln des Königs münden (V. 34). Der Kontrast zwischen den Reaktionen des Königs und des (ersten) Knechts wird dadurch verstärkt, dass der Evangelist mit den Erwartungen der Leser- respektive Hörerschaft spielt: Sowohl die Gewährung (bzw. Überbietung) der Bitte des Knechts (1. Szene) als auch die Nichtgewährung der Bitte des Mitknechts (2. Szene) widersprechen dem Erwartbaren. Der Verfasser des Matthäusevangeliums verknüpft beides geschickt miteinander: Gerade weil in der ersten Szene nicht damit gerechnet werden kann, dass der König der Bitte seines Knechtes nachkommt und diese sogar noch überbietet, ist das Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht so unverständlich. Von demjenigen, dem unerwarteter Weise Erbarmen zu Teil wurde, wird erwartet, dass er sich seinerseits in einer ähnlichen Situation erbarmt. Dies gilt umso mehr, als dass die beiden Gläubiger-SchuldnerVerhältnisse letztendlich nur im Hinblick auf diese Verhältnisse als solche vergleichbar sind, ansonsten aber die Unterschiede dominieren. Am auffälligsten ist die Differenz der beiden Schuldbeträge: Während der Knecht seinem Herrn die hyperbolische Summe von 10.000 Talenten schuldet – der Verfasser des Matthäusevangeliums kombiniert den größtmöglichen Zahlenwert mit der höchsten Währungseinheit,197 ist ein Schuldbetrag von 100 Denaren durchaus realistisch. Anders als für den Mitknecht steht für den Knecht also seine ganze Existenz auf dem Spiel, was in der ersten Szene dadurch hervorgehoben wird, dass der König seinen Verkauf in die Schuldsklaverei bereits angeordnet hat (V. 25). Im Gegensatz zu seinem Mitknecht steht der erste Knecht vor dem Nichts, was die Fragwürdigkeit seines Handelns gegenüber dem Mitknecht angesichts des ihm gewährten Schuldenerlasses hervorhebt. Dass es dem Verfasser des Matthäusevangeliums trotz der grundlegenden strukturellen Analogie des jeweiligen in der ersten und zweiten Szene geschilderten Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses darum zu tun ist, die Unterschiede zwischen beiden Situationen mit dem Ziel hervorzuheben, das Verhalten des Knechts als unmögliche Möglichkeit zu präsentieren, zeigt sich auch an den auf den ersten Blick unscheinbaren Differenzen zwischen den ansonsten identischen Versen 27 und 30 (s. oben Tabelle 1). So fügt der Evangelist in die Bitte des Knechts um Zahlungsaufschub das Adjektiv πᾶς ein, welches in der Bitte des Mitknechts fehlt. Die Beteuerung, „alles“ zurückzahlen zu wollen, dürfte sich spiegelbildlich zum Auflisten derjenigen Dinge und Personen in V. 25 verhalten, deren Verkauf der König angeordnet hatte. Sie kennzeichnet die Situation des Knechts als eine solche, in 196 Das zeigt sich daran, dass auf sprachlich-syntaktischer Ebene insofern ein Bruch vorliegt, als die vorangegangen Verse jeweils mit einem Partizip beginnen, dem dann ein verbum finitum folgt (vgl. auch die folgenden Verse 31, 32f. und 34). V. 30 aber weicht von diesem Muster ab. Vgl. Breukelmann, Schalksknecht, 274; Roose, Aufleben der Schuld, 447. 197 So Joachim Jeremias, Gleichnisse Jesu, 208.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

der es buchstäblich um alles oder nichts geht: Weil der König den Knecht, „seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte“ (πάντα ὅσα ἔχει) verkaufen möchte, bittet der Knecht mit dem Mut der Verzweiflung um Zahlungsaufschub und versichert, „alles“ zurückzahlen zu wollen. Das Adjektiv πᾶς findet sich an zwei weiteren Stellen der Parabel und charakterisiert auch dort die Schulden des Knechts, die er bei seinem Herrn hat. In V. 32 betont der König gegenüber seinem Knecht, er habe ihm die ganze Schuld erlassen, während V. 34 davon berichtet, dass der Knecht den Folterknechten übergeben wird, „bis er alles Geschuldete zurückgezahlt hätte“ (ἕως οὗ ἀποδῷ πᾶν τὸ ὀφειλόμενον). In Verbindung mit der unvorstellbaren Höhe der Schuld unterstreicht der Hinweis auf die intendierte Rückzahlung bzw. die Einforderung der ganzen Schuld die Unvergleichbarkeit der beiden Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse. Grundlage der Unvergleichbarkeit der Situationen von Knecht und Mitknecht ist das Autoritätsgefälle, das zwischen König und Knecht, nicht aber zwischen Knecht und Mitknecht besteht und in das der Evangelist die weiteren Differenzen einzeichnet. So stellt Luz zu Recht fest, dass von Personen, die den gleichen sozialen Status teilen, eher Solidarität erwartet werden durfte als von Personen mit unterschiedlichem sozialem Status.198 Den hierarchischen Unterschied zwischen König und Knecht bildet der Verfasser des Matthäusevangeliums in V. 27 dadurch ab, dass der Knecht in der ersten Szene nicht nur niederfällt, sondern die einem König zustehende Proskynese übt.199 Der Mitknecht hingegen fällt zwar auch zu Boden, enthält sich aber dieser spezifischen Demutsgeste. Dadurch wird ebenso wie durch das Präfix „συν-“ in der Benennung des Mitknechts die Gleichrangigkeit zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger der zweiten Szene hervorgehoben. Auch die dritte Szene ist mit den ersten beiden Szenen eng verknüpft. So verweist das in der dritten Szene erzählte königliche Strafhandeln, die Aushändigung des Knechts an die Folterknechte „bis er alles Geschuldete zurückgezahlt hätte“ (V. 34), auf das Handeln des Knechts gegenüber seinem Mitknecht zurück. V. 30

V. 34

ἔβαλεν αὐτὸν εἰς φυλακὴν

παρέδωκεν αὐτὸν τοῖς βασανισταῖς

ἕως ἀποδῷ τὸ ὀφειλόμενον.

ἕως οὗ ἀποδῷ πᾶν200 τὸ ὀφειλόμενον.

198 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 3, 71 Anm. 51. 199 Die spezifisch matthäische Verwendung des Verbs προσκυνέω ist ein weiterer Anhaltspunkt dafür, dass der König der Parabel transparent für Gott ist. So verwendet der Evangelist dieses Verb nur bezüglich der Anbetung Gottes (Mt 4,9.10) bzw. Jesu Christi (Mt 2,2.8.11; 8,2; 9,18; 14,33; 15,25; 20,20; 28,9.17). Vgl. dazu Weiser, Knechtsgleichnisse, 80–81. 200 Wiederum fällt die unterschiedliche Kennzeichnung der jeweiligen Schuld ins Auge, die erneut durch das Adjektiv πᾶς markiert wird. Es charakterisiert an dieser Stelle die Situation des Knechts als eine aussichtslose. Während der Mitknecht zumindest noch darauf hoffen kann, dass seine Schuld beglichen wird, ist diese Option für den ersten Knecht angesichts

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Der Knecht, der nicht bereit war, seinem Mitknecht die Schuld zu erlassen, hatte ihn ins Gefängnis werfen lassen, „bis er das Geschuldete zurückgezahlt hätte“ (V. 30). Die zweite und die dritte Szene werden also dadurch miteinander verbunden, dass der König in der dritten Szene das in der zweiten Szene geschilderte Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht zum Maßstab seines eigenen Umgangs mit seinem Knecht macht, was eben auch durch den nahezu identisch formulierten, mit ἕως eingeleiteten Temporalsatz zum Ausdruck gebracht wird. Wie wir bereits gesehen haben, ist das ein entscheidender Anhaltspunkt dafür, dass der König nicht aus Willkür den ursprünglichen Schuldenerlass rückgängig macht. Gleichzeitig zeigt sich hier ein spezifisches Verständnis von Barmherzigkeit: Als Rechtsverzicht geht sie über das Recht hinaus, ohne es prinzipiell in Frage zu stellen. Die Verweigerung der Barmherzigkeit führt dazu, dass der König der Parabel wieder auf der Ebene des Rechts mit seinem Knecht verkehrt. Während der fehlende Wille des ersten Knechts den Wendepunkt der Erzählung markiert (V. 30), läuft die Parabel auf die rhetorische Frage des Königs an den unbarmherzigen Knecht zu und besitzt hier ihren Höhepunkt: „33 Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“ Mit diesem Vers stellt der König explizit eine Verbindung zwischen dem Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht (2. Szene) und dem seinem Knecht von ihm selbst gewährten Schuldenerlass (1. Szene) her. Durch diese Verknüpfung hebt der Verfasser des Matthäusevangeliums hervor, dass der Knecht sich an der Barmherzigkeit des Königs hätte orientieren müssen, wobei das ἔδει die absolute Notwendigkeit eines solchen Verhaltens unterstreicht.201 Dabei wird auch deutlich, dass das Verhalten des Knechts gegenüber seinem Mitknecht nicht als solches, sondern ausschließlich aufgrund des ihm zuvor gewährten Schuldenerlasses höchst problematisch ist: Nicht das Eintreiben von Schulden, sondern das Eintreiben der Schulden angesichts des vorangegangenen Schuldenerlasses des Königs, der den vom Knecht erbetenen Zeitaufschub noch übertrifft, kennzeichnet das Verhalten des Knechts als unbarmherziges. Der König entspricht nun seinerseits dem Verhalten des unbarmherzigen Knechts, indem er wieder auf der Rechtsebene mit ihm verkehrt. Parallelität und Kontrast prägen auch die Darstellung der Affekte des Königs. Während in der ersten Szene die Bitte um Zahlungsaufschub und der verzweifelte

der Höhe der Schulden von 10.000 Talenten ausgeschlossen. Mit der Übergabe an die Folterknechte, die das richterliche Handeln des Königs für das Handeln Gottes im Endgericht transparent werden lässt, ist das Schicksal des Knechts endgültig besiegelt. 201 Neben den bereits in Abschnitt 1.1.1.2 aufgeführten Interpretationen des ἔδει vgl. auch folgende Aussage Vias: „Das in dem ‚sollen‘ … steckende griechische Wort δεῖ (18, 33) wird bezeichnenderweise von der göttlichen Notwendigkeit verwendet (vgl. Mk 8, 31; 13, 7; Mt 23, 23; Lk 22, 7; 24, 26; Joh 3, 14). Die Strenge dieses Worts legt die Unausweichlichkeit der in dem Gleichnis enthaltenen existentialen Realität nahe“ (Gleichnisse Jesu, 136; das Leerzeichen nach dem Komma bei den Stellenangaben ist aus dem Original übernommen).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Hinweis darauf, alles zurückzahlen zu wollen (V. 26), das Mitleid des Königs hervorrufen (V. 27), entbrennt in V. 34 aufgrund des Berichts der Mitknechte über das hartherzige Verhalten des Knechts (V. 31) der Zorn des Königs. V. 27

V. 34

Σπλαγχνισθεὶς δὲ ὁ κύριος τοῦ δούλου ἐκείνου

καὶ ὀργισθεὶς ὁ κύριος αὐτοῦ

ἀπέλυσεν αὐτὸν καὶ τὸ δάνειον ἀφῆκεν αὐτῷ.

παρέδωκεν αὐτὸν τοῖς βασανισταῖς ἕως οὗ ἀποδῷ πᾶν τὸ ὀφειλόμενον.

Mitleid und Zorn führen zu entsprechenden Handlungen des Königs, zum Schuldenerlass einerseits und zur Übergabe an die Folterknechte andererseits. Die aufgezeigte enge Verknüpfung der drei Szenen der Parabel durch die Stilmittel der Parallelität und des Kontrastes unterstreichen die zu Beginn des Kapitels zitierten Äußerungen, in denen die leichte Verständlichkeit der Parabel betont herausgestellt wurde.202 Im Blick auf das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit impliziert die enge Verknüpfung der drei Szenen, dass Erbarmen und Zorn als Ausdrucksweisen des einen Königs einander nicht widersprechen. Im Folgenden wenden wir uns nun der semantischen Analyse zu, die dieses Ergebnis der sprachlich-syntaktischen Analyse auf ihre Weise bestätigen wird. Für die Fragen nach dem normativen Charakter der Barmherzigkeit und dem Verhältnis zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ist dieser Schritt entscheidend.

1.2.2 Semantische Analyse Das semantische Inventar der Parabel verweist auf den sozio-ökonomischen Bereich. Als Personen werden der nur in der Einleitung auch als solcher bezeichnete König (V. 23) – an den anderen Stellen spricht die Parabel vom „Herrn“ (V. 25.27.31.32.34), der Knecht und sein Mitknecht bzw. die übrigen Mitknechte (V. 31) eingeführt. Die Ausgangssituation ist durch das ebenfalls in V. 23 genannte Vorhaben des Königs, mit seinen Knechten abrechnen zu wollen (συνᾶραι λόγον), vorgestellt. Semantisch ist das Vokabular der Parabel dem Wortfeld Schuld zugeordnet, wobei dieses durch das sechsfache Vorkommen der ὀφειλ-Derivate angezeigt wird, die die Parabel dominieren. So findet sich das Verb ὀφείλω viermal (V. 28 [2mal].30.34) und die Substantive ὀφειλέτης (V. 24) und ὀφειλή (V. 32) jeweils einmal. Den ὀφειλ-Derivaten korrespondieren die beiden Verben ἀφίημι und ἀποδίδωμι. Während das siebenmal verwendete ἀποδίδωμι (V. 25 [zweimal].26.28.29.30.34) auf der sozio-ökonomischen Ebene die Rückzahlung der 202 Vgl. Anm. 40 und Anm. 41.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Schuld bezeichnet, bezeichnet ἀφίημι den Schuldenerlass. Das Verb findet sich in der Rahmung der Parabel (18,21.35) und in der Parabel (18,27.32) selbst jeweils zweimal. Dass der Schuldenerlass auch an dieser Stelle für Sündenvergebung transparent ist (vgl. Mt 6,12.14–15), zeigt sich insbesondere daran, dass sich die Vorkommen des Verbs ἀφίημι in der Rahmung und der Parabel gegenseitig exegisieren:203 Während die Frage des Petrus, wie oft er seinem Bruder, der an ihm gesündigt hat, vergeben müsse (18,21), und die Anwendung in V. 35 explizit die Vergebung der Sünden im Blick haben, geht es im Gleichnis auf der Textoberfläche um den Erlass monetärer Schulden. An dieser Stelle sollen nun die beiden Verben ἀποδίδωμι und ἀφίημι in den Blick genommen und ihr Verhältnis zueinander untersucht werden.

1.2.2.1 Vergelten (ἀποδίδωμι) und Vergeben (ἀφίημι) als Grundformen von Sozialität Dass Vergeltung und Vergebung in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) Grundformen von Sozialität darstellen, scheint auf den ersten Blick ein Allgemeinplatz. So besteht in der neutestamentlichen Forschung ein breiter Konsens dahingehend, dass das in der Parabel Erzählte für die Gottesbeziehung des Menschen (erste und dritte Szene) bzw. die damit eng verbundenen zwischenmenschlichen Beziehungen (zweite Szene) transparent ist.204 Dieser Konsens hört dort auf, wo es um die Definition dessen geht, wie Beziehung zu verstehen ist: Die Kritik einer Verrechtlichung der Barmherzigkeit205 und die Versuche, die Notwendigkeit der Weitergabe erfahrener Vergebung in einen (oftmals antithetischen) Gegensatz zum Recht bzw. zum Tun-Ergehen-Zusammenhang zu stellen,206 bringen je auf ihre Weise ein Verständnis von Beziehung zum Ausdruck, das frei von jeglicher Form von Normativität ist. Impliziert ist dabei – etwas salopp formuliert – der Vorwurf, eine dem Tun-Ergehen-Zusammenhang unterliegende Beziehung reduziere Beziehung auf die Maxime „Wie Du mir, so ich Dir“207 bzw. „do ut 203 Vgl. Weber, Vergebung oder Vergeltung!?, 139. 204 Dass der König eine stehende Metapher für Gott ist, wird nur von wenigen bestritten, z. B. von Dietzfelbinger, Gleichnis von der erlassenen Schuld, 446; Harnisch, Gleichniserzählungen, 264.270 (mit Verweis auf Dietzfelbinger). 205 Vgl. die Auseinandersetzung mit Zehetbauer unter Punkt 1.1.1.3. 206 Vgl. die Auseinandersetzung mit Harnisch und Linnemann unter Punkt 1.1.1.4. 207 Vgl. z. B. die folgenden Aussagen von Luz bei seiner Interpretation von V. 35: „Sagt Matthäus hier wirklich noch anderes und mehr als Sir 28,2: ‚Vergib das Unrecht deines Nächsten, dann werden dir, wenn du darum bittest, auch deine Sünden vergeben werden‘ oder mehr als Jak 2,13: ‚Das Gericht wird erbarmungslos sein gegen den, der nicht Barmherzigkeit geübt hat‘? Bietet die matthäische Akzentuierung mehr als eine platte Paränese: Wer nicht vergibt, dem wird nicht vergeben?“ (Matthäus Bd. 3, 76). Abgesehen von der an sich schon problematischen Wertung von Sir 28,2 und Jak 2,13 als „platte Paränese“ und der ebenfalls problematischen Annahme, der Verfasser des Matthäusevangeliums müsse sich zwangsläufig von dem Verfasser von Jesus Sirach bzw. des Jakobusbriefes absetzen und „mehr sagen“ (warum

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

des“. Barmherzigkeit stehe demgegenüber für eine Art von Beziehung, die frei von solchen formalen, berechnenden und instrumentalisierenden Elementen sei. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine solche Kritik antiker Beziehungslogik bzw. Gabelogik nicht gerecht wird. Der Rekurs auf das antike Gabeverständnis legt sich insbesondere deshalb nahe, weil das Verb ἀποδίδωμι (zurückgeben) die Parabel dominiert.

1.2.2.1.1 Vergelten (ἀποδίδωμι) als Reaktion des Menschen auf ein vorgängiges Handeln Gottes Ein Vergleich der Vorkommen von ἀποδίδωμι im Matthäusevangelium mit den beiden anderen Synoptikern zeigt, dass es sich bei diesem Verb um ein matthäisches „Vorzugswort“208 handelt: Während der Autor des Lukasevangeliums ἀποδίδωμι in seinem Doppelwerk insgesamt zehnmal und der Verfasser des Markusevangeliums den Begriff ein einziges Mal verwendet, findet er sich im Matthäusevangelium insgesamt achtzehnmal, davon allein siebenmal in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (V. 25 [zweimal].26.28.29.30.34). Zählt man noch das dreimalige Vorkommen im Abschnitt Mt 6,1–18 hinzu (6,4.6.18), einer Stelle, die aufgrund der Vergebungsthematik in ihrem Zentrum (6,12.14–15) enge Parallelen zum genannten Gleichnis aufweist,209 dann entfällt mehr als die Hälfte der Belege

muss er das eigentlich?), bleibt Luz nicht nur eine Antwort auf die Frage schuldig, wie sich Mt 18,35 zu Mt 6,12.14–15 verhält, sondern auch, wie der Zusammenhang zwischen dem Verhalten der Gemeindemitglieder untereinander und dem Verhalten Gottes gegenüber dem einzelnen Gemeindeglied anders dargestellt werden kann als durch Reziprozitätsaussagen wie sie z. B. in Sir 28,2 und Jak 2,13, aber eben auch in Mt 6,12.14–15, Mt 5,7 oder Mt 7,1–2 vorliegen. Offensichtlich darf menschliches Verhalten das göttliche nicht bedingen. Wie anders die paränetische Aussage der Parabel wahrgenommen werden kann, zeigt sich bei Snodgrass. Er versteht die Aussage „Handle an anderen, wie Gott gegenüber Dir gehandelt hat“ als Ausdruck einer Gott antwortenden und ihm entsprechenden Ethik: „The instruction of this kingdom parable – as elsewhere in Scripture – is ‘Do unto others as God has done to you.’ The ethic is responsive and reflective – responding to God’s prior action and reflecting God’s character“ (Stories with Intent, 72). Dass Snodgrass die Aussage der Parabel positiv formuliert, Luz hingegen negativ, tut der Sache keinen Abbruch. „Handle an anderen, wie Gott dir gegenüber gehandelt hat“ und „Wer nicht vergibt, dem wird nicht vergeben“ sind zwei Seiten derselben Medaille, die sich nicht auseinanderdividieren lassen. Die fünfte Seligpreisung: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7) und die Anwendung der Parabel: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt“ (Mt 18,35) liegen auf einer Linie. 208 Sand, Art. ἀποδίδωμι, Sp. 307; Weber, Schulden, 253 (vgl. auch ders., Vergeltung oder Vergebung!?, 138 Anm. 61). 209 Auch Sand, Art. ἀποδίδωμι, Sp. 309, verbindet diese beiden Textkomplexe miteinander. Vgl. auch Stiewe/Vouga, Bergpredigt, 118–120, die bei der Interpretation von 6,1–18 ausführlich auf die Parabel vom unbarmherzigen Knecht eingehen. Weber geht davon aus, dass sich Mt 6,12.14–15 und Mt 18,23–35 gegenseitig exegisieren: „Bei der Schuldenerlaß-Bitte im Unser-Vater wird bei Mt durch die nachfolgende Aufnahme (6,12.14f.) die Entsprechung von

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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auf zwei umgrenzte Textbereiche, die beide einen engen Zusammenhang zwischen Vergeltung im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit und Vergebung insinuieren. Einerseits stehen sich ἀποδίδωμι und ἀφίημι als Oppositionen gegenüber (18,23–35), andererseits unterliegt nach matthäischem Verständnis auch die Vergebung einer Reziprozitätslogik (6,12.14–15; aber auch 6,2–4.5–6.16–18). Wir werden darauf zurückkommen. In der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) bezeichnet das Verb ἀποδίδωμι den Vorgang der Rückzahlung von Schulden durch den Schuldner. Beat Weber betont den relationalen Charakter des Terminus: „Das präpositionale Präfix des Kompositums markiert – im Vergleich zum Simplex – semantisch gesehen eine Re-aktion (‚zurückgeben‘, ‚entgelten‘ o. ä.). Ein vorgängiges Handeln (oft eines andern Subjekts) wird implizit vorausgesetzt, eine relationale Beziehungsstruktur ist involviert.“210 Wesentlich für ein angemessenes Verständnis der Parabel ist demnach der Sachverhalt, dass das ökonomische Verhältnis zwischen Schuldner und Gläubiger transparent für die Gottesbeziehung des Menschen ist, ohne dass hier, wie im Weiteren zu erläutern sein wird, von einer Ökonomisierung sozialer Beziehungen gesprochen werden könnte: Ein vorgängiges Handeln Gottes, die Gewährung eines Darlehens (δάνειον), setzt einen Kreislauf von Geben und Erwidern/Zurückgeben (Rückzahlung des Darlehens) in Gang. Nicht erst der Schuldenerlass, sondern bereits die Abrechnung mit dem Schuldner (V. 24), der aufgefordert ist, seine Schulden zu begleichen, ist somit Ausdruck der Gottesbeziehung. Die Maxime, dass Schulden zurückgezahlt werden müssen, entspricht für den Verfasser des Matthäusevangeliums nicht allein einer ökonomischen, sondern gleichermaßen auch einer Beziehungslogik. Um zu verstehen, wie diese Beziehungslogik funktioniert, sollen hier Ergebnisse des Gabe-Diskurses rezipiert werden, der nach anfänglichem Zögern auch von der neutestamentlichen Wissenschaft aufgegriffen wurde.211 So hat John M. G. Barclay das Gabetheorem des französischen Ethnologen und Soziologen Marcel Mauss überzeugend auf das paulinische Verständnis der Gabe angewandt.212 Nach Mauss sind die sozialen Beziehungen in ihrem Kern Gabe-Beziehungen. Er versteht göttlicher und (zwischen)menschlicher Vergebung nachhaltig hervorgehoben. Diese Aussage wird 18, 21–35 – pointiert auf die Gemeinde bezogen – illustriert, wobei die beiden Texte sozusagen die beiden Seiten einer Münze abbilden: Weil und insofern der Mensch vergibt (vergeben hat), vergibt auch Gott (ethisch-paränetische Perspektive). Und: Der Mensch (Bruder) soll vergeben, weil er selbst von Gott bereits Vergebung empfangen hat (theologisch-paränetische Perspektive)“ (Schulden, 255). 210 Weber, Schulden, 253. 211 Unseres Wissens ist der Gabe-Diskurs zuerst von der systematischen Theologie aufgegriffen worden. Das spiegelt sich gleichsam darin wider, dass in der vierten Auflage der RGG erstmals ein – aus systematisch-theologischer Perspektive von Oswald Bayer verantworteter – Artikel zur Gabe vorliegt. Bayer kennzeichnet darin die Gabe als „Urwort der Theol[ogie]“, „was von dieser aber erst noch zu entdecken und bis in die Ontologie hinein zu ermessen ist“ (Art. Gabe II. Systematisch–theologisch, Sp. 445). In der fünften Auflage wäre ein Abschnitt aus bibelwissenschaftlicher Perspektive mehr als wünschenswert. 212 Barclay, Paul and the Gift.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

den Vorgang des Gebens, Nehmens und Erwiderns in archaischen und antiken Gesellschaften als Prozess der „symbolische[n] Herstellung, Artikulation und Stabilisierung sozialer Beziehungen“213. Zentrales Charakteristikum sozialer Beziehungen ist demnach die Reziprozität bzw. die Wechselseitigkeit des Gebens und Erwiderns. Diese Wechselseitigkeit unterscheidet sich nun vom Kauf- oder Tauschgeschäft dadurch, dass sie einerseits durch Freiwilligkeit und andererseits durch Normativität gekennzeichnet ist: Eine freiwillig gegebene Gabe ist zu erwidern, ohne dass die Erwiderung justitiabel wäre. Die fehlende Justitiabilität wiederum charakterisiert auch die Gegengabe als eine freiwillige. Die Analogie zum von uns bisher herausgearbeiteten Verständnis von Güte/Barmherzigkeit als eines Aktes, der über das Recht hinausgeht und dem dennoch eine normative Dimension eignet, ist augenfällig. Wir werden darauf bei der Frage nach dem semantischen Gehalt des ἔλε-Stamms zurückkommen. Entscheidend ist im Moment allerdings ein anderer Aspekt: Im Blick auf die Normativität der Barmherzigkeit ist immer wieder moniert worden, dass ihr der Tun-Ergehen-Zusammenhang zu Grunde liegt und sich die Parabel insofern auf ein plattes „Wie Du mir, so ich Dir“ reduzieren lasse. Wird allerdings die Dimension der Freiwilligkeit einer Gabe berücksichtigt, die durch die Erwartung einer Gegengabe ja gerade nicht konterkariert wird, dann zeigt sich, dass eine derartige Kritik an antiker Beziehungslogik vorbeigeht: Es geht um ungeschuldete Gegenseitigkeit als Ausdruck sozialer Kommunikation. Gelingende zwischenmenschliche Beziehung zeichnet sich sowohl durch die Freiwilligkeit des Gebens als auch durch die Notwendigkeit der Erwiderung einer Gabe aus. Ohne Wechselseitigkeit gibt es keine sozialen Beziehungen. Die Differenzierung zwischen geschuldeter und ungeschuldeter Wechselseitigkeit stellt also u. E. den entscheidenden Schlüssel zur Konzeptualisierung von zwischenmenschlichen Beziehungen in der Antike dar. Auch die Parabel lässt sich vor dem Hintergrund dieser Differenz verstehen. Wie bereits das oben gebrachte Zitat von Beat Weber deutlich macht, impliziert die Rückerstattung der Schuld bzw. die Rückgabe des als Darlehen Gewährten ein vorausgegangenes Geben des Gläubigers, die Gewährung des Darlehens.214 Göttliche Gabe und menschliche Gegengabe sind aufeinander bezogen. Die erste Szene der Parabel führt dabei vor Augen, was passiert, wenn dieser Kreislauf von Gabe und Gegengabe durchbrochen wird: Mit dem Verkauf des zahlungsunfähigen Knechts und seiner Familie wäre die Beziehung zwischen dem Knecht und seinem Herrn beendet. Fehlende Wechselseitigkeit führt in die Beziehungslosigkeit. Analog verhält es sich mit der Bestrafung des Knechts, von der V. 34 berichtet. Die 213 Moebius, Geben, 7. 214 Nach Baltes steht hinter dem in rabbinischen Königsgleichnissen weit verbreiteten Grundmotiv eines mit einer Stadt, einem Land oder seinen Knechten Abrechnung haltenden Königs, „die Grundannahme, dass das ganze Leben ein vom Menschen zu verwaltendes Darlehen Gottes ist, das dieser jederzeit vom Menschen einfordern kann“ (Hebräisches Evangelium, 415f.). Das Grundmotiv der Abrechnung und die Grundannahme, das Leben sei ein von Gott gewährtes Darlehen, kommen auch in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht zusammen. Zu den rabbinischen Stellen vgl. Baltes, Hebräisches Evangelium, 416–424.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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durch Schuldenerlass/Vergebung gewährte Barmherzigkeit zielt auf eine Erwiderung und die Verweigerung einer solchen führt zur Rückkehr auf die Rechtsebene und zur Anwendung des Rechts. Die von vielen monierte normative Dimension der Barmherzigkeit ist also in erster Linie Ausdruck dessen, dass für den Verfasser des Matthäusevangeliums Wechselseitigkeit ein zentrales Charakteristikum von Beziehung ist.215 Die Intimität der Beziehung kommt hingegen darin zum Ausdruck, dass Barmherzigkeit über die rechtliche Ebene, die Pflicht, Schulden zurückzuzahlen, hinausgeht. Der nicht-rechtliche Charakter der Barmherzigkeit und ihre Wechselseitigkeit zeichnen dem Verfasser des Matthäusevangeliums zufolge die Gottesbeziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen aus. An dieser Stelle könnte der Einwand erhoben werden, dass in der Parabel das Verb ἀποδίδωμι ausschließlich die Rückzahlung des Darlehens bezeichnet, nicht aber die Wechselseitigkeit der Barmherzigkeit. Darauf ist zweierlei zu erwidern: Zum einen kann die Gewährung des Darlehens als Akt der Zuwendung Gottes zum Menschen verstanden werden, in dem der Beziehungswille Gottes zum Ausdruck kommt. Zum anderen verwendet der Evangelist das Verb ἀποδίδωμι an anderen Stellen seines Evangeliums als Ausdruck des vergeltenden Handeln Gottes (Mt 5,26.33; 6.4.6.18; 16,27; 20,8; 21,41; 22,21; 27,58), und zwar sowohl im positiven wie im negativen Sinn. Einer dieser Stellen, Mt 6,1–18, werden wir uns gleich zuwenden. Vorher gilt es noch einen weiteren wichtigen Aspekt zu berücksichtigen: Die Septuaginta gibt in zwei Drittel der Fälle die Pielform des Verbes ‫שׁלם‬, ‫ ִשׁלֵּם‬, mit Formen von (ἀνταπο- bzw. ἀπο-)διδόναι wieder.216 Als Grundbedeutung von ‫ ִשׁלֵּם‬nimmt der Alttestamentler Gillis Gerlemann „bezahlen, vergelten“ bzw. „als Genugtuung leisten“ an, wobei sich der Sinn nach Gerlemann keineswegs auf den rechtlichen Bereich beschränkt, sondern weit darüber hinausgeht: „‚Bezahlen‘ heißt soviel wie : den Pflichten, Ansprüchen, Versprechungen aller Art genugtun. Dabei kann ‫ ִשׁלֵּם‬ebenso wie unser ‚vergelten‘ den zweifachen Sinn von positivem ‚genugtun‘ und negativem ‚ahnden‘ haben.“217 In diesem sehr weit gefassten Sinn bezeichnet „bezahlen“ respektive „vergelten“ nach Gerlemann eine elementare „Funktion menschlichen und sozialen Lebens“218. Die strukturelle Analogie dieser „elementaren Funktion menschlichen und sozialen Lebens“219 zur Maussschen Definition der Gabe als „soziales Totalphänomen“ (fait social total) ist nicht zu übersehen. Wir können also festhalten: Das griechische Verb ἀποδίδωμι und sein hebräisches Äquivalent ‫ ִשׁלֵּם‬sind relationale Begriffe. Sie kennzeichnen ein Beziehungsgeschehen, dessen hervorragendes Merkmal Wechselseitigkeit ist. Diese Wechselseitigkeit kann grundsätzlich positiver und negativer Natur sein: Positive Interaktionen dürfen auf eine positive Erwiderung hoffen, negative müssen mit einer negativen Reaktion des Gegenübers rechnen. Wie Gerlemann in der soeben 215 216 217 218 219

Vgl. unsere Auseinandersetzung mit Zehetbauer unter Punkt 1.1.1.3. So Illmann, Art. ‫ שָׁ לֵם‬šālem, 101. Gerlemann, Die Wurzel šlm, 5. Gerlemann, Die Wurzel šlm, 4. Gerlemann, Die Wurzel šlm, 4.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

zitierten Aussage deutlich macht, kommt dem das deutsche Wort „vergelten“ nahe, auch wenn es in der Umgangssprache negativ konnotiert ist.220 Zu Recht betont Friedrich Büchsel in dem von ihm im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament verantworteten Artikel zum Geben, dass „[d]er Vergeltungsgedanke …. sich aus der Verkündigung des NT nicht entfernen [läßt], ohne sie zu zerstören“221. Wenn er im unmittelbaren Anschluss fortfährt, dass „[d]as Verhältnis Gottes und des Menschen … persönliche Gemeinschaft [ist], in der der empfangende Mensch dem gebenden Gott verantwortlich ist, dh seiner Vergeltung unterliegt“222, dann spiegelt sich hier nicht nur die Auffassung Büchsels wieder, dass dem Neuen Testament zufolge die persönliche Gottesbeziehung eine Gabe-Beziehungen ist. Vielmehr wird auch deutlich, dass diese Beziehung ohne den Vergeltungsgedanken nicht denkbar ist. Die vorgängige Gabe Gottes ist zu erwidern. Nichts Anderes sagt die Parabel vom unbarmherzigen Knecht: Verweigerte Gegenseitigkeit auf der Ebene der Barmherzigkeit mündet in Beziehungslosigkeit.223 Es ist nun u. E. entscheidend, die skizzierte Grundstruktur von Sozialität nicht vorschnell negativ im Sinne eines „Wie Du mir, so ich Dir“ zu verstehen. Das wird nicht nur dem prozesshaften Charakter der Wechselseitigkeit nicht gerecht, sondern übersieht auch die Würde, die mit dem eigenen Tun verbunden ist: Es zählt, und zwar im Positiven wie im Negativen. Diese Würde und die damit gegebene Verantwortung schließt die Möglichkeit des Scheiterns und des Versagens ein.224 Deshalb hat das Vergelten im Vergeben sein notwendiges Pendant. Bevor wir uns aber dem Verb ἀφίημι zuwenden, ist auf einige derjenigen Stellen einzugehen, in denen Gott Subjekt des Erwiderns, des Zurückgebens/Zurückzahlens bzw. der Vergeltung ist. Diese Stellen zeigen auf ihre Weise, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums Beziehung nicht auf ein „Wie Du mir, so ich Dir“ reduziert.

220 Irreführend ist die Überschrift „Von der Vergeltung“, die der sogenannten fünften Antithese in den Bibelübersetzungen häufig gegeben wird. Der Evangelist verwendet in Mt 5,39 nicht das Verb ἀποδίδωμι (= vergelten), sondern das Verb ἀνθίστημι (= widerstehen/entgegenstellen). 221 Büchsel, Art. δίδωμι κτλ., 170. 222 Büchsel, Art. δίδωμι κτλ., 170. 223 Vgl. in diesem Zusammenhang die folgende Aussage Nielsens, die er im Rahmen seiner gabetheologischen Interpretation von V. 35 tätigt: „Im jetzigen Zusammenhang ist jedenfalls deutlich, dass die Gemeindemitglieder ein Miteinander verwirklichen sollen, das die unmittelbare Konsequenz ihres Gottesverhältnisses ist. Das Gottesverhältnis initiiert die soziale Form und die soziale Form determiniert das Gottesverhältnis. Wird es nicht in menschlichen Relationen umgesetzt, existiert es gar nicht“ (Ökonomie der Generosität, 34). 224 In der Regel gibt es im Blick auf ein positives Vergeltungshandeln nicht die Probleme, die mit der Annahme eines negativen Vergeltungshandelns Gottes verbunden sind. So werden bei der Interpretation der fünften Seligpreisung: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7), keine Überlegungen dahingehend angestellt, ob diese Seligpreisung Ausdruck des (verpönten) Tun-Ergehen-Zusammenhangs ist oder der unlauteren Maxime do ut des folgt.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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1.2.2.1.2 Vergelten (ἀποδίδωμι) als Reaktion Gottes auf ein vorgängiges Handeln des Menschen Dass auch das menschliche Handeln wiederum mit einer göttlichen Reaktion rechnen darf, zeigt sich mit Mt 6,1–18 an der zweiten Stelle, an der der Verfasser des Matthäusevangeliums das Verb ἀποδίδωμι gehäuft verwendet. Die Verse Mt 6,1–18 bilden den zentralen Abschnitt des Hauptteils (5,17–7,12) der Bergpredigt.225 6,1 fungiert als Überschrift226 über die drei folgenden Abschnitte, die sprachlich-syntaktisch jeweils gleich aufgebaut sind und die in semantischer Hinsicht drei Formen konkret gelebter Gerechtigkeitspraxis thematisieren: Das Almosengeben (6,2–4), das Beten (6,5–6) und das Fasten (6,16–18). Der Abschnitt über das Gebet sticht durch das Vaterunser (6,9–13), dem Abgrenzungen zur heidnischen Gebetspraxis vorausgehen (6,7–8) und Erläuterungen zur fünften Vaterunser-Bitte folgen (6,14–15), nicht nur vom Versumfang heraus, sondern er markiert das Vaterunser und hier insbesondere die Vergebungsbitte (6,12) als Zentrum dieses Abschnitts. Wie die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) stellt auch der Abschnitt über die Almosengabe, das Gebet und das Fasten die Gottesbeziehung in ökonomischer Terminologie dar. Das wird bereits in V. 1 deutlich: „Hütet euch aber, eure Gerechtigkeit vor den Menschen zu üben, um von ihnen gesehen zu werden; sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater in den Himmeln“. Mit der Wendung vom „Lohn bei eurem Vater in den Himmeln“ (6,1) wird die den gesamten Abschnitt 6,1–18 prägende ökonomische Terminologie eingeführt.227 Das Stichwort „Lohn“ wird explizit durch die dreimalige Wendung ἀμὴν λέγω ὑμῖν, 225 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 254–255. 226 Luck versteht 6,1 als „Überschrift und Zusammenfassung“ (Matthäus, 82); vgl. Wiefel, Matthäus, 126. 227 Die Rede vom Lohn im Neuen Testament hat in der Theologie immer wieder die Frage aufgeworfen, ob sie das Gottesverhältnis nicht ökonomisiere und Ausdruck von Werkgerechtigkeit sei. Dementsprechend fehlt es nicht an Erklärungsversuchen, die darum bemüht sind, den Evangelisten von einem solchen Verständnis zu entlasten. Prominentestes Beispiel hierfür dürfte der Versuch Günther Bornkamms gewesen sein, Lohn und Verdienst voneinander zu trennen (vgl. Bornkamm, Lohngedanke, 17–26). Demgegenüber hat in jüngerer Vergangenheit Nathan Eubank im Blick auf die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16), auf die sich Bornkamm in seinen Ausführungen wesentlich bezieht, überzeugend nachgewiesen, dass sich der dem Menschen von Gott gezahlte Lohn dadurch auszeichnet, dass Gott mehr gibt, als der Mensch eigentlich verdient (Divine Recompense, 249–251). Es handelt sich dementsprechend um einen „Gnadenlohn“. Das Verhältnis zwischen Lohn und Verdienst ist hier nicht aufgehoben, aber der gezahlte Lohn geht nicht in einer exakten Entsprechung zur geleisteten Arbeit auf. Mit von Paul Ricœur geliehener Terminologie ausgedrückt: Der den Arbeitern gezahlte Lohn folgt nicht einer „logic of equivalence“, sondern einer „logic of superabundance“ (zu diesen Begrifflichkeiten vgl. Ricœur, Golden Rule). Von dieser Logik des Überflusses profitieren Eubank zufolge auch die zuerst angeheuerten Arbeiter, die, wie der engere Kontext der Parabel zeigt, den von Jesu verheißenen hundertfachen Lohn derer empfangen (Mt 19,29), die ihm nachfolgen (vgl. Eubank, Divine Recompense, 247–251).

88

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

ἀπέχουσιν τὸν μισθὸν αὐτῶν aufgenommen (V. 2.5.16), wobei das Verb ἀπέχω, auf das sich τὸν μισθὸν αὐτῶν als Objekt bezieht, in seiner aktiven transitiven Bedeutung terminus technicus der Geschäftssprache ist. Bauer-Aland schlägt die Bedeutung „e[inen] Betrag empfangen u[nd] ihn quittieren“228 vor. Geschäftssprache liegt auch in der Aussage vor, welche die drei parallel gestalteten Abschnitte jeweils abschließt: καὶ ὁ πατήρ σου ὁ βλέπων ἐν τῷ κρυπτῷ ἀποδώσει σοι (6,4.6.18): ἀποδίδωμι meint hier die Auszahlung eines für eine „Arbeit“ (6,1: δικαιοσύνην … ποιεῖν) erbrachten Lohns (vgl. Mt 20,8). Wiefel verweist bei seiner Interpretation von V. 4 darauf, dass die Rede von der Vergeltung, die sich auf das eschatologische Gericht beziehe, wie in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) Abrechnungscharakter habe.229 Anders als in der Parabel allerdings ist die GottMensch Beziehung in Mt 6,1–18 nicht als Gläubiger-Schuldner-Verhältnis, sondern als das Verhältnis eines Lohnarbeiters zu seinem „Herrn“ gefasst. Und anders als in der Parabel ist Gott hier Subjekt von ἀποδίδωμι. Diejenigen, die ihre Gerechtigkeit um Gottes willen praktizieren, dürfen hinsichtlich dieser „Gabe“ mit einer Gegengabe rechnen: Gott wird ihnen ihre Gerechtigkeit entgelten. Auch in 6,1–18 liegt der Gottesbeziehung des Menschen die bereits in Mt 18,23–35 beobachtete Reziprozitätsstruktur zu Grunde. Beziehung entfaltet sich in einem wechselseitigen Geben und Zurückgeben/Bezahlen/Erwidern. Dieser Sachverhalt ist umso relevanter, als dass der in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht erzählte Schuldenerlass, der dem Knecht einen Neuanfang ermöglicht, eine Abkehr von der Gabe-Gegengabe-Struktur nahelegen könnte und – wie wir gesehen haben – teilweise auch so verstanden worden ist. Das ist nicht der Fall. Dass Gott im Positiven wie im Negativen vergilt, daran hängt das Verständnis der Gottesbeziehung als einer persönlichen und wechselseitigen.

1.2.2.1.3 ἀφίημι: Sündenvergebung als Durchbrechung negativer Reziprozität Neben ἀποδίδωμι besitzt das Verb ἀφίημι entscheidende Relevanz für ein angemessenes Verständnis der Parabel. Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass sich die beiden Vorkommen in der Rahmung (V. 21/V. 35) und in der Parabel (V. 27/V. 32) gegenseitig interpretieren: Sündenvergebung (V. 21/V. 35) und Schuldenerlass (V. 27/V. 32) sind füreinander transparent. In semantischer Hinsicht impliziert dieser Sachverhalt, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in Einklang sowohl mit der Septuaginta als auch mit den anderen neutestamentlichen Schriften das Gottesverhältnis als ein Rechtsverhältnis konzeptualisiert: Der Knecht ist seinem Herrn verantwortlich und kann zur Rechenschaft gezogen werden. Die Unfähigkeit des Knechts, das Darlehen zurückzuzahlen bzw. die vorangegangene Gabe Gottes zu erwidern, führt in die Beziehungslosigkeit. Der Akt des

228 Bauer-Aland, Wörterbuch. 229 Wiefel, Matthäus, 126f.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Schuldenerlasses bzw. der Sündenvergebung (ἀφίημι) ermöglicht einen Neuanfang und durchkreuzt somit die Logik negativer Reziprozität. Menschliche Beziehungen entfalten sich also zwischen den beiden Polen der Vergeltung und der Vergebung. Grundsätzlich gilt, dass alles interpersonale Handeln Konsequenzen für die Beziehung zeitigt, im Positiven wie im Negativen. Die Vergeltungslogik als entscheidendes Merkmal von Beziehungen wird komplementär ergänzt durch die Vergebung, die negative Reziprozität durchbricht und so einen Neuanfang ermöglicht. Die Komplementarität von Vergeltung und Vergebung prägt auch den eben besprochenen Abschnitt Mt 6,1–18: Einerseits ist dieser Abschnitt durch die Aussage strukturiert, dass um Gottes willen praktizierte Gerechtigkeit sich lohnt und Gott diese vergilt (6,4.6.18), andererseits findet sich im Zentrum dieses Abschnitts die Bitte um Schuldenerlass/Vergebung: καὶ ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν, ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν. Zentrales Kennzeichen dieser Bitte ist die Verschränkung der an Gott herangetragenen Bitte um Vergebung mit der zwischenmenschlichen Vergebung, in der der Gegenseitigkeitscharakter der Vergebung ebenso deutlich zu Tage tritt wie in den Erläuterungen zu dieser Bitte in den V. 14–15, die sich im direkten Anschluss an das Vaterunser finden: 14 Ἐὰν γὰρ ἀφῆτε τοῖς ἀνθρώποις τὰ παραπτώματα αὐτῶν, ἀφήσει καὶ ὑμῖν ὁ πατὴρ ὑμῶν ὁ οὐράνιος·15 ἐὰν δὲ μὴ ἀφῆτε τοῖς ἀνθρώποις, οὐδὲ ὁ πατὴρ ὑμῶν ἀφήσει τὰ παραπτώματα ὑμῶν. Es zeigt sich hier erneut, dass die entscheidende Differenz zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nicht im Verzicht auf Gegenseitigkeit besteht, wohl aber zwei Ebenen der Gegenseitigkeit unterschieden werden. Vergeltung und Vergebung sind somit gleichermaßen wesentlich für die Gottesbeziehung des Menschen sowie die Beziehungen der Menschen untereinander und zudem bleibend aufeinander bezogen. Dabei ist zu betonen, dass die beiden Pole der Vergebung und der Vergeltung letzten Endes nur den Rahmen darstellen, innerhalb dessen Beziehungen gestaltet werden. Ebenso wenig wie das Vergeltungsdenken kann Vergebung als ein Prinzip bzw. ein Automatismus verstanden werden. Vergebung und Vergeltung erzeugen eine dynamische Spannung, in der sich Beziehung entfaltet, ohne konkret gelebte Beziehung je abbilden zu können. Wenden wir uns nun dem ἔλε-Stamm zu, der für ein Verständnis der Parabel wesentlich ist.

1.2.2.2 Der ἔλε-Stamm vor dem Hintergrund seines hebräischen Äquivalentbegriffs ‫חֶ סֶ ד‬ Wie wir sehen konnten, ist der Schuldenerlass in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) durch Barmherzigkeit motiviert (Mt 18,33). Barmherzigkeit ist dabei als die hervorragende Handlungsweise Gottes an den Menschen zugleich zentrales Kennzeichen der Gemeindeglieder: Sowie Gott in der Vergebung der Sünden an ihnen barmherzig gehandelt hat (1. Szene der Parabel), sollen sich die Gemeindeglieder auch untereinander als barmherzig erweisen und die Sünden

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

vergeben (Anwendung der Parabel). Dabei zeichnet sich – auch das wurde deutlich – die sich im Schuldenerlass konkretisierende Barmherzigkeit durch die Polarität von Freiwilligkeit und Normativität aus.230 Sie ist einerseits rechtlich nicht einklagbar – weder der Herr noch der Knecht sind dazu verpflichtet, der Bitte des Knechts bzw. des Mitknechts um Zahlungsaufschub zu entsprechen, und doch eignet ihr andererseits Normativität: Der vorangegangene freiwillige Schuldenerlass verpflichtet den ersten Knecht zu einem freiwilligen Entsprechungshandeln (imitatio Dei),231 das der für Gott transparente König zwar nicht erzwingen, dessen Unterlassen er aber zur Rechenschaft ziehen kann (Mt 18,34). In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass der Begriff ἔλεος das Paradox von Freiwilligkeit und Normativität ebenso wie die über den ἔλε-Stamm (und damit über Hos 6,6) laufende Verschränkung der menschlichen Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen von seinem hebräischen Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬mit eigenständigen Akzentuierungen übernommen hat: Es handelt sich bei ‫ חֶ סֶ ד‬und ἔλεος um relationale Begriffe, für die Reziprozität bzw. Wechselseitigkeit konstitutiv ist.232 Unsere Ausgangsfrage, wie die zuvorkommende übergroße Barmherzigkeit (1. Szene der Parabel) mit dem durch Zorn motivierten richterlichen Handeln Gottes (3. Szene der Parabel) in Einklang gebracht werden kann, wird also im Folgenden durch eine genaue Analyse des semantischen Gehalts von ‫ חֶ סֶ ד‬bzw. ἔλεος beantwortet. Die Erhebung des semantischen Gehalts von ‫ חֶ סֶ ד‬kann dazu beitragen, das matthäische Verständnis des ἔλε-Stammes in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht noch genauer zu fassen. Zum Vorgehen: Wir beginnen diesen Abschnitt mit einer Übersicht über die wissenschaftlichen Diskussionen, die um die Bedeutung des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬geführt werden (1.2.2.2.1). Die beiden Fokalpunkte dieser Diskussionen, die Frage nach dem Verhältnis von Freiwilligkeit und Normativität und die Frage zum Verhältnis von Gegenseitigkeit in der Gott-Mensch-Beziehung und in den zwischenmenschlichen Beziehungen werden im Anschluss einzeln besprochen (1.2.2.2.3 und 1.2.2.2.4). Vorgeschaltet ist eine Skizze hinsichtlich der mit dem Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬verbundenen Übersetzungsprobleme (1.2.2.2.2). Eine Zusammenfassung (1.2.2.2.5) und ein Vergleich der Ergebnisse mit dem Verständnis der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) schließen diesen Abschnitt ab (1.2.2.2.6).

1.2.2.2.1 Der Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬im Alten Testament In diesem Abschnitt gilt es, die Diskussionen nachzuzeichnen, die in der alttestamentlichen Wissenschaft um ein angemessenes Verständnis des Begriffs ‫חֶ סֶ ד‬ geführt werden: So ist zum einen umstritten, ob ‫ חֶ סֶ ד‬zu den Rechten und Pflichten 230 Vgl. dazu vor allem die Abschnitte 1.1.1.2 und 1.1.1.3. 231 Zur Differenz zwischen dem vor „weltlichen Gerichten“ einklagbaren Recht und Gott als Richter vgl. Abschnitt 1.1.1.3. 232 Eine ausführliche und gleichzeitig begrenzte Analyse des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬legt sich vor allem deshalb nahe, weil die Septuaginta ‫ חֶ סֶ ד‬in der Regel mit ἔλεος wiedergibt (vgl. Zobel, Art. ‫חֶ סֶ ד‬ ḥӕsӕḏ, 50; Bultmann, Art. ἔλεος κτλ., 475).

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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innerhalb bestehender Lebens- respektive Bundesverhältnisse zu zählen ist – so die wirkmächtige These Nelson Gluecks233, oder aber ob mit diesem Terminus das Nicht-Selbstverständliche, Besondere, das, was über das Pflichtgemäße hinaus geht, im Blick ist – so die These etwa von Hans Joachim Stoebe und Alfred Jepsen.234 Beide Thesen finden in der gegenwärtigen Diskussion Anhänger, ein Konsens scheint nicht in Sicht.235 Zum anderen gibt es auch hinsichtlich der Frage Uneinigkeit, wie das Verhältnis zwischen dem dem Menschen von Gott gewährten ‫ חֶ סֶ ד‬und zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬zu beschreiben ist. Unumstritten ist, dass ‫ חֶ סֶ ד‬zu den göttlichen „Handlungsweisen“ an seinen Geschöpfen zählt und gleichzeitig als Kit, der die Gesellschaft zusammenhält,236 ein konstitutives Element in zwischenmenschlichen Beziehungen darstellt. Wie aber sind diese konsensfähigen Sachverhalte – ‫ חֶ סֶ ד‬als hervorragendes Attribut JHWHs und als Schmierstoff menschlichen Miteinanders – miteinander zu verbinden? Die in diesem Zusammenhang kontrovers diskutierte Frage lautet: Kann der Mensch den göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬erwidern? Während z. B. Jepsen und Zobel die Vorstellung einer Reziprozität von ‫ חֶ סֶ ד‬in der Gott-Mensch-Beziehung ablehnen,237 gehen u. a. Glueck und Stoebe davon aus, dass der Mensch Gott ‫ חֶ סֶ ד‬erweisen kann.238 Bezeichnenderweise stammt von den relativ wenigen Stellen des Alten Testaments, die eine ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit zwischen Gott und Mensch nahelegen könnten (Jes 40,6; Jer 2,2; Hos 4,1; 6,4.6; 10,12; 12,7; Mi 6,8; Sach 7,9), ein Großteil aus dem für das Matthäusevangelium relevanten Hoseabuch, worunter sich auch das in Mt 9,13 und Mt 12,7 rezipierte Zitat: „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ (Hos 6,6) befindet. Und auch für den Fall, dass der Mensch den göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬nicht mit seinem eigenen ‫ חֶ סֶ ד‬erwidern können sollte, bleibt die Frage offen, wie die „Antwort“ oder Reaktion des Menschen auf den göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬zu verstehen ist: Wird etwa unter der Voraussetzung, dass der Mensch den ihm gewährten göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬nicht erwidern kann, die Annahme einer Gegenseitigkeit der GottMensch-Beziehung überhaupt hinfällig? Wäre also eine nicht vorhandene ‫חֶ סֶ ד‬-Reziprozität gleichzusetzen mit dem Fehlen jedweder Gegenseitigkeit? Wenn dem so wäre, welche Relevanz käme dann der Antwort des Menschen auf den ihm erwiesenen göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬zu bzw. könnte dann überhaupt noch von einer solchen gesprochen werden? Was genau besagt in diesem Zusammenhang die Annahme Zobels, dass der Mensch trotz seiner Unfähigkeit, Gott ‫ חֶ סֶ ד‬zu gewähren, den ihm gewährten ‫ חֶ סֶ ד‬in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu bewähren hat und

233 234 235 236

Glueck, Das Wort ḥesed. Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte; Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit. Vgl. Scoralick, Gottes Güte, 55. Vgl. W.R. Smith, The Prophets, 408, der ‫ חֶ סֶ ד‬als „the virtue that knits together society“ beschreibt. Diese Aussage von Smith zitieren sowohl Johnson, Ḥesed and Ḥāsȋd, 110, als auch Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 59. 237 Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 269.270; Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 68–69. 238 Glueck, Das Wort ḥesed, 21–34; Stoebe, Die Bedeutung des Wortes Ḥäsäd, 250f.

92

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

dass diese Bewährung Ausdruck des „Gemeinschaftscharakter[s]“ der Gottesbeziehung ist?239 Deutet sich hier nicht doch so etwas wie eine Gegenseitigkeit zwischen Gott und Mensch an, die für den ‫חֶ סֶ ד‬-Begriff konstitutiv ist? Und welche theologische Relevanz käme dem Charakter der Gottesbeziehung als durch den zwischenmenschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis gebrochene, nicht unmittelbare Gottesbeziehung zu? Könnte die weitgehende Vermeidung der Rede vom menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis Gott gegenüber nicht Ausdruck der fehlenden Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung sein. Und warum ist die Gottesbeziehung nur vermittelt? Dass bei der Beantwortung dieser Fragen immer auch systematisch-theologische Überlegungen mitschwingen dürften, wird sich gleich bei einem kurzen Überblick über die Übersetzungsprobleme des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬zeigen. Beide soeben angeführten Diskussionen um die Bedeutung des Terminus ‫חֶ סֶ ד‬ – die Frage nach dessen Normativität bzw. Freiwilligkeit und die Frage nach dem Verhältnis von zwischenmenschlich geübtem und göttlichem ‫ – חֶ סֶ ד‬sind für das Verständnis der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) relevant: So zeigt sich in der Parabel der über das Recht hinausgehende, aber doch normative Charakter von ‫ חֶ סֶ ד‬ebenso wie eine Verknüpfung des vom König gewährten mit dem vom Knecht seinem Mitknecht zu gewährenden ‫חֶ סֶ ד‬. Diese noch sehr undifferenzierten Aussagen darüber, wie der Evangelist in besagter Parabel Barmherzigkeit versteht, zeigen, dass ein Nachvollzug der Diskussionen um die Bedeutung von ‫ חֶ סֶ ד‬im Alten Testament nicht nur für die Parabel und das Matthäusevangelium insgesamt fruchtbar gemacht werden kann. Vielmehr ist auch umgekehrt zu erwarten, dass die Parabel ihrerseits Licht auf das alttestamentliche ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnis wirft. Dass hier größte Vorsicht walten muss und die Gefahr von Zirkelschlüssen besteht, versteht sich von selbst. Dennoch kommt das matthäische Verständnis des Terminus ἔλεος als Realisierung einer Verstehensmöglichkeit von ‫ חֶ סֶ ד‬in Betracht, so dass bei aller notwendigen Vorsicht Rückschlüsse auf die traditionsgeschichtliche Entwicklung des hebräischen Ausgangsworts erlaubt sind. Bevor in den folgenden Abschnitten die Diskussion um die normative Dimension von ‫חֶ סֶ ד‬ und das Verhältnis zwischen göttlich gewährter und zwischenmenschlich zu gewährender Güte nachgezeichnet und eigenständig Stellung bezogen wird, sind die Übersetzungsprobleme, die mit dem Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬verbunden sind, zu skizzieren.

1.2.2.2.2 Übersetzungsprobleme hinsichtlich des Terminus ‫חֶ סֶ ד‬ Die in der alttestamentlichen Forschung umstrittene Frage nach einer angemessenen Übersetzung des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬steht nicht im Mittelpunkt der folgenden Abschnitte. Dennoch seien hier die Probleme einer solchen Übersetzung knapp skizziert, da sie mit den Fragen, in welchem Sinne ‫ חֶ סֶ ד‬Normativität eignet und welchen Zusammenhang es zwischen göttlichem und menschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬gibt, eng zusammenhängen.

239 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

93

Die Probleme bei der Suche nach einem Äquivalent zum Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬spiegeln sich sowohl in den Hinweisen auf die Unmöglichkeit, ‫ חֶ סֶ ד‬mit einem einzigen deutschen oder englischen Begriff wiederzugeben240 als auch in der diesen Hinweisen entsprechenden Vielzahl der Übersetzungsvorschläge wider. So meint Hermann Spieckermann, dass die deutschen Begriffe „Güte“ und „Gnade“ am besten das treffen, was in der Hebräischen Bibel mit ‫ חֶ סֶ ד‬im Blick ist, er präferiert aber im Anschluss an die (New) Revised Standard Version die Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬mit „steadfast love“,241 was im Deutschen mit „unerschütterliche Liebe“ wiederzugeben wäre. Darüber hinaus hält Spieckermann aber auch fest, dass sich der semantische Gehalt von ‫ חֶ סֶ ד‬in nachexilischer Zeit in Richtung „Barmherzigkeit“ verschiebe,242 und er führt dafür die Übersetzung von ‫ חֶ סֶ ד‬mit ἔλεος in der Septuaginta und im Neuen Testament an.243 Damit ist nach Spieckermann je nach geschichtlichem und literarischem Kontext eine Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬mit Güte, Gnade, Liebe und Barmherzigkeit möglich.244 Diesen von Spieckermann angeführten Überset-

240 Vgl. z. B. Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 270; Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 610 (im Blick auf den profanen Gebrauch). Für den englischsprachigen Bereich vgl. z. B. Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 233. 241 Vgl. Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp. 1025. 242 Ob Spieckermann dabei davon ausgeht, dass damit der Gegenseitigkeitscharakter von ‫חֶ סֶ ד‬ verloren geht, wird nicht deutlich. 243 Vgl. Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp. 1025. 244 Hinzu treten die Übersetzungsvorschläge und Definitionen anderer Exegetinnen und Exegeten: Stoebe definiert ‫ חֶ סֶ ד‬als „Großherzigkeit, … eine selbstverzichtende menschliche Bereitschaft …, für den anderen dazusein“ (Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 611) und stellt dem Lexem ‫ חֶ סֶ ד‬die deutsche Übersetzung „Güte“ zur Seite (vgl. ebd., Sp. 600); Johnson nimmt als Grundbedeutung „devotion“ an (Ḥesed and Ḥāsȋd, 108), geht aber darüber hinaus davon aus, dass ‫ חֶ סֶ ד‬an vielen Stellen mit „loyality“ wiederzugeben ist (vgl. ebd., 102–106). Für den Fall einer einheitlichen Wiedergabe plädiert Jepsen im Anschluss an Buber für die Übersetzung von ‫ חֶ סֶ ד‬mit „Huld“, „wenn man nur eben den ursprünglichen Bezug auf das Rechtsverhältnis des Dienstherrn zum Lehnsmann nicht mehr mithört“ (Gnade und Barmherzigkeit, 270). Nachdem Kellenberger aus eben diesem Grund die Übersetzung mit „Huld“ und darüber hinaus – aus anderen Gründen – mit „Gnade“, „Freundlichkeit“, „Herzlichkeit“, „Treue“, „Solidarität“ und „Barmherzigkeit“ abgelehnt hat (vgl. Kellenberger, Glaubenserfahrung, 187), schlägt er „‚spontanes bzw vorbehaltloses Offensein für jemanden‘“, „‚Hingabe‘“, „‚Liebe‘“, „‚Verbundenheit‘“, „‚Freundschaft‘“ oder – wie sein Doktorvater Stoebe – „‚Güte‘“ als Übersetzungsmöglichkeiten vor (ebd.). Sakenfeld würdigt die Flexibilität des Begriffs und hält fest, dass „[t]he word may often be summarized as ‘deliverance or protection as a responsible keeping of faith with another with whom one is in a relationship’“ (The Meaning of Hesed, 233). Wenn sie im direkten Anschluss einschränkend bemerkt, dass „such a statement is extremely cumbersome and even so does not cover the full range of meaning“ (ebd.) zeigt sich auch hier die Schwierigkeit einer angemessenen Wiedergabe dieses hebräischen Terminus. Gordon R. Clark kommt in der Zusammenfassung seiner Dissertation zu dem Schluss, dass ‫„ חֶ סֶ ד‬cannot be adequately translated in many languages, including English“ (The Word “Hesed”, 267). Das Bedeutungsspektrum von ‫ חֶ סֶ ד‬zeigt sich auch daran, dass bereits die Pentateuch-Übersetzer das Lexem je nach Kontext mit δικαιοσύνη oder mit ἔλεος wiedergeben konnten (vgl. Ziegert, Das Wortfeld von Gnade, 149).

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

zungsmöglichkeiten entspricht die Diversität der Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬in den Übersetzungen. Ein tabellarischer Überblick über die wichtigsten deutsch- und englischsprachigen Übersetzungen der für unsere Arbeit relevanten Stellen Ex 34,6, Hos 6,6 und Mt 9,13; 12,7 vermag das zu verdeutlichen: Übersetzungen von ‫חֶ סֶ ד‬ Luther 2017

Ex 34,6

Hos 6,6

Mt 9,13; 12,7

Gnade

Liebe

Barmherzigkeit

Einheitsübersetzung (2016)

Huld

Liebe

Barmherzigkeit

Zürcher (2007)

Gnade

Treue

Barmherzigkeit

New Revised Standard Version

steadfast love

steadfast love

Mercy

King James Version

Goodness

Mercy

Mercy

English Standard Version

steadfast love

steadfast love

Mercy

Die Tabelle führt das Bedeutungsspektrum des Begriffes ‫ חֶ סֶ ד‬und die daraus resultierenden Übersetzungsschwierigkeiten eindrücklich vor Augen. Einigkeit herrscht hier nur hinsichtlich der Wiedergabe von ἔλεος in Mt 9,13; 12,7 mit Barmherzigkeit/mercy, die allerdings nicht aus dem masoretischen Text, sondern aus dem griechischen Text des Neuen Testaments respektive der dem Zitat aus Hos 6,6 zugrunde liegenden Septuaginta gewonnen wird245. Während also in Mt 9,13 bzw. Mt 12,7 der Sinn von ἔλεος eindeutig zu sein scheint, ist der semantische Gehalt von ‫ חֶ סֶ ד‬in Ex 34,6 und Hos 6,6 deutungsoffener: So wird für Ex 34,6 Gnade, Huld und Liebe/love, für Hos 6,6 Liebe, Treue und Barmherzigkeit als Übersetzung für ‫ חֶ סֶ ד‬erwogen. Deutlich spiegelt sich in der Tabelle auch die Annahme wider, der Sinn von ‫ חֶ סֶ ד‬verschiebe sich in nachexilischer Zeit von „Güte“ hin zu „Barmherzigkeit“. Zu den Übersetzungsschwierigkeiten im Allgemeinen und der Verschiebung des Bedeutungsgehalts von wechselseitigem ‫ חֶ סֶ ד‬zu einseitigem ἔλεος im Besonderen bemerkt Aubrey R. Johnson in einem 1955 erschienen Festschriftbeitrag für Sigmund Mowinckel: „This Hebrew word is well known as providing something of a problem for the translator. In the standard English Versions it is rendered most often by ‘mercy’, although the renderings ‘kindness’ and ‘lovingkindness’ are by no means infrequent. The clear predominance of ‘mercy’ in the English Versions is doubtless due to the characteristic renderings of the Septuagint and the Vulgate, i.e. ἔλεος and misericordia. None of these, however, does justice to the Hebrew original; for, while there are several passages in which some such general meaning as ‘kindness’ or even ‘mercy’ may seem to be required by the context, there are others (and they are numerous) which indicate that we have here a 245 Vgl. Anm. 466.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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secondary implication, and that originally and normally the term ḥesed carried with it a suggestion of reciprocity or mutual obligation.“246 Diese Ausführungen Johnsons sind höchst relevant: So zeigen sie, dass die Übersetzung von ‫ חֶ סֶ ד‬ins Englische vor ähnliche Probleme stellt wie eine Wiedergabe im Deutschen. ‫ חֶ סֶ ד‬scheint – wie vielleicht kein zweites hebräisches Wort – nur schwer in eine Zielsprache übersetzt werden zu können. Von Bedeutung ist insbesondere die angedeutete Sinnverschiebung des hebräischen Begriffs zu seinem griechischen bzw. lateinischen Äquivalent: An die Stelle des ursprünglichen Reziprozitätscharakters tritt die Einseitigkeit der Barmherzigkeit.247 Während sich die Übersetzungen im englischsprachigen Raum also nach Einschätzung Johnsons im Wesentlichen an der Wiedergabe der Septuaginta und der Vulgata orientieren bzw. diese widerspiegeln, tritt im deutschen Sprachraum ein weiterer Aspekt hinzu: Hier dürfte neben den Einfluss von Septuaginta und Vulgata die Übersetzung mit „Gnade“ ihre Wirkmacht entfalten,248 einem Wort, dass in seinem 246 Johnson, Ḥesed and Ḥāsȋd, 101. 247 In diesem Sinne stellt auch Jan Joosten hinsichtlich der Differenz zwischen ‫חֶ סֶ ד‬, das er mit „benevolence“ wiedergibt, und ἔλεος, das er mit „pity“ übersetzt, heraus, dass „while ‘benevolence’ can be exerted toward anyone and may be reciprocated, ‘pity’ will always include a notion of condescension and be unilateral“ (‫חסד‬, 99). Vgl. auch Katharine Doob Sakenfeld, die semantische Verschiebung im theologischen Gebrauch von ‫ חֶ סֶ ד‬in Richtung einer einseitig verstandenen Barmherzigkeit mit der Notwendigkeit einer radikalen Neuinterpretation der vorexilischen „mosaischen Tradition“ begründet: Mit dem Exil „[t]he final covenant threat had been realized and forgiveness rather than ‘deserved’ assistance for the people of the covenant became the dominant concern“ (The Meaning of Hesed, 238). Unmittelbar vorher hatte sie zum theologischen Gebrauch von ‫ חֶ סֶ ד‬in der vorexilischen Tradition festgestellt, dass die göttliche Vergebungsbereitschaft deshalb eine hervorragende Konkretion des göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬und nicht der göttlichen Gnade (‫ )חֵ ן‬bzw. der göttlichen Barmherzigkeit (‫)רח ֲִמים‬ ַ sei, weil Vergebung als Ausdruck göttlicher Bundestreue verstanden worden wäre und nur der Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬diesem Konzept hätte Ausdruck verleihen können (vgl. ebd., 237–238). Der Kontext des Bundes impliziert für Sakenfeld offensichtlich Gegenseitigkeit, die Sakenfeld für Barmherzigkeit nicht annimmt. Diese Aussagen sind u. E. nicht ganz kongruent: So ist Sündenvergebung vorexilisch oder nachexilisch so oder so Ausdruck einer auf Gegenseitigkeit zielenden Einseitigkeit. Es spricht deshalb nichts dagegen, Sündenvergebung auch nachexilisch innerhalb des Bundesverhältnisses Gottes mit Israel zu verorten und als Ausdruck der göttlichen Bundestreue zu verstehen. Eine Verschiebung des semantischen Gehalts von ‫ חֶ סֶ ד‬in Richtung „Barmherzigkeit“ während der Zeit des Zweiten Tempels konstatiert auch Bradley C. Gregory, Art. Ḥesed II. Judaism A. Second Temple and Hellenistic Judaism, Sp. 969. Gegen diese Sichtweise hat jüngst Carsten Ziegert in einer Studie zum Wortfeld Gnade, Barmherzigkeit, Güte und Treue unter Bezugnahme auf die Wörterbücher von Jastrow und Dalman darauf hingewiesen, dass ‫ חֶ סֶ ד‬auch im nachbiblischen und rabbinischen Hebräisch seinen ursprünglichen Bedeutungsgehalt (Güte) beibehalten konnte, eine Sinnverschiebung zu Barmherzigkeit bzw. Mildtätigkeit also nicht anzunehmen sei (Das Wortfeld von Gnade, 140). 248 Vgl. auch Reventlow, Art. Gnade I. Altes Testament, 459, der auf die Bedeutung von Gnade für die reformatorische Lehre und damit – so wäre zu ergänzen – für protestantisches Selbstverständnis ebenso hinweist wie darauf, dass Luther mehrere hebräische Begriffe mit Gnade übersetzt. Dazu stellt er fest: „In einigen Fällen entstellt der Begriff (bis in die neuesten Revisionen hinein!) geradezu den Sinn eines hebräischen Ausdruckes oder ist bestenfalls als

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

theologischen Gehalt entscheidend durch Martin Luther geprägt ist und aufgrund seiner Opposition zu den menschlichen Werken nicht nur eine gänzlich unverdiente, sondern zusätzlich auch an keine weitere Bedingung geknüpfte Zuwendung Gottes umschreibt.249 Das aber spitzt das, was Johnson über die englischsprachige Wiedergabe mit „mercy“ sagt, noch einmal zu: Während nach Johnson bereits die Übersetzung mit „mercy“ dem Reziprozitätscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬nicht gerecht wird, steht das theologische Verständnis von Gnade in lutherischer Tradition und damit in für protestantisches Selbstverständnis entscheidender Weise in diametraler Opposition zu einer solchen Gegenseitigkeit.250 Kurzum: Die Kritik Johnsons an der Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬mit „mercy“ trifft in einem weit höheren Maße auf die deutsche Übersetzung mit „Gnade“ zu.251 Und was für die Übersetzung mit „Gnade“ gilt, gilt letztendlich im Deutschen auch für „Barmherzigkeit“, wird doch auch dieser Begriff vielfach im Sinne von Gnade als einer einseitigen Zuwendung Gottes verstanden. Nicht einfacher wird die Suche nach einer angemessenen deutschen Übersetzung für ‫ חֶ סֶ ד‬dadurch, dass die deutschen Begriffe Barmherzigkeit, Liebe und Gnade hebräische Äquivalente mit jeweils spezifischen semantischer Konturierung besitzen, nämlich ‫ ַרח ֲִמים‬, ‫ אַ הְ ַבָ ה‬und ‫ חֵ ן‬252. Auch wenn angenommen wird, dass sich einzelne dieser Begriffe einander angleichen bzw. zwischen ihnen Konvergenzen bestehen,253 muss im Rahmen unserer Fragegestellung erhoben werden, ob die

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verdeutlichender Zusatz angemessen“ (ebd.) Auch wenn Reventlow dann – anders als Johnson – nicht auf den unterdrückten Reziprozitätscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬zu sprechen kommt, sondern andere Beispiele für die sich aus der Wiedergabe mit Gnade ergebenden Entstellungen der hebräischen Begriffe nennt (vgl. ebd.), gilt gleiches u. E. eben auch an vielen Stellen für die Übersetzung von ‫ חֶ סֶ ד‬mit Gnade. Dementsprechend lehnen lutherische Theologen wie z. B. Oswald Bayer eine sekundäre Konditionierung der (Gnaden-)Gabe strikt ab (vgl. Bayer, Ethik der Gabe, 348 u. ö.). Im Blick auf Paulus hat John M. G. Barclay darauf aufmerksam gemacht, dass der Völkerapostel das antike Gabeverständnis teilt: eine freiwillig gegebene Gabe ist zu erwidern. In diesem Sinne sei auch Christus nach paulinischer Auffassung eine voraussetzungslose („unconditioned“), aber nicht bedingungslose gewährte Gabe („unconditional“; vgl. Barclay, Paul and the Gift, 562). Eine ohne Nachfolgebedingung, also „unconditional“ gegebene Gabe liefe auf eine Gabe hinaus, die Gemeinschaft nach antikem Verständnis nicht ermöglichen würde. Dazu aber dient die Gabe. Reine Einseitigkeit wäre mit Beziehungslosigkeit identisch. Vgl. nur Berndt Hamms Charakterisierung reformatorischen Denkens als Auflösung des Zusammenhangs von Gabe und Gegengabe (Hamm, Pure Gabe ohne Gegengabe, 244f.). Bereits Glueck hatte sein Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬in Opposition zu einem dogmatisch geprägten Gnadenbegriff entwickelt und gegenüber dessen Einseitigkeit den Gegenseitigkeitscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬herausgestellt (vgl. Glueck, Das Wort ḥesed, 21). ‫ חֵ ן‬wird in der Septuaginta in der Regel mit χάρις wiedergeben, χάρις aber ist im Neuen Testament theologisches Leitwort (vgl. Dieter Sänger, Art. Gnade/Gnade Gottes III. Neues Testament, Sp. 1027). Die Übersetzung von ‫ חֶ סֶ ד‬mit „Gnade“ stellt deswegen auch insofern vor große Probleme, weil sie die Unterschiede zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ חֵ ן‬verwischt. Zu den Unterschieden zwischen ‫חֶ סֶ ד‬, ‫ ַרח ֲִמים‬und ‫ אַ הְ ַבָ ה‬siehe den knappen und instruktiven Überblick bei Clark, The Word “Hesed”, 263. So nimmt Scoralick, Art. Barmherzigkeit I. Altes Testament, Sp. 1116, Überschneidungen von ‫ ַרח ֲִמים‬und ‫ חֵ ן‬an; vgl. Bultmann, Art. ἔλεος κτλ., 477.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Angleichungsprozesse den Gegenseitigkeitscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬tangieren. Wir haben soeben gesehen, dass Johnson genau das annimmt: Die Wiedergabe von ‫חֶ סֶ ד‬ mit ἔλεος ist nach seiner Auffassung mit einer Marginalisierung bzw. Aufgabe der Dimension gegenseitiger Verpflichtung bzw. Reziprozität verbunden. Das nimmt auch Joosten an, der allerdings nicht davon ausgeht, dass die Übersetzer der Septuaginta mit der Wiedergabe von ἔλεος als Äquivalent für ‫ חֶ סֶ ד‬eine unglückliche Wahl treffen, sondern dass sich der semantische Gehalt von ‫ חֶ סֶ ד‬in nachexilischer Zeit in Richtung Einseitigkeit verschoben hat.254 Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht hingegen deutet in eine andere Richtung: In ihr kommt der ursprüngliche Gegenseitigkeitscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬voll zur Geltung. Der Prozess der Angleichung von ‫ חֶ סֶ ד‬und ἔλεος,255 der sich darin widerspiegelt, dass die Septuaginta sowohl ‫חֶ סֶ ד‬ als auch ‫ רחם‬bzw. ‫ ַרח ֲִמים‬mit Formen des ἔλε-Stammes wiedergibt,256 geht offensichtlich nicht zwangsläufig auf Kosten des Reziprozitätscharakters von ‫ חֶ סֶ ד‬und seines griechischen Äquivalents. Nicht nur Mt 18,23–35, sondern auch die fünfte Seligpreisung sprechen hier eine deutliche Sprache: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7).257 Und wenn Markus Witte im Blick auf jüdische Weisheitsschriften der hellenistischen Zeit feststellt, dass „Barmherzigkeit …, entsprechend der Vorstellung reziproker Gerechtigkeit, auf den Barmherzigen zurück[wirkt]“258, dann zeigt sich auch hier, dass Barmherzigkeit und Gegenseitigkeit Hand in Hand gehen. Hinsichtlich der Übersetzungsschwierigkeiten des hebräischen Terminus ‫חֶ סֶ ד‬ können wir festhalten, dass das Problem bei der Wiedergabe mit „Barmherzigkeit“ oder „Gnade“ insbesondere darin besteht, dass beide Begriffen im theologischen Sprachgebrauch eine Einseitigkeit suggerieren, die ihrem hebräischen bzw. – wie die Parabel vom unbarmherzigen Knecht zeigt – griechischen Äquivalent nicht zu eigen ist. All dies macht eine Annäherung an das, was ‫ חֶ סֶ ד‬in seinen alttestamentlich-hebräischen und ἔλεος in seinen jüdisch-hellenistischen Kontexten bedeutet, 254 Joosten, ‫חסד‬. 255 Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp. 1025; vgl. Bultmann, Art. ἔλεος κτλ., 478. Spieckermann entnimmt das denjenigen Stellen, in denen ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ַרח ֲִמים‬ parallel zueinander stehen. Er verweist exemplarisch auf Hos 2,21; Sach 7,9; Ps 25,6; 40,12; 51,3; 103,4 (Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, 1025). Von einer Konvergenz zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ ַרח ֲִמים‬geht auch von Bendemann, Art. Barmherzigkeit, 139, aus. Jepsen nimmt an, dass beide Begriffe sich vor allem darin unterscheiden, „daß Rachamim sich wesentlich auf ein Leben schützendes und erhaltendes Tun bezieht, während Chesed umfassender auf alles freundliche, helfende, rettende Handeln geht“ (Gnade und Barmherzigkeit, 271). 256 ‫ רחם‬bzw. ‫ ַרח ֲִמים‬kann in der Septuaginta auch mit Formen des Stammes οἰκτειρ- wiedergegeben werden, vgl. Avemarie, Art. Barmherzigkeit II. Antikes Judentum, Sp. 1117. 257 Vgl. TestSeb 5,3: „Habt nun Erbarmen in euerem Inneren (ἔλεος ἐν σπλάγχνοις ὑμῶν). Denn wie jemand mit seinem Nächsten handelt, so wird der Herr auch ihm tun“ (Übersetzung Becker, Testamente, 88). Während der erste Satz in ähnlicher Form wie die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) zwischen Erbarmen als Handlung (vgl. Mt 18,33: ἐλεέω) und den Eingeweiden als Sitz des Mitleids (vgl. Mt 18,27: σπλαγχνίζομαι) unterscheidet, erinnert der zweite Satz an die Anwendung der Parabel in Mt 18,35. 258 Witte, Begründungen der Barmherzigkeit, 393.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

äußerst schwierig. Unabhängig von der Frage, ob eine einheitliche Übersetzung von ‫ חֶ סֶ ד‬überhaupt sinnvoll und möglich ist, geht es im folgenden Abschnitt deshalb nicht vornehmlich um Übersetzungsfragen, sondern darum, den Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬in seiner semantischen Struktur bzw. in seinem „genauen Wortumfang zu erfassen“259, was sich gerade auch deshalb als schwierig erweist, weil „Chesed einen komplexen Tatbestand umfaßt“260. Übersetzungsfragen sind demgegenüber sekundär, gleichwohl aber von den vorgenommenen Überlegungen betroffen. Im Folgenden soll nun den Fragen nachgegangen werden, inwiefern ‫ חֶ סֶ ד‬ein normativer Begriff ist, und welchen Zusammenhang es zwischen göttlichem und zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬gibt.

1.2.2.2.3 ‫ חֶ סֶ ד‬zwischen Normativität und Freiwilligkeit In aller Regel nehmen die Diskussionen um ein angemessenes Verständnis des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬ihren Ausgangspunkt bei der 1927 veröffentlichten Dissertation von Nelson Glueck „Das Wort ḥesed im alttestamentlichen Sprachgebrauche als menschliche und göttliche gemeinschaftsgemässe Verhaltungsweise“261. Glueck hatte in seiner Arbeit ‫ חֶ סֶ ד‬als ein auf Rechten und Pflichten basierendes „gemeinschaftsgemäßes Verhalten“ definiert und dabei der Beziehung zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ בְּ ִרית‬besondere Aufmerksamkeit geschenkt.262 Auch wenn Glueck vor allem aufgrund der Annahme einer engen Verbindung zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ בְּ ִרית‬und seiner damit einhergehenden Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬als etwas Pflichtgemäßen und Selbstverständlichen scharf kritisiert worden ist,263 prägt seine These – in den meisten Fällen in modifizierter Form – auch die derzeitige Forschungslandschaft.264 So betont Hermann Spieckermann in dem von ihm in der Religion in Geschichte und Gegenwart verantworteten Abschnitt zur Gnade im Alten Testament die breite Zustimmung zur These Gluecks, dass ‫„ חֶ סֶ ד‬im Kern ein wechselseitiges Verhältnis von Rechten und Pflichten beschreiben will, das sowohl unter Menschen … als auch zw[ischen] Gott und Mensch regulative Bedeutung hat“265. Spieckermann scheint 259 260 261 262

Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 264. Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 264. Die Dissertation wurde in der Reihe BZAW veröffentlicht. Allerdings ist zu beachten, dass ‫ חֶ סֶ ד‬für Glueck ein konstitutives Element sowohl von Bundesals auch von anderen Beziehungsverhältnissen ist: „Nicht aber will das bedeuten, …, daß ‫חסד‬ ein Synonym zu ‫ ברית‬sei. Ḥesed ist die Voraussetzung und Wirkung einer berith, macht die eigentliche Substanz einer berith aus, ist aber noch nicht eine berith, wenn auch eine berith nicht ohne ḥesed sein kann“ (Das Wort ḥesed, 33). Reventlow weist darauf hin, dass es vor allem die Nachfolger Gluecks wie Lofthouse, Bultmann, Eichrodt, Snaith und Kuyper waren, die ‫ חֶ סֶ ד‬auf Bundesverhältnisse zugespitzt haben (vgl. Reventlow, Art. Gnade I. Altes Testament, 461 mit Endnote 14 auf S. 463). 263 Vgl. die Darstellung und kritische Würdigung der von Stoebe und Jepsen geübten Kritik an Glueck weiter unten in diesem Abschnitt. 264 Einzig Eßer, Art. Barmherzigkeit/ἔλεος, 112, scheint die These Gluecks relativ ungebrochen zu übernehmen, auch wenn er nicht explizit auf ihn verweist. 265 Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp. 1024.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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dem grundsätzlich zuzustimmen, auch wenn er im direkten Anschluss die Fokussierung auf den Bundesbegriff kritisiert.266 In ähnlicher Form hält auch Horst Dietrich Preuß aus der Forschungsdiskussion um die Bedeutung von ‫ חֶ סֶ ד‬fest, dass ‫„ חֶ סֶ ד‬eine bestimmte Gemeinschaftsbeziehung voraussetzt und bewährt …, dabei aber nicht auf bundesgemäßes Verhalten, Rechtsverhältnis usw. eingeengt werden darf, sondern sowohl Pflichterfüllung als auch spontane Zuwendung bezeichnen kann“267. Auch bei Preuß zeigt sich die grundlegende Übereinstimmung mit, bei gleichzeitiger Modifikation der These Gluecks in aller Deutlichkeit: Einerseits hält er fest, dass ‫ חֶ סֶ ד‬ein Beziehungs- bzw. Gemeinschaftsbegriff ist, andererseits lehnt er ein zu reduktionistisches Verständnis dieser Gemeinschaft als Bund als nicht sachgemäß ab. Darüber hinaus bezieht Preuß auch hinsichtlich eines weiteren Streitpunkts der Forschung Stellung, der mit der genannten Kritik eng zusammenhängt: Für ihn oszilliert der Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬zwischen Pflichterfüllung und spontaner Zuwendung. Wie wir im Folgenden sehen werden, kreisen die in der alttestamentlichen Forschung geführten Diskussionen um diese beiden Pole der Freiwilligkeit und Normativität des ‫חֶ סֶ ד‬-Begriffs und ihre angemessene Verhältnisbestimmung. Während die einen die normative Dimension der Güte für die Gott-Mensch-Beziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen betonen, machen die anderen den spontanen und freiwilligen Charakter des ‫ חֶ סֶ ד‬stark. Wir werden uns im Folgenden einzelne dieser Positionen genauer anschauen. Dass ‫ חֶ סֶ ד‬Pflichterfüllung bezeichnen kann, ist in der alttestamentlichen Forschung vor allem von Hans Joachim Stoebe und Alfred Jepsen entschieden bestritten worden. So definiert Stoebe in dem von ihm im Theologischen Handwörterbuch zum Alten Testament verantworteten Artikel ḥǽsӕd diesen Terminus in Abgrenzung zur Auffassung Gluecks als ein mit einer Haltung verbundenes Tun,268 das über das Erwartbare hinausgeht und dennoch auf Gegenseitigkeit zielt. Stoebe schreibt: „Sicher aber ist ḥǽsӕd auch da, wo er sich unter bestimmten Gemeinschaftsformen ereignet, ja in seiner Ausprägung durch sie bestimmt sein mag, nie das Selbstverständliche, Pflichtgemäße. Es ist ein menschliches Verhalten, das überhaupt erst eine Form mit Leben erfüllen kann, in bestimmten Fällen (nicht immer) überhaupt erst die Voraussetzung dafür ist, daß eine Gemeinschaft zustande kommt. … Ich möchte darin einen Ausdruck für Großherzigkeit, für eine selbstverzichtende menschliche Bereitschaft sehen, für den anderen dazusein … Damit ist es gegeben, daß ḥǽsӕd es stets in irgendeiner Weise mit dem Leben des anderen zu tun hat, ebenso, daß man von dem Empfänger eines solchen ḥǽsӕd eine gleiche Bereitschaft erwartet und erhofft, die ihrerseits wiederum über das Pflichtmäßige hinausgeht“269. Während Glueck ‫ חֶ סֶ ד‬als ein durch Rechte und 266 Vgl. Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp.1025. 267 Preuß, Art. Barmherzigkeit I. Altes Testament, 218. 268 Vgl. Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 606. Dieser Zusammenhang von Haltung und Tun wird in allen ‫חֶ סֶ ד‬-Definitionen betont, vgl. z. B. Kellenberger, Glaubenserfahrung, 42.47f.; Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 270. 269 Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 610f.; vgl. Reventlow, Art. Gnade I. Altes Testament, 461; Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 266. Das ähnelt sehr der antiken Gabelogik, der zufolge

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Pflichten bestimmtes gemeinschaftsgemäßes Verhalten charakterisiert hatte, definiert Stoebe diesen Begriff als etwas Nicht-Selbstverständliches im zwischenmenschlichen Miteinander, als „Großherzigkeit“, die über pflichtgemäßes Verhalten hinausgeht.270 Bemerkenswert ist u. E. nun, dass auch die Definition Stoebes den Gegenseitigkeitscharakter der erwiesenen Güte hervorhebt: Das, was über das Pflichtgemäße hinausgeht, ist mit der Erwartung verbunden, erwidert zu werden. Diese Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬beißt sich zumindest in einem Punkt mit Stoebes Kritik an Glueck. Stoebe hatte an Gluecks ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnis den Formalismus einer (allein) durch Rechte und Pflichten bestimmten Gemeinschaft kritisiert,271 und dem sein Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬als „spontane, letztlich unmotivierte Freundlichkeit“272 gegenübergestellt. Damit aber definiert er ‫ חֶ סֶ ד‬nicht nur als das Nicht-Erwartbare bzw. als das über das Selbstverständliche Hinausgehende, sondern zugleich als etwas, was nicht auf Erwiderung angelegt ist. So zumindest verstehen wir Stoebes Verwendung des Adjektivs „unmotiviert“ im Zusammenhang mit ‫חֶ סֶ ד‬. Obwohl wir Stoebes Auffassung teilen, dass ‫ חֶ סֶ ד‬das Besondere, Nichtselbstverständliche ist, wäre hier doch zu fragen, ob auf Reziprozität zielende Güte als nicht-intentional beschrieben werden kann. Erwartete oder erhoffte Gegenseitigkeit, von der Stoebe ja auch spricht, weil vermutlich auch für ihn Gemeinschaft ohne Reziprozität keine Gemeinschaft wäre, ist intentional. ‫ חֶ סֶ ד‬ist demnach nicht unmotiviert, sondern sein Ziel ist eine auf ungeschuldeter Gegenseitigkeit beruhende Gemeinschaft.273 Alfred Jepsen knüpft in seinem Aufsatz „Gnade und Barmherzigkeit im Alten Testament“274 an die Kritik Stoebes an Glueck und dessen These, dass ‫ חֶ סֶ ד‬als gemeinschaftsgemäßes Verhalten den Rechten und Pflichten der verschiedenen Lebensverhältnisse zuzuordnen sei, an275, und stimmt Stoebes ‫חֶ סֶ ד‬-Definition als das Besondere, Nicht-Selbstverständliche zu.276 Anders als Stoebe allerdings verbindet

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eine freiwillig gewährte Gabe zu erwidern ist, wobei auch die notwendige Erwiderung freiwilliger Natur ist. In diesem Sinne spricht Ricœur von einer „zweite[n] erste[n] Gabe“ (Wege der Anerkennung, 301). Schon vorher hatte Stoebe ‫ חֶ סֶ ד‬als „etwas Besonderes im wechselseitigen Verhalten …, etwas, das jedenfalls über das eigentlich Selbstverständliche hinausgeht“ (Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 607) definiert. Vgl. Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 603. Dies kommt in der im Text zitierten Definition Stoebes in der Formulierung „… auch da, wo er (der ‫ ;חֶ סֶ ד‬J-C.M) sich unter bestimmten Gemeinschaftsformen ereignet“ (Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 610f.) zum Ausdruck. Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 603. Auf eine falsche Fährte setzt u. E. auch die Charakterisierung „selbstverzichtende menschliche Bereitschaft …, für den anderen dazusein“ (Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 611), auch wenn Stoebe im unmittelbaren Anschluss auf die erwartete Gegenseitigkeit zu sprechen kommt. Auch hier wäre zu fragen, ob auf Gegenseitigkeit angelegter „Selbstverzicht“ wirklich Selbstverzicht ist, zielt er doch auf Gemeinschaft. Der Beitrag Jepsens wird in fast allen relevanten Lexikonartikeln genannt, so z. B. in: Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 604 u. ö.; Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 49; vgl. auch von Bendemann, Art. Barmherzigkeit, 142. Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 265. Vgl. das folgende Zitat unten im Text.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Jepsen seine ‫חֶ סֶ ד‬-Definition mit dem Aspekt der Freiwilligkeit. Das Nicht-Selbstverständliche zeigt sich für ihn nicht in der Spontaneität und Nicht-Intentionalität gewährter Güte, sondern darin, dass diese aus freien Stücken gewährt wird: „Wo an den Chesed appelliert wird, wird der gute Wille, die Hilfsbereitschaft angerufen; wie wir sagen: ‚Tu mir den Gefallen‘, oder bei näherstehenden Menschen: ‚Tu mir die Liebe.‘ Es ist eben nicht das Selbstverständliche, oder gar das Pflichtgemäße, das mit Chesed ausgesprochen wird, sondern vielmehr der freie Wille zum guten Werk.“277 Jepsen sieht dabei keinen Widerspruch dazu, dass „der Chesed selbst … die Erwartung auf einen gleichartigen guten Willen und ein gleichartig gutes Werk [weckt]“278. Damit geht Jepsen wie Stoebe davon aus, dass ‫ חֶ סֶ ד‬als das Nicht-Selbstverständliche bzw. Nicht-Pflichtgemäße mit der Erwartung der Erwiderung einer ‫חֶ סֶ ד‬-Tat verbunden ist. Während Stoebe und Jepsen hinsichtlich ihres ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnisses jeglichen Anklang an Normativität zu vermeiden bemüht sind – diese stünde quer zu ihrer Kritik an Glueck – und so eine nicht näher erläuterte Differenz zwischen Gegenseitigkeit und Normativität aufmachen (‫ חֶ סֶ ד‬kann erhofft und erwartet werden, sei aber von Rechten und Pflichten zu unterscheiden), spricht Zobel in seinem Artikel „Güte“ im Theologischen Wörterbuch zum Alten Testament hinsichtlich des Reziprozitätscharakters von ‫ חֶ סֶ ד‬explizit davon, dass es für die alttestamentlichen Schriften „zur ethischen Norm menschlichen Miteinanders gehört, erfahrene ḥӕsӕḏ zu erwidern“279. Etwas später formuliert er denselben Sachverhalt folgendermaßen: „Gerade die Tatsache, daß die Weigerung, erfahrene Güte dem anderen zurückzuerstatten, als besonders verwerflich gebrandmarkt wird, bestätigt die Allgemeingültigkeit des Prinzips der Gegenseitigkeit des ḥӕsӕḏ-Erweises. Das setzen auch die späten Bezeugungen von ḥӕsӕḏ voraus, nach denen, weil JHWH vom Menschen solche Güte dem Nächsten gegenüber fordert, er auch dem Menschen dieses Tun vergilt oder doch vergelten und anrechnen kann.“280 In diesen Äußerungen Zobels tritt neben die explizite Charakterisierung der Gegenseitigkeit als normativ respektive als (normatives) Prinzip zwischenmenschlichen Miteinanders ein neuer Aspekt, der für das Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬wesentlich sein dürfte: Die Gewährung oder Verweigerung zwischenmenschlichen ‫חֶ סֶ ד‬s steht in einem direkten Bezug zum göttlichen Vergeltungshandeln. Damit wird die Bedeutung von Reziprozität u. E. umso mehr unterstrichen: Auf Gegenseitigkeit hin angelegte Güte ist das hervorragende Kennzeichen zwischenmenschlicher Gemeinschaft, über die JHWH wacht.281 Der dem Menschen ‫ חֶ סֶ ד‬gewährende Gott – vgl. nur die sogenannte 277 Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 266. 278 Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 267. Im selben Kontext hatte Jepsen bereits kurz zuvor betont, dass die Kritik an einer Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬als des Pflichtgemäßen und Selbstverständlichen „keine Einschränkung“ der Erwartung bedeute, „daß Chesed mit Chesed erwidert wird“ (ebd., 266). 279 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 52. 280 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 57. 281 Umso erstaunlicher ist es, dass Zobel später den Gegenseitigkeitscharakter zwischenmenschlich gewährten ‫חֶ סֶ ד‬s problematisiert und gegen die Einseitigkeit göttlich gewährter

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Gnadenformel282, die das Handeln JHWHs an Israel u. a. mit ‫ חֶ סֶ ד‬umschreibt (Ex 34,6–7 u. ö.), fordert zwischenmenschliche Güte, ohne dass explizit auf den Zusammenhang zwischen Gabe und Forderung verwiesen werden müsste.283 Unabhängig von der in der alttestamentlichen Forschung umstrittenen Frage, ob der Mensch gegenüber Gott ‫ חֶ סֶ ד‬üben kann,284 wird deutlich, dass die Gewährung zwischenmenschlicher Güte dem Vergeltungshandeln Gottes im Positiven wie im Negativen unterstellt ist: JHWH wacht in besonderer Weise darüber, dass Menschen einander ‫ חֶ סֶ ד‬erweisen. Er ist der Dritte im Bunde. Die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gott-Mensch-Beziehung werden hier miteinander verschränkt. So entbrennt z. B. angesichts der Weigerung, recht zu richten und Güte (‫ )חֶ סֶ ד‬und Barmherzigkeit (‫ ) ַרח ֲִמים‬gegen den Bruder zu üben (Sach 7,9), Gottes Zorn (Sach 7,12). Soweit können wir festhalten: ‫ חֶ סֶ ד‬ist ein Gemeinschaftsbegriff, für den Gegenseitigkeit konstitutiv ist. Als solcher untersteht zwischenmenschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬dem in Gott personalisierten und von ihm garantierten Tun-Ergehen-Zusammenhang.285 Gleichzeitig aber handelt es sich um eine besondere Form der Gegenseitigkeit: Die Gewährung von ‫ חֶ סֶ ד‬erfolgt freiwillig und geht somit über das, was (auf rechtlicher Ebene) gefordert werden kann, hinaus. Die skizzierten Positionen Stoebes, Jepsens und Zobels werfen die Frage auf, wie die Definitionen von ‫ חֶ סֶ ד‬als freiwillige, spontane Tat, die über das Pflichtgemäße hinausgeht, mit dem Aspekt der erwarteten bzw. erhofften Gegenseitigkeit

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Güte ausspielt. So hafte zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬aufgrund des „ihm innewohnende[n] Prinzip[s] der Gegenseitigkeit doch stets etwas Starres und manchmal sogar etwas Normatives“ an (Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70). Wie sich für Zobel die göttliche Vergeltung zwischenmenschlichen ‫חֶ סֶ ד‬s und die Kritik am Gegenseitigkeitscharakter zwischenmenschlich zu gewährender Güte miteinander vereinbaren lassen, bleibt uns unerklärlich. Zur Auseinandersetzung mit diesem Aspekt des ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnisses Zobels vgl. weiter unten im Text Punkt 1.2.2.2.4.3. Zur Gnadenformel vgl. den Abschnitt 1.3 in diesem Kapitel. Einen solchen Zusammenhang sieht Stoebe bei den ‫חֶ סֶ ד‬-Stellen des Hoseabuches gegeben. Insbesondere Hos 10,12 zeige, dass „ṣedāqā und ḥǽsӕd … einerseits von Gott gegeben [werden] und … andererseits vom Menschen zu realisieren [sind], sodaß Gottes ḥǽsӕd ebenso Voraussetzung wie Vorbild des richtigen menschlichen Verhaltens gegen ihn ist“ (Art. ‫חֶ סֶ ד‬ ḥǽsӕd Güte, Sp. 614). Stoebe geht dabei davon aus, dass auch der Mensch Gott ‫ חֶ סֶ ד‬erweisen kann (vgl. ebd., Sp. 613–616). Zobel verneint diese Möglichkeit (vgl. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 69; vgl. Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 269). Auf die Diskussion zwischen Stoebe und Zobel kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu unten im Text die Abschnitte 1.2.2.2.4.1 und 1.2.2.2.4.2. Wir leihen uns diese Ausdrucksweise von Beate Ego, die in einem Beitrag zur rabbinischen Wendung „Maß gegen Maß“ (‫ )מדה כנגד מדה‬im Kontext ihrer Auslegung in der Mekhilta darauf aufmerksam macht, dass „[d]ie reziproke Struktur des Handelns, wie sie in den rabbinischen Texten präsentiert wird, … nicht Ausdruck eines unpersönlichen Weltgesetzes, sondern personal in Gott verankert [ist]. Die rabbinischen Texte präsentieren sich damit als Zeugnisse einer konsequenten Theologisierung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs“ (Reziprozität als Deutungskategorie, 167). Anders formuliert: Der Tun-Ergehen-Zusammenhang strukturiert die Beziehung zwischen Gott und Mensch, ohne dass das Beziehungsgeschehen im Sinne eines „unpersönlichen Weltgesetzes“ missverstanden werden darf.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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verbunden werden kann. Diese Frage stellt sich umso mehr, als Zobel im Blick auf die Reziprozität zwischenmenschlicher Beziehungen explizit von deren normativen Charakter spricht,286 was durch die Einbindung in den in Gott personalisierten und garantierten Tun-Ergehen-Zusammenhang noch unterstrichen wird. Wie also passen Freiwilligkeit und Normativität als zwei verschiedene Aspekte von ‫ חֶ סֶ ד‬zusammen und wie lässt sich das Verhältnis einer durch „Rechte und Pflichten“ gekennzeichneten Normativität zur normativen Dimension einer ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit bestimmen? Bevor diesen Fragen weiter nachgegangen wird, ist noch auf einen weiteren, für unsere Frage bedeutsamen Aspekt hinzuweisen: Wie wir gesehen haben, ist Glueck von den genannten Exegeten vor allem dafür kritisiert worden, ‫ חֶ סֶ ד‬unter die Rechte und Pflichten gemeinschaftsgemäßen Verhaltens zu zählen. Dieser Position gegenüber wurde der Freiwilligkeitscharakter (Jepsen) bzw. die Spontanität der Gewährung von ‫( חֶ סֶ ד‬Stoebe) betont. Man kann zu Recht fragen, ob der Ausdruck „Rechte und Pflichten“ von Glueck gut gewählt ist. Seine Funktion allerdings liegt offen zu Tage: Die Rede von den „Rechten und Pflichten“ gemeinschaftsgemäßen Verhaltens dient Glueck dazu, den Gegenseitigkeitscharakter und damit die Normativität von ‫ חֶ סֶ ד‬zu profilieren. In diesem Sinne fasst er die Ergebnisse des zweiten Abschnitts des ersten Kapitels seiner Dissertation, der die Überschrift „‫ חסד‬als die einem Rechts-Pflicht-Verhältnis entsprechende Verhaltungsweise“287 trägt und den größten Teil dieses Kapitel ausmacht, in mehreren Punkten zusammen. Punkt 4 und 5 lauten: „4. Die Bestandteile des Gesamtbegriffs ‫חסד‬, in welchem die Erklärung von ‫ חסד‬als gemeinschaftsgemäße Verhaltungsweise zu finden ist, sind vor allem Gegenseitigkeit, dann Gegenleistung, Aufrichtigkeit, Freundlichkeit, Brüderlichkeit, Pflicht, Treue und Liebe. 5. ‫ חסד‬im profanen Sprachgebrauch in den älteren Quellen ist nie willkürlich geschenkte Gnade oder Güte oder Huld oder Liebe.“288 Die von Glueck angeführten Punkte erläutern sich gegenseitig. Sie stellen zwei Seiten derselben Medaille dar. Während Glueck in Punkt 4 vor allem den Gegenseitigkeitscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬hervorhebt, wehrt er umgekehrt und folgerichtig in Punkt 5 die Vorstellung ab, ‫חֶ סֶ ד‬ werde „willkürlich“, d. h. einseitig und unter Aufhebung der Reziprozität gewährt. Gegenseitigkeit ist für Glueck das zentrale Kennzeichen bzw. der Oberbegriff, dem sich alle anderen Begriffe wie Freundlichkeit, Brüderlichkeit (Punkt 4) oder Gnade, Güte, Huld und Liebe (Punkt 5) unterordnen müssen und von dem her diese Begriffe zu interpretieren sind.289 Das gilt auch für den Begriff der Pflicht. Überspitzt 286 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 57. 287 Glueck, Das Wort ḥesed, 3–21. 288 Glueck, Das Wort ḥesed, 21. Sollte die Betonung hier nicht auf dem „willkürlich“ liegen, würde Glueck u. E. das Kind mit dem Bade ausschütten. Auch die Güte Gottes ist nicht einseitig, sondern sie setzt ein wechselseitiges Gemeinschaftsverhältnis voraus (vgl. Glueck, Das Wort ḥesed, 66–67) bzw. zielt auf ein solches. 289 Um diesen Gegenseitigkeitsaspekt im Deutschen deutlich zu machen, müsste letztendlich unabhängig davon, welches deutsche Äquivalent verwendet wird, ein „auf Gegenseitigkeit zielend(e/r/s)“ vorgeschaltet werden, also z. B. „auf Gegenseitigkeit zielende Liebe, Güte, Freundlichkeit“. Nur in einem solchen Fall wäre sichergestellt, dass der Gegenseitigkeits-

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formuliert: Weil ‫ חֶ סֶ ד‬auf Gegenseitigkeit angelegt zielt, impliziert es für Glueck auch Verpflichtung. Der von Glueck betonte Aspekt der Gegenseitigkeit spielt nun aber auch bei Stoebe und Jepsen eine hervorgehobene Rolle. So sprechen beide trotz ihrer Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬als Nicht-Pflichtgemäßem davon, dass derjenige, der ‫ חֶ סֶ ד‬gewährt, eine Erwiderung seiner Tat erwartet bzw. erhofft, wobei Jepsen versichert, dass diese Erwartung dem Freiwilligkeitscharakter der ‫חֶ סֶ ד‬-Tat nicht widerspricht.290 Während Glueck alles daran liegt, den Gegenseitigkeitscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬gegen ein einseitiges, „willkürliches“ Verständnis von Liebe, Huld, Gnade etc. herauszustellen, betonen Stoebe und Jepsen in einem ersten Schritt den Spontanitäts- bzw. Freiwilligkeitscharakter, um dann in einem zweiten Schritt bei der Erwartung auf Gegenseitigkeit zu landen. Im Hinblick auf Gluecks Definition übersehen Stoebe und Jepsen aber u. E., dass ein Großteil der Begriffe, die Glueck unter Punkt 4 und 5 in seiner Zusammenstellung anführt (siehe den vorangegangenen Absatz), eben nicht unter dem Begriff der Pflicht, sondern unter dem Begriff der Gegenseitigkeit, der den anderen Begriffen vorangestellt ist, subsummiert werden: Das gilt insbesondere für die Begriffe Aufrichtigkeit, Freundlichkeit, Brüderlichkeit, Treue und Liebe, in denen keine rechtliche Dimension anklingt. Und wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtigt, dass Glueck mehrfach davon spricht, dass ‫ִמ ְשׁפָּט חֶ סֶ ד‬ und ‫ צְ דָ קָ ה‬einschließt,291 dann wäre zu fragen, ob in dieser Einschätzung nicht auch charakter nicht von einem theologischen Vorverständnis unterminiert wird, das von der Einseitigkeit von Liebe und Barmherzigkeit geprägt ist und Gegenseitigkeit kritisch betrachtet. 290 Jepsen muss offensichtlich bereits die Rede von der Gegenseitigkeit der ‫חֶ סֶ ד‬-Tat vor einem theologischen Missverständnis schützen und schließt so eine dem Begriff innewohnende Spannung zwischen Freiwilligkeit und Normativität von vornherein aus. Gegenseitigkeit und Güte bleiben so letztendlich unvermittelt neben einander stehen. 291 Glueck kommentiert die Aussage Sach 7,9: „Richtet treues Gericht, und übet Brüderlichkeit und Erbarmen (‫( “!)חסד ורחמים‬Übersetzung Glueck, Das Wort ḥesed, 27) folgendermaßen: „Ḥesed ist mehr als mišpaṭ ʾemeth, und von ḥesed zu raḥamim ist kaum ein Schritt. Nur schließt ḥesed die Idee des Pflichtgemäßen ein, die für raḥamim nicht in Frage kommt“ (ebd., 27). Glueck unterscheidet hier einerseits zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫מ ְשׁפָּט‬,ִ andererseits spricht er davon, dass ‫ חֶ סֶ ד‬über das Recht (und die Treue) hinausgeht. Deutlicher noch war er schon drei Seiten vorher in seinen abschließenden Äußerungen zur Bedeutung des Terminus ‫חֶ סֶ ד‬ im Hoseabuch geworden: „Es ist wesentlich, daß auch in Hosea ‫ חסד‬einerseits neben ‫ אמת‬und andererseits neben ‫ צדקה‬und ‫ משפט‬gestellt wird. Ḥesed entspricht seinem ganzen Wesen nach den Forderungen der Treue und, als die von Gott verlangte Art des Handelns, gleichzeitig denen der Gerechtigkeit und des Rechttuns. Synonyma für ‫ חסד‬sind ‫אמת‬, ‫ משפט‬und ‫צדקה‬ durchaus nicht, aber sie sind alle begrifflich verwandt. Wer ‫חסד‬-gemäß handelt, übt selbstverständlich Treue und Gerechtigkeit. Ḥesed aber ist noch mehr, ist Menschlichkeit, Brüderlichkeit überhaupt, ist der wahre Ausdruck der echten Frömmigkeit“ (ebd., 24). An diesen Äußerungen zeigt sich auch die Problematik, die mit der Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬als „die einem Rechts-Pflicht-Verhältnis entsprechende Verhaltungsweise“ (ebd., 20) verbunden ist, könnte sie doch nahelegen, dass ‫ חֶ סֶ ד‬zu den ‫ ִמ ְשׁפּ ִָטים‬zählt. Das scheint für Glueck, aber nicht der Fall zu sein, bestreitet er doch, dass es sich bei ‫ ִמ ְשׁפָּט‬und ‫ צְ דָ קָ ה‬um Synonyme für ‫חֶ סֶ ד‬ handelt.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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etwas davon anklingt, dass ‫ חֶ סֶ ד‬mehr als Rechte und Pflichten beinhaltet. Die fehlende begriffliche Differenzierung zwischen dem normativen Charakter von ‫חֶ סֶ ד‬ einerseits und Rechten und Pflichten andererseits mag von den Kritikern Gluecks zu Recht kritisiert werden, in der Sache aber ist die Differenz zwischen Glueck und seinen Kritikern nicht so groß, wie es auf den ersten Blick scheint. Vielmehr betonen beide Parteien jeweils einen bestimmten Aspekt von ‫חֶ סֶ ד‬, ohne den jeweils anderen gänzlich unter den Tisch fallen lassen zu können oder zu wollen.292 Kommen wir deshalb zu der bereits gestellten, aber noch nicht beantworteten Frage zurück, welche Art von Normativität ‫ חֶ סֶ ד‬eignet. In welchem Sinne ist ‫ חֶ סֶ ד‬normativ? Im Blick auf die Frage nach der normativen Dimension des Begriffs ‫ חֶ סֶ ד‬erweist sich die ‫חֶ סֶ ד‬-Definition von Sidney Hill als weiterführend, die Katherine D. Sakenfeld im forschungsgeschichtlichen Teil ihrer Dissertation anführt und damit für den alttestamentlichen Diskurs zugänglich gemacht hat.293 Hills Thesen, die Sakenfeld auch deshalb rezipiert, weil sie ihnen in weiten Teilen folgt, sind selbst nie publiziert worden.294 Wie Glueck fasst auch Hill seine Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬in mehreren Punkten zusammen, wobei er – ebenfalls wie Glueck – zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬mit dem Menschen und ‫ חֶ סֶ ד‬mit Gott als Subjekt unterscheidet. Punkt 2 und Punkt 8 seiner Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬mit dem Menschen als Subjekt lauten: „Ḥesed denotes unilateral assistance for the helpless, granted without compensation or condition, not a mutual exchange: [there may be] two successive unilateral acts in opposite direction.“295 Punkt 8 liest sich dazu auf den ersten Blick wie ein Widerspruch: „Ḥesed denotes extra-legal acts or good-works deserving special recognition or reward; their omission brings moral condemnation.“296 Diesen 292 Zimmerli, der die Kritik an „eine zu straff rechtliche Fassung des ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnisses u[nd] eine zu enge Beziehung desselben auf einen fixierten Bund“ (Art. χάρις κτλ. B. Altes Testament, 372) unterstützt, warnt unter Hervorhebung des Gemeinschaftscharakters vor einer überzogenen Polemik gegenüber einer solchen Auffassung. Er spricht zwar nicht explizit von Gegenseitigkeit, seine Äußerungen laufen aber genau darauf hinaus: „Andererseits aber verkennt diese Polemik dann doch wieder das in den Texten erkennbare Wesen des ‫ חֶ סֶ ד‬als eines Verhaltens in der Beziehung u[nd] der Bewährung dieser Beziehung. Es ist erwiesene oder zum Erweis bereitstehende Huld in einer Beziehung. ‫ חֶ סֶ ד‬ist, so sehr in dem ihm oft zugesetzten Suffix auch immer wieder die Richtung vom ‫חֶ סֶ ד‬-Spender her sichtbar gemacht wird, doch nie nur vom Einzelnen her gedacht. Es setzt eine bestehende Gemeinschaft vor-aus und unterscheidet sich dadurch von ‫חנן‬, bei dem es um das Gefälle vom einen zum anderen hin, nicht aber um die Bewährung einer Gemeinschaftsbeziehung geht“ (ebd.) Auch wenn wir die Auffassung, ‫ חֶ סֶ ד‬setze eine bestehende Gemeinschaft voraus, nicht teilen (vgl. Jos 2,12), stimmen wir der Beschreibung Zimmerlis von ‫ חֶ סֶ ד‬als wechselseitiges Beziehungsgeschehen grundsätzlich zu: Wo ‫„ חֶ סֶ ד‬nie nur vom Einzelnen her gedacht“ (ebd.) wird, dort geht es um Gegenseitigkeit. 293 Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 1–21 (darin zu Hills: 10–13). 294 Hills hat seine Thesen am 29.11.1957 in Pittsburgh in zwei Vorträgen mit den Titeln „The Ḥesed of Man in the Old Testament“ und „The Ḥesed of God“ im Rahmen des „Biblical Colloquiums“ vorgestellt (vgl. Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 10 Anm. 29). 295 Hills, zitiert nach Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 10. 296 Hills, zitiert nach Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 11. Aufschlussreich ist auch der direkt im Anschluss gebrachte Punkt 9, der deutlich macht, dass ‫ חֶ סֶ ד‬ein göttliches Gebot darstellt:

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Aspekten des profanen Verständnisses von ‫ חֶ סֶ ד‬entspricht im Blick auf das theologische Verständnis dieses Begriffs, dass Gott seinen ‫ חֶ סֶ ד‬einerseits unilateral und bedingungslos gewähre297 und dass der ‫ חֶ סֶ ד‬Gottes andererseits die Erwartung einer Erwiderung impliziere, auch wenn es sich dabei nicht um eine ‫חֶ סֶ ד‬-Tat handle. So ist nach Hill der göttliche ‫„ חֶ סֶ ד‬worthy of highest praise, and is to be rewarded not by reciprocal ḥesed but by love and obedience“298. Wie bereits bemerkt, sind die Thesen Hills auf den ersten Blick widersprüchlich. So lässt sich die Vorstellung einer bedingungslosen und nicht auf Kompensation ausgerichteten Handlung schlecht mit der Aussage vereinbaren, dass eine solche Handlung nicht nur besondere Anerkennung („special recognition“) und Belohnung („reward“) verdient, sondern darüber hinaus die Verweigerung einer solchen Belohnung Verdammung nach sich zieht. Eine unilaterale Handlung, die auf wechselseitigen Austausch verzichtet und doch Lohn empfängt, wie soll das gehen? Bereits die in These 2 geäußerte Annahme, ‫ חֶ סֶ ד‬bezeichne keinen wechselseitigen Austausch, könne aber gleichwohl zwei aufeinander folgende unilaterale Akte der Zuwendung beschreiben, mag die Frage aufwerfen, ob Hill hier nicht die Quadratur des Kreises versucht: Was unterscheidet zwei unilaterale Akte von einem wechselseitigen Austausch? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass beides sehr wohl zusammenpasst. So qualifiziert die Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬als einer ausserhalb eines rechtlichen Rahmens liegenden Handlung („extra legal act[s]“299) die Begriffe „gegenseitiger Austausch“ („mutual exchange“) und „Kompensation“ („compensation“) als „legal acts“ und damit als das, was ‫ חֶ סֶ ד‬gerade nicht ist: Besäße ‫ חֶ סֶ ד‬eine rechtliche (oder ökonomische300) Dimension, dann wäre Kompensation und gegenseitiger Austausch justitiabel. Die Rede von der besonderen Anerkennung einer außerhalb des rechtlichen Rahmens liegenden ‫חֶ סֶ ד‬-Tat bzw. eines besonderen Lohns für eine solche Tat verhält sich hierzu kongruent: Eine nicht auf der rechtlichen Ebene verpflichtende Tat bedarf eines nicht auf der rechtlichen Ebene liegenden besonderen Lohns. Kurzum: Während ‫ חֶ סֶ ד‬auf rechtlicher (und ökonomischer) Ebene nicht verbindlich ist, ist er auf einer anderen Ebene, die Hill als „extra legal“ und moralisch301 beschreibt, normativ. Damit aber wird deutlich,

297 298 299 300 301

„Ḥesed denotes action which has its source in God. He desires and commands it, recognizes and rewards it, and punishes its omission“ (ebd.). Vgl. Hills, zitiert nach Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 11. Hills, zitiert nach Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 11. Vgl. auch die vierte These von Hills: „Ḥesed denotes action determined not by law or custom but by personal decision: [it is] non-legal, fundamentally unlike law or custom“ (zitiert nach Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 10). Im Englischen klingt im Begriff „exchange“ eine ökonomische Dimension mit an, auch wenn diese vermutlich nicht die primäre Ebene ist, die Hills hier im Blick hat. Die sechste These von Hills zu menschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬lautet: „Ḥesed denotes action that is not optional but rather obligatory on moral grounds“ (zitiert nach Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 11). In ähnlicher Weise betont Zehetbauer bei seiner Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35), dass die vorausgegangene Gewährung des Schuldenerlasses, von dem die ersten Szene der Parabel berichtet (V. 23–27), den Knecht zwar nicht rechtlich, aber moralisch verpflichte (vgl. Zehetbauer, Polarität, 212). Das Strafhandeln des

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dass die Normativität der anvisierten Gegenseitigkeit gewahrt bleibt: ‫ חֶ סֶ ד‬eignet Normativität, die sich von der Normativität im rechtlichen (oder ökonomischen) Bereich unterscheidet.302 Wir haben bei unserer Interpretation der Parabel gesehen, dass diese Unterscheidung für ihr Verständnis wesentlich ist.303 Aus dem bisher Gesagten ergibt sich zwangsläufig, dass der Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬keinen diametralen Gegensatz zu einer wie auch immer gearteten Normativität bildet. Vielmehr muss zwischen zwei verschiedenen Arten von Normativität unterschieden werden, einer rechtlichen und einer nichtrechtlichen. In diesem Sinne hatte Sakenfeld im forschungsgeschichtlichen Teil ihrer Arbeit bei der Besprechung der These Gluecks die Differenz zwischen Verpflichtung (obligation) und Verantwortung (responsibility) stark gemacht und die Unterscheidung zwischen gesetzlichen und moralischen Ansprüchen eingeführt, die auch für Hill wesentlich ist: „Glueck’s emphasis on ‘obligation’ in terms of ‘customary law’ or the ‘laws of human society’ cannot be sustained in detail. It will be argued here that there is certainly ‘obligation’ present – or preferably, ‘responsibility’ – but it is not in the nature of a requirement which is punished or punishable by society. Hence ḥesed is not a legal right but a moral right and as such can also be a gift“304. Und wenn Kosman in seinem Artikel „Ḥesed“ in der Encylopedia of the Bible and Its Reception betont herausstellt, dass auch diejenigen, die die Erwiderung von ‫ חֶ סֶ ד‬als obligatorisch ansehen, „certainly do not see this as a legality stemming from a binding contract“305, dann zeigt sich hier, wie stark sich die Differenzierung

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Königs darf dann aber nach Auffassung Zehetbauers nicht erzählt werden, weil es die Barmherzigkeit verrechtliche (vgl. dazu unsere Auseinandersetzung mit Zehetbauer unter Punkt 1.1.1.3). Eine gewisse terminologische Inkongruenz ergibt sich dadurch, dass Hills mit „reward“ einen Terminus mit einem starken ökonomischen Beiklang verwendet, um den Reziprozitätscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬herauszustellen, und das obwohl die Normativität zwischenmenschlicher Gegenseitigkeit für ihn gerade nicht auf einer ökonomischen Ebene liegt. Es ist deshalb zu fragen: Was bedeutet es inhaltlich, wenn Hills – durchaus in Übereinstimmung mit dem gesamtbiblischen Sprachgebrauch – letztendlich nicht darum herumkommt, ökonomische Terminologie im Blick auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen zu verwenden? U. E. zeigt sich hier, dass es Gemeinsamkeiten zwischen der Gestaltung zwischenmenschlicher und ökonomischer Beziehungen gibt. Die grundlegende Gemeinsamkeit dürfte dabei in der Wechselseitigkeit bestehen, die Differenz darin, dass es sich im Bereich der Ökonomie um ein Tauschgeschäft, im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen aber idealerweise um freiwillige Zuwendung handelt. Dass ökonomische Terminologie als Metapher für zwischenmenschliche Beziehungen und auch für das Verhältnis Gott – Mensch verwendet wird, ohne auf Ökonomie reduziert werden zu können, zeigt sich im Neuen Testament in besonderer Deutlichkeit im Matthäusevangelium. Vgl. vor allem Punkt 1.1.1.3. Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 3. Aufschlussreich ist hier, dass Sakenfeld, vermutlich ohne es zu intendieren, ‫ חֶ סֶ ד‬und Gabe („gift“) miteinander verbindet. Wie wir gesehen haben und noch sehen werden, gibt es strukturelle Analogien zwischen beiden Begrifflichkeiten bzw. Konzepten. Kosman, Art. Ḥesed I. Hebrew Bible/Old Testament, Sp. 964. Im näheren Kontext des Zitats notiert Kosman, dass „Heinemann … emphasizes that at the most, we can say that ḥesed

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zwischen rechtlichen und moralischen Ansprüchen (zumindest in der englischsprachigen Forschung) durchgesetzt hat. Bevor nun eine Antwort auf die Frage gesucht werden kann, wie sich diese beiden Formen von Normativität zueinander verhalten, ist zu klären, wie die nicht-rechtliche Normativität näher zu bestimmen ist? Für den profanen Bereich hat Jepsen darauf aufmerksam gemacht, dass die Erwartung der Gegenseitigkeit dem Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬innewohnt.306 Unter der Voraussetzung, dass Gegenseitigkeit normativ ist, wäre die Spannung zwischen Freiwilligkeit und Normativität dem Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬inhärent: Als über das, was auf einer rechtlichen Ebene gefordert werden kann, Hinausgehendes verpflichtet ‫ חֶ סֶ ד‬zur Erwiderung – ebenfalls auf einer nichtrechtlichen Ebene. Man könnte hier etwa in dem Sinne von ungeschuldeter Gegenseitigkeit sprechen, als dass ‫ חֶ סֶ ד‬als freiwillige Tat die Verpflichtung auf freiwillige Erwiderung freisetzt. Diese Verpflichtung wird vollends dort deutlich, wo JHWH über die Einhaltung der Wechselseitigkeit zwischenmenschlich gewährten ‫חֶ סֶ ד‬s wacht und nicht nur die ausbleibende Erwiderung einer ‫חֶ סֶ ד‬-Tat straft, sondern auch – als Dritter im Bunde – dort zu Gunsten desjenigen eintritt, der ‫חֶ סֶ ד‬ geübt, aber keine Erwiderung erfahren hat.307 Wir werden darauf im Zusammenhang unserer Interpretation von Jos 2,12 und Ruth 1,8 bzw. Ruth 3,10 zurückkommen. Als derjenige, der über die Einhaltung der Wechselseitigkeit zwischenmenschlicher Güte wacht, ist JHWH selbst respektive sein Handeln die Norm. Mit dem Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬verbindet sich eine besondere Form der Gegenseitigkeit. Hinsichtlich der Frage, wie sich die beiden Ebenen der Normativität, die rechtliche und die nichtrechtliche zueinander verhalten, ergibt sich – auf einer Linie mit den bisherigen Ausführungen – Folgendes: Beide Ebenen schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern bauen aufeinander auf. Schon die Formulierung etwa Stoebes, dass ‫ חֶ סֶ ד‬das über das Pflichtgemäße Hinausgehende bezeichnet, impliziert ja, dass das Pflichtgemäße positive Voraussetzung der ‫חֶ סֶ ד‬-Tat ist und weiterhin getan werden soll. ‫ חֶ סֶ ד‬bezeichnet ein „mehr als“, kein „anstelle von“ oder gar „im Gegensatz zu“, und steht somit nicht in Opposition zum Pflichtgemäßen. Ersetzt man nun den Ausdruck „das Pflichtgemäße“ durch ‫ ִמ ְשׁפָּט‬, einen Begriff, der die Funktion der Tora als Gesetz aufruft und der somit auf der rechtlichen Ebene anzusiedeln ist, dann bestätigt das den Eindruck, dass sich die rechtliche und die nicht-rechtliche Ebene mit ihren jeweiligen Normbegründungen nicht gegenseitig ausschließen. Letztendlich unterscheiden sich beide Ebenen noch nicht einmal hinsichtlich ihrer Normbegründung: Der kleinste gemeinsame Nenner zwischen beiden besteht darin, dass es sich sowohl bei den ‫( ִמ ְשׁפָּטִ ים‬bzw. der Tora) als auch bei der Forderung, zwischenmenschlichen ‫ חֶ סֶ ד‬zu üben, die sich in den Gesetzeskorpora nicht findet, um Forderungen Gottes handelt. Eine Differenz liegt in ihrer indicates a person’s ethical obligation to behave nobly, but it does not imply a legal obligation“ (ebd.). 306 Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 267. 307 So wird in Mt 5,43–48 denjenigen, die Feindesliebe üben, indem sie negative Reziprozität durchbrechen, himmlischer Lohn verheißen (Mt 5,46).

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Mittelbarkeit bzw. Unmittelbarkeit: Während das durch Gott gegebene Gesetz vor der örtlichen Gerichtsbarkeit justitiabel ist, steht ‫ חֶ סֶ ד‬in einem direkten Zusammenhang mit JHWH: Güte ist eine, wenn nicht die hervorragende Handlungsweise JHWHs an seinem Volk und seiner Schöpfung (vgl. z. B. Ex 34,6–7). Es muss deshalb zwischen der von Gott gegebenen Tora, die als Gesetz und damit auf rechtlicher Ebene normativ ist, und ‫ חֶ סֶ ד‬als einer Norm, die am Handeln JHWHs selbst Maß nimmt (imitatio Dei), unterschieden werden. Dass beide sich nicht gegenseitig ausschließen, wird an den Stellen deutlich, an denen ‫ ִמ ְשׁפָּט‬und ‫ חֶ סֶ ד‬als Forderungen des einen Gottes nebeneinanderstehen: „Er hat dir kundgetan, Mensch, was gut ist, und was der HERR von dir fordert: Nichts anderes als Recht zu üben und Güte zu lieben und in Einsicht mit deinem Gott zu gehen“ (Mi 6,8 in der Übersetzung der Zürcher Bibel, Revision 2007; vgl. Sach 7,9; Hos 12,7; Jer 9,23: hier ist vor allem das Handeln Gottes selbst im Blick; Ps 100,1 LXX; vgl. Ps 88,15 LXX).308 Wir können unsere Beobachtungen wie folgt zu unserer eigenen heuristischen ‫חֶ סֶ ד‬-Definition zusammenfassen: Der Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬lebt von der ihm innewohnenden dynamischen Polarität zwischen Freiwilligkeit und Normativität.309 Er bezeichnet 308 An den genannten Stellen findet sich jeweils die Kombination ‫ ִמ ְשׁפָּט‬und ‫ חֶ סֶ ד‬im hebräischen bzw. ἔλεος/ἔλεον und κρίμα/κρίσις im griechischen Text. 309 Für Sakenfeld ist es diese Spannung zwischen Freiwilligkeit und Verpflichtung, die für den Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬charakteristisch ist und welche die verschiedenen alttestamentlichen Traditionen und literarischen Schichten der Hebräischen Bibel mit jeweils spezifischen Akzentuierungen prägt. So stellt sie beispielsweise hinsichtlich des profanen Gebrauch des Terminus in vorexilischer Zeit fest, dass die in der jeweiligen Situation überlegene Partei (superior party) in der Regel die einzige Quelle der Hilfe für die bedürftige Partei darstellt und fährt fort: „… if the powerful one does not act, the needy will meet with certain disaster. This fact increases the freedom not to act; yet it also increases the sense of responsibility to act“ (The Meaning of Hesed, 234). Allerdings lehnt Sakenfeld (ebenfalls im Kontext ihrer Untersuchung des profanen ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnisses in den vorexilischen Texten) dezidiert die Vorstellung ab, dass Reziprozität eine wesentliche Dimension der Güte sei. So sei „the ḥesed action … onesided; it is not really mutual or reciprocal. At the same time, its benevolent or gracious aspect cannot be allowed to obscure the actor’s own gain. A ḥesed act may sometimes be disinterested or involve personal sacrifice, but this is not a necessary parameter for the use of the term“ (ebd., 53–54). Es gibt u. E. einen Ausweg aus dieser Quadratur des Kreises: ‫חֶ סֶ ד‬ stellt eine besondere Art von Reziprozität dar, die sich aus der dem Terminus inhärenten Spannung von Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit ergibt und die sie von rechtlichen Verpflichtungen unterscheidet. Wir teilen also mit Sakenfeld die Auffassung, dass ‫ חֶ סֶ ד‬durch Freiwilligkeit und Verpflichtung geprägt ist, ebenso wie die für sie entscheidende Differenz zwischen rechtlicher und moralischer Verpflichtung (vgl. ebd., 3 u. ö.), gehen aber mit der Annahme einer ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit über sie hinaus. So stimmen wir Gregory uneingeschränkt zu, wenn er zum ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnis der hebräischen Bibel feststellt, dass dieser Terminus „often entails a special kind of reciprocity“ (Art. Ḥesed II. Judaism A. Second Temple and Hellenistic Judaism, Sp. 969), auch wenn der erläuternde Anhang, diese Reziprozität „exceeds duty and obligation“ (ebd.) sofort zu präzisieren ist: Bei ‫ חֶ סֶ ד‬handelt es sich um eine besondere Art der Reziprozität, die rechtlich einklagbare Verpflichtung übersteigt. Der Nicht-Justitiabilität der Güte, die den besonderen Charakter der ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit ausmacht, entspricht eine ebenfalls rechtlich nicht einklagbare Verpflichtung. Ja, ‫חֶ סֶ ד‬-Reziprozität geht über rechtliche Verpflichten hinaus, ist aber gleichzeitig normativ.

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einen Akt der Zuwendung, der nicht einklagbar ist, und gleichzeitig auf Gegenseitigkeit zielt. Diese Gegenseitigkeit ist für das Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬konstitutiv und kennzeichnet den Begriff als Beziehungsbegriff ersten Ranges: ‫ חֶ סֶ ד‬definiert Beziehung als ungeschuldete Gegenseitigkeit. Die Spannung zwischen Freiwilligkeit und Normativität lässt sich folglich nicht zu einer Seite auflösen. So kennzeichnet gerade die Nichtjustitiabilität von Güte – eine Erwiderung der Güte kann nicht eingeklagt werden, auch die Erwiderung als freiwilligen Akt. Dass Gott nach alttestamentlichem Verständnis die zwischenmenschliche Gewährung oder Verweigerung von Güte vergilt, widerspricht unserer ‫חֶ סֶ ד‬-Definition nicht. So ist zwischen diesem Vergeltungshandeln und der Justitiabilität der Ortsgerichte zu unterscheiden: Wie ‫ חֶ סֶ ד‬über das Recht hinausgeht, so orientiert sich auch das vergeltende Handeln Gottes nicht am Maßstab des Rechts, sondern am Maßstab der über das Recht hinausgehenden Güte, die ein hervorragendes Merkmal seines Handelns an seinen Geschöpfen darstellt und deshalb allein JHWH unterstellt ist. Die hier vorgelegte Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬greift auf wesentliche Einsichten Gluecks und seiner Gegner zurück, ohne den Mittelweg des „Sowohl - als auch“ zu wählen. ‫ חֶ סֶ ד‬impliziert nicht je nach Kontext mal Pflichtgemäßheit, mal Spontaneität, sondern in dem einen Begriff treffen beide Aspekte spannungsvoll und dynamisch aufeinander.310 Glueck sieht richtig, dass mit ‫ חֶ סֶ ד‬ein normatives, gemeinschaftsgemäßes Verhalten im Blick ist, ohne dass – so ist z. B. mit Spieckermann311 korrigierend zu ergänzen – dieses Verhalten auf ein Bundesverhältnis beschränkt werden könnte und ohne dass – wie der von Glueck verwendete Ausdruck „Rechte und Pflichten“ in der Tat nahelegt – nicht erwiderter ‫ חֶ סֶ ד‬auf juridischer Ebene einklagbar wäre. Dennoch ist ‫ חֶ סֶ ד‬für Gemeinschaft konstitutiv und normativ. Die Gegner Gluecks sind somit im Recht, wenn sie den Aspekt der Freiwilligkeit und des über das Pflichtgemäße bzw. Selbstverständliche Hinausgehenden stark machen, Glueck ist im Recht, wenn er den normativen Charakter der Güte betont.

Exkurs: ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος in Jos 2,12 und Ruth 1,8; 2,20; 3,10 Bis hierher sind alttestamentliche Stellen, an denen das Wort ‫ חֶ סֶ ד‬vorkommt, nicht eingehender betrachtet worden. Das soll hier nachgeholt werden, allerdings nicht dadurch, dass möglichst viele solcher ‫חֶ סֶ ד‬-Stellen analysiert werden. Eine solche

310 Zimmerli scheint mit seiner Feststellung, dass ‫„ חֶ סֶ ד‬immer wieder ein Element spontaner Freiheit des Güteerweises u[nd] -verhaltens [enthält] u[nd] … keinesfalls auf das Geschuldete u. Pflichtmäßige zu reduzieren [ist]“ (Art. χάρις κτλ. B. Altes Testament, 372) über Preuß hinauszugehen, der zu dem Schluss gelangt, dass ‫„ חֶ סֶ ד‬sowohl Pflichterfüllung als auch spontane Zuwendung bezeichnen kann“ (Art. Barmherzigkeit I. Altes Testament, 218), was ein Entweder-Oder nahelegt. Ganz sicher aber ist das nicht. Das „immer wieder“ Zimmerlis könnte auch implizieren, dass ‫ חֶ סֶ ד‬auch Pflichtgemäßheit ohne das Element des Spontanen bezeichnen kann. 311 Vgl. Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp. 1024f.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Aufgabe würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei weitem sprengen. Vielmehr sollen hier nur einige wenige Stellen Berücksichtigung finden, um unser Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬zu verifizieren. Die gewählten Stellen aber, Jos 2,12 und Ruth 1,8; 2,20; 3,10 sind für das Matthäusevangelium von Relevanz: So werden die Protagonistinnen der genannten Stellen, Rahab und Ruth, beide im Stammbaum des Matthäusevangeliums (Mt 1,1–17) genannt (Mt 1,5). Es soll gezeigt werden, dass ‫ חֶ סֶ ד‬an den genannten Stellen von der Spannung zwischen Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit lebt und dem göttlichen Vergeltungshandeln untersteht. In methodischer Hinsicht ist zum Folgenden anzumerken, dass sich das vorgeschlagene Vorgehen zu Recht der Kritik stellen muss, die alttestamentlichen ‫חֶ סֶ ד‬Stellen selektiv vom Matthäusevangelium her in den Blick zu nehmen. In der Tat ist es so, dass wir vom matthäischen Verständnis von ἔλεος herkommen, wie es die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) transportiert. Die Exegese der Parabel hatte ergeben, dass mit ἔλεος eine freiwillige, nicht zu erwartende Tat des Königs im Blick ist, die auf einer das Recht transzendierenden Ebene eine normative Kraft entfaltet, dass also zwischen einer Gegenseitigkeit auf rechtlicher Ebene und einer Gegenseitigkeit, die über das Recht hinausgeht und rechtlich nicht durchgesetzt werden kann, zu unterscheiden ist. Diese Sichtweise konvergiert abgesehen von kleineren Differenzen insbesondere mit den ‫חֶ סֶ ד‬-Definitionen insbesondere von Hill, Sakenfeld und Kosman.312 Die Diskussion des alttestamentlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnisses diente und dient vor allem dazu, die von uns vorgeschlagene Lesart der Parabel über das hebräische Ausgangswort zu verifizieren: Wenn die Gewährung von ‫ חֶ סֶ ד‬auf eine über das Recht hinausgehende Gegenseitigkeit zielt und ἔλεος an diesem semantischen Gehalt partizipiert, dann ist die Bestrafung des unbarmherzigen Knechts durch den für Gott transparenten König erwartbar, wenn nicht gar zwingend notwendig. Darüber hinaus lässt sich nun aber – trotz aller Gefahren eines Zirkelschlusses – fragen, ob nicht auch das Verständnis von ἔλεος in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht neues Licht auf die alttestamentlichen Diskussionen um die Bedeutung des hebräischen Terminus werfen kann. Wie bereits erläutert, scheint uns vor allem die Annahme, ‫ חֶ סֶ ד‬gleiche sich in der nachexilischen Zeit ‫ ַרח ֲִמים‬immer weiter an, im Blick auf die damit verbundene Marginalisierung des Gegenseitigkeitscharakters von ‫ חֶ סֶ ד‬fragwürdig.313 Nichts in der Parabel ist eindeutiger als die Notwendigkeit, erfahrene Güte in den zwischenmenschlichen Beziehungen zu erwidern. Gleichzeitig kann die Parabel einen Beitrag zum Verständnis der dem ‫חֶ סֶ ד‬-Begriff inhärenten Polarität zwischen Freiwilligkeit und Normativität leisten: Ein Gegeneinander-Ausspielen der beiden Pole, wie es in einigen der bereits besprochenen und noch zu besprechenden Beiträgen zum Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬vorgenommen wird, erweist sich als nicht angemessen. Gleichzeitig bestätigt die Parabel wesentliche Aspekte der ‫חֶ סֶ ד‬-Definitionen Hills, Kosmans und Sakenfelds. Kurioserweise also lassen sich hier zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Das alttestamentliche Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬trägt dazu bei, die in 312 Vgl. dazu den vorangehenden Abschnitt 1.2.2.2.3. 313 Vgl. S. 89.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

der Auslegung der Parabel empfundene Spannung als dem Begriff ἔλεος inhärente zu verstehen, und gleichzeitig kann die Parabel dazu beitragen, die dem ‫חֶ סֶ ד‬-Begriff inhärente Spannung zwischen Freiwilligkeit und Normativität genauer zu fassen. In Jos 2,12 lässt die Hure Rahab die von Josua ausgesandten und von ihr vor den Gesandten des Königs von Jericho versteckten Kundschafter schwören, dass diese die ihnen gewährte Barmherzigkeit (‫חֶ סֶ ד‬/LXX: ἔλεος) bei der Eroberung der Stadt erwidern: „(12) Nun aber schwört mir beim HERRN: Wie ich euch Barmherzigkeit erwiesen habe, so sollt auch ihr dem Haus meines Vaters Barmherzigkeit erweisen, und ihr sollt mir ein verlässliches Zeichen geben, (13) dass ihr meinen Vater, meine Mutter, meine Brüder und meine Schwerstern und alle, die zu ihnen gehören, am Leben lasst und uns rettet vor dem Tod.“314 Die Kundschafter versichern darauf Rahab ihrer Barmherzigkeit: „(14) Da sprachen die Männer zu ihr: Mit unserem Leben stehen wir ein für euch, wenn ihr unsere Sache nicht verratet. Und wenn der HERR uns das Land gibt, wollen wir dir Barmherzigkeit und Treue erweisen.“315 An diesem Beispiel zeigt sich der Charakter von ‫ חֶ סֶ ד‬als etwas NichtSelbstverständlichem in sehr eindrücklicher Weise: Das Verhalten Rahabs, dessen Interpretation im Rahmen des Gebots der Gastfreundschaft Stoebe zu Recht ablehnt, da Rahab „gegen die Lebensinteressen der Stadt“316 verstoße, geht über das, was die Kundschafter legitimerweise von ihr erwarten können hinaus. Als Feinde Jerichos hatten sie damit zu rechnen, den Gesandten des Königs, die bei Rahab vorstellig wurden (Jos 2,3), übergeben zu werden. Rahab aber versteckt die Männer auf dem Dach ihres Hauses und übt so Barmherzigkeit an ihnen (V. 6). Gleichzeitig zeigt sich an dieser Stelle, dass Barmherzigkeit als über das Erwartbare Hinausgehende auf Gegenseitigkeit angelegt ist.317 Barmherzigkeit verpflichtet, ohne dass 314 Übersetzung Zürcher Bibel, Revision von 2007. 315 Übersetzung Zürcher Bibel, Revision von 2007. Die Fassung der Septuaginta differiert hier beträchtlich, vgl. dazu weiter unten im Text. 316 Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 608; vgl. auch Kellenberger, Glaubenserfahrung, 78 Anm. 41. 317 Das Besondere einer ‫חֶ סֶ ד‬-Tat und der Gegenseitigkeitscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬zeigen sich z. B. auch in der David-Jonathan-Erzählung. So bittet David Jonathan darum, ihn im Falle des Falles vor Sauls Zorn zu warnen und ihm darin ‫ חֶ סֶ ד‬zu erweisen (1. Sam 20,8). Im Gegenzug für seine „Freundschaftsdienste“ lässt Jonathan David schwören, ihm und seiner Familie Güte zu gewähren: „14 Und solange ich noch lebe, sollst du mir die Barmherzigkeit des Herrn ( ‫חֶ סֶ ד‬ ‫ )יְ הוָה‬erweisen; und wenn ich sterbe, 15 sollst du meinem Haus deine Barmherzigkeit niemals entziehen, auch nicht, wenn der Herr die Feinde Davids, jeden einzelnen, vom Erdboden tilgt“ (Übersetzung Zürcher Bibel, Revision 2007). David hält seinen Eid gegenüber Jonathan, indem er dessen Sohn Mefi-Boschet an seinen Hof holt und so den ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis Jonathans mit seinem ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis vergilt (u. a. 2. Sam 9,1–7: dreimaliges Vorkommen des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬in V. 1.3.7). Die Güte-Tat Jonathans ist insofern besonders, als es sich bei Saul um seinen Vater handelt, und sie zielt gleichzeitig auf Gegenseitigkeit. Hentschel versteht die Wendung ‫חֶ סֶ ד‬ ‫ יְ הוָה‬aus 1. Sam 20,14 im Sinne der imitatio Dei :„Nicht wahr, wenn ich dann noch am Leben bin, wirst du entsprechend der Huld des Herrn an mir handeln“ (1 Samuel, 121). Güte geht über das hinaus, was auf rechtlicher Ebene gefordert werden kann und nimmt damit Maß am Handeln Gottes selbst.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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diese Verpflichtung auf rechtlicher Ebene einklagbar wäre.318 In diese Richtung weist die Bitte Rahabs um ein verlässliches Zeichen (V. 12) sowie die Zusicherung der Kundschafter, ihr und ihrer Familie Barmherzigkeit und Treue erweisen zu wollen. Der Hinweis auf die Treue unterstreicht, dass Barmherzigkeit auf rechtlicher Ebene nicht eingeklagt werden kann. Die Verschonung Rahabs und ihrer Familie geht somit wie der Barmherzigkeitserweis Rahabs über das, was von Rechts wegen gefordert werden kann, hinaus. Darüber hinaus ist Jos 2,12ff. ein Beispiel für die Aussage Stoebes, dass Güte in vielen Fällen ein Gemeinschaftsverhältnis erst konstituiert.319 So hält Jos 6,25 nicht nur die Verschonung Rahabs und ihrer Familie, sondern auch ihr Wohnen in Israel „bis auf den heutigen Tag“ fest.320 Die freiwillige, aber auf Gegenseitigkeit zielende ‫חֶ סֶ ד‬-Tat Rahabs wird nicht einfach nur mit dem ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis der Israeliten bei der Zerstörung Jerichos vergolten, sondern zieht ein Gemeinschaftsverhältnis nach sich. Zudem verdient ein weiterer Aspekt Beachtung. So lässt die nicht zu Israel gehörige Rahab die Kundschafter bei JHWH, dem Gott Israels, schwören (V. 12), dass sie ihr und ihrer Familie bei der Eroberung der Stadt Barmherzigkeit erweisen werden. Hier klingt auch dann, wenn man annimmt, dass Rahab die Kundschafter bei deren Gott verpflichten will (gegenüber einem anderen Gott würden sie sich nicht verantwortlich fühlen), an, dass die „Nichtjüdin“ um die besondere Verbindung JHWHs zum ‫ חֶ סֶ ד‬weiß. In der Septuaginta tritt diese Verbindung u. E. noch stärker hervor: Hier parallelisiert Rahab das Handeln Gottes an den Kundschaftern mit ihrer Bitte, ihr und ihrer Familie Barmherzigkeit zu erweisen: „Wenn der Herr euch die Stadt übergibt, sollt ihr mir Barmherzigkeit und Aufrichtigkeit erweisen“321. Überspitzt formuliert: Der über Rahab den Kundschaftern gewährten Barmherzigkeit Gottes, sollen die Kundschaftern in ihrem eigenen Handeln gegenüber Rahab entsprechen. Weil die Kundschafter das Handeln Rahabs als barmherziges Handeln Gottes verstehen sollen, gilt das Handeln der Kundschafter nicht nur Rahab, sondern gleichsam Gott selbst. Die Gott-Mensch-Beziehung ist hier intrinsisch mit den zwischenmenschlichen Beziehungen verknüpft.322 Die Verknüpfung von JHWH mit ‫ חֶ סֶ ד‬spielt auch im Buch Ruth eine hervorgehobene Rolle. JHWH fungiert hier als derjenige, der zwischenmenschlich nicht ver-

318 Knauf kommentiert: „Rahab hat den Spähern ungeschuldete Freundlichkeit … erwiesen und hofft, dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird“ (Josua, 50). Nach Knauf untersteht ‫חֶ סֶ ד‬ damit dem Tun-Ergehen-Zusammenhang. 319 Vgl. Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte, Sp. 611. 320 Darin realisiert sich die von Rahab geforderte (masoretischer Text von Jos 2,14) bzw. die von den Kundschaftern zugesagte (LXX-Fassung von Jos 2,14) „Treue“. 321 Übersetzung: den Hertog/Kreuzer, in: Septuaginta Deutsch. 322 Im Blick auf Jos 2,12.14 LXX kann sicherlich nicht von einer Angleichung von ‫ חֶ סֶ ד‬an ἔλεος gesprochen werden, zumindest dann nicht, wenn mit dieser Angleichung die Marginalisierung des Reziprozitätscharakters bzw. die Hervorhebung der Einseitigkeit von ἔλεος verbunden ist. ἔλεος impliziert hier nicht nur Reziprozität, sondern über diesen Begriff wird gleichsam die Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen verschränkt.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

goltenen ‫ חֶ סֶ ד‬erwidert. In diesem Sinne entlässt Noomi ihre beiden Schwiegertöchter mit den Worten: „(1,8) Geht, kehrt zurück, jede in das Haus ihrer Mutter. Der HERR möge euch Güte (‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος) erweisen, wie ihr sie den Verstorbenen und mir erwiesen habt. (9) Der HERR gebe euch, dass ihr Ruhe findet, jede im Haus ihres Mannes.“323 Auch dieser relativ junge Beleg für ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος zeigt, dass Güte auf Reziprozität angelegt ist: Zwischenmenschliche Güte beruht und zielt auf Gegenseitigkeit, in diesem Falle in familialen Bindungen (zwischen Ehepartnern und zwischen Schwiegermutter und Schwiegertöchtern).324 Dies wird vor allem daran deutlich, dass unerwiderte Güte ein Problem darstellt und dass JHWH in gewisser Weise Garant für die Gegenseitigkeit des ‫ חֶ סֶ ד‬ist: Dort, wo zwischenmenschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬nicht erwidert wird oder wie im Falle der verstorbenen Männer von Ruth und Orpa nicht erwidert werden kann, wird JHWH als derjenige angerufen, der stellvertretend für die zur Reziprozität-Unfähigen eintritt: Die toten Söhne Noomis sind ebenso wenig in der Lage ihren Frauen ‫ חֶ סֶ ד‬zu erweisen wie Noomi, die ihre Schwiegertöchter darauf aufmerksam macht, dass selbst in dem Falle, dass sie noch weitere Söhne gebären könnte, diese als Ehemänner, die ihren Brüdern im Sinne der Leviratsehe Nachkommen schaffen könnten, nicht mehr in Frage kämen (Ruth 1,11–13). Deshalb tritt Noomi an Gott als denjenigen heran, der für einen Ausgleich verhinderter zwischenmenschlicher Gegenseitigkeit sorgen soll.325 Frevel kommentiert: „Noomi fordert für ihre Schwiegertöchter die göttliche Gerechtigkeit ein: Gott soll sie mit Lebensfülle für ihr gutes Handeln segnen“326. In diesem Sinne und gleichzeitig pointierter versteht Zobel auch die Reaktion von Boas auf Ruths ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis gegenüber ihrer Schwiegermutter (und ihm selbst): „Gesegnet bist du vom HERRN, meine Tochter. Du hast jetzt noch schöner als zuvor gezeigt, wie gut (‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος) du bist, da du den jungen Kerlen, ob arm oder reich, nicht nachläufst“ (Ruth 3,10)327. Zobel kommentiert diese Reaktion von Boas mit den Worten, dass „hier gleichsam der Segen Gottes als Ersatz menschlicher Rückerstattung des ḥæsӕḏ-Erweises fungiert“328. Gott vergilt nicht nur die Gewährung oder Verweigerung zwischenmenschlicher Güte, sondern er kommt als Dritter im Bunde gerade dort ins Spiel, wo ‫ חֶ סֶ ד‬nicht erwidert wird oder erwidert werden kann.329 323 Übersetzung Zürcher Bibel, Revision 2007. 324 Es wird nicht deutlich, worin die Güte Ruts und Orpas konkret besteht. 325 Vgl. die Feststellung Fischers: „Häufig sprechen den Wunsch nach göttlicher Abgeltung Menschen aus, die zum Zeitpunkt der Segnung nicht die Mittel haben, sich den Menschen, denen sie Dank schulden, entsprechend erkenntlich zu zeigen“ (Rut, 135). 326 Frevel, Rut, 57. 327 Übersetzung Zürcher Bibel, Revision von 2007. 328 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 55. Das gilt nach Zobel auch für Neh 13,14. 329 Nach Gregory, Art. Ḥesed II. Judaism A. Second Temple and Hellenistic Judaism, Sp. 969f., wird Gott im nachexilischen Judentum als derjenige verstanden, der barmherzige Taten, die gegenüber dem Mitmenschen geübt werden, an dessen Stelle erwidert. Für die Entwicklung des Konzepts der Taten der Barmherzigkeit verweist Gregory insbesondere auf den hebräischen Text von Sir 37,11, in dem die Wendung „gemilut ḥesed“ zum ersten Mal verwendet

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Die dritte Stelle, an der im Buch Ruth das „Leitwort“330 ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος vorkommt, macht darüber hinaus deutlich, dass sich in zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬die Güte Gottes widerspiegelt.331 In Ruth 2,20 segnet Noomi Boas: „Da sprach Noomi zu ihrer Schwiegertochter: Gesegnet sei er (Boas; J.-C. M) vom HERRN, der den Lebenden und den Toten seine Güte (‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος) nicht versagt hat!“332 Das Handeln von Boas, der Ruth ans Herz legt, auf seinem Feld (und damit „unter seinen Flügeln“) zu bleiben und sich an seine „jungen Frauen“ zu halten (2,8), der ihr erlaubt, von dem zu trinken, was die Männer schöpfen (2,9) und ihr zu essen gibt (2,14), der seine „jungen Männer“ anweist, ihr nicht zu nahe zu treten (2,15; vgl. 2,9) und etwas aus den Ährenbündeln zu ziehen,333 damit Ruth es auflesen (2,16) und auch ihre Schwiegermutter versorgen kann (2,18), dieses fürsorgliche, gütige Handeln von Boas ist transparent für das Handeln JHWHs, „der den Lebenden … seine Güte (‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος) nicht versagt hat!“ (2,20).334 Inwiefern er sie auch den Toten nicht versagt, macht

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werde und die hier und an vergleichbaren Stellen (7,33; 30,6; 40,17) unter anderem die Versorgung Hungernder, die Kleidung Nackter, Gastfreundschaft und die Versorgung Kranker im Blick habe (vgl. ebd., Sp. 969). Vgl. Fischer, Rut, 212; vgl. ebd., 37; Frevel, Rut, 112, spricht von „Leitmotiv“. Vgl. Fischer, Rut, 213, die im Blick auf Ruth 2,20 davon spricht, dass „Noomi … damit das Handeln des Mannes (Boas; J.-C. M) in Beziehung zur Huldzuwendung Gottes [stellte], wie sie es in 1,8 mit der Huldzuwendung der Schwiegertöchter tat“. Auch wenn sie im unmittelbaren Anschluss im Blick auf Ruth 3,10 davon spricht, dass der ‫ חֶ סֶ ד‬Ruths „engstens mit theologischen Aussagen verknüpft [ist]“ (ebd.), dann ist das u. E. noch zu vorsichtig formuliert. Das gilt in einem größeren Maße noch für die Feststellung Zimmerlis, in Ruth 1,8 und 3,10 werde „ohne daß die Verbindung explizit herausgehoben würde, sichtbar gemacht, wie im Raum des barmherzigen Hulderweises Jahwes, der den Menschen geheimnisvoll durch scheinbare Zufälle zu führen vermag, auch Menschen dafür offen werden, untereinander ‫ חֶ סֶ ד‬zu erweisen“ (Art. χάρις κτλ. B. Altes Testament, 376). U. E. ist pointierter zu formulieren: Der ‫ חֶ סֶ ד‬Gottes wird konkret in der Gewährung zwischenmenschlicher Güte erfahrbar. Der Zusammenhang zwischen göttlichem und zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬ist also enger zu fassen, als Fischer und Zimmerli annehmen. Übersetzung Zürcher Bibel, Revision von 2007. An dieser Handlung lässt sich sehr schön zeigen, wie Boas über das von der Tora Geforderte hinausgeht: Er lässt Ruth nicht nur – wie von Lev 19,9 geboten – Nachlese halten, sondern verzichtet auf einen Teil seiner Ernte. Fischer interpretiert diesen Verzicht als Übererfüllung der Tora, die für das Ruthbuch charakteristisch sei: „V 16 formuliert Boas als Gebot an die jungen Männer: Sie sollen bewußt seine eigene Ernte schmälern, um ihre (Ruts; J.-C. M) Nachlese reichlicher werden zu lassen. Dabei klingt von der Wortwahl her das Verbot der Nachlese (‫ )לקט‬von vergessenen Früchten (‫ )עזב‬aus Lev 19,9f. an, an das Boas sich mehr als gefordert hält. Wieder wird ein Gebot der Tora übererfüllt, wie dies so oft schon im Rutbuch der Fall war“ (Rut, 183f.). U. E. ist diese Überfüllung der Tora das, was der matthäische Jesus in Mt 5,20 als „überfließende Gerechtigkeit“ bezeichnet: Jesus fordert hier mehr, als auf der rechtlichen Ebene gefordert werden kann. Zu unserer Interpretation von Mt 5,20 vgl. im dritten Kapitel Abschnitt 3.1.2. Übersetzung Zürcher Bibel, Revision von 2007. Der Gegenseitigkeitscharakter und die gleichzeitige Verschränkung der Gott-Mensch-Beziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt sich auch darin, dass Boas die Frage Ruths: „Warum habe ich Gnade (‫חֵ ן‬/χάρις) gefunden in deinen Augen, dass du mir deine Beachtung schenkst?“ (Ruth 2,10; Übersetzung Zürcher Bibel, Revision 2007) mit einem Verweis auf ihre Solidarität mit ihrer

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

der nähere Kontext deutlich: Noomi weist ihre Schwiegertochter im unmittelbaren Anschluss an den Boas geltenden Segensspruch darauf hin, dass Boas als Löser in Frage käme: „Der Mann ist mit uns verwandt, er ist einer unserer Löser“ (2,21)335. Wäre ein solcher Löser, als der sich Boas in Kapitel vier erweisen wird, gefunden, dann wäre der Verbleib des Landes in der Sippe Elimelechs gesichert (4,3). Wichtiger aber scheint noch ein zweiter Aspekt, der den weiteren Verlauf der Erzählung bestimmt: So verknüpft die Erzählung die Rechtsinstitution der Löserpflicht mit der der Leviratsehe (vgl. 4,5; vgl. 3,9336),337 die das Geschlecht Elimelechs vor dem Aussterben bewahrt: Der erste mit Boas (oder dem potentiellen zweiten Löser) gezeugte Nachkomme gilt als Nachkomme des verstorbenen Ehemannes von Ruth, Machlon. JHWH erweist seine Güte gegenüber dem Toten in dessen „Fortexistenz in einem männlichen Nachkommen; sein (Machlons; J.-C. M) Name soll nicht ausgelöscht werden in Israel“338. Damit erweist sich nicht nur Ruth, die ihrer Schwiegermutter und ihrem totem Ehemann ‫ חֶ סֶ ד‬auch darin gewährt hat, dass sie den jungen Männer nicht nachgelaufen ist (vgl. 3,10)339 und stattdessen einem Mann

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Schwiegermutter (2,11) beantwortet und dann wie folgt schließt: „Der HERR vergelte dir dein Tun, und voller Lohn soll dir zuteil werden vom HERRN, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um Zuflucht zu finden unter seinen Flügeln“ (2,12; Übersetzung Zürcher Bibel, Revision 2007). Die Vergeltung des Gottes Israel aber, das Zuflucht-Finden unter JHWHs Flügeln, wird für Ruth konkret erfahrbar in dem Schutz, den ihr Boas gewährt. In diesem Sinne betont Christian Frevel das stellvertretende Handeln von Boas für JHWH: „Das, was Boas der Rut wünschte, ‚JHWH möge dir dein Tun vergelten und dich reich belohnen‘, setzt er selber in die Tat um. In dreimaliger Steigerung (1. Aufforderung zum Bleiben auf seinem Feld, 2. Mittagessen bei den Angestellten, 3. Erlaubnis, auch zwischen den Garben zu lesen) macht er ihren Lohn reichlich. Daß Boas stellvertretend für JHWH handelt (so ungewöhnlich das auf den ersten Blick auch klingt), zeigt die Bodenhaftung der Theologie des Rutbuches“ (Rut, 79). So sehr Frevel hier zustimmen ist, stellt sich die Frage, ob er im direkten Anschluss nicht etwas von seiner Aussage, Boas handele stellvertretend für JHWH zurücknimmt, wenn er das Handeln des Boas als ein Handeln „in Gottes Sinne“ (ebd.) deutet. Müsste nicht vielmehr formuliert werden: Im Handeln des Boas konkretisiert sich die Güte JHWHs, hier wird die Zuwendung Gottes für Rut (und Noomi) erfahrbar? Im Blick auf das Thema „Stellvertretung“ bedeutet das: JHWH wird von Noomi in Ruth 1,8 angerufen, stellvertretend für die zur Reziprozität Unfähigen zu handeln. Dieses Handeln erfolgt nun seinerseits stellvertretend, nämlich durch die Güte eines Menschen, Boas. Genauer lässt sich die Verschränkung göttlichen und zwischenmenschlichen Handelns und die Transparenz des einen für das andere nicht umschreiben bzw. darstellen, ohne das eine gänzlich mit dem anderen zu verschmelzen. Zimmerli ist zuzustimmen, wenn er in Ruth 1,8 und 3,10 „[d]ie reifsten Formulierungen“ für eine solche Verschränkung göttlichen und zwischenmenschlichen Handelns vorliegen sieht (Art. χάρις κτλ. B. Altes Testament, 376). In dieses Urteil wäre aber eben auch das im zweiten Kapitel des Ruthbuchs Berichtete mit einzubeziehen. Übersetzung Zürcher Bibel, Revision von 2007. Die Begründung Ruths lautet: „denn ein Löser bist Du“. So Fischer, Rut, 212; Frevel, Rut, 109–111. Frevel, Rut, 113. Wir folgen hier Christian Frevel, der Ruths Begründung zur Aufforderung zum Beischlaf, „denn du bist ein Löser“ (Ruth 3,9; Übersetzung Zürcher Bibel, Revision 2007), zu Recht mit der Aussage des Boas in 3,10: „Gesegnet bist du vom HERRN, meine Tochter. Du hast jetzt

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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aus der Sippe Elimelechs die Heirat „anträgt“, sondern auch Boas als gütig. Die Leviratsehe ist ein Akt „erster Güte“, insofern der erste gezeugte männliche Nachkomme als Nachkomme des verstorbenen Verwandten gilt. Ein letzter Aspekt scheint uns relevant: Es fällt auf, dass im unmittelbaren Kontext der Güte häufig von Gabehandlungen die Rede ist. So konkretisiert Noomi den Segen, JHWH möge ihren Schwiegertöchtern Güte erweisen, in dem Wunsch, er mögen ihnen geben (‫נתן‬/δίδωμι), dass sie Ruhe finden, „jede im Haus ihres Mannes“ (Ruth 1,9). Ruth 2,18f. berichtet davon, dass Ruth ihrer Schwiegermutter vom Überfluss ihrer „Ernte“ gibt und diese daraufhin Boas segnet.340 Vom ‫( חֶ סֶ ד‬JHWHs) ist allerdings erst in 2,20 die Rede, nachdem Noomi erfahren hat, auf wessen Feld Ruth Nachlese gehalten hat und wer der Mann ist, von dem sie Schutz erfahren hat. Und Jos 2,14 LXX verbindet die von den Kundschaftern zu erwidernde Barmherzigkeit mit der Gabe Jerichos in die Hände der Israeliten. Güte zeichnet sich in diesen Kontexten durch ein Geben aus, das durch eine Gegengabe zu erwidern ist. Dem entspricht im Blick auf das Buch Ruth, dass es sich bei ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ נתן‬nach Irmtraud Fischer um Leitworte handelt. In der Einleitung ihres Kommentars bespricht Fischer beide Leitworte unmittelbar hintereinander.341 Und ohne explizit eine Verbindung zwischen der Güte JHWHs und seinem Geben herzustellen, verweist Frevel auf den dem Leitmotiv „geben“ inhärenten „Geschenkcharakter“342. Auf dieses Verhältnis von ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος und Gabe (‫נתן‬/δίδωμι) kann an dieser Stelle nur verwiesen werden. Die Beobachtungen an den wenigen, eklektisch ausgewählten und hier besprochenen Stellen des Josua- und Ruthbuches bestätigen unsere am Ende des vorangegangenen Abschnitts vorgelegte heuristische ‫חֶ סֶ ד‬-Definition: Zwischenmenschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬geht über das Selbstverständliche hinaus (Jos 2,12f.; Ruth 3,10; vgl. 2,12) und ist dennoch auf Gegenseitigkeit angelegt (Jos 2,14; Ruth 1,8f.; 3,10), so dass das zentrale Charakteristikum von ‫ חֶ סֶ ד‬ungeschuldete Gegenseitigkeit ist. Zudem steht ‫ חֶ סֶ ד‬in einem besonderen Verhältnis zu JHWH: So ist zwischenmenschlicher ‫חֶ סֶ ד‬ für die ‫חֶ סֶ ד‬-Erweise JHWHs transparent: JHWH erweist seine Güte in der und durch die Gewährung zwischenmenschlicher Güte (besonders deutlich: Jos 2,14 LXX; noch schöner als zuvor gezeigt, wie gut (‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος) du bist, da du den jungen Kerlen, ob arm oder reich, nicht nachläufst“ (Übersetzung Zürcher Bibel, Revision 2007), verbindet (vgl. Frevel, Rut, 113). Die größere Güte zeigt sich nicht in Ruths Verhalten gegenüber Boas, sondern in der Verknüpfung des Schicksals ihrer Schwiegermutter respektive der Sippe Elimelechs mit ihrem eigenen. Vgl. dazu ausführlich Frevel, Rut, 112–113. Kritisch dazu Fischer, Rut, 213. 340 Wenn Rut 2,18 dabei festhält, dass Ruth ihrer Schwiegermutter das gibt, „was sie vom Essen übrig behalten hatte“ (Übersetzung Zürcher Bibel, Revision 2007), dann offenbart sich auch hier ein für das Verständnis von Güte relevanter Aspekt: Güte fließt über, von Boas, der zu Gunsten Ruths auf einen Teil seiner Ernte verzichtet (2,15–16), zu Ruth, die ihrer Schwiegermutter gibt. Die Güte von Boas wiederum „antwortet“ auf die Güte Ruths, die sich in der Solidarität mit ihrer Schwiegermutter konkretisiert, die sie nicht verlässt (1,14–17). Man könnte in diesem Zusammenhang von einem Kreislauf der Güte/Gabe sprechen. 341 Fischer, Rut, 37–38. 342 Frevel, Rut, 57.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Ruth 2,20). An einigen Stellen kommt JHWH sogar als derjenige in den Blick, der stellvertretend für diejenigen, die keinen ‫ חֶ סֶ ד‬üben können, diesen z. B. in Form von Segen erwidert (Ruth 1,8f.; 3,10). Zwischenmenschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬und göttlicher ‫ חֶ סֶ ד‬stehen in einer besonderen Beziehung zueinander. Auch wenn hier nur 6 der 245 Vorkommen von ‫ חֶ סֶ ד‬in der Hebräischen Bibel bzw. 6 von 213 Stellen der Septuaginta, an denen diese ‫ חֶ סֶ ד‬mit ἔλεος wiedergibt,343 besprochen worden sind, so stellen sich doch Anfragen an die Annahme, ‫ חֶ סֶ ד‬habe sich semantisch an ‫ ַרח ֲִמים‬angeglichen, was eben in der Übersetzung mit ἔλεος zum Ausdruck komme.344 Die besprochenen Stellen jedenfalls transportieren deutlich den Reziprozitätscharakter von ἔλεος, der demnach nicht nur für den Verfasser des Matthäusevangeliums, sondern auch für die Übersetzer der Septuaginta (zumindest an den genannten Stellen) gegeben ist. Dass der Verfasser des Matthäusevangeliums entgegen der sonstigen Entwicklung die Dimension der Gegenseitigkeit im ἔλεος-Begriff wiederendeckt, scheint uns deshalb unwahrscheinlich. Für ihn impliziert dieser Begriff von vornherein Wechselseitigkeit. Wir belassen es bei dieser Feststellung, um uns im Folgenden dem Verhältnis von göttlichem und zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬zuzuwenden.

1.2.2.2.4 Zur Wechselseitigkeit göttlicher und zwischenmenschlicher Güte In diesem Abschnitt soll nach dem Verhältnis von göttlicher und zwischenmenschlicher Güte gefragt werden. Vergegenwärtigen wir uns dazu noch einmal die bisherigen Ergebnisse: Wir haben zum einen im Blick auf den menschlichen ‫ חֶ סֶ ד‬gesehen, dass seine Gewährung oder Verweigerung dem göttlichen Vergeltungshandeln untersteht und dass Gott die Gewährung bzw. Verweigerung von zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬nicht nur (im Sinne des in ihm selbst personalisierten Tun-Ergehen-Zusammenhangs) belohnt oder bestraft, sondern auch an Stelle des menschlichen Subjekts ‫ חֶ סֶ ד‬erwidern kann (vgl. die Ausführungen zu Ruth345). In Verbindung mit der Beobachtung, dass ‫ חֶ סֶ ד‬eine, wenn nicht die hervorragende Verhaltensweise Gottes gegenüber seinen Geschöpfen ist, haben wir festgestellt, dass es einen intrinsischen Zusammenhang zwischen dem göttlichen Erbarmen und der Bedeutung, die zwischenmenschlichem Erbarmen im Alten Testament zugemessen wird, gibt. Worin aber, so ist nun zu fragen, besteht dieser Zusammenhang zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬als hervorragendem Merkmal der Zuwendung Gottes zur Welt

343 Zu den Vorkommen von ‫ חֶ סֶ ד‬in der Hebräischen Bibel und der Wiedergabe dieses Terminus in der Septuaginta vgl. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 49. 344 Joosten nimmt an, dass sich die Bedeutung des hebräischen Begriffs ‫ חֶ סֶ ד‬im 3./2. Jahrhundert vor Christus in Richtung einseitiger Zuwendung/Barmherzigkeit verschoben habe und es deswegen zu der Übersetzung mit ἔλεος in der Septuaginta gekommen ist (‫חסד‬, 107–108). Dem entspricht die Annahme Bultmanns, dass im „Sprachgebrauch des späteren Judentums … ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ ַרחְ ִַמים‬kaum noch zu unterscheiden [sind]“ (Art. ἔλεος κτλ., 478). Vgl. Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp. 1025. 345 Vgl. oben im unmittelbaren Kontext.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

119

und zu Israel und als besondere Forderung an den Menschen genau? Ist die göttliche Güte Voraussetzung dafür, dass der Mensch Güte gewähren kann? Wird der Mensch ganz im Sinne eines bestimmten Verständnisses der Parabel vom unbarmherzigen Knecht durch den Empfang der göttlichen Güte also erst in die Lage versetzt, ‫ חֶ סֶ ד‬gegenüber seinem Mitmenschen zu üben? Soll er die ihm gewährte Güte Gottes in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen weitergeben? Und/Oder aber handelt es sich eher um ein Kongruenzverhältnis: In der Gewährung von ‫חֶ סֶ ד‬ im zwischenmenschlichen Bereich ahmt der Mensch eine hervorragende Verhaltensweise Gottes nach? Und vor allem: Welche Relevanz besitzt zwischenmenschlich gewährte Güte für die Gottesbeziehung? Ließe sich davon sprechen, dass der dem Nächsten gewährte ‫ חֶ סֶ ד‬Gott selbst gilt? Um einer Antwort auf die gestellten Fragen näher zu kommen, wählen wir als Ausgangspunkt die Diskussionen um die Möglichkeit eines menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises Gott gegenüber, stellt sich doch hier die Frage nach der Gegenseitigkeit der Gott-Mensch-Beziehung in besonderer Weise. 1.2.2.2.4.1

Kann der Mensch Gott ‫ חֶ סֶ ד‬erweisen?

Die Frage, ob der Mensch die ihm von Gott gewährte Güte mit seinem eigenen ‫חֶ סֶ ד‬ erwidern kann, wird unterschiedlich beantwortet. So sieht Jepsen bei allen Gemeinsamkeiten des profanen und religiösen Verständnisses von ‫ חֶ סֶ ד‬einen grundlegenden Unterschied darin, dass „[m]enschlicher Chesed … eine Vergeltung hervor[ruft]; Gottes Chesed kann nicht erwidert werden. So ist es doch etwas Besonderes um dieses göttliche Verhalten, das eben nicht nur eine ‚Eigenschaft‘ Gottes ist, sondern die seinem gnädigen Wesen entspringende hilfreiche gute Tat“346. Zobel sekundiert, dass „das AT einen ḥӕsӕḏ-Erweis des Menschen Gott gegenüber nicht kennt. Der Mensch empfängt zwar die Güte JHWHs, aber er kann Gott nichts Gutes antun. Gegenüber dem profanen Sprachgebrauch ist also bezüglich der Gegenseitigkeit erneut eine gewisse Abweichung zu verzeichnen“347. Auch Hill geht davon aus, dass der Mensch den ihm von Gott gewährten ‫ חֶ סֶ ד‬nicht durch seine eigene Güte erwidern kann, hält aber – wie Jepsen – explizit am Gegenseitigkeitscharakter des Gott-Mensch-Verhältnisses fest: So sei ‫„ חֶ סֶ ד‬to be rewarded not by reciprocal ḥesed but by love and obedience“348. Wie Hill spricht auch Zobel trotz seiner Negierung der Möglichkeit eines menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises gegenüber Gott vom „Gemeinschaftscharakter“ des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch, der sich für ihn in der Bewährung des von Gott gewährten ‫ חֶ סֶ ד‬in den zwischenmenschlichen Beziehungen realisiert.349 Wir werden weiter unten nochmals ausführlich auf Zobel zurückkommen (vgl. Abschnitt 1.2.2.2.4.3). An dieser Stelle gilt

346 347 348 349

Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 270. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 69. Hills, zitiert nach Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 11. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. Wir verstehen Zobel hier so, dass sich der Gemeinschaftscharakter auf das Verhältnis Gott – Mensch bezieht.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

es erst einmal, eine merkwürdige Gemengelage zu notieren: So wird von den genannten Forschern einerseits der Gegenseitigkeitscharakter der menschlichen Gottesbeziehung nicht bestritten, andererseits aber wird ‫ חֶ סֶ ד‬eines seiner zentralen Elemente, der Gegenseitigkeit, beraubt: Der Mensch könne Gott keinen ‫ חֶ סֶ ד‬erweisen, der göttliche ‫ חֶ סֶ ד‬sei einseitig. Und in der Tat zeigt ein Überblick über die ‫חֶ סֶ ד‬-Vorkommen des Alten Testaments, dass die Stellen, die von menschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬Gott gegenüber sprechen (könnten), an ein oder zwei Händen abzuzählen sind (Jes 40,6; Jer 2,2; Hos 4,1; 6,4.6; 10,12; 12,7; Mi 6,8; Sach 7,9). Die Unterscheidung zwischen einer ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit, die nach Auffassung Jepsens und Zobels nicht besteht, und anderen Formen der Gestaltung des Gemeinschaftscharakters der Gottesbeziehung wie Liebe und Gehorsam scheint also durchaus angebracht. Allerdings stellt sich angesichts der in den vorangegangenen Punkten aufgezeigten Wechselseitigkeit der Güte die Frage, ob die Erklärung dieser Differenz beim Gegenseitigkeitscharakter des ‫ חֶ סֶ ד‬ansetzen sollte. Sollte sich göttliche Güte in Unterscheidung von zwischenmenschlicher Güte dadurch auszeichnen, dass sie nicht auf Gegenseitigkeit zielt? Dies scheint uns angesichts dessen, dass auch Jepsen und Zobel davon ausgehen, dass die Beziehung zwischen Gott und Mensch wechselseitiger Natur ist, unwahrscheinlich. Warum, so muss gefragt werden, sollte der Gegenseitigkeitsaspekt im Blick auf den göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬marginalisiert werden, um ihn dann doch auf andere Art und Weise wieder einzuführen? Dass nur an relativ wenigen Stellen des AT vom menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis Gott gegenüber die Rede ist, könnte ja auch z. B. in der Asymmetrie dieser Beziehung begründet liegen. Wir bemühen uns also im Folgenden den Befund der relativen Seltenheit der Rede von einem menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis Gott gegenüber und die Dimension der Reziprozität, die dem Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬nach unserer Auffassung nicht nur im Kontext zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch hinsichtlich der Gott-Mensch-Beziehung inhärent ist, gleichermaßen ernst zu nehmen. Es wurde bereits deutlich, dass sich die Frage, ob der Mensch auf die göttliche Gewährung von ‫ חֶ סֶ ד‬seinerseits mit einem ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis Gott gegenüber „antworten“ kann, an verhältnismäßig wenigen Stellen des Alten Testaments entscheidet, die für ein solches Verständnis in Frage kommen: Jes 40,6; Jer 2,2; Hos 4,1; 6,4.6; 10,12; 12,7; Mi 6,8; Sach 7,9. Wie diese Liste zeigt, kommt dem für das Matthäusevangelium relevanten Hoseabuch bei der Beantwortung dieser Frage eine Schlüsselstellung zu, wobei wiederum die an zwei Stellen des Evangeliums zitierte Aussage „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ (Hos 6,6; zitiert in Mt 9,13; 12,7) eine zentrale Rolle in der jeweiligen Argumentation spielt. So kann entweder von Hos 6,6 ausgehend argumentiert werden, dass auch an anderen Stellen des Hoseabuches menschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬gegenüber Gott (zumindest mit) im Blick ist (so z. B. Sakenfeld350), oder aber es wird umgekehrt verfahren: Weil die anderen Stellen im Sinne von zwischenmenschlicher Güte interpretiert werden, legt sich z. B. für Jepsen eine solche Interpretation des Terminus auch in Hos 6,6 nahe (vgl. 350 Vgl. Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 170–181, zieht neben Hos 6,6 auch Hos 4,1 (darüber hinaus auch Jer 2,2) für ihr Verständnis des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬im Hoseabuch heran.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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dazu weiter unten). Aber auch bei Jepsen zeigt sich, dass es im Falle von Hos 6,6 einer besonderen Begründung bedarf, warum hier zwischenmenschlicher und nicht Gott zu gewährender ‫ חֶ סֶ ד‬im Blick ist. Gerade dieser Vers scheint für die Deutung eines Gott zu gewährenden ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises offen zu sein. Wir werden uns deshalb im Folgenden vor allem der Auslegung von Hos 6,6 zuwenden, ohne dabei allerdings der ausführlichen Analyse dieses Verses und seiner Rezeption im Matthäusevangelium im folgenden zweiten Kapitel dieser Arbeit vorgreifen zu wollen. Hier steht in erster Linie die Frage nach dem Reziprozitätscharakter der von Gott gewährten Güte im Vordergrund. 1.2.2.2.4.2

Barmherzigkeit als Gottesdienst (Hos 6,6)

Wie sieht nun die Begründung dafür aus, dass mit dem Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬in Hos 6,6 ein zwischenmenschliches Verhalten anvisiert ist? Obwohl Jepsen zugesteht, dass es durchaus so sein könnte, dass Hos 6,4.6 die Ausnahme von der Regel darstellen, interpretiert er diese Stellen auf Grundlage seiner Interpretation der übrigen ‫חֶ סֶ ד‬-Vorkommen im Hoseabuch (in dieser Reihenfolge: Hos 12,7; 4,1; 10,12)351: Weil ‫ חֶ סֶ ד‬an diesen Stellen nach Auffassung Jepsens das Verhältnis des Menschen zu seinem Mitmenschen im Blick hat, sei das auch in Hos 6,4.6 der Fall: „Zunächst wird man Chesed auch hier so verstehen wie sonst, wo von menschlichem Chesed die Rede ist, also als das gütige Handeln an Menschen. Das würde in Hos 6,4 bedeuten, daß Ephraim und Juda einander keinen Chesed erweisen; was so aussehen könnte, ‚vergeht wie die Wolke am Morgen, wie der Tau, der früh verschwindet‘. Und doch ist Gottes Wohlgefallen auf solchen rechten Chesed gerichtet, nicht auf gemeinsame Mahlopfer, und auf rechtes Gotterkennen, nicht auf Gott dargebrachte Brandopfer (V. 6). Chesed ist also hier nicht anders zu deuten als in 4,1; 10,12; 12,7.“352 Diese Interpretation von Hos 6,4.6 krankt vor allem daran, dass es im Kontext dieser Verse (5,8–6,6) um die Gottesbeziehung Efraims und Judas, insbesondere um Treue geht. So wirft das „Ich“ Gottes in V. 4 Juda und Efraim vor, eine Umkehr zu vollziehen, die wie selbstverständlich mit dem Eingreifen Gottes rechnet und sich so in „Heilssicherheit“ wiegt,353 selbst aber nicht bereit ist, ‫ חֶ סֶ ד‬zu üben. Und auch wenn – wie Jepsen für 6,4 annimmt, die Treue Ephraims und Judas untereinander im Blick sein sollte, ändert das nichts daran, dass die übergreifende Perspektive das Gott-Mensch-Verhältnis ist, so dass zumindest gefragt werden müsste, ob der zwischenmenschliche ‫ חֶ סֶ ד‬nicht transparent für die Gottesbeziehung ist. Mehr noch: Die Mahl- und Brandopfer, von denen Hos 6,6 spricht, werden nicht nur im Angesicht Gottes vollzogen, sondern sie gelten Gott selbst. Gleiches müsste dann aber erst recht für die Barmherzigkeit gelten, wenn die Aussage, 351 Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 268. 352 Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 269. 353 Jörg Jeremias, Hosea, 86, spricht in seiner Auslegung von V. 3 von einem „unerschütterliche[n] Sicherheitsglaube[n]“, „der das Ende der Gottesferne … und Gottes heilvolles Handeln so sicher wie den neuen Tag nach der Nacht erwartet, also geradezu als etwas Naturnotwendiges betrachtet.“

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

„Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“, nicht als prinzipielle Kritik am Gottesdienst verstanden werden soll. Die Aussage Jepsens, dass „Gottes Wohlgefallen auf solchen rechten [zwischenmenschlichen; J.-C. M] Chesed gerichtet“354 ist, erscheint uns deshalb zu schwach, weil sie der Gegenwart Gottes nur unzureichend Rechnung trägt. Auch die beiden rhetorischen Fragen von V. 4, deren Sprecher JHWH ist: „Was soll ich machen mit dir, Efraim? Was soll ich machen mit dir, Juda?“355 sprechen dafür, dass hier vor allem das Gottesverhältnis im Blick ist. Sollte mit der Treue, die wie eine Wolke am Morgen und der Tau vergeht, die Treue zwischen Juda und Efraim im Blick sein, so stünde sie in einem direkten Bezug zum Gottesverhältnis: Fehlender ‫ חֶ סֶ ד‬untereinander tangiert die Beziehung zu Gott unmittelbar. Letztendlich scheint das auch Jepsen nicht ausschließen zu können. So spricht er, wie wir soeben gesehen haben, einerseits davon, dass ‫ חֶ סֶ ד‬in Hos 6,4.6 „[z]unächst“ von den anderen Hoseastellen her zu verstehen sei, um andererseits festzuhalten, dass „doch“ auch „Gottes Wohlgefallen auf solchen rechten Chesed gerichtet“356 sei. Gerade angesichts dieser Argumentation: Der Mensch könne Gott gegenüber keinen ‫ חֶ סֶ ד‬üben und doch tangiere die Gewährung bzw. Verweigerung zwischenmenschlicher Güte Gott, ist zu fragen, ob das von Jepsen ins Spiel gebrachte „Wohlgefallen“ Gottes nicht – wie von uns vorgeschlagen – im Sinne der Präsenz Gottes verstanden werden müsste: In zwischenmenschlich gewährtem ‫ חֶ סֶ ד‬ist Gott gegenwärtig. Wir werden darauf zurückkommen. An dieser Stelle gilt es noch festzuhalten, dass es sich Jepsen angesichts der auch bei ihm angedeuteten Transparenz der zwischenmenschlichen Beziehungen für die Gottesbeziehung in methodischer Hinsicht mit seinem Hinweis darauf, dass diejenigen die Beweislast tragen, die ‫ חֶ סֶ ד‬hier als Liebe gegenüber Gott verstehen, 357 doch etwas zu einfach macht. Wie argumentieren nun diejenigen, die Hos 6,6 als Beleg dafür anführen, dass der Mensch Gott ‫ חֶ סֶ ד‬erweisen kann und wie verstehen sie diesen ‫ חֶ סֶ ד‬inhaltlich? Worin zeigt sich für sie der Gott gewährte ‫ חֶ סֶ ד‬konkret? Interessanterweise gibt es einige Exegeten, die im Kontext ihrer Interpretation von Hos 6,6 auf die intrinsische Verknüpfung zwischen Gott gewährtem und zwischenmenschlich zu gewährendem ‫ חֶ סֶ ד‬aufmerksam machen und Hosea als herausragenden Vertreter eines (solchen) religiösen Verständnisses von ‫ חֶ סֶ ד‬herausstellen.358 Einer solchen Sichtweise zufolge ist der zwischenmenschliche ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis transparent für die Gottesbeziehung. Umgekehrt schließe die Ermahnung, Gott gegenüber ‫ חֶ סֶ ד‬zu üben, die Aufforderung zur zwischenmenschlichen Güte mit ein. Der ‫חֶ סֶ ד‬-Begriff sei somit auch dort, wo er primär eine bestimmte Beziehung im Blick habe (z. B. die GottMensch-Beziehung) offen für die jeweils andere (z. B. die zwischenmenschlichen 354 355 356 357 358

Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 269. Übersetzung Zürcher Bibel, Revision von 2007. Beide Zitate bei Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 269. Vgl. Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 269. Während die Rede von einer theologischen Verwendung von ‫ חֶ סֶ ד‬Gott als Spender der Güte im Blick hat, hat die Rede von der religiösen Verwendung des Terminus den Menschen als Spender und Gott als Empfangenden im Blick.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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Beziehungen). In diesem Sinne geht Sakenfeld davon aus, dass im Hoseabuch wie in keiner anderen alttestamentlichen Schrift zwischenmenschliche Gerechtigkeit und Gottesdienst zwei Seiten einer Medaille darstellen.359 Beides bezeichne Hosea mit dem Terminus ‫חֶ סֶ ד‬. Mit Verweis auf die in Am 5,21–24, Mi 6,6–8, Jer 7,21ff. und Jes 1,10–20 vorliegenden verwandten Traditionen, in denen wie in Hos 6,6 Kritik am Gegeneinander-Ausspielen von Opferkult und Gehorsam geübt wird, geht Sakenfeld deshalb davon aus, dass der in Hos 6,6 geforderte ‫ חֶ סֶ ד‬zwar primär die Gottesbeziehung im Blick habe, darüber hinaus aber auch die Beziehung zum Mitmenschen einschließe. Und auch hinsichtlich der anderen ‫חֶ סֶ ד‬-Stellen des HoseaBuches kommt Sakenfeld zu dem Schluss, dass hier jeweils beide Beziehungsdimensionen im Blick sind und der Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬zwischen diesen beiden Dimensionen oszilliert: „The remarkable characteristic of ḥesed as a religious term in these texts is that it can be at once so closely associated with right behavior as a community on the one hand and with faithfulness to God on the other. The inseparability of these two is the essence of the suzerainty covenant, and the conjoining finds its clearest expression in the religious use of ḥesed. The word can be used in parallelism with ʾĕmet andʾĕmûnâ which are primarily God-oriented; it can be used in parallelism with ṣedeq/ṣedāqâ and mišpāṭ which are primarily community oriented. It cuts in both directions, providing what might be called a one-word summary of the decalogue.“360 In eine ähnliche Richtung gehen bereits die Aussagen Gluecks, der die Verschränkung von zwischenmenschlich geübtem ‫ חֶ סֶ ד‬und Gott erwiesenem ‫חֶ סֶ ד‬ als besonderes Merkmal der prophetischen Literatur herausstellt und ebenfalls die Bedeutung Hoseas für ein solches ‫חֶ סֶ ד‬-Verständnis betont: „Der Begriff ‫ חסד‬hat in der prophetischen Literatur eine große Erweiterung erfahren. Aus der Verhaltungsweise bestimmter, in einem Rechts-Pflicht-Verhältnis stehender Gruppen wird ‫ חסד‬zur Gott gefälligen Verhaltungsweise aller Menschen unter sich, die zugleich als die einzig richtige Gott gegenüber gilt. Die menschlichen Handlungen werden nicht allein in ihrer innermenschlichen Bedeutung betrachtet, sondern sie werden unter einen religiösen Gesichtspunkt gestellt. Das gesamte Leben des Menschen wird nicht von der Religion abgesondert, sondern aufs engste damit verknüpft. So erhält es von der Religion her einen tieferen Sinn- und Wertgehalt. Man kann also ‫ חסד‬als die gemeinschaftgemäße Verhaltungsweise der Menschen unter sich nicht erörtern, ohne zugleich ‫ חסד‬als die Verhaltungsweise der Menschen Gott gegenüber in Betracht zu ziehen.“361 Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, schließen wir uns der Auffassung Gluecks und Sakenfelds an: Im Hoseabuch oszilliert der Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬zwischen den beiden Beziehungsebenen der Gott-Mensch-Beziehung und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das ändert allerdings nichts an dem Sachverhalt, dass

359 Vgl. Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 180. 360 Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 181. 361 Glueck, Das Wort ḥesed, 21.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

‫ חֶ סֶ ד‬im Alten Testament äußerst selten für ein Verhalten des Menschen Gott gegenüber verwendet wird. Insbesondere Hosea stellt hier eine Ausnahme von der Regel dar. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, warum dem so ist: Warum handelt es sich bei der Forderung, Gott gegenüber ‫ חֶ סֶ ד‬zu üben, um eine Spitzenaussage? Für die Beantwortung dieser Frage, sind auch die Begründungen derjenigen Exegeten relevant, die nicht davon ausgehen, dass das Alte Testament einen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis des Menschen Gott gegenüber kennt. 1.2.2.2.4.3

Zur seltenen Rede von Gott erwiesenem ‫חֶ סֶ ד‬

An dieser Stelle ist nun der Befund auszuwerten, dass ‫ חֶ סֶ ד‬nur selten gegenüber Gott geübte Güte im Blick hat. Auffällig ist hier, dass dieser Befund häufig im Sinne eines qualitativen Unterschieds zwischen dem Gemeinschaftscharakter der Gott-Mensch-Beziehung im Gegenüber zum Gegenseitigkeitscharakter zwischenmenschlicher Beziehungen interpretiert und der Reziprozitätscharakter von zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬problematisiert wird. Letztendlich wird hier die Differenz zwischen einer nichtprofanen ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit und einer profanen ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit aufgemacht. So nimmt Zobel an, dass der göttliche ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis, wiewohl auch er auf eine bestimmte Reaktion/Antwort des menschlichen Subjekts zielt, von einer größeren Einseitigkeit geprägt ist als zwischenmenschlicher ‫חֶ סֶ ד‬, und dass diese qualitativ neue und anders geartete Form von Gegenseitigkeit auch die zwischenmenschlichen Beziehungen auf eine neue Grundlage stellt. Zobel schreibt zum Begriff ‫חֶ סֶ ד‬: „Eignete ihm im Rahmen der Familien- und Sippengemeinschaft trotz der auch in diesem Bereich erkennbaren Momente von Güte, Freundlichkeit und Erbarmen durch das ihm innewohnende Prinzip der Gegenseitigkeit doch stets etwas Starres und manchmal sogar etwas Normatives, so wird dieses bei der Übertragung auf JHWH offensichtlich in den Hintergrund gedrängt und statt dessen das Moment der göttlichen Barmherzigkeit und Gnade, der Langmut und des Erbarmens außerordentlich betont. Jetzt äußert sich die Güte JHWHs in seiner unendlichen vergebungsbereiten und versöhnenden Liebe, wie es wiederum in der liturgischen Formel: ‚barmherzig und gnädig ist JHWH, langmütig und reich an Güte‘ seinen verdichteten Ausdruck gefunden hat. Damit ist von vornherein jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Mensch in Verfolg des profanen Prinzips der Gegenseitigkeit die erfahrene göttliche Güte seinerseits JHWH zurückgeben oder ihm etwas Gutes leisten kann. Indes wird der Gemeinschaftscharakter des ḥӕsӕḏ in der Weise gewahrt, daß der Einzelne durch die ihm zuteil gewordene göttliche Güte seinem Nächsten gegenüber in ein neues, von JHWH her geordnetes Verhältnis gestellt wird, daß er die erfahrene Güte im täglichen Umgang zu bewähren, Recht und Gerechtigkeit sowie Güte und Erbarmen zu üben hat. Somit qualifiziert ḥӕsӕḏ nicht nur das Verhältnis JHWHs zu den Menschen, sondern auch das der Menschen untereinander.“362 Wie das Zitat deutlich macht, geht Zobel davon aus,

362 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

125

dass in einem ersten Schritt der profane Gebrauch von ‫ חֶ סֶ ד‬auf die Gottesbeziehung übertragen wird, wobei sich allerdings die Gegenseitigkeit in Richtung einer größeren Einseitigkeit verschiebt: Es ist allein JHWH, der dem Menschen ‫ חֶ סֶ ד‬gewährt. In einem zweiten Schritt werde dann die Einseitigkeit auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen maßgeblich. Der profane Gebrauch unterliegt nach Zobel also einer wesentlichen Änderung weg von Normativität hin zu Freiwilligkeit.363 Mehrere Aspekte sind hier für unsere Fragestellung nach dem Verhältnis von göttlichem und zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬relevant: 1. Auch wenn Zobel nicht explizit von einer Gegenseitigkeit der Gott-Mensch-Beziehung spricht, nimmt er eine solche doch an. Er unterscheidet implizit zwischen einer profanen und einer nicht-profanen Gegenseitigkeit, wobei er die Differenz zwischen beiden letztlich nicht zu erklären vermag. Dieses Unvermögen dürfte auch darin begründet liegen, dass Reziprozität für Gemeinschaft konstitutiv und normativ ist. Letztendlich läuft Zobels Argumentation auf das Konstrukt einer nicht-normativen Gegenseitigkeit hinaus, die es per definitionem von Gegenseitigkeit gar nicht geben kann. Die Norm der Gegenseitigkeit ist die Gegenseitigkeit. Reine Einseitigkeit wäre Beziehungslosigkeit. Wenn Jepsen in diesem Sinne zum menschlichen ‫ חֶ סֶ ד‬bemerkt, dass „der Chesed selbst … die Erwartung auf einen gleichartigen guten Willen und ein gleichartig gutes Werk [weckt]“364, dann gilt das u. E. auch dann für den göttlichen ‫חֶ סֶ ד‬, wenn der Mensch ihn in den zwischenmenschlichen Beziehungen bewähren soll. Letztendlich geht Zobel gleichzeitig davon aus, dass der göttliche ‫ חֶ סֶ ד‬einerseits eine gleichartige Reaktion erwartet (in den zwischenmenschlichen Beziehungen), und dass der Mensch andererseits den göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬nicht erwidern kann. Die Erwartung der Erwiderung des göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬impliziert den normativen Charakter der Güte, den Zobel aber soweit wie möglich ausschließen will. Wenn er davon spricht, dass dem dem Begriff ‫„ חֶ סֶ ד‬innewohnende[n] Prinzip der Gegenseitigkeit doch stets etwas Starres und manchmal sogar etwas Normatives“365 anhaftet, spielt er die Dimension der Güte gegen die Dimension der Normativität bzw. der Gegenseitigkeit aus. Schauen wir uns die Argumentation Zobels genauer an: Zobel stellt in seinen Ausführungen das für das profane Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬charakteristische Prinzip der Gegenseitigkeit einer von ihm nicht explizit sogenannten Einseitigkeit der göttlichen Güte gegenüber. Diese Gegenüberstellung gipfelt in der Feststellung, es sei „von vornherein jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Mensch in Verfolg des profanen Prinzips der Gegenseitigkeit die erfahrene göttliche Güte seinerseits JHWH zurückgeben oder ihm etwas Gutes leisten kann“366. ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit scheint also einerseits in der Gott-Mensch-Beziehung kein konstitutiver Faktor der 363 Kosman, Art. Ḥesed I. Hebrew Bible/Old Testament, Sp. 695f., folgt dieser von Zobel vorgenommenen Rekonstruktion der semantischen Entwicklung des ‫חֶ סֶ ד‬-Begriffs. 364 Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 267. 365 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. 366 Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Gestaltung dieser Beziehung darzustellen. Andererseits aber (vermutlich deshalb, weil es auch nach Auffassung Zobels keine Beziehung ohne Gegenseitigkeit gibt) hat der Mensch nach Zobel den ihm von Gott gewährten ‫ חֶ סֶ ד‬im zwischenmenschlichen Bereich zu bewähren. Auch wenn Zobel die Aussage, die Bewährung erfahrener Güte in den zwischenmenschlichen Beziehungen habe ihrerseits Rückwirkungen auf das Gottesverhältnis, zu vermeiden sucht, so legt sich diese Annahme aufgrund seiner Aussagen doch nahe: Es ist nämlich der „Gemeinschaftscharakter“367 des göttlichen ‫חֶ סֶ ד‬, der in den zwischenmenschlichen Beziehungen „gewahrt“368 wird. Damit aber geht die zwischenmenschlich gewährte Güte nicht in den Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen auf, sondern betrifft gleichermaßen die Beziehung zu Gott. Wohlgemerkt: Zobel spricht explizit nur davon, dass ‫ חֶ סֶ ד‬für die Beziehung JHWHs zum Menschen und für die zwischenmenschlichen Beziehungen wesentlich sei.369 Und doch lässt sich aufgrund der Annahme, dass der Gemeinschaftscharakter der göttlichen Güte gewahrt werden muss, darauf schließen, dass zwischenmenschliche Güte – in welcher Weise auch immer – Gott selbst gilt.370 Wenn sich aber die Gegenseitigkeit der Gott-Mensch-Beziehung auf Seiten des Menschen in der Gewährung zwischenmenschlicher Güte zeigt, dann ist unabhängig davon, ob diese explizit als Gott geltender ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis verstanden wird, eine Gegenseitigkeit gegeben. Und auch wenn es sich hier um eine mittelbare Gegenseitigkeit handelt – aber wie sollte eine unmittelbare Gegenseitigkeit im GottMensch-Verhältnis auch aussehen?, wäre das Reziprozitätsprinzip gar nicht tangiert. Eine Differenz zwischen dem Gemeinschaftscharakter der Gott-Mensch-Beziehung und dem profanen Prinzip der Gegenseitigkeit371, die für menschliche Beziehungen konstitutiv ist, gibt es deshalb hinsichtlich des Normativitätscharakters der Gegenseitigkeit nicht. Dass in nur wenigen Ausnahmefällen wie Hos 6,6 vom menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis gegenüber Gott die Rede ist, sollte daher nicht als Kritik am Gegenseitigkeitscharakter von ‫חֶ סֶ ד‬, sondern vielmehr als Aussage über den Ort, an dem der Mensch seinerseits in der imitatio göttlicher Güte ‫ חֶ סֶ ד‬üben kann und soll, verstanden werden. Dieser Ort sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Eine Kritik an einem vermeintlich profanen Prinzip der Gegenseitigkeit liegt also

367 368 369 370

Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. Zobel muss sich also fragen lassen, inwiefern die Bewährung der von Gott gewährten Güte in den zwischenmenschlichen Beziehungen den Gegenseitigkeitscharakter des göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬tangiert. Ändert das über die zwischenmenschlichen Beziehungen laufende Gemeinschaftsverhältnis zwischen Gott und Mensch etwas an der Konzeptualisierung von Beziehung als wechselseitiger? Letztendlich versucht Zobel die Quadratur des Kreises: Die Verlagerung der Gegenseitigkeit in die zwischenmenschlichen Beziehungen soll einerseits die Einseitigkeit des göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬und andererseits dessen Gemeinschaftscharakter sichern. 371 U. E. ist auch Gottes vergeltendes Handeln Ausdruck dessen, was Zobel unter dem profanen Prinzip der Gegenseitigkeit versteht.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

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nicht vor. Schon im profanen Bereich ist der Aspekt der Freiwilligkeit und des über das Recht hinausgehenden Besonderen für den ‫חֶ סֶ ד‬-Begriff wesentlich.372 2. Wir haben bereits unter Punkt (1) gesehen, dass der Versuch, eine nicht-normative Gegenseitigkeit zu konstruieren, daran scheitern muss, dass Gegenseitigkeit für Gemeinschaft konstitutiv und normativ ist. Die Gegenüberstellung einer normativen und einer nicht-normativen Gegenseitigkeit ist deshalb nicht möglich. Dies wird durch die Ergebnisse der vorangehenden Abschnitte dieses Kapitels bestätigt: Dort wurde aufgezeigt, dass der besondere Charakter von ‫ חֶ סֶ ד‬in der Spannung zwischen Freiwilligkeit und Normativität besteht, auch wenn diese Normativität über die rechtliche Ebene hinausgeht. ‫ חֶ סֶ ד‬ist gerichtlich nicht einklagbar und gleichwohl als das, was Gemeinschaft zur Gemeinschaft macht, konstitutiv. Dass auch Zobel nicht darum herumkommt, die Normativität der Güte Gottes anzuerkennen, zeigt sich in seiner Annahme, dass das profane Prinzip der Gegenseitigkeit „bei der Übertragung auf JHWH offensichtlich in den Hintergrund gedrängt [wird]“373, was einen Gegenseitigkeitscharakter der göttlichen Güte nicht grundsätzlich bestreitet. Die Differenz zwischen göttlicher und zwischenmenschlicher Güte ist offensichtlich auch für Zobel keine grundsätzliche, sondern eine nur relative. So findet sich nach Zobel auch im profanen Gebrauch das Moment der Barmherzigkeit,374 im theologischen – wie wir eben gesehen haben – das Moment der (von Zobel nicht so genannten) Gegenseitigkeit. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass unter der Voraussetzung einer qualitativen Differenz zwischen göttlichem und zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬dazu tendiert wird, die diesem Begriff innewohnende Spannung und Polarität zwischen Freiwilligkeit und Normativität einseitig aufzulösen. Eben diese Spannung beugt aber dem vermeintlichen Defizit der „Starrheit“ vor, das, wie Zobel moniert, aufgrund des Prinzips der Gegenseitigkeit zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬stets anhafte.375 Wie hingegen unsere Ausführungen nahelegen, wird die Lebendigkeit von Beziehung auch im zwischenmenschlichen Bereich durch die auf Gegenseitigkeit zielende Freiwilligkeit und nicht durch Einseitigkeit, die von einem religiösen Verständnis dann auch auf zwischenmenschliche Beziehungen zu übertragen wäre, sichergestellt. Gerade die Annahme der Einseitigkeit des ‫ חֶ סֶ ד‬würde das Konstrukt starrer, nicht-dynamischer und unlebendiger Beziehungen nach sich ziehen.376 Die auf Gegenseitigkeit zielende Freiwilligkeit der Güte hingegen kennzeichnet die Beziehung als lebendige. Dass zeigt sich auch daran, dass sie immer auch mit dem Risiko des Scheiterns verbunden ist. Der Freiwilligkeit entspricht als Kehrseite derselben Medaille die Möglichkeit, dass Güte nicht erwidert wird. Es verwundert 372 373 374 375 376

Vgl. Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit, 267. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. Vgl. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. Zobel, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥӕsӕḏ, 70. Zobel schüttet das Kind mit dem Bade aus. Er betont die Freiwilligkeit auf Kosten der Gegenseitigkeit und landet so (bestenfalls) bei einer einseitigen Beziehung, die genauso starr ist wie eine Beziehung, die einzig durch Akte gegenseitiger Verpflichtung gekennzeichnet ist.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

deshalb nicht, dass ‫ חֶ סֶ ד‬oft zusammen mit ‫ אֱמֶ ת‬genannt wird: „Im Wortpaar ḥäsäd wä‘ämät wird die weitere Wirkung von ḥäsäd gegen alle Möglichkeiten des Schwindens abgesichert“377. U. E. zeigt die Notwendigkeit der Absicherung der Güte durch die Versicherung der Treue auf ihre Weise, dass die ‫חֶ סֶ ד‬-Gegenseitigkeit eine lebendige ist und zwar durchaus auch im zwischenmenschlichen Bereich. Wir erinnern nur an die Zusage der Kundschafter gegenüber Rahab, ihr und ihrer Familie Güte und Treue im Falle der Eroberung der Stadt zu erweisen (Jos 2,14), bzw. an Rahabs Verpflichtung der Kundschafter auf Güte und Treue (Jos 2,14 LXX).378 Beziehung ist nach alttestamentlichem Verständnis nichts Statisches: Sie realisiert sich in immer neuen und konkreten Erfahrungen wechselseitiger Güte und ist deshalb auf Treue angewiesen. Treue markiert die durch die Wechselseitigkeit der Güte charakterisierte Beziehung als lebendige und damit auch anfällige und fragile.379 Im Blick auf den Reziprozitätscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬impliziert das, dass es keine Differenz zwischen göttlich gewährter und zwischenmenschlich zu gewährender Güte gibt. Beide zielen auf freiwillige, ungeschuldete Gegenseitigkeit. Angesichts der hier aufgezeigten logischen Widersprüche, in die sich Zobel in seiner Argumentation verstrickt, schlagen wir vor, die Differenz zwischen göttlichem und zwischenmenschlichem ‫ חֶ סֶ ד‬darin zu sehen, dass der Mensch den göttlichen ‫ חֶ סֶ ד‬nur mittelbar, nämlich in der Beziehung zu seinem Mitmenschen erwidern kann und soll. Der Charakter von ‫ חֶ סֶ ד‬als etwas, das auf nicht-rechtlicher Ebene normativ ist, ist in beiden Fällen identisch. Wenn also das Alte Testament von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht davon spricht, dass der Mensch Gott gegenüber ‫ חֶ סֶ ד‬übt, dann liegt das nicht darin begründet, dass göttliche Güte weniger als menschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬auf Gegenseitigkeit zielen würde. Nochmals: Es geht nicht um den Gegenseitigkeitscharakter, sondern um den Ort, an dem ‫ חֶ סֶ ד‬geübt werden soll. Das in sich nicht stimmige Konstrukt einer Gegenseitigkeit in der Gott-Mensch-Beziehung, die einerseits einseitig ist und dann doch auf eine Antwort zielt, kann also fallen gelassen werden. ‫ חֶ סֶ ד‬bezeichnet sowohl im Blick auf die Gott-Mensch-Beziehung als auch im Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen eine Gegenseitigkeit, die auf nicht-rechtlicher Ebene normativ ist, die der Mensch aber in der Begegnung mit dem Mitmenschen zu konkretisieren hat. Es ergibt sich folgendes Bild: Von niemandem wird der Gemeinschaftscharakter der Gott-Mensch-Beziehung grundsätzlich bestritten: Dass der Mensch auf ein vorgängiges, gnädiges Handeln Gottes mit Gehorsam reagieren soll und so seinerseits Beziehung gestaltet, wird von allen Exegeten in der einen oder anderen Weise 377 Kellenberger, Glaubenserfahrung, 80. 378 Zur Verbindung von ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ אֱמֶ ת‬in zwischenmenschlichen Beziehungen vgl. z. B. Gen 24,49; 47,29; 2. Sam 15,20; Prov 16,6; 20,6. Kellenberger verortet die Rede von der Güte bzw. von der Güte und Treue im Kontext von Bitte und Erwartung (vgl. Kellenberger, Glaubenserfahrung, 57–61). Für uns ist das insofern relevant, als auch die Bitte um Güte und Treue sowohl den Gemeinschaftscharakter als auch die Lebendigkeit der Beziehung offen zu Tage treten lässt: Güte und Treue kann erbeten und erwartet, aber nicht eingeklagt werden. 379 Volz, für den Beziehungshandeln wesentlich Gabehandeln ist, spricht von der „Riskiertheit des Gabehandelns“ (Gestaltung wechselseitiger Angewiesenheit, 13).

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

129

vorausgesetzt.380 Auch die enge Verbindung von Gottesliebe und Menschenliebe kann betont und mit der Vorstellung verbunden werden, dass in der Menschenliebe die Gottesliebe zum Ausdruck kommt.381 Eine größere Problematik wird hierbei nicht empfunden. Andererseits jedoch findet sich die Auffassung, dass der Mensch die Güte Gottes seinerseits nicht mit Gott geltendem ‫ חֶ סֶ ד‬erwidern kann (Jepsen, Zobel, Hill). Sie hat die relative Seltenheit der Rede eines menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises Gott gegenüber auf ihrer Seite. Allerdings sind die Ausnahmen wie Hos 6,6 ernst zu nehmen. Dass an dieser und wenigen weiteren Stellen (Jes 40,6; Jer 2,2; Hos 4,1; 6,4; 10,12; 12,7; Mi 6,8; Sach 7,9) die Bezeichnung des menschlichen Gehorsams gegenüber Gott als ‫ חֶ סֶ ד‬den alttestamentlichen Autoren nicht leicht über die Lippen kommt, könnte seinen Grund darin haben, dass die Differenz zwischen Gott und Mensch, dem Ebenbild Gottes, unter allen Umständen gewahrt werden soll. Das geschieht eben dadurch, dass der Mensch in den zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht aber Gott selbst gegenüber ‫ חֶ סֶ ד‬übt. Gleichzeitig aber steht die Gewährung zwischenmenschlicher Güte, durch die der Mensch Gott selbst nachahmt, in engstem Zusammenhang mit der Gottesbeziehung des Menschen. Die imitatio Dei ist für die Gottesbeziehung essenziell.382 Auch hier finden wir also eine Spannung: Einerseits zeigt sich die Gottesliebe in der Nachahmung der göttlichen Güte, andererseits aber wird die Aussage vermieden, dass diese Gott selbst gilt. In eine solche Richtung aber weist die Rezeption der Aussage: ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν (Hos 6,6), in Mt 9,13 und Mt 12,7. Im Rekurs auf diese Aussage profiliert der Verfasser des Matthäusevangeliums die zwischenmenschlichen Beziehungen zum vornehmsten Ort der Gottesgegenwart. Hos 6,6 bereitet somit als eine Spitzenaussage der Heiligen Schriften Israels das Verständnis des Evangelisten vor, dass im Bruder bzw. der Schwester der wiederkehrende Menschensohn begegnet (vgl. Mt 25,31–46), was allerdings erst in der Retrospektive deutlich wird. 380 Kosman hält zum Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬fest: „Ḥesed is the expression of the mutual connection between a steadfast and trustworthy God and those benefitting from this God’s kindness. This connection is at times directly announced and predicated upon the assumption that God is always steadfast, responsible, reliable, and unceasing in ḥesed … Expected responses to such assurances of divine ḥesed include expressions of thanks … in worship, doxology, and confessions of faith“ (Art. Ḥesed I. Hebrew Bible/Old Testament, Sp. 963). Dieses Zitat macht wiederum deutlich, dass Gegenseitigkeit für ‫ חֶ סֶ ד‬wesentlich ist. 381 Vgl. u. a. Sakenfeld, The Meaning of Hesed, 181; Glueck, Das Wort ḥesed, 21. Beide Exegeten betonen die religiöse Dimension zwischenmenschlicher Güte im Kontext ihrer Interpretation der ‫חֶ סֶ ד‬-Stellen des Hoseabuchs. 382 Zu kurz greift u. E. auch die Unterscheidung zwischen einer Verantwortlichkeit Gott „gegenüber“ („to him“) und einer Verantwortlichkeit „für Gott“ („for him“), die von Sakenfeld bemüht wird, um deutlich zu machen, dass JHWH allmächtig ist und keiner Zuwendung bedarf. In diesem Sinne bemerkt Sakenfeld in ihrer Interpretation von Hos 6,6: „With respect to God, it is clear that Israel has a responsibility, but it is to him, not for him. Since God is understood as all-powerful and self-sufficient, Israel’s ḥesed obviously cannot be an action of the powerful for the weak, an action of deliverance or rescue or protection“ (The Meaning of Hesed, 173f.). So offensichtlich ist das nicht. Die Annahme einer Verantwortung Gott gegenüber wird der persönlichen Betroffenheit Gottes, die im Hoseabuch eine herausragende Rolle spielt (vgl. nur Hos 11,8), nicht gerecht.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Zur unmittelbaren Gottesbegegnung kommt es auch für den Verfasser des Matthäusevangeliums nicht. All dies wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit zu zeigen sein.

1.2.2.2.5 Zusammenfassung: Zwischen Freiwilligkeit und Normativität. Ungeschuldete Gegenseitigkeit in der Gott-Mensch-Beziehung und in den zwischenmenschlichen Beziehungen Als Ergebnis unserer Untersuchung zum ‫חֶ סֶ ד‬-Begriff im Alten Testament können wir festhalten, dass der Begriff eine Zuwendung Gottes zu den Menschen bzw. von Mensch zu Mitmensch beschreibt, die zwischen Freiwilligkeit und Normativität anzusiedeln ist: So handelt es sich beim ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis um einen freiwilligen Akt, der als solcher auf Gegenseitigkeit zielt. Diese Gegenseitigkeit aber ist anders als die Rechtsvorschriften der Tora (‫ ) ִמ ְשׁפּ ִָטים‬nicht justitiabel. Auch die Erwiderung eines ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises geht über die Ebene des Rechts hinaus und basiert auf Freiwilligkeit. Gemeinschaft wird immer wieder durch freiwillige und gegenseitige Akte der Güte gestaltet und ist auf diese angewiesen. Die beiden genannten, in Spannung zueinanderstehenden und sich komplementär ergänzenden Seiten von ‫ חֶ סֶ ד‬machen u. E. einen guten Teil der Lebendigkeit, gleichzeitig aber der Anfälligkeit von Beziehung aus. Gemeinschaft ist immer wieder ein Wagnis. Die Erwiderung einer ‫חֶ סֶ ד‬-Tat kann immer nur erhofft oder erbeten, nie aber erzwungen werden.383 Wäre ‫ חֶ סֶ ד‬justitiabel, fiele die für ‫ חֶ סֶ ד‬entscheidende Dimension der Freiwilligkeit und Spontaneität weg, verzichtete Güte auf Gegenseitigkeit, stünde der Beziehungscharakter grundsätzlich in Frage. Die Spannung zwischen Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit muss also unter allen Umständen gewahrt, die beiden Pole dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wie wir gesehen haben, kranken nicht wenige der in diesem Abschnitt vorgestellten und diskutierten Definitionen von ‫ חֶ סֶ ד‬häufig daran, dass sie auf die eine oder andere Weise versuchen, die Freiwilligkeit gegen den Reziprozitätscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬auszuspielen und so die Spannung zwischen den beiden Polen aufzulösen. Damit aber fällt das, was nach alttestamentlichem Verständnis Güte als hervorragendstes Merkmal der Gott-Mensch-Beziehung und zwischenmenschlicher Beziehungen ausmacht, in sich zusammen. Nochmals: Beziehungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch freiwillige und ungeschuldete Akte gegenseitiger Güte geprägt sind. Darüber hinaus haben wir in diesem Abschnitt gesehen, dass das Alte Testament nur in Ausnahmefällen von einem ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis des Menschen gegenüber Gott spricht (z. B. Hos 6,6), dafür aber die Gewährung zwischenmenschlicher Güte mit JHWH verbindet: Gott wacht über den Gegenseitigkeitscharakter zwischenmenschlich erwiesener Güte. Zwischenmenschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬ist für die Gottesbeziehung transparent. Das Schweigen bezüglich eines menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises Gott 383 Es ist deshalb kein Zufall, wenn ‫ חֶ סֶ ד‬oft in Verbindung mit ‫ אֱמֶ ת‬genannt wird (vgl. die in Anm. 378 aufgeführten Stellenangaben). Die Zusage der Treue kennzeichnet eine durch ‫ חֶ סֶ ד‬gestaltete Beziehung als auf Treue angewiesen und damit als anfällig.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

131

gegenüber ist nicht im Sinne einer Kritik am Gegenseitigkeitscharakter profaner Güte, sondern als Aussage über den Ort, an dem der göttliche ‫ חֶ סֶ ד‬erwiesen werden soll, zu verstehen. Es markiert die Differenz zwischen Gott und Mensch. Der Mensch erwidert die göttliche Güte, indem er diese in der Beziehung zu seinem Nächsten nachahmt (imitatio Dei). Die Bedeutung der Güte für zwischenmenschliche Beziehungen dürfte damit zusammenhängen, dass ‫ חֶ סֶ ד‬ein, wenn nicht das hervorragende Merkmal der Zuwendung JHWHs zu Israel und seiner Schöpfung darstellt. Wir werden darauf im nächsten Abschnitt bei der Besprechung der sogenannten Gnadenformel zurückkommen.384 Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung: Wir haben gesehen, dass die Gewährung von ‫חֶ סֶ ד‬, gerade weil sie auf Freiwilligkeit beruht, nicht justitiabel ist. Dem widersprechen die soeben gemachten Aussagen darüber, dass zwischenmenschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬dem göttlichen Vergeltungshandeln untersteht, nicht. Maßstab der Vergeltung ist nämlich die über das Recht hinausgehende Güte, nicht das Recht. Und dieser Maßstab wiederum basiert auf keinem Rechtsprinzip, sondern hat im Handeln Gottes an seinen Geschöpfen seinen Ursprung. Darum ist JHWH derjenige, der über die Gegenseitigkeit zwischenmenschlicher Güte richtet, und dieses Richten von innerweltlicher Gerichtsbarkeit zu unterscheiden: Die Nachahmung Gottes ist innerweltlich nicht justitiabel. In der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) kommt das Verständnis des Königs als Metapher für Gott auch darin zum Ausdruck, dass die Mitknechte sich an ihren Herrn als Richter wenden (V. 31). Auch hier ist die Differenz zwischen innerweltlicher Justitiabilität und Gott als Richter vorausgesetzt. Damit sind wir bereits bei den Gemeinsamkeiten und Unterschieden des alttestamentlichen und des matthäischen Verständnisses von ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος, die es im Folgenden aufzuzeigen gilt.

1.2.2.2.6 Gemeinsamkeiten und Unterschiede des alttestamentlichen und matthäischen Verständnisses von ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος Wenden wir nun unsere Ergebnisse auf das Verständnis der Parabel vom unbarmherzigen Knecht an: Wir haben in unserem Durchgang durch die einschlägigen Lexika und Untersuchungen zur Bedeutung von ‫ חֶ סֶ ד‬gesehen, dass ‫ חֶ סֶ ד‬in inhaltlicher Hinsicht eine Handlung charakterisiert, die über das Selbstverständliche hinausgeht und somit auf einer rechtlichen Ebene nicht justitiabel ist, und dass der Erweis von ‫ חֶ סֶ ד‬zur Erwiderung der Güte verpflichtet. Dieser im wahrsten Sinne des Wortes paradoxe Charakter von ‫ חֶ סֶ ד‬zeigt sich auch in der Parabel. So disqualifiziert nach einhelliger Auffassung der Exegetinnen und Exegeten erst der in der ersten Szene als Akt der Güte verstandene Schuldenerlass das in der zweiten Szene dargestellte Verhalten des unbarmherzigen Knechtes gegenüber seinem Mitknecht. Die rechtlich nicht einklagbare Gewährung des Schuldenerlasses seitens des Königs setzt ihrerseits die (ebenfalls rechtlich nicht einklagbare) Forderung 384 Siehe Punkt 1.3.

132

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

eines Entsprechungshandelns frei. Semantisch ist ἔλεος wie sein hebräisches Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬durch die Polarität einer über das Recht hinausgehenden, nicht justitiablen Freiwilligkeit und einer normativen Gegenseitigkeit geprägt, die, an Gott selbst maßnehmend, allein dem Vergeltungshandeln Gottes untersteht. Im Blick auf die Diskussionen um ein angemessenes Verständnis der Parabel ist die dem Stamm ἔλε- innewohnende Dimension der Gegenseitigkeit höchst aufschlussreich: Wie wir gesehen haben, ringt die neutestamentliche Wissenschaft mit dem Verhalten des Königs in der dritten Szene der Parabel: Unterwandert er durch die Bestrafung des unbarmherzigen Knechts (Mt 18,34) nicht die Forderung nach unendlicher Vergebung (Mt 18,22)? Das wäre u. E. nur dann der Fall, wenn Vergebung als einseitiges Geschehen zu verstehen wäre, das unabhängig vom nachfolgenden Verhalten desjenigen erfolgt, dem Vergebung gewährt wird. So aber wollen weder der ursprüngliche Erzähler der Parabel noch der Verfasser des Matthäusevangeliums Vergebung verstanden wissen: Vergebung wird nicht bedingungslos gewährt, sondern impliziert als freiwilliger Akt der Güte die Erwartung einer sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen realisierenden Gegenseitigkeit. So wie Gott dem Menschen freiwillig vergibt, soll auch der Mensch seinen Mitmenschen aus freien Stücken Güte darin gewähren, dass er – über das Recht hinausgehend – auf dieses Recht verzichtet und ihnen ihre (Sünden-)Schuld erlässt. Wie eingangs bereits betont, ist deshalb das Verhalten des Königs in der dritten Szene geradezu erwartbar. Entgegen einer Logik, die Barmherzigkeit als einseitiges Geschehen versteht, würde für den antiken Leser das Fehlen von V. 34 das Problem aufwerfen, dass fehlende Gegenseitigkeit Beziehungslosigkeit impliziert. Problematisch wäre hier also nicht so sehr die Ungerechtigkeit eines ungestraft davonkommenden unbarmherzigen Knechts – das auch, sondern vor allem die Einseitigkeit der Gott-Mensch-Beziehung. Der häufig gemachten Beobachtung, dass sich die Bedeutung von ‫ חֶ סֶ ד‬in nachexilischer Zeit immer mehr dem semantischen Gehalt von ‫ ַרח ֲִמים‬annähert und dabei der Gegenseitigkeitscharakter des ‫ חֶ סֶ ד‬verloren geht,385 steht das ἔλεος-Verständnis der Parabel vom unbarmherzigen Knecht entgegen.386 Nichts in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht ist eindeutiger als der Gegenseitigkeitscharakter der Güte. Der göttliche ‫ חֶ סֶ ד‬muss mit göttlicher Notwendigkeit erwidert werden: „Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“ (Mt 18,33) Auch eine Unterscheidung zwischen religiösem und profanem Gebrauch, wie er im Blick auf den Gegenseitigkeitscharakter von ‫ חֶ סֶ ד‬in Anschlag gebracht worden ist, findet sich also im Matthäusevangelium nicht. Von hier aus wären Anfragen an diejenigen Interpretationen des ‫חֶ סֶ ד‬-Be-

385 Vgl. Johnson, Ḥesed and Ḥāsȋd, 101; Joosten, ‫חסד‬, 99; vgl. auch Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II. Altes Testament, Sp. 1025. 386 Damit ist natürlich nichts über die Richtigkeit oder Falschheit der gemachten Beobachtung ausgesagt.

1.2 Polarität und Komplementarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit

133

griffs zu stellen, die dem Gegenseitigkeitscharakter zwischenmenschlich erwiesenen ‫ חֶ סֶ ד‬die Einseitigkeit des göttlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises gegenüberstellen (so insbesondere Zobel). Dem alttestamentlichen und dem matthäischen Verständnis von ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος ist darüber hinaus gemein, dass Güte sowohl das Gott-Mensch-Verhältnis als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen in besonderer Weise qualifiziert: So beschreibt ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος einerseits die Zuwendung Gottes zum Menschen, andererseits ist es für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen wesentlich. Auch zwischen den Verknüpfungen beider Dimensionen menschlicher Beziehungen gibt es grundlegende Gemeinsamkeiten. So ist der Parabel vom unbarmherzigen Knecht zufolge die Beziehung zum Bruder bzw. zur Schwester der hervorragende Ort, an dem der Mensch die ihm zugeeignete Güte Gottes weitergeben kann und soll. Der Mensch, der von Gottes Güte lebt, soll diese Güte in seinen sozialen Beziehungen nachahmen. Maßstab zwischenmenschlicher Beziehungen ist die über das Recht hinausgehende Güte. Im Blick auf die Unterschiede sind vor allem zwei Aspekte zu benennen. Im Alten Testament konkretisiert sich ‫ חֶ סֶ ד‬ausschließlich innerhalb der Gott-Mensch-Beziehung in der Sündenvergebung. ‫ חֶ סֶ ד‬als zwischenmenschliche Sündenvergebung hingegen findet sich im Alten Testament nicht. Das ist in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht anders: Hier wird die Sündenvergebung von Gott auf die Gemeindeglieder übertragen. Diese sollen in der gegenseitig gewährten Sündenvergebung das sündenvergebende Handeln Gottes nachahmen (vgl. auch Mt 9,9–13; 26,28). Sündenvergebung ist als hervorragende Konkretion von ‫ חֶ סֶ ד‬nicht nur eine Verhaltensweise Gottes, sondern gleichsam entscheidendes Merkmal der Gemeinde. Damit verbunden ist ein zweiter Aspekt: Im Alten Testament gibt es – von wenigen Stellen abgesehen, keine so explizite Verschränkung der Gott-Mensch-Beziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, wie sie in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) vorliegt. Eine Ausnahme bildet hier das Hoseabuch, in dem die zwischenmenschlichen Beziehungen für die Gottesbeziehung des Menschen transparent sind. Insbesondere Hos 6,6 kommt dabei besondere Bedeutung zu, wenn hier – wovon wir ausgehen – von einem ‫חֶ סֶ ד‬Erweis des Menschen gegenüber Gott die Rede sein sollte.387 Der Verfasser des Matthäusevangeliums spitzt die Aussage: „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“, noch zu: So ist der zwischenmenschlich gewährte ‫ חֶ סֶ ד‬nicht nur für die Gottesbeziehung transparent, sondern er soll so geübt werden, als gälte er Gott selbst. Die Nächstenliebe wird zum hervorragendsten Ort der Gottesgegenwart. Wir werden dieses Verständnis von Hos 6,6 im folgenden Kapitel ausführlich begründen. Entscheidend bleibt an dieser Stelle, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums mit Hos 6,6 nicht einfach eine beliebige des Alten Testaments wählt, an der der Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬vorkommt, sondern eine der wenigen Stellen, an denen der Mensch Gott ‫ חֶ סֶ ד‬gewährt. 387 Als weitere Stellen kommen Jes 40,6; Jer 2,2; Hos 4,1; 6,4; 10,12; 12,7; Mi 6,8; Sach 7,9 in Betracht.

134

1.3

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht und die alttestamentliche „Gnadenformel“ (Ex 34,6)

In der neutestamentlichen Forschung besteht dahingehend ein weitreichender Konsens, dass das Matthäusevangelium das jüdischste der synoptischen Evangelien ist.388 So bettet bereits der das Evangelium eröffnende Stammbaum die Geschichte des Messias Jesus (Mt 1,1.16.17.18) respektive des Sohnes Davids (Mt 1,1.20) in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel ein (Mt 1,1–17). In der unmittelbar an den Stammbaum anschließenden Geburtsgeschichte (Mt 1,18–25) findet sich das erste der für das Matthäusevangelium charakteristischen Erfüllungszitate aus dem Alten Testament (Mt 1,22f.; 2,15.17f.23; 4,14–16; 8,17; 12,17–21; 13,14f.35; 21,4f.; 27,9). Und wie kein anderes der synoptischen Evangelien wahrt der Verfasser des Matthäusevangeliums die Differenz zwischen dem jüdischen Volk und den Völkern: So zeigt sich zwar im Blick auf die Gesamtkomposition des Evangeliums durch die Erwähnung der vier nichtjüdischen Frauen innerhalb der Genealogie (Tamar [V. 3], Rahab [V. 5], Ruth [V. 5], Frau des Urija [V. 6]) und durch die Anbetung der Weisen aus dem Morgenland (Mt 2,1–12) von Anfang an eine universalistische Tendenz, der irdische Jesus aber wird erst durch die kanaanäische Frau zu der Einsicht gebracht, dass er nicht nur zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt ist (Mt 15,21–28), zu denen allein er seine Schüler ausgesandt hatte (Mt 10,6). Erst als Auferstandener erweist sich der Immanuel Israels (Mt 1,23) als derjenige, der auch den Glaubenden aus den Völkern als „Gott mit uns“ verheißt: „Ich bin mit euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20). U. E. zeigt sich der jüdische Charakter des Matthäusevangeliums auch in der Polarität von Gericht/Zorn und Erbarmen, wie sie die Parabel vom unbarmherzigen Knecht zum Ausdruck bringt. Nicht nur im Blick auf die Parabel, sondern auch im Blick auf das Evangelium als Ganzes, stellt diese Polarität die neutestamentliche Forschung immer wieder vor Probleme. Exemplarisch wurde das bereits daran deutlich, dass um ein angemessenes Verständnis der dritten Szene der Parabel, die vom Zorn des für Gott transparenten Königs und der Überantwortung des unbarmherzigen Knechtes an die Folterknechte berichtet (Mt 18,34), immer wieder gerungen wird: Der Zorn und das damit verbundene Urteil Gottes dürfen theologisch nicht das letzte Wort haben. Gleiches gilt im Blick auf das Matthäusevangelium insgesamt: Dass der Evangelist von einem Gericht „nach Werken“ spricht (Mt 16,27) und sich hinsichtlich der Darstellung der Beziehung zwischen Gott und Mensch ökonomischer Terminologie bedient, macht ihn theologisch verdächtig

388 Vgl. z. B. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community, 1–4; Klaus Wengst betont im Blick auf alle Evangelien, dass sie „von Haus aus jüdische Schriften und keine christlichen [sind]“ (Mirjams Sohn, 630).

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

135

und trägt ihm den Vorwurf ein, hinter die paulinische Rechtfertigungslehre zurückzufallen.389 In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums mit der in der Parabel deutlich zu Tage tretenden Polarität von Zorn und Erbarmen als Verhaltensweisen des einen Gottes in der Tradition der von Hermann Spieckermann sogenannten alttestamentlichen „Gnadenformel“ steht.390 Diese Formel, deren älteste Fassung vermutlich in der Selbstoffenbarung Gottes in Ex 34,6f. vorliegt,391 und die nach Auffassung Spieckermanns so etwas wie das theologische Zentrum des Alten Testaments darstellt,392 findet sich in verschiedenen Variationen und unterschiedlichen Akzentsetzungen in allen Bereichen des Alten Testaments sowie in prophetischen und weisheitlichen Traditionen.393 Die Formel lautet in Ex 34,6f.: „JHWH (ist) JHWH, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an beständiger Güte, wahrend Güte den Tausend(st)en, tragend Schuld, Frevel und Sünde; er läßt aber auch nicht ungestraft, heimsuchend Väter-

389 Vgl. z. B. die in der Einleitung dieser Arbeit skizzierte Position Landmessers, der den Evangelisten dafür kritisiert, dass die Gewährung des Heils an eine Bedingung geknüpft ist, nämlich die, Barmherzigkeit zu üben. Bei Paulus hingegen setze Gott seinen in Jesus Christus offenbarten Heilswillen bedingungslos durch (vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 155 u. ö.). 390 Ähnlich Maschmeier, Justice and Mercy. 391 So z. B. Franz, Gnadenrede, 267; vorsichtiger urteilt Dohmen, Sinaibund, 66 Anm. 41. 392 Vgl. Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“, 18. Eine ebenso einfache wie überzeugende Begründung dafür, dass hier ein grundlegender Text alttestamentlicher Theologie vorliegt, bietet Franz: „Weil Ex 34,6f als Offenbarung des Namens Jhwhs verstanden werden will, gehört es zu den theologisch wichtigsten Stellen des Alten Testaments“ (Barmherzigkeit im Namen Gottes, 78). Diese Einsicht scheint sich mehr und mehr zu verbreiten. So verweist Franz, der im Blick auf Ex 34,6 aufgrund der Neuartigkeit des Gesagten noch nicht von einer Gnadenformel reden will (vgl. ebd., 85), ebenso auf die 2015 in erster Auflage erschienene Theologie des Alten Testaments von Jörg Jeremias, in der Ex 34,6f. „einen der wichtigsten Bezugstexte seines Entwurfs“ darstellt (ebd., 77 Anm. 12; vgl. Jeremias, Theologie, 220f.290–300.308–310), wie auf einen in den Biblischen Notizen veröffentlichen Beitrag von Andreas Michel, der den programmatischen Titel: „Ist mit der ‚Gnadenformel‘ von Ex 34,6(+7?) der Schlüssel zu einer Theologie des Alten Testaments gefunden?“, trägt (vgl. Franz, Barmherzigkeit im Namen Gottes, 76 mit Anm. 10). Michel beantwortet die aufgeworfene Frage tendenziell positiv: „Wenn es so etwas überhaupt gibt, dann ist Ex 34,6–7 (beide Verse!) ein Schlüssel, von dem her sich die Theologie des Alten Testaments erschliessen lässt“ (Schlüssel, 121; zitiert bei Franz, Barmherzigkeit im Namen Gottes, 76 Anm. 10). Auch in der neutestamentlichen Theologie wird die Bedeutung von Ex 34,6 für das alttestamentliche Gottesbild erkannt. Franz verweist auf die Theologie des Neuen Testaments von Ulrich Wilckens, in dessen ersten Teilband des zweiten Bandes, der den Titel „Das Fundament “ trägt, Wilckens auf den S. 95–99 auf diesen Text Bezug nimmt (vgl. Franz, Barmherzigkeit im Namen Gottes, 87 Anm. 48). 393 Als ganze kommt die Formel siebenmal im Alten Testament vor: Ex 34,6; Joel 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8; Neh 9,17. Freie Anspielungen liegen in Ex 20,5f. (= Dtn 5,9); Ex 22,26; 33,19; Num 14,18; Dtn 4,31; 7,9f.; Jes 48,9; 54,7f.; 63,7; Jer 15,15; 30,11; 32,18; Mi 7,18; Nah 1,2f.; Ps 78,38; 86,5; 99,8; 111,4; 116,5; Dan 9,4; Neh 1,5; 9,31; II Chr 30,9 vor. Vgl. auch Sir 2,11.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

schuld an den Kindern und an den Kindeskindern, an der dritten und vierten (Generation)“394. Es geht uns im Folgenden nun nicht darum, eine literarische Abhängigkeit des matthäischen Gottesbildes, wie es die Parabel vom unbarmherzigen Knecht zeichnet, von dieser Formel zu erweisen, wiewohl sich in sprachlicher/lexematischer Hinsicht deutliche Spuren der Gnadenformel in der Parabel finden lassen. Vielmehr sollen die motivgeschichtlichen Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden, deren kleinster gemeinsamer Nenner die Polarität der Güte und des Zorns Gottes ist. Im Blick auf diese Polarität, die sich auf ihre Weise auch in der erst später greifbaren rabbinischen Vorstellung der sogenannten Middot Gottes (Handlungsweisen Gottes) wiederfindet, zeigt sich eine große Nähe des Verfassers des Matthäusevangeliums zu dem in der Entstehung begriffenen rabbinischen Judentum. Zum Vorgehen: In einem ersten Abschnitt gilt es, die sprachlichen/lexematischen Gemeinsamkeiten zwischen der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) und der Gnadenformel herauszustellen (1.3.1). Es wird sich zeigen, dass die Parabel in knapper, narrativer Form die Handlungsweisen Gottes, wie sie die Gnadenformel auf den Punkt bringt, auf ihre Weise entfaltet. In einem zweiten Abschnitt soll gezeigt werden, dass die Polarität von Güte und Zorn die alttestamentliche Exegese vor vergleichbare theologische Probleme stellt wie das in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht berichtete Strafhandeln Gottes die neutestamentliche Exegese (1.3.2). So wird zwar in der jüngeren Vergangenheit betont, dass die Verlegenheit bei der Rede vom Zorn Gottes überwunden werden muss,395 nur wird mit dieser richtigen Einsicht u. E. nicht wirklich ernst gemacht: Als eigenständige, auf die Liebe bezogene, aber von ihr unabhängige Größe wird der Zorn nicht in den Blick genommen. Das gängige Muster, die in der Gnadenformel vorliegende Asymmetrie zwischen Güte und Zorn im Sinne einer Aufhebung ihrer Polarität zu interpretieren, domestiziert den Zorn und macht ihn zur Durchgangsstation auf dem Weg zur Liebe. Der aus der Perspektive der Liebe bereits immer schon überwundene Zorn stellt letztendlich keine reale Handlungsmöglichkeit Gottes mehr dar.

394 Übersetzung Scoralick, Gottes Güte, 1. 395 Für Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, 150, geht mit der Verdrängung des Zorns aus dem Gottesbild eine „Banalisierung der Gottesrede“ einher. Für unsere Fragestellung ist die Habilitationsschrift der Tübinger Alttestamentlerin Ruth Scoralick aus dem Jahre 2001 von Bedeutung, die den Titel „Gottes Güte und Gottes Zorn“ trägt. In ihrer Studie untersucht Scoralick die intertextuellen Beziehungen der in Ex 34,6f. vorliegenden Gnadenformel zum Zwölfprophetenbuch. Von Bedeutung ist diese Arbeit deshalb, weil sie u. a. zeigt, dass der Zorn Gottes unabhängig davon, wie sein Verhältnis zur Barmherzigkeit genau zu bestimmen ist, ein grundlegender Bestandteil der Selbstoffenbarung Gottes ist.

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

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1.3.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Parabel und der alttestamentlichen Gnadenformel In diesem Abschnitt sollen die lexematischen/sprachlichen Gemeinsamkeiten zwischen der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) und der alttestamentlichen Gnadenformel in den Blick genommen werden. Dabei werden die Gnadenformel (Ex 34,6) und ihre Weiterführung in V. 7 getrennt voneinander betrachtet.

1.3.1.1 Sprachliche Gemeinsamkeiten Wir werden im Folgenden die sprachlichen und lexematischen Gemeinsamkeiten zwischen der Parabel vom unbarmherzigen Knecht und der alttestamentlichen Gnadenformel am Text der Septuaginta herausarbeiten, dabei aber immer auch die masoretische Version der Gnadenformel im Blick behalten. In der LXX-Fassung lautet die Gnadenformel, wie sie sich in Ex 34,6f. findet, folgendermaßen: „καὶ παρῆλθεν κύριος πρὸ προσώπου αὐτοῦ καὶ ἐκάλεσεν κύριος ὁ θεὸς οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων μακρόθυμος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινὸς (7) καὶ δικαιοσύνην διατηρῶν καὶ ποιῶν ἔλεος εἰς χιλιάδας ἀφαιρῶν ἀνομίας καὶ ἀδικίας καὶ ἁμαρτίας καὶ οὐ καθαριεῖ τὸν ἔνοχον ἐπάγων ἀνομίας πατέρων ἐπὶ τέκνα καὶ ἐπὶ τέκνα τέκνων ἐπὶ τρίτην καὶ τετάρτην γενεάν“. Richten wir den Blick zuerst auf die Gnadenformel in V. 6, ohne dabei deren Fortführung in V. 7 zu berücksichtigen: Sie besteht aus zwei Partizipien, οἰκτίρμων und ἐλεήμων, die die hebräische Wendung ‫ַרחוּם וְ חַ נּוּן‬ wiedergeben, und drei Adjektiven: μακρόθυμος, πολυέλεος und ἀληθινóς. Zwei Lexeme der hier aufgezählten „Eigenschaften“ Gottes finden sich auch in der Parabel. So charakterisiert der König mit der Frage, die er dem unbarmherzigen Knecht in V. 33 stellt, den Schuldenerlass als gütiges Handeln: „Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“ Die konjugierte Form des Verbs ἐλεέω spiegelt die „Wesenseigenschaften“ ἐλεήμων und πολυέλεος der Gnadenformel wider. Darüber hinaus findet sich interessanterweise auch das Adjektiv μακρόθυμος in der Parabel. So bitten sowohl der unbarmherzige Knecht als auch sein Mitknecht den König respektive den Knecht um Langmut (V. 26/V. 29): „Habe Geduld mit mir und ich werde dir (alles: V. 26) zurückzahlen.“ Dass hier eine Anspielung auf den Langmut Gottes, der fester Bestandteil der Gnadenformel ist, vorliegt, halten wir mit Baltes für sehr wahrscheinlich.396 Wird ferner berücksichtigt, dass die Autoren des Neuen Testaments Derivate des Verbs οἰκτίρω dem Sprachgebrauch der Testamente der zwölf Patriarchen folgend mit einer Form des Verbs 396 Vgl. Baltes, Hebräisches Evangelium, 457. Vorsichtiger urteilt Nolland, Matthew, 757 Anm. 129. Seeanner, Barmherzigkeit, 218–223, geht im Kontext seiner Interpretation der Langsamkeit zum Zorn auf die Parallelen zwischen der Gnadenformel und der Parabel ein und betont hier vor allem den Zusammenhang zwischen Sündenvergebung und Langmut.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

σπλαγχνίζομαι wiedergeben,397 dann entfaltet die Parabel sogar vier der fünf Wesenseigenschaften/Handlungsweisen der Gnadenformel narrativ: LXX Ex 34,6

NA Mt 18,23–35

οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων

Σπλαγχνισθείς (V.27) als Synonym für οἰκτίρμων und ἐλεῆσαι/ἠλέησα (V. 33)

μακρόθυμος

μακροθύμησον ἐπ᾽ ἐμοι (V. 26.29)

πολυέλεος

ἐλεῆσαι/ἠλέησα (V. 33). Die Größe der Güte wird in der 1. Szene insbesondere durch die Höhe der erlassenen Schuldsumme (10.000 Talente) narrativ entfaltet

ἀληθινός

Inhaltlich wird der Wesenszug der Treue in der Forderung Jesu nach unbegrenzter Vergebungsbereitschaft (18,22) greifbar

Wie die Tabelle deutlich macht, fehlt einzig die Charakterisierung des Verhaltens des Königs/Gottes als „treu“ bzw. „wahrhaftig“, wobei der Aspekt der Treue in der Vorschaltung zur Parabel, der Frage Petri, wie oft er seinem Bruder vergeben müsse, und der Antwort Jesu, er müsse ihm unendlich oft vergeben (Mt 18,21–22), greifbar wird. Dass das Partizip σπλαγχνισθείς in der Parabel eine „Eigenschaft“ Gottes bezeichnet, wird durch die Beobachtung Kösters bestätigt, dass „es außerhalb der ursprünglichen Gleichnisse Jesu keine einzige Stelle [gibt], an der das Wort menschliches Verhalten charakterisiert. Immer wird es auf Jesu Verhalten angewendet und charakterisiert die Göttlichkeit seines Tuns“398. Dieser Sachverhalt macht es sehr wahrscheinlich, dass die menschlichen Charaktere in den Gleichnissen, die als mitleidend/barmherzig beschrieben werden, in erster Linie für Gott stehen und die Charakterisierung als mitleidend eine Eigenschaft Gottes im Blick hat. Bevor im Folgenden untersucht wird, wie die Parabel die Wesenseigenschaften/Handlungsweisen Gottes konkret entfaltet, muss auch die Fortführung der Gnadenformel berücksichtigt werden, die eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit zwischen der Parabel und ihr offen zu Tage treten lässt.

397 Vgl. Köster, Art. σπλάγχνον κτλ., 552.553. 398 Köster, Art. σπλάγχνον κτλ., 553.

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

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1.3.1.2 Sprachliche Gemeinsamkeiten zwischen der Parabel und der Fortführung der Gnadenformel (Ex 34,7) Im unmittelbaren Anschluss an die Gnadenformel greift Ex 34,7 LXX mit der Formulierung ποιῶν ἔλεος das Partizip ἐλεήμων und das Adjektiv πολυέλεος aus V. 6 auf. In ihrer griechischen Fassung also wird in der Gnadenformel samt ihrer Fortsetzung in V. 7 das Wesen Gottes dreimal mit Formen des ἔλε-Stamms umschrieben. Diese Dominanz der Güte konkretisiert sich in der Aufhebung der „Gesetzlosigkeiten, Ungerechtigkeiten und Sünden“ (ἀφαιρῶν ἀνομίας καὶ ἀδικίας καὶ ἁμαρτίας). Mose greift diesen Aspekt der Gnadenformel in V. 9 auf und bittet JHWH um die Aufhebung der Sünden und Ungesetzlichkeiten des Volkes. Auch wenn der Verfasser des Matthäusevangeliums an der Stelle des Verbes ἀφαιρéω das verwandte ἀφίημι verwendet (vgl. Num 14,18.19 LXX), so lässt sich hier doch eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit zur Parabel vom unbarmherzigen Knecht ausmachen: Die Barmherzigkeit Gottes manifestiert und konkretisiert sich in vornehmster Weise in der Sündenaufhebung respektive der Sündenvergebung, die im Matthäusevangelium als Ganzem eine hervorgehobene Rolle spielt. So fungiert das Verb ἀφίημι, das nicht nur die Parabel rahmt (Mt 18,21.35), sondern auch den Schuldenerlass des Königs kennzeichnet (18,27.32), als theologischer Leitterminus, ohne dass das Schulden erlassende bzw. Sünden vergebende Handeln explizit als Akt der Güte charakterisiert werden müsste. Zu erinnern ist hier an das besondere Gewicht, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums auf die Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) legt, indem er sie im unmittelbaren Anschluss an das Gebet als einzige Bitte erneut aufgreift und erläutert (6,14–15). Unter der Voraussetzung, dass das Vaterunser im Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt steht,399 bildet die Bitte um Vergebung der Schulden und die Verknüpfung göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung die Mitte der Mitte der Bergpredigt. Die Bedeutung, die der Vergebung innerhalb des ersten Evangeliums zukommt, zeigt sich auch in der Reaktion der Volksmenge in der matthäischen Version der Erzählung von der „Heilung des Gelähmten“ (Mt 9,2–8): Im Unterschied zu den synoptischen Parallelen preist die Menschenmenge Gott dafür, dass er den Menschen die Macht zur Sündenvergebung gegeben hat (9,8). Während Mt 9,8 allgemein von „den Menschen“ (τοῖς ἀνθρώποις) spricht, denen Gott diese Macht gegeben habe, legt die Parabel vom unbarmherzigen Knecht als Abschluss der Gemeinderegel diese Gabe und Aufgabe in die Hände der Gemeindeglieder. Zwischenmenschliche Vergebung, die die göttliche Vergebung imitiert, ist der entscheidende identity marker der Gemeinde. Die Verbindung von Güte und Vergebung verbindet die Parabel und mit ihr das erste Evangelium mit der alttestamentlichen Gnadenformel.400

399 Dass das Vaterunser im Zentrum der Bergpredigt steht, nimmt z. B. Ulrich Luz, Matthäus Bd. 1, 254–255, an. 400 Die Verschränkung zwischenmenschlicher und göttlicher Vergebung findet sich hingegen im Kontext der Gnadenformel nicht.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit zwischen Parabel und Gnadenformel zeigt sich darin, dass beide die Vorstellung eines gerechten Vergeltungshandeln Gottes im Sinne des Tat-Folge-Zusammenhangs aufrufen. In der Parabel geschieht das u. a. durch die Verwendung des Verbs ἀποδίδωμι. Das Verb kommt hier insgesamt siebenmal vor (Mt 18,25.26.28.29.30.32.34) und kann – wie wir bereits gesehen haben401 – mit seinen insgesamt 18 Belegen als matthäisches „Vorzugswort“402 charakterisiert werden. Bezeichnet es innerhalb der Parabel auf der Bildebene die Rückzahlung der monetären Schuld, so ist auf der Sachebene die Begleichung der Sündenschuld im Blick: Schulden müssen zurückgezahlt bzw. beglichen werden. Subjekt von ἀποδίδωμι ist in der Parabel zwar ausschließlich der Knecht, von der Sache her aber ist die Vorstellung eines vergeltenden Handelns Gottes deutlich erkennbar, auch wenn dieses Handeln anders als in Mt 6,1–18 (und Mt 16,27) eben nicht mit dem Verb ἀποδίδωμι umschrieben wird. Dass der König bzw. Gott vergilt, d. h. entsprechend eines Tat-Folge-Zusammenhangs agiert, zeigt sich sowohl im Entschluss des Königs, den Knecht in die Sklaverei zu verkaufen (V. 25) als auch in seinem richterlichen Handeln in V. 34. In der Anwendung in V. 35 bringt der Verfasser des Matthäusevangeliums den Aspekt eines vergeltenden Handeln Gottes – wiederum ohne sich des Terminus ἀποδίδωμι zu bedienen – sachgemäß und folgerichtig auf den Punkt: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.“ In der Fortführung der Gnadenformel in Ex 34,7 (LXX) findet sich die Vorstellung der gerechten Vergeltung in der Rede von JHWHs nicht aus der Haft entlassendem und Rechenschaft einforderndem Handeln: „… und er wird den Schuldigen nicht freisprechen; er überträgt die Gesetzlosigkeiten der Väter auf die Kinder und Kindeskinder bis in die dritte und vierte Generation.“403 Es wird in beiden Fällen deutlich, dass die Aufhebung/Vergebung der Sünden die Reziprozität göttlichen und menschlichen Handelns nicht prinzipiell in Frage stellt und so nicht einseitig auf Kosten der Gerechtigkeit Gottes geht. Erneut sei daran erinnert, dass die Septuaginta diesen auch den masoretischen Text bestimmenden Aspekt explizit macht, indem sie durch das Einfügen der Wendung „καὶ δικαιοσύνην διατηρῶν“ in V. 7 Gerechtigkeit und Erbarmen (καὶ ποιῶν ἔλεος) nebeneinander nennt. Unabhängig

401 Vgl. hierzu Abschnitt 1.2.2.1. 402 Sand, Art. ἀποδίδωμι, Sp. 307. 403 Übersetzung: Roloff/Weber, in: Septuaginta Deutsch. Dass es in Ex 34,7 um das Zusammenspiel von Vergebung und Vergeltung geht, zeigt die Variante in Num 14,18, wo an die Stelle des Partizips ἐπάγων in der Wendung ἐπάγων ἀνομίας πατέρων ἐπὶ τέκνα das Partizip ἀποδιδούς tritt und im direkten Anschluss an die Gnadenformel JHWH von Mose mit den Worten ἄφες τὴν ἁμαρτίαν τῷ λαῷ τούτῳ κατὰ τὸ μέγα ἔλεός σου um Vergebung gebeten wird. Dabei ersetzt die Form von ἀφίημι in V. 19 das Partizip ἀφαιρῶν, das in der Gnadenformel in V. 18 das Sünden vergebende Handeln Gottes bezeichnet. Dieses Gegenüber und Zusammenspiel von ἀφίημι und ἀποδίδωμι verbindet die Gnadenformel mit der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35).

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

141

von dem jeweils verwendeten Vokabular verbindet das Gegenüber und Zusammenspiel von Vergebung und Vergeltung und Barmherzigkeit und Gerechtigkeit die Parabel mit der Gnadenformel.404

1.3.1.3 Inhaltliche Gemeinsamkeiten Wie nun entfaltet die Parabel die „Eigenschaften“ Gottes konkret? Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage muss berücksichtigt werden, dass im Alten Testament die Gnadenformel auch in Teilformulierungen verwendet wird und die verschiedenen Eigenschaften je nach Kontext konturiert werden können. Ein Beispiel hierfür ist die Ersetzung der „Treue“ (‫ )אֱמֶ ת‬durch die „Reue“ Gottes in Joel 2,13 und Jon 4,2 (an beiden Stellen findet sich eine Niphalform der Wurzel ‫)נחם‬. Eigenständige Akzentsetzungen sind so auch im Blick auf die Rezeption der Gnadenformel in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht zu erwarten. Beginnen wir mit der Wendung οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων.405 Wir haben bereits an früherer Stelle gesehen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in Übereinstimmung mit den TestXII an Stelle von οἰκτίρμων das Partizip σπλαγχνισθείς 404 Dass Zorn und Erbarmen keinen Widerspruch im Gottesbild darstellen, zeigt sich besonders deutlich bei Jesus Sirach. In Sir 5,4–6 warnt der Autor seine Adressaten davor, das Wissen um die Güte Gottes zu instrumentalisieren: Denjenigen, die darauf setzen, dass Gott die Sünden so oder so vergibt, hält Jesus Sirach den Zorn Gottes entgegen: „Und sag nicht: ‚Sein Erbarmen ist groß, die Fülle meiner Sünden wird er verzeihen‘. Denn Erbarmen und Zorn (sind) bei ihm (ἔλεος γὰρ καὶ ὀργὴ παρ᾽ αὐτῷ), und auf den Sündern wird sein Zorn (θυμός) bleibend lasten“ (Übersetzung: Becker/Fabry/Reitemeyer, in: Septuaginta Deutsch). Dass hier vermutlich eine Anspielung auf die Gnadenformel vorliegt, zeigt sich in V. 4 an dem Gott zugeschriebenen Adjektiv „langmütig“ (μακρόθυμος): Dass Gott langsam zum Zorn ist, schließt seinen Zorn, wie fälschlicherweise angenommen werden könnte, wenn die Strafe nicht auf den Fuß folgt, eben nicht aus. Auch in Sir 16,11 ist davon die Rede, dass Erbarmen und Zorn bei Gott sind (ἔλεος γὰρ καὶ ὀργὴ παρ᾽ αὐτῷ). Beide stehen sich in ihrer gegenseitigen Bezogenheit aufeinander als zwei Affekte bzw. Handlungsweisen des einen Gottes gegenüber. 405 Bultmann geht davon aus, dass οἰκτίρειν und ἐλεεῖν in der Septuaginta als Synonyme verwendet werden und „Mitleid“ bzw. „Erbarmen“ bezeichnen (Art. οἰκτίρω κτλ., 162). Zwischen dem Affekt des Erbarmens und dem Liebeswerk unterscheidet er dabei nicht. Stellt man aber in Rechnung, dass „[d]er Stamm οἰκτ- … weit überwiegend … zur Wiedergabe von Bildungen vom Stamme ‫[ רחם‬dient]“ (ebd., 162) und „[i]m Unterschied von ‫ ַרח ֲִמים … חֶ סֶ ד‬ursprünglich eher das, was wir Affekt nennen, oder eigentlich den Sitz des körperlich empfundenen Gefühls [bezeichnet]“ (Bultmann, Art. ἔλεος κτλ., 477), dann ist einem Pauschalurteil wie Bultmann es vornimmt, abzuraten. Bultmann hält im Blick auf den „Sprachgebrauch des späteren Judentums“ fest, dass „‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ ַרח ֲִמים‬kaum noch zu unterscheiden [sind], so wenig wie ἔλεος und οἰκτιρμοί, die wechselnd dafür eintreten“ (ebd., 478). „Kaum noch“ heißt nicht „gar nicht“, und berücksichtigt man den Sprachgebrauch der TestXII, dann handelt es sich hier entweder um eine Widergewinnung des Unterschieds zwischen barmherzigem Affekt und barmherziger Tat, der sich dann womöglich in der Ersetzung des Verbs οἰκτίρειν durch das Verb σπλαγχνίζομαι manifestiert und vom Verfasser des Matthäusevangeliums in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht übernommen wird (s. o. im Text), oder die These Bultmanns lässt sich schon im Blick auf die seines Erachtens nicht vorhandene Differenz

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

verwendet und dieses wie sein Äquivalent eher die barmherzige Gefühlsregung kennzeichnet. Besonders deutlich wird das durch die redaktionelle Ergänzung des Partizips σπλαγχνισθείς in der Erzählung über die Heilung zweier Blinder (Mt 20,29–34): Auf deren zweifach geäußerte Bitte „Erbarme dich unser (ἐλέησον ἡμᾶς), Herr, Sohn Davids!“ (20,30.31), und deren Konkretion: „Herr, (mach,) dass unsere Augen geöffnet werden!“ (20,33), entbrennt in Jesus das Mitleid: σπλαγχνισθείς δὲ ὁ Ἰησοῦς (20,34). Der Stamm ἔλε- kennzeichnet in dieser Erzählung ein konkretes barmherziges Handeln, um das gebeten wird, das Partizip σπλαγχνισθείς hingegen die dieser Tat zu Grunde liegende Gefühlsregung. Gleiches dürfte auch für die Parabel vom unbarmherzigen Knecht gelten, und dies umso mehr, als σπλαγχνισθείς seinen direkten Gegenpol im Partizip ὀργισθείς hat, das eindeutig das Gefühl des Zorns bezeichnet. Köster bemerkt zur Opposition σπλαγχνισθείς - ὀργισθείς in der matthäischen Parabel und in der lukanischen Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32): „Es sind die stärksten Ausdrücke menschlicher Gefühlsempfindung, mit denen die Personen der Parabeln Jesu hier beschrieben sind, um die Totalität des Erbarmens oder des Zornes zu kennzeichnen, mit der Gott in seinem Heilshandeln den Menschen beansprucht.“406 In inhaltlicher Hinsicht konkretisiert sich das Erbarmen in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht wie in der Gnadenformel in Ex 34,6f. in der Aufhebung der Schulden, d. h. der Vergebung der Sünden, der Zorn hingegen in der Überantwortung des Knechts an die Folterknechte. Im Blick auf den Langmut erscheint die Lage komplexer. Bei der Interpretation der Parabel spielte in der bisherigen Forschung keine Rolle, dass vom Zorn nicht nur in der dritten, sondern auch in den ersten beiden Szenen die Rede ist, auch wenn der Verfasser des Matthäusevangeliums hier anstelle von ὀργή im Begriff μακρόθυμος das synonyme θυμός verwendet. So bitten beide Knechte ihre jeweiligen Gläubiger mit den (nahezu) gleichen Worten um Langmut/Langsamkeit zum Zorn: „μακροθύμησον ἐπ᾽ ἐμοί, καὶ [πάντα]407 ἀποδώσω σοι“ (V. 26/V. 29). Wo aber um Langsamkeit zum Zorn gebeten wird, da ist Zorn nicht prinzipiell ausgeschlossen.408 Auch in dieser Hinsicht dürfte das in V. 34 beschriebene Strafhandeln die zwischen οἰκτίρειν und ἐλεεῖν respektive ‫ ַרח ֲִמים‬und ‫ חֶ סֶ ד‬nicht halten, ganz abgesehen davon, dass sich beide auch im Blick auf ihren Gegenseitigkeitscharakter bleibend voneinander unterscheiden. Im Blick auf die TestXII zeigt sich allemal, dass zumindest hier zwischen dem Affekt des Mitleids und der barmherzigen Handlung unterschieden wird und die zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung verschränkt werden, dass also der Barmherzigkeit Reziprozität eignet. Als Beispiel hierfür sei TestSeb 8,1 angeführt: „Und ihr nun, meine Kinder, habt Mitleid in Erbarmen (εὐσπλαγχνία ἐν ἐλέει) gegen jeden Menschen, damit auch der Herr aus Mitleid gegen euch Erbarmen mit Euch hat“ (Übersetzung Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments Bd. 2, 482; vgl. TestSeb 5,3). Mitleid kennzeichnet hier das Gefühl, Erbarmen das Liebeswerk. 406 Köster, Art. σπλάγχνον κτλ., 554. 407 Das πάντα findet sich nur in der Bitte des ersten Knechts (Mt 18,26). 408 Kellenberger konterkariert die Eigenständigkeit des Zorns, wenn er unter Verweis auf Jes 54,8 und Mi 7,18 zu dem Schluss kommt, dass dort, „wo [Gottes; J.-C. M] ḥäsäd erscheint, … der Zorn nicht mehr vernichtend wirken [kann]“ (Glaubenserfahrung, 40). Der Zorn ist

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

143

Leserinnen und Leser der Antike nicht überraschen. Dass auch der über die Bitte um Langsamkeit zum Zorn hinausgehende Schuldenerlass (V. 27) nicht dazu dient, künftigen Zorn auszuschließen, macht der Fortgang der Parabel allemal deutlich. Die Polarität zwischen Mitleid und Zorn tritt u. E. aufgrund des Kontrastes zwischen den Gefühlregungen des Mitleids (V. 27) und des Zorns (V. 34), die die erste bzw. dritte Szene dominieren, in der Parabel noch deutlicher zu Tage als in der alttestamentlichen Gnadenformel. Dabei ist das Verhältnis dieser beiden Pole ein asymmetrisches, ohne dass die Asymmetrie die Polarität aufheben würde. Dass das Erbarmen für den Verfasser des Matthäusevangeliums das Entscheidende ist, zeigt sich vor allem in der ersten Szene: Hier wird deutlich, dass – mit einer Formulierung Ezechiels gesprochen, Gott das Leben und nicht den Tod der Sünder will (vgl. Ez 18,23). Der Triumph der Güte über den Zorn zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der für Gott transparente König der Parabel eben nicht nur Zeitaufschub gewährt, sondern – über die Bitte seines Knechts hinausgehend – die Schulden ganz erlässt und so einen Neuanfang ermöglicht. Gleichzeitig aber wird die Dominanz der Güte nicht durch die Aufhebung der Polarität von Zorn und Erbarmen gewonnen. Barmherzigkeit ist ohne Gerechtigkeit nicht denkbar. Deshalb verurteilt der König den unbarmherzigen Knecht (Mt 18,34). Kommen wir noch einmal auf Ex 34,7 und auf das Zusammenspiel von Vergeltung und Vergebung zurück, das auch in der Parabel eine hervorgehobene Rolle spielt: Worin bestehen die Gemeinsamkeiten, worin die Unterschiede? Die Parabel und die Gnadenformel gleichen sich darin, dass sie Gottes erbarmendes Handeln nicht gegen sein vergeltendes Handeln ausspielen. Beginnen wird mit Ex 34,7: Auch hier besteht kein Widerspruch zwischen Vergeltung und Vergebung. So setzt die im Aufheben der Schuld sich konkretisierende Güte/Huld409 den Tat-Folge-Zusammenhang, den sie heilvoll unterbricht, voraus und markiert somit die Grundlage, auf der (allein) von Vergebung gesprochen werden kann. In ihrer Unterbrechung bestätigt die Güte gerade dessen prinzipielle Gültigkeit. Hier zeigt sich der intrinsische Zusammenhang von Vergeltung und Vergebung: Beides sind Aspekte des göttlichen Handelns, die den Tun-Ergehen-Zusammenhang auf je ihre Weise bestätigen: Während das göttliche Vergeltungshandeln den Tun-Ergehen-Zusammenhang aufrechterhält, indem es die Folgen der Sünden auf die Sünder zurückwendet, bestätigt die Vergebung dessen Gültigkeit darin, dass sie unter dann immer schon überwundener oder überwunden-werdender. Vgl. dazu weiter unten im Fließtext. 409 Matthias Franz hat auf die Parallelität der Aussagen von Ex 34,6 und Ex 34,7 verwiesen (vgl. Franz, Barmherzigkeit im Namen Gottes, 85): Während die Vergebung von Sünde und Schuld (V. 7) die göttliche Gnade und Barmherzigkeit (V. 6) konkretisiert, bezieht sich die Aussage der Heimsuchung der Schuld (V. 7), die Franz im Anschluss an Michael Fishbane und Ruth Scoralick im Sinne einer verzögerten Strafe deutet (vgl. ebd., 83), auf die Langsamkeit zum Zorn (V. 6). Das Attribut „groß an Güte und Treue“ (V. 6) schließlich erfährt in der Aussage der Bewahrung der Güte für Tausende seine Konkretisierung (vgl. ebd., 85). Entscheidend ist, dass die Asymmetrie von Güte und Zorn die Bestrafung als Ausdruck des göttlichen Zorns nicht ausschließt.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

der Voraussetzung seiner Gültigkeit operiert. Von Vergebung könnte nicht gesprochen werden, wenn der Tun-Ergehen-Zusammenhang keine Gültigkeit besäße. Die Vergebung setzt seine Gültigkeit gerade dort voraus, wo sie ihn durchbricht. Die im Infinitivus constructus des masoretischen Textes formulierte Aussage, dass JHWH „gewiss nicht aus der Haftung entlässt“410 und „Rechenschaft einfordert … bezüglich der Verkehrtheit der Väter an den Söhnen und Enkeln“411 steht also nicht im Widerspruch zur Selbstoffenbarung JHWHs als „ein barmherziger und gnädiger Gott, langsam zum Zorn und reich an Güte und Treue, (7) der Güte bewahrt den Tausenden“ und „der Verkehrtheit, Verbrechen und Verfehlung vergibt“412 (Ex 34,6–7). Vielmehr interpretiert V. 7 die Güte als Durchbrechung der Sünde-Unheil-Folge bei grundsätzlicher Gültigkeit des Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Anders formuliert: Würden die Aussagen über das göttliche Vergeltungshandeln, die Ausleger immer wieder vor logische (Wie passen die Vergeltungsaussagen zu Aussagen über die Dominanz der göttlichen Güte?) und theologische (ein strafender Gott?) Probleme stellen, gestrichen, könnte auch von göttlicher Güte nicht gesprochen werden. Güte besteht also darin, dass JHWH den Sünde-Unheil-Zusammenhang durchbricht und darin seine prinzipielle Gültigkeit bestätigt. Man muss sogar noch einen Schritt weitergehen: Nur weil er vergilt und somit der Tun-Ergehen-Zusammenhang für die personale Gott-Mensch-Relation die Basis bildet, kann er diesen auch durchbrechen. Was vielen ein ungutes Gefühl bereitet, nämlich die Vorstellung der göttlichen Vergeltung, ist für das Verständnis der Güte essenziell. Kurzum: Ohne Vergeltung im Sinne des prinzipiellen Konnexes zwischen Tat und Folge gibt es keine Güte. Fassen wir zusammen: Der lexematische Befund macht es sehr wahrscheinlich, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in traditions- respektive motivgeschichtlicher Hinsicht in der Tradition der sogenannten alttestamentlichen Gnadenformel steht. So finden sich vier der fünf Gottesepitheta der Formel in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35): Was die Formel relativ abstrakt auf den Punkt bringt,413 entfaltet die Parabel narrativ. Gemeinsam ist der Formel und der Parabel die Dominanz des Mitleids und der Güte, die auf je unterschiedliche Art und Weise ausgedrückt werden: Während in der Septuaginta-Fassung der Gnadenformel die Dominanz der Güte u. a. durch drei Bildungen vom Stamm ἔλε- deutlich gemacht wird, markiert die erste Szene der Parabel durch die 410 Übersetzung Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, 157 (Kursivdruck des Originals nicht übernommen). 411 Übersetzung Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, 157 (Kursivdruck des Originals nicht übernommen). 412 Übersetzung Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, 157. 413 Die Formel findet sich aber stets in narrativen Kontexten und darf nicht losgelöst von diesen betrachtet werden. Wird sie von ihrem Kontext gelöst, dann besteht die Gefahr, unabhängig von den geschichtlichen Erfahrungen Israels mit seinem Gott allgemeingültige Thesen über das Wesen Gottes aufzustellen. Ein solches Vorgehen widerspricht in theologischer Hinsicht dem „Gottesbild“ des Alten Testaments, das JHWH als einen wandelbaren Gott in Beziehung beschreibt.

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

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Vor-Läufigkeit der Güte Gottes gegenüber dem Knecht und insbesondere durch den Verzicht auf die Rückzahlung der enormen Schulden die Größe des göttlichen Mitleids und seines Erbarmens. Eine weitere grundlegende Gemeinsamkeit besteht darin, dass sowohl die Formel als auch die Parabel von einer Polarität zwischen Zorn und Erbarmen in Gott ausgehen. Würde diese Polarität aufgegeben, könnte weder vom Zorn noch von der Güte gesprochen werden. Und nicht zuletzt ist daran zu erinnern, dass sowohl in der Gnadenformel als auch in der Parabel Vergebung die hervorragendste Konkretion der Güte darstellt.

1.3.2 Zur Domestizierung des göttlichen Zorns bei der Interpretation der Gnadenformel Wir sind bereits mehrfach auf Hermann Spieckermann, den Namensgeber der sogenannten „Gnadenformel“, zu sprechen gekommen. In der von ihm gemeinsam mit dem Neutestamentler Reinhard Feldmeier verantworteten exegetischen Gotteslehre „Der Gott der Lebendigen“414 spielt die Gnadenformel eine herausgehobene Rolle. Im Rückgriff auf diese Formel versuchen Feldmeier/Spieckermann das lang verbreitete Klischee des Gegenübers eines alttestamentlichen Rachegottes und eines neutestamentlichen Gottes der Liebe zu widerlegen. Ihrer Auffassung zufolge zeigt sich das Wesen JHWHs darin, dass dieser sich angesichts der Untreue Israels als ein Gott der Liebe und der Treue erweist. In diesem Sinne kommentieren sie Ex 34,6: „Yhwh ist groß in der Liebe, nicht im Zorn. Deshalb läuft die Gnadenformel klimaktisch auf die preisende Charakterisierung rab-ḥesed weʾĕmet (‚groß an Liebe und Treue‘) zu.“415 Im Kontext ihrer Interpretation der Gnadenformel in Ex 34,6f., der sie eine „theologische Schlüsselfunktion zur Bestimmung von Gottes Wesen“416 zusprechen, hatten Feldmeier/Spieckermann schon vorher festgehalten, dass „[n]icht der verbitterte, zornige Gott … das Alte Testament [prägt], sondern der in seiner Liebe hintergangene Gott, der der unbeirrbar Liebende bleibt. Dies ist die theologische Substanz der Gnadenformel in Ex 34,6 und ihrer Erläuterung in 34,7“417. Wir halten diese Ausführungen Feldmeiers und Spieckermanns grundsätzlich für zutreffend, fragen uns aber, ob sie den Zorn Gottes nicht zu sehr aus der Perspektive seiner Liebe wahrnehmen und die Polarität von Liebe und Zorn einebnen. 414 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen. Im Vorwort zur zweiten Auflage betonen beide, dass jeder Satz von ihnen gemeinsam verantwortet wird (vgl. ebd., VII). 415 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 135. 416 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 133. Von einer Schlüsselfunktion der Gnadenformel für das alttestamentliche Gottesbild gehen eine Reihe von Forschern aus (vgl. die Liste bei Döhling, Der bewegliche Gott, 525). Jörg Jeremias, Joel, 30, spricht von dem „Bekenntnis“ (womit er die Gnadenformel meint) als einer „zentralen Gottesprädikation“ des Alten Testaments. 417 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Wird Gott als „unbeirrbar Liebende[r]“418 verstanden, dann kommt der Zorn letztendlich nur als Durchgangstation auf dem Weg zum Neuanfang der Gottesbeziehung in den Blick.419 So wird Gott auf seine Liebe festgelegt und der Zorn zu einer „berechenbaren“ Größe. Es ist deshalb nur konsequent, wenn Feldmeier/Spieckermann dem göttlichen Zorn seine Eigenständigkeit gegenüber der Liebe absprechen, ihn von ihr bestimmt sein lassen und in ihren Dienst stellen: „Gott … ist ʾerek ʾappayim (‚langsam zum Zorn, langmütig‘). Sein Zorn ist nur in krasser Asymmetrie zu seiner Liebe und im Falle der Untreue als ihre notwendige Kehrseite sagbar, nicht als dominanter und schon gar nicht als eigenständiger Zug göttlichen Wesens. Der Zorn ist nicht Mittel zum Zweck gerechter Strafe, sondern Zeichen göttlicher Leidenschaft, der sein untreues, geliebtes Volk in Mitleidenschaft zieht, um zürnend und vergebend der verratenen Liebe eine neue Chance zu geben.“420 Es ist vor allem die Ablehnung der Annahme, der Zorn könne einen „eigenständige[n] Zug göttlichen Wesens“421 darstellen, der die Polarität von Güte und Zorn aufhebt. Wo der Zorn gegenüber der Liebe nicht selbstständig und nicht von ihr unabhängig ist, dort wird er von ihr bestimmt. Zorn kann so nur noch als Aspekt der göttlichen Liebe wahrgenommen und ihr funktional zugeordnet werden.422 Die Interpretation der Asymmetrie als Aufhebung der Polarität zwischen Gnade und Zorn impliziert dabei zugleich die Aufhebung der Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Dieser Aspekt ist in dem Zitat zwar nur angerissen, aber dennoch greifbar. So setzt die Aussage, der Zorn sein kein „Mittel zum Zweck gerechter Strafe“423 im weitesten Sinne auch Liebe und Recht respektive Liebe und Gerechtigkeit nicht nur in Opposition zueinander, sondern spielt sie gegeneinander aus. Dass gerechte Strafe Ausdruck der leidenschaftlichen, verletzten und sich abwendenden Liebe Gottes sein könnte, wird ebenso wenig in Erwägung gezogen wie die Möglichkeit, dass sich die Liebe gerade im Verzicht auf gerechte Strafe erweist, was aber am Charakter der Strafe als gerecht nichts ändert: Vielmehr setzt ein solches Verständnis die prinzipielle Gültigkeit von Recht und Gerechtigkeit

418 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134. 419 Vgl. die Charakterisierung des Zorns als „notwendige Kehrseite“ der Liebe im oben im Text folgenden Zitat. 420 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134f. 421 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134. 422 Feldmeier/Spieckermann bringen u. E. das von ihnen selbst gewählte Bild des Zornes als „notwendige Kehrseite“ der Liebe nicht angemessen zur Geltung. So betonen sie zwar das Aufeinander-Bezogen-Sein von Liebe und Zorn, übersehen aber, dass diese Bezogenheit gleichzeitig durch Polarität gekennzeichnet ist: Als zwei sich gegenüberliegende Seiten, sind Liebe und Zorn Teil der einen Medaille, ohne miteinander zu verschmelzen. Die von Feldmeier/Spieckermann zu Recht betonte Asymmetrie, die sich in dem Bild der Medaille schlecht darstellen lässt, hebt die Polarität nicht auf. 423 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134. Hier begeben sich Feldmeier/Spieckermann in einen Widerspruch zu ihrer theologisch höchst relevanten Aussage, dass um der Opfer willen nicht auf die Rede vom Zorn verzichtet werden darf (vgl. ebd., 126).

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

147

und damit eine Spannung zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit voraus.424 Ist JHWH ein „unbeirrbar Liebende[r]“425, dann muss seine Liebe nicht immer wieder seinen Zorn in konkreten geschichtlichen Situationen niederringen, dann gibt es auch keine Polarität zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Zorn und Güte.426 Noch deutlicher wird die Funktionalisierung des göttlichen Zorns im Abschnitt zur Verborgenheit und zum Zorn, die Feldmeier/Spieckermann als opera aliena Gottes verstehen: „Verborgenheit und Zorn sind mittelbare und intentionale Handlungen Gottes, sie sind Mittel zu dem Zweck, seiner verratenen Liebe neu Geltung zu verschaffen.“427 Im selben Kontext hatten sie bereits festgestellt: „Gott verbirgt sich und zürnt auf Grund seiner Liebe und um seiner Liebe willen.“428 Diese Zitate machen vollends deutlich, dass Feldmeier/Spieckermann den Zorn als einen Ausdruck der göttlichen Liebe verstehen. So verwundert es nicht, dass Spieckermann die in Ex 34,6f unzweifelhaft vorliegende Asymmetrie zwischen Liebe und Zorn dezidiert als Wesensveränderung des Zorns deuten kann. In diesem Sinne stellt er in seinem ersten viel beachteten und grundlegenden Beitrag zur Gnadenformel zur Wendung „langsam zum Zorn“ fest: „Noch friedfertiger läßt sich vom Zorn kaum reden. Selbst der Zorn ist in Jahwes Gnadenwillen aufgehoben.“429 Wenn wir Spieckermann hier richtig verstehen, affiziert das Übermaß der Liebe, das in den Wendungen ‫ ַרחוּם וְ חַ נּוּן‬und ‫( וְ ַרב־חֶ סֶ ד ֶואֱמֶ ת‬als Rahmung der Wendung „langsam zum Zorn“) zum Ausdruck kommt, den Zorn und verändert ihn in seinem Wesen: Zorn ist nicht mehr aggressiv, sondern friedfertig. U. E. domestizieren solche Aussagen den Zorn und heben die Polarität zwischen Zorn und Erbarmen

424 Zudem wird hier letzten Endes verneint, dass Gerechtigkeit im Sinne der Aufrichtung des Rechts eigenständiger Ausdruck der göttlichen Güte sein kann. 425 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134. 426 Es muss hinterfragt werden, ob Feldmeier/Spieckermann, mit ihrer Interpretation des Septuagintatextes von Ex 34,6f., der gegenüber der hebräischen Vorlage zu Beginn von V. 7 das Stichwort „Gerechtigkeit“ (δικαιοσύνη) ergänzt und der Wendung „καὶ ποιῶν ἔλεος“ vorschaltet, im Recht sind, wenn sie von einer Verschmelzung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu Gunsten der Barmherzigkeit und auf Kosten der Gerechtigkeit ausgehen: „Gottes Barmherzigkeit ist Gottes wahres Wesen, in welchem Gerechtigkeit und Barmherzigkeit keine spannungsgeladenen Gegensätze (mehr) sind, sondern im theologischen Sachgehalt identisch. Gerechtigkeit wahrt Gott auf die ihm allein eigene Art: durch seine Barmherzigkeit“ (Gott der Lebendigen, 135 Anm. 29). U. E. muss die Einfügung der Gerechtigkeit an dieser Stelle nicht zwangsläufig als Identifikation der Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit verstanden werden. Sie könnte vielmehr Ausdruck der Polarität sein, der in Ex 34,7 durch die Ahndung der Sünden bis in vierte Glied bzw. die Gewährung der Güte gegenüber Tausenden Ausdruck verliehen wird. 427 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 341. 428 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 339. 429 Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“, 2f. Im direkten Anschluss legitimiert er mit dieser Feststellung die Bezeichnung „Gnadenformel“.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

auf. Dass Gott als „unbeirrbar Liebende(r)“430 strafen könnte, ist somit eigentlich ausgeschlossen.431

1.3.3 Die unauflösbare Polarität von Erbarmen und Zorn: Eine theologische Reflexion In diesem Teil des ersten Kapitels wurde gezeigt, dass es grundlegende Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Gottesbildes zwischen der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) und der alttestamentlichen Gnadenformel (Ex 34,6 u. ö.) gibt. Die Parabel aktualisiert die Gnadenformel, indem sie vier ihrer fünf Gottesprädikate (mit Ausnahme des ἀληθινός/‫ )אֱמֶ ת‬narrativ entfaltet. Zudem wurde exemplarisch in der kritischen Auseinandersetzung mit Reinhard Feldmeiers und Hermann Spieckermanns Verständnis der Gnadenformel gezeigt, dass das Verhältnis zwischen Erbarmen und Zorn bzw. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit die alttestamentliche Forschung vor ähnliche Probleme stellt wie die Parabel vom unbarmherzigen Knecht die neutestamentliche: Der Zorn Gottes darf trotz des Bemühens um seine Rehabilitation keinen eigenständigen Wesenszug Gottes darstellen. Vom Zorn ist nicht nur im Zusammenhang mit, sondern von ihm darf ausschließlich als Funktion seiner Liebe geredet werden. So wird auf ähnliche Weise wie wir es im Blick auf die Parabel vom unbarmherzigen Knecht gesehen haben, die Polarität von Erbarmen und Zorn aufgehoben.432 Die unbestreitbare Asymmetrie zwischen diesen beiden Gottesattributen wird im Sinne einer Aufhebung ihrer Polarität interpretiert. Als Kehrseite der Liebe dient der Zorn der Liebe. Auf ihre Weise bestätigen die Diskussionen um die Gnadenformel und die Parabel vom unbarmherzigen Knecht die inhaltliche Nähe beider zueinander. Was aber sind die Folgen der weit verbreiteten Aufhebung der Polarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit? Worin besteht das Problem, wenn der Zorn keine reale Handlungsmöglichkeit Gottes mehr darstellt, wenn Gott im Falle der Untreue seines Volkes seinen Zorn nicht immer wieder aufs Neue überwinden muss, sondern diese Überwindung bereits antizipiert wird? Worin besteht die Differenz zwischen einer Interpretation der Asymmetrie zwischen Güte und Zorn im Sinne einer Auflösung der Polarität und einer Interpretation, die diese Polarität 430 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134. 431 Dass zeigt sich auch an einer weiteren Stelle, an der Feldmeier/Spieckermann Zorn als „gezeichnete Liebe“ deuten und letztendlich mit Vergebung gleichsetzen: „Yhwhs Liebe kennt den Zorn und die Strafe. Dies kann nicht anders sein, weil es sich um wahre Liebe und Treue handelt. Beiden ist die Verbindlichkeit essentiell, alles andere wäre nur Liebelei und Beliebigkeit. Gottes Zorn und Strafe sind hingegen die Form gezeichneter Liebe, die aus Treue nicht aufgibt, sondern vergibt. Sie tut dies nicht aufrechnend und nachtragend“ (Gott der Lebendigen, 134). 432 Das haben wir insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Position von Ulrich Luz gezeigt (vgl. Punkt 1.1.2.1).

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

149

wahrt? Der große gemeinsame Nenner beider Interpretationen besteht darin, die Güte als dominanten Wesenszug Gottes und JHWH in der Tat als einen Gott zu beschreiben, der „stark in der Liebe und nicht im Zorn“433 ist. Unzweifelhaft ist es so, dass in der Wendung „langsam zum Zorn“ die göttliche „Distanz zum Zorn“434 bzw. der „Unwillen zum Zorn“435 zum Ausdruck kommt. Gott will den Tod des Sünders nicht (vgl. Ez 18,23). Die Differenz hingegen zeigt sich darin, dass die zweite Sichtweise den Zorn in seinem bleibenden Bezug auf die Liebe als eigenständigen Wesenszug Gottes in den Blick nimmt. Gott ist zwar „langsam zum Zorn“, aber er lässt die Sünden nicht ungestraft. Das vergebende Handeln des Königs in der ersten Szene der Parabel (Mt 18,23–27) schließt ein richterlich-strafendes Handeln (Mt 18,34) nicht aus. Bei der Besprechung der Parabel haben wir gesehen (vgl. Abschnitt 1.1 und Abschnitt 1.2), dass die Polarität von Zorn und Erbarmen eng mit dem Gegenseitigkeitscharakter der Gottesbeziehung und der zwischenmenschlichen Beziehungen zusammenhängt. Wo Zorn ausgeschlossen und als Funktion der Liebe wahrgenommen wird, dort wird letzten Endes der Mensch als Gegenüber Gottes nicht ernst genommen. Die Wahrung der Polarität von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ist also insbesondere deshalb relevant, weil an ihr das Verständnis der Gottesbeziehung als einer auf Gegenseitigkeit beruhenden und lebendigen hängt: Der dynamischen Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Handlungsweisen des einen Gottes korrespondiert die Konzeptualisierung der Gottesbeziehung als einer auf Gegenseitigkeit hin angelegten. Damit erweist sich nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch die Beziehung immer wieder neu ermöglichende und gestaltende Barmherzigkeit als ein Beziehungsbegriff ersten Ranges. Im Falle der Barmherzigkeit wird negative Gegenseitigkeit durchbrochen und positive (wieder) ermöglicht. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit unterscheiden sich also nicht im Blick auf ihren Gegenseitigkeitscharakter, sondern im Blick auf die unterschiedlichen Funktionen, die sie hinsichtlich der für Beziehung konstitutiven Gegenseitigkeit besitzen. Dass Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Handlungsweisen des einen Gottes nicht miteinander verschmolzen werden dürfen, zeigt ein Text aus dem babylonischen Talmud, der laut Karl-Erich Grözinger als Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses dieser beiden Middot (= Maße) zueinander verstanden werden kann,436 und der zugleich den Analogiecharakter menschlichen und göttlichen Verhaltens offenlegt: „R. Zutra b. Tobia erwiderte im Namen Rabhs: Es möge mein Wille sein, daß meine Barmherzigkeit meinen Zorn bezwinge, daß meine Barmherzigkeit sich über meine Eigenschaften [des Rechts] wälze, daß ich mit meinen Kindern nach der Eigenschaft der Barmherzigkeit verfahre und daß ich ihrethalben innerhalb der Rechtslinie trete“ (bBer 7a; Übersetzung Goldschmidt). Deutlich 433 434 435 436

Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 135. Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 134. Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 348. Vgl. Grözinger, Middat ha-din, 110.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

wird in diesem Text, dass zwischen Zorn (‫ )כעס‬und Erbarmen (‫ )רחמים‬bzw. Erbarmen und den anderen Handlungsweisen Gottes437 (‫ )מידות‬unterschieden wird und das Gott selbst darum betet, dass er nicht nach dem strengen Recht, sondern nach der über das Recht hinausgehenden Barmherzigkeit verfahre ( ‫לפנים משׁורת‬ ‫)הדין‬438.439 Das erinnert an das Ringen Gottes mit sich selbst, wie es etwa in Ex 32,7– 14, vor allem aber in Hos 11,8–9 entfaltet wird. Dieser Text aus dem babylonischen Talmud spricht gerade nicht dafür, Gerechtigkeit als Form verschmähter Liebe zu verstehen. Es handelt sich um zwei eigenständige Größen, die allein darin zusammengehalten werden, dass sie beide Handlungsweisen des einen Gottes darstellen. Als Ausdruck verschmähter Liebe ist der Zorn das Gegenteil von Liebe. Wo er dies nicht ist, lässt sich angemessen weder vom Zorn, noch von der Liebe reden. Liebe zeigt sich gerade darin, dass sie den Zorn als eigenständigen Affekt Gottes überwindet. Aufschlussreich im Blick auf das matthäische Verständnis der Barmherzigkeit ist ein Kommentar Grözingers zu dem soeben zitierten Text bBer 7a. Grözinger schreibt: „Dieser Gott betet also, daß er sich seinen Söhnen gegenüber so verhalten möge wie es die Rabbinen auch von den Menschen untereinander fordern, nämlich dem Mitmenschen gegenüber nicht auf das strenge Recht und seine Auslegung zu pochen, sondern mit ihm in der überrechtlichen Barmherzigkeit, innerhalb der Rechtslinie zu verfahren.“440 Ohne die Fragen nach literarischen oder historischen Abhängigkeiten hier stellen zu können, sind die Gemeinsamkeiten mit dem von uns herausgearbeiteten Verständnis von Barmherzigkeit in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) augenfällig: Unterschieden wird zwischen dem Recht und einer über das Recht hinausgehenden Barmherzigkeit, die bleibend auf das Recht bezogen ist. Die Unterscheidung von und die bleibende Bezogenheit aufeinander konstituieren das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als polares. Die bleibende Bezogenheit des Maßes der Barmherzigkeit und des Masses der Gerechtigkeit aufeinander betont Grözinger im direkten Anschluss an das soeben gebrachte Zitat mit Verweis auf BerR 39,6: Die Geschöpfe bedürfen beider Maße um existieren zu können.441 Überspitzt formuliert: Werden das Maß der Gerechtigkeit und das Maß der Barmherzigkeit gegeneinander ausgespielt und ihre 437 Wir bevorzugen die Übersetzung von ‫ מידות‬mit „Handlungsweisen“ (anstelle der Wiedergabe Goldschmidts mit „Eigenschaften“), da sie dem dynamischen Charakter der Beziehung Gottes zu den Menschen eher gerecht wird. 438 Wir halten die Übersetzung der rabbinischen Wendung mit „innerhalb der Rechtslinie“ für missverständlich, da sie nicht zum Ausdruck zu bringen vermag, dass die Barmherzigkeit über das Recht hinausgeht bzw. den Rechtsrahmen verlässt. Zur Übersetzung der Wendung ‫ לפנים משׁורת הדין‬vgl. Anm. 692. 439 Bei der Aussage Rabbi Zutras handelt es sich um ein Gebet Gottes selbst. Das macht der Kontext der zitierten Stelle aus dem babylonischen Talmud deutlich: So beginnt Folie 7a mit der Frage Rabbi Joḥanans: „Woher, daß der Heilige, gepriesen sei er, betet? (Übersetzung Goldschmidt). Zur Wendung ‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫ לִ פְ נִ ים ִמ‬vgl. Anm. 692 und Anm. 831. 440 Grözinger, Middat ha-din, 111. 441 BerR 39,6 lauten: „Wenn Du die Welt willst, kannst Du kein striktes Recht haben, wenn aber das strikte Recht, so keine Welt. Du hältst das Seil an beiden Enden – Du willst die Welt und

1.3 Die Parabel und die alttestamentliche Gnadenformel (Ex 34,6)

151

Polarität aufgelöst, fällt die Schöpfung in sich zusammen, ist kein Leben mehr möglich. Diese Maße sind das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das gilt ungeachtet der Frage nach wie auch immer gearteten Abhängigkeiten sowohl für die Rabbinen als auch für den Verfasser des Matthäusevangeliums. Ohne das sie begrenzende Gericht, kann die Gegenwart nicht als Zeit der Barmherzigkeit verstanden werden. Ein letztes: In ihrer exegetischen Gotteslehre begründen Spieckermann und Feldmeier im Abschnitt „Gott der Liebende“ die Notwendigkeit der Rede vom göttlichen Zorn mit der „leidenschaftliche[n] Ablehnung aller Lebenszerstörung“ und der „zynische[n] Verhöhnung der Leidenden“442 in dem Falle, dass der Liebe Gottes nicht als deren Kehrseite sein Zorn korrespondieren würde. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf das Diktum D. Bonhoeffers: „[N]ur wenn der Zorn und die Rache Gottes über seine Feinde als gültige Wirklichkeit stehen bleiben, kann von Vergebung und von Feindesliebe etwas unser Herz berühren“443. U. E. gilt es, dieses Zitat Bonhoeffers, in dem sich Zorn und Rache und Vergebung und Feindesliebe diametral gegenüberstehen und aufeinander bezogen sind, ernst zu nehmen. Vor allem die Rede von der „gültige[n] Wirklichkeit“ von Zorn und Rache zeigt, dass diese nicht in der Vergebung und Feindesliebe aufgehoben und von ihnen affiziert sind. Rache und Zorn sind vielmehr bleibende Voraussetzung der Vergebung und Liebe, ohne einfach Durchgangsstation auf den Weg dorthin zu sein. Vielmehr ermöglicht erst die Rede von der „gültigen Wirklichkeit“ von Zorn und Rache die Rede von der Vergebung. Vergebung setzt die gültige Wirklichkeit der Gerechtigkeit voraus, geht über sie hinaus und ist bleibend auf sie bezogen. Die Interpretation der Asymmetrie von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Sinne einer Aufhebung ihrer Polarität ist theologisch problematisch, nimmt sie letzten Endes doch weder die das Recht der Unterdrückten aufrichtende Gerechtigkeit Gottes noch die Geschichtlichkeit der Gottesbeziehung der Menschen ernst.

Du willst das strikte Recht! – Wenn Du aber nicht ein wenig losläßt (oder: verzichtest), kann die Welt nicht bestehen!“ (Übersetzung Grözinger, Middat ha-din, 111). 442 Beide Zitate stehen in unmittelbarer Nähe zueinander: Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen, 126. 443 Bonhoeffer, Widerstand, 226. In dem Zitat zeigt sich auf eindrucksvolle Weise die Polarität und Komplementarität von Zorn und Vergebung bzw. Feindesliebe.

152

1.4

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Bündelung der Ergebnisse und Auseinandersetzung mit der Position Ecksteins

An dieser Stelle sollen die wichtigsten Ergebnisse der Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18, 23–35) gebündelt und in Auseinandersetzung mit der Position Hans-Joachim Ecksteins hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Matthäusevangelium profiliert werden.

1.4.1 Die über das Recht hinausgehende Barmherzigkeit Bei der Interpretation der Parabel (Abschnitt 1.1 und 1.2) haben wir vor allem in der Diskussion mit den Positionen von Wolfgang Harnisch (1.1.1.1) und Markus Zehetbauer (1.1.1.3) das Verhältnis von Barmherzigkeit und Recht als ein solches bestimmt, das durch Gegensatz und wechselseitigen Bezug gekennzeichnet ist: Barmherzigkeit setzt das Recht voraus und geht gleichzeitig über das Recht hinaus. Die Differenz zwischen der über das Recht hinausgehenden Barmherzigkeit und dem Recht wird von der Parabel durchgehalten. Weder wird das Recht prinzipiell negiert oder in Frage gestellt, noch folgt die Barmherzigkeit der Logik des Rechts: Der Maßstab der Barmherzigkeit ist der auf der Ebene des Rechts nicht einklagbare Rechtsverzicht. Dennoch eignet der Barmherzigkeit eine normative Dimension, die engstens mit ihrem Gegenseitigkeitscharakter zusammenhängt. So ist die Gewährung von Barmherzigkeit und die Notwendigkeit ihrer Erwiderung dem Begriff ἔλεος in sachlicher Hinsicht gleichursprünglich: Barmherzigkeit zielt von vornherein auf Gegenseitigkeit und erweist sich somit als ein Beziehungsbegriff ersten Ranges. Allerdings konterkariert die Notwendigkeit der Erwiderung eines vorangegangenen Barmherzigkeitserweises den Aspekt der Freiwilligkeit nicht: Als juridisch nicht einklagbare sind der Rechtsverzicht und seine Erwiderung freiwillige Akte.444 Barmherzigkeit ist ungeschuldete Gegenseitigkeit, die sich in wechselseitigen Akten der Mitmenschlichkeit konkretisiert. In Abschnitt 1.2.2.2 dieses Kapitels wurde gezeigt, dass dieses Verständnis von Barmherzigkeit dem ἔλε-Stamm von seinem hebräischen Ausgangswort ‫ חֶ סֶ ד‬her zuwächst: Akte gegenseitiger Mitmenschlichkeit, die das Recht transzendieren, sind im Alten Testament für die zwischenmenschlichen Beziehungen konstitutiv und orientieren sich an der göttlichen Zuwendung zum Volk Israel und zur ganzen Schöpfung. Güte ist, wie insbesondere die Gnadenformel (Ex 34,6 u. ö.) deutlich macht, ein hervorragender Ausdruck göttlichen Welthandelns, die Gewährung zwischenmenschlicher Güte eine imitatio dieses Handelns und somit in besonderer Weise „Gottesdienst“. Die Verschränkung der menschlichen Gottesbeziehung mit 444 Als imitatio Dei untersteht die Gewährung zwischenmenschlicher Barmherzigkeit allein dem Vergeltungshandeln Gottes, das von innerweltlicher Gerechtigkeit zu unterscheiden ist.

1.4 Bündelung der Ergebnisse

153

den zwischenmenschlichen Beziehungen läuft im Matthäusevangelium über den Hos 6,6 entliehenen Begriff ‫חֶ סֶ ד‬. In dieser Hinsicht kann die Bedeutung der Rezeption von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7 nicht hoch genug eingeschätzt werden. Darüber hinaus haben wir in Abschnitt 1.3 gesehen, dass das Gottesbild der Gnadenformel und der Parabel vom unbarmherzigen Knecht durch die Polarität von Erbarmen und Zorn bestimmt ist: Während in der dritten Szene der Parabel (Mt 18,31–34) deutlich zu Tage tritt, dass die Weigerung, die göttliche Güte in den innergemeindlichen Beziehungen zu erwidern, den Zorn Gottes auf den Plan ruft, findet sich der Zorn in der Gnadenformel in der Wendung ‫ אֶ ֶר אַ פַּיִ ם‬bzw. in der Charakterisierung Gottes als μακρόθυμος: Die Langsamkeit zum Zorn schließt den Zorn und damit ein strafendes Handeln Gottes gerade nicht aus und stellt eine gegenüber der Barmherzigkeit eigenständige Größe dar. In der Gnadenformel wie in der Parabel erweisen sich Güte und Zorn als zwei Handlungsweisen des einen Gottes.445 Wie wir bei unserer exemplarischen Interpretation einiger ‫חֶ סֶ ד‬- bzw. der ἔλεος-Stellen im Josuabuch (2,12–14) und im Buch Ruth (1,8–9; 2,20; 3,10) gesehen haben,446 wacht JHWH im Alten Testament in besonderer Weise über die Gewährung zwischenmenschlicher Güte. Im Folgenden sollen die bisher erarbeiteten Ergebnisse in Auseinandersetzung mit der Position Hans-Joachim Ecksteins profiliert und ein Blick über die Parabel vom unbarmherzigen Knecht hinaus auf die vom matthäischen Jesus geforderte, „über das genaue Maß hinausgehende Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) gewagt werden.447 Eckstein definiert Barmherzigkeit als prinzipiellen Reziprozitätsverzicht, was der in dieser Arbeit vorgeschlagenen Bestimmung ihres Wesens fundamental widerspricht. Wie gezeigt werden wird, zeitigt unsere Rede von der Gegenseitigkeit der Barmherzigkeit auch Konsequenzen für das Verständnis der Gerechtigkeit, die der matthäische Jesus von seiner Schülerschaft fordert. Die zu Recht von Eckstein vorgenommene Verknüpfung der Parabel mit der von ihm sogenannten „besseren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) eröffnet die Möglichkeit einer neuen Verhältnisbestimmung dieser beiden für das Matthäusevangelium relevanten ethischen Leitbegriffe. 445 Von Bendemann bringt den Zusammenhang von Zorn und Gnade, der die Verkündigung des Evangelisten bestimmt, treffend auf den Punkt: „Die Botschaft vom Zorngericht und die Heilsverkündigung beschreiben zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Dieser Zusammenhang ist für Matthäus vor allem ekklesiologisch bedeutsam, insofern es eine ‚billige Gnade‘ (D. Bonhoeffer) jenseits der Verantwortlichkeit in der Nachfolge und des Tuns der besseren Gerechtigkeit (vgl. Mt 5,20) nicht geben kann. Auch wenn terminologisch die Rede vom ‚Zorn‘ im zweiten Evangelium nicht bestimmend ist …., so präludiert die Gerichtsansage des Täufers einen für das erste Evangelium zentralen theologischen Zusammenhang: Die von Gott erwiesenen Gnadentaten sind nicht von der geforderten Praxis der Jünger zu isolieren, die im Gericht auf dem Prüfstand stehen wird (vgl. das Hausbaugleichnis am Ende der Bergpredigt: Mt 7,24–27)“ (Art. Zorn Gottes [Neues Testament], 3.). 446 Vgl. den Exkurs im Anschluss an Punkt 1.2.2.2.3. 447 Mt 5,20 wird im dritten Kapitel der Arbeit ausführlich untersucht. Vgl. Abschnitt 3.1.2.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

1.4.2 Reziprozität des Rechts und Reziprozitätsverzicht des Erbarmens? In einem in den Theologischen Beiträgen erschienenen Beitrag zur Ethik Jesu nach dem Matthäusevangelium schlägt Hans-Joachim Eckstein vor, die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) als hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der vom matthäischen Jesus in der Bergpredigt geforderten „besseren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) zu verstehen, und stellt so einen Zusammenhang zwischen der Barmherzigkeit und den rechtlichen Bestimmungen der Tora her. In seiner Verhältnisbestimmung der Barmherzigkeit zum Recht beschränkt sich Eckstein auf die Aktualisierung des Rechtsprinzips der talio (Mt 5,38–42) und das Gebot der Feindesliebe (Mt 5,43–48), also auf das fünfte und sechste Kommentarwort Jesu. Dabei definiert er Barmherzigkeit als Reziprozitätsverzicht und grenzt sie von der Reziprozität des Rechts ab. Wie nun argumentiert Eckstein hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Erbarmen und Recht genau? Auffällig ist zum einen, dass Eckstein nicht in wünschenswerter Klarheit zwischen der Anwendung des Rechts und dem Recht selbst unterscheidet.448 So kann er bei seiner Interpretation der Parabel zwar betonen, dass sich angesichts der göttlichen „Barmherzigkeit und Großmut … die Maßstäbe für ein als gerecht empfundenes Verhalten [verändern]“449 und zwar „nicht nur quantitativ, sondern qualitativ, nicht nur graduell, sondern prinzipiell“450. Die Kritik der Parabel bezieht sich nach Eckstein aber nicht nur auf das Verhalten des Knechts, also die Inanspruchnahme seines Rechts, sondern gleichsam auf das Recht selbst: „In Anbetracht dessen aber, was vorausging, erscheint das, was bisher als Recht gegolten hat, nunmehr als Unrecht“451. Diese Verhältnisbestimmung von Erbarmen und Recht bringt Eckstein in einem weiteren Schritt hinsichtlich seiner Frage nach dem Verständnis der insbesondere in den Kommentarworten der Bergpredigt von der Schülerschaft Jesu geforderten „besseren“ Gerechtigkeit in Anschlag.452 So könne der Rechtsgrundsatz der talio, das Prinzip des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24; Lev 24,20; Dtn 19,21), „an sich durchaus als Recht

448 449 450 451 452

Vgl. auch Anm. 89 und die dort mit de Boer geführte Diskussion. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 308. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 308. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 308. „Von dieser qualitativen und grundsätzlichen Veränderung der ethischen Wertmaßstäbe – auf der Grundlage dessen, ‚was voranging‘ – ist die gesamte Entfaltung der ‚besseren Gerechtigkeit‘ im Matthäusevangelium bestimmt!“ (Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 308).

1.4 Bündelung der Ergebnisse

155

gelten“453. Der „entschiedene und vollmächtige Widerspruch Jesu in den Antithesen“454, den Eckstein vor allem „als Zeugnis einer durch die vorausgesetzte Barmherzigkeit Gottes radikal veränderten Situation“455 versteht, verwandle aber, auch wenn Eckstein das an dieser Stelle nicht explizit sagt, Recht in Unrecht. Die vorausgegangene Barmherzigkeit Gottes setzt demnach das Rechtsprinzip der talio außer Kraft. Bessere Gerechtigkeit erscheint so als eine Gerechtigkeit, die nicht nur über das Recht hinausgeht, sondern im Gegensatz zu diesem steht. Den entscheidenden Unterschied zwischen dem Rechtsprinzip der talio und der Barmherzigkeit Gottes, die die Schülerschaft Jesu in der Feindesliebe nachahmen soll, sieht Eckstein darin, dass sich „[d]ie an Gottes Willen und Jesu Weisung orientierte Zuwendung zum Nächsten … nicht von der Vorleistung oder der Reaktion des Gegenübers abhängig macht“456 bzw. darin, dass „die Forderung der Feindesliebe … – eindeutiger noch als das Gebot der ‚Nächstenliebe‘ – eine nicht auf Reziprozität beruhende Zuwendung beschreibt: Die Hinwendung zu den ‚Feinden und Verfolgern‘ kann ihre Motivation weder aus der positiven Erfahrung mit den betreffenden Menschen beziehen noch auch aus der Hoffnung, dass die Liebe durch Anerkennung, Dank oder Erwiderung belohnt wird. Insofern kann die ‚Feindesliebe‘ als das sinnfälligste Beispiel für eine nicht konditionierte menschliche Zuwendung gelten“457. Das Wesen der göttlichen Barmherzigkeit scheint demnach für Eckstein in einem Gegensatz zu einer Reziprozität zu stehen, wie sie von der Tora im Rechtsgrundsatz der talio gefordert wird. Die „entgrenzte Liebe und uneingeschränkte Barmherzigkeit“458 sind deswegen entgrenzt und uneingeschränkt, weil sie auf Reziprozität verzichten. Diese Sichtweise Ecksteins ist aus mehreren Gründen fragwürdig: 1. Die Aussage, dass Feindesliebe „eine nicht auf Reziprozität beruhende Zuwendung beschreibt“459, mag im Hinblick auf die zwischenmenschliche Feindesliebe zumindest insofern treffend sein, als dass nicht mit der Erwiderung der Liebe gerechnet werden darf. Das wäre naiv. Die Glaubenden werden in der Tat unabhängig vom (einkalkulierbaren) Verhalten des Gegenübers dazu angehalten, ihr Gegenüber zu lieben. Allerdings heißt das u. E. nicht, dass Feindesliebe nicht Gegenseitigkeit zum Ziel hat. Dieser Sachverhalt zeigt sich insbesondere daran, dass die göttliche Barmherzigkeit selbst auf Gegenseitigkeit zielt: So sollen diejenigen, die dem Umkehrruf Jesu (Mt 4,17) gefolgt sind und auf der Basis des göttlichen Schuldenerlasses (Mt 18,23–27) leben, dem Erbarmen Gottes dadurch entsprechen, dass sie selbst Barmherzigkeit gegenüber ihren Glaubensgeschwistern üben (Mt 18,28–30) und ihren Feinden mit Liebe begegnen (Mt 5,43–48). Feindesliebe 453 454 455 456 457 458 459

Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 309. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 309. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 309. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 310. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 309f. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 311. Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 310.

156

1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

verhält sich als Ausdruck der Gottesliebe der Schülerschaft Jesu somit reziprok zur (vorangehenden) Liebe Gottes und zielt wie diese auf eine durch Gegenseitigkeit gestaltete Gemeinschaft. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht hebt diesen Gegenseitigkeitscharakter der Gott-Mensch-Beziehung hervor, der dann aber auch auf die zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen werden darf: Sie führt ihrer Hörer- bzw. Leserschaft eindringlich vor Augen, dass sie dem Erbarmen Gottes, aufgrund dessen und von dem sie lebt, durch ihr eigenes Erbarmen entsprechen muss (ἔδει), weil in ihrem Erbarmen ihre Gottesliebe zum Ausdruck kommt. Verweigerte Vergebung gegenüber dem Bruder bzw. der Schwester in Christo hingegen wäre Ausdruck fehlender Gottesliebe und führt zum Gericht (Mt 18,31–34.35). Kurzum: Angesichts des Sachverhalts, dass die Parabel ein dem vorangehenden Handeln Gottes entsprechendes reziprokes Handeln der Schülerschaft Jesu fordert, ist es verwunderlich und unverständlich wie Eckstein, der die Parabel zum hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis des fünften und sechsten Kommentarwortes der Bergpredigt macht, das Wesen der Feindesliebe, welche der Verfasser des Matthäusevangeliums als imitatio der Liebe Gottes versteht, als nicht-reziprok charakterisieren kann. Das Wesen der göttlichen Barmherzigkeit, die durch die Feindesliebe imitiert werden soll, besteht u. E. gerade nicht darin, dass sie prinzipiell auf Gegenseitigkeit verzichtet, sondern dass sie Gegenseitigkeit allererst ermöglicht, im Hinblick auf Feinde (vielleicht) erstmalig, im Hinblick auf die Glaubensgeschwister erneut. Als imitatio der göttlichen Liebe kann Feindesliebe zwar nicht mit Gegenseitigkeit des menschlichen Gegenübers „rechnen“460, sie zielt aber ebenso wie die Gottesliebe, zu der sie sich reziprok verhält, auf Gegenseitigkeit, durch die Gemeinschaft gestaltet wird. Eckstein verwechselt die Durchbrechung negativer Reziprozität, wie sie vom fünften und sechsten Kommentarwort (Mt 5,38–42; 43–48) und der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) gefordert wird, mit einem prinzipiellen Verzicht auf Reziprozität und muss deshalb das Recht, das wie die Talionsformel Reziprozität einfordert, als Unrecht-Recht qualifizieren und den Unterschied zu der durch Barmherzigkeit bestimmten Gerechtigkeit als qualitativen und prinzipiellen fassen. 2. Mit der soeben dargelegten These, dass göttliches und menschliches Erbarmen auf Gegenseitigkeit zielt, ist ein weiterer grundlegender Aspekt verbunden. Wie gezeigt wurde, verleiht die Schülerschaft Jesu ihrer Gottesgemeinschaft dadurch Ausdruck, dass sie die göttliche Barmherzigkeit, aus der sie selbst lebt, weitergibt und in dieser Weitergabe – durch die Erfüllung des Nächsten- und Feindesliebegebots – Gottesliebe übt. Menschliche Nächstenliebe und Gottesliebe sind also untrennbar miteinander verknüpft, hier greifen die vertikale Ebene der Beziehung Gott-Mensch und die horizontale Ebene der Beziehung Mensch-Mitmensch ineinander. Dieser Sachverhalt gilt der matthäischen Logik zufolge gerade auch dann, wenn die geübte zwischenmenschliche Barmherzigkeit, mit der die Nachfolger 460 Streng genommen besteht bei der Gewährung von Barmherzigkeit immer das Risiko, dass diese nicht erwidert wird.

1.4 Bündelung der Ergebnisse

157

Jesu die göttliche Liebe imitieren, nicht erwidert wird. Trotz der fehlenden Erwiderung dürfen sie darauf hoffen, dass ihre Gottesliebe nicht „umsonst“ gewesen ist, dass sie also nicht folgenlos bleibt. In diesem Sinne kann die rhetorische Frage des matthäischen Jesu nach dem Lohn derjenigen, die nur die lieben, von denen sie geliebt werden (Mt 5,46), als Hinweis darauf verstanden werden, dass denen, die ihre Feinde lieben, von denen sie eben keine Erwiderung der Liebe erwarten können, himmlischer Lohn (Mt 5,46) verheißen ist. Das Erbarmen, das nicht auf Gegenliebe stößt, wird durch Gott selbst erwidert.461 Die Erwiderung der nicht erwiderten Feindesliebe durch Gott stellt ihrerseits die Kehrseite der matthäischen Auffassung dar, dass derjenige, dem die Schulden erlassen wurden (Mt 18,23–27), der aber seinerseits nicht zum Schuldenerlass gegenüber seinem Mitknecht/Bruder bereit ist (Mt 18,28–30), mit dem richterlichen Handeln Gottes rechnen muss (Mt 18,31–34.35). Die Verheißung, dass derjenige, der Barmherzigkeit übt, Barmherzigkeit erlangen wird (Mt 5,7), und die Mahnung, dass denjenigen, die den Menschen nicht vergeben, auch von Gott nicht vergeben wird (vgl. auch Mt 6,14–15), ergänzen sich komplementär und charakterisieren die Gegenseitigkeit als eine Gegenseitigkeit des Erbarmens. Dieses Erbarmen, das Gemeinschaft konstituiert, erhält und immer wieder neu ermöglicht, kennzeichnet nach matthäischer Auffassung die Gott-Mensch-Beziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen. Letztendlich unterscheiden sich Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Matthäusevangelium nicht hinsichtlich ihres Gegenseitigkeitscharakters, sondern im Blick auf die Ebene der Gegenseitigkeit: Auf der Ebene des Rechts ist Gegenseitigkeit justitiabel, auf der Ebene der Barmherzigkeit ist sie es nicht. So kann die Gegenseitigkeit der Barmherzigkeit nicht erzwungen werden. Ein letztes: M. Zehetbauer spricht in seiner für unsere hier behandelte Thematik bedeutenden Monografie „Die Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit“ von einer Gerechtigkeit der Barmherzigkeit. Nachdem er darauf hingewiesen hat, dass die Schuldverhältnisse zwischen König und Knecht auf der einen und Knecht und Mitknecht auf der anderen Seite „rein rechtlich … nichts miteinander zu tun haben und aus dem vorgängigen Schulderlaß kein Anspruch eingeklagt werden kann“462, fährt er fort: „In dem Gleichnis spielt aber dieser Unterschied zunächst keine Rolle, denn der Herr ist die Instanz, vor der beide Akte aufeinander bezogen werden und der unbarmherzige Knecht sich zu verantworten hat. So ergibt sich eine Gerechtigkeit der Barmherzigkeit … In dieser Perspektive wird die Barmherzigkeit zum Prinzip, nur eben nicht auf der Ebene einer rechtsgültigen Regelung von Schuldverhältnissen, sondern auf der Ebene einer Ausnahmeregelung, die sich auf

461 Vgl. die strukturell ähnlich gelagerte Vorstellung im Buch Ruth: So bittet Noomi Gott, ihren Schwiegertöchtern stellvertretend für sich und ihre toten Söhne das Gute zu vergelten, was Ruth und Orpa für sie getan haben, und das sie selbst ihnen nicht mehr vergelten kann (Ruth 1,8.11–13). Vgl. zu dieser und den anderen Stellen des Buches Ruth den Exkurs im Anschluss an Punkt 1.2.2.2.3. 462 Zehetbauer, Polarität, 211.

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1. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35)

Geschenke bezieht. Wie der Herr eine Ausnahme von der Regel, d. h. vom ihm zustehenden Recht, gemacht hat, so sollte auch der Knecht eine Ausnahme machen, das wäre ‚gerecht‘, im Sinne von ‚moralisch gut‘ gewesen.“463 Vieles von dem, was Zehetbauer hier schreibt, halten wir für zutreffend: So haben der Schuldenerlass des Königs und der nicht gewährte Schuldenerlass des unbarmherzigen Knechts auf einer rechtlichen Ebene nichts miteinander zu tun. Barmherzigkeit untersteht allein dem Vergeltungshandeln Gottes. Auch trifft es zu, dass die rechtliche und die von Zehetbauer so genannte moralische Ebene allein durch den Herrn der Parabel miteinander verbunden werden. Und endlich ist auch der Aussage zuzustimmen, dass die Normativität der Barmherzigkeit ihren Maßstab nicht auf rechtlicher Ebene besitzt. Diese letzte Einsicht widerrät aber der Rede von einer Gerechtigkeit der Barmherzigkeit, da eine solche doch wieder Assoziationen an eine Verrechtlichung der Barmherzigkeit weckt. Zudem handelt es sich u. E. auch nicht um ein Prinzip der Barmherzigkeit. Der Ausdruck Prinzip wird der sich zwischen den beiden Polen von Freiwilligkeit und Normativität entfaltenden Beziehungsdynamik nicht gerecht. Lebendige Beziehung folgt keinem Prinzip. Es bleibt dabei: In der Rede von ungeschuldeter Gegenseitigkeit, die für Beziehungen konstitutiv ist, und die sich in wechselseitigen Akten von Mitmenschlichkeit konkretisiert, kommt unseres Erachtens das Wesen von Barmherzigkeit als Gemeinschaft stiftend, erhaltend und neu ermöglichend am besten zum Ausdruck.

1.5

Übersetzung der Parabel und ihrer Vorschaltung

Zum Schluss dieses Kapitels sollen die Ergebnisse in einer eigenständigen Übersetzung gebündelt werden. Die Vorschaltung (V. 21–22), die Gliederung der Parabel (V. 23–27/28–30/31–34) und ihre Anwendung (V. 35) werden jeweils durch einen Absatz kenntlich gemacht. 21 Da trat Petrus hinzu und sagte zu ihm: „Herr, wie oft wird mein Bruder gegen mich sündigen, und ich soll ihm vergeben? Bis zu siebenmal?“ 22 Jesus sagt zu ihm: „Ich sage Dir, nicht: bis zu siebenmal, sondern bis zu siebenundsiebzigmal.“ 23 Deshalb gleicht das Königreich der Himmel einem König, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte. 24 Als er aber angefangen hatte abzurechnen, wurde einer vor ihn geführt, ein Schuldner von zehntausend Talenten. 25 Weil er aber nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen, und zurückzuzahlen.464 26 Da fiel nun der 463 Zehetbauer, Polarität, 211. 464 Eine interessante und sprachlich mögliche Übersetzung dieses Verses hat jüngst Sebastian Schneider vorgeschlagen. Er bezieht das αὐτὸν auf das Verb ἐκέλευσεν und kommt so zu der Übersetzung: „ – weil er aber nicht vermochte zurückzuzahlen, befahl ihm der Herr, dass

1.5 Übersetzung der Parabel und ihrer Vorschaltung

159

Knecht nieder, huldigte ihm und sagte: Habe Geduld mit mir, ich werde dir alles zurückzahlen. 27 Da hatte der Herr jenes Knechts Mitleid, ließ ihn frei und das Darlehen erließ er ihm. 28 Nachdem aber dieser Knecht hinausgegangen war, fand er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete, und er packte und würgte ihn und sagte: „Zahle alles zurück, was Du schuldig bist“. 29 Da fiel nun sein Mitknecht nieder, bat ihn und sagte: „Hab Geduld mit mir und ich werde dir [das Darlehen] zurückzahlen!“ 30 Er aber wollte nicht, sondern ging weg und warf ihn ins Gefängnis, bis er das Geschuldete zurückgezahlt hätte. 31 Als nun seine Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr traurig, gingen und schilderten ihrem Herrn alles, was geschehen war. 32 Da rief ihn sein Herr herbei und sagt ihm: „Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast. 33 Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe?“ 34 Und sein Herr wurde zornig und übergab ihn den Folterknechten, bis er alles Geschuldete zurückgezahlt hätte. 35 So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.

verkauft wird, sowohl die Frau und die Kinder als auch alles, was er hat, und dass zurückbezahlt wird“ (Barmherzigkeit und Zorn, 166). Davidsen, Geben und nehmen, 138, scheint davon auszugehen, dass sich der Knecht selbst mit seiner Familie und seiner Habe verkaufen soll.

2.

Ἒλεος im Matthäusevangelium (Mt 9,13; 12,7; 23,23) und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 in ARN 4 (A)

Im vorangehenden Kapitel wurde anhand einer Exegese der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–25) die Bedeutung des ἔλε-Stammes für das Matthäusevangelium herausgestellt. So wurde nicht nur gezeigt, dass das barmherzige Handeln Gottes für den Verfasser des Matthäusevangeliums ein, wenn nicht das herausragende Attribut der Weltzugewandtheit Gottes ist, sondern auch, dass Barmherzigkeit zugleich ein wesentliches Kennzeichen der Gemeinde darstellt: Die Gemeinde soll sich dadurch auszeichnen, dass sie die Vergebungsbereitschaft Gottes, aus der sie lebt und in der sich sein Erbarmen konkretisiert, nachahmt (imitatio Dei). Darüber hinaus wurde gezeigt, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums hinsichtlich seines Gottesbildes, seines Verständnisses des Begriffs ἔλεος/‫ חֶ סֶ ד‬und der damit in einem engen Zusammenhang stehenden intrinsischen Verknüpfung von göttlichem und zwischenmenschlichem Erbarmen tief im Alten Testament verwurzelt ist: Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Gottesbild der Parabel und der sogenannten alttestamentlichen Gnadenformel (Ex 34,6f. u. ö.) sind frappierend.465 Wenn aber barmherziges Handeln sowohl das matthäische Gottesbild prägt als auch das Idealbild von Gemeinde verkörpert, dann liegt die Vermutung nahe, dass der ἔλε-Stamm für die Soteriologie des Matthäusevangeliums von hervorgehobener Bedeutung ist. Um dieser Vermutung nachzugehen, sollen in diesem Kapitel diejenigen Stellen des Matthäusevangeliums untersucht werden, in denen der Evangelist das Substantiv ἔλεος verwendet. Das Substantiv ἔλεος kommt im Matthäusevangelium an drei Stellen vor, die allesamt redaktioneller Natur sind und an denen sich der matthäische Jesus mit den Pharisäern auseinandersetzt: In Mt 9,13 und Mt 12,7 erweitert der Evangelist seine Markusvorlage durch die Einfügung eines Zitats aus Hos 6,6 (ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν)466 und markiert mit ihm die Differenz zwischen Jesus und den Pharisäern und in der großen Rede gegen Schriftgelehrte und Pharisäer (Mt 23,1–39) wirft der matthäische Jesus seinen Kontrahenten u. a. vor, die gewichtigen Dinge in der Tora (τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου), das Recht (κρίσις), die Barmherzigkeit (ἔλεος) und

465 Vgl. dazu im vorangegangenen Kapitel den Abschnitt 1.3. 466 Der vom Evangelisten gebotene Text ist identisch mit dem Text des Codex Alexandrinus und der Übersetzung von Aquila, die dem masoretischen Text folgen (das καὶ οὐ entspricht dem ֹ‫)וְ לא‬, während der Codex Vaticanus anstelle des καὶ οὐ ein ἢ bietet (vgl. das Targum zu Hos 6,6). Der Frage, ob der Verfasser des Matthäusevangeliums Hos 6,6 möglicherweise selbst aus dem Hebräischen übersetzt, muss im Kontext unserer Fragestellung nicht nachgegangen werden.

2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition

161

die Treue (πίστις) zu marginalisieren (Mt 23,23). Im Folgenden sollen alle drei Stellen analysiert werden. Dabei soll im Blick auf den Terminus ἔλεος als Bestandteil von Hos 6,6 ein Vergleich mit einer in Avot deRabbi Natan (A), einem Kommentarwerk zum Mischnatraktat Avot, vorliegenden rabbinischen Tradition vorgenommen werden, die die Äquivalenz der Liebeswerke mit der Opferdarbringung mit Hos 6,6 begründet und legitimiert. U. E. ist die Relevanz dieser Tradition für die Interpretation der ἔλεος-Stellen des Matthäusevangeliums (9,13; 12,7; 23,23) in ihrem vollen Ausmaß bisher noch nicht erkannt und gewürdigt worden. Der Exegese dieser drei Stellen in den Abschnitten 2.2, 2.3 und 2.5 ist im Folgenden ein Überblick über den Umgang der neutestamentlichen Forschung mit der Parallele zwischen der in ARN 4 (A) vorliegenden rabbinischen Tradition und der Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangeliums sowie eine Interpretation dieser Tradition vorgeschaltet (2.1). Vor der Interpretation von Mt 23,23 gehen wir in einem separaten Abschnitt der Frage nach einer angemessenen Übersetzung des Hoseazitats in Mt 9,13 und Mt 12,7 nach (2.4). Der Exegese von Mt 23,23 folgt vor der Bündelung der Ergebnisse in Abschnitt 2.7 eine fokussierte Exegese der matthäischen Version der Frage nach dem höchsten Gebot (Mt 22,34–40). Es wird gezeigt werden, dass Hos 6,6 einen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis des Paradoxons der spezifisch matthäischen Vorrangstellung des Gottesliebegebots als erstes und größtes bei gleichzeitiger Gleichordnung des Nächstenliebegebots darstellt (2.6).

2.1

Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition und deren Bedeutung für das Matthäusevangelium

Hos 6,6 spielt im rabbinischen Judentum bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie und wo JHWH, der Gott Israels, angesichts der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer (70 n. Chr.) und der damit einhergehenden erzwungenen Aufgabe des Opferkults verehrt werden kann, eine herausragende Rolle.467 So interpretiert Rabbi Jochanan ben Zakkai in ARN 4 (A) den Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬aus Hos 6,6 im Sinne der gegenüber dem Mitmenschen zu übenden Liebeswerke (gemilut hassadim)468, die an die Stelle der nicht mehr möglichen Opferdarbringung treten. Auch für den nach 70 n. Chr. schreibenden Verfasser des Matthäusevangeliums ist Hos 6,6 von besonderer Bedeutung: Im Gegensatz zu Markus und Lukas fügt er Hos 6,6 an zwei Stellen seines Evangeliums ein (Mt 9,13; 12,7). Darüber hinaus sehen viele Exegeten im Begriff ἔλεος einen Schlüssel zum Verständnis der

467 Matthias Millard, Osée 6:6, gibt einen guten Überblick über die Rezeption von Hos 6,6 in der rabbinischen Literatur inklusive einer Interpretation der von ihm aufgeführten Stellen. 468 Zur inhaltlichen Füllung dieser Liebeswerke in ARN 4 (A) bzw. in der rabbinischen Literatur insgesamt vgl. S. 170–171 mit den entsprechenden Anmerkungen.

162 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 „überfließenden Gerechtigkeit“ (Mt 5,20)469 und zum matthäischen Verständnis von Nächstenliebe470. Aufgrund dieser beiden grundlegenden Gemeinsamkeiten, der Relevanz von Hos 6,6 nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und dem damit verbundenen Fokus auf die (Nächsten-)Liebe/Liebeswerke, legt sich ein Vergleich zwischen der rabbinischen und der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 nahe, der möglicherweise auch dazu dienen kann, das Verhältnis des Verfassers des Matthäusevangeliums zum entstehenden rabbinischen Judentum genauer zu fassen.471 An dieser Stelle ist nun ein Blick auf den bisherigen Umgang der neutestamentlichen Forschung mit der rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 bei der Auslegung von Mt 9,9–13 bzw. Mt 12,1–8 zu werfen.

2.1.1 Die Relevanz der rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 in der bisherigen Forschung Es ist erstaunlich, dass ein ausführlicher Vergleich der rabbinischen und der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 bisher unterlassen wurde. So finden sich zwar in vielen Kommentaren zu und Interpretationen von Mt 9,13 bzw. Mt 12,7 Hinweise auf die Bedeutung von Hos 6,6 für das rabbinische Judentum, in denen auch der Analogiecharakter hinsichtlich des Umgangs mit dem Verlust des Tempels betont werden kann.472 Gewöhnlich fungiert dabei die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 allerdings auch dort als Negativfolie, wo hinsichtlich der Stellvertreterfunktion der Barmherzigkeit (ἔλεος als Opferersatz) eine gewisse Nähe zwischen dem Evangelisten und den Rabbinen angenommen wird. Das soll im Folgenden an einigen Beispielen gezeigt und kritisch beleuchtet werden. In einem 1977 in der Zeitschrift New Testament Studies erschienenen Beitrag widmet sich David Hill im Vergleich zu anderen Exegeten vor und nach ihm relativ ausführlich den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Verwendung von Hos 6,6 in der rabbinischen Literatur und im Matthäusevangelium.473 Dabei nimmt 469 Vgl. insbesondere Eckstein, Die „bessere Gerechtigkeit“, 307; Hill, Hosea vi. 6, 108. 470 Vgl. z. B. Konradt, Matthäus, 350; Burchard, Liebesgebot, 25. 471 Mit Anthony J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community, und J. Andrew Overmans, Matthew’s Gospel and Formative Judaism, nehmen wir an, dass die Polemik des matthäischen Jesus gegenüber Pharisäern und Schriftgelehrten Ausdruck innerjüdischen Streitigkeiten in der Gegenwart des Evangelisten ist: Hier stehen sich die Adressaten des Matthäusevangeliums und das sich nach der Tempelzerstörung konsolidierende und neu formierende Judentum gegenüber und streiten darum, was jüdische Identität ausmacht. Dabei streiten sie größtenteils mit denselben Mitteln um dieselbe Sache: So reklamiert der Evangelist das richtige Verständnis des auch für die Rabbinen im Zusammenhang der Frage nach der Gegenwart Gottes relevanten Verses Hos 6,6 für sich, indem er u. a. seinen Jesus in Mt 12,5–7 wie die späteren Rabbinen mit einem Schluss vom Kleineren aufs Größere (qal wa-ḥomer) argumentieren lässt. 472 Vgl. z. B. Oliver, Torah Praxis, 97–98. 473 Hills Ausführungen umfassen auch nur etwas mehr als eine Seite: Hill, Hosea vi. 6, 118–119.

2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition

163

er auf eine in ARN 4 (A) vorliegende Tradition Bezug, in der die gemilut hassadim an die Stelle der nicht mehr möglichen Opferdarbringung treten und die dort mit Rabbi Jochanan ben Zakkai, einem Zeitgenossen des Verfassers des Matthäusevangeliums,474 verbunden wird.475 Ein Vergleich beider Traditionen ergibt für Hill, dass der Evangelist mit seinem Verständnis von ‫ חֶ סֶ ד‬als gegenüber Gott und den Mitmenschen geübte Liebe gegen die Auffassung seines rabbinischen Kontrahenten Stellung bezieht, der ‫ חֶ סֶ ד‬letztendlich nicht im Sinne der Liebeswerke, sondern im Sinne der Beobachtung aller Toragebote interpretiere. Für Hill stehen sich damit Liebe (beim Verfasser des Matthäusevangeliums) und legalistische Toraobservanz (bei Jochanan ben Zakkai) gegenüber, gegen die der Verfasser des Matthäusevangeliums polemisiere. Bezeichnenderweise aber gewinnt Hill diese Verhältnisbestimmung zwischen dem Evangelisten und seinem rabbinischen Zeitgenossen nicht auf der Grundlage der genannten Stelle in ARN 4 (A), in der Rabbi Jochanan ben Zakkai unter Rückgriff auf Hos 6,6 seinen Schüler Josua mit dem Hinweis auf die Liebeswerke als Opferersatz angesichts des Verlusts des Tempels tröstet, sondern aus einer ebenfalls in ARN 4 (A) aufbewahrten Tradition, der zufolge der Rabbi dem vor der Stadt lagernden späteren Kaiser Vespasian auf die Frage, was er ihm geben solle, antwortet: „‘I ask from you only Yavneh, to which I shall go, and where I shall teach my disciples, establish prayer …, and carry out all of the religious duties.’“476 Bei dieser Antwort handelt es sich um eine Interpretation der drei Säulen, auf denen nach einem Ausspruch Simon, des Gerechten, die Welt steht, nämlich der Tora, dem Opferdienst im Tempel und den gemilut hassadim (mAv 1,2),477 wobei Jochanan ben Zakkai anders noch als bei seinem Rückgriff auf Hos 6,6 die gemilut hassadim im Sinne der Beobachtung aller Toragebote (‫)מצוות‬ versteht.478 Es ist gegen diese Tradition, die nach Auffassung Hills Jochanans „wahres“ Verständnis der gemilut hassadim offenbart, gegen die sich der Verfasser des Matthäusevangeliums stellt. Die Ausführungen Hills sind in mehrfacher Hinsicht problematisch: So ist nicht einsichtig, auf welcher Grundlage er eine Priorisierung der Interpretation der gemilut hassadim im Sinne umfassender Toraobservanz gegenüber einer Interpretation dieser Wendung im Sinne der Liebeswerke, die auch für ihn in der 474 Zu Jochanan ben Zakkai vgl. Stemberger, Einleitung, 83. 475 Hill, Hosea vi. 6, 108 Anm. 5, hält diese Zuschreibung an Jochanan ben Zakkai mit Davies (Sermon on the Mount, 307) und gegen Neusner (Development of a Legend, 114.130) für historisch zutreffend. 476 Übersetzung Neusner, The Fathers According to Rabbi Nathan, 43. Rabbi Jochanan ben Zakkai war zuvor in einem Sarg aus Jerusalem herausgebracht worden. Vgl. ebd., 42–43. 477 Dieses Diktum steht dem vierten Kapitel von Avot deRabbi Natan voran und wird in diesem Kapitel interpretiert. 478 Klaus Müller interpretiert folgendermaßen: „Die Tora wird weitergeführt im Torastudium; der Tempeldienst wird zum Gottesdienst im Herzen, dem Gebet; gemilut chassadim wird zum Ausdruck einer Existenz in der Gesamtheit der Gebote Gottes – mitsvot regeln den verbindlichen Umgang zwischen Menschen und sind auf die Beziehung des Menschen zu Gott aus“ (Diakonie, 155).

164 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Erzählung über Rabbi Jochanan ben Zakkai und seinen Schüler Josua gegeben ist, vornimmt.479 Hebt die im Text etwas später erzählte Anekdote über die Begegnung Jochanans mit Vespasian die Interpretation der gemilut hassadim im Sinne der Liebeswerke etwa auf? Und selbst wenn dem so wäre, was Hill suggeriert und wir bezweifeln, wäre für einen Vergleich mit der Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangelium die Erzählung über Rabbi Jochanan und seinen Schüler Josua, in der Jochanan eben auf Hos 6,6 zurückgreift und die Liebeswerke als Opferersatz deutet, immer noch relevanter. Zudem wäre in diesem Kontext zu fragen, ob die beiden in ein und demselben Abschnitt in ARN 4 (A) gemachten Aussagen (gemilut hassadim als Liebeswerke und gemilut hassadim als Toraobservanz) so widersprüchlich sind. Diese Frage stellt sich umso mehr, als auch für den Verfasser des Matthäusevangeliums kein Widerspruch zwischen Barmherzigkeit/Liebe und dem Tun aller Gebote besteht. So ist in der neutestamentlichen Forschung allgemein anerkannt, dass das doppelte Liebesgebot im Matthäusevangelium nicht an die Stelle der anderen Gebote tritt, sondern alle Gebote – wie die Tür an der Angel – am Doppelgebot der Liebe hängen (Mt 22,34–40).480 Gleiches gilt für die Barmherzigkeit, die die Schülerschaft Jesu als überfließende, an der Tora orientierte Gerechtigkeit üben soll (5,20). Torapraxis und Liebeswerke schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich im Matthäusevangelium komplementär. Im Unterschied zu Hill betont Ulrich Luz die Gemeinsamkeiten zwischen dem Verfasser des Matthäusevangeliums und Rabbi Jochanan ben Zakkai, auch wenn es zwischen beiden keine direkte historische Verbindung gebe. So stellt Luz bei seiner Interpretation von Mt 9,13 fest, dass „[d]ie ethische Akzentuierung der Überlieferung durch Mt und Johanan aufgrund (jesuanischen und) prophetischen Erbes … unabhängig voneinander [geschieht]“481. Nach Luz stimmen der Evangelist und Jochanan ben Zakkai in ihrem Verständnis von ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος als ethischem Terminus also überein, wobei für den Evangelisten die ethische Dimension an der christologischen hänge.482 Darüber hinaus scheint Luz auch davon auszugehen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in Analogie zur rabbinischen Tradition Barmherzigkeit als Opferersatz versteht, auch wenn er im selben Atemzug die Differenz betont: „Für Matthäus ist allerdings die Barmherzigkeit nicht nur ein Ersatz für

479 Es verhält sich eher umgekehrt. So wird zu Beginn von ARN 4 (A) darauf hingewiesen, dass das Studium der Tora zu Gunsten der Liebeswerke unterbrochen werden darf, um z. B. eine angemessene Durchführung einer Hochzeits- oder einer Trauerprozession zu gewährleisten: „IV: III A. When two disciples of sages are in session and occupied with the Torah, if before them came a bride [to whom they owe the honor of bringing rejoicing] or the bier of a corpse [to whom they are obligated to attend], if the one or the other has adequate provision for the need of the occasion, let the disciples not interrupt their repetition of their traditions. B. But if not, then let them go and … cheer and praise the bride or accompany the corpse“ (Übersetzung Neusner, The Fathers According to Rabbi Nathan, 39). 480 So u. a. von Bendemann, Liebesgebot, 127; Wick, Antithesen, 172–174. 481 Luz, Matthäus Bd. 2, 44 Anm. 38. 482 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 2, 45.

2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition

165

den nach 70 nicht mehr möglichen Opferkult, sondern ein echtes Mehr: Barmherzigkeit ist das Zentrum von Gottes Willen, den Jesus durch sein Verhalten erfüllt (5,17; 9,13).“483 Auch wenn in dieser Formulierung (und ihrem Kontext) nicht recht deutlich werden will, worin das „echte Mehr“ der Barmherzigkeit gegenüber dem rabbinischen Verständnis der Liebeswerke als Opferersatz besteht – was kann es mehr als die von Rabbi Jochanan ben Zakkai angenommene, durch Liebeswerke erlangte Versöhnung zwischen Gott und Mensch geben?484 – stellt Luz mit der ethischen Akzentuierung des Terminus ἔλεος und der Vorstellung, Barmherzigkeit ersetze die Opfer, zwei grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen dem Evangelisten und seinem rabbinischen Zeitgenossen in ihrem Verständnis von Hos 6,6 heraus.485 Allerdings greift eine solche Verhältnisbestimmung in zwei Punkten zu kurz: So konzeptualisiert der Evangelist nach Luz Barmherzigkeit zwar auch als Opferersatz, die Frage danach aber, inwiefern die Barmherzigkeit an die Stelle der Opfer treten kann, stellt er nicht.486 Der vorschnelle Blick auf die ohne Frage vorhandenen Differenzen zwischen der matthäischen und der rabbinischen Rezeption von Hos 6,6, der Fokus auf das nicht näher erläuterte „echte Mehr“, verhindert bei Luz eine genauere Wahrnehmung des tertium comparationis, auf dessen Grundlage die Barmherzigkeit gegenüber den Opfern priorisiert und als Opferersatz konzeptualisiert werden kann. ARN 4 (A) gibt hier eine Antwort: Dass die Liebeswerke an 483 Luz, Matthäus Bd. 2, 231f. 484 Auch wenn wir sehen werden, dass ARN 4 (A) eher den Aspekt der Stellvertretung, der Evangelist hingegen den Aspekt der Priorität der Barmherzigkeit gegenüber der Opferdarbringung betont, ist dieser Unterschied doch nur ein gradueller: So basiert auch die Priorisierung der Barmherzigkeit auf der Annahme, dass der Zuwendung zum Nächsten wie den Opfern die Dimension des Gottesdienstlichen eignet. Die Rabbinen und der Evangelist rezipieren Hos 6,6 auf dieser ihnen gemeinsamen Basis. In der Sache, dass den Liebeswerken gottesdienstlicher Charakter zukommt und diese somit letztendlich Gott selbst gelten, besteht kein Unterschied (vgl. dazu unten im Text). Der Ausdruck „echtes Mehr“ suggeriert aber eben dies. 485 Eine allzu große Nähe des Evangelisten zur rabbinischen Tradition hält Luz aber für wenig wahrscheinlich. So hält er Montefiores Annahme, der Evangelist liege mit seiner Rezeption von Hos 6,6 in Mt 12,7 auf einer Ebene mit der rabbinischen Tradition (vgl. Montefiore, Rabbinic Literature, 242), entgegen: „Das ist nicht ganz unrichtig, aber wahrscheinlich übertrieben!“ (Luz, Matthäus Bd. 2, 234 Anm. 55). Fiedler verteidigt Montefiore und urteilt, dass „ohne Einschränkungen anerkannt werden [muss]: Die pharisäisch-rabbinische Überlieferung hat genau so wie die Jesus-Überlieferung die biblische Überordnung des mitmenschlichen Handelns über das religiöse (im engeren Sinn), wie sie von Prophetie und Weisheit bezeugt wird (vgl. etwa nur noch 1 Sam 15,22; Am 5,22-24; Ps 51,18f; Spr 21,3), aufgenommen und weitergeführt“ (Matthäusevangelium, 248). 486 Auch Schweizer spricht von der Barmherzigkeit als Opferersatz (vgl. Schweizer, Matthäus, 180). Wenn er zugleich – zu Recht – die Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber der Opferdarbringung betont und darin das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zur rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 ausmacht, in der die Tora, Opfer und Liebeserweise (gleichberechtigt) nebeneinanderstünden (vgl. ebd.), dann zeigt sich hier, wie sich Schweizer den Blick auf die Funktionsäquivalenz von Barmherzigkeit und Opfern verstellt: Er richtet sein Augenmerk nahezu ausschließlich auf die Differenzen. Die Frage, inwiefern Barmherzigkeit an die Stelle der Opfer treten kann, spielt auch für ihn keine Rolle.

166 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 die Stelle der Opfer treten können, setzt voraus, dass ihnen wie den Opfern Gottesbezug im engeren Sinne eignet. Die gemilut chassadim gelten wie die Opfer Gott selbst und setzen damit die Gottesgegenwart in der Zuwendung zum Nächsten voraus. Derjenige, der am Mitmenschen Barmherzigkeit übt, begegnet Gott. Liebeswerke und Opferdarbringung teilen somit die Dimension der Gottesgegenwart.487 Es wird zu fragen sein, inwiefern ein solches Verständnis von Hos 6,6 auch der vom Evangelisten vertretenen Priorisierung der Barmherzigkeit zu Grunde liegt. Hiermit ist ein zweiter Aspekt wesentlich verbunden: So sieht Luz zwar zu Recht die ethische Dimension des Terminus ἔλεος, er verkennt dabei aber, dass die Verschränkung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Gottesbeziehung über diesen Terminus läuft: Dass für den Verfasser des Matthäusevangeliums die durch Barmherzigkeit gestalteten zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nur für die Gottesbeziehung transparent sind, sondern der Barmherzigkeit wie den Opfern Gottesgegenwart verheißen ist, hängt, wie zu zeigen sein wird, engstens mit dem Terminus ἔλεος zusammen. Es ist nun das große Verdienst Eric Ottenheijms, den Versuch unternommen zu haben, die in ARN 4 (A) vorliegende Tradition für das Verständnis von Hos 6,6 in Mt 9,9–13 fruchtbar zu machen. Er setzt dabei die Zeitgenossenschaft des Verfassers des Matthäusevangeliums und Rabbi Jochanan ben Zakkais voraus. Ottenheijm kommt zu dem Ergebnis, dass es eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen dem Verfasser des Matthäusevangeliums und Rabbi Jochanan ben Zakkai darin gibt, wie sie Hos 6,6 interpretieren: Beide verstehen ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος im Sinne der Liebeswerke und priorisieren diese mit unterschiedlichen Akzentuierungen gegenüber dem Tempelkult.488 Für beide besitzen die Liebeswerke soteriologische Relevanz. Wie nun begründet Ottenheijm seine Sichtweise? In einem ersten Schritt zeigt er, dass ein rein christologisches Verständnis des Terminus ἔλεος/‫ חֶ סֶ ד‬im Matthäusevangelium keinen Anhalt an den Texten selbst hat. So deute die Einbindung des Schriftzitats aus Hos 6,6 in Mt 9,9–13 ebenso wie in Mt 12,1–8 einen Diskurs über das Gesetzesverständnis („legally scholastic discourse“489; „legal interpretation“490) und damit über ein torakonformes ethisches Verhalten an. Diesem Argument stellt er die hermeneutische Funktion des Doppelgebots der Liebe (Mt 22,34– 40) als Schlüssel zum Tun aller anderen Gebote zur Seite,491 um abschließend darauf zu verweisen, dass die matthäische Verwendung von ἔλεος in Mt 23,23 eindeutig ein menschliches Verhalten im Blick habe.492 Kurzum: Ohne ein christologi487 Vgl. die Interpretation von ARN 4 (A) in Abschnitt 2.1.2. 488 Vgl. Ottenheijm, The Shared Meal, 19. Allerdings bringt Ottenheijm für die Priorisierung der Barmherzigkeit in der in ARN 4 (A) vorliegenden Tradition keine Belege. U. E. liegt sie auch nicht vor. Vielmehr steht hier der Stellvertretungsgedanke im Vordergrund. 489 Ottenheijm, The Shared Meal, 16. 490 Ottenheijm, The Shared Meal, 16. 491 Vgl. Ottenheijm, The Shared Meal, 16. 492 Vgl. Ottenheijm, The Shared Meal, 17.

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sches Verständnis ausschließen zu wollen, führt Ottenheijm die ethische Dimension von ἔλεος/‫ חֶ סֶ ד‬ins Feld.493 Damit schafft er die wesentliche Voraussetzung dafür, ἔλεος im Sinne der gemilut hassadim interpretieren zu können. In einem zweiten Schritt verweist Ottenheijm auf traditionsgeschichtliche Vorläufer einer Äquivalenz zwischen Ethik und Kult, insbesondere auch auf die Ethisierung des Opfergedankens, wie sie z. B. in Sir 35,1–5 greifbar wird.494 Dieser zweite Schritt dient ihm dazu, die Bedeutung der Ethik für das Gottesverhältnis im antiken Judentum deutlich zu machen und das Konzept der Liebeswerke in dieser breiten Tradition zu verorten. In einem letzten Schritt schließlich verweist Ottenheijm auf die soteriologische Relevanz der in Mt 25,31–46 aufgezählten Handlungen, die er zu den gemilut hassadim zählt.495 Daraus zieht er den Schluss, dass sowohl für den Verfasser des Matthäusevangeliums als auch für Rabbi Jochanan ben Zakkai „Hos 6:6 is based on a theology in which acts of mercy are more important than Temple service and the commandments associated with it (laws concerning sacrifice, purification, etc.). As noted earlier, cultic commandments like sacrifice (Matt 5:23–24), Sabbath (Matt 24:20) or prayer belts (Matt 23:5) are not discredited by these. With this reordering of priorities Matthew steers a course through the legal possibilities in early Judaism“.496 Wie diese Ausführungen verdeutlichen, geht Ottenheijm davon aus, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Liebeswerke auf der Erzählebene seines Evangeliums gegenüber den rituellen, auf den Tempel bezogenen Vorschriften priorisiert. Seine These lautet: Der Verfasser des Matthäusevangeliums hat mit ἔλεος wie Rabbi Jochanan ben Zakkai mit ‫ חֶ סֶ ד‬die Liebeswerke im Blick. Der Evangelist vertrete eine Theologie der guten Werke, die mit einer Gewichtung der Toragebote einhergehe.497 Wir halten die von Ottenheijm vorgetragenen Argumente hinsichtlich der ethischen Dimension der Barmherzigkeit und der Analogie zu den gemilut hassadim für plausibel. So zeigen alle drei Stellen, an denen der Evangelist das Substantiv ἔλεος (9,13; 12,7; 23,23) verwendet, dass dieser Begriff zumindest auch ethisch konnotiert ist. An allen drei Stellen fordert der matthäische Jesu Barmherzigkeit von den Pharisäern. Der in seinem Wirken gewährten Barmherzigkeit sollen seine Schülerinnen und Schüler durch ihre eigene Barmherzigkeit entsprechen und sich dadurch von den Pharisäern und Schriftgelehrten unterscheiden. Dies entspricht der Bedeutung der Liebeswerke in der rabbinischen Tradition. Trotz dieser grundlegenden Übereinstimmung greift Ottenheijm u. E. an entscheidender Stelle zu kurz: So berücksichtigt er weder in ausreichendem Maß, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Verfasser des Matthäusevangeliums und den Rabbinen im 493 Luz sieht es genau umgekehrt: Er betont die christologische Dimension, ohne eine paränetische Dimension ausschließen zu wollen (vgl. Luz, Matthäus Bd. 2, 45). 494 Vgl. Ottenheijm, The Shared Meal, 17 mit Anm. 77. 495 Vgl. Ottenheijm, The Shared Meal, 18. Streng genommen zählen nur die Beherbergung der Fremden und die Kleidung Nackter zu den gemilut chassadim (vgl. den Überblick zu den Liebeswerken in der rabbinischen Tradition bei Müller, Diakonie, 81–119). 496 Ottenheijm, The Shared Meal, 19. 497 Vgl. Ottenheijm, The Shared Meal, 21.

168 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Ausweis der Sündenvergebung als hervorragendster Konkretion der Barmherzigkeit besteht, noch geht er ebenso wenig wie Luz grundsätzlicher auf die Voraussetzung der Funktionsäquivalenz zwischen Liebeswerken/Barmherzigkeit und Opferdarbringung ein. Diese Aspekte gilt es bei der Interpretation von Mt 9,9–13 zu berücksichtigen. Wie die angeführten Beispiele zeigen, gibt es im Blick auf die Verhältnisbestimmung der Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangelium und in der rabbinischen Literatur erhebliche Differenzen. Während Hill eine direkte polemische Auseinandersetzung zwischen dem Evangelisten und seinem rabbinischen Zeitgenossen Jochanan ben Zakkai um eine angemessene Interpretation von Hos 6,6 für möglich hält,498 nimmt die Mehrheit der Forscher keine direkte Bezugnahme an. Mit Ausnahme von Ottenheijm dient ihnen der Vergleich mit dem Verständnis von Hos 6,6 vor allem als Negativfolie, selbst dort, wo die stellvertretende Funktion der Barmherzigkeit auch für die matthäische Rezeption vorausgesetzt und somit eigentlich eine gewisse Nähe zur rabbinischen Rezeption angenommen wird (Luz). Im Folgenden soll der Relevanz der rabbinischen Interpretation von Hos 6,6 für das Verständnis dieses Verses innerhalb des Matthäusevangeliums nachgegangen werden. Dabei beschränken wir uns auf die Verwendung von Hos 6,6 in ARN 4 (A). Anknüpfend an die bereits oben an Luz (und in geringerem Maße an Ottenheijm) geübte Kritik soll gezeigt werden, dass für das Verständnis von Hos 6,6 im Matthäusevangelium wie in ARN 4 (A) die Funktionsäquivalenz der Barmherzigkeit zu den Opfern eine herausgehobene Rolle spielt. Die von uns vertretene These lautet: Der Verfasser des Matthäusevangeliums konzeptualisiert Barmherzigkeit als nichtkultisches Opfer. Als Hingabe an den Nächsten ist Barmherzigkeit Hingabe an Gott in einem nichtkultischen Kontext. So wird gegenüber dem Nächsten geübte Barmherzigkeit zum Ort der Gottesbegegnung. Eine solche Sichtweise greift das weit verbreitete komparativische Verständnis der Aussage „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ im Sinne von „Barmherzigkeit will ich mehr als Opfer“ auf,499 geht aber insofern darüber hinaus, als sie die Partizipation der Barmherzigkeit an der Gottesgegenwart der Opfer als Voraussetzung ihrer Priorisierung offenlegt: Die Beziehung zum Nächsten teilt ihre Würde als gottesdienstlicher Akt mit der Würde der Gottesgegenwart im Kult. Erst auf dieser gemeinsamen Grundlage kann das „Mehr“ in den Blick genommen werden. Es ist zu vermuten, dass sich das im ersten Kapitel dieser Arbeit herausgearbeitete Verständnis von Barmherzigkeit und ihrer Grundstruktur des Hinausgehens über eine bleibend gültige Grundlage sich auf seine Weise auch im matthäischen Verständnis des Hoseazitats widerspiegelt. Im 498 Hill, Hosea vi. 6, 119. 499 Die Mehrheit der Alt- und Neutestamentler versteht diese Aussage komparativisch. Der Matthäusspezialist Daniel M. Gurtner hebt die in der Forschung weit verbreitete Annahme hervor, dass das matthäische καὶ οὐ „is not a starkly contrastive assertion but a Hebraic idiom of ‘dialectical negation’ meaning ‘I desire mercy more than sacrifice’“ (Theology of the Temple, 134). Gurtner verweist auf Ulrich Luz, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass dieses Verständnis des καὶ οὐ von Hosea, dem Targum zu Hosea und der zeitgenössischen jüdischen Exegese geteilt wird (vgl. Luz, Matthäus Bd. 2, 44).

2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition

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Folgenden wird nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der matthäischen und der rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 mit dem Ziel eines besseren Verständnisses der Relevanz der Barmherzigkeit im Matthäusevangelium gefragt. Die Interpretation der bereits mehrfach genannten Tradition aus ARN 4 (A) sowie ein Vergleich dieser Tradition mit Mt 9,13 und Mt 12,7 steht im Zentrum dieses Kapitels. Auch wenn die Frage nach den historischen Abhängigkeiten zwischen der rabbinischen und der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 – wenn überhaupt – nur eine nachgeordnete Rolle spielt, teilen wir zwei nahezu unstrittige Grundannahmen: (1) Das Matthäusevangelium und die rabbinische Tradition fallen beide in die Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels. (2) Der Verfasser des Matthäusevangeliums steht den Gruppierungen, die maßgeblichen Einfluss auf die Entstehung des rabbinischen Judentums haben, nahe, auch wenn sich diese Nähe im Evangelium aufgrund des Bruchs mit dem pharisäisch-protorabbinischen Judentum vor allem in Form scharfer Polemik zeigt. Beides legt einen Vergleich der Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangelium und in der rabbinischen Tradition mehr als nahe.

2.1.2 Hos 6,6 in ARN 4 (A): Liebeswerke als Opferäquivalent Die rabbinische Tradition, auf die bei der Interpretation von Mt 9,9–13 (bzw. Mt 12,1–8) verwiesen wird, findet sich in Avot deRabbi Natan (A), einem Kommentar zum Mischnatraktat Avot. Avot deRabbi Natan, das ausschließlich aus haggadischem Material besteht, liegt in zwei Fassungen vor (A und B), die zum Teil erheblich voneinander abweichen.500 Auf die umstrittene Datierung der beiden Fassungen muss hier nicht eingegangen werden, zumal die in den beiden Versionen gebotenen Einzeltraditionen sehr viel älter sein können als zur Zeit ihrer jeweiligen Abfassung. Entscheidend ist bei der uns interessierenden, mit Rabbi Jochanan ben Zakkai verbundenen Tradition die Reflexion darüber, wie und wo der Gott Israel angesichts der Zerstörung des Tempels verehrt werden kann, und der Rückgriff auf Hos 6,6 zur Beantwortung dieser existentiellen Frage. Das vierte Kapitel von ARN (A), in dem sich die uns interessierende Tradition findet, legt einen Spruch Simon des Gerechten (2./3 Jh. v. Chr.)501 aus mAv 1,2 aus, dem zufolge die Welt auf drei Pfeilern steht, der Tora (‫התּוֹרה‬ ָ ), dem Tempelgottesdienst (‫ )הָ ﬠְ ַבוֹדָ ה‬und den Werken der Barmherzigkeit/Liebeswerken (‫)גְּ ִמלוּת חְ ַסָ ִדים‬. Unser Ausschnitt erscheint im Kontext der Frage, inwiefern die Liebeswerke (‫ )גְּ ִמלוּת חְ ַסָ ִדים‬ein Pfeiler sind, auf dem die Welt ruht. Nachdem in einem ersten

500 Vgl. hierzu und zu Folgendem den Überblick bei Stemberger, Einleitung, 248–251. 501 Vgl. Stemberger, Einleitung, 79.

170 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Durchlauf Hos 6,6 und Ps 89,3 zueinander in Beziehung gesetzt werden, um zu verdeutlichen, dass die Welt einzig aufgrund von Gottes Güte geschaffen wurde, beschäftigt sich der zweite Durchlauf mit der Möglichkeit der Sühnung der Sünden Israels angesichts der Tempelzerstörung. Wir zitieren den Text aus Avot deRabbi Natan (A) in der englischen Übersetzung und Unterteilung von Jacob Neusner, dem zufolge das vierte Kapitel in sieben Abschnitte unterteilt werden kann. Unsere Tradition findet sich im zweiten von drei Unterschabschnitten des fünften Abschnitts von Kapitel 4: „2. A. One time [after the destruction of the Temple] Rabban Yohanan ben Zakkai was going forth from Jerusalem, with R. Joshua following after him. He saw the house of the sanctuary lying in ruins. B. R. Joshua said, ‘Woe is us for this place which lies in ruins, the place in which the sins of Israel used to come to atonement.’ C. He said to him, ‘My son, do not be distressed. We have another mode of atonement, which is like (atonement through sacrifice], and what is that? It is deeds of loving-kindness. D. ‘For so it is said, For I desire mercy and not sacrifice, [and the knowledge of God rather than burnt-offerings] (Hos 6:6).’“ 502 In dieser kurzen Erzählung, die auf die Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer und die damit verbundene erzwungene Aufgabe des Opferkultes zurückblickt, wird die Aussage aus Hos 6,6 „Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer“ (Lutherbibel, Revision 2017) herangezogen, um die menschlichen „Liebeswerke“ bzw. „Taten der Barmherzigkeit“ (gemilut hassadim)503 als Ersatz für die nicht mehr mögliche Opferdarbringung einzuführen und zu legitimieren. Grundlage dieser Interpretation ist insbesondere die Doppelstruktur des ‫חֶ סֶ ד‬-Begriffs. Wie wir im ersten Kapitel dieser Arbeit gesehen haben,504 ist ‫ חֶ סֶ ד‬im Hoseabuch ein Beziehungsbegriff, der einerseits – wie in Hos 6,4.6 – das Gott-Mensch-Verhältnis im Blick hat, andererseits aber auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen transparent ist: Die Hingabe an Gott zeigt sich nicht nur im Kult, sondern gleichermaßen in der Hingabe an den Mitmenschen (vgl. Hos 4,1f.). In diesem Sinne stellt Jörg Jeremias zu Hos 6,6 fest: „Es ist eine Eigenart Hoseas, daß er den Begriff h.aesaed (‚Hingabe‘), der gemeinhin – mit Menschen als logischem Subjekt – hingebungsvolle Hilfe gegenüber anvertrauten Mitmenschen in der Not bezeichnet, 502 Neusner, The Fathers According to Rabbi Nathan, 41. Strack/Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament Bd. 1, 500, übersetzen: „Einmal war Rabban Jochanan b. Zakkai … aus Jerusalem hinausgegangen u(nd) R(abbi) Jehoschuas ging hinter ihm (folgte ihm als sein Schüler), u(nd) er sah das Heiligtum zerstört, die Stätte, da man für die Sünden Israels Sühnung beschaffte. Er sprach zu ihm: Mein Sohn, es mißfalle dir nicht! wir (sic!) haben Eine Sühne, die jener gleicht; u(nd) welche das ist? Das sind die Liebeserweisungen, s. Hos 6,6.“ 503 Zur konkreten inhaltlichen Füllung dieser Liebeswerke vgl. unten im Text S. 175–176 mit den entsprechenden Anmerkungen. 504 Vgl. Abschnitt 1.2.2.2.4.

2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition

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entschlossen auf das Gottesverhältnis bezieht (vgl. V. 4). Darin kommt zum Ausdruck, daß für diesen Propheten alle intakten menschlichen Beziehungen in intakter Gottesbeziehung gründen.“505 Umgekehrt gilt für Jeremias gleichermaßen, dass sich in den zwischenmenschlichen Beziehungen die Gottesbeziehung widerspiegelt. In diesem Sinne hatte er im Rahmen seiner Auslegung von Hos 4,1 festgestellt, dass ‫ חֶ סֶ ד‬an dieser Stelle zwar die Güte bzw. Liebe in zwischenmenschlichen Beziehungen bezeichne, darin aber auch Ausdruck des menschlichen Gottesverhältnisses sei.506 Der Unterschied zu den Versen Hos 6,4.6, in denen als „dem gewichtigsten Beleg für Hoseas Deutung“507 des Terminus ‫„ חֶ סֶ ד‬unmittelbarer noch als hier (4,1; J.-C. M) auf das Gottesverhältnis angespielt“508 werde, sei aber nur ein relativer. Es werde „kein grundlegender Unterschied gesetzt, sondern nur eine geringfügige Gewichtsverlagerung vollzogen“509. Kurzum: Unabhängig davon, ob ‫ חֶ סֶ ד‬primär die zwischenmenschlichen Beziehungen oder aber die Gottesbeziehung im Blick hat, ist dieser Begriff nach Jeremias für das jeweils andere Verhältnis transparent.510 Gottesbeziehung und zwischenmenschliche Beziehungen sind hier ineinander verschränkt. Diese Doppelstruktur des ‫חֶ סֶ ד‬-Begriffs im Hoseabuch liegt auch der Interpretation Rabbi Jochanan ben Zakkais zu Grunde. Dabei bezieht sich ‫ חֶ סֶ ד‬für ihn wie schon für Hosea in erster Linie auf das Gottesverhältnis. Es ist dieser gemeinsame Gottesbezug von ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫זֶבַ ח‬, der es ermöglicht, dass die Liebeswerke an die Stelle der Opfer treten können. Dieser Sachverhalt sei im Folgenden in drei Punkten erläutert: 1. Für Jochanan fungiert ‫ חֶ סֶ ד‬in einem sehr spezifischen Sinne als Opferersatz: Die Opfer besitzen Sühnequalität. Eine Äquivalenz zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ זֶבַ ח‬besteht also nicht nur darin, dass sie verschiedene Formen/Aspekte des Gottesverhältnisses des Menschen beschreiben, sondern auch darin, dass sie die gleiche spezifische Funktion besitzen. ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ זֶבַ ח‬verhalten sich hinsichtlich der mit ihnen gegebenen Möglichkeit der Versöhnung mit Gott funktionsäquivalent. Aus diesem Grund kann zwischenmenschlich gewährte Barmherzigkeit als gleichwertiger Ersatz an die Stelle der Opfer treten.511 In diesem Sinne stellt Barmherzigkeit nach Auffassung 505 506 507 508 509 510

Jeremias, Hosea, 89 Anm. 28. Vgl. Jeremias, Hosea, 61. Jeremias, Hosea, 61. Jeremias, Hosea, 61. Jeremias, Hosea, 61. Vgl. Jeremias, Hosea, 61. Vgl. auch Glueck: „Ḥesed besteht nicht im korrekten Opferdarbringen oder in äußerer Frömmigkeit, sondern im sittlich-religiösen Handeln, in der hingebenden Erfüllung der göttlichen ethischen Gebote. In diesem Sinne ist ‫ חסד‬als die Verhaltungsweise der Menschen unter sich nicht verschieden vom ‫ חסד‬der Menschen Gott gegenüber. Aus sittlichen Taten ist die richtige religiöse Gesinnung erkennbar“ (Das Wort ḥesed, 22f.). 511 Die spätere rabbinische Tradition geht aufgrund dessen, dass Opfer nur zur Zeit des Tempels dargebracht werden konnten, Gerechtigkeit aber nicht an die Existenz des Tempels gebunden ist, von der Höherwertigkeit der Gerechtigkeit aus (vgl. den vermutlich nachtalmudischen Midrasch Devarim Rabba 5,3 zu Dtn 16,18, übersetzt und kommentiert bei Müller, Dia-

172 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 der Rabbinen ein Gott dargebrachtes nichtkultisches Opfer dar. Diese Gleichwertig- und Vergleichbarkeit von ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ זֶבַ ח‬dürfte sprachlich einen Anhaltspunkt auch darin haben, dass das Verb ‫חפץ‬, das in der Aussage „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ „allgemeingültig den Willen Jahwes [konstatiert]“512, ein kultischer Terminus für die Anrechnung oder Verwerfung der Opfergaben oder eines ethischen Verhaltens ist.513 Die Ablehnung der Opfer geht also auf sprachlicher Ebene damit einher, dass der den menschlichen ‫ חֶ סֶ ד‬fordernde Wille Gottes in für den Kult transparenter Terminologie zum Ausdruck gebracht wird. Hier wird einmal mehr deutlich, dass es bei der in Hos 6,6 vorliegenden Kultkritik nicht um eine prinzipielle Infragestellung des Kultes geht. Vielmehr zeigt sich trotz der sprachlich antithetischen Formulierung umgekehrt die kultische, d. h. die gottesdienstliche Relevanz der Ethik.514 Überspitzt formuliert: Das Verb ‫ חפץ‬verschränkt die ethische und die kultische Dimension des Gottesdienstes miteinander. 2. Mit Punkt (1) ist ein weiterer Aspekt wesentlich verbunden. Wir haben bis jetzt allgemein davon gesprochen, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen, die durch ‫ חֶ סֶ ד‬gekennzeichnet sein sollen, für die Beziehung zu Gott transparent sind: In ihnen spiegelt sich, so hatte es Jeremias bei seiner Interpretation von Hos 4,1f. konie, 199). Auch das ist eine Form der Priorisierung, die in diesem Falle der Legitimierung dessen dient, dass Gerechtigkeit und Recht an die Stelle der Opfer treten. Vgl. aber auch das Diktum Rabbi El’azars in bSuk 49b: „Größer ist der, welcher tsedaqa tut, als der, welcher Opfer bringt; wie es heißt: ‚Gerechtigkeit und Recht zu tun ist dem HERRN lieber als Opfer‘ (Prov 21,3)“ (Übersetzung Müller, Diakonie, 195). Goldschmidt konkretisiert in seiner Übersetzung des Babylonischen Talmud die Gerechtigkeitstat als Almosengabe: „Almosen geben ist bedeutender als alle Opfer, denn es heißt: Almosen und Gerechtigkeit ist dem Herrn lieber als Opfer.“ 512 Wolff, Hosea, 153. 513 Vgl. Jeremias, Hosea, 88; Wolff, Hosea, 153. Beide verweisen auf Rendtorff, Priesterliche Kulttheologie und prophetische Kultpolemik, in: ThLZ 81 (1956), 339–342. 514 Hinsichtlich der prophetischen Kultkritik hat Christian Eberhart betont, dass die Metaphorisierung der Opferhandlungen letztendlich auf eine Restitution des Kultes zielt (vgl. Eberhart, Kultmetaphorik, 73f.). Im Blick auf Ps 50,14, Ps 51,19 und Prov 15,8 stellt er fest: „Anstelle eines Kontrastes zwischen dem materiellen Opfer einerseits und dem Tun des göttlichen Willens andererseits präsentieren diese Texte Beispiele gottgefälliger Lebensführung mittels Metaphorik aus dem Opferkult. Handlungen, die persönliche Frömmigkeit zum Ausdruck bringen, werden also als kultische Opfer bezeichnet“ (Kultmetaphorik, 65). Dies sei deshalb möglich, weil sie „Ausdruck der Beziehung zu Gott, Bestandteil des persönlichen oder kollektiven Gottesdienstes und als Gaben der Menschen letztendlich auf Gott gerichtet sind“ (ebd.). Gleiches lässt sich u. E. auch über Hos 6,6 sagen, wobei im Blick auf die Septuaginta und die im Matthäusevangelium vorliegende Fassung des Verses zu beachten ist, dass mit der Wiedergabe von ‫ חָ פ ְַצ ִתּי‬mit θέλω die kultische Dimension der Barmherzigkeit verloren geht. Insofern liegt der masoretische Text von Hos 6,6 entgegen der Einschätzung Eberharts auf einer Linie mit Ps 50,14, Ps 51,19 und Prov 15,8, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie die Opfer verwerfen, das Tun des göttlichen Willens aber in kultischer Terminologie zum Ausdruck bringen und dadurch deutlich machen, dass keine prinzipielle Kultkritik vorliegt. In der rabbinischen Rezeption hingegen liegt offen zu Tage, dass die kultische Relevanz der Liebeswerke eine Möglichkeit darstellt, den Verlust des Tempels zu kompensieren.

2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition

173

ausgedrückt, der Zustand des Gottesverhältnisses wider: „Sie (die Güte = ‫;חֶ סֶ ד‬ J.-C. M) ist primär auf Menschen bezogen, betrifft aber ebendarin auch Gott, weil sich in Vollzug oder aber Unterlassung solchen Tuns intaktes oder zerbrochenes Gottesverhältnis widerspiegelt.“515 In vergleichbarer Weise hatte Nelson Glueck zu Hos 4,1f. festgehalten, dass „[a]us sittlichen Taten … die richtige religiöse Gesinnung erkennbar [ist]“516. Angesichts dessen, dass in ARN 4 (A) die gegenüber dem Nächsten geübten gemilut hassadim an die Stelle der nicht mehr möglichen Darbringung der Opfer treten und deren Funktion übernehmen, muss die Frage erlaubt sein, ob die von Jeremias und Glueck verwendeten Formulierungen hinsichtlich der rabbinischen Auffassung, die die beiden Exegeten auch nicht im Blick haben, weit genug greifen. Wenn die Liebeswerke nicht nur dem konkreten Nächsten getan, sondern gleichzeitig Gott als nichtkultische Opfer dargebracht werden, dann kommt es bei der Hingabe an den Nächsten zur Hingabe an Gott. Ist Gott im Tempel als dem Ort, an dem er seine Gegenwart wohnen lässt, präsent, so legt sich die Annahme seiner Gegenwart auch bei der als Opfer verstandenen Hingabe an den Nächsten nahe. In den Liebeswerken eignet gottesdienstlicher Charakter. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Vorstellung des Verfassers des Matthäusevangeliums, dass denjenigen Eintritt ins Himmelreich gewährt wird, die ihre „Taten der Gerechtigkeit/Barmherzigkeit“517 nicht nur an ihrem Nächsten, sondern im Nächsten am wiederkommenden Menschensohn selbst geübt haben (Mt 25,31– 46). Wir werden darauf im nächsten Punkt zurückkommen. Vorab aber sei noch bemerkt, dass die Rabbinen die Anwesenheit Gottes in der Nächstenliebe in ARN 4 (A) nicht explizit machen.518 Sie stellen schlichtweg fest, dass die Barmherzigkeit an die Stelle der Opfer tritt und deren sühnende Funktion übernimmt. Das aber setzt voraus, dass die Liebeswerke an der Gottesgegenwart des (nicht mehr möglichen) Kultes partizipieren und diese teilen. Dieser Aspekt wird sich auch bei unserer Auslegung von Mt 9,9–13 und Mt 12,5–7 als wesentlich erweisen. 3. Wir müssen nochmals auf die Doppelstruktur des ‫חֶ סֶ ד‬-Begriffs zurückkommen: ‫ חֶ סֶ ד‬eignet nicht nur ein Gottesbezug, der es ermöglicht, Barmherzigkeit und Opfer 515 Jeremias, Hosea, 61. 516 Glueck, Das Wort ḥesed, 22. 517 In der Rede selbst fehlt der Terminus Barmherzigkeit. Zur Konvergenz von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Matthäusevangelium und in der rabbinischen Literatur vgl. unten im Text. 518 Anders hingegen z. B. in einer tannaitischen Überlieferung, in der das „Krankenbett … geradezu als Ort der Gottesgegenwart vorgestellt [wird], der zu Ehrerbietung und Demut des Menschen Anlaß gibt“ (Müller, Diakonie, 101). Die Tradition findet sich in bNed 40a: „Ferner sagte Rabin im Namen Rabhs: Woher, daß die Göttlichkeit über dem Lager des Kranken weilt? Es heißt: der Herr stützt ihn auf seinem Schmerzenslager. Ebenso wird gelehrt: Wer einen Kranken besucht, setze sich nicht auf ein Bett noch auf eine Bank noch auf einen Stuhl, sondern hülle sich ein und setze sich auf die Erde, weil die Göttlichkeit über dem Lager des Kranken weilt, denn es heißt: der Herr stützt ihn auf dem Schmerzenslager“ (Übersetzung Goldschmidt). Mit „Göttlichkeit“ übersetzt Goldschmidt das hebräische schechina (‫)שׁכינה‬, beim Zitat aus der Hebräischen Bibel handelt es sich um Ps 41,4.

174 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 als Äquivalente zu betrachten, sondern ihm ist auch ein Bezug zum Mitmenschen eigen. Diesen Bezug realisieren die Rabbinen durch ihre Interpretation von ‫ חֶ סֶ ד‬im Sinne der gemilut hassadim, ohne damit den grundlegenden Gottesbezug in Frage stellen zu wollen. Vielmehr müssen, wie in Punkt 2 angedeutet, gerade die Liebeswerke gegenüber dem Mitmenschen als Ausdruck der Gottesliebe, mehr noch: als an Gott geübte Liebe verstanden werden. Im direkten Anschluss an den Verweis auf Hos 6,6 findet sich in der oben nach Neusner zitierten rabbinischen Tradition in ARN 4 (A) eine Passage, in der die gemilut hassadim im Sinne der Ausstattung der Braut, des Totengeleits, des Almosengebens und des Gebets519 gedeutet werden. Daneben zählt in der rabbinischen Tradition die Aufnahme Fremder, das Großziehen von Waisenkindern, das Hineinführen der Braut, der Besuch von Kranken und das Trösten der Trauernden zu den Liebeswerken.520 Bezeichnenderweise, auch das wurde bereits im vorangehenden Punkt angedeutet, finden sich zwei dieser rabbinischen Werke der Barmherzigkeit, die Aufnahme der Fremden und der Besuch der Kranken, auch im sogenannten Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25,31– 46. Die im Gleichnis aufgeführte Speisung der Hungernden und das Kleiden der Nackten (V. 35.36) hingegen zählt in der rabbinischen Literatur zu den Taten der Gerechtigkeit.521 Wenn der Verfasser des Matthäusevangeliums diejenigen, die die in Mt 25,31–46 aufgeführten Werke getan haben, als „Gerechte“ bezeichnet (V. 37.46), in der christlichen Tradition aber die Bezeichnung der aufgeführten Taten als „Werke der Barmherzigkeit“ vorherrscht, dann weist das auf eine Konvergenz zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit hin, die ihren Ausgangspunkt in der Konvergenz von ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫ צְ דָ קָ ה‬in der Hebräischen Bibel hat und die sich dann

519 Wenn Müller im Blick auf diese konkrete inhaltliche Füllung der Liebeswerke davon ausgeht, dass „[d]as Moment des Kultisch-Gottesdienstlichen in gemilut chassadim … im rabbinischen Denken nach der Aufhebung des Tempeldienstes – wie der Opferkult überhaupt – in den Vollzug von Gebet überführt [wird]“ (Diakonie, 154) und im selben Zusammenhang feststellt, dass die Wendung gemilut chassadim „für die frühen Rabbinen jedenfalls umfassender Ausdruck für Frömmigkeit und gottwohlgefälliges Tun [ist], der den Bezug zu Gott und zum Nächsten zusammenzuhalten versucht“ (ebd.), dann wäre zu fragen, ob er damit nicht doch das Kultisch-Gottesdienstliche in der Zuwendung zum Nächsten, das er im Blick auf andere rabbinische Stellen zu den Liebeswerken bzw. den Taten der Gerechtigkeit betont (zu ‫צְ דָ קָ ה‬ vgl. Müller, Diakonie, 220; zu den gemilut chassadim vgl. ebd., 179), an dieser Stelle zu stark außen vor lässt. Ließe sich nicht auch diese Stelle so verstehen, dass die Zuwendung zum Nächsten wie das Gebet in der Gegenwart Gottes erfolgt? 520 Vgl. dazu ausführlich die Auflistung und die feinfühlige Interpretation der entsprechenden rabbinischen Stellen bei Müller, Diakonie, 81–119. 521 Das Besuchen der Gefangenen, das nach Mt 25,36 zu den Taten der Gerechtigkeit zählt, hat seine nächste Parallele im rabbinischen Gerechtigkeitswerk der Auslösung der Gefangenen (vgl. zu diesem Werk Müller, Diakonie, 127–130). Im Besuch der Gefangenen spiegelt sich im Matthäusevangelium mit einiger Wahrscheinlichkeit die soziale Wirklichkeit der Gemeinde wider, die sich nach dem Ausschluss aus dem Synagogenverband Repressalien ausgesetzt sah (vgl. Mt 5,10.11.44).

2.1 Hos 6,6 in der rabbinischen Tradition

175

auch in der Septuaginta und der rabbinischen Tradition522 fortsetzt. In der Septuaginta ist diese Konvergenz besonders augenfällig: So kann ‫ צְ דָ קָ ה‬sowohl mit δικαιοσύνη als auch mit ἐλεημοσύνη wiedergegeben werden523 und diese Übersetzung neben die Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬mit ἔλεος treten. Die Konvergenz von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit spiegelt sich hier auch auf der sprachlichen und lautmalerischen Ebene. Sie wird in der neutestamentlichen Forschung auch für das Matthäusevangelium524 und insbesondere das Gleichnis vom Weltgericht vorausgesetzt. So betont Klaus Müller: „Mt 25 ist neben vielen weiteren wichtigen Aspekten auch eine Auslegung des Makarismus in Mt 5,7, auch eine Auslegung dessen, was Barmherzigkeit im Vorblick auf das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit bedeutet und nicht zuletzt auch Konkretisierung der Taten eines ἐλεεῖν, das in 25,44 διακονεῖν genannt wird.“525 Diese Taten der Barmherzigkeit/Gerechtigkeit besitzen unmittelbar soteriologische Relevanz.

522 Im Blick auf die Konvergenz und Interdependenz von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der rabbinischen Tradition ist eine in bSuk 49b aufbewahrte Tradition von Bedeutung: „Die tsedaqa nimmt Maß bei der Liebe (chässäd), die in ihr ist“ (Übersetzung Müller, Diakonie, 359; Goldschmidt konkretisiert in seiner Übersetzung: „Das Almosen wird nur nach der damit geübten Liebe bezahlt…“). Der Maßstab der Gerechtigkeit ist dieser Tradition zufolge – wie in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) – die Barmherzigkeit, wobei ‫צְ דָ קָ ה‬ eher den Aspekt der Verbindlichkeit, ‫ חֶ סֶ ד‬hingegen den Aspekt der freien Zuwendung zum Ausdruck bringen dürfte. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gehen also trotz ihrer Gemeinsamkeiten nicht ineinander auf, bleiben aber in ihrer Differenz engstens aufeinander bezogen. Eine schöne Beschreibung der Konvergenz und Interdependenz der Liebeswerke und der Gerechtigkeit in der rabbinischen Tradition findet sich zum Abschluss seiner umfänglichen Untersuchung der jüdischen Sozialtraditionen bei Müller, der zu Beginn des Zitats auf Jer 9,22f. rekurriert: „Daß Gott chässäd, mischpat und tsedaqa liebt, ist theologisches Reden, welches die Dimension des ethischen Anspruchs mit umgreift. Woran Gott Gefallen hat, soll sich auch im Handeln des Menschen abbilden. In der Gestalt von gemilut chässäd ist die Zuwendung reines Geschenk, Gnade, unverrechenbares und unkonditioniertes Aussein auf die Lebensmöglichkeiten des bzw. der anderen, schlechthin lebensstiftend. In der Gestalt von tsedaqa ist die Zuwendung rechtsverbindliche und verläßliche, erwartbare Solidarität, orientiert an der Vollgültigkeit des Lebens, die Partizipation am Lebensnotwendigen sicherstellend. tsedaqa und chässäd befinden sich in einer ständigen cooperatio vitae causa“ (Diakonie, 358). 523 ‫ צְ דָ קָ ה‬wird z. B. in Dtn 6,25; 24,13; Ps 102,6 (LXX); Jes 1,27 mit ἐλεημοσύνη wiedergegeben. 524 So stellt z. B. Hill fest, dass „the search for the content and meaning of the ‘better righteousness’ that is urged by Matthew on his community finds its conclusion, at least in part, in the words of Hos. vi. 6, ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν“ (Hosea vi. 6, 117). 525 Müller, Diakonie, 434. Vgl. auch den Hinweis Matthias Konradts darauf, dass die Angemessenheit der Bezeichnung der in Mt 25,31–46 aufgeführten Werke als „Werke der Barmherzigkeit“ „unstrittig“ ist (Mitleid und Erbarmen, 149). Konradt verweist in diesem Kontext darauf, dass die Speisung Hungernder und die Zuwendung zu den Kranken an verschiedenen Stellen des Evangeliums mit der Rede vom Erbarmen verbunden wird (12,7: Speisung Hungernder; 9,27; 15,22 u. ö.: Zuwendung zu Kranken), und zudem auf die Charakterisierung der Speisung Hungernder und der Kleidung Nackter als Barmherzigkeitserweise in Tob 1,16f. (vgl. ebd., 149 mit Anm. 55).

176 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Ein weiterer Aspekt ist im Blick auf die folgenden Abschnitte dieses Kapitels relevant: So zeigt sich die Konvergenz zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in der rabbinischen Tradition darin, dass beide überrechtlicher Natur sind, d. h. über die Ebene des formalen Rechts hinausgehen,526 und beide als gottesdienstliche Akte qualifiziert werden.527 Dass Barmherzigkeit im Matthäusevangelium über das Recht hinausgeht, konnten wir bereits als ein wichtiges Ergebnis unserer Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) festhalten. Dass es sich um gottesdienstliche Akte handelt, ein Aspekt der in Mt 25,31–46 deutlich vor Augen tritt (Gottesgegenwart), wird bei unserer Interpretation von Mt 9,13 bzw. 12,7 in ihrem jeweiligen Kontext zu zeigen sein.528

2.2

Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

Im Vorangehenden wurde u. a. in der kritischen Würdigung der Position Ottenheijms angedeutet, wie weiterführend ein Vergleich der Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangelium mit der rabbinischen Rezeption dieses Verses sein kann. Im Folgenden soll deshalb dem matthäischen Verständnis von Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter Bezugnahme auf die in ARN 4 (A) vorliegende rabbinische Tradition nachgegangen werden. In einem ersten Schritt (2.2.1) wird gezeigt werden, dass es sich bei der in den Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern gewährten 526 In diesem Sinne stellt Müller in der abschließenden Bündelung seiner Ergebnisse zum Terminus ‫ צְ דָ קָ ה‬in der rabbinischen Tradition fest: „Auch die tsedaqa tut, was für chässäd ganz und gar gilt: sie übersteigt die Linie des gesetzten Rechts – mit dem rabbinischen terminus technicus: ‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫ ;לִ פְ נִ ים ִמ‬sie tut dies wohlgemerkt nicht, um sich aus dem Rechtsbereich zu verabschieden, sondern – im Sinne des mischpat schalom – um dem ganz konkreten Tun der tsedaqa-Pflichten ein entscheidendes Prinzip, ein Optimierungsangebot zuzuführen, das als stete Orientierungsgröße zu verfolgen ist, ohne es möglicherweise je voll realisieren zu können“ (Diakonie, 220). Vgl. auch die Charakterisierung der gemilut chassadim bei Ottenheijm, dem zufolge es sich um „informal actions on the level of interpersonal relations“ handelt (The Shared Meal, 18), um Handlungen also, die rechtlich nicht eingeholt werden können. 527 ARN 4 (A) setzt voraus, dass die gemilut chassadim an die Stelle der nicht mehr möglichen Opferdarbringung treten und als nichtkultische Opfer Gott dargebracht werden. Gleiches gilt für die Werke der Gerechtigkeit: So hält Müller zum Abschluss seiner Ausführungen zur Bedeutung des Begriffs ‫ צְ דָ קָ ה‬in der rabbinischen Literatur fest, dass ‫„ צְ דָ קָ ה‬als ein Dienst von Mensch zu Mensch auch die Züge des Kultisch-Gottesdienstlichen an[nimmt], ja … in den Präsenzbereich Gottes selbst [einführt]“ (Diakonie, 221; zu den einzelnen rabbinischen Stellen, die ihn zu diesem Urteil führen, siehe ebd., 182–221, insbesondere 199–204). 528 In der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) deutet sich die gottesdienstliche Relevanz darin an, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung verschränkt werden: Das Verhalten gegenüber dem Nächsten betrifft die Beziehung zu Gott unmittelbar.

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

177

Sündenvergebung um die hervorragendste Konkretion der göttlichen Barmherzigkeit handelt, die in den Mahlgemeinschaften der Schülerschaft Jesu (Mt 26,26– 30) fortgeschrieben und nachgeahmt werden soll. Den Mahlgemeinschaften Jesu und der Gemeinde eignet dabei in Analogie zu den Mahlgemeinschaften im Tempel Gottesgegenwart.529 Das klingt nicht nur in der schieren Präsenz des Immanuel (Mt 1,23) an, sondern wird auch an der Einfügung von Hos 6,6 deutlich: Der Evangelist profiliert die den Zöllnern und Sündern gewährte und die innergemeindliche Sündenvergebung bzw. Barmherzigkeit als Orte der Präsenz Gottes: Als gegenüber den Opfer priorisierte partizipiert die Barmherzigkeit an der Gottesgegenwart der Opfer. Anknüpfend daran gilt es in einem zweiten Schritt (2.2.2), das matthäische Verständnis der Barmherzigkeit als Opferäquivalent bzw. als nichtkultisches Opfer als Grundlage der Priorisierung der Barmherzigkeit offenzulegen und zu entfalten: Vergleichbar mit der in ARN 4 (A) vorliegenden rabbinischen Tradition besitzt die sich in der Sündenvergebung konkretisierende Barmherzigkeit der Schülerschaft Jesu Sühnequalität und ist somit von soteriologischer Relevanz: Barmherzigkeit erweist sich als nichtkultisches Sühnopfer. Dieser Aspekt wird in kritischer Diskussion des bisher in der Forschung vorherrschenden Verständnisses der Opposition ἔλεος – θυσία in Mt 9,13 (bzw. 12,7) herausgearbeitet werden (2.2.2.1). Darüber hinaus gilt es einem weiteren Aspekt Rechnung zu tragen: Tertium comparationis der Barmherzigkeit und der Opfer ist im Matthäusevangelium nicht nur der gemeinsame Gottesbezug, sondern auch der Gegenseitigkeitscharakter: Opfer und Barmherzigkeit zielen auf Gegenseitigkeit und sind Ausdruck eines lebendigen Beziehungsgeschehens (2.2.2.2).530 Diese beiden wesentlichen Aspekte der Opfer werden in der Regel marginalisiert oder übersehen. In einem letzten Schritt (2.2.3) werden wir exemplarisch am Tobitbuch nachweisen, dass der Verfasser die Vorstellung der sühnenden Kraft der Barmherzigkeit/Liebeswerke aus 529 Das Mahlopfer (‫ )זֶבַ ח‬stellt in der Hebräischen Bibel eines der beiden Grundarten des Opfers dar (vgl. Schaper, u. a., Art. Opfer, 429) und ist als Gemeinschaftsmahl, an dem die Stifter des Opfers, die Priester und JHWH partizipieren, konzipiert (vgl. ebd., 428f.). Im Opfervorgang und der Mahlgemeinschaft kommt es zur Begegnung mit dem Gott Israels, der im vorexilischen Altargesetz (Ex 20,22–26) als aus dem Himmel herabkommender „Ehrengast“ vorgestellt wird (vgl. ebd., 428), während das priesterschriftliche Opferkonzept der nachexilischen Zeit der Vorstellung Ausdruck verleiht, dass Gott im Jerusalemer Tempel wohnt. So verheißt Gott den Israeliten in den priesterschriftlichen Bestimmungen zu den zweimal täglich vor dem Eingang der Stiftshütte darzubringenden Brandopfern in Ex 29,43–45: „(43) Daselbst will ich den Israeliten begegnen, und das Heiligtum wird geheiligt werden in meiner Herrlichkeit. … (45) Und ich will unter den Israeliten wohnen und ihr Gott sein, 46 dass sie erkennen sollen, ich sei der HERR, ihr Gott, der sie aus Ägyptenland führte, damit ich unter ihnen wohne, ich, der HERR, ihr Gott“ (Übersetzung Lutherbibel, Revidierte Fassung 2017). U. E. sind die Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern, in denen diese Jesus als Immanuel (Mt 1,23) erfahren, in Analogie zu den Mahlgemeinschaften am Tempel zu verstehen. Wie die Barmherzigkeit ein nichtkultisches Opfer darstellt (vgl. unten im Text), so handelt es sich bei den Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern und den Mahlgemeinschaften seiner Schülerschaft um nichtkultische Gemeinschaftsmähler. 530 Zum Gegenseitigkeitscharakter der Opfer vgl. Abschnitt 2.2.2.2 in diesem Kapitel.

178 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 der jüdisch-weisheitlichen Tradition übernimmt und (im Kontext der Katastrophe der Tempelzerstörung) neu aktiviert.

2.2.1 Sündenvergebung als vornehmste Konkretion von Barmherzigkeit Die Annahme, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums Sündenvergebung als vornehmstes Liebeswerk versteht, lässt sich allein von Mt 9,9–13 her nicht begründen. Dazu ist vielmehr ein ergänzender Blick auf die Relevanz der Sündenvergebung im Matthäusevangelium als Ganzem von Nöten. In diesem Abschnitt soll deshalb in einem ersten Schritt gezeigt werden, dass sich der Terminus ἔλεος in Mt 9,13 konkret auf das sündenvergebende Handeln Jesu bezieht, das sich nicht nur in der Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern realisiert, sondern darüber hinaus auch als Vorbild der innergemeindlichen Mahlgemeinschaften fungiert (Mt 26,26–30) und somit untrennbar mit der innergemeindlichen Sündenvergebung (Mt 18,23–35) verbunden ist. Im Anschluss ist in einem zweiten Schritt zu zeigen, dass Barmherzigkeit für den Verfasser des Matthäusevangeliums ein besonderes Liebeswerk darstellt. Mt 9,9–13 lautet: „(9) Und als Jesus von dort weiterging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der Matthäus hieß, und sagt ihm: ‚Folge mir nach!‘ Und er stand auf und folgte im nach. (10) Und es geschah, als er im Hause zu Tisch lag, und siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und lagen mit Jesus und seinen Schülern zu Tisch. (11) Und als die Pharisäer (das) sahen, sagten sie zu seinen Schülern: ‚Warum isst euer Lehrer mit den Zöllnern und Sündern?‘ (12) Als aber er es hörte, sprach er: ‚Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. (13) Geht aber hin und lernt, was es bedeutet: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.‘“ Das verbindende Thema der Erzählung von der Heilung eines Gelähmten (Mt 9,2–8) und der Erzählung von der Berufung des Matthäus und des Mahles Jesu mit den Sündern und Zöllnern (Mt 9,9–13) ist die Sündenvergebung: Während Mt 9,9–13 auf die programmatische Aussage Jesu zuläuft, er sei gekommen, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zu rufen (V. 13), steht in Mt 9,2–8 die Vollmacht Jesu im Mittelpunkt, im Namen Gottes Sünden zu vergeben (V. 2.5.6).531 V. 8 bildet ein Scharnier zwischen beiden Erzählungen: Die Vollmacht der Sündenvergebung bleibt nicht auf Jesus beschränkt, sondern geht von ihm auf seine Schülerschaft über. So lobt die Menschenmenge, die die Heilung des Gelähmten verfolgt hat, Gott dafür, dass er den Menschen solche Macht gegeben hat: ἰδόντες δὲ οἱ ὄχλοι 531 Vgl. hierzu die folgende Aussage Matthias Konradts: „Die thematische Anbindung (von Mt 9,9–13; J.-C. M.) an 9,2–8 ist evident: Mit der Berufung eines Zöllners und dem anschliessenden Mahl wird die Thematik der Sündenvergebung unter einem neuen Aspekt weitergeführt“ (Matthäus, 149).

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

179

ἐφοβήθησαν καὶ ἐδόξασαν τὸν θεὸν τὸν δόντα ἐξουσίαν τοιαύτην τοῖς ἀνθρώποις. In der direkt anschließenden Erzählung von der Mahlgemeinschaft Jesu mit den Sündern und Zöllnern spiegelt sich die Übertragung der Vollmacht zur Sündenvergebung in der Transparenz dieser Tischgemeinschaften Jesu für die innergemeindlichen Mahlgemeinschaften (Mt 26,26–30) wieder, in denen die soteriologische Relevanz des Todes Jesu durch den Hinweis auf dessen sündenvergebende „Funktion“ verdeutlicht wird (Mt 26,28).532 Kurzum: Zentrales Thema von Mt 9,2– 8 und Mt 9,9–13 ist die Sündenvergebung als wesentliches Charakteristikum der Sendung Jesu und als hervorragendes Kennzeichen seiner Schülerschaft. Die göttliche und die zwischenmenschliche, die christologische und die ethische Dimension der Sündenvergebung sind untrennbar miteinander verknüpft. Wie fügt sich nun das Zitat aus Hos 6,6: ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν, in diesen von der Sündenvergebungsthematik bestimmten Kontext ein? Der Verfasser des Matthäusevangeliums platziert Hos 6,6 zwischen das ihm von seiner Markusvorlage vorgegebene weisheitliche Wort (V. 12) und die ebenfalls aus Mk stammende programmatische Aussage über die Funktion der Sendung Jesu (V. 13), wobei er Hos 6,6 mit einer im rabbinischen Judentum gebräuchlichen Aufforderung zum Lernen einleitet: ορευθέντες δὲ μάθετε τί ἐστιν (vgl. hierzu weiter unten). Hos 6,6 ist damit Bestandteil der dreigliedrigen Antwort Jesu auf die seinen Schülern von den Pharisäern gestellte Frage, warum ihr Lehrer zusammen mit Sündern und Zöllnern esse: V. 12: V. 13:

οὐ χρείαν ἔχουσιν οἱ ἰσχύοντες ἰατροῦ ἀλλ’ οἱ κακῶς ἔχοντες. ορευθέντες δὲ μάθετε τί ἐστιν· ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν. οὐ γὰρ ἦλθον καλέσαι δικαίους ἀλλ’ ἁμαρτωλούς.

Anders als U. Luz meint, ist das Hoseazitat an dieser Stelle ebenso wenig „störend“533 wie es „den Kontext [sprengt]“534. Vielmehr stellt es den matthäischen Schlüssel zur Interpretation der ihn umgebenden Sentenzen dar: Während sich die dem Evangelisten vorgegebenen Aussagen aus der Markusvorlage gegenseitig erläutern und dabei u. a. im Bild des Arztes (V. 12) den schon in der vorangehenden 532 Vgl. Konradt, Matthäus, 150. 533 Luz, Matthäus Bd. 2, 44. 534 Luz, Matthäus Bd. 2, 44. Vgl. die gleichlautende Kritik an Luz durch Ottenheijm, The Shared Meal, 2 Anm. 2. Wie Luz geht hingegen auch Lena Lybæk davon aus, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums durch die Einfügung des Zitats „the apparent logic of the pericope“ (Matthew’s Use of Hos 6,6, 496) sprengt. Merkwürdigerweise aber fährt sie im direkten Anschluss folgendermaßen fort: „Clearly, the issue in question is the mission or practice of Jesus. Compassion is given content in Jesus’ praxis: healing, forgiving sins (Mt 9,6), fellowship with and calling of ‘tax collectors and sinners’ to discipleship (Mt 9,9–13)“ (ebd.). Durch ihren Verweis auf den Zusammenhang zwischen Heilung und Sündenvergebung, den Lybæk ja scheinbar durch das Zitat Hos 6,6 im Zusammenspiel mit seinem unmittelbaren Kontext in Mt 9,12–13 aufgerufen sieht, legt sie die Logik des Evangelisten offen, die durchaus in der Logik der Perikope und ihres unmittelbaren Kontextes liegt.

180 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Perikope (9,2–8) vorgegebenen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sündenvergebung aufrufen,535 legitimiert der matthäische Jesus seine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern (= den Kranken) durch den Verweis darauf, dass Gott Barmherzigkeit und keine Opfer wolle. Die von Jesus in göttlicher Vollmacht in den Mahlgemeinschaften zugeeignete Sündenvergebung ist Ausdruck der Barmherzigkeit Gottes, der den Sündern und Zöllnern die Möglichkeit der Umkehr und eines Neuanfangs in der Nachfolge bietet (V. 9). Formal lassen sich die Mahlgemeinschaften Jesu und seiner Schüler „als Entsprechung zum Vergebungswort“536 der vorangegangenen Perikope (9,2) und inhaltlich als „vollmächtiger Akt der Sündenvergebung“537 verstehen: In der Gemeinschaft Jesu sind den Sündern und Zöllnern ihre Sünden vergeben.538 Hier wird der in der Namensgebung Jesu grundgelegte Zusammenhang zwischen Sündenvergebung und Gottesgegenwart aufgerufen. In den Sündenvergebung stiftenden Mahlgemeinschaften erweist sich derjenige, der gekommen ist, sein Volk von den Sünden zu retten (Mt 1,21), als Immanuel (Mt 1,23). In der Gemeinschaft Jesu erfahren die Sünder und Zöllner Gottesgegenwart, hier widerfährt ihnen Barmherzigkeit. Der Zusammenhang zwischen Mahlgemeinschaft, durch Barmherzigkeit motivierter Sündenvergebung und Gottesgegenwart wirft die Frage nach dem Verhältnis dieser Mahlgemeinschaften des „Gott mit uns“ zum Tempel als Wohnort Gottes auf, an dem Vergebung für die Sünden erlangt werden kann. Zu Recht verorten Allison und Davies die in der vorangehenden Perikope gemachte Aussage Jesu gegenüber dem Gelähmten: ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι (Mt 9,2) im Kontext der Notwendigkeit eines neuen Nachdenkens über Vergebung angesichts der Zerstörung des Tempels: „We know that, with the temple—the centre of the sacrifical system designed to reconcile Israel with God and to assure forgiveness— in ruins, religious Jews had to think anew about atonement, and at such a time it might have been opportune to preach that God, in Jesus, had dealt with sin once and for all“539.

535 Zur Parallelität beider Sentenzen vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 102–103. Eine Deutung der Starken als Gerechte und der Kranken als Sünder legt sich auch aufgrund der Verbindung von Sünde und Krankheit in der vorangehenden Perikope (Mt 9,2–8) nahe. Die Krankheit-Arzt-Metaphorik spielt auch in Hos 5,8–6,6 eine hervorgehobene Rolle: So ist in Hos 6,1f. JHWH als Arzt vorgestellt, der sein Volk nach erfolgter Umkehr „heilen“ und „verbinden“ (6,1), „lebendig machen“ und „aufrichten“ (6,2) wird. Hos 6,6 fügt sich also auch deshalb so gut zwischen die beiden dem Verfasser des Matthäusevangeliums von seiner Markusvorlage vorgegebenen Antworten Jesu, weil die Metaphorik der Sünde als Krankheit, die die Markusvorlage bestimmt (Kranke = Sünder), auch für Hos 5,8–6,6 prägend ist. 536 Konradt, Matthäus, 149. 537 Landmesser, Jüngerberufung, 134. 538 Wie in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) sind Barmherzigkeit (9,13) und Sündenvergebung (9,2.5.6) also bereits hier eng miteinander verknüpft, allerdings mit dem Unterschied, dass in Mt 9,9–13 eine Außenperspektive eingenommen wird: Es geht hier um die Inklusion grober Sünder in die Gemeinde, noch nicht um innergemeindliche Sündenvergebung. 539 Davies/Allison, Matthew Bd. 2, 89.

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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Wie angesichts der Zerstörung des Tempels Vergebung erlangt werden kann, konkretisiert unsere Perikope: Die Mahlgemeinschaften der Gemeinde, die an die Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern (Mt 9,9–13) und an das letzte Mahl Jesu mit seinen Schülern (Mt 26,20–30) anknüpfen, werden vom Evangelisten als Orte der Gottesgegenwart konzeptualisiert, an denen im Namen Gottes und untereinander Sünden vergeben werden. Was der Evangelist im Rückgriff auf Hos 6,6 bereits für die erzählte Zeit behauptet, dass den Sündenvergebung gewährenden Mahlgemeinschaften sowie der zwischenmenschlichen Sündenvergebung überhaupt eine höhere Würde zukommt als dem kultischen Gottesdienst, gilt nach seiner Auffassung erst recht für seine Gegenwart, in der der Tempel zerstört ist: Aus dem Nebeneinander der Mahlgemeinschaften Jesu und dem Kult, wird die Alleinherrschaft der Barmherzigkeit, die schon während der Existenz des Tempels gegenüber dem kultischen Gottesdienst priorisiert war. Hier deuten sich auch die unterschiedlichen Perspektiven des Evangelisten und der Rabbinen auf die Tempelzerstörung an: Während für den Evangelisten Gott bereits vor der Tempelzerstörung vor allem in der Person des Immanuel (Mt 1,23) und damit unabhängig vom Kult als gegenwärtig erfahren werden konnte, insbesondere in den Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern (Mt 9,9–13), aber auch in den Krankenheilungen,540 stellt sich die Frage nach der Gottesgegenwart für die Rabbinen angesichts des Fokus auf den (nicht mehr möglichen) kultischen Gottesdienst in einer dringlicheren Form. Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch darin wider, dass in ARN 4 (A) der Aspekt der Stellvertretung der Opfer durch die gemilut chassadim, im Matthäusevangelium hingegen der Aspekt der Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber den Opfern betont wird. Diese Priorisierung setzt aber wie die Vorstellung der Stellvertretung voraus, dass Barmherzigkeit an der Gottesgegenwart des Kultes partizipiert. Die Profilierung der Mahlgemeinschaften Jesu und seiner Schülerschaft als Orte der Gottesgegenwart impliziert also eine Logik, wie wir sie bereits in ARN 4 (A) kennengelernt haben: Die in den Mahlgemeinschaften gewährte Barmherzigkeit partizipiert an der vorausgesetzten (und nicht in Frage gestellten) Gottesgegenwart des Kultes und seiner Würde, die sie sogar noch überbietet.541 Überspitzt formuliert: Dass der von Seiten der Gemeinde gegenüber den Sündern und der innergemeindlich gewährten Barmherzigkeit Gottesgegenwart verheißen ist, hängt an der Gottesgegenwart im Kult. Wäre dies nicht der Fall, würde der Verfasser des Matthäusevangeliums im Rückgriff auf Hos 6,6 Barmherzigkeit gegen den Gottesdienst, Nächstenliebe gegen Gottesliebe ausspielen. Darum ist es ihm aber gerade nicht zu tun. Es geht dem Evangelisten vielmehr darum, die gegenüber den

540 In 9,27, 15,22, 17,15 und 20,30f. bitten Kranke Jesus darum, dass er sich ihrer erbarmen möge (ἐλέησον ἡμᾶς bzw. ἐλέησόν με). Die Barmherzigkeit Gottes wird in den Heilungen körperlich erfahrbar. 541 Auch die rabbinische Tradition geht davon aus, dass Gerechtigkeit bzw. Barmherzigkeit den Kult überbietet. Vgl. dazu Anm. 511.

182 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Zöllnern und Sündern bzw. die gegenüber dem sündigen Bruder zu übende Barmherzigkeit (Mt 18,23–35) als vornehmsten Ort der Gottesbeziehung zu profilieren. Der an den Kult gebundene Gottesdienst, der die Gegenwart Gottes im Tempel voraussetzt, wird auf die Beziehung zu den Sündern übertragen. Erst auf Grundlage dieser Übertragung priorisiert der Evangelist die auf den Mitmenschen bezogene Barmherzigkeit gegenüber den auf den Tempel bezogenen Reinheitsvorschriften, die die Pharisäer davon abhalten, mit groben Sündern Mahlgemeinschaft zu haben. Damit aber macht er die zwischenmenschlichen Beziehungen zum hervorragenden Ort der Gestaltung der Gottesbeziehung, ohne zu bezweifeln, dass die auf den Kult bezogenen Vorschriften ebenfalls der Gottesbeziehung dienen. In diese Richtung weist auch der Sachverhalt, dass auf der Erzählebene des Evangeliums die Partizipation am Tempelkult vorausgesetzt wird (vgl. Mt 5,23–24; Mt 23,16–22) und die Gottesgegenwart im Tempel und in den Mahlgemeinschaften Jesu sich komplementär ergänzen. Nochmals: Wenn Gott im Kult als gegenwärtig erfahren werden kann, dann muss die gegenüber dem Kult priorisierte Barmherzigkeit die Dimension der Gottesgegenwart teilen, auch wenn sie über sie hinausgeht. Hier liegt ein impliziter Schluss vom Kleineren aufs Größere vor, die sich vollständig erst von der Argumentation des matthäischen Jesus in Mt 12,5–7 her und in Analogie zu dieser Argumentation erschließen lässt: Das Größere, die Gottesgegenwart in den Mahlgemeinschaften Jesu, partizipiert an der Würde des Kleineren, der Gottesgegenwart im Tempel, über die sie gleichzeitig hinausgeht. Die Profilierung der innergemeindlichen Beziehungen als Ort der Gottesbeziehung zeigt sich auch im ersten Kommentarwort (Mt 5,21–26). In ihm fordert der matthäische Jesus seine Adressaten dazu auf, sich vor der Darbringung der Opfergabe (τὸ δῶρoν) auf dem Altar (τὸ θυσιαστήριον) mit dem Bruder zu versöhnen (V. 23–24). Damit stellt er einen Zusammenhang zwischen der Beziehung zum Bruder und der Gottesbeziehung her: Versöhnung mit dem Bruder wird zur Voraussetzung des kultischen Gottesdienstes bzw. der Versöhnung mit Gott. Bereits im ersten Kommentarwort zeigt sich damit „die kategoriale Überordnung des zwischenmenschlichen Verhaltens über den Kult, die insbesondere durch die zweimalige Zitation von Hos 6,6 (Mt 9,13; 12,7) als ein mt Leitmotiv erkennbar wird.“542 Diese Überordnung bzw. Priorisierung der Barmherzigkeit über den Kult stellt allerdings nicht nur die Relevanz der dem Bruder gewährten Barmherzigkeit für die Gottesbeziehung heraus, sondern qualifiziert diese Beziehung gleichsam als einen Ort, an dem die Gottesbeziehung gestaltet wird: Neben die für den Verfasser des Matthäusevangeliums unstrittige Gottesgegenwart im Tempel tritt die Gottespräsenz in den innergemeindlichen Beziehungen. Die Beziehung zu Gott und die Beziehung mit dem Bruder werden miteinander verschränkt. Mehr noch: Die Beziehung zum Bruder wird zum entscheidenden Kriterium der Gottesbeziehung: Ohne Versöhnung mit dem Bruder ist kultischer Gottesdienst nicht möglich. Diese Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber dem Kult bringt das in Mt 9,13 und Mt 12,7 eingefügte, komparativisch zu verstehende Hoseazitat auf den Punkt: 542 Konradt, Matthäus, 85.

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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„Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ (Hos 6,6). Mt 5,23–24 machen aber zugleich deutlich, dass es dem Verfasser des Matthäusevangeliums nicht um eine Kritik des zur Zeit der Abfassung des Evangeliums auch nicht mehr möglichen kultischen Gottesdienstes oder einer Kritik daran geht, wie dieser Gottesdienst gestaltet wurde. Ein Auseinanderdriften zwischen äußerem Vollzug und innerer Haltung spielt hier ebenso wenig eine Rolle wie umgekehrt die Darbringung von Opfergaben als Form des Gottesdienstes positiv vorausgesetzt wird. So geht der matthäische Jesus davon aus, dass seine Adressaten – vornehmlich bei den Wallfahrtsfesten – Opfergaben am Jerusalemer Tempel darbringen und dadurch ihre Gottesbeziehung gestalten.543 Im ersten Kommentarwort zeigt sich somit die intrinsische Verknüpfung von (kultischer) Gottes- und Nächstenliebe bei einer Priorisierung der Nächstenliebe. Diese wird zum vornehmsten Ort der Gestaltung der Gottesbeziehung. Kommen wir zu Mt 9,9–13 zurück. Offen zu Tage tritt die bereits erwähnte zwischenmenschliche Dimension der Sündenvergebung vor allem in der Forderung Jesu an die Pharisäer „Hinzugehen und zu lernen“, bei der es sich um die Wiedergabe der rabbinischen Formel ‫ צא ולמד‬handelt.544 Mit ihr verortet der Verfasser des Matthäusevangeliums die Aussage von Hos 6,6 in einem halachischen Kontext, d. h. in einem Kontext, der die konkrete Lebenspraxis betrifft. Aus Hos 6,6 zu lernen, würde nach Auffassung des Evangelisten für die Pharisäer bedeuten, im Falle eines Konfliktes zwischen kultisch-rituellen und ethischen Geboten letzteren den Vorrang einzuräumen. Im Blick auf die in Mt 9,9–13 angesprochene Situation, den Umgang mit Sündern und Zöllnern, heißt das: Der matthäische Jesus fordert seine Gegner dazu auf, sich nicht aus Angst vor ritueller Unreinheit von diesen Gruppen fernhalten, sondern Tischgemeinschaft mit ihnen zu pflegen und ihnen darin – wie Jesus und seine Schüler – ihre Sünden zu vergeben. Damit würden sie sich als barmherzig erweisen und in der Nachahmung Jesu letztendlich zu seinen Schülern.545 Das Verhalten Jesu soll nicht nur seinen Schülern, sondern auch den Pharisäern zum Vorbild dienen. Treffend kommentiert A. Sand die Aufforderung Jesu an die Pharisäer, hinzugehen und Hos 6,6 zu lernen: „Aber die Pharisäer haben noch einen Lernprozeß vor sich …; sie müssen erst noch den wirklichen Sinn der 543 Zur Interpretation von Mt 5,21–26 im Kontext der Wallfahrtsfeste vgl. Wick, Die erste Antithese. 544 Zur rabbinischen Formel ‫ צא ולמד‬vgl. die in Strack/Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament Bd. 1, 499, aufgeführten Stellen. Hill beschreibt die Bedeutung dieser Formel in Mt 9,13 folgendermaßen: „Matthew’s understanding and use of Hos. vi. 6 reveals that he (and in this he is at one with the subsequent Jewish use of the verse) regards the scriptural saying, not as a prophetic word that awaits its fulfilment, but as a source of halakha. The words of introduction πορευθέντες δὲ μάθετε τί ἐστι represent a rabbinic formula ‫צא ולמד‬, which does not mean ‘go and find out what you do not already know’ but rather ‘go and discern the sense of Scripture’ or ‘go and make a valid inference from the scriptural statement’“ (Hosea vi. 6, 111). 545 Landmesser, Jüngerberufung, 123–124, weist zu Recht darauf hin, dass die vom Evangelisten geforderte und sich in der Sündenvergebung konkretisierende Barmherzigkeit untrennbar mit der Hinwendung zu Jesus als dem Sohn Gottes verknüpft ist.

184 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Schrift erkennen und Gottes Barmherzigkeit in menschliche Barmherzigkeit umsetzen (wie in Hos 6,6 ist auch Mt 9,13 an Barmherzigkeit unter Menschen, vor allem aber an vergebendes Erbarmen gegenüber sündigen Menschen zu denken, vgl. noch 12,7; 23,23) . Das ‚Geht hin!‘ (vgl. 10,7; 11,4) unterstreicht den Ernst des Imperativs …“546. In dem eben gebrachten Zitat unternimmt Sand eine Verhältnisbestimmung von Hos 6,6 und Mt 9,13. Wir halten sie im Großen und Ganzen für angemessen, auch wenn sie an einem entscheidenden Punkt zu kurz greift. So ist in Hos 6,6 ganz sicher nicht in erster Linie an Barmherzigkeit unter Menschen zu denken. Vielmehr bezieht sich ‫ חֶ סֶ ד‬hier auf das Gottesverhältnis, das zwar auch in Hos nicht von den zwischenmenschlichen Beziehungen zu trennen ist (vgl. Hos 4,1–3), aber noch nicht in dem Maße wie in ARN 4 (A) oder im Matthäusevangelium mit ihnen verschränkt wird.547 Für das Verständnis der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 ist dieser Gottesbezug entscheidend: Er eröffnet allererst die Möglichkeit eines Verständnisses der Barmherzigkeit als Gottesdienst respektive der damit einhergehenden Verschränkung von Gottesliebe und Nächstenliebe. So setzt die Priorisierung der Barmherzigkeit bzw. die Gewichtung der Gebote voraus, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums ἔλεος in Analogie zu den Opfern als Ausdruck der Hingabe an Gott versteht. Nur auf Grundlage des gemeinsamen Gottesbezuges von θυσία und ἔλεος kann der Verfasser des Matthäusevangeliums eine Gewichtung der Gebote vornehmen, die im Konfliktfall den Vorrang eines Gebots vor dem anderen ermöglicht. Barmherzigkeit und Opfer verhalten sich hier funktionsäquivalent. Beide dienen der Gestaltung der Gottesbeziehung. Kurzum: Wenn der matthäische Jesus in Mt 9,13 die Pharisäer dazu auffordert, Hos 6,6 zu lernen, dann sollen sie die Barmherzigkeit stärker gewichten als die kultisch-rituelle Reinheit und ihre Gottesbeziehung in der Beziehung zum Nächsten, konkret: in der Zuwendung zu den Sündern, leben lernen. Wie bei der Opferdarbringung im Tempel so ist Gott gerade auch in der dem Sünder gewährten Barmherzigkeit präsent. Gottesund Nächstenliebe werden hier über den Begriff ἔλεος miteinander verschränkt.

546 Sand, Matthäus-Evangelium, 197. Vgl. auch folgende Aussage Gnilkas zu Hos 6,6 in Mt 9,13, die er allerdings auf die Schülerschaft Jesu ummünzt: „Es ist ein eminent halachisches Wort und ein Wort der Religionskritik. Darum darf man es nicht auf eine christologische Sinngebung einschränken. Vielmehr hält sich Christus gewiß an es, wie sein Verhalten gegenüber den Zöllnern und Sündern veranschaulicht. Aber sein Verhalten wird zum Vorbild. Seine Jünger müssen sich nach ihm richten. Die Kontrahenten werden mit dem Rückgriff auf das Hosea-Wort gleichsam mit ihren eigenen Waffen geschlagen“ (Matthäusevangelium, 333). Man wird u. E. angesichts der Bedeutung von Hos 6,6 im rabbinischen Judentum noch schärfer urteilen müssen: Der Evangelist reklamiert (in der Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern) ein durch und durch (erst später greifbares) rabbinisches Verständnis von Hos 6,6 für sich und seine Adressaten. Er schlägt seine Gegner nicht mit deren eigenen Waffen, sondern hält ihnen letztendlich vor, das, was sie selbst für richtig erachten, nicht zu tun. 547 Vgl. unsere Besprechung von Hos 6,6 im ersten Kapitel in Abschnitt 1.2.2.2.4.2.

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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In ähnlicher Weise wie Sand betont auch J. Nolland, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums mit dem Terminus ἔλεος in Mt 9,13 die zwischenmenschliche Barmherzigkeit im Blick habe, wobei er allerdings davon ausgeht, dass ‫ חֶ סֶ ד‬in Hos 6,6 Gottesbezug eignet. Nolland schreibt: „In Hosea the Hebrew term is likely to have meant wholehearted covenant loyalty to God, but the move to Greek here shifts the emphasis clearly to human interaction (which is also possible for the Hebrew). Covenant loyalty to God is not at all what springs to mind in the Matthean context (nor in the context of the use of the same phrase from Ho. 6:6 also in 12:7); it is the level of human interaction that needs to be addressed.“548 Für diese Sichtweise scheint auf den ersten Blick auch die Einsicht Jan Joostens zu sprechen, dass mit der Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬mit ἔλεος in der Septuaginta eine semantische Verschiebung von Loyalität gegenüber Gott zu zwischenmenschlichem Mitleid/Erbarmen verbunden ist. So konstatiert er im Rahmen einer anhand von Hos 6,6 vorgenommenen Probe auf Exempel: „What is at most implicit and secondary in the Hebrew, becomes primary in the Greek. The ‘loyalty toward God’ has become ‘mercy toward humankind’.“549 Wir halten dieses Gegeneinander-Ausspielen der beiden Dimensionen von ‫ חֶ סֶ ד‬und ἔλεος für nicht weiterführend. Auch im Blick auf Hos 6,6 LXX gilt, dass ἔλεος für die menschliche Gottesbeziehung transparent ist, auch wenn der Terminus in erster Linie zwischenmenschliches Erbarmen im Blick haben sollte. Die Opposition ἔλεος – θυσία gerät nur dann nicht zu einer „schiefen Alternative“, wenn beiden Begriffen ein Gottesbezug eignet. Voraussetzung für die Gegenüberstellung von Barmherzigkeit und Opferdarbringung ist, dass es sich bei beiden um Formen des Gottesdienstes handelt. Anders als Nolland und Joosten es wollen, gibt es u. E. also weder für die Übersetzer der Septuaginta, noch für den Verfasser des Matthäusevangeliums, noch für die Rabbinen550 ein Entweder-Oder. Der Evangelist aktiviert gerade beide von Hos 6,6 vorgegebenen Möglichkeiten: In der gegenüber dem Nächsten geübten Barmherzigkeit kommt die „Loyalität“ gegenüber Gott zum Ausdruck. Durch seine einseitige Festlegung darauf, dass der Terminus ἔλεος zwischenmenschliches Beziehungshandeln und nicht die menschliche Gottesbeziehung im Blick habe, übersieht Nolland (wie Sand) die Pointe des matthäischen ἔλεος-Verständnisses, die in der Verschränkung von Nächstenliebe/Barmherzigkeit und Gottesliebe und in der Profilierung der Barmherzigkeit als vornehmsten Ort der Gottesgegenwart besteht und deren Grundlage der gemeinsame Gottesbezug von ‫ חֶ סֶ ד‬und ‫זֶבַ ח‬, ἔλεος und θυσία ist. 548 Nolland, Matthew, 387. 549 Joosten, ‫חסד‬, 109. 550 Ohne eine Aussage über historische Abhängigkeiten treffen zu wollen, parallelisiert Joosten die Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬mit ἔλεος mit dem rabbinischen Verständnis von Hos 6,6 in ARN 4 (A), dem zufolge ‫ חֶ סֶ ד‬die zwischenmenschlichen Liebeserweise im Blick hat (vgl. Joosten, ‫חסד‬, 49). Gerade ARN 4 (A) zeigt aber in aller Deutlichkeit, dass die Liebeserweise nur deshalb an die Stelle der Sühnopfer treten können, weil ihnen wie diesen Gottesbezug eignet. Die Liebeserweise (gemilut hassadim) sind Ausdruck der menschlichen Loyalität gegenüber Gott (‫)חֶ סֶ ד‬.

186 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Es ist nun von entscheidender Bedeutung, dass das hier für die matthäische Rezeption von Hos 6,6 vorgeschlagene Verständnis, dem zufolge die Beziehung zum Mitmenschen als Ort des Gottesdienstes die Gottesgegenwart im Kult nicht nur voraussetzt, sondern an dessen Würde partizipiert, dem Evangelisten (und den Rabbinen) nur aufgrund dessen möglich, dass der Terminus ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος zwischen den Ebenen der Gottesbeziehung des Menschen und den zwischenmenschlichen Beziehungen oszilliert. Gottesbeziehung und zwischenmenschliche Beziehungen werden über diesen Begriff miteinander verschränkt,551 wobei die (kultische) Gottesbeziehung das erste ist, von der her die Gottesgegenwart auf die zwischenmenschliche Barmherzigkeit übertragen wird. Erst auf der Grundlage dieser Übertragung kann der Evangelist dann in einem zweiten Schritt Barmherzigkeit gegenüber dem kultischen Gottesdienst priorisieren. Wir werden darauf zurückkommen. Der Evangelist knüpft also an Hos 6,6 an, indem er ἔλεος auf das menschliche Gottesverhältnis bezieht und die zwischenmenschlich gewährte Barmherzigkeit als Konkretion des menschlichen ‫חֶ סֶ ד‬-Erweises gegenüber Gott versteht.552 Dasselbe Verständnis von Barmherzigkeit als Gottdienst respektive die über den ‫חֶ סֶ ד‬-Begriff laufende Verschränkung von Gottesliebe und Nächstenliebe findet sich auch in ARN 4 (A). Wir haben bereits bei der Interpretation der dort überlieferten, Rabbi Jochanan ben Zakkai zugeschriebenen Tradition gesehen, dass die Liebeserweise gegenüber dem Nächsten als Gott dargebrachte Sühnopfer und damit als Ausdruck der Gottesbeziehung verstanden werden.553 Auch hier ist die Vergleichbarkeit von ‫ זֶבַ ח‬und ‫ חֶ סֶ ד‬die Grundlage des Verständnisses von Hos 6,6. Auch hier ist der Gottesbezug von ‫ חֶ סֶ ד‬das Erste, die Interpretation dieses Terminus im Sinne der Liebeserweise das Zweite. Auch hier wird die Gottesgegenwart vom Kult auf die Beziehung zum Nächsten und die diesem gegenüber zu übenden Liebeswerke übertragen. Unabhängig davon, wie das Verhältnis der Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangelium und im rabbinischen Judentum bestimmt wird (ein wesentlicher Unterschied ist die Priorisierung der Barmherzigkeit im Matthäusevangelium), zeigt sich in der Verschränkung von Gottesliebe und Nächstenliebe respektive im Verständnis der Nächstenliebe als Gott geltende eine nicht zu 551 Dass ‫ חֶ סֶ ד‬bereits in Hos 6,6 beide Beziehungsebenen miteinander verschränkt, betont Eberhard Bons: „Comme le contexte le suggère (cf. v. 4), ‫ חסד‬se réfère bel et bien à la fidélité à l’égard de Dieu, bien que la connotation de l’amour réciproque et de la solidarité au niveau humain ne soit pas exclue“ (Osée 6:6, 20). 552 Auch Landmesser, der ἔλεος mit „Zuwendung“ wiedergibt, betont im Unterschied zu den meisten Exegeten, die die zwischenmenschliche Dimension von ἔλεος hervorheben (neben den oben im Text genannten vgl. ferner: Luck, Matthäus, 117f.), die Doppelstruktur dieses Terminus: „ἔλεος als Zuwendung hat also zwei miteinander verbundene Komponenten: die Zuwendung zu Gott und die damit verbundene Zuwendung zu den Sündern, denen die Zuwendung Gottes gilt“ (Jüngerberufung, 128). Allerdings lässt Landmesser unberücksichtigt, dass die über den Terminus ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος laufende Verknüpfung des menschlichen Gottesverhältnisses mit den zwischenmenschlichen Beziehungen eine Besonderheit im Alten Testament darstellt, und dass der Verfasser des Matthäusevangeliums Hos 6,6 aufgrund dieser Verknüpfung wählt. 553 Vgl. zum Folgenden Abschnitt 2.1.2 dieser Arbeit.

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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unterschätzende strukturelle Analogie, die den Verfasser des Matthäusevangeliums einmal mehr im antiken Judentum verortet. Sollte eine Geschichte der Rezeption von Hos 6,6 im rabbinischen Judentum geschrieben werden,554 wäre deshalb zu überlegen, ob der Verfasser des Matthäusevangeliums nicht zumindest (!) seinen Platz in der Vorgeschichte finden müsste. Wir haben bisher bei unserer Interpretation von Mt 9,9–13 gesehen, dass der Evangelist die gegenüber den Sündern und Zöllnern gewährte Sündenvergebung, die die Barmherzigkeit Gottes nachahmt, als Ausdruck gelebter Gottesbeziehung versteht.555 Dass zwischenmenschliche Sündenvergebung nun das vornehmste Werk der Barmherzigkeit darstellt, kann nur unter Berücksichtigung der Relevanz der Sündenvergebung im Evangelium als Ganzem gezeigt werden. Da die Bedeutung der Sündenvergebung für das Matthäusevangelium unumstritten ist, soll dies hier nur skizzenhaft geschehen. Auf einige Punkte wurde im Rahmen unserer bisherigen Überlegungen bereits aufmerksam gemacht: So weist die programmatische Aussage Jesu in Mt 9,13, er sei gekommen, nicht die Gerechten, sondern die Sünder zu rufen, die Sündenvergebung als zentrales Charakteristikum seiner Sendung aus und gleichzeitig auf die Namensgebung zu Beginn des Evangeliums zurück: In Mt 1,21 wird der Name Jesu im Sinne der Sündenvergebung gedeutet: Gott hilft, indem er sein Volk von den Sünden erlöst. Auch auf den Zusammenhang der Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern und den innergemeindlichen Mahlgemeinschaften (Mt 26,26–30) wurde bereits mehrfach verwiesen. Innergemeindliche Sündenvergebung, wie sie vor allem in den Mahlgemeinschaften praktiziert wird, ist zentrales Kennzeichen der Schülerschaft Jesu. Die Integration in die Gemeinde durch den Zuspruch der göttlichen Vergebung ist intrinsisch mit der innergemeindlichen Sündenvergebung verknüpft. So zeigt auch die Gemeinderegel in aller Deutlichkeit, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Gemeinde als Sündenvergebungsgemeinschaft konzeptualisiert. Die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (18,23–35) ist dabei insofern von besonderer Relevanz, als 554 Wesentliche Arbeit hat hier bereits Matthias Millard, Osée 6:6, geleistet. Ein ausführliches Manuskript Millards mit dem Titel „‚Denn Liebe mag ich, aber kein Schlachtopfer …‘. Hos 6,6 im Zusammenhang der schöpfungstheologischen Interpretation von Hos 6,7ff.“, das sich vor allem auf die rabbinische Rezeption fokussiert, darüber hinaus den Vers aber auch in der Hebräischen Bibel und in seinen vorrabbinischen Rezeptionen in den Orakeln der Sibille und im Neuen Testament in den Blick nimmt, ist noch nicht veröffentlicht. 555 Vgl. Landmesser, Jüngerberufung, 144 Anm. 31, der zu Recht feststellt, dass in Mt 9,9–13 „die Perspektive der Gemeinde nach außen eingenommen [wird]“, während in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht die Innenperspektive dominiere. Landmesser fährt fort: „In beiden Texten ist aber jeweils die Zuwendung der Jünger zu den Sündern gemeint, in der sich die umfassende Zuwendung zu Gott konkretisiert. Ganz allgemein gilt: Wem die eschatologisch wirksame Vergebung zuteil werden soll, der muß eben auch selbst seinen Schuldnern vergeben. Im Vaterunser (Mt 6,12) wie in dessen unmittelbarem Anschluß (Mt 6,14f) wird die vom Menschen seinen Schuldnern gewährte Vergebung als Bedingung der von ihm selbst erbetenen Vergebung durch Gott genannt“ (ebd.). Es wird deutlich: Die Zuwendung zu den groben Sündern (Mt 9,9–13) und die innergemeindliche Sündenvergebung sind intrinsisch miteinander verknüpft.

188 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 sie die zwischenmenschliche Sündenvergebung als Nachahmung der vorausgegangenen göttlichen Sündenvergebung und Sündenvergebung in struktureller Analogie zur alttestamentlichen Gnadenformel556 als hervorragendste Eigenschaft Gottes versteht.557 Stellt aber die durch Barmherzigkeit motivierte Sündenvergebung die hervorragendste Eigenschaft Gottes dar, und ist die Gemeinde aufgefordert, das sündenvergebende Handeln Gottes nachzuahmen, dann liegt der Schluss nahe, dass Barmherzigkeit im Sinne der Sündenvergebung das hervorragendste Liebeswerk darstellt. Neben das Liebeswerk der Sündenvergebung treten im Matthäusevangelium diejenigen in Mt 25,30–46 genannten Werke, die klassischerweise zu den Werken der Barmherzigkeit gezählt werden: Die Versorgung Hungernder und Dürstender, die Aufnahme Fremder, die Kleidung Nackter, das Besuchen der Kranken und Gefangenen. Dass zwischen den dort aufgezählten Gerechtigkeitserweisen und der Sündenvergebung eine enger Zusammenhang besteht, erhellt nicht nur aus ihrer soteriologischen Relevanz (sie fungieren als Eingangstor zum Himmelreich),558 sondern darüber hinaus auch aus der mit ihnen verbundenen (verborgenen) Gegenwart des „Gott mit uns“, der als in seiner Herrlichkeit wiederkommender Menschensohn die Völker richtet. So wie der Menschensohn (9,6) Gemeinschaft mit Zöllnern und Sünden hat (9,10) und sich die zwischenmenschliche-innergemeindliche Sündenvergebung der (verborgenen) Gegenwart des Immanuel sicher sein darf (vgl. 18,20), so dürfen diejenigen, die ihren Nächsten Barmherzigkeit erwiesen haben, in der Retrospektive erkennen, dass sie diese Barmherzigkeit dem in den geringsten Brüdern gegenwärtigen Menschensohn selbst getan haben. Im Tun der Barmherzigkeit gegenüber dem Bruder kommt es zur Begegnung mit Gott. Gleiches gilt für die Mahlgemeinschaften, in denen sich die Barmherzigkeit in der Sündenvergebung konkretisiert. Eine weitere Verbindung zwischen Hos 6,6 und Mt 25,31–46 stellt das Thema der Speisung Hungernder dar, dass 556 Vgl. dazu im ersten Kapitel dieser Arbeit den Punkt 1.3. 557 Der Aspekt der imitatio Dei spielt u. E. auch in Mt 9,9–13 eine wesentliche Rolle: Dient das Verhalten Jesu hier als Modell für seine Schülerschaft, dann ist auch ihr aufgetragen, das zu tun, was zu den Prärogativen Gottes gehört: Die Sündenvergebung. Es ist uns unverständlich, welche Umwege über Mt 12,7 unternommen werden, um bereits in Mt 9,13 einen Hinweis auf die Barmherzigkeit Gottes zu sehen. So bemerkt J. Nolland, dass „the second use of Ho. 6:6, at 12:7, suggests that already here we may need to link the call for such mercy back to God’s own merciful ways“ (Matthew, 387). U. E. muss der Umweg über Mt 12,7 gar nicht bemüht werden. Vielmehr liegt der Zusammenhang der den Zöllnern und Sündern gewährten und durch Barmherzigkeit motivierten Sündenvergebung, die Jesus in göttlicher Vollmacht vollzieht und deren imitatio er nicht nur von seinen Schülern, sondern auch von den Pharisäern fordert, offen zu Tage: Die Gewährung göttlicher Sündenvergebung und die Gewährung zwischenmenschlicher Sündenvergebung sind zwar voneinander zu unterscheiden, ohne dass sie voneinander getrennt werden könnten. Nach Auffassung des Evangelisten handelt es sich bei der zwischenmenschlich gewährten Barmherzigkeit um die Nachahmung der göttlichen Barmherzigkeit. 558 Zur soteriologischen Relevanz der Barmherzigkeit respektive Sündenvergebung sei hier nur an Mt 5,7 bzw. die Bitte um Schuldenerlass im Vaterunser (Mt 6,12) erinnert.

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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an der Spitze der in der Endzeitrede genannten Barmherzigkeitswerke steht: Wie in der Interpretation von Mt 12,1–8 und dem dort in V. 7 vorliegenden Hoseazitat zu zeigen sein wird, bezieht sich ἔλεος hier darauf, den Schülern am Sabbat zu erlauben, ihren Hunger zu stillen. Kurzum: ἔλεος wird im Matthäusevangelium ebenso wenig wie in der rabbinischen Literatur auf ein bestimmtes Liebeswerk beschränkt. An der Spitze der Liebeswerke aber steht die Nachahmung des göttlichen Erbarmens, das seinen hervorragendsten Ausdruck in der Bereitschaft JHWHs zur Sündenvergebung findet (Ex 34,6–7).

2.2.2 Barmherzigkeit als nichtkultisches (Sühn-)Opfer In den bisherigen Ausführungen haben wir grundlegende strukturelle und inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen der matthäischen und der rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 herausgearbeitet: Beide verschränken über den Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬die Gottesbeziehung mit der Beziehung zum Nächsten/Bruder/Mitmensch und profilieren letztere als vornehmsten Ort der Gottesbeziehung. Auf der Leserebene treten in beiden Fällen unbeschadet unterschiedlicher Akzentsetzungen die Liebeswerke an die Stelle der nicht mehr möglichen Opfer, an deren Würde als gottesdienstlicher Akt sie partizipieren.559 In diesem Abschnitt soll nun geprüft werden, inwiefern der Evangelist in Analogie zur rabbinischen Tradition die sich in der Sündenvergebung konkretisierende Barmherzigkeit als Sühnopfer versteht. Wir gehen dabei in zwei Schritten vor: In einem ersten Schritt diskutieren wir das Verständnis der Opposition ἔλεος – θυσία in der neutestamentlichen Forschung (2.2.2.1). Es wird gezeigt werden, dass der Blick auf die Funktionsäquivalenz der Barmherzigkeit und der Opferdarbringung, auf der die Priorisierung der Barmherzigkeit basiert, dort verstellt wird, wo trotz der Einsicht, dass der Evangelist den kultischen Gottesdienst nicht grundsätzlich in Frage stellt, angenommen wird, dass er Wesentliches an ihm zu kritisieren habe. Aus der matthäischen Kritik an einem Gegeneinander-Ausspielen von Kult und Ethik zuungunsten der zwischenmenschlichen Beziehungen wird so eine Kritik an einer auf den äußeren Vollzug fokussierten Religiosität, die letztendlich die grundlegenden Gemeinsamkeiten zwischen Opferdarbringung und Barmherzigkeit nicht wahrzunehmen vermag.560 559 Im Unterschied zur rabbinischen Tradition, die das An-die-Stelle-der-Opfer-Treten der gemilut chassadim stark macht, verankert der Evangelist die Dimension der Gottesgegenwart der Barmherzigkeit bzw. der Liebeswerke im Wirken des Immanuel (Mt 1,23), also bereits in der Zeit vor der Zerstörung des Zweiten Tempels. Hier tritt die Sündenvergebung in den Mahlgemeinschaften (Mt 9,9–13) neben den Tempelkult und überbietet diesen sogar. In den Sündenvergebung gewährenden Mahlgemeinschaften Jesu ist Gott nach Auffassung des Evangelisten „mehr“ gegenwärtig als im Tempel. So zumindest versteht der Verfasser des Matthäusevangeliums Hos 6,6. 560 Mit der Opferdarbringung scheint die Gefahr einer Instrumentalisierung der Gottesbeziehung in besonderem Maße verbunden zu sein, der Kult kommt primär als Negativfolie zur Barmherzigkeit in den Blick. In diesem Sinne nimmt Friedrich Thiele an, dass sich die in Mt

190 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Darüber hinaus übersieht der vorschnelle Blick auf die Differenzen zwischen ἔλεος und θυσία als weitere grundlegende Gemeinsamkeit neben dem Gottesbezug auch den Gegenseitigkeitscharakter. Die Gott-Mensch-Beziehung ist unabhängig davon, ob sie durch Opfer oder Barmherzigkeit gestaltet ist, reziprok strukturiert. Das Verständnis der Opfer als Sühnopfer baut auf diesen grundlegenden Gemeinsamkeiten von ἔλεος und θυσία auf. Dies wird in einem zweiten Schritt (2.2.2.2) gezeigt werden.

2.2.2.1 Die Deutung der Opposition ἔλεος – θυσία in der neutestamentlichen Forschung In diesem Abschnitt werden die in der Forschung vertretenen Verhältnisbestimmungen der Opposition ἔλεος – θυσία kritisch diskutiert. Dabei soll gezeigt werden, dass vor allem die Annahme eines Gegenübers von lebendigem Glauben und starrem Ritual respektive innerlichem und äußerlichem Gehorsam der Rezeption von Hos 6,6 in Mt 9,13 nicht gerecht wird. Vielmehr ist es dem Verfasser des Matthäusevangeliums um eine Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber kultischen Vorschriften zu tun, die dem Ausweis dessen dient, dass die Gottesbeziehung gerade auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen gestaltet wird. Kultkritik besitzt hier die Funktion der Verschränkung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung. Zu Recht gehen die wenigsten Forscher davon aus, dass der Evangelist ἔλεος und θυσία als sich ausschließende Alternativen versteht.561 Vielmehr solle die Opposition im Matthäusevangelium wie bereits bei Hosea auf die unbedingte Notwendigkeit eines von Herzen kommenden ethischen Gehorsams aufmerksam machen: Wo in der Wahrnehmung des Propheten der Kult gegen den Gehorsam ausgespielt wird, stelle Hosea Gehorsam gegen Kult, ohne letzteren grundsätzlich delegitimieren zu wollen.562 Gleiches gälte für den Verfasser des Matthäusevangeliums, der den Pharisäern an verschiedenen Stellen eine Diskrepanz zwischen äus9,13 vorliegende Polemik Jesu „gegen den Versuch [wendet], sich durch rituelle und haarspalterische Gesetzesbefolgung der vorrangigen Liebesforderung Gottes zu entziehen“ (Art. Opfer/θύω, 1442). Thiele überträgt hier – unzulässigerweise – nicht nur rituelle Praxis auf Gesetzesgehorsam überhaupt (vgl. dazu unten im Text die kritische Auseinandersetzung vor allem mit Davies/Allison), sondern er unterstellt auch ein aktives Element: Die Fokussierung auf den äußeren Vollzug ist willentlicher Ausdruck des Ungehorsams. 561 Eine der wenigen Ausnahmen ist Georg Strecker, der in seiner Auslegung von Mt 12,1–8 feststellt, dass sich die „Sabbatbeobachtung als Ausdruck der Zeremonialgesetzlichkeit (θυσία) und das ethische Handeln (ἔλεος) …. einander als grundsätzliche Möglichkeiten gegenüber[stehen]“ (Weg der Gerechtigkeit, 32). 562 Vgl. z. B. die Ausführungen Eberhard Bons zur Stelle: Es „ist zu berücksichtigen, daß Hosea sich nicht gegen den Opferkult als solchen wendet. Was er rügt, ist die Annahme, durch Opferfeiern die Liebe und die Gotteserkenntnis ersetzen zu können. Wenn der regelmäßige Weg zur Opferstätte es verhindert, nach Gottes Willen zu fragen, und statt dessen die verschiedensten Vergehen (vgl. 4,1f) das Zusammenleben empfindlich stören, dann kann das

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serem Tun und innerer Haltung vorwerfe (z. B. Mt 23,25–26), prinzipiell aber keine Kultkritik übe (häufig mit Verweis auf Mt 5,23–24). Der auf sprachlicher Ebene vorliegende absolute Gegensatz: „Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer“, ist demnach also hyperbolische Redeweise. Das Hoseazitat dient im Rahmen dieser Grundannahme dann z. B. dazu, lebendigen Glauben und starres Ritual einander gegenüberzustellen. In diesem Sinne verstehen die wahrscheinlich wirkmächtigsten Kommentare des englischsprachigen und deutschsprachigen Raums die Einbindung von Hos 6,6 in Mt 9,13 und insbesondere den Terminus Opfer, der für die rituelle Dimension von Religion stehe. So kommentieren Davies und Allison: „[W]e should consider the possibility that ἔλεος still carries for Matthew the connotations of ḥesed and that he understands Hos. 6.6 as did the prophet: cultic observance without inner faith and heart-felt covenant loyalty is vain. On this interpretation, the Pharisees are castigated because their objections show that despite their concern with external ritual their hearts are far from the God they think they honour (cf. 23.25–6). That is, their religious concerns are not properly animated, with the result that they are hindering God’s work in Jesus. Unless informed by a spirit of mercy, observance of the Torah can become uninformed slavery to the traditions of men (cf. 15.5–6).“563 In ähnlicher Art und Weise wie Davies und Allison versteht auch Ulrich Luz die Opposition ἔλεος – θυσία als Gegenüber von externem Ritual („external ritual“) und lebendigem Glauben („heart-felt covenant loyalty“), auch wenn dies bei Luz erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist. Luz schreibt in seiner Interpretation zu Mt 9,13: „Er (der Verfasser des Matthäusevangeliums; J.-C. M) versteht Hos 6,6 im Sinne eines ganzheitlichen Gehorsams: Wenn jemand gegenüber seinem Nächsten nicht barmherzig ist, nützen ihm alle seine Opfergaben nichts. Das Kultgebot läßt sich von der Liebe nicht ablösen und ihr nicht entgegenstellen. Nur unter dem Vorzeichen der Liebe ist es für Mt gottgewollt.“564 Diese Aussagen von Luz können im Sinne einer Kritik des Evangelisten am Gegeneinander-Ausspielen von kultischem und nichtkultischem Gehorsam und somit als Hervorhebung der Zusammengehörigkeit von Kult und Ethik verstanden werden. Allerdings weist die Verlagerung der Rede von der Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten hin zur Rede von der Liebe bei näherem Hinsehen in eine andere Richtung: Fehlende Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten scheint nach Luz nicht nur fehlende Liebe in den zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern darüber hinaus auch fehlende Gottesliebe im Kult zu implizieren. Fehlende Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten wird durch diese Verschiebung zu einem Kennzeichen fehlender Liebe überhaupt. Aus der Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber den kultisch-rituellen Opferwesen nicht Gottes Gefallen finden“ (Hosea, 92f.). Dass Hosea die Legitimität des Kultes nicht prinzipiell in Frage stellt, nimmt auch Jörg Jeremias mit der treffenden Begründung an, „daß der Lehrsatz in einem Kontext steht, in dem (ab 5,8) von Kult und Opfern nirgends die Rede ist“ (Hosea, 88). Vgl. auch Eberhart, Studien, 357f. 563 Davies/Allison, Matthew Bd. 2, 105. 564 Luz, Matthäus Bd. 2, 44.

192 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Geboten wird so eine Kultkritik im engeren Sinne bzw. eine prinzipielle Kritik am Glauben. Dass Luz vermutlich so versteht und damit wie Allison und Davies das Gegenüber von innerer Haltung und äußerem Tun im Blick hat, zeigt insbesondere die Aussage, dass kultischer Gottesdienst nur „unter dem Vorzeichen der Liebe … für Mt gottgewollt [ist]“565. Somit stehen sich auch für Luz letztendlich ein durch Liebe animierter und ein nicht durch Liebe animierter kultischer Gottesdienst gegenüber. In dieser Richtung weist auch sein Verweis auf Muscullus, den er in einer Fußnote als impliziten Gewährsmann seiner eigenen Interpretation anführt und wie folgt zitiert: „Die Juden irren darin, daß sie meinen, durch Opfer allein (ex opere operato) …, ohne Glauben und Liebe zu dienen“566. U. E. aber verwischt Luz damit die eigentliche Kritik des matthäischen Jesu an den Pharisäern: Eine falsche Gewichtung der Gebote, in der rituelle Reinheit höher geschätzt wird als sittliche Reinheit und gegen diese ausgespielt wird (vgl. 12,1–8; 15,1–9; 23,23–24), ist zu unterscheiden, von einer Kritik an einem mechanistischen Opferverständnis und einem allein äußeren Gottesdienst. Der mögliche Einwand, fehlende Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten tangiere auch die kultische Gottesverehrung, wäre zwar richtig gesehen, stellt aber trotzdem kein Gegenargument zu der hier vorgetragenen Auffassung dar: Dass die rituell-kultische Dimension von Religion nicht gegen die sittliche Dimension ausgespielt werden darf, ist u. E. nicht gleichzusetzen mit dem Vorwurf, die Pharisäer würden rituelle Reinheit ohne die angemessene innere Einstellung praktizieren.567 Hier ist streng zu unterscheiden. Kurzum: Mit der Opposition ἔλεος – θυσία hat der Verfasser des Matthäusevangeliums nicht das Gegenüber einer ganzheitlichen und einer allein auf den äußeren Vollzug fokussierten Religiosität, sondern die angemessene Zuordnung von kultischem und nichtkultischem Gottesdienst im Blick. Ganzheitlichkeit bezieht sich nicht auf die Zusammengehörigkeit von innerer Einstellung und einem dieser Einstellung entsprechenden äußeren Handeln, sondern auf die Zusammengehörigkeit von Kult und Ethik respektive der Gottesbeziehung und der Beziehung zum Mitmenschen.

565 Luz, Matthäus Bd. 2, 44. 566 Muscullus 233, zitiert von Luz, Matthäus Bd. 2, 44 Anm. 39. Luz lässt das Zitat unkommentiert, so dass sich ein Verständnis des Zitats als Beleg für seine Auffassung nahelegt. Dem Zitat von Muscullus stellt Luz – ebenfalls unkommentiert – ein Zitat von Anselm von Laon voran, das er wie folgt wiedergibt: „Gott verachtet nicht Opfer, sondern Opfer ohne Barmherzigkeit“. Während im Blick auf dieses Zitat noch gefragt werden könnte, ob unter der Voraussetzung, dass der Mensch Gott keine Barmherzigkeit gewähren kann, Barmherzigkeit die Beziehung zum Nächsten im Blick hat, gilt diese Einschränkung für das Muscullus-Zitat nicht. Hier wird u. E. einem lebendigen ein mechanistisches Gottesverständnis gegenübergestellt, was zu der oben im Fließtext beschriebenen Verschiebung im Verständnis der Opposition ἔλεος – θυσία führt. 567 Der Vorwurf der Heuchelei kann sich auch auf die Beobachtung kultischer Vorschriften mit einer falschen inneren Einstellung beziehen (vgl. z. B. Mt 23,25–26). Dass dieser Vorwurf aber auch andere nichtkultische gottesdienstliche Handlungen wie das Almosen, das Gebet oder das Fasten betrifft (Mt 6,2–18), spricht gegen die Annahme, der Evangelist sehe insbesondere im Kult die Gefahr einer allein auf den äußeren Vollzug gerichteten Religiosität.

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Hos 6,6 in Mt 9,13 (und 12,7) besagt dann: Ohne Gottesdienst in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird auch der kultische Gottesdienst wertlos. Auch wenn die oben zitierte Aussage von Luz von diesem vermutlich zumindest auch in dem hier genannten Sinne verstanden werden will, setzt Luz durch die Annahme einer Kritik an einem ohne Liebe vollzogenen kultischen Gehorsam und den Verweis auf Muscullus einen anderen Akzent, der dazu führt, dass der Kult als Negativfolie zur Barmherzigkeit wahrgenommen wird und darüber die Gemeinsamkeiten zwischen ἔλεος und θυσία aus dem Blick geraten. Diese Gemeinsamkeiten aber sind Voraussetzung für ein Verständnis der Barmherzigkeit als Opferäquivalent, welches Luz, wie seine Interpretation von Hos 6,6 in Mt 12,7 deutlich macht,568 teilt. Wie die Vorstellung, der Verfasser des Matthäusevangeliums kritisiere auf Seiten der Pharisäer eine Divergenz zwischen innerer Haltung und äußerem Tun, die für das Evangelium grundlegende Unterscheidung von ethischen und kultischen Geboten an den Rand drängen kann, zeigt sich in den bereits zitierten Ausführungen von Allison und Davies. So mündet ihre Annahme einer matthäischen Kritik an einem allein auf das Ritual fokussierten Gottesdienst in die Kritik einer nicht durch Barmherzigkeit bzw. Liebe geprägten Toraobservanz: „Unless informed by a spirit of mercy, observance of the Torah can become uninformed slavery to the traditions of men“569. θυσία steht hier nicht mehr für die Opferdarbringung oder für die kultischen Vorschriften der Tora, sondern allgemein für eine nicht durch Barmherzigkeit animierte Beobachtung der Toragebote, die nicht mehr Ausdruck der Gottesliebe, sondern der Unterwerfung unter menschliche Autoritäten ist. Mit dieser Auffassung aber widersprechen sich Davies und Allison insofern selbst, als sie ihre Annahme, der Verfasser des Matthäusevangeliums stelle den Kult nicht prinzipiell in Frage,570 mit einer Interpretation des Gegenübers von Barmherzigkeit und Opfern im Sinne einer absoluten Antithese verbinden. Beides ist aber nicht möglich: So legt ein komparativisches Verständnis eine Gewichtung von Ethik und Kult nahe, die sich mit einer reinen Antithese, in der θυσία für einen allein auf den äußeren Vollzug gerichteten Gehorsam steht, schlechterdings nicht verbinden lässt. Hingegen spricht ein komparatives Verständnis der in Hos 6,6 genannten Opposition gegen die Marginalisierung der Unterscheidung von kultischen und ethischen Geboten. In ähnlicher Weise wie Allison und Davies will auch Ulrich Luck das Hoseazitat in Mt 9,13 verstanden wissen. Er geht davon aus, dass durch die Einbindung von Hos 6,6 „nicht einfach das Sittengesetz gegen das Zeremonialgesetz, die ethische gegen die kultische Tora ausgespielt [wird]. Es geht um den Sinn des ganzen Gesetzes. Die ‚bessere‘ Gerechtigkeit, in der das Gesetz zur Erfüllung kommt, geschieht nicht im Einhalten von Vorschriften, seien sie kultischer oder ethischer Art. Sie wird da getan, wo die Verhältnisse zwischen Menschen neu werden, wo 568 Vgl. dazu Luz, Matthäus Bd. 2, 231f. 569 Davies/Allison, Matthew Bd. 2, 105. 570 Vgl. Davies/Allison, Matthew Bd. 2, 105.

194 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 das Ganze somit heil wird.“571 Wie für Allison und Davies gerät auch für Luck in seiner Interpretation die Unterscheidung von ethischen und kultischen Vorschriften der Tora zur Nebensache. Bei ihm stehen sich Barmherzigkeit und das „Einhalten von Vorschriften“ gegenüber, ein Gegenüber, das auf einer Linie mit der Unterscheidung eines allein auf den äußeren Vollzug gerichteten Gehorsams und eines lebendigen Glaubens liegt. Ein solches von Davies und Allison, Luck und z. T. auch von Luz vertretenes Verständnis des Hoseaverses im Matthäusevangelium scheitert vor allem daran, dass der Evangelist an den anderen beiden Stellen, an denen er das Substantiv ἔλεος verwendet (Mt 12,7; 23,23), eine Priorisierung von Geboten vornimmt, ohne dabei die innere Einstellung bei der Ausführung ritueller bzw. kultischer Vorschriften zu thematisieren. So ordnet der matthäische Jesus in seiner großen Rede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23,1–39) die kultische Bestimmung der Zehntabgabe von Dill, Kümmel und Minze den wichtigeren Geboten (τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου) des „Rechts, der Barmherzigkeit und der Treue“ unter (Mt 23,23) – in dieser falschen Gewichtung besteht hier ihre „Heuchelei“, ohne die Notwendigkeit dieser Abgabe grundsätzlich zu negieren. Beides ist zu tun. Eine ähnliche Gewichtung nimmt der matthäische Jesus auch in seiner Auseinandersetzung mit den Pharisäern über die Legitimität des Ährenraufens am Sabbat vor (Mt 12,1–8): Hier priorisiert er die Barmherzigkeit gegenüber der pharisäischen Sabbathalacha, wobei er das hermeneutische Prinzip der Gewichtung der Gebote nicht aus dem Hoseavers, sondern aus dem Konflikt zwischen dem Arbeitsverbot am Sabbat (Ex 20,10; Dtn 5,14) und dem Gebot der Opferdarbringung am Sabbat (Num 28,9–10) gewinnt (Mt 12,5) zu dem sich, wie der Evangelist durch Anwendung eines qal wa-ḥomer Schlusses zeigt (Mt 12,6), die Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber den Opfern analog verhält.572 Wie der Kult über das Arbeitsverbot am Sabbat regiert, so regiert auch die Barmherzigkeit, die größer ist als der Kult, über den Sabbat. Kurzum: Für den Verfasser des Matthäusevangeliums gehen die Unterscheidung zwischen kultischen und ethischen Geboten und die Gewichtung der Gebote Hand in Hand, ohne dass hier Kultkritik im engeren Sinne vorläge: Die Priorisierung der kultischen Gebote, nicht ihr Einhalten mit einer falschen inneren Einstellung, ist für den Evangelisten Zeichen fehlender Barmherzigkeit.573 Mt 12,1–8 zeigt dabei nicht nur die bleibende Bedeutung des Tempels und der in ihm dargebrachten Opfer in der erzählten Zeit, sondern auch die Überordnung der Barmherzigkeit über die kultisch-rituellen Gebote (vgl. Mt 23,23). Aus diesem Grunde ist auch für Mt 9,9–13 anzunehmen, dass es dem Verfasser des Matthäusevangeliums hier um eine Gewichtung von Barmherzigkeit und Opferdarbringung 571 Luck, Matthäus, 117–118. Vgl. Hagner, Matthew Bd. 1, 239. Gurtner, Theology of the Temple, 38 Anm. 25. 572 Vgl. unsere Interpretation von Mt 12,1–8 in Abschnitt 2.3, insbesondere Unterpunkt 2.3.3.2. 573 Dass dem so ist, zeigt sich u. E. auch daran, dass ἔλεος trotz der von uns vorausgesetzten Transparenz für die Gottesbeziehung die Beziehung zum Nächsten im Blick hat: So sollen die Pharisäer in Mt 9,9–13 Barmherzigkeit gegenüber Sündern und Zöllnern, in Mt 12,1–8 Barmherzigkeit gegenüber den hungernden Schülern Jesu üben.

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geht, die von der Annahme einer Diskrepanz zwischen inneren und äußerem Gehorsam zu unterscheiden ist. Im Falle eines Konflikts ist der Barmherzigkeit der Vorrang gegenüber kultisch-rituellen Vorschriften einzuräumen. Konkret: Der matthäische Jesus fordert die Pharisäer dazu auf, die Reinheitsvorschriften, die es ihnen verbieten, mit Zöllnern und Sündern zu verkehren, zu Gunsten der Barmherzigkeit hintan zu stellen und diesen durch die Tischgemeinschaft die Vergebung ihrer Sünden zu gewähren. Nichts deutet darauf hin, dass der Evangelist in Mt 9,9–13 an den Reinheitsvorschriften Kritik übt.574 Warum ist die hier vorgetragene und stark gemachte Differenz zwischen einer Gewichtung der Gebote und der Kritik einer allein auf die äußere Handlung der Opferdarbringung fokussierten Religiosität so wichtig? Sie ist u. E. deshalb von hervorgehobener Relevanz, weil sie den Fokus auf die Kritik einer ritualistischen Engführung des Kultes bzw. eines rein äußerlichen Toragehorsams aufbricht. Ein solcher Fokus mag sich aufgrund der antithetischen Formulierung von Hos 6,6 nahelegen. Er wird aber von den meisten Exegeten bereits dadurch durchbrochen, dass sie die Opposition ἔλεος – θυσία komparativisch verstanden wissen wollen. Die Interpretation dieses Gegenübers im Sinne eines ganzheitlichen (Kongruenz von Haltung und Tun) und eines allein auf den äußeren Vollzug gerichteten Gehorsams ist ein Schritt hinter dieses komparativische Verständnis zurück und verstellt den Blick auf die Gemeinsamkeiten zwischen Barmherzigkeit und Opferdarbringung, die ein solches komparativisches Verständnis voraussetzt. Kurzum: Ist es richtig gesehen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums den Kult nicht grundsätzlich in Frage stellt, dann ist nach dem tertium comparationis zu fragen, auf dessen Grundlage eine Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber den Reinheitsvorschriften überhaupt erst vorgenommen werden kann. Um diesen Gemeinsamkeiten nahe zu kommen, ist zu fragen, was der Evangelist mit dem Begriff θυσία im Blick hat.

2.2.2.2 Opfer als Ausdruck der Kommunikation zwischen Gott und Mensch Das oben kritisierte Verständnis der Opposition ἔλεος – θυσία als Kritik an der Diskrepanz zwischen äußerem Tun und innerer Haltung ist vor allem auch insofern problematisch, als es die Beziehungsdimension des Opferkultes aus dem Blick verliert. Die Annahme, der Opferkult berge in besonderem Maße die Gefahr der Instrumentalisierung der Gottesbeziehung in sich, erkennt zwar implizit an, dass es im Kult nicht um starres Ritual, sondern lebendige Beziehung geht, sie legt aber gleichsam nahe, dass es Formen der Gottesbeziehung gibt, die weniger anfällig für eine solche Instrumentalisierung sind. Kult und Ritual werden so immer auch als potenzielle Gefahr für eine lebendige Gottesbeziehung wahrgenommen und damit aus einem negativen Blickwinkel betrachtet: Das Ritual steht einer lebendigen Got574 Vielmehr betont die Forschung in der Regel auch hier, dass der Evangelist „grundsätzlich die reinheitstheologischen Koordinaten an[erkennt]“ (Wiefel, Matthäus, 178).

196 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 tesbeziehung eher im Weg, als dass es diese fördert. Unter der im vorangegangenen Abschnitt (2.2.2.1) ausführlich begründeten Voraussetzung, dass es dem Evangelisten mit der Opposition ἔλεος – θυσία nicht um eine Kritik an einer auf den äußeren Vollzug fokussierten Religiosität zu tun ist, soll im Folgenden danach gefragt werden, was für ein Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch er hinsichtlich des Kultes und der Opferdarbringung im Blick hat. Welche Dynamik liegt der Darbringung von (Opfer-)Gaben und deren Anerkennung/Ablehnung seitens Gottes zu Grunde? Zur Beantwortung dieser Frage ist zuerst ein sehr holzschnittartiger Blick auf das Opferverständnis im Alten Testament zu richten, bevor die Ergebnisse in einem zweiten Schritt für das Verständnis der Opferdarbringung im Matthäusevangelium fruchtbar gemacht werden. Bereits 1938 hat Johannes Behm in dem von ihm verantworteten Artikel „θυσία“ im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament festgestellt, dass „[i]m Opferinstitut des alten Bundes … Gott persönlich und wirksam mit seinem Volke verkehren [will]. Das Opfer weist seiner Bestimmung nach allemal, sei es als Gabe des Menschen an Gott, sei es als Ausdruck der geistigen Gemeinschaft zwischen Gott und ihm, sei es als Mittel der Sühne, hin auf die Gegenwart Gottes, der in Gnade und Gericht nahe ist“ 575. Mit dieser Feststellung dürfte Behm die wesentlichen Aspekte des alttestamentlichen Opferverständnisses getroffen haben, auch wenn er selbst dem antiken Judentum ein degeneriertes, d. h. auf den rituellen Vollzug fokussiertes und werkgerechtes Opferverständnis unterstellt.576 So werden in der

575 Behm, Art. θύω κτλ., 183. Behms Darstellung des alttestamentlichen Opferverständnisses zufolge entfaltet sich die menschliche Gottesbeziehung zwischen den beiden Polen der Gnade und des Gerichts. 576 In diesem Sinne folgt Behm im Abschnitt zu den alttestamentlichen Voraussetzungen des Opfergedankens im Neuen Testament dem lange Zeit vorherrschenden Muster der Interpretation der Geschichte Israels respektive des Judentums als Verfallsgeschichte: Während schon in vorexilischer Zeit die Propheten Kritik an einem Opferverständnis übten, in dem die Darbringung der Opfer als „dingliche menschliche Leistung an die Stelle geistig-persönlicher Begegnung mit dem Gott des Heils gesetzt worden ist“ (Art. θύω κτλ., 183), degeneriert Behm zufolge der nachexilische Kultus: „In der Gesetzesreligion des nachexilischen Judentums erstarrt das kultische Opfer vollends zum opus operatum, das in peinlichem Gehorsam gegen das Gebot des fernen Gottes vollzogen wird, und rückt damit in eine Reihe mit anderen, ebenso verdienstlichen Formen der Gesetzeserfüllung, die dann auch das Ende des Opfers infolge des Untergangs des Tempels überdauern“ (ebd.). Von diesem Negativbild hebt sich für Behm die „reine“ alttestamentliche Opferidee, in der es um Gottesgemeinschaft gehe (vgl. das oben im Fließtext gebrachte Zitat) und die dann von den Autoren des Neuen Testaments wieder aufgegriffen werde, umso strahlender ab. Der Aspekt des Beziehungsgeschehens bei der Darbringung der Opfer und der damit vorausgesetzten Gegenwart Gottes bleibt in den meisten Exegesen von Mt 9,13 und Mt 12,7 unberücksichtigt. Auch wenn Behm bei seiner Interpretation des Hoseazitats im Matthäusevangelium nicht die persönliche Begegnung zwischen Gott und Mensch im Opfer betont, so hält er die Möglichkeit eines solchen Verständnisses zumindest offen, wenn er schreibt, dass „Jesus … die Opfer als etwas Minderwertiges und dem Untergang Geweihtes angesehen hat, aber nicht wegen ihres kultisch-rituellen Charakters, sondern wegen ihrer Zugehörigkeit zur alten Bundesord-

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gegenwärtigen alttestamentlichen Forschung zu Kult und Opfer die von Behm genannten Aspekte unterschiedlich stark akzentuiert und gewichtet, sie sind aber alle vorhanden: Während z. B. Christian Eberhart die Grundeigenschaft des Opfers in der Gabe sieht und von dieser her die verschiedenen Opferarten kategorisiert,577 betont Bernd Janowski den Aspekt der Sühne: Nach seiner Auffassung werden in exilisch-nachexilischer Zeit „Sühneriten schließlich zur Mitte des Kults“578, so dass „fast alle Opfer … Sühnequalität erlangen“579. Den meisten Untersuchungen zum Opfer aber ist gemein, dass sie die Darbringung der Opfer als symbolischen Akt der Kommunikation mit JHWH verstehen (Behm spricht vom Opfer „als Ausdruck der geistigen Gemeinschaft“580) und das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch als ein wechselseitiges konzeptualisieren. In diesem Sinne stellt Ulrike Dahm als Charakteristikum des Schlachtopfers (‫ ֶזבַ ח‬/LXX: θυσία) die gabenvermittelte Reziprozität der kultischen Gottesbeziehung heraus: Wie für alle anderen Opferarten sei auch für das Schlachtopfer, das in der hebräischen Bibel als ‫זֶבַ ח‬, ‫ ְשׁל ִָמים‬oder auch als ‫ זֶבַ ח ְשׁל ִָמים‬bezeichnet werden kann, die Gegenseitigkeit von Gabe und Gegengabe entscheidend.581 Dahm hebt mit Verweis auf Gillis Gerlemann und Baruch A. Levine hervor, dass „‫ … שלם‬etymologisch Äquivalenzbegriffen wie ‚bezahlen / vergelten‘ nahe[steht] … und … im sozialökonomischen Sinne eine gabenvermittelte Reziprozität [meint]. So soll das Opfer zwischen Opfergeber und Opferempfänger möglichst einen Ausgleich (‫ )שלם‬schaffen …. šlm ist deshalb eine Grundeigenschaft des Opfers“582. Diese Ausführungen Dahms sind für die Konzeptualisierung der Gottesbeziehung im Matthäusevangelium höchst relevant, handelt es sich bei dem Terminus ἀποδίδωμι, mit dem die Septuaginta in zwei Drittel der Fälle die Pielform der Wurzel ‫שׁלם‬, ‫ ִשׁלֵּם‬, wiedergibt,583 um ein matthäisches „Vorzugswort“584, das die reziproke und relationale Struktur der Gottesbeziehung in der Dynamik von Geben (δίδωμι) und Zurückgeben/Erwidern (ἀποδίδωμι) auch dort beschreibt, wo es nicht um den konkreten Austausch von Gütern, sondern um

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nung, die er als Bevollmächtigter Gottes außer Kraft setzt. Weil er die neue διαθήκη aufrichtet, fällt der Opferkultus der alten dahin“ (ebd., 184). Damit bleibt für Behm u. E. der Charakter des alttestamentlichen Opferverständnisses als Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch gewahrt. Anders formuliert: Nach Behm lehnt der Verfasser des Matthäusevangeliums die Opfer nicht deshalb ab, weil sie nichts mit einer Gottesbegegnung zu tun hätten, sondern deshalb, weil die Zeit des Opferdienstes mit dem Kommen Jesu zu Ende geht. An die Stelle der Gottesgegenwart beim Opfer tritt die Gottesgegenwart in Jesus. „Das Wesen der alttestamentlichen Opfer ist demzufolge nachhaltig als ‚Gabe‘ charakterisiert, die den Aspekt der Darbringung ‚für JHWH‘ … jeweils implizit oder explizit zum Ausdruck bringt“ (Eberhart, Studien, 400; kritisch hierzu: A. Grund, Homo donans, 118). Janowski, Art. Sühne II. Biblisch 1. Altes Testament, Sp. 1844. Janowski, Art. Sühne II. Biblisch 1. Altes Testament, Sp. 1844. Ausgenommen davon ist nach Janowski das Schlachtopfer (vgl. ebd.). Vgl. dazu Anm. 594. Behm, Art. θύω κτλ., 183. Das Kursiv des Originals wurde rückgängig gemacht. Vgl. Ulrike Dahm, Art. Opfer (Altes Testament), 3.12. Ulrike Dahm, Art. Opfer (Altes Testament), 3.12. Vgl. Illmann, Art. ‫ שָׁ לֵם‬šālem, 101. Sand, Art. ἀποδίδωμι, Sp. 307; Weber, Schulden, 253 (vgl. ders., Vergeltung, 138 Anm. 61).

198 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 ein bestimmtes Handeln geht, das vergolten wird (vgl. u. a. Mt 6,1–18).585 Die ökonomische Metaphorik dient der Darstellung der Gott-Mensch-Beziehung, ohne dass Ökonomie und Sozialökonomie deckungsgleich wären: Die Gott-Mensch-Beziehung lässt sich nicht auf Ökonomie reduzieren, sondern unterscheidet sich von ihr in charakteristischer Weise darin, dass sie über Handels- bzw. Marktbeziehungen hinausgeht.586 Die Dynamik der im Opfer sich realisierenden Gabebeziehung zwischen Gott und Mensch beschreibt Bernd Janowski folgendermaßen: „Diese Kommunikation besteht aus mehreren Akten: Geben, Annehmen, Erwidern. Dabei gehen die göttlichen Gaben – seine Schöpfung, sein Bund, sein Segen – nicht nur ‚als „erste Gaben“ der menschlichen „zweiten Gabe“ immer schon voraus‘, sie sind auch der Ermöglichungsgrund für die antwortende Gabe des Menschen. Diese Reziprozität von Geben, Annehmen und Erwidern ist nicht nur asymmetrisch, sie steht auch unter dem Primat der göttlichen Vorgabe. Gleichwohl ist ihr Ziel die Ermöglichung und Aufrechterhaltung der Kommunikation zwischen Gott und Mensch.“587 Diese Ausführungen Janowskis lesen sich wie ein Kommentar zur Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–25): So zielt der Schuldenerlass als Vorgabe bzw. erste Gabe Gottes auf die Erwiderung dieser Gabe in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Verweigerung, dem Mit-Knecht seine Schulden zu erlassen, entspricht der Verweigerung einer Gegengabe, durch die das Verhältnis zu Gott entscheidend beeinträchtigt wird. Der Kreislauf von Geben, Annehmen, Erwidern ist somit durchbrochen, die Kommunikation wird nicht weiter aufrechterhalten. Die Verweigerung einer Gegengabe bedeutet Beziehungsabbruch. Unter der Voraussetzung, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums – ebenso wenig wie Hosea – Kultkritik im engeren Sinne übt,588 kristallisiert sich 585 Vgl. unsere Ausführungen zu ἀποδίδωμι im ersten Kapitel dieser Arbeit unter Punkt 1.2.2.1.1 und Punkt 1.2.2.1.2. 586 Es ist also zu betonen, dass die gabenvermittelte Reziprozität neben ihrer materiellen eine symbolische Seite hat, die für das Geben, Empfangen und Erwidern entscheidend ist. Dementsprechend unterscheidet sich die Darbringung von Opfern von einem Vertragsverhältnis oder einer ökonomischen Marktlogik: „Das Opfer als menschliche Gabe ist mit der Hoffnung auf Akzeptanz bei Gott und Reziprozität verbunden. Dieses Verhältnis wird angemessen durch ‚do ut des‘ bzw. bei Dankopfern durch ‚do quia dedisti‘ beschrieben und korrespondiert mit elementaren menschlichen Beziehungskategorien. Eine mechanistische Sicherheit bezüglich der erhofften Reziprozität besteht aber nicht, denn eine Gabe ist kein Kauf und begründet kein Anrecht auf Gegenleistung“ (Eberhart, Studien, 358). Diese Bemerkungen Eberharts zum alttestamentlichen Opferverständnis machen deutlich, dass die ökonomische Terminologie als Metapher für die menschliche Gottesbeziehung dient, ohne dass diese Beziehung in der ökonomischen Logik aufginge. Die Gottesbeziehung ist eine dynamische, lebendige, offene Beziehung: Reziprozität wird erhofft, nicht käuflich erworben. Ein Anrecht auf Gegenleistung besteht gerade nicht. 587 Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, 286. 588 Wir gehen, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, davon aus, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in ähnlicher Weise wie die Propheten Kultkritik mit dem Ziel übt, die Einheit von Kult und Ethik hervorzuheben. Nach Christian Eberhardt intendiert „die Kultkritik der Propheten und Psalmisten … eigentlich ein Gleichgewicht zwischen Beteiligung

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das lebendige und dynamische Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch als ein weiterer gemeinsamer Nenner eines komparativischen Verständnisses von Hos 6,6 heraus: Sowohl die gegenüber dem Nächsten/Bruder geübte Barmherzigkeit als auch die Opferdarbringung sind Ausdruck eines solchen Beziehungsgeschehens. Wenn auf dieser Basis Barmherzigkeit gegenüber dem kultischen Gottesdienst priorisiert wird, impliziert das also zwingend, dass die gegenüber dem Nächsten geübte Barmherzigkeit das Gottesverhältnis tangiert. Mehr noch: Wie das Opfer, so richtet sich auch die Barmherzigkeit auf bzw. an Gott selbst. Wäre es anders, dann würde der Verfasser des Matthäusevangeliums die zwischenmenschlichen Beziehungen über die Gottesbeziehung stellen, was aber, wie auch bei der Auslegung von Mt 22,34–40 zu zeigen sein wird,589 nicht der Fall ist: Wie das matthäische Verständnis von Hos 6,6 dient auch die Gleichstellung der Gebote der Nächsten- und der Gottesliebe der Profilierung der Nächstenliebe als Ort des Gottesdienstes, ohne dass Gottes- und Nächstenliebe ineinander aufgehen. Das aber bedeutet, dass der Evangelist die Beziehung zum Nächsten als Ort der Gestaltung der Gottesbeziehung im engeren Sinne versteht und Barmherzigkeit als nichtkultisches Opfer konzeptualisiert. Das zeigt sich im Blick auf Mt 9,9–13 daran, dass der sich in den Mahlgemeinschaften konkretisierenden Barmherzigkeit Jesu Vorbildcharakter eignet: Die Pharisäer sollen hingehen und lernen, wie Jesus (und im Anschluss an diesen auch seine Schüler) den umkehrwilligen Sündern angesichts des nahe herbeigekommenen Himmelreiches (Mt 3,2; 4,17) zu vergeben. Dieser Lernschritt aber dürfte im Verständnis des Evangelisten ihre Nachfolge und die mit ihr einhergehende Sündenvergebung voraussetzen. Bei der dem Nächsten/Bruder gewährten Barmherzigkeit, die Jesus von den Pharisäern fordert, handelt es sich damit um eine Entsprechung zu der ihnen im Falle der Umkehr gewährten Sündenvergebung, die als Gott dargebrachtes Opfer Gott selbst gilt590 und somit wiederum Voraussetzung dafür ist, dass Gott auch weiterhin der Bitte um Sündenvergebung (6,12) entspricht. Es wird deutlich: Neben den bereits herausgestellten Gottesbezug tritt als weitere grundlegende Gemeinsamkeit der Gegenseitigkeitscharakter von ἔλεος und θυσία. Wie die Opfergabe des Menschen auf eine Annahme durch Gott zielt und am Kult, Lebensführung und Gotteserkenntnis. Dass im Namen der Einforderung der moralisch-ethischen Seite dann der Kult tatsächlich verworfen worden ist, weist nur auf die Dringlichkeit dieser Forderung hin“ (Kultmetaphorik, 67f.). Eberhart stellt hier nicht nur die Funktion der prophetischen Kultkritik heraus, sondern qualifiziert die sprachliche Ausdrucksform dieser Kritik als rhetorische: Die antithetische Formulierung steht letztendlich im Dienste dessen, was sie verneint. Die Betonung der Einheit von Kult und Ethik und das Aufzeigen der gottesdienstlichen Dimension ethischen Handelns seitens der Propheten ist – wie deutlich geworden sein dürfte – von einer Auffassung zu unterscheiden, die die Kultkritik und deren Rezeption im Matthäusevangelium aufgrund der Unterscheidung von innerer Einstellung und äußerem Handeln als eine Kritik des Kultes im engeren Sinne versteht. 589 Vgl. Abschnitt 2.6 in diesem Kapitel. 590 Dass sie Gott selbst gilt, heißt natürlich nicht, dass Gott der Sündenvergebung bedürftig wäre. Nichtsdestotrotz ist die zwischenmenschliche Sündenvergebung Ausdruck der Hingabe an Gott.

200 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 ihrerseits als Gegengabe zum vorangehenden Geben Gottes verstanden werden kann (vgl. Sir 35,9–10)591, darf die in Mt 9,9–13 von den Pharisäern geforderte Barmherzigkeit, die die Barmherzigkeit Gottes in den zwischenmenschlichen Beziehungen nachahmen soll, ihrerseits wiederum auf eine göttliche Gegengabe hoffen. Dieser Gegenseitigkeitscharakter der Barmherzigkeit klingt in Mt 9,9–13 nur dann an, wenn das durch den Terminus θυσία aufgerufene Kommunikations- und Beziehungsgeschehen und die in dieser Hinsicht bestehende Parallelität der Barmherzigkeit zur Opferdarbringung berücksichtigt wird. Offen zu Tage tritt der für Beziehung grundlegende Aspekt der Gegenseitigkeit – abgesehen von der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) – insbesondere in der fünften Seligpreisung, in der als einziger sowohl Protasis und Apotasis gleichlautend formuliert sind: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit (durch Gott) erlangen“ (5,7). Vergleichbar ist auch die fünfte Vaterunser-Bitte (Mt 6,12), die im Zentrum der Bergpredigt steht und der aufgrund ihrer im direkten Anschluss an das Vaterunser erfolgenden Wiederaufnahme (6,14–15) eine hervorgehobene Bedeutung zukommt: Hier wird die zwischenmenschliche Vergebung mit der von Gott erbetenen Vergebung verschränkt: „6,12 Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir (sie) unseren Schuldnern erlassen haben… (14) Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehltritte vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. (15) Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Fehltritte auch nicht vergeben.“592 Die genannten Stellen, an denen entweder von der Barmherzigkeit oder aber dem für die Sündenvergebung transparenten Schuldenerlass die Rede ist, unterstreichen unsere Annahme, dass auch in Mt 9,13 die Forderung nach Barmherzigkeit sowohl ein barmherziges Handeln Gottes voraussetzt als auch ein ebensolches nach sich zieht: Sowie die Opfergabe auf den Segen Gottes zielt, zielt die sich in der Sündenvergebung konkretisierende zwischenmenschliche Barmherzigkeit auf die Sündenvergebung respektive Barmherzigkeit Gottes.593 Kurzum: Zwischenmenschliche Barmherzigkeit stellt für den Verfasser des Matthäusevangeliums (quasi als Sonderfall des durch Gabe und Gegengabe strukturierten Beziehungsgeschehens zwischen Gott und Mensch) ein nichtkultisches 591 Vgl. unsere Interpretation dieser Verse auf S. 207–208. 592 Es ist aufschlussreich, dass sich in der Bergpredigt insgesamt drei reziprok formulierte Aussagen finden. Neben der fünften Seligpreisung (Mt 5,7) und der fünften Vaterunser-Bitte inklusive ihrer Erläuterungen (Mt 6,12.14–15) ist hier die in der rabbinischen Literatur weit verbreitete Reziprozitätsformel, deren Kurzversion „Maß gegen Maß“ (‫ )מדה כנגד מדה‬lautet, zu nennen, die der Evangelist – in einer Langversion – im Anschluss an das Verbot des Richtens in Mt 7,1–2 als Begründung anführt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werden. (2) Denn mit welchem Urteil ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“ Zu den verschiedenen Versionen dieser Formel und ihren Vorkommen in der rabbinischen Literatur vgl. insbesondere Rüger, Maß, 174–175. 593 Im Terminus ἔλεος verbindet sich also nicht nur die Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen, so dass die zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ort der Gottesgegenwart werden, sondern der Begriff verkörpert den Reziprozitätscharakter in besonderer Weise. Bei ἔλεος handelt es sich um einen Beziehungsbegriff ersten Ranges.

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Sühnopfer dar.594 Trotz der antithetischen Formulierung besitzen die Opfer Analogiecharakter für die Barmherzigkeit: Wie Gott in der erzählten Zeit im Kult gegenwärtig ist, ist er es auch in der Barmherzigkeit, ja, hier nach Auffassung des Evangelisten sogar in einem höheren Maße. Neben das durch Sühne und Vergebung gestaltete Versöhnungsgeschehen zwischen Gott und Mensch im Kult (5,23–24) tritt die nichtkultische Sündenvergebung in den Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern, an denen die Mahlgemeinschaften der Gemeinde anknüpfen. Die komparativisch zu deutende Opposition ἔλεος – θυσία in Mt 9,9–13 lautet also: Durch Barmherzigkeit motivierte Sündenvergebung in den Mahlgemeinschaften Jesu (und der Gemeinde) und kultische Sündenvergebung. Es ist die hier auf der Erzählebene des Evangeliums dargelegte Funktionsäquivalenz von Barmherzigkeit und Schlachtopfer, die es ermöglicht, dass Barmherzigkeit in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels für den Verfasser des Matthäusevangeliums wie für die erst später greifbare rabbinische Tradition an die Stelle der nun nicht mehr möglichen Opferdarbringung tritt. Der Evangelist fügt allerdings das Zitat Hos 6,6 nicht deshalb ein, weil er darin den Ersatz der Opfer durch die Barmherzigkeit präfiguriert sieht. Es verhält sich genau umgekehrt: Weil die Gottesgegenwart im zwischenmenschlichen Versöhnungsgeschehen neben die Gottespräsenz im Tempel tritt und ihr gegenüber sogar priorisiert wird: Gott ist in den Mahlgemeinschaften Jesu mit Sündern und Zöllnern und in der zwischenmenschlichen Vergebung mehr gegenwärtig als im Kult, kann sie dort, wo dieser nicht mehr existiert, an dessen Stelle treten. Traditionsgeschichtlich rückt die Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangelium damit in die Nähe jener nachexilisch-weisheitlichen Traditionen, die durch eine Metaphorisierung des Opfergedankens einen nicht an den Tempel und seinen Kult gebundenen Gottesdienst ermöglichen. Dass der Verfasser des Matthäusevangeliums seinen Jesus auch hier tief im Judentum verankert sein lässt, gilt es im folgenden Abschnitt zu zeigen.

2.2.3 Der traditionsgeschichtliche Hintergrund: Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheitsliteratur In diesem Abschnitt wird der Bedeutung, die der Barmherzigkeit in der jüdischen Weisheitsliteratur zukommt, am Beispiel des Tobitbuches und des Buches Jesus Sirach nachgegangen. Abschließend fragen wir nach der Relevanz unserer Ergebnisse für das Matthäusevangelium. 594 Ist es richtig gesehen, dass der Evangelist Barmherzigkeit in Mt 9,9–13 als nichtkultisches Sühnopfer versteht, dann ist hinsichtlich der Annahme Janowskis, dass allen Opferarten mit Ausnahme der Schlachtopfer in nachexilischer Zeit Sühnequalität zugesprochen wurde (vgl. Janowski, Art. Sühne II. Biblisch 1. Altes Testament, Sp. 1844), festzuhalten, dass es sich im Blick auf das hier angenommene matthäische Verständnis des Hoseazitats, allemal aber im Blick auf die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 in ARN 4 (A), anders verhält: Die Sühnequalität der Schlachtopfer ist hier vorausgesetzt.

202 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6

2.2.3.1 Barmherzigkeit als Opferäquivalent in Tob und Sir Mit der Vorstellung einer Funktionsäquivalenz von Barmherzigkeit und Opferdarbringung, auf deren Grundlage die Barmherzigkeit dann sogar priorisiert werden kann, steht der Verfasser des Matthäusevangeliums auf jüdisch-weisheitlichem Boden. Dies soll im Folgenden exemplarisch am Tobitbuch gezeigt werden, in welchem der dem Terminus ἔλεος verwandte Begriff ἐλεημοσύνη im Vergleich mit den anderen Schriften der Septuaginta gehäuft auftritt (1,3.16; 2,14; 3,2; 4,7.8.10.11.16; 7,7; 12,8.9; 13,6; 14,2.7.10.11)595 und in dem sich die Ethisierung des Opfergedankens mit der sündentilgenden Funktion von ἐλεημοσύνη verbindet. Das Tobitbuch eignet sich somit in besonderer Weise dafür, den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Verschränkung der Gottesbeziehung mit der Beziehung zum Nächsten/Bruder und das Verständnis der Barmherzigkeit als nichtkultisches Opfer im Matthäusevangelium offenzulegen. Für die Bedeutung des Barmherzigkeitserweises (ἐλεημοσύνη) im Tobitbuch sind zwei kurze Abschnitte von besonderer Relevanz, die beide für ein Verständnis des Matthäusevangeliums fruchtbar gemacht worden sind: Tob 4,7–11 und Tob 12,8–10.596 Auf Tob 12,8–10 wird als vermutlich ältesten Beleg für die drei jüdischen Frömmigkeitsübungen des Almosengebens, des Betens und des Fastens in den Kommentaren zu Mt 6,2–18 immer wieder verwiesen.597 In diesem Abschnitt fordert der matthäische Jesus die genannten Werke als Ausdruck der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) seiner Adressaten (6,1). Dass auch Tob 4,7–11 nicht nur als traditionsgeschichtlicher Hintergrund für die für den Verfasser des Matthäusevangeliums bedeutende Vorstellung eines Schatzes im Himmel relevant ist (vgl. Mt 6,19–21),598 sondern auch für das Verständnis der Barmherzigkeit als nichtkultischem Opfer, wird in diesem Abschnitt zu zeigen sein. Beginnen wir mit einer kurzen Analyse von Tob 4,7–11. Tob 4,7–11 LXX lauten: 7 καὶ πᾶσι τοῖς ποιοῦσι τὴν δικαιοσύνην ἐκ τῶν ὑπαρχόντων σοι ποίει ἐλεημοσύνην, καὶ μὴ φθονεσάτω σου ὁ ὀφθαλμὸς ἐν τῷ ποιεῖν σε ἐλεημοσύνην· μὴ ἀποστρέψῃς τὸ πρόσωπόν σου ἀπὸ παντὸς πτωχοῦ, καὶ ἀπὸ σοῦ οὐ μὴ ἀποστραφῇ τὸ πρόσωπον τοῦ θεοῦ. 8 ὡς σοὶ ὑπάρχει, κατὰ τὸ πλῆθος ποίησον ἐξ αὐτῶν ἐλεημοσύνην· ἐὰν ὀλίγον σοι ὑπάρχῃ, κατὰ τὸ ὀλίγον μὴ φοβοῦ ποιεῖν ἐλεημοσύνην· 9 θέμα γὰρ ἀγαθὸν θησαυρίζεις σεαυτῷ εἰς ἡμέραν ἀνάγκης·10 διότι ἐλεημοσύνη ἐκ θανάτου ῥύεται καὶ οὐκ ἐᾷ εἰσελθεῖν εἰς τὸ σκότος·11 δῶρον γὰρ ἀγαθόν ἐστιν ἐλεημοσύνη πᾶσι τοῖς ποιοῦσιν αὐτὴν ἐνώπιον τοῦ ὑψίστου. 595 In mehreren dieser Verse kommt der Begriff doppelt vor. 596 Diese beiden Abschnitte werden bei der Bearbeitung der Almosenthematik im Tobitbuch in der Regel gemeinsam interpretiert: Vgl. Eubank, Celestial Investments, 80–81; Heiligenthal, Werke der Barmherzigkeit, 298–299 mit Anmerkung 24 auf S. 299; Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 115–116. 597 Vgl. Konradt, Matthäus, 100; Wengst, Regierungsprogramm, 138. 598 Darauf verweist Eubank, Celestial Investments, 80–81.

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„(7) Und allen, die Gerechtigkeit üben, gib Almosen von deinem Besitz, und dein Auge soll nicht missgünstig sein, wenn du Almosen gibst. Wende dein Antlitz nicht ab von irgendeinem Armen, und das Antlitz Gottes wird sich nicht von dir abwenden. (8) Wieviel du besitzt, gemäß der Menge gib Almosen davon: wenn du wenig besitzt, scheue dich nicht, gemäß dem Wenigen Almosen zu geben. (9) Denn du sammelst dir einen guten Schatz für den Tag der Not. (10) Deshalb rettet Almosen vor dem Tod und lässt nicht in die Finsternis eingehen. (11) Denn Almosen ist eine gute (Opfer-)Gabe für alle, die sie vor dem Höchsten darbringen.“599 In diesem kurzen Abschnitt lassen sich mehrere relevante Punkte für unsere Frage nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln des matthäischen Barmherzigkeitsverständnisses und insbesondere nach der Funktionsäquivalenz von Barmherzigkeit und Opferdarbringung finden: 1. Im Abschnitt Tob 4,7–11 sticht vor allem der Tat-Charakter der Barmherzigkeit hervor, der auch für den hebräischen Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬wesentlich ist: Barmherzigkeit ist in erster Linie ein Tun, keine ausschließlich innere Haltung. So ist in unseren Versen fünfmal davon die Rede, dass dem Nächsten Barmherzigkeit erwiesen werden soll (ποιεῖν ἐλεημοσύνην: V. 7 [dreimal].8 [zweimal]). Konkret ist dabei an die Gabe von Almosen gedacht. Allerdings kann im Blick auf das Tobitbuch als Ganzem Barmherzigkeit nicht auf die Gabe von Almosen beschränkt werden. So werden einige Verse nach dem zitierten Abschnitt die Bekleidung Nackter und die Speisung Hungernder als Taten der Barmherzigkeit bezeichnet. Tob 4,16 lautet: ἐκ τοῦ ἄρτου σου δίδου πεινῶντι καὶ ἐκ τῶν ἱματίων σου τοῖς γυμνοῖς· πᾶν, ὃ ἐὰν περισσεύσῃ σοι, ποίει ἐλεημοσύνην, καὶ μὴ φθονεσάτω σου ὁ ὀφθαλμὸς ἐν τῷ ποιεῖν σε ἐλεημοσύνην.600 U. a. aus der hier zu Tage tretenden Verwendung von ποιεῖν ἐλεημοσύνην im Sinne der Speisung Hungernder und der Kleidung Nackter folgert Heiligenthal: „Tob 4:5–16 macht deutlich, daß ἐλεημοσύνη nicht als terminus technicus für Almosen verwendet wurde, sondern daß es als Terminus für barmherziges Werk u. a. auch das Almosen bezeichnen konnte“601. 599 Eigene Übersetzung. 600 Tob 4,16: „Von deinem Brot gib dem Hungernden und von deinen Kleidern den Nackten. Alles, wovon du im Überfluss hast, gib als Almosen, und lass dein Auge nicht missgünstig sein, wenn du Almosen gibst“ (eigene Übersetzung). Wichtig ist hier in inhaltlicher Hinsicht ein Aspekt, der uns im Kontext der Frage nach der Bedeutung der „überfließenden“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) im dritten Kapitel beschäftigen wird: Barmherzigkeit wird aus dem Überfluss gewährt, unterminiert also die eigenen wirtschaftlichen Grundlagen nicht (vgl. dazu auch Anm. 603). Ebenso wenig untergräbt die von Jesus in den Kommentarworten (Mt 5,21– 48) geforderte Gerechtigkeit das Recht bzw. die halachische Dimension der Torainterpretation (vgl. dazu Abschnitt 3.1.2). Es gibt also einen Zusammenhang zwischen „Überfluss“ und „Barmherzigkeit“, der sich im Matthäusevangelium darin widerspiegelt, dass es sich sowohl beim Terminus περισσεύω als auch beim Terminus ἔλεος um theologische Leitworte handelt. 601 Heiligenthal, Werke der Barmherzigkeit, 291.

204 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 2. Die barmherzige Zuwendung zum Armen in Form des Almosen ist Ausdruck intakter Gottesbeziehung: Derjenige, der von seinem Vermögen dem Armen gibt und in dieser Tat dem Armen sein Angesicht zuwendet, darf sich der bleibenden Zuwendung und Gegenwart Gottes sicher sein (V. 8). Wie die zweifach gebrauchte Wendung „das Antlitz abwenden“ zeigt, setzt unser Text eine bestehende Gemeinschaft – zwischen dem Menschen und seinem Nächsten und zwischen Gott und Mensch – voraus. Diese Gemeinschaft aber wird durch mangelnde Solidarität gefährdet. Derjenige, der sein Angesicht vom Armen abwendet, gefährdet und verweigert Gemeinschaft. Von ihm wird auch Gott sein Antlitz abwenden. Umgekehrt gilt: Derjenige, der sich dem in Not geratenen Nächsten zuwendet, gestaltet Gemeinschaft. Ihm wird Gott seine Gegenwart nicht entziehen. Almosengeben ist also in ein doppeltes Beziehungsgeschehen eingebettet, der Beziehung zu Gott und der Beziehung zum Mitmenschen: Die Abwendung des Angesichts Gottes – die Rede vom Angesicht Gottes bereitet die in V. 11 verwendete Metapher des Almosens als Opfergabe vor, ist Reaktion auf die verweigerte Almosengabe. Für den Terminus ἐλεημοσύνη gilt damit in gleicher Weise, was wir für den Terminus ἔλεος im Matthäusevangelium herausgestellt haben: Die Zuwendung zum Mitmenschen ist mit der Gottesbeziehung verschränkt, so dass die zwischenmenschlichen Beziehungen als Ort der Gestaltung der Gottesbeziehung ins Blickfeld treten. Der „eigentliche“ bzw. „ursprüngliche“ Ort der Gottesbeziehung aber, an dem der Mensch vor das Angesicht Gottes tritt, ist der Tempel. Wie der aaronitische Segen exemplarisch zu zeigen vermag (Num 6,22–27), ist mit der Zuwendung des Angesichts JHWHs seine heilvolle Gegenwart verbunden: Der umfassende Segen gewährt Gnade, Schutz und Frieden.602 Gott, so sagt unser Text, ist nicht nur im Tempel, sondern gerade auch dort gegenwärtig, wo dem in Not geratenen Nächsten Solidarität gewährt wird.603 Derjenige, der dem Nächsten großzügig gibt, handelt im Präsenzbereich Gottes selbst. Dem Dienst am Nächsten eignen kultisch-gottesdienstliche Züge. Wir werden auf diesen Aspekt bei der Besprechung der Metapher der Barmherzigkeit als Opfer zurückkommen.

602 Auch die Aussage, das Auge solle bei der Gewährung des Almosens nicht „missgünstig“ (Tob 4,7.16) blicken, ist für den Opferkult transparent. Sie verhält sich analog zu den Aufforderungen, die Opfergaben „ἐν ἀγαθῷ ὀφθαλμῷ“ (Sir 35,7.9) zu bemessen. Vgl. dazu weiter unten im Text unter (3). 603 Nicht unwesentlich dürfte auch der Hinweis sein, der in Not geratene Nächste solle je nach Vermögenslage unterstützt werden (V. 8): Das Almosen darf nicht an die wirtschaftliche Substanz gehen und den Geber in eine Notlage bringen, in der er dann selbst auf Unterstützung angewiesen wäre. So bezieht sich die Forderung, das Almosen großzügig zu bemessen („dein Auge soll nicht missgünstig sein“), wie Tob 4,16 explizit macht, auf den Überfluss: „Alles, wovon du im Überfluss hast, gib als Almosen, …“. Umgekehrt gilt aber auch, dass auch derjenige, der nur wenig hat, als ein solcher wahrgenommen wird, der die Möglichkeit hat, von seinem Vermögen zu geben: „Wenn du wenig besitzt, scheue dich nicht, gemäß dem Wenigen Almosen zu geben.“

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

205

3. V. 9 verwendet in der Vorstellung des Schätzesammelns eine ökonomische Metapher, die den Tun-Ergehen-Zusammenhang impliziert: Derjenige, der dem in Not geratenen Gerechten Almosen gewährt, legt sich für die Zeit der Not einen Schatz an, auf den er dann zurückgreifen kann. Damit übernimmt das Almosen die Funktion einer „Rücklage“: Entgegen einer ökonomischen Logik aber, in der üblicherweise die Ansammlung eines Vermögens als Rücklage für schlechte Zeiten dient, erhält hier die finanzielle Unterstützung der Armen diese Funktion. Über den Ort, an dem dieser Schatz aufbewahrt wird, wird an dieser Stelle nichts gesagt. Wir halten es aber angesichts der in Tob 4,7–11 offen zu Tage liegenden Verschränkung der Beziehung zum Nächsten und der Gottesbeziehung für sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Ort sich „im Himmel“ bei Gott befindet: Es geht hier eindeutig nicht um einen materiellen, sondern immateriellen Schatz, der durch das Tun des Willens Gottes, konkret: durch den Barmherzigkeitserweis des Almosengebens angelegt wird. In diesem Sinne kommentiert Nathan Eubank Tob 4,7–11: „This passage draws out what is hinted at in these proverbs: almsgiving delivers from death because it funds a ‘good treasure’ in heaven that delivers from death and keeps one from going into darkness.“604 Dass die in Tob 4,7–11 vorliegende „ökonomische“ Metaphorik605 im Kontext des antiken Gabeverständnisses verstanden werden kann, zeigt V. 11, in dem das Almosen als Gott dargebrachte Gabe (δῶρον) bezeichnet wird. Die kultische Beziehung zu Gott ist als gegenseitiger Gabentausch konzipiert,606 ohne dass damit die Beziehung ökonomisiert würde. Das zeigt sich insbesondere an der Forderung von V. 7, das Auge bei der Almosengabe nicht missgünstig sein zu lassen (μὴ φθονεσάτω σου ὁ ὀφθαλμὸς ἐν τῷ ποιεῖν σε ἐλεημοσύνην). Es soll, so verstehen wir diese Aussage, großzügig gegeben werden (vgl. zur Begründung unsere Interpretation der analogen Wendung ἐν ἀγαθῷ ὀφθαλμῷ in Sir 35,9 LXX etwas weiter unten im Text). Dass dies auch für die göttliche Gegengabe gilt, deuten die mit dem großzügig bemessenen Almosen verbundenen soteriologischen „Folgen“607 an, die die gewährte zwischenmenschliche Gabe bei weitem übertreffen: So sammelt derjenige, der Almosen gibt, einen „guten Schatz“ für die Zeit der Not (V. 9), die Zuwendung zum Armen rettet vor dem Tod und dem Eingang in die Finsternis (V. 10). Deutlicher noch als im Tobitbuch zeigt sich die Konzeptualisierung der Gottesbeziehung als Gabebeziehung, in der der jeweilige Geber großzügig, d. h. über das 604 Eubank, Celestial Investments, 81. Bei der Wendung ἐκ θανάτου ῥύεται handelt es sich um ein Zitat aus Prov 10,2 bzw. Prov 11,4. 605 Eubank treibt die Metaphorik mit seiner kritisch zu hinterfragenden Bezeichnung der Schätze als „Investitionen in den Himmel“ („celestial investments“) auf die Spitze. 606 Vgl. Sir 35,9–10 (LXX). Wenn in Sir 35,2 (LXX) das Dankopfer als Metapher für einen Barmherzigkeitserweis fungiert, dann setzt diese Vorstellung eine vorangegangene Gabe Gottes voraus. 607 Ob in der Verheißung der Rettung vor dem Tode die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod anklingt, ist umstritten und für unsere Fragestellung nicht wesentlich: Angesichts dessen, dass die Auferstehungshoffnung den Tun-Ergehen-Zusammenhang eschatologisiert, unterstreicht sie die soteriologische Relevanz des diesseitigen Lebens.

206 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Maß hinaus geben soll, in Sir 35. Im Rahmen der Vorstellung, dass das Opfer als menschliche Gegengabe auf eine vorangegangene Gabe Gottes antwortet und seinerseits auf ein erneutes Geben JHWHs hoffen darf, wird der Opfernde hier zweimal dazu aufgefordert, mit gütigem Auge (ἐν ἀγαθῷ ὀφθαλμῷ) zu geben (Sir 35,7.9 LXX). Die zweite Stelle lautet in ihrem Kontext: „(9) Gib dem Höchsten gemäß seiner Gabe (an dich) und mit gütigem/großzügigem Auge gemäß des unverhofften Gewinns/glücklichen Erwerbs608 deiner Hand. (10) Denn der Herr ist einer, der vergilt, und siebenfach wird er dir vergelten.“609. Wir schlagen vor, die Wendung „mit gütigem Auge“ (ἐν ἀγαθῷ ὀφθαλμῷ), die das ideale menschliche Geben charakterisiert, in Analogie zur siebenfachen göttlichen Vergeltung zu verstehen. Die menschliche Gabe orientiert sich an der vorausgegangenen göttlichen Gabe bzw. am (von Gott gewährten) glücklichen Erwerb der Hände. In Entsprechung dazu, soll gegeben werden, und zwar nicht in genauer Entsprechung, sondern „mit gütigem Auge“. Ist das richtig gesehen, dann sind die menschliche Gabe und die göttliche Gegengabe durch Überfluss, d. h. Großzügigkeit charakterisiert, wobei die siebenfältige Erstattung Vollkommenheit symbolisieren dürfte. In dem jeweiligen Überschusscharakter der Gabe: menschlicherseits soll „mit gütigem Auge“ gegeben werden, göttlicherseits wird siebenfache Erstattung verheißen, zeigt sich u. E. der Hingabecharakter, der mit der jeweiligen Gabe verbunden ist bzw. verbunden sein soll. Es geht hier um eine über das Maß hinausgehende, nicht verrechenbare Gegenseitigkeit. Das schließt einen einer lebendigen Beziehung entgegen gesetzten Automatismus aus. Barmherzigkeit ist Großzügigkeit. Was für die kultische Gabe gilt, gilt gleichermaßen für den nichtkultischen Liebeserweis: Wie derjenige, der Gott eine Gabe im Tempel darbringt, auf Gottes überreichen Segen (als Gegengabe) hoffen darf, darf der Barmherzige, der großzügig von seinem Überfluss gibt (vgl. Tob 4,16), auf die göttliche Barmherzigkeit hoffen: Gott vergilt die Zuwendung zum Armen mit der Rettung vor dem Tod und dem Eingehen in die Finsternis (V. 10). Die Vorstellung, dass es sich beim Almosen um eine Gott dargebrachte Gabe handelt, impliziert das Vertrauen auf ein Vergeltungshandeln Gottes, das an der vom Menschen geübten Barmherzigkeit Maß nimmt und diese dann übertrifft.

608 Die von Wolfgang Kraus und Martin Karrer herausgegebene Übersetzung der Septuaginta gibt καθ᾽ εὕρεμα χειρός mit: „gemäß dem Ertrag deiner Hand“ wieder (Übersetzung: Becker/Fabry/Reitemeyer, in: Septuaginta Deutsch). Gemoll bietet u. a. die Übersetzung „glücklicher, unverhoffter Gewinn“ an (vgl. auch Liddell/Scott, Greek-English Lexikon). Unsere Wiedergabe versucht dem Aspekt, dass der Erwerb der Hände als Gabe Gottes gewertet wird und dementsprechend die Dimension der Unverfügbarkeit mitschwingt, Rechnung zu tragen. So wie sich die Gabe Gottes durch Großzügigkeit auszeichnet, so soll sich auch die Erwiderung dieser Gabe durch Großzügigkeit auszeichnen, was nicht zuletzt auch durch die Wendung „mit gütigem Auge“ unterstrichen wird. 609 Eigene Übersetzung. Der Text der Septuaginta lautet: „ὑψίστῳ κατὰ τὴν δόσιν αὐτοῦ καὶ ἐν ἀγαθῷ ὀφθαλμῷ καθ᾽ εὕρεμα χειρός·10 ὅτι κύριος ἀνταποδιδούς ἐστιν καὶ ἑπταπλάσια ἀνταποδώσει σοι.“

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

207

4. Almosen wird als eine Gott dargebrachte Opfergabe verstanden (V. 11): δῶρον γὰρ ἀγαθόν ἐστιν ἐλεημοσύνη πᾶσι τοῖς ποιοῦσιν αὐτὴν ἐνώπιον τοῦ ὑψίστου. Dass aber impliziert, dass die Zuwendung zum Nächsten nicht nur dem konkreten Nächsten, sondern vor allem Gott gilt. Dieser Aspekt wird durch die Aussage, die sich an die Qualifikation des Almosen als Opfergabe anschließt und auf diese Bezug nimmt, noch unterstrichen: „Die es vor dem Höchsten üben“ (πᾶσι τοῖς ποιοῦσιν αὐτὴν ἐνώπιον τοῦ ὑψίστου). Wir verstehen diese – eigentlich „überflüssige“ – Erläuterung zur Darbringung der Opfergabe – wem außer Gott sollte eine Opfergabe dargebracht werden? – als Klarifikation dessen, dass derjenige, der sich dem bedürftigen Gerechten zuwendet, sein Angesicht Gott selbst zuwendet. Liegt hier womöglich eine Mt 6,2–4 vergleichbare Mahnung vor, Almosen nicht vor den Menschen zu üben? Wie dem auch sei, V. 11 bringt die Verschränkung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung dadurch auf den Punkt, dass Barmherzigkeit als Gott dargebrachtes Opfer konzeptualisiert wird: Der im Tempel vor Gottes Angesicht Tretende tritt auch in der Gabe des Almosen vor Gottes Angesicht. Ob damit im Umkehrschluss nahegelegt werden soll, dass sich im Angesicht des Armen Gottes Angesicht spiegelt, kann nur vermutet werden. Der Schritt zu dieser Vorstellung, die Mt 25,31–46, allerdings mit einer Brechung eigner Art, explizit macht (dass der bedürftige Bruder das Antlitz Christi trägt, ist erst in der Retrospektive erkennbar), ist auf jeden Fall nicht groß. Die Vorstellung, dass das Almosen Gott selbst gilt und darauf hoffen darf, von Gott vergolten zu werden, findet sich auch in Mt 6,2–4. Almosen ist Gottesdienst. Wenn der Verfasser des Matthäusevangeliums in Mt 6,2–4 das Almosen an die Spitze der gottesdienstlichen Trias Almosen, Gebet und Fasten (Mt 6,1–18) setzt, dann könnte der Grund dafür in der Intention des Evangelisten bestehen, eine Brücke zu den vorangehenden Kommentarworten Jesu (5,21–48) zu schlagen: Während der matthäische Jesus in den Kommentarworten Gebote interpretiert, die das Verhältnis zum Nächsten betreffen (Mt 5,21–48), haben seine Ausführungen in Mt 6,1–18 das Verhältnis zu Gott im Blick. In der Almosengabe aber wird der Liebeserweis gegenüber dem Nächsten als Gerechtigkeitserweis gegenüber Gott verstanden. Die Beziehung zum Nächsten und die Beziehung zu Gott rücken hier eng zusammen. Offensichtlich teilt ἐλεημοσύνη mit dem matthäischen Leiterminus ἔλεος die Verschränkung der Gottesbeziehung und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Almosen besitzt kultische Relevanz. Auch im Matthäusevangelium stellt das Almosen (neben der in Mt 9,9–13 und Mt 18,28–30 genannten Sündenvergebung und den in Mt 25,31–46 genannten Werken der Gerechtigkeit) ein Liebeswerk dar, auch wenn ihm nicht dieselbe Prominenz wie im Tobitbuch zukommt. Wie wir gesehen haben, gilt für den Evangelisten die Sündenvergebung als das vornehmste Liebeswerk.610

 

Kommen wir zum zweiten Text, der für die Bedeutung von ἐλεημοσύνη im Tobitbuch relevant ist. Tob 12,8–10 lauten: 610 Vgl. dazu z. B. Abschnitt 2.2.1.

208 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6

8 ἀγαθὸν προσευχὴ μετὰ νηστείας καὶ ἐλεημοσύνης καὶ δικαιοσύνης· ἀγαθὸν τὸ ὀλίγον μετὰ δικαιοσύνης ἢ πολὺ μετὰ ἀδικίας· καλὸν ποιῆσαι ἐλεημοσύνην ἢ θησαυρίσαι χρυσίον. 9 ἐλεημοσύνη ἐκ θανάτου ῥύεται, καὶ αὐτὴ ἀποκαθαριεῖ πᾶσαν ἁμαρτίαν· οἱ ποιοῦντες ἐλεημοσύνας καὶ δικαιοσύνας πλησθήσονται ζωῆς· 10 οἱ δὲ ἁμαρτάνοντες πολέμιοί εἰσιν τῆς ἑαυτῶν ζωῆς. „(8) Gut ist ein Gebet mit Fasten und Barmherzigkeit und Gerechtigkeit; besser das Wenige mit Gerechtigkeit als viel mit Ungerechtigkeit. Besser (ist es), Almosen zu geben, als Gold anzuhäufen. (9) Denn Almosen rettet vor dem Tod und reinigt von jeder Sünde. Diejenigen, die Werke der Barmherzigkeit und Werke der Gerechtigkeit tun, werden mit Leben erfüllt werden. (10) Diejenigen aber, die sündigen, sind Feinde ihres eigenen Lebens.“611 In diesen Versen zeigt sich zum einen die Offenheit des Terminus ἐλεημοσύνη: So dürfte zwar im Zusammenhang mit der Schatzmotivik (V. 8) mit ἐλεημοσύνη wie in Tob 4,7–11 an das konkrete Liebeswerk der Almosengabe gedacht sein (so auch in der direkt anschließenden, durch γάρ angebundenen Aussage), der in V. 9 verwendete Plural aber zeigt ebenso wie das auch in V. 8 vorliegende Nebeneinander von ἐλεημοσύνη und δικαιοσύνη, dass der Barmherzigkeitserweis vermutlich nicht darauf beschränkt werden kann. Zum anderen zeigt sich eine große inhaltliche Übereinstimmung mit den soteriologischen Vorstellungen in Tob 4,7–11: Identisch mit Tob 4,10 ist Aussage, dass Almosen/Barmherzigkeit vor dem Tod rettet (V. 9). Die Aussage, Almosen zu spenden sei besser als Gold anzuhäufen (V. 8), dürfte im Sinne der Ansammlung eines Schatzes für die Zeit der Not verstanden sein: Wie in 4,9 erfüllen Almosen „die dem eigenen Vermögen üblicherweise zukommende Funktion der Rettung aus einer Notlage“612. Die Vorstellung, dass Almosen jede Sünde reinigt (V. 9), findet sich in Tob 4,7–11 nicht.613 Allerdings ruft sie wie die Qualifikation des Almosen als Opfer (4,11) einen kultischen Kontext auf: Die Reinigung von den Sünden hat ihren ursprünglichen Ort in der Darbringung von Sühnopfern am Tempel. Hier wird deutlich, dass der Verfasser des Tobitbuchs der Almosengabe Funktionen zuerkennt, die ursprünglich allein dem Kult vorbehalten waren. Das Almosen verhält sich funktionsäquivalent zum Sühnopfer.614

611 Eigene Übersetzung. 612 So die Formulierung Heiligenthals im Blick auf Sir 29,8–13, eine Stelle, die er hinsichtlich der Schatzmotivik als enge inhaltliche Parallele zu Tob 4,7–11 versteht (Werke der Barmherzigkeit, 297 Anm. 18). 613 Heiligenthal geht davon aus, dass auch in Tob 4,7–11 die Vorstellung der Sündentilgung im Hintergrund steht (vgl. Heiligenthal, Werke der Barmherzigkeit, 298). Vgl. auch Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 116. 614 In diesem Sinne stellt Klaus Müller fest: „Es eignet ἐλεημοσύνη wie Beten und Fasten höchste ‚spirituelle‘ Valenz. Sie führt den, der sie tut, in die Sphäre des Gottesdienstlichen ein“ (Diakonie, 429).

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

209

Die Vorstellung, dass die Gabe von Almosen Sünden sühnt, findet sich auch bei Jesus Sirach, einem weiteren Vertreter der jüdisch-weisheitlichen Tradition. So heißt es in Sir 3,30 LXX: πῦρ φλογιζόμενον ἀποσβέσει ὕδωρ, καὶ ἐλεημοσύνη ἐξιλάσεται ἁμαρτίας („Loderndes Feuer wird Wasser löschen, und Barmherzigkeit/Almosen Sünden sühnen“). Wie im Tobitbuch fungiert auch bei Jesus Sirach nicht nur das Almosen als Sühneäquivalent. Auch „wer den Vater ehrt, sühnt Sünden“ (ὁ τιμῶν πατέρα ἐξιλάσκεται ἁμαρτίας) (Sir 3,3 LXX).615 Vergleichbar hierzu ist die Aussage in Sir 3,14 LXX: „Denn Barmherzigkeit gegenüber dem Vater wird (dir) nicht vergessen werden und dir für deine Sünden zugute kommen“ (ἐλεημοσύνη γὰρ πατρὸς οὐκ ἐπιλησθήσεται καὶ ἀντὶ ἁμαρτιῶν προσανοικοδομηθήσεταί σοι). In Sir 35,3 LXX, einem Kapitel, in dem die Ethisierung des Opfergedankens im Vordergrund steht und ethische Verhaltensweisen mit Opfergaben parallelisiert werden, kann der Weisheitslehrer ganz allgemein davon sprechen, dass das Sich-Fernhalten von Ungerechtigkeiten Sünden sühnt: ἐξιλασμὸς ἀποστῆναι ἀπὸ ἀδικίας.616 Während also im Tobitbuch neben das Almosen als vielleicht größtem Liebeswerk617 die Speisung Hungernder und die Kleidung Nackter als Konkretionen von ἐλεημοσύνη genannt werden (Tob 4,16), tritt bei Jesus Sirach die Ehrerbietung gegenüber dem Vater neben das Almosen.618 In 615 Wenn im direkten Anschluss derjenige, der die Mutter ehrt, mit einem verglichen wird, der sich einen Schatz sammelt, dann zeigt sich hier eine enge Verbindung des Topos vom Schätzesammeln mit der Sündentilgung. 616 Vgl. auch Sir 40,24 (LXX): „Ein Bruder und Helfer (retten) in der Zeit der Not, aber besser als beide rettet Almosen/Barmherzigkeit.“ Von der sühnenden Kraft der Barmherzigkeit spricht auch Dan 4,27 LXX (Th.): „Deshalb, König, möge dir mein Rat gefallen, und löse deine Sünden durch Barmherzigkeitserweise (ἐν ἐλεημοσύναις) aus und (deine) ungerechten Taten durch Erbarmen gegenüber (den) Armen (ἐν οἰκτιρμοῖς πενήτων)!“ (Übersetzung: Engel/Neef, in: Septuaginta Deutsch). Wenn der Text im unmittelbaren Anschluss vom Langmut Gottes spricht („Vielleicht wird Gott gegenüber deinen Vergehen langmütig sein“; Übersetzung: Engel/Neef, in: Septuaginta Deutsch), dann spiegelt sich hier das in der sogenannten alttestamentlichen Gnadenformel (Ex 34,6f. u. ö.) transportierte Gottesverständnis wider: Gott, dessen Erbarmen Nebukadnezar nachahmen soll, um seine Sünden auszulösen, ist langsam zum Zorn. Deshalb besteht für Nebukadnezar noch die Möglichkeit der Sühne. Zur sühnenden Kraft der Barmherzigkeitserweise vgl. auch Sprüche 15,27a (LXX): „ἐλεημοσύναις καὶ πίστεσιν ἀποκαθαίρονται ἁμαρτίαι“ = Sprüche 16,6: „Durch Güte (‫ )בְּ חֶ סֶ ד‬und Treue (‫ )וֶאֶ מֶ ת‬wird Missetat gesühnt (‫)יְ ֻכפַּר‬.“ 617 Fitzmyer bezeichnet das Almosen als eines der wichtigsten Themen im Tobitbuch (vgl. Fitzmyer, Tobit, 48). Als solches ist es nach Anderson auch das größte Liebeswerk (vgl. Anderson, Charity, 157). 618 Vgl. darüber hinaus Sir 7,32–35 (LXX), wo die Zuwendung zu den Armen und zu den Lebenden und Toten, das Trauern mit den Trauernden und der Besuch der Kranken parallel zu verschiedenen kultischen, die Ehrerbietung gegenüber den Priestern und die Opfergaben betreffende Forderungen genannt werden. Die beiden parallelen Abschnitte Sir 7,29–31 und 7,32–35 sind Ausdruck der Zusammengehörigkeit von Kult und Ethik. Gleiches gilt für die Abschnitte Sir 35,1–15 und Sir 35,16–22: Während Sir 35,1–15 Opfervorschriften betrifft und bereits in sich eine Metaphorisierung des Opfergedankens enthält, beinhaltet der direkt anschließende Abschnitt Sir 35,16–22 sozialethische Mahnungen. Sauer kommentiert: „Wie in

210 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Tobit und in Jesus Sirach finden sich zudem weitgefasste Formulierungen, die die semantische Offenheit des Barmherzigkeitsbegriffs verdeutlichen. Unabhängig davon aber, ob der ἐλεημοσύνη sündentilgende Kraft zugeschrieben wird, besitzt das Tun von Barmherzigkeit soteriologische Relevanz, die auf unterschiedliche Art und Weise ausgedrückt werden kann: Barmherzigkeit/Almosen rettet vor dem Tode (Tob 4,10; 12,9), sie rettet aus Notlagen (Tob 4,9) und vor dem Eingehen in die Finsternis (Tob 4,10) und sie ermöglicht ein langes Leben (Tob 12,9).

2.2.3.2 Relevanz für das Matthäusevangelium In diesem Abschnitt wurde die in jüdisch-weisheitlichen Traditionen zu Tage tretende Vorstellung einer Funktionsäquivalenz von Barmherzigkeit und Opferdarbringung als traditionsgeschichtlicher Hintergrund für das matthäische Verständnis einer über die Begriffe ἔλεος und ἐλεημοσύνη laufenden Verschränkung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung und des damit verbundenen Verständnisses von Barmherzigkeit als nichtkultisches Opfer offengelegt. Der Verfasser des Matthäusevangeliums aktiviert diese Vorstellung auf seine Weise: Ohne die Bedeutung des in der Gegenwart bereits zerstörten Tempels als Ort der Gegenwart JHWHs und die Gottesverehrung durch Opferdarbringung in Frage zu stellen, profiliert er die zwischenmenschliche, in Jesu Mahl mit den Sündern und Zöllnern (Mt 9,9–13) wurzelnde Sündenvergebung als vornehmstes Werk der Barmherzigkeit, das neben den Tempelgottesdienst tritt und diesen sogar übertrifft. Dieses Nebeneinander von kultischem und nichtkultischem Gottesdienst, von Liebeswerken und Opferdarbringung, ist deutlicher noch als im Tobitbuch in Jesus Sirach gegeben. Während in Tobit der Jerusalemer Tempel aufgrund dessen, dass die Tobiterzählung in der assyrischen Diaspora spielt, nur am Anfang erwähnt wird (Tob 1,4–8), ist in Jesus Sirach die Verknüpfung kultisch-ritueller und ethischer Reinheit durchgängig sichtbar (vgl. vor allem Sir 35). In beiden Schriften aber werden Barmherzigkeit und Opferdarbringung parallelisiert und Liebeswerke als Gott dargebrachte Opfer verstanden (Tob 4,11; 12,9; Sir 35,2 LXX). Wie die Opfer besitzen sie höchste soteriologische Relevanz: Sie retten aus der Not (Tob 4,9) und vor dem Tod (Tob 4,10), schützen vor dem Eingehen in die Finsternis (Tob 4,10) und sühnen Sünden (Tob 12,9; Sir 3,30 u. ö). Wenn der Verfasser des Sir 34,25–31 kommt Ben Sira auch hier wieder auf die offenbar häufig geübte negative Erscheinung zu sprechen, daß die Opfer unter Nichtberücksichtigung der Armen und Unterdrückten dargebracht werden. Das soziale Denken Ben Siras wird hieran deutlich. Wenn ein Opfer, das an sich vom Gesetz her geboten ist und auf das im Tempelgeschehen auch im Hinblick auf die Priester nicht verzichtet werden kann, mit der Vernachlässigung sozialer Pflichten verbunden ist, dann ist dies ein Tun, das Gott nicht gefällt. Es wäre besser, den Armen zu helfen und die Unterdrückten zu ihrem Recht kommen zu lassen, als Opfer darzubringen. Mehr als auf Opfer achtet und hört Gott auf das Rufen der Armen. Auch hier steht Ben Sira ganz in der Tradition der prophetischen Kultkritik, die immer wieder darauf hinwies, daß soziales Handeln mehr wert ist und von Gott mehr gefordert wird als kultisches Tun“ (Jesus Sirach, 246).

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

211

Matthäusevangeliums Hos 6,6 an zwei Stellen in sein Evangelium integriert, dann präsentiert er seinen Jesus als in dieser Tradition stehend: Barmherzigkeit ist ein Gott dargebrachtes Opfer, in Mt 9,9–13 ein Gott dargebrachtes Sühnopfer.619 In Unterscheidung zu der von ihm aktivierten Tradition aber versteht der Verfasser des Matthäusevangeliums die Zöllner und Sünder integrierenden Mahlgemeinschaften Jesu und seiner Schülerschaft und die innergemeindliche Sündenvergebung (Mt 18,23–35) als Liebeswerk. Er verbindet zwischenmenschliche Barmherzigkeit mit der vornehmsten göttlichen Eigenschaft, seinem Erbarmen, das sich insbesondere in seiner Bereitschaft, Sünden zu vergeben, manifestiert.620 Zugleich finden sich im Matthäusevangelium auch die klassischen Werke der Barmherzigkeit (Mt 25,31–46), die in Mt 6,2–4 durch die Almosengabe (ἐλεημοσύνη) als Liebeswerk ergänzt werden. Einige der zuletzt genannten Konkretionen von Barmherzigkeit finden sich auch im Tobitbuch, das dem neben dem Almosengeben auch die Speisung Hungernder und die Kleidung Nackter als Barmherzigkeitserweise aufführt (4,16). Der Verfasser des Matthäusevangeliums nutzt also die relative Offenheit des Terminus ἔλεος/ἐλεημοσύνη und interpretiert ἔλεος vor allem im Sinne der Sündenvergebung, ohne damit die Bedeutung der anderen Liebeswerke in Frage zu stellen: Sündenvergebung, Almosen, und die in Mt 25,31–46 aufgeführten Liebeswerke besitzen alle soteriologische Relevanz. In traditionsgeschichtlicher Hinsicht lassen sich die Gemeinsamkeiten zwischen jüdisch-weisheitlicher Tradition, dem Matthäusevangelium und der rabbinischen Tradition noch genauer fassen: Auf die Parallelisierung von ἐλεημοσύνη und Opfer in der jüdisch-weisheitlichen und der rabbinischen Tradition ist vielfach hingewiesen worden. So widmet Otto Kaiser im Rahmen einer Untersuchung zum Verhältnis kultischer und sittlicher Sühne im Sirachbuch einen – wenngleich kurzen – Abschnitt der „sühnende[n] Kraft des Almosen im Buch Tobit“621 und verbindet diesen Abschnitt „mit einem Ausblick auf das rabbinische Judentum“622. Der kleinste gemeinsame Nenner der jüdisch-weisheitlichen und der rabbinischen Tradition besteht Kaiser zufolge in der Profilierung des Almosen und der Liebeswerke als Möglichkeit nichtkultischer Gottesverehrung: Während zur Zeit des Bestehens des Zweiten Tempels Almosen, Gebet und Fasten neben den nur am Jerusalemer Tempel möglichen kultischen Gottesdienst treten konnten und so allen Juden orts- und zeitungebundene Gottesverehrung ermöglichten,623 ersetzten Al-

619 Die zwischenmenschliche Sündenvergebung ist Voraussetzung dafür, dass Gott die Sünden vergibt. 620 Vgl. unsere Ausführungen zur alttestamentlichen Gnadenformel in Kapitel 1 in Abschnitt 1.3. 621 Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 114. 622 Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 114. Der gesamte Abschnitt umfasst die Seiten 114–118. 623 Vgl. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 116.

212 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 mosen und Liebeswerke nach der Zerstörung des Tempels die Opferdarbringung.624 Diese Figur der gleichwertigen Stellvertretung bzw. des gleichwertigen Ersatzes ist unabhängig davon, was als den Tempelgottesdienst komplementär ergänzende oder diesen ersetzende Frömmigkeitsübung bzw. Barmherzigkeitserweis verstanden wurde, für die jüdisch-weisheitliche wie die rabbinische Tradition grundlegend. Bezeichnenderweise steht diese Figur in einem engen Zusammenhang mit der prophetischen Kultkritik. So verweist Kaiser in seinen Ausführungen zum Gebet als Ersatz der Opferdarbringung darauf,625 dass es „[i]m Zuge der Annäherung der Weisheit an die Thora … heißen [konnte], daß Gehorsam gegen die Stimme des Herrn besser als Opfer sei“626. Als Beleg für diese Aussage führt er neben 1 Sam 15,22; Mi 6,6–8, Ps 40,7–9; 51,18–19 und Koh 4,17 Hos 6,6 an.627 Der ideengeschichtliche Zusammenhang zwischen prophetischer Kultkritik und der Vorstellung, dass dort, wo die Opferdarbringung nicht (mehr) möglich ist, kultische durch sittliche Reinheit, Gottesdienst durch Nächstenliebe, ersetzt werden kann, ist offensichtlich. Die jüdisch-weisheitliche Tradition, die rabbinische Tradition und der Verfasser des Matthäusevangeliums aktivieren diese Vorstellung in unterschiedlichen historischen Kontexten, wobei der Verfasser des Matthäusevangeliums und die Rabbinen auf die Zerstörung des Tempels zurückblicken und dabei explizit auf Hos 6,6 zurückgreifen. Hos 6,6 ist also auch als Ausdruck der Aktivierung der Rezeption prophetischer Kultkritik relevant: Während die Kultkritik selbst in der Regel auf die Bedeutung sittlicher Reinheit aufmerksam machte, konnte der darin vorausgesetzte Zusammenhang zwischen Gottes- und Nächstenliebe so verstanden, dass die gegenüber dem Nächsten geübte Barmherzigkeit neben den kultischen Gottesdienst tritt bzw. diesen ersetzt. Auf dieser Grundlage spricht der Verfasser des Matthäusevangeliums davon, das Barmherzigkeit sogar größer ist als die Opfer. Im Folgenden werden nun die Ergebnisse unserer Interpretation von Mt 9,9– 13 zusammengefasst und ausgewertet.

2.2.4 Auswertung: Hos 6,6 in Mt 9,9–13 und ARN 4 (A) Die Relevanz von Hos 6,6 für das Matthäusevangelium ist unumstritten: Gerade weil der Evangelist diesen Vers an zwei Stellen seines Evangeliums in Abweichung von seiner Markusvorlage einfügt (Mt 9,13; 12,7), wird deutlich, dass es sich beim Terminus ἔλεος um ein theologisches Leitwort handelt.628 Auch auf die Bedeutung von Hos 6,6 für das rabbinische Judentum, das unter Rückgriff auf diesen Vers die 624 625 626 627 628

Vgl. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 117. Vgl. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 103f. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 104. Vgl. Kaiser, Vom offenbaren und verborgenen Gott, 104 Anm. 16. Konradt spricht vom „Leitkriterium“ matthäischer Ethik (Matthäus, 192), Luz von der „Mitte von Gottes Willen“ (Matthäus Bd. 2, 233).

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

213

Frage nach der Möglichkeit der Gottesverehrung nach der Zerstörung des Tempels beantwortet (ARN 4 [A]), ist vielfach hingewiesen worden. Eine genauere Verhältnisbestimmung zwischen beiden Rezeptionen der Aussage: „ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν“ (Hos 6,6) wurde aber unterlassen. Diesem Desiderat ist im vorliegenden Kapitel dadurch begegnet worden, dass ein eingehender Vergleich zwischen der rabbinischen und der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 vorgenommen und die rabbinische Interpretation für das Verständnis des Hoseazitats im Matthäusevangelium fruchtbar gemacht wurde. Ausgangspunkt war dabei eine Interpretation der in ARN 4 (A) Rabbi Jochanan ben Zakkai zugeschriebenen rabbinischen Tradition (2.1.2), die den Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬im Sinne der Liebeswerke (gemilut hassadim) versteht und diese als Äquivalent zu der aufgrund der Tempelzerstörung nicht mehr möglichen Opferdarbringung konzeptualisiert. Die Zuwendung zum Nächsten gilt damit in der rabbinischen Tradition Gott selbst, die Beziehung zum Nächsten ist in Analogie zum Tempel Ort der Gottesgegenwart. Die Präsenz Gottes wird so vom Kult auf die Liebeswerke übertragen. Als Voraussetzung einer solchen Verschränkung von Gottesliebe und Nächstenliebe, in der die Nächstenliebe als Ort des Gottesdienstes profiliert wird, wurde die Doppeldeutigkeit des Terminus ‫חֶ סֶ ד‬ ausgemacht, mit dem in Hos 6,6 sowohl die Gottesbeziehung als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen im Blick sind. Beide Beziehungsebenen werden über diesen Begriff miteinander verschränkt. Die Vorstellung, dass Gott in der Beziehung zum Nächsten geehrt wird, ist ohne diese Doppeldeutigkeit des Terminus ‫חֶ סֶ ד‬ nicht denkbar. Im Folgenden sollen die strukturellen Gemeinsamkeiten der matthäischen und rabbinischen Rezeption von Hos 6,6, die bei der Interpretation von Mt 9,9–13 herausgearbeitet worden sind, sowie deren Unterschiede in fünf Punkten skizziert werden. 1. Ausgangspunkt der Untersuchungen dieses Kapitels war die These Ottenheijms, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums den Terminus ἔλεος in Analogie zum rabbinischen Verständnis des Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬im Sinne der Liebeswerke (gemilut hassadim) versteht.629 Dass der Evangelist das Konzept der Liebeswerke kennt, zeigt sich insbesondere an den in der Endzeit-Parabel von den Schafen und den Böcken (Mt 25,31–46) genannten Werken der Gerechtigkeit/Barmherzigkeit630, die hier höchste soteriologische Relevanz besitzen. Am Tun bzw. Unterlassen dieser Werke entscheidet sich der Eingang in das Himmelreich (vgl. Mt 25,34.46). Die These Ottenheijms weiterführend konnte gezeigt werden, dass für den Evangelisten die Sündenvergebung als Konkretion von ἔλεος das vornehmste Liebeswerk darstellt, ohne zu den in Mt 25,31–46 genannten Werken der Versorgung Hungernder, Dürstender, Kranker, Nackter und Gefangener in Konkurrenz zu treten. Dabei ist die von der Gemeinde im Namen Jesu den Sündern und Zöllnern zu gewährende 629 Ottenheijm, The Shared Meal, 18–19. 630 Zur Konvergenz von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in der jüdischen Tradition und im Matthäusevangelium vgl. S. 170–172 mit den entsprechenden Anmerkungen, insbesondere Anm. 522.

214 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Sündenvergebung, die in Mt 9,9–13 im Vordergrund steht, untrennbar verknüpft mit der innergemeindlichen Sündenvergebung (vgl. Mt 18,23–35). Sündenvergebung ist im Matthäusevangelium sowohl nach außen als auch nach innen das Identitätsmerkmal der Gemeinde schlechthin.631 Dass mit ihr die bleibende Vergebungsbereitschaft Gottes steht und fällt erhellt nicht so sehr aus Mt 9,9–13 selbst, sondern aus verwandten Texten (Mt 5,7; 6,12.14–15; 18,23–35), die in einer engen Verbindung zu dieser Perikope stehen.632 Aus diesen Texten sticht das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) besonders hervor, weil hier der Zusammenhang zwischen Barmherzigkeit und Sündenvergebung explizit gemacht wird.

 

2. Von ebenso großer Bedeutung aber wie die genannte Differenz – im Unterschied zur rabbinischen Tradition stellt zwischenmenschliche Sündenvergebung ein Liebeswerk dar – sind die strukturellen Gemeinsamkeiten der Rezeption von Hos 6,6: So haben wir in diesem Kapitel zeigen können, dass der Evangelist in einer Zeit, in der das Judentum aufgrund der Zerstörung des Zweiten Tempels die Frage nach der Gegenwart Gottes umtreibt, diese Frage wie sein rabbinisches Pendant Rabbi Jochanan ben Zakkai mit der Gottesgegenwart der Liebeswerke beantwortet. Allerdings verknüpft er ihre gottesdienstliche Relevanz mit dem in die Zeit vor die Tempelzerstörenden fallenden Wirken des Immanuel (Mt 1,23) und priorisiert ἔλεος sogar gegenüber den Opfern. Die matthäische Logik lautet hier: Weil Gott im barmherzigen Wirken des Immanuel, das in der erzählten Zeit komplementär neben den Kult tritt und diesen überbietet,633 präsent war, können die Liebeswerke derjenigen, die dem „Gott-Mit-Uns“ nachfolgen, gänzlich an die Stelle des in der Erzählzeit nicht mehr möglichen Kultes treten. In ihrem Rückgriff auf Hos 6,6 setzen die Rabbinen und der Evangelist also unterschiedliche Akzente: Während das Gewicht der Rabbinen auf dem Aspekt der Stellvertretung liegt (die gemilut chassadim übernehmen die Funktion der Opfer), betont der Verfasser des Matthäusevangeliums den Aspekt der Überordnung der Barmherzigkeit vor dem Kult. Voraussetzung für eine solche Priorisierung der Barmherzigkeit aber ist die Funktionsäquivalenz von ἔλεος und θυσία, die die zwischenmenschlichen Beziehungen als Ort der Gottesbeziehung profiliert: Die Zuwendung zu den Sündern außerhalb und 631 Auf sprachlicher Ebene werden die Abschnitte Mt 9,2–8 und Mt 9,9–13 durch das Hoseazitat und damit die dreimal erwähnte Vollmacht des Menschensohns zur Sündenvergebung (9,2.5.6) und die Barmherzigkeit eng miteinander verbunden. Der Übertragung der Vollmacht der Sündenvergebung auf die Schülerschaft Jesu (Mt 9,8) entspricht in Mt 9,9–13 die Transparenz der Mahlgemeinschaften Jesu mit Zöllnern und Sündern für die innergemeindlichen Mahlgemeinschaften (Mt 26,26–30). 632 Das zeigt sich in der Kommentarliteratur daran, dass bei der Interpretation der Stellen auf die jeweils anderen verwiesen wird. 633 Vgl. hierzu auch die Bedeutung, die der matthäische Jesus der zwischenmenschlichen Versöhnung in Mt 5,23–24 beimisst: Die Versöhnung mit dem Bruder ist so wichtig, dass sie der kultischen Gottesbeziehung, der Darbringung der Opfer im Tempel, vorgeordnet wird, in dieser Vorordnung aber mit ihr verschränkt ist.

2.2 Hos 6,6 in Mt 9,9–13 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

215

innerhalb der Gemeinde, die ihren Ursprung in den Mahlgemeinschaften Jesu mit Zöllnern und Sündern hat (Mt 9,9–13), gilt dem Evangelisten zufolge Gott selbst. Barmherzigkeit partizipiert somit an der Würde der Opferdarbringung als gottesdienstlicher Akt und damit an der Würde des Kults überhaupt. Sie wird als nichtkultisches Opfer konzeptualisiert. Ein solches Verständnis von Hos 6,6 liegt – mit den genannten unterschiedlichen Akzentuierungen – sowohl der rabbinischen als auch der matthäischen Rezeption dieses Verses zu Grunde. Es setzt eine positive Deutung des Terminus θυσία voraus, die wie in diesem Kapitel gezeigt wurde (2.2.2.1), in der neutestamentlichen Forschung unterbleibt. Trotz des weithin geteilten komparativischen Verständnisses von Hos 6,6 – Gott wolle Barmherzigkeit nicht anstelle von, sondern mehr als Opfer, wird die Differenz zwischen beiden vielfach immer noch als Gegenüber von äußerem und innerem Gehorsam bzw. der Terminus θυσία als Metapher für Toraobservanz/Einhalten der Gebote etc. gefasst, so dass der Blick auf die Gottesgegenwart im Kult als tertium comparationis, auf dessen Grundlage die Barmherzigkeit gegenüber den Opfern allererst priorisiert werden kann, verstellt wird. Demgegenüber wurde gezeigt, dass die Gottesgegenwart der Barmherzigkeit mit Gottes Gegenwart im Tempel steht und fällt. 3. Mit der gottesdienstlichen Dimension der Barmherzigkeit hängt ein weiterer Aspekt wesentlich zusammen: Es ist der für Hos 6,6 wesentliche Terminus ‫ חֶ סֶ ד‬bzw. sein griechisches Äquivalent ἔλεος, über die die Verschränkung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung und die Profilierung der Nächstenliebe als hervorragender Ort der Gottesliebe läuft. Wir haben bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit gesehen, dass die Antwort auf die Frage, ob ‫ חֶ סֶ ד‬im Hoseabuch ein zwischenmenschliches Verhalten oder ein Verhalten des Menschen gegenüber Gott kennzeichnet, „sowohl als auch“ lautet: So wird immer wieder betont, dass dieser Begriff in Hos 6,6 primär eine Haltung des Menschen gegenüber Gott bezeichnet, ohne dass dies die Transparenz für zwischenmenschliches Verhalten ausschlösse. In diesem Sinne stellt auch W. Rudolph fest: „‫ חסד‬bedeutet hier sicher zunächst wie in V. 4 die Hingabe und die Treue zu Jahwe, […], aber in diesem Satz, der eine allgemeingültige Wahrheit aussprechen will, ist gewiß an die Folge und Wirkung dieser Hingabe, die Zuwendung zum Nebenmenschen, mitgedacht [sic!]…“634. Diese Beschreibung Rudolphs kann grundsätzlich auf das matthäische Verständnis des Hoseazitats übertragen werden, was in der neutestamentlichen Forschung zu wenig beachtet wurde.635 Allerdings akzentuiert der Evangelist anders. So ist ihm die Zuwendung zum Nächsten nicht nur „Folge und Wirkung“636 der Hingabe an Gott, sondern in der Hingabe an den Nächsten, gibt sich derjenige, der Barmherzigkeit übt, Gott selbst hin. Grundsätzlich aber ist diese Unschärfe, das Oszillieren zwischen ‫ חֶ סֶ ד‬als Hingabe an Gott bzw. als Hingabe an 634 Rudolph, Hosea, 140. 635 Eine Ausnahme stellt hier insbesondere Birger Gerhardsson, Sacrifical Service, 28, dar. Zur kritischen Würdigung seiner Position vgl. Anm. 707. 636 Rudolph, Hosea, 140.

216 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 den Nächsten gewollt: Sie ermöglicht gerade die für das Hoseabuch charakteristische Verschränkung der menschlichen Gottesbeziehung im Kult mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. Dass der Verfasser des Matthäusevangeliums diesen Aspekt des Hoseazitates aufgreift, zeigt sich in Mt 9,9–13: Die von den Pharisäern geforderte Barmherzigkeit, die sie zu Schülern Jesu machen würde, wäre als imitatio der in göttlicher Vollmacht gewährten Sündenvergebung Jesu Ausdruck des Gehorsams gegenüber Gott, oder, in der Logik von Mt 9,13 formuliert, eine Gott dargebrachte nichtkultische Opfergabe: Barmherzigkeit ist ein nichtkultisches Sühnopfer (2.2.2.2). 4. Dass der Verfasser in dieser Radikalität die zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ort der Gottesbeziehung macht, zeigt sich auch in Mt 6,2–4. In diesem Abschnitt wird die Almosengabe an den bedürftigen Nächsten (ἐλεημοσύνη) neben dem Gebet (Mt 6,5–15) und dem Fasten (Mt 6,16–18) als eine Form des Gottesdienstes verstanden. Die Verbindung zwischen ἔλεος und ἐλεημοσύνη ist offensichtlich: Der Dienst am Nächsten gilt Gott. Ein traditionsgeschichtlicher Vorläufer dieser Auffassung findet sich im Tobitbuch, in dem sich ἐλεημοσύνη in verschiedenen Liebeswerken, vor allem aber in der Gabe von Almosen konkretisiert, und diesen Werken größte soteriologische Relevanz zukommt: Der barmherzigen Zuwendung zum Nächsten wird die bleibende Zuwendung Gottes (Tob 4,7) und die Rettung vor dem Tod (Tob 4,10; 12,9) und vor dem Eingehen in die Finsternis (Tob 4,10) zugesagt. Entscheidend ist: Einem Werk der Barmherzigkeit ist unabhängig davon, ob ἔλεος bzw. ἐλεημοσύνη im Sinne der zwischenmenschlichen Sündenvergebung, des Almosengebens oder eines der in Mt 25,31–46 aufgezählten Liebeswerke gedeutet wird, Gottesgegenwart verheißen. Ist das richtig gesehen, dann wird deutlich, welche Bedeutung Hos 6,6 für das Verständnis der Theologie des Verfassers des Matthäusevangeliums hat: Das Hoseazitat spielt nicht nur für die Frage, was der Verfasser des Matthäusevangeliums unter Barmherzigkeit versteht, sondern auch für die Profilierung der Beziehung zum Nächsten als Ort der Gottesbegegnung eine hervorgehobene Rolle. Die gottesdienstliche Würde der Barmherzigkeit hat ihre traditionsgeschichtlichen Vorläufer in denjenigen Traditionen alttestamentlich-jüdischer Weisheit (Tobit, Jesus Sirach), die nichtkultische Wege des Gottesdienstes aufzeigen und in denen die Opfervorstellungen ethisiert werden. Mit seinem Verständnis von Hos 6,6 steht der Verfasser des Matthäusevangeliums aber nicht nur auf dem Boden jüdischer Weisheit, vielmehr zeigt sich zugleich eine weitgehende strukturelle Übereinstimmung mit der in ARN 4 (A) vorliegenden rabbinischen Tradition. Auch wenn diese weniger offensiv als der Evangelist die Gottesgegenwart in den Liebeswerken betont, so ist dieser Aspekt doch dadurch gegeben, dass die Liebeswerke sich zu den (Sühn-) Opfern verhalten: Liebeswerke sind auch hier Gottesdienst. Der Verfasser des Matthäusevangeliums ist so u. E. Zeuge der Relevanz von Hos 6,6 für das sich nach der Zerstörung des Zweiten Tempels neu formierende Judentum.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

217

5. Ein letztes: Der Rückgriff auf Hos 6,6 plausibilisiert auf seine Weise die Konzeptualisierung der menschlichen Gottesbeziehung und der zwischenmenschlichen Beziehungen als reziprok. Was im ersten Kapitel Ergebnis der Analyse des semantischen Gehalts des ἔλε-Stammes in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) war: die Gleichursprünglichkeit der Gewährung der Barmherzigkeit und der Notwendigkeit ihrer Erwiderung ist Ausdruck ihres Gegenseitigkeitscharakters, ist in diesem Kapitel durch die Untersuchung des Begriffs θυσία bestätigt worden: Der durch JHWH initiierte und für das Opferverständnis des Alten Testaments wesentliche Kreislauf aus Gabe und Gegengabe (vgl. z. B. Sir 35,8–10 LXX)637 fasst die Gott-Mensch-Beziehung als eine auf Gegenseitigkeit beruhende. Beziehungen ohne Wechselseitigkeit wären nach alttestamentlichem und auch nach matthäischem Verständnis keine Beziehungen. Von einem „modernen“ Verständnis von Barmherzigkeit oder Liebe als unilaterale Handlung ist das Matthäusevangelium also weit entfernt. Dieser Aspekt wird auch bei unserer Interpretation des Feindesliebesgebots und der Goldenen Regel im dritten Kapitel von herausragender Bedeutung sein.638 Zuerst aber gilt es, die matthäische Rezeption von Hos 6,6 in Mt 12,5–7 zu analysieren.

2.3

Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

Mt 12,1–8 lautet: (1) Zu jener Zeit ging Jesus am Sabbat durch die Saaten. Seine Schüler aber hatten Hunger und fingen an, Ähren zu rupfen und zu essen. (2) Als aber die Pharisäer (das) sahen, sprachen sie zu ihm: ‚Siehe, deine Schüler tun, was zu tun am Sabbat nicht erlaubt ist.‘ (3) Er aber sprach zu ihnen: ‚Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als er und diejenigen, die mit ihm waren, Hunger hatte(n)639? (4) Wie er in das Haus Gottes hineinging und sie die Schaubrote aßen, was weder ihm erlaubt war, zu essen, noch denjenigen, die mit ihm waren, sondern allein den Priestern? (5) Oder habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass am Sabbat die Priester im Tempel den Sabbat entweihen und unschuldig sind? (6) Ich aber sage euch: Größeres als der Tempel ist hier! (7) Wenn ihr aber erkannt hättet, was es bedeutet: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer, dann hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt. (8) Denn der Menschensohn ist Herr über den Sabbat.‘“640 637 Vgl. S. 201–203. 638 Vgl. im dritten Kapitel Abschnitt 3.1.1 und 3.1.2. 639 Im Griechischen steht das Verb „Hunger haben“ im Singular und bezieht sich auf David. Das ließe sich in der Übersetzung nur durch eine im Deutschen unschöne Satzstellung wiedergeben: „Habt ihr nicht gelesen, was David tat, als er Hunger hatte, und diejenigen, die mit ihm waren.“ 640 Eigene Übersetzung.

218 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Bei Mt 12,1–8 handelt es sich um die zweite Stelle innerhalb des Matthäusevangeliums, an der der Evangelist das Zitat aus Hos 6,6: ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν, in seine Markusvorlage einbaut. Anders als in Mt 9,9–13 ist das Zitat an dieser Stelle allerdings Teil eines längeren, drei Verse umfassenden Einschubs, der in weiten Teilen – wenn nicht komplett – vom Verfasser des Evangeliums verantwortet wird.641 Im Folgenden soll eine Interpretation von Mt 12,5–7 in seinem engeren Kontext der V. 1–8 vorgelegt werden. Dabei wird vor allem gezeigt werden, dass sich aufgrund der die V. 5–7 bestimmenden Sinnlinie Priester – Tempel – Opfer mehr noch als in Mt 9,9–13 ein Verständnis der Barmherzigkeit als nichtkultisches Opfer und der Zuwendung zum Mitmenschen als Ort der Gottesgegenwart nahelegt. Mit anderen Worten: Der Verfasser des Matthäusevangeliums konzeptualisiert auch und gerade in Mt 12,1–8 Barmherzigkeit in Analogie zu ARN 4 (A) als Liebeswerk und Opferäquivalent. Wesentlich für ein solches Verständnis ist der enge Zusammenhang des vom Evangelisten in V. 1 gegenüber seiner Vorlage (redaktionell) eingefügten Hungers mit der Barmherzigkeit (V. 7), der den roten Faden der V. 1–7 darstellt, und der dadurch nahegelegte Bezug des Komparativs μεῖζον (V. 6) auf ἔλεος (V. 7), der allein es ermöglicht, Mt 12,1–8 „als einheitlichen Gedankengang deuten zu können“642: Es ist die Barmherzigkeit (V. 7), die größer ist als der Tempel (V. 6), und die im Falle des Hungers die Übertretung des Arbeitsverbots am Sabbat legitimiert. Dass die Argumentation hier insofern nicht ganz glatt verläuft, als die Unschuld der Schüler Jesu letztlich nicht in Analogie zu den Priestern an einer von ihnen vollzogenen gottesdienstlichen Tätigkeit hängt, sondern die Kehrseite des an die Pharisäer ergehenden Vorwurfs mangelnder Barmherzigkeit darstellt (diese Barmherzigkeit wäre die gottesdienstliche Tätigkeit), tut der Sache eben so wenig Abbruch wie es in Mt 12,1–8 – anders als in Mt 25 – nicht um die Speisung Hungernder geht, sondern um die Erlaubnis, den Hunger durch eine eigentlich am Sabbat verbotene Tätigkeit zu stillen. Während wir in diesem Abschnitt mit Luz und anderen hinsichtlich der nichtchristologischen Interpretation des μεῖζον (V. 6) und des Verständnisses von Mt 12,1–8 als einheitlichem Gedankengang übereinstimmen, gehen wir in der Interpretation des ἔλεος als nichtkultischem Opfer und der Profilierung der Barmherzigkeit als Ort der Gottesgegenwart über sie hinaus. Die Annahme, Barmherzigkeit stelle die „Mitte von Gottes Willen“643 dar, greift insofern zu kurz, als sie die Gottespräsenz als gemeinsamen Bezugspunkt der Opfer und der Barmherzigkeit unberücksichtigt lässt. Die Gemeinsamkeit, die den in den V. 5–6 vorliegenden Schluss vom Kleineren aufs Größere (qal wa-ḥomer) allererst möglich macht, kann nicht in dem bestehen, was dieser Schluss erst noch beweisen soll (konkret: die 641 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 2, 229; Hill, Hosea vi. 6, 114.115; Carlston/Evans, Ecclesia, 160 Anm. 143. Anders Hagner, der es für nicht ausgeschlossen hält, dass der Evangelist die V. 5–7 aus der mündlichen Tradition übernimmt und dass diese Verse von Jesus selbst stammen könnten (vgl. Hagner, Sabbath Controversies, 225). 642 Luz, Matthäus Bd. 2, 232. 643 Luz, Matthäus Bd. 2, 233. Vgl. auch Doering, Schabbat, 435. Konradt, Matthäus, 192, spricht von der Barmherzigkeit als „Leitkriterium“ matthäischer Ethik.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

219

punktuelle Aufhebung des Arbeitsverbots am Sabbat), sondern bedarf eines grundlegenden gemeinsamen Vergleichspunktes, der es erlaubt, das Kleinere und das Größere in Beziehung zueinander zu setzen.644 Dieser Vergleichspunkt besteht nicht allgemein im Willen Gottes, sondern in den spezifischen gottesdienstlichen Tätigkeiten der Opferdarbringung und der Barmherzigkeit: Weil es, so die noch näher zu erläuternde These, bei der Barmherzigkeit und dem Opferdienst um Formen der Gestaltung der (mittelbar-unmittelbaren) Gottesbegegnung geht, kann die Barmherzigkeit in Analogie zum Dienst der Priester im Tempel über das Arbeitsverbot am Sabbat regieren. Dieses Verständnis der V. 5–7 legt es nahe, dass hier in der Tat ein valides qal wa-ḥomer Argument im Sinne der dreizehn Middot Rabbi Ishmaels vorliegt,645 das nicht so sehr an der Differenz zwischen der Opferdarbringung und der Barmherzigkeit, sondern in erster Linie an der Legitimation des Größeren durch das Kleinere interessiert ist. Wie zu zeigen sein wird, partizipiert die Barmherzigkeit nicht nur an der Profanisierung des Sabbats, sondern auch an der Gottesgegenwart des Tempels. Barmherzigkeit kann überhaupt nur deshalb zur Mitte des Willens Gottes werden, weil im Nächsten Gott – wie im Tempel – gegenwärtig ist. Zum Vorgehen: In diesem Abschnitt wird in einem ersten Schritt (2.3.1) der Zusammenhang zwischen Hunger und Barmherzigkeit aufgezeigt werden, der für das Verständnis der V. 1–8 als einheitlichem Gedankengang maßgeblich ist und 644 Dass ein valider qal wa-ḥomer-Schluss eines gemeinsamen Vergleichspunktes bedarf und auch der Evangelist darum weiß, zeigt sich sehr schön an der unmittelbar folgenden Erzählung der Heilung der verkrüppelten Hand eines Mannes am Sabbat (Mt 12,9–14). Auch hier argumentiert der matthäische Jesus mit einem Schluss vom Kleineren aufs Größere. Auf die Frage, ob es am Sabbat erlaubt sei, zu heilen, antwortet Jesus: „(11) Wer von euch wird ein Mensch sein, der ein (einziges) Schaf hat und, wenn dieses am Sabbat in eine Grube fällt, es nicht ergreift und aufrichtet. (12) Wie viel mehr ist nun ein Mensch als ein Schaf.“ Auf der mit seinen Gegnern geteilten Grundlage, dass ein Schaf am Sabbat aus einer Grube herausgezogen werden darf, argumentiert der matthäische Jesus, dass die Heilung auch nicht lebensbedrohlicher Krankheiten erlaubt ist. Der für das Matthäusevangelium charakteristische polemische Charakter der Darstellung der Pharisäer tritt deutlich und gegenüber den V. 1–8 noch gesteigert hervor: Durch ihre in V. 14 geschilderte Reaktion (sie verlassen „ihre“ Synagoge und fassen den Beschluss, Jesus umzubringen) wird suggeriert, dass die Pharisäer das Tun des Guten am Sabbat willentlich ablehnen. Angesichts der Aussage Jesu, dass es am Sabbat erlaubt sei, Gutes zu tun, tritt im Gegensatz zu der vorangehenden Perikope in den Hintergrund, dass der Evangelist hier lediglich eine andere Gewichtung des Ruhegebots und des Gebots der Barmherzigkeit (als des Guten), also zweier lebensdienlicher Güter vornimmt. Anders als die Pharisäer gewichtet er die Linderung nichtlebensbedrohlichen Hungers und die Heilung nichtlebensbedrohlicher Krankheiten am Sabbat stärker als das Arbeitsverbot, wobei dem Gebot der Barmherzigkeit die Aussage über das Tun des Guten entspricht. Die Charakterisierung der Heilung als Tun des Guten diffamiert die andere Gewichtung der Pharisäer in polemischer Absicht als böse. In diesem Sinn bemerkt Saldarini: „Jesus’ appeal to the principle of doing good on the Sabbath is both ironic and polemical. No Jew would hold the opposite, that it is not permitted to do good on the Sabbath. The quarrel then is over exactly which types of good are permitted on the Sabbath when work is involved“ (Comparing the Traditions, 202). 645 Zu diesen Regeln vgl. Stemberger, Einleitung, 32–33.

220 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 der zudem ein nichtchristologisches Verständnis des Komparativs μεῖζον (V. 6) nahelegt. In einem zweiten Schritt (2.3.2) werden Begründungen eines christologischen μεῖζον-Verständnisses kritisch geprüft, bevor wir in einem dritten Schritt (2.3.3) nicht nur zeigen, dass in Mt 12,5–7 ein halachisches Argument vorliegt (2.3.3.1), sondern auch, dass der matthäische Jesus – unter der Voraussetzung eines ἔλεος-Bezugs des μεῖζον – in den V. 5–7 ein valides qal wa-ḥomer Argument vorträgt (2.3.3.2). Dabei schlagen wir eine Lösung der crux interpretum hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Opferdarbringung der Priester und des Ährenraufens der Schüler Jesu vor: Die Unschuld der Schüler Jesu verhält sich spiegelbildlich zur Barmherzigkeitsforderung an die Pharisäer und wird über diese Forderung in Beziehung zur Opferdarbringung der Priester gesetzt. Es ist in erster Linie die von den Pharisäern geforderte Barmherzigkeit, die in Analogie zur Opferdarbringung der Priester verstanden werden muss. Abschließend werden in einem vierten Schritt die Ergebnisse gebündelt (2.3.4).

2.3.1 Der Zusammenhang von Hunger und Barmherzigkeit Bereits bei der Interpretation der ersten beiden Verse der Erzählung vom Ährenraufen am Sabbat (Mt 12,1–8) entscheidet sich Wesentliches im Blick auf das Gesamtverständnis der Perikope. Umstritten ist vor allem die Deutung einer Erweiterung, die der Verfasser des Matthäusevangeliums gegenüber der ihm vorliegenden Markusversion vornimmt: Der Evangelist ändert seine Vorlage vor allem dahingehend ab, dass er explizit den Hunger der Schüler Jesu und den Verzehr der Ähren hervorhebt, u. a. um so ihr Verhalten an das Verhalten Davids und seiner Leute anzugleichen: So wie in V. 3–4 in Anspielung auf 1Sam 21,7 davon berichtet wird, dass David und seine Männer ihren Hunger durch den Verzehr der allein den Priestern vorbehaltenen Schaubrote stillten, spricht V. 1 vom Hunger und Essen der Schüler Jesu: „Seine Schüler aber hatten Hunger und fingen an, Ähren zu rupfen und zu essen.“ Während nun einige Forscher die Angleichung von V. 1 an die V. 3–4 allein formal im Sinne einer größeren Kohärenz der V. 1–4 verstanden wissen wollen und damit den Zusammenhang zwischen Hunger und Barmherzigkeit marginalisieren,646 messen andere dieser Angleichung auch inhaltlich erhebliche Relevanz bei. So wertet z. B. Ulrich Luz den Zusatz, dass Jesu Schüler hungerten (οἱ

646 In diesem Sinne stellt France, Gospel According to Matthew, 202, fest: „It is sometimes suggested that Matthew’s addition of the fact that they were hungry is intended to legitimate the action, on the grounds of need. But the only need which could override Sabbath regulations was danger of death, and there is no suggestion of that here. The mention of hunger serves rather to prepare for the mention of David’s action in v. 3.“ Vgl. auch die Aussage Yangs, dass „ [t]he significance of this addition … is not to be exaggerated“ (Sabbath, 166). Auch Hill, Hosea vi. 6, 114, hält die Angleichung für eine rein formale.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

221

δὲ μαθηταὶ αὐτοῦ ἐπείνασαν), als Hinweis auf eine lebensbedrohliche Notlage, aufgrund derer der matthäische Jesus in Übereinstimmung mit der Maxime des Pikuach Nefesch das Verhalten seiner Schüler rechtfertige: Eine Notlage wie die des Hungers erlaube die Übertretung des Sabbatgebots.647 In ähnlicher Weise wie Luz geht auch Isaac W. Oliver davon aus, dass der Hunger die Übertretung des Arbeitsverbots am Sabbat legitimiere, ohne ihn allerdings als lebensbedrohlich zu bewerten. Vielmehr weite der Evangelist in Mt 12,1–8 die Regelung, dass Lebensgefahr ein Gebot außer Kraft setzt, auf eine nicht lebensbedrohliche Situation aus.648 Wie Luz und Oliver deutet auch Matthias Konradt den redaktionellen Verweis auf den Hunger der Schüler Jesu nicht nur als formale Angleichung an die in den V. 3–4 berichtete Episode über David und seine Männer: „Diese Zufügung (des Hungers; J.-C. M) dient des Näheren nicht nur der Analogisierung des Verhaltens der Jünger mit dem Davids (V. 3f), sondern bereitet vor allem das für die Argumentation wesentlich gewichtigere Argument in V. 5–7 vor, das Matthäus in die Markusvorlage eingefügt hat.“649 Kern dieses gewichtigeren Arguments ist aber für Konradt die Barmherzigkeit, die der Verfasser des Matthäusevangeliums als „Leitkriterium“650 etabliere. Nach Konradt ist es also der Hunger der Schüler Jesu, der sowohl formal als auch inhaltlich die beiden vom matthäischen Jesus vorgenommenen Argumentationsgänge (V. 3–4; 5–7) miteinander verbindet und der auf das im Hoseazitat erwähnte ἔλεος zuläuft: Hunger rechtfertige die Übertretung des Sabbats, weil Barmherzigkeit als vom Evangelisten etabliertes Leitkriterium in diesem Fall über die Sabbatvorschriften regiere. Die in V. 7 genannte Barmherzigkeit legitimiert damit nicht nur das Ährenraufen der Schüler Jesu, sondern auch das Essen der Schaubrote durch David und seine Begleiter: „V. 7 unterstreicht zugleich die Legitimität des Vorgehens Davids in 1Sam 21: Hier wird zwar mit Lev 24,9 ein kultisches Gebot verletzt, doch führt auch hier der Maßstab der Barmherzigkeit gegenüber den Hungernden zwingend dazu, dass ihnen kein Vorwurf zu machen ist.“651 Hunger und Barmherzigkeit stehen also in einem engen Zusammenhang und bilden den roten Faden der V. 1–7. Dass der Hunger das Arbeitsverbot am Sabbat außer Kraft setzt, ist der Barmherzigkeit geschuldet, die größer als die ebenfalls über das Arbeitsverbot regierende Opferdarbringung der Priester am Sabbat ist. Der von Luz und Konradt angenommene enge Zusammenhang zwischen Hunger und Barmherzigkeit ist deshalb von besonderer Relevanz, weil er einen ἔλεος647 Als einer von wenigen interpretiert Luz auch die explizite Erwähnung dessen, dass die Schüler die Ähren nicht nur rupfen, sondern auch essen (V. 1). Er verweist darauf, dass am Sabbat das Essen eine hervorgehobene Rolle spielt: „Daß Matthäus ausdrücklich sagt, daß die Jünger aßen, ist vielleicht mehr als eine erzählerische Selbstverständlichkeit: Judenchristliche Leser wissen, daß zur Sabbatfeier das gute Essen gehört. Von da her ist das Ährenraufen höchstens das Minimum dessen, was den Jüngern am Sabbat zusteht“ (Matthäus Bd. 2, 230). 648 Vgl. Oliver, Torah Praxis, 94. So auch, wenngleich vorsichtiger, Kazen, Scripture, 102. 649 Konradt, Matthäus, 192. 650 Konradt, Matthäus, 192. 651 Konradt, Matthäus, 193.

222 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Bezug des Komparativs μεῖζον (V. 6) nahelegt. Ein solcher Bezug ist trotz der grammatikalischen Kongruenz zwischen μεῖζον und ἔλεος nicht unumstritten. So sieht eine Reihe von Forschern in dem Größeren, von dem V. 6 spricht, Jesus bzw. den in V. 8 genannten und mit Jesus identifizierten Menschensohn. Unter der Annahme aber, dass es dem Verfasser des Matthäusevangeliums darum zu tun ist, „Barmherzigkeit als Leitkriterium“652 zu etablieren bzw. die „Hungernden … zum Maßstab der Barmherzigkeit, die Gott will, und damit letztlich auch zum Maßstab rechter Sabbaterfüllung“653 zu machen, fügt sich ein ἔλεος-Bezug des μεῖζον problemlos in den Erzählduktus der Perikope: Der matthäische Jesus fordert die Pharisäer dazu auf, Barmherzigkeit gegenüber seinen Schülern zu üben. Wie Luz halten wir es im Blick auf das Hoseazitat also für die einfachste Lesart, die Aussage „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ direkt auf die pharisäische Kritik am Verhalten der Schüler Jesu und die sich darin offenbarende fehlende Barmherzigkeit zu beziehen und nicht mutwillig einen Keil zwischen V. 7 und V. 5–6 zu treiben, was, wie wir sehen werden, im Falle einer christologischen Interpretation des μεῖζον zwangsläufig geschieht. Kurzum: Durch die redaktionelle Einfügung der Aussage, dass „seine Schüler ... Hunger hatten“ (Mt 12,1), eröffnet der Evangelist eine Sinnlinie, die im Vorwurf fehlender Barmherzigkeit auf Seiten der Pharisäer in V. 7 ihren Höhepunkt findet. Der Mangel an Barmherzigkeit zeigt sich konkret daran, dass die Pharisäer trotz des Hungers der Schüler Jesu auf die Einhaltung des Sabbatgebots pochen. Die Unschuld der Schüler Jesu und der Vorwurf mangelnder Barmherzigkeit sind dabei zwei Seiten derselben Medaille. Im Folgenden gilt es den umstrittenen ἔλεος-Bezugs des μεῖζον zu diskutieren, um die hier vorgelegte Sichtweise zu verifizieren.

2.3.2 Zum ἔλεος-Bezug des Komparativs μεῖζον Es wurde bereits angemerkt, dass der Bezug von μεῖζον auf ἔλεος nicht unumstritten ist. Während sich in der deutschsprachigen Exegese ein gewisser Konsens dahingehend abzuzeichnen scheint, dass das Größere, von dem V. 6 spricht, die in V. 7 im Hoseazitat genannte Barmherzigkeit ist,654 wird im englischsprachigen Raum der Komparativ in der Regel auf Jesus bezogen.655 An dieser Stelle gilt es nun, verschiedene Begründungen für einen Jesus-Bezug des neutrischen μεῖζον nachzuzeichnen und kritisch zu diskutieren, um in der Diskussion die eigene Position zu entwickeln und zu profilieren. Im Blick auf die Annahme eines Jesus-Bezugs des

652 Konradt, Matthäus, 192. 653 Luz, Matthäus Bd. 2, 232. 654 Ein ἔλεος-Bezug wird auch vertreten von: Doering, Schabbat, 433–435; Mayer-Haas, Geschenk, 448 (siehe auch ebd., 444). 655 Neben den im Fließtext diskutierten Positionen vgl. auch France, Matthew, 460–461; Turner, Matthew, 310.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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μεῖζον ist dabei zu berücksichtigen, dass sich Begründungen für eine solche Interpretation nicht durchgängig finden lassen. Teilweise wird ein christologisches Verständnis von V. 6 einfach vorausgesetzt.656 In dem in der Reihe The New International Greek Testament Commentary erschienenen Kommentar zum Matthäusevangelium von John Nolland finden sich drei Argumente für einen Bezug des μεῖζον auf Jesus. Nachdem er den in sich geschlossenen, kohärenten Begründungszusammenhang, der sich bei der Annahme des von ihm abgelehnten ἔλεος-Bezugs auf μεῖζον ergibt, kurz skizziert hat [„temple sacrifice is more important than the sabbath; mercy is more important than temple sacrifice; therefore mercy is more important than the sabbath“657], wendet sich Nolland mit drei Argumenten gegen einen solchen Bezug. Das zweite und das dritte Argument gehören dabei eng zusammen: So moniert Nolland zum einen, dass ein Bezug von μεῖζον auf ἔλεος plausibler wäre, „if the language of sacrifice rather than that of temple had been used in vv. 5–6“658 (zweites Argument), zum anderen bemerkt er, dass der Bezug von ἔλεος auf μεῖζον „links v. 7 too closely to vv. 5–6, where it is better seen as relating back to the whole of the preceding development as a final and clinching argument“659 (drittes Argument). U. E. spricht nichts gegen die hier zuletzt zitierte Annahme Nollands, dass V. 7 die gesamte Erzählung ab V. 1 im Blick hat. Allerdings kann diese übergreifende Funktion des Hoseazitats nicht gegen seine Relevanz für den engeren Kontext der V. 5–6 ausgespielt werden: So legitimiert zwar die in V. 7 dem Hoseazitat folgende Aussage: „… dann hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt“ das in V. 1 geschilderte Handeln der Schüler Jesu und kritisiert gleichzeitig die darauf in V. 2 folgende Anklage der Pharisäer, zugleich aber parallelisiert sie die Schüler Jesu mit den in V. 5 genannten Priestern, die dort als Unschuldige eingeführt werden: „ἢ οὐκ ἀνέγνωτε ἐν τῷ νόμῳ ὅτι τοῖς σάββασιν οἱ ἱερεῖς ἐν τῷ ἱερῷ τὸ σάββατον βεβηλοῦσιν καὶ ἀναίτιοί εἰσιν“? Über die Unschuld der Priester und der Schüler Jesu ist V. 7 mit den V. 5– 6, das Hoseazitat mit dem halachischen Argument (V. 5) und dem Schluss vom Kleineren aufs Größere (V. 6), eng verknüpft. Es spricht deshalb wenig für eine Abgrenzung von V. 7 von den beiden vorangehenden Versen, zumal eher Vers 8 und dem in ihm genannten Herr-Sein des Menschensohns über den Sabbat die Funktion des abschließenden Arguments zukommt, dessen christologische Pointe aber nicht gegen die Barmherzigkeit (V. 7) ausgespielt werden darf.660 Hinzu kommt, dass gerade das Hoseazitat eine Verbindung von V. 5–6 und V. 7 nahelegt: Dass der Verfasser des Matthäusevangeliums in den V. 5–6 den Terminus

656 So z. B. von Carlston/Evans, Ecclesia, 160. 657 Nolland, Matthew, 484 Anm. 16. Bei diesem von Nolland angeführten Begründungszusammenhang handelt es sich um einen Schluss vom Kleineren aufs Größere. 658 Nolland, Matthew, 484 Anm. 16. 659 Nolland, Matthew, 484 Anm. 16. 660 Barmherzigkeit ist hervorragendes Kennzeichen der Herrschaft des Menschensohns und darin auch inhaltliches Kriterium dieser Herrschaft. Vgl. dazu Anm. 681.

224 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Opfer nicht verwendet, spricht jedenfalls nicht gegen die von Nolland angezweifelte Verbindung von Opfer und Tempel (und damit der V. 5–6 und V. 7),661 die sich aufgrund der Zugehörigkeit der beiden Termini zum selben Wortfeld wie von selbst einstellt. So wird in den meisten Auslegungen zu V. 5 auf Num 28,9–10 verwiesen, wo diejenigen Opfer aufgelistet werden, die die Priester am Sabbat verpflichtet sind, darzubringen: Καὶ τῇ ἡμέρᾳ τῶν σαββάτων προσάξετε δύο ἀμνοὺς ἐνιαυσίους ἀμώμους καὶ δύο δέκατα σεμιδάλεως ἀναπεποιημένης ἐν ἐλαίῳ εἰς θυσίαν (!) καὶ σπονδὴν 10ὁλοκαύτωμα σαββάτων ἐν τοῖς σαββάτοις ἐπὶ τῆς ὁλοκαυτώσεως τῆς διὰ παντὸς καὶ τὴν σπονδὴν αὐτοῦ.662 Indirekt kann also über Num 28,9 und den dort verwendeten Begriff θυσία die Opferdarbringung der Priester auch in die V. 5–6 eingetragen werden, zumal die Wendung „den Sabbat entweihen/profanisieren“ eindeutig den Priesterdienst im Blick hat. Kurz: Die enge, über die Sinnlinie Priester – Tempel – Opfer laufende Verbindung zwischen den V. 5–6 und V. 7, legt einen unmittelbaren Bezug von Hos 6,6 auf die vorangehenden Verse und damit auch auf das qal wa-ḥomer Argument in V. 6 nahe, dessen Aussage, 661 Vergleichbar mit Nolland geht auch Repschinski davon aus, dass im Blick auf die V. 5–7 zwischen dem Tempel und der dort erfolgenden Opferdarbringung unterschieden werden muss: „The μεῖζον must fulfill the same logical function towards the disciples as the temple does towards the priests. However, the mercy does not do this. The mercy enters the argument because it is greater tha(n; sic!) the sacrifices. But the sacrifices are performed by the priests in the temple. Thus logically, mercy cannot be greater than the temple, because it is never compared with the temple“ (Controversy Stories, 100 Anm. 30). Durch die Annahme, dass die Barmherzigkeit den Opfern und nicht dem Tempel gegenübergestellt und der Tempel dementsprechend nicht mit der Barmherzigkeit verglichen wird, treibt Repschinski wie Nolland einen Keil zwischen Mt 12,5–6 und Mt 12,7: Auf der einen Seite stehen in seiner Auslegung die V. 5–6, die die Unschuld der Schüler Jesu damit begründen, dass Jesus größer ist als der Tempel, auf der anderen Seite steht V. 7 und der dort vorgetragene Vorwurf an die Pharisäer, die Schrift nicht zu verstehen und sich deshalb unbarmherzig zu zeigen. Interessanterweise nun vermag auch Repschinski die von ihm vorgenommene Trennung der V. 5–6 von V. 7 nicht durchzuhalten, wenn er in seiner Auslegung zu dem in V. 7 an das Hoseazitat direkt anschließenden Satz („hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt“) bemerkt, dass „[w]ith this phrase Matthew ties the link between the disciples and the priests in the temple even more closely. Matthew refers to the disciples as ἀναίτιοι, the word also used to describe the position of the priests in 12:5“ (ebd., 101). Angesichts dieser Äußerungen muss sich Repschinski fragen lassen, wie er sie mit der von ihm stark gemachten Differenzierung zwischen den im Tempel dargebrachten Opfern und dem Tempel selbst zu vereinbaren vermag: Folgt man nämlich dieser Differenzierung, dann begründet das Hoseazitat die Unschuld der Schüler Jesu auf Grundlage der Gegenüberstellung von Barmherzigkeit und Opfern, während die Unschuld der Priester in V. 6 dadurch begründet wird, dass Jesus größer als der Tempel ist. Einen Zusammenhang zwischen dem Hoseazitat und dem Schluss vom Kleineren aufs Größere gibt es aber nach Repschinskis Auffassung nicht, so dass auch die Verbindung der Schüler Jesu und der Priester nicht über die unterschiedlich begründete Unschuld laufen kann. Repschinski argumentiert hier also nicht stringent. 662 „Und am Sabbattag bringt zwei einjährige makellose Lämmer dar und zwei Zehntel feinen Mehls zubereitet in Öl zum Opfer und Trankopfer 10 als Sabbat-Ganzbrandopfer an den Sabbaten, neben der üblichen Ganzbrandopferung und als sein Trankopfer“ (Übersetzung: Rösel/Schlund, in: Septuaginta Deutsch).

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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hier sei Größeres als der Tempel, durch das Zitat legitimiert wird. Von hierher lässt sich dann legitimerweise auch fragen, ob nicht auch ἔλεος durch den Komparativ μεῖζον in den V. 5–6 fest verankert ist. Dieser Schluss ist zwar nicht zwingend, aber doch sehr naheliegend. Er stärkt das Argument der grammatikalischen Kongruenz. 663

Wie verhält es sich nun mit Nollands bisher noch nicht genanntem erstem Argument, dem zufolge das „emphatische ὧδε“664 einen Jesus-Bezug des μεῖζον nahelegt. Nolland dürfte hier an Mt 12,41.42 denken,665 wo einige Exegeten das ὧδε im Zusammenspiel mit dem neutrischen πλεῖον („καὶ ἰδοὺ πλεῖον Ἰωνᾶ ὧδε“ [V. 41] bzw. „καὶ ἰδοὺ πλεῖον Σολομῶνος ὧδε“ [V. 42]) auf den Menschensohn beziehen.666 Abgesehen davon, dass dieser Bezug auf Christus an dieser Stelle nicht zwingend ist,667 könnte selbst im eindeutigen Falle einer solchen Bezugnahme der Verweis auf Mt 12,41.42 die Beweislast im Blick auf das Verständnis des μεῖζον in Mt 12,7 nicht tragen. So wiegen u. E. die angeführten sprachlichen und semantischen Gründe, die einen ἔλεος Bezug des μεῖζον nahelegen, schwerer als der Vergleich mit den Parallelstellen Mt 12,41.42. Auf jeden Fall spricht in grammatikalischer Hinsicht auch nichts gegen einen Bezug von μεῖζον auf ἔλεος. Der Bezug von μεῖζον auf den Menschensohn scheint uns deshalb bei Nolland einer petitio principii zu folgen, deren Wert nicht recht erkennbar ist, die umgekehrt aber verhindert, dass die aufgezeigten vielfältigen sprachlichen und semantischen Bezüge zwischen V. 5–6 und V. 7 Berücksichtigung finden. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass die V. 5–7 als Einheit konzipiert sind, und zwar unabhängig davon, ob sie aus der Feder des Evangelisten oder aus von ihm übernommener mündlicher Tradition stammen. Auch dies macht eine Sonderstellung von V. 7 unwahrscheinlich. Die von Nolland vorgeschlagene (relative) Herauslösung von V. 7 aus seinem unmittelbaren Kontext findet sich auch bei anderen Vertretern eines Jesus-Bezugs des Komparativs μεῖζον. So möchte auch David Hill, der sich in einem 1978 in der Zeitschrift New Testaments Studies erschienen Beitrag668 als einer der ersten ausführlicher mit der Rezeption von Hos 6,6 im Matthäusevangelium beschäftigt 663 In einer sehr elaborierten Weise interpretiert Gundry das Genus von μεῖζον: Das Neutrum verdeutliche, dass der Evangelist hier nicht Jesus als Person, sondern „the quality of superior greatness“ (Matthew, 223) im Blick habe. Ob er damit auf die Funktion Jesu als Menschsohn abhebt, macht diese offene Wendung Gundrys nicht deutlich, ist aber anzunehmen. Unmittelbar vorher hatte Gundry festgestellt, dass die christologische Ausrichtung der V. 5–7 einen Jesus-Bezug des μεῖζον sicherstelle (vgl. Gundry, Matthew, 223). 664 Nolland, Matthew, 484 Anm. 16 (eigene Übersetzung). 665 Nolland führt Mt 12,41.42 bei seiner Interpretation von V. 5, nicht aber bei seiner Interpretation von V. 6 an (vgl. Nolland, Matthew, 484). 666 Vgl. France, Matthew, 460f.; Lybæk, Matthew’s Use of Hosea 6,6, 492 Anm. 9; Yang, Sabbath, 181. 667 So verneint z. B. U. Luz einen Bezug des μεῖζον auf Christus auch in Mt 12,41.42 (Matthäus Bd. 2, 280f.). 668 David Hill, On the Use and Meaning of Hosea vi. 6 in Matthew’s Gospel.

226 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 hat,669 V. 7 losgelöst von den vorangehenden Versen verstanden wissen: „To apply the Old Testament quotation to the precise setting of the incident [of plucking grains; J.-C. M] raises very great difficulties. Hos. vi. 6 is surely not being quoted with the intention of affirming that God mercifully permits a man in need to make food while contravening the law, nor that God will graciously protect the innocent in the face of unfair condemnation: nor can the quotation have been inserted to suggest that the Pharisees ought to have shown mercy to the disciples by not accusing them, for that would mean assuming that the disciples were in fact transgressors, which is what Matthew intends to deny (v. 7)“670. Im Folgenden wird gezeigt werden, dass diese Einschätzung Hills nicht zutrifft: Entgegen seiner Annahme spielen alle von ihm ausgeschlossenen Rezeptionsmöglichkeiten von Hos 6,6 im Kontext von Mt 12,1–8 für das Verständnis des Verfassers des Matthäusevangeliums eine wichtige Rolle. Hill verfängt sich mit seiner Einschätzung in Widersprüche, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Beginnen wir mit Hills Annahme, der Verfasser des Matthäusevangeliums gehe nicht davon aus, dass die Schüler Jesu Gesetzesübertreter seien. Diese Annahme passt schlecht zu Hills Interpretation des halachischen Arguments in V. 5, das nach seiner Auffassung Ausdruck der Vorstellung ist, dass ein Gebot (der priesterliche Opferdienst) im Konfliktfall gegenüber einem anderen (Arbeitsverbot am Sabbat) priorisiert werden kann, was in der Konsequenz zu einem Bruch des weniger relevanten Gebotes führt: „… Matthew has evidence that the Torah can set one law over another, even to the extent of allowing, in the case of conflict, one to be broken for the sake of the other“671. Es wird deutlich, dass für Hill zwei Annahmen unverbunden nebeneinander stehen: Die Priorisierung eines Gebotes gegenüber einem anderen, die es im Konfliktfall ermöglicht, dass das kleinere, d. h. das (relativ) weniger wichtige Gebot gebrochen wird, und die Intention des Evangelisten, die Schüler Jesu nicht als Gesetzesübertreter zu kennzeichnen. Dieses unverbundene Nebeneinander kann schon deshalb nicht überzeugen, weil es dem Verfasser des Matthäusevangeliums darum zu tun ist, die Unschuld der Schüler Jesu (V. 7) in Analogie zur Unschuld der Priester (V. 5) zu erweisen. Sind aber die Priester, wie Hill annimmt, trotz der Übertretung des Gesetzes unschuldig, 672 so gilt Gleiches u. E. auch für die Schüler Jesu: Auch sie übertreten durch das Ährenraufen (wie die Priester durch die Opferdarbringung) das Arbeitsverbot am Sabbat, sind aber dennoch (wie die Priester) ohne Schuld. Es leuchtet uns deshalb auch nicht ein, warum der Verfasser des Matthäusevangeliums nicht von der Schuldlosigkeit der Schüler Jesu angesichts der Gesetzesübertretung ausgehen und gleichzeitig den Pharisäern den Vorwurf machen kann, mit ihrer Anklage unbarmherzig zu agieren. Deren Anklage ist insofern ungerechtfertigt, als sie eine falsche Gewichtung der Gebote vornehmen, d. h. die Barmherzigkeit nicht über das Sabbatgebot regieren lassen. 669 670 671 672

Zur Auseinandersetzung mit Hill vgl. auch S. 163–165. Hill, Hosea vi. 6, 116. Hill, Hosea vi. 6, 115. Vgl. Hill, Hosea vi. 6, 115.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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Für den Evangelisten übertreten die Schüler Jesu ein Gebot, sind aber dabei unschuldig, für die Pharisäer übertreten sie ein Gebot und sind damit auch schuldig. Entgegen der Annahme Hills dient Hos 6,6 dem Evangelisten also sowohl dazu, die Schüler Jesu vor der ungerechtfertigten Anklage der Pharisäer in Schutz zu nehmen, als auch dazu, die Pharisäer aufzufordern, ihre Barmherzigkeit darin zu erweisen, die unschuldigen Gesetzesübertreter nicht zu verurteilen. Schwerer als die aufgezeigte logische Inkohärenz wiegt allerdings eine andere. So betont Hill mit Verweis auf David Daube, dass für den Verfasser des Matthäusevangeliums das haggadische Argument der V. 3–4 nicht ausreiche, um das Verhalten der Schüler Jesu am Sabbat zu legitimieren.673 Stattdessen bedürfe es einer halachischen, d. h. direkt auf einen Vers der Tora rekurrierenden Argumentation,674 die der Evangelist in den V. 5–7 mit der impliziten Anspielung auf Num 28,9f. liefere. Mit dem redaktionellen Verweis darauf, dass der Opferdienst am Sabbat über das Arbeitsgebot am Sabbat regiert, habe der Evangelist nach Auffassung Hills „provided a precedent for the action of the disciples in the law itself“675. Diesen Zusammenhang zwischen dem halachischen Argument und dem Ährenraufen stellt Hill abschließend grundlegend in Frage, wenn er davon ausgeht, dass weder der Verweis auf die Opferdarbringung der Priester noch Hos 6,6 für den Verfasser des Matthäusevangeliums die Funktion besitzt, das konkrete Verhalten der Schüler Jesu zu legitimieren.676 Vielmehr besteht die Klimax der Argumentation Jesu für Hill in der Barmherzigkeitsforderung,677 die er von der Aussage in Mt 12,12: „Darum ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun“ her versteht und die ihren Sitz im Leben in der Auseinandersetzung der matthäischen Gemeinde mit dem rabbinischen Judentum um den Sabbat habe. Kern des in Mt 12,1–8 Dargestellten ist somit für Hill letztendlich die Verbindung von Liebesgebot und Sabbat. Ein solches Verständnis der Perikope vom Ährenraufen aber reißt auseinander, was zusammengehört: So läuft die Freigabe der Liebestat am Sabbat über das Beispiel der Schüler Jesu, die nach Auffassung des Evangelisten trotz der Übertretung des Gesetzes wie die Priester unschuldig sind und denen gegenüber die Pharisäer Barmherzigkeit zeigen sollen. Hill zufolge aber stellt der Evangelist dem haggadischen Argument ein halachisches unterstützend zur Seite, um dann von V. 7 her beide Argumente im luftleeren Raum schweben zu lassen. V. 7 stünde in seinem literarischen Kontext völlig isoliert da. U. E. legt sich hier ein viel einfacheres Verständnis nahe. Die vom Evangelisten verantworteten V. 5–7 unterstützen die Argumentation des matthäischen Jesus, indem sie neben dem Verweis auf Da673 674 675 676

Vgl. Hill, Hosea vi. 6, 114. Vgl. Hill, Hosea vi. 6, 114. Hill, Hosea vi. 6, 115. „…Matthew is not really concerned to justify the act of plucking corn by Jesus’ disciples: in fact it is not justified by either of the (legal) illustrations given, for neither deals with the specific issue of preparing food on the sabbath; nor does Matthew intend us to see the disciples’ action as justified by Hos. vi. 6“ (Hill, Hosea vi. 6, 116). 677 Diesen Zusammenhang zwischen Mt 12,7 und Mt 12,12 insinuiert auch France, Matthew, 461.

228 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 vid nun die Barmherzigkeit, die größer ist als der Tempel, wie die Opfervorschriften über das Arbeitsverbot am Sabbat regieren lassen: Barmherzigkeit, die zu den wichtigen Dingen in der Tora (τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου) gehört (23,23), setzt wie die Opferdarbringung der Priester das Arbeitsverbot am Sabbat außer Kraft. Neben das haggadische tritt mit dem direkten Hinweis auf die Tora („ἢ οὐκ ἀνέγνωτε ἐν τῷ νόμῳ …“) so ein halachisches Argument. Ein solches Verständnis hat auch den Vorteil, dass der matthäische Jesus auf der Erzählebene seinen Gesprächspartnern nicht einfach ein bzw. zwei unsinnige(s) Argument(e) liefert: Dass im Konfliktfall zweier Gebote eines priorisiert wird, davon können auch die Pharisäer wissen, so zumindest stellt es der Evangelist dar. Jesus fordert sie nun dazu auf, auf dieser Grundlage einen Schritt weiterzugehen: Was für den Tempeldienst der Priester gilt, gelte auch von der Barmherzigkeit. Auch das hätten die Pharisäer der Schrift entnehmen können, allerdings nicht der Tora, sondern den Propheten. Hätten die Pharisäer Hos 6,6 verstanden, dann wären sie in der Lage, die Argumentation Jesu nachzuvollziehen. Nach Auffassung des Evangelisten aber haben sie nicht verstanden.678 Auch in der Interpretation Robert H. Gundrys verliert die Argumentation des matthäischen Jesus in Mt 12,5 ihre Relevanz. Im Unterschied zu Hill allerdings unterminiert Gundry das halachische Argument in V. 5 nicht von V. 7, sondern vom Schluss vom Kleineren aufs Größere (V. 6) her: Es ist die über der Schrift stehende und von ihr losgelöste Autorität Jesu, die das Ährenraufen seiner Schüler legitimiere. Ähnlich wie bei Hill lässt der Verfasser des Matthäusevangeliums also auch bei Gundry seinen Jesus ein halachisches Argument vortragen,679 um die Unschuld der Schüler Jesu dann doch nicht in Analogie zu den Priestern, sondern allein mit der Autorität ihres Lehrers zu begründen. In diesem Sinne stellt Gundry, nachdem er V. 6 als qal wa-ḥomer Argument identifiziert und dem Leser die fehlende Vergleichbarkeit der Handlungen der Schüler Jesu und der Priester vor Augen geführt hat, fest: „But Matthew bases his argument solely on the authority of Jesus, who is God with us and whose allowance of the disciples’ action suffices regardless of the nature or cause of that action“680. Zwischen der Autorität Jesu und dem Verweis auf die Profanisierung des Sabbats durch die Opferdarbringung der Priester gibt es 678 Gänzlich unplausibel erscheint uns auch die Qualifikation der Annahme, menschliche Bedürfnisse könnten ein Gebot Gottes außer Kraft setzen, als „potentiell gefährliche Doktrin“ („potentially dangerous doctrine“ [Hill, Hosea vi. 6, 114]), die die Beobachtung der Gebote menschlicher Willkür ausliefere. Unserer Auffassung zufolge steht Barmherzigkeit im Matthäusevangelium in einem engen Zusammenhang mit den basalen Grundbedürfnissen der Menschen als Geschöpfe Gottes. Ebenso wenig wie die Goldene Regel oder das Nächstenliebegebot subjektive egoistische Bedürfnisse des Menschen im Blick haben (vgl. im nächsten Kapitel insbesondere Abschnitt 3.3), geht es auch hier nicht um Egoismus, sondern um Geschöpflichkeit. Was legitime menschliche Bedürfnisse sind, wird vom Evangelisten vom Standpunkt des Schöpfers aus bestimmt. In diesem Sinne ist Hunger als ein basales, dem Menschen eingestiftetes Grundbedürfnis mit dem Sabbat nicht vereinbar. 679 Vgl. Gundry, Matthew, 223. 680 Gundry, Matthew, 224.

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folglich auch bei Gundry keinen Verbindungspunkt. V. 5 hängt somit in der Luft. U. E. aber läuft die gesamte Argumentation der V. 5–7 darauf hinaus, das Ährenraufen von der in V. 5 implizierten Gewichtung der Gebote her zu legitimieren. Während auf inhaltlicher Ebene in der Tat auf den ersten Blick kein Zusammenhang zwischen der Handlung der Schüler Jesu und dem Tun der Priester besteht, stellt sich auf formaler Ebene die Frage, welche Bedeutung der Vorgang der Priorisierung eines Gebotes im Falle dessen, das zwei Gebote wie das Sabbatgebot und das Gebot der Opferdarbringung am Sabbat miteinander in Konflikt geraten, für das Ährenraufen der Schüler Jesu hat. Gibt es im Blick auf die Art und Weise der Legitimation der Opferdarbringung und der damit verbundenen Ent-Schuldigung der Priester eine vergleichbare Rechtfertigung des Ährenraufens der Schüler Jesu? Auf den ersten Blick lautet hier die Antwort auf diese Frage: Nein! Es gibt nämlich in der Tora kein Gebot des Ährenraufens, das zudem noch gegenüber dem Arbeitsverbot zu priorisieren wäre. Allerdings findet sich im unmittelbaren Kontext mit dem Zitat aus Hos 6,6 das Gebot der Barmherzigkeit, dass gegenüber dem Gebot der Opferdarbringung priorisiert wird. U. E. gibt es nun einen engen Zusammenhang zwischen der Priorisierung der Barmherzigkeit gegenüber dem Kult und der Priorisierung des Kultes gegenüber dem Sabbat. Dieser Zusammenhang wird durch den Schluss vom Kleineren aufs Größere (V. 6) hergestellt: Wenn schon der Kult über das Sabbatgebot regiert, um wieviel mehr gilt das von der Barmherzigkeit, die – wie der Prophet sagt – größer als der Kult ist. Kurz: Während der Verfasser des Matthäusevangeliums mit V. 5 zeigt, dass im Falle eines Konflikts zweier Gebote ein Gebot priorisiert wird, konkret: das Gebot der Opferdarbringung im Tempel gegenüber dem Gebot der Sabbatruhe, zeigt Hos 6,6, das auch die prophetische Forderung der Barmherzigkeit, die größer ist als der Kult, gegenüber dem Gebot der Sabbatruhe Priorität besitzt. Mit anderen Worten: Auf formaler Ebene wird die Unschuld der Schüler Jesu wie die Unschuld der Priester durch die Abwägung zweier Gebote, des Sabbatgebots und des Gebotes der Opferdarbringung respektive des noch größeren Gebots der Barmherzigkeit gewonnen. Das Gebot der Barmherzigkeit ist größer als das kultische Gebot der Opferdarbringung und partizipiert deshalb wie dieses an der partiellen Aussetzung des Arbeitsgebots am Sabbat. Im Gegensatz zu Gundry ist deshalb zu betonen, dass der Evangelist die halachische Frage, was am Sabbat zu tun erlaubt ist (vgl. V. 2), nicht einfach über das Postulat einer vermeintlichen, für die Pharisäer unverständlich bleibenden Autorität Jesu löst, die von der Schrift losgelöst wäre. Vielmehr erweist der matthäische Jesus seine Autorität dadurch, dass er das Verhalten seiner Schüler von der Schrift her legitimiert. Hos 6,6 rechtfertigt das Ährenraufen der Schüler, weil Hunger gerade am Sabbat mit der Barmherzigkeit Gottes, die die Pharisäer zu imitieren aufgerufen sind, unvereinbar ist und das Gebot der Barmherzigkeit in Analogie zum Gebot der Opferdarbringung über das Arbeitsverbot am Sabbat regiert. Die Legitimation des Handelns der Schüler Jesu durch die Schrift, insbesondere der Verweis auf Hos 6,6, gibt der in V. 8 ausgesagten Herrschaft des Menschensohns über den

230 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Sabbat mit der Barmherzigkeit zugleich ein „inhaltliches Kriterium“681. Von V. 8 her kann V. 6 zwar christologisch interpretiert werden, aber diese Interpretation läuft über die Barmherzigkeit, die aus diesem Grunde auch der erste Bezugspunkt für den Komparativ μεῖζον in V. 6 ist. Mit anderen Worten: Jesus entscheidet nicht kraft seiner Autorität als Menschensohn darüber, was am Sabbat zu tun erlaubt ist, sondern indem er die Unschuld seiner Schüler implizit (im Falle von V. 5) und explizit (im Falle von V. 7) von der Schrift her begründet. Dem entspricht im Blick auf das Matthäusevangelium als Ganzem, dass der Evangelist seinen Jesus nicht als Verkünder eines neuen Gesetzes, sondern als vollmächtigen Interpreten der Schrift präsentiert (vgl. Mt 5,21–48). In Mt 12,5–7 verwendet er dabei, wie noch zu zeigen sein wird, einen validen Schluss vom Kleineren aufs Größere. Damit bewegt sich der matthäische Jesus im Rahmen einer im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung möglichen Schrifthermeneutik. Kurzum: Die Autorität Jesu wird einerseits mit der Schrift legitimiert (durch das Gebot der Barmherzigkeit) und andererseits legt der matthäische Jesu das Sabbatgebot aus der Perspektive der Barmherzigkeit aus. In der Diskussion der Positionen Hills und Gundrys ist ein wichtiger Punkt angeklungen, der die Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Jesus und den Pharisäern auf der Erzählebene des Evangeliums betrifft: Der Bezug von μεῖζον auf ἔλεος bietet auch den Vorteil, dass die Argumentation des matthäischen Jesus 681 Die Annahme, μεῖζον beziehe sich auf ἔλεος, schließt eine christologische Dimension der Barmherzigkeit also nicht aus, sondern ein. In diesem Sinne betont Andrea Meyer-Haas zu Recht die enge Verknüpfung der Barmherzigkeit mit dem Herr-Sein des Menschensohnes, von dem V. 8 als Abschlussvers der Perikope spricht: Während die Barmherzigkeit inhaltlicher Maßstab der Herrschaft des Menschensohnes sei, legitimiere dieser seinerseits die Barmherzigkeit. In umgekehrter Beschreibung der Beziehung zwischen der Barmherzigkeit und dem Menschensohn formuliert Meyer-Haas: „Das in Hos 6,6 genannte Prinzip der Barmherzigkeit als Kriterium der Torainterpretation gründet in der Vollmacht des Menschensohns Jesus, der es in seiner Person selbst erfüllt. Die Vollmacht des Menschensohns über den Sabbat ist für den Evangelisten deshalb keine absolute Vollmacht im Sinne einer beliebigen Aufhebung des Sabbatgebotes oder der Sabbathalacha, sondern hat eine Neugewichtung der einzelnen Gebote zur Folge, die sich in Mt 12,7 in eine Linie mit prophetischer Theologie in Israel stellt“ (Gottes Schatzkammer, 446f.). Bereits einige Seiten vorher hatte sie noch deutlicher davon gesprochen, dass die christologische „Ausrichtung der Argumentation in Mt 12,1–8 … durch den Zusammenhang mit dem Hoseazitat im Matthäusevangelium ein inhaltliches Kriterium (ἔλεος) erhält: Jesus verkörpert in seiner Person die an der Barmherzigkeit als oberstem göttlichen Willen ausgerichtete Torainterpretation. Hierin liegt seine Autorität über den Sabbat begründet. Mangels dieses Kriteriums verfehlt die pharisäische Torainterpretation nach Auffassung des Matthäus den göttlichen Willen“ (ebd., 444). Auch wenn es also einen engen Zusammenhang zwischen dem Menschensohn und der Barmherzigkeit gibt, scheint es uns für die Kohärenz der V. 1–8 plausibler, diese Dimension im Blick auf V. 6 nicht in den Vordergrund zu stellen, sondern μεῖζον, wie auch Mayer-Haas es tut, auf die Barmherzigkeit zu beziehen: Das Herr-Sein über den Sabbat zeigt sich konkret in der Speisung der Hungernden und der darin zum Ausdruck kommenden Barmherzigkeit, wobei der Barmherzigkeitserweis in 12,1–8 in der Erlaubnis besteht, Ähren zu raufen und damit das Arbeitsverbot zu übertreten.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

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nicht im luftleeren Raum schwebt, sondern den Pharisäern eine Verstehensmöglichkeit jenseits des Postulats bietet, der Menschsohn sei größer als der Sabbat (V. 8). So ist anzunehmen, dass nach Auffassung des Evangelisten Hos 6,6 die Pharisäer in der Tat davon hätte überzeugen können, dass die Barmherzigkeit in analoger Weise wie die Opferdarbringung der Priester im Tempel über das Arbeitsverbot am Sabbat regiert, weil, wie der Hoseavers zeigt, Gott selbst Barmherzigkeit gegenüber den Opfern priorisiert. Diese Argumentation verbleibt im Rahmen einer Logik, die – zumindest potenziell – auch für die Pharisäer nachvollziehbar ist. In diesem Sinne hebt eine Reihe von Exegetinnen und Exegeten den Zusammenhang zwischen der Verwendung von Hos 6,6 in Mt 9,13 und in Mt 12,7 hervor: Während Jesus in Mt 9,13 die Pharisäer mit einer ins Griechische übersetzten rabbinischen Wendung („πορευθέντες δὲ μάθετε τί ἐστιν“) zum Lernen von Hos 6,6 auffordere, zeige die dem Hoseavers vorgeschaltete und auf Mt 9,13 zurückverweisende Aussage in Mt 12,7 („εἰ δὲ ἐγνώκειτε τί ἐστιν“), dass die Pharisäer in den Augen Jesu nicht gelernt haben. Während Konradt diese Aussage sachlich so versteht, „dass die Pharisäer der Aufforderung Jesu zu lernen, was dieses Prophetenwort bedeutet, nicht nachgekommen sind“682, betont Repschinski die in ihr vom Evangelisten zum Ausdruck gebrachte Borniertheit und den Unwillen der Kontrahenten Jesu.683 Beide Verstehensweisen setzen aber voraus, dass die Pharisäer hätten lernen können, was Hos 6,6 bedeutet, was wiederum nur dann möglich ist, wenn die Argumentation des matthäischen Jesus für die Pharisäer formal und inhaltlich auch nachvollziehbar ist.684 Genau dies aber wäre bei einem Bezug von μεῖζον auf Jesus nicht gegeben: Inwiefern sollten die Pharisäer nachvollziehen können, dass die Aussage JHWHs, er wolle Barmherzigkeit und keine Opfer (Hos 6,6), den Schluss legitimiert, Jesus sei größer als der Tempel. Auch bei der Annahme Repschinskis, V. 7 stehe in einer großen Selbstständigkeit neben den V. 5–6, ergäbe sich eine Inkohärenz: Neben einer für die Pharisäer potentiell nachvollziehbaren Aussage (V. 7) stünde ein Schluss vom Kleineren aufs Größere, dessen Voraussetzung sie nicht teilen. Wieso sollte sie die Aussage überzeugen, Jesus sei größer als der Tempel, wenn für sie die für einen Schluss vom Kleineren aufs Größere notwendige Vergleichbarkeit zwischen Jesus und dem Tempel, von der einige Exegeten annehmen, dass sie darin besteht, dass beide „Orte“ der Gottespräsenz sind, nicht gegeben ist? Damit wäre jedem Verstehen von vornherein der Boden entzogen und Jesus würde an den Pharisäern vorbeireden. U. E. aber geht es dem Evangelisten in Mt 12,5–7 auch gar nicht darum, die Gegenwart Gottes in Jesus herauszustellen, sondern Barmherzigkeit als nichtkultisches Opfer zu charakterisieren. Zu diesem Zwecke fügt er dem haggadischen ein halachisches Argument hinzu und schafft 682 Konradt, Matthäus, 193. 683 Vgl. Repschinski, Controversy Stories, 101. 684 Dies gilt auch unter der Voraussetzung, dass der Ausgang des Streitgesprächs für den Evangelisten von vornherein feststeht: Er ist im Rahmen seiner Stilisierung der Pharisäer und Schriftgelehrten als Gegner Jesu par exellence nicht an einem offenen Ausgang des Gesprächs interessiert und lässt die Pharisäer dementsprechend auch gar nicht mehr zu Wort kommen.

232 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 damit eine gemeinsame Ebene der Kommunikation zwischen Jesus und seinen Gegnern. Diese gemeinsame Kommunikationsebene wird erst in V. 8 verlassen, wo der Verfasser des Matthäusevangeliums die Barmherzigkeit mit der Herrschaft des Menschensohns über den Sabbat verbindet. Dass Jesus der Menschensohn und als solcher Herr über den Sabbat ist, ist für die Pharisäer und das von ihnen repräsentierte, nach der Zerstörung des Tempels sich neu formierende Judentum nicht nachvollziehbar. Entscheidend bei der Interpretation von Mt 12,5–7 scheint uns also, dass die Argumentation des matthäischen Jesus auch unabhängig von der christologischen Dimension der Barmherzigkeit für die Pharisäer in weiten Teilen (zumindest formal) plausibel ist. Das wäre bei einer christologischen Deutung des μεῖζον nicht der Fall. Fassen wir zusammen: In der kritischen Diskussion mit Vertretern eines Jesus-Bezugs von μεῖζον (V. 6) hat sich gezeigt, dass sprachliche, semantische und pragmatische Gründe für einen Bezug des Komparativs auf die in V. 7 genannte Barmherzigkeit sprechen: So legt das Genus von μεῖζον in sprachlicher Hinsicht einen solchen Bezug nahe. In semantischer Hinsicht sind die V. 5–7 durch die Sinnlinie Priester – Opfer – Tempel bestimmt. Die von Nolland (und Repschinski) ins Spiel gebrachte Trennung der Opfer vom Tempel scheint hier ebenso gezwungen wie jede andere vorgeschlagene Herauslösung von V. 7 aus seinem Kontext. In pragmatischer Hinsicht spricht vor allem die Annahme einer kommunikativen Basis zwischen den Pharisäern und Jesus gegen einen Jesus-Bezug des μεῖζον: Dass die Pharisäer der Argumentation Jesu nicht folgen, liegt nicht daran, dass das Gesagte in formaler und inhaltlicher Hinsicht für sie unverständlich wäre. Vielmehr bewegt sich die Argumentation des matthäischen Jesus im Rahmen der im 1. Jahrhundert n. Chr. möglichen Schriftinterpretation, die, wie noch zu zeigen sein wird, zu Recht als halachisch bezeichnet werden kann. Entgegen der im englischsprachigen Raum weit verbreiteten Annahme steht der matthäische Jesus hier nicht über der Schrift, sondern er erweist seine Autorität gerade darin, dass er das Verhalten seiner Schüler von der Schrift her legitimiert. So gewinnt er auf formaler Ebene die Unschuld seiner Schüler in Analogie zur Unschuld der Priester durch eine Gewichtung der Gebote: So wie die spezifischen Kultvorschriften über die Darbringung von Opfern am Sabbat (Num 28,9–10) gegenüber dem Arbeitsverbot (Ex 20,10; Dtn 5,14) zu priorisieren sind, so wiegt das Gebot der Barmherzigkeit schwerer als der Kult (Hos 6,6), an dessen partieller Aussetzung des Arbeitsverbots es partizipiert. Der Schluss vom Kleineren aufs Größere bringt also mit dem Arbeitsverbot am Sabbat (Ex 20,10; Dtn 5,14), den Opfervorschriften der Priester (Num 28,9–10) und der Aussage aus Hos 6,6: „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“, drei Stellen der Schrift unter dem Aspekt der Hierarchisierung miteinander ins Gespräch, wobei er nur eine direkt zitiert. Im Folgenden soll die hier vorgelegte These, dass sich der matthäische Jesus in Mt 12,5–7 durchgängig auf der Ebene der Schrift bewegt und mit ihr argumentiert, in zweierlei Hinsicht vertieft werden. Zum einen ist die Beschreibung der

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Argumentation als halachisch, zum anderen die Charakterisierung von V. 6 als Schluss vom Kleineren aufs Größere in den Blick zu nehmen.

2.3.3 Zur Form und Hermeneutik von Mt 12,5–7 Im vorangehenden Abschnitt wurde auf einen Widerspruch aufmerksam gemacht, in den sich die Vertreter eines Jesus-Bezugs des μεῖζον verwickeln: Einerseits teilen sie in der Regel die Auffassung, dass der matthäische Jesus mit dem expliziten Verweis auf die Tora in V. 5 der haggadischen Argumentation der vorausgehenden V. 3–4 ein halachisches Argument zur Seite stellt, andererseits aber verlässt nach ihrer Auffassung der von ihnen christologisch gedeutete Schluss vom Kleineren aufs Größere in V. 6 den Rahmen rabbinischer Schrifthermeneutik bzw. der Schriftinterpretation überhaupt. An dieser Stelle soll nun in einem ersten Schritt der bisher unkommentierten Charakterisierung der V. 5–7 als halachisches Argument nachgegangen werden, bevor in einem zweiten Schritt die Frage erörtert wird, ob in diesen Versen ein valider qal wa-ḥomer Schluss vorliegt.

2.3.3.1 Mt 12,5–7: Ein halachisches Argument? Die Charakterisierung der V. 5–7 als halachisches Argument ist weit verbreitet. So wird im Blick auf die redaktionelle Hinzufügung dieses zweiten Argumentationsgangs in der Regel darauf verwiesen, dass das haggadische Argument der V. 3–4 im Kontext der Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern bzw. des Evangelisten mit seinen jüdischen Zeitgenossen keine hinreichende Begründung dafür liefern könne, dass ein Gebot der Tora außer Kraft gesetzt wird. Dafür bedürfe es eines halachischen Arguments, das sich dadurch auszeichne, dass es sich auf eine Weisung/Vorschrift der Tora berufe, was durch die V. 5 eröffnende Frage „ἢ οὐκ ἀνέγνωτε ἐν τῷ νόμῳ …“ geschehe. Bei vielen Exegeten findet sich in diesem Zusammenhang ein Verweis auf folgende Aussage David Daubes: „It was of the essence of the Rabbinic system that any detailed rule, any halakha, must rest, directly or indirectly, on an actual precept promulgated in Scripture. It must rest on it directly or indirectly: that is to say, there was no need for a halakha to be laid down in so many words, so long as it could be derived from some precept by means of the recognized norms of hermeneutics. One of these norms, for example, was the inference a fortiori, or as the Rabbis termed it, qal waḥomer, ‘the light and weighty’.“685 Diese Aussagen Daubes, die er im Kontext seiner Interpretation von 685 Daube, Rabbinic Judaism, 68. Zitiert z. B. von Davies/Allison, Matthew Bd. 2, 313; Hill, Hosea vi. 6, 114–115; Repschinski, Controversy Stories, 98 Anm. 23. Ein Verweis auf Daube findet sich z. B bei Luz, Matthäus Bd. 2, 231 Anm. 33. Inhaltlich identische Begründungen für die Hinzufügung der V. 5–7 ohne Verweis auf Daube bieten z. B. Konradt, Matthäus, 192–193; Sand, Matthäus-Evangelium, 255. Auch Sigal, Halakhah, 161, und Kazen, Scripture, 101, gehen davon aus, dass hier ein qal wa-ḥomer Schluss vorliegt.

234 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Mt 12,1–7 macht, sind insofern anachronistisch, als von Halacha im engeren Sinne erst im Blick auf das rabbinische Judentum gesprochen werden kann, das bei Abfassung der Schriften des Neuen Testaments erst in der Entstehung begriffen war. Nun hat auch Peter J. Tomson die im frühen 19. Jahrhundert aufkommende Kennzeichnung der vielfältigen jüdischen Gesetzesdiskussionen um einen torakonformen „Way of life“, die sich in den vorrabbinischen Quellen aus der Zeit des Zweiten Tempels finden, als halachisch verteidigt und zugleich auf die Heterogenität des Phänomens hingewiesen. Überall dort, wo auf Grundlage des Gesetzes über die konkrete jüdische Lebensführung (z. B. über den Sabbat, die Reinheitsvorschriften oder Scheidung) diskutiert werde, kann nach Tomson von Halacha (im weiteren Sinne) gesprochen werden, ohne dass hier eine formale Einheitlichkeit vorausgesetzt werden dürfe: „Following modern scholarly usage, we shall use the term ‘halakhah’ to indicate the phenomenon of Jewish law as reflected in rabbinic literature or elsewhere. It is not meant at all [to; sic!] imply homogeneity. On the contrary, to the extent that ancient Judaism was multiform, it is obvious that halakhah in that period must be viewed as a variegated, unsystematic whole of laws and customs.“686 Eine derart weit gefasste Definition könnte es nahelegen, auch im Blick auf Mt 12,5–7 von Halacha zu sprechen: So verweist der matthäische Jesus in V. 5 auf die Tora und die in ihr gebotene Darbringung der Opfer am Sabbat (Num 8,9f.) und zitiert in V. 7 explizit aus der Schrift (Hos 6,6). Der für eine halachische Argumentation konstitutive Bezug zur Tora (verstanden als Gesetz) ist also zumindest in V. 5 gegeben. Und auch das von Daube genannte Kriterium, dass die Diskussionen den anerkannten Regeln rabbinischer Hermeneutik folgen müssen, scheint durch den in V. 6 vorliegenden qal wa-ḥomer Schluss erfüllt. Dennoch scheint uns fraglich, ob Jesus mit seiner Argumentation in Mt 12,5–7 konkret und grundsätzlich Stellung zur Frage beziehen will, was am Sabbat zu tun erlaubt ist: Lässt sich das in Mt 12,1–8 Erzählte in die Form einer halachischen Regelung gies-sen, die besagt, dass Ährenraufen (oder andere Formen der Versorgung) am Sabbat toleriert werden soll(en)? Das scheint uns eher nicht der Fall. In diesem Sinne stellt Lutz Doering bei seiner Interpretation von Mt 12,5–7 fest, dass es dem Verfasser des Matthäusevangeliums bei der Barmherzigkeitsforderung „weder um eine konkrete Handlungsanweisung noch um einen halachisch umschriebenen Ausnahmefall zu gehen [scheint], sondern um eine Perspektive auf menschliches Verhalten, die von dem her geprägt ist, was die Mitte des göttlichen Willens darstellt, wie ihn der mt Jesus bezeugt. In der Perspektive der Barmherzigkeit können Sabbatverstöße gerechtfertigt werden, die von Menschen, die Mangel leiden, begangen werden.“687 Wir stimmen Doering darin zu, dass Jesus hier aller Wahrscheinlichkeit nach keine konkrete Handlungsanweisung gibt und auch nicht auf einen halachischen Ausnahmefall hinauswill. Lässt sich aber die Perspektive der Barmherzigkeit, die Sabbatverstöße rechtfertigt, noch näher fassen? 686 Tomson, Halakhah in the New Testament, 140. 687 Doering, Schabbat, 435.

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Bei genaueren Hinsehen zeigt sich, dass der matthäische Jesu in V. 5 zwei Bestimmungen der Tora gewichtet: Die Priester, die am Sabbat ihren Dienst im Tempel verrichten, sind deshalb unschuldig, weil das Gebot der Opferdarbringung am Sabbat (Num 28,9f.) über das Arbeitsverbot am Sabbat (Ex 20,10; Dtn 5,14) regiert. Diese in V. 5 implizite Gewichtung der Gebote kann als halachisch bezeichnet werden: Sie setzt zwei Einzelgebote der Tora in Beziehung zueinander. Hier geht es in der Tat um die Frage, was am Sabbat zu tun erlaubt ist. Wie die anschießenden V. 6–7 aber zeigen, geht Jesus mit dem qal wa-ḥomer Argument über die halachische Ebene hinaus: Die Barmherzigkeitsforderung partizipiert wie die Opferdarbringung an der Aussetzung des Arbeitsverbots, ohne dass es sich bei ihr um ein Toragebot handeln würde. Es gibt kein Gebot der Tora (des Pentateuchs), das Barmherzigkeit fordert. Wir können also unterscheiden zwischen der Priorisierung zweiter Toragebote, wie sie V. 5 voraussetzt, und der Partizipation der Barmherzigkeit an der Aussetzung des Arbeitsverbots am Sabbat, die offensichtlich nicht auf der halachischen Ebene liegt. So ist auch der die Erzählung vom Ährenraufen abschließende Verweis auf das Herr-Sein des Menschensohns über den Sabbat in V. 8 keine Aussage, die das Gesetz als solches beträfe, obwohl sie Auswirkungen auf dessen Interpretation hat. Kurzum: Die Partizipation der Barmherzigkeit an der Herrschaft des Gebots der Opferdarbringung über das Arbeitsverbot liegt nicht auf der halachischen Ebene. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Beobachtung relevant: Der qal wa-ḥomer Schluss (V. 6) macht auch deutlich, dass die über die Ebene der Toragebote bzw. die halachische Ebene hinausgehende Barmherzigkeitsforderung aus Hos 6,6 die halachische Ebene nicht unterminiert. So setzt die sich aus dem Schluss vom Kleineren aufs Größere ergebende Partizipation der Barmherzigkeit an der Opferdarbringung und deren Aufhebung des Arbeitsverbots am Sabbat bleibend voraus, dass das Gebot der Opferdarbringung über das Verbot, am Sabbat zu arbeiten, regiert. Barmherzigkeit geht also auf der Grundlage der Toragebote und ihrer halachischen Interpretation über sie hinaus. Ein ähnliches Phänomen haben wir im ersten Kapitel bei der der Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) festgestellt: Barmherzigkeit geht über die Ebene des Rechts hinaus, ohne diese Ebene zu unterminieren.688 Wir haben bei der Interpretation der Parabel auch angedeutet, dass es sich bei Recht und Erbarmen in Analogie zum rabbinischen Konzept der „Eigenschaften“ Gottes (Middot) um zwei Handlungsweisen Gottes handelt, mit denen er sich der Welt zuwendet. Karl Erich Grözinger hat in den Frankfurter Judaistischen Beiträgen gezeigt,689 dass diese Gottesvorstellung für die Rabbinen parallel läuft zu zwei Verfahrensweisen innerhalb des die zwischenmenschlichen Beziehungen regelnden Zivilrechts: Im Zivilrecht wird zwischen einem Verfahren „auf der Rechtslinie“, das in der strikten Anwendung des Rechts besteht, und einem Verfahren „innerhalb der Rechtslinie“, „bei dem um des Friedens und der Billigkeit willen auf 688 Vgl. im ersten Kapitel z. B. Abschnitt 1.1.1.3. 689 Grözinger, Middat ha-din.

236 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Rechtsansprüche verzichtet wird“690 bzw. „bei dem ein Mensch Dinge tut, welche das Recht nicht mehr von ihm verlangen kann“691, unterschieden.692 Im Blick auf das Verfahren „innerhalb der Rechtslinie“ spricht Grözinger auch von dem von den Rabbinen präferierten „überrechtliche[n] Verfahren“693 oder vom „ordo misericordiae“694. Uns scheint, dass die Gesetzesinterpretation des matthäischen Jesus in Mt 12,5–7 eine Nähe zu diesen Vorstellungen aufweist: Jesus fordert ein überrechtliches Verständnis der Gebote in der Perspektive der Barmherzigkeit, ohne damit die Bedeutung der Tora als Gesetz bzw. die halachische Interpretation des Gesetzes in Frage zu stellen. Ein ähnliches Verständnis der Torainterpretation Jesu hat Peter Wick im Blick auf die sogenannten Antithesen vorgeschlagen695: Die Forderungen, die Jesus hier erhebt, sind nicht für die Gerichtshöfe gedacht. Sie sind nicht justitiabel, sondern gewinnen ihren Maßstab aus der Vollkommenheit Gottes (Mt 5,48). Auch die sogenannten Antithesen sind nach Wick nicht gegen die Tora oder ihre halachische Interpretation gerichtet, sondern gehen, diese jeweils voraussetzend, über sie hinaus. Ein weiterer Aspekt des Beitrags Grözinger ist für das Verständnis der Barmherzigkeit in Mt 12,7 von Bedeutung: So verbindet Grözinger die Parallelität der zwischenmenschlichen Beziehungen, die durch das Zivilrecht bzw. das überrechtliche Verfahren gestaltet werden, und der Handlungsweisen Gottes, der middat hadin und der middat ha-raḥamim, mit der Vorstellung der imitatio Dei.696 Diese spielt, wie wir bei unserer Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) im ersten Kapitel und auch bei der Auslegung von Mt 9,9–13 und der dortigen Verwendung von Hos 6,6 in diesem Kapitel gesehen haben, auch für den Evangelisten eine hervorgehobene Rolle: Die Nachfolger Jesu sollen sich durch Barmherzigkeit auszeichnen und darin Gott nachahmen. Wir dürfen deshalb auch in Mt 12,1–8 voraussetzen, dass die Barmherzigkeitsforderung an die Pharisäer als Forderung zur imitatio Dei zu verstehen ist: Der in göttlicher Vollmacht agierende Menschensohn (V. 8), der Herr über den Sabbat ist, verkörpert und fordert Barmherzigkeit. Das aber heißt: Für die Rabbinen und für den Evangelisten ist der überrechtliche Weg des Erbarmens, den die Menschen einschlagen sollen, der Weg, den

690 Grözinger, Middat ha-din, 105. 691 Grözinger, Middat ha-din, 110. 692 Die weit verbreitete Übersetzung des rabbinischen terminus technicus ‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫ לִ פְ נִ ים ִמ‬mit „innerhalb der Rechtslinie“ scheint uns missverständlich. Wörtlich wäre die Wendung eher mit „jenseits der Linie des Rechts“ wiederzugeben, was sich in der Rede Grözingers vom „überrechtliche[n] Verfahren“ (Middat ha-din, 104) oder auch der Aussage Müllers widerspiegelt, dass ‫„ חֶ סֶ ד‬die Linie des gesetzten Rechts [übersteigt]“ (Diakonie, 220; Müller, Diakonie, 220, trifft diese Aussage im Blick auf die ‫צְ דָ קָ ה‬, die nach rabbinischem Verständnis diese Eigenschaft mit ‫ חֶ סֶ ד‬teile). 693 Grözinger, Middat ha-din, 104. 694 Grözinger, Middat ha-din, 113. 695 Vgl. Wick, Antithesen, 162–166. 696 Vgl. Grözinger, Middat ha-din, 114.

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Gott gegenüber seinen Geschöpfen einschlägt. Barmherzigkeit orientiert sich am Verhalten Gottes selbst.697 Wir gehen also davon aus, dass der matthäische Jesus in Mt 12,5–7 – phänomenologisch betrachtet – rabbinisch und d. h. auch: für seine Gegner verständlich, argumentiert.698 Das gilt, wie wir gesehen haben, auch dann, wenn Jesus in seiner Interpretation über die halachische Ebene hinausgeht. Dass Jesus – im genannten Sinne – rabbinisch argumentiert, zeigt sich auch in seiner Verwendung des qal waḥomer Arguments in V. 6, dem wir uns im Folgenden ausführlich zuwenden wollen.699

2.3.3.2 Mt 12,5–7: Ein valider qal wa-ḥomer-Schluss? Bereits in der Diskussion der Argumente der Vertreter eines Jesus-Bezugs des μεῖζον (V. 6) wurde deutlich, dass ihre christologische Interpretation des Komparativs quer zur Bestimmung von V. 6 als Schluss vom Kleineren aufs Größere steht, weil sie Form und Inhalt gegeneinander stellt: Die gegenüber dem Tempel größere Autorität Jesu lässt sich nämlich nach Auffassung Hills und Gundrys weder mit der Schrift noch mit schriftgelehrter Argumentation belegen. Formal würde der matthäische Jesus also eine schrifthermeneutische Regel anwenden, um inhaltlich etwas zu beweisen, das sich von der Schrift her nicht belegen lässt und von ihr her auch nicht belegt werden soll. Die Argumente, die gegen eine solche Sichtweise in Anschlag gebracht wurden, müssen hier nicht wiederholt werden. Stattdessen soll ein Beitrag eines jüdischen Forschers diskutiert werden, der die These eines JesusBezugs des μεῖζον teilt: Unter der Voraussetzung, dass das Größere, von dem V. 6 697 „Hier wird ein Gottesbild entworfen, wie es menschlicher nicht sein könnte, menschlich im Sinne der Rabbinen. Die Rabbinen gestalten ein Gottesbild nach dem Bilde des Menschen, damit der Mensch ein Mensch im Bilde Gottes sein könne, ein Mensch, dessen Gerechtigkeit nicht im Hangen an einem Prinzip sich erweist, sondern am konkreten Überwinden des nur nach dem Rechte, aber auch im Rechte, Handelns“ (Grözinger, Middat ha-din, 114). 698 Wie beim Terminus Halacha (vgl. oben im Text Abschnitt 2.3.3.1) gilt es also auch im Blick auf die Einordnung einer Auslegung(smethode) als rabbinisch zwischen der Sache selbst und der erst ab einem bestimmten Zeitpunkt greifbaren Terminologie zu unterscheiden: Historisch betrachtet kann der matthäische Jesus nicht rabbinisch argumentieren, weil es das rabbinische Judentum noch nicht gibt. Von der Sache her aber ist die rabbinische Auslegungsmethode des Schlusses vom Kleineren aufs Größere, qal wa-ḥomer, bereits voll da. 699 Luz, Matthäus Bd. 2, 231, spricht sehr vorsichtig von einer „Art Qal-Wachomer-Schluß“. Von einem qal wa-ḥomer Argument sprechen auch Luck, Matthäus, 145, und Mayer-Haas, Geschenk, 448. Ähnlich vorsichtig wie Luz spricht Doering im Blick auf das in den V. 5–6 vorgetragene Argument von einer „starke[n] Ähnlichkeit mit der rabbinischen Ausformung“ des „im mediterranen Raum verbreitet[en]“ Arguments a minori ad maius (Schabbat, 435), Birger Gehardsson davon, dass „[t]he argument is a conclusion of the qal-waḥomer type“ (Sacrifical Service, 28). Auch Oliver geht von einer oberflächlichen Ähnlichkeit des vom matthäischen Jesus vorgetragenen Arguments mit einem qal wa-ḥomer -Schluss aus (vgl. Oliver, Torah Praxis, 97), auch wenn er mit Cohn-Sherbok die Validität des Arguments bestreitet (vgl. ebd., 97 mit Anm. 62).

238 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 spricht, der Menschensohn (V. 8) und damit Jesu selbst ist, hat Dan M. CohnSherbok nachzuweisen versucht, dass hier kein valider rabbinischer Schluss vom Kleineren aufs Größere vorliegt.700 Wie wir noch sehen werden, besteht sein Hauptargument in der nicht gegebenen Vergleichbarkeit der Opferdarbringung der Priester mit dem Ährenraufen der Schüler Jesu, die für ein valides qal wa-ḥomer Argument Voraussetzung sei. Anhand der Diskussion dieser in sich schlüssigen Position wird gezeigt werden, dass ein ἔλεος-Bezug des μεῖζον zwar nicht die Handlungen der Priester und der Schüler, wohl aber die Opferdarbringung und die von den Pharisäern geforderte Barmherzigkeit als gottesdienstliche Handlungen zueinander in Beziehung setzt. Für diese Interpretation spielt die Rezeption von Hos 6,6 in ARN 4 (A) eine wichtige Rolle, zeigt sie doch, dass ein Verständnis von Barmherzigkeit als gottesdienstliche Handlung möglich ist. In einem Beitrag im Journal for the Study of the New Testament hat der bereits genannte Cohn-Sherbok nachzuweisen versucht, dass sich der matthäische Jesus weder in Mt 12,3–4 eines Analogieschlusses (gezera shawa) noch in Mt 12,5–6 eines validen Schlusses a fortiori (qal wa-ḥomer) im Sinne der für die rabbinische Tradition maßgeblichen dreizehn hermeneutischen Regeln Rabbi Ishmaels bedient. Uns interessiert an dieser Stelle ausschließlich Cohn-Sherboks Annahme, in den V. 5– 6 liege kein gültiger Schluss vom Kleineren aufs Größere vor.701 Cohn-Sherbok beschreibt den formalen Aufbau eines rabbinischen Schlusses a fortiori in impliziter Anlehnung an Mielziner702 folgendermaßen: „Logically every kal vechomer has three propositions, of which two are the premises, and one the conclusion. The first premise states that two things A and B stand to each other in the relation of major and minor importance. The second premise states that with one of these two things, A, a certain restrictive or permissive law is connected. The conclusion is that the same law is applicable to the other thing, B“703. Im Blick auf die Frage, ob in Mt 12,5–6 ein Schluss vom Kleineren aufs Größere vorliegt, besteht das Hauptargument Cohn-Sherboks in der nicht gegebenen Vergleichbarkeit zwischen dem Ährenraufen der Schüler Jesu und dem Dienst der Priester im Tempel, die aber Voraussetzung für eine valide qal wa-ḥomer Argumentation sei: „What is clear, however, is that, unlike the priests, Jesus’ disciples were not engaged in any form of religious observance, nor were they serving Jesus by plucking ears of grain. They were simply concerned to satisfy their own hunger. Thus, since B (the greater; J.-C. M) has nothing to do with service to Jesus, Temple observances and the disciples plucking grain on the Sabbath cannot legitimately be compared in the first premise of a kal vechomer, and this renders Jesus’ inference invalid“704. 700 Cohn-Sherbok, Plucking of Grain, 36–40. 701 Interessanterweise wird in der neutestamentlichen Forschung in der Regel auf Cohn-Sherbok verwiesen und gleichzeitig weiter von einem Schluss vom Kleineren aufs Größere geredet. 702 Vgl. Mielziner, Introduction, 132. 703 Cohn-Sherbok, Plucking of Grain, 37. 704 Cohn-Sherbok, Plucking of Grain, 39. Vgl. auch folgende Aussage Cohn-Sherboks, die sein Hauptargument auf den Punkt bringt: „Similarly, in the case of Jesus, priestly obligations in

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

239

Diese Ausführungen Cohn-Sherboks machen deutlich, dass die Bedingungen für ein valides qal wa-ḥomer Argument aufgrund der fehlenden Gemeinsamkeit der beiden Bezugsgrößen, die in einem Verhältnis von „größer“ und „kleiner“ zueinander stehen, nicht erfüllt sind: Beim Ährenraufen der Schüler Jesu handelt es sich um keinen gottesdienstlichen Akt.705 Im Falle eines qal wa-ḥomer Schlusses müsste die Vergleichbarkeit nach Auffassung Cohn-Sherboks also nicht nur im Blick auf den Tempel und Jesus als Orte der Gottespräsenz, sondern vor allem im Blick auf die Handlungen der Priester und der Schüler Jesu gegeben sein, was sie aber auf den ersten Blick nicht ist: Die für den Verfasser des Matthäusevangeliums relevante Parallelität zwischen den Priestern und den Schülern Jesu besteht darin, dass beide Gruppen trotz Übertretung der Sabbatvorschriften „unschuldig“ sind (Mt 12,5.7), nicht aber in einer Vergleichbarkeit zwischen dem Ährenraufen und der Opferdarbringung. Kurzum: Die nicht vorhandene Vergleichbarkeit der Handlungen der Priester und der Schüler Jesu stellt die Annahme eines validen qal waḥomer Arguments in Frage. Es dürfte deutlich geworden sein, dass auch eine christologische Interpretation von V. 6 nicht von der Frage nach der Vergleichbarkeit zwischen dem Ährenraufen der Schüler Jesu und der Opferdarbringung der Priester dispensiert. Eine Verschiebung des Problems auf das Verhältnis von V. 5 und V. 6 unter Inkaufnahme eines logischen Bruchs ist zwar möglich, aber nicht wirklich befriedigend: Wie also ist mit der nicht gegebenen Vergleichbarkeit der Tätigkeiten der Schüler Jesu und der Priester umzugehen? Zur Beantwortung dieser Frage ist noch einmal kurz auf die von uns vertretene Annahme zurückzukommen, dass der Evangelist auf formaler Ebene die Legitimation des Ährenraufens über die in V. 5 und V. 7 vorliegende Gewichtung von Geboten gewinnt und beide Hierarchisierungsvorgänge durch den Schluss vom Kleineren aufs Größere miteinander verbindet: So wie die Opferdarbringung über das Ruhegebot am Sabbat regiert, so regiert auch die Barmherzigkeit, die größer ist als der Tempel(kult), über das Ruhegebot am the Temple and the actions of his disciples are radically dissimilar, and cannot legitimately be compared“ (ebd.). Saldarini bemerkt karikierend: „If Jesus is greater than the Temple, then the disciples might be justified in serving him the way priests serve the Temple. But the disciples serve themselves in their hunger; they do not feed Jesus“ (Matthew’s Christian-Jewish Community, 130). 705 Dieser Sachverhalt ist für Doering das ausschlaggebende Argument für den ἔλεος-Bezug des μεῖζον. Nachdem er festgestellt hat, dass der „Testfall für jede Auslegung … die Interpretation von V.6 [ist], da diese nach den soeben geäußerten Bemerkungen über die redaktionelle Anfügung von V.5–7 dem Argument dieser Verse im ganzen nicht im Weg stehen darf“ (Schabbat, 433), fährt er fort: „Letzteres tritt ein, wenn man den Vers unmittelbar christologisch versteht. Denn dann hätte man aus der Regel ‚sabbatlicher Tempeldienst verdrängt den Sabbat‘ (vgl. V.5) und der Aussage ‚hier ist Größeres als der Tempel‘ (V.6) entweder zu folgern, daß der Dienst der Jünger an Jesus zur Sabbatübertretung ermächtigt, was unmöglich hier gemeint sein kann, oder aber anzunehmen, daß V.6 den Rahmen der Argumentation … sprengt, was für einen geschlossenen Gedankengang, der der Mk-Fassung eine überzeugendere Begründung anfügen soll, unwahrscheinlich wäre“ (Schabbat, 433f.). Vgl. auch die Diskussion christologischer Deutungen von V. 6 bei Doering, Schabbat, 433 Anm. 196.

240 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Sabbat. Hier gibt es zwar auf den ersten Blick keine Vergleichbarkeit zwischen den Handlungen der Schüler Jesu und der Priester, wohl aber zwischen der Opferdarbringung und der von den Pharisäern geforderten Barmherzigkeit, die durch das komparativisch zu verstehende Hoseazitat parallelisiert und gewichtet werden. Diese Parallelisierung und Gewichtung setzt einen Vergleichspunkt zwischen der Barmherzigkeit und der Opferdarbringung voraus, auf dessen Grundlage dann gewichtet werden kann. Dieser Vergleichspunkt ist u. E. die gottesdienstliche Dimension beider Handlungen: Die Liebestätigkeit bzw. der Barmherzigkeitserweis und die Opfer(darbringung) gestalten das Verhältnis zu JHWH, dem Gott Israels. Der von Cohn-Sherbok angemahnte Vergleichspunkt zweier Größen, die in einem qal wa-ḥomer Schluss als Größeres und Kleineres in Beziehung zueinander gesetzt werden, wäre also bei unserer Interpretation gegeben. Allerdings verschiebt sich in der von uns vorgeschlagenen Interpretation der Fokus von den Schülern Jesu, um deren Unschuld es dem Verfasser des Matthäusevangeliums zu tun ist (Mt 12,7), auf die Pharisäer, von denen der matthäische Jesus Barmherzigkeit gegenüber seinen Schülern fordert. Es geht also gar nicht um den nichtkultischen Gottesdienst der Schüler Jesu, sondern um denjenigen der Pharisäer: Sie sollen ihre Barmherzigkeit darin erweisen, dass sie die Schüler Jesu für das Ährenraufen am Sabbat nicht verurteilen. In ihrer so gearteten Zuwendung zu den Hungernden würden sie Gott ein nichtkultisches Opfer darbringen. So verstanden stellt also die Unschuld der Schüler Jesu die Kehrseite der Barmherzigkeitsforderung an die Pharisäer dar.706 Wenn die Pharisäer darin Barmherzigkeit zeigen sollen, dass sie das Ährenraufen der Nachfolger Jesu nicht verurteilen, dann ist damit zugleich die Unschuld der Schüler Jesu in ihrem Tun vorausgesetzt. Die Vergleichbarkeit der Unschuld der Schüler Jesu und der Priester in ihrem jeweiligen Tun ist also vermittelt über die gegenüber den Pharisäern erhobene Forderung nach Barmherzigkeit. Die Argumentation in Mt 12,5–7 verläuft also folgendermaßen:

 

a) Die Priester sind unschuldig, weil sie durch die von der Tora gebotene Opferdarbringung (Num 28,9–10) am Sabbat Gott dienen, auch wenn sie dabei das Arbeitsverbot (Ex 20,10; Dtn 5,14) missachten. b) Die Schüler Jesu sind unschuldig, weil Barmherzigkeit inhaltliches Kriterium der Herrschaft des Menschensohns über den Sabbat ist.

706 Anthony Saldarini hingegen parallelisiert das Ährenraufen der Schüler Jesu mit dem Handeln der Priester. So geht er davon aus, dass „Jesus’ disciples pick grain to assuage human hunger and thus obey the commandment of mercy“ (Matthew’s Christian-Jewish Community, 129). Die Schüler Jesu nehmen sich also aktiv, was ihnen der barmherzige Gott gerade am Sabbat gewährt, das zum Leben Notwendige. Sie sind barmherzig gegenüber sich selbst. So interessant dieser Gedanke auch ist, wird er u. E. der in Mt 12,5–7 vorliegenden Logik nicht gerecht.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

241

c) Die Pharisäer wären – wie die Priester (V. 5) – unschuldig, wenn sie die Schüler Jesu für das Ährenraufen nicht verurteilen und sich so als barmherzig erweisen würden. Barmherzigkeit wird somit in Analogie zur Opferdarbringung als gottesdienstliche Handlung, als nichtkultisches Opfer verstanden.707 Wie gesagt: Ganz glatt verläuft die Argumentation hier nicht. Sie ist aber im Gegensatz zur Annahme eines Jesus-Bezug des μεῖζον, im Rahmen dessen das Problem der nicht vorhandenen Vergleichbarkeit zwischen den Tätigkeiten der Schüler Jesu und der Priester dadurch gelöst wird, dass man den matthäischen Jesus mit der Schrift argumentieren lässt, um das Verhalten seiner Schüler dann doch mit der angeblich über der Schrift stehenden Autorität Jesu zu rechtfertigen, von einer weitaus größeren Plausibilität geprägt, die im Rahmen einer Schrifthermeneutik bleibt, wie sie für das 1. Jahrhundert n. Chr. vorstellbar ist. Wir gehen also davon aus, dass die Pharisäer mit den Priestern vergleichbar wären, wenn sie Gott durch ihre am Nächsten geübte Liebestat (konkret: die Nicht-Verurteilung des Äh707 Die in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagene Annahme einer Funktionsäquivalenz von Opfer und Barmherzigkeit respektive das Verständnis der Barmherzigkeit als Opfer findet sich bereits in einem von Birger Gerhardsson verantworteten und 1974 in der Festschrift für L. Morris veröffentlichten Beitrag (Gerhardsson, Sacrifical Service). In diesem Beitrag verbindet Gerhardsson nicht nur die in Hos 6,6 genannten Opfer mit dem Tempeldienst (und damit Mt 12,7 mit den beiden vorangehenden Versen), sondern er interpretiert den Terminus ἔλεος in Analogie zu den von den Priestern im Tempel dargebrachten Opfern: „It seems to me indubitable that the comparison here is between two kinds of worship: the latreia which the priests perform in the temple, and the latreia in which Jesus and his disciples are engaged. These two kinds of service are more closely defined in the Hosea quotation which follows: ‘I desire mercy (ἔλεος) and not sacrifice (θυσία)’. That which is being contrasted here is, on the one hand, the outward sacrifical service, and, on the other, the perfect spiritual sacrifice that Jesus and his disciples are offering and which is characterized by ‘mercy’“ (Sacrifical Service, 28). In dieser Aussage stellt Gerhardsson zu Recht den Gottesbezug der Barmherzigkeit heraus: Die Barmherzigkeit gilt als spirituelles Opfer Gott selbst. Allerdings verkennt Gerhardsson, dass die Barmherzigkeit auf der Erzählebene von den Pharisäern gefordert wird und dass das Ährenraufen der Schüler Jesu schlechterdings nicht als spirituelles Opfer gedeutet werden kann (die an die Pharisäer gerichtete Barmherzigkeitsforderung gilt natürlich auf der Leserebene auch der Jesus nachfolgenden Gemeinde). Entscheidender aber ist ein weiterer Aspekt. Indem Gerhardsson den Tempelgottesdienst der Priester als allein auf den äußeren Vollzug fokussierten versteht („outward sacrifical service“), während Barmherzigkeit für den Evangelisten ein vollkommenes spirituelles Opfer („perfect spiritual sacrifice“) darstelle, verstellt er sich den Blick auf die Funktionsäquivalenz der Opfer und der Barmherzigkeit, die für die Argumentation des matthäischen Jesus bzw. des Evangelisten entscheidend ist. Dem Verfasser des Matthäusevangeliums ist es nicht um eine Kritik des Tempelgottesdienstes zu tun, auch wenn er ἔλεος gegenüber der kultischen Opferdarbringung priorisiert. In diese Richtung weist auch das oben zur Funktion eines rabbinischen Schlusses vom Kleineren aufs Größere Gesagte: Das Größere partizipiert an der Würde des Kleineren und wird von diesem her legitimiert. Es geht hier nicht so sehr um die Differenz, sondern um die Gemeinsamkeiten. Wir teilen also mit Gerhardsson das Verständnis der Barmherzigkeit als Gott dargebrachtes Opfer, verstehen aber die Differenz so, dass sich mit dem Tempel und dem bedürftigen Mitmenschen zwei unterschiedliche Orte der Gottesgegenwart gegenüberstehen, von denen der Evangelist den einen gegenüber dem anderen priorisiert (vgl. Mt 5,21–26).

242 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 renraufens) dienen und ihm auf diese Weise ein nichtkultisches Opfer darbringen würden. Der Evangelist konzeptualisiert Barmherzigkeit als gottesdienstliche Handlung. Auch wenn unsere Argumentation mit der angesprochenen Fokusverschiebung von den Schülern Jesu auf die Pharisäer verbunden ist und die Unschuld der Schüler als Kehrseite der Barmherzigkeitsforderung an die Pharisäer in den Blick gerät, zeigt sich gegen die Annahme Cohn-Sherboks, dass der matthäische Jesus ein valides qal wa-ḥomer Argument vorträgt. Es ist wie folgt gestaltet:

 

1. Prämisse: Barmherzigkeit (als gottesdienstlicher Akt) ist größer als die Opferdarbringung (Hos 6,6). 2. Prämisse: Der Opferdienst am Tempel (Num 28,9–10) regiert über das Arbeitsverbot am Sabbat (Ex 20,10; Dtn 5,14). 3. Schlussfolgerung: Barmherzigkeit regiert über das Arbeitsverbot.708

 

Der so geartete Schluss vom Kleineren aufs Größere setzt für die V. 5–7 zwei parallel verlaufende Sinnlinien voraus, die Ausdruck der Einheitlichkeit der Argumentation sind:

 

1. Sinnlinie: 2. Sinnlinie:

Priester – Opfer – Tempel (Gottesgegenwart) Pharisäer – Barmherzigkeit (nichtkultische Opfer) –Hungernde (Gottesgegenwart)

 

Unsere Interpretation von Mt 12,1–8 abschließend werden im Folgenden die bisherigen Ergebnisse zusammengefasst und ausgewertet sowie die Rezeption von Hos 6,6 in Mt 12,7 mit der Rezeption in ARN 4 (A) verglichen.

2.3.4 Auswertung: Hos 6,6 in Mt 12,7 und ARN 4 (A) Die hier vorgeführte Analyse von Mt 12,1–8, insbesondere der vom Verfasser des Matthäusevangeliums verantworteten V. 5–8, hat folgende Ergebnisse zu Tage gefördert: 1. Die Hinzufügung der Aussage, dass die Schüler Jesu Hunger hatten und aßen (V. 1), dient nicht nur der formalen Angleichung an die V. 3–4, sondern schlägt darüber hinaus einen Bogen zur Argumentation der V. 5–7. Mit dem Hoseazitat in V. 7 fordert der matthäische Jesus die Pharisäer auf, das der Sättigung dienende Ährenraufen seiner Schüler nicht zu verurteilen, und sich auf diese Weise ihnen gegenüber barmherzig zu erweisen. Barmherzigkeit besteht hier konkret in der

708 Ähnlich Doering, Schabbat, 434.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

243

Nicht-Verurteilung derjenigen, die Hunger haben und deswegen das Arbeitsverbot am Sabbat brechen. Als geschöpfliches Grundbedürfnis legitimiert de Hunger den Sabbatbruch. 2. Die V. 5–7 bilden einen in sich geschlossenen Zusammenhang. Das neutrische μεῖζον (V. 6) bezieht sich auf das neutrische ἔλεος des Hoseazitats (V. 7). Während der ebenfalls aus Hos 6,6 stammende Begriff θυσία (V. 7) eine Sinnlinie mit dem Tempel (V. 5.6) und den Priestern (V. 5) bildet, und so auf formaler und inhaltlicher Ebene V. 5 und V. 6f. miteinander verbindet, verbindet ἔλεος V. 6 und V. 7. Diese doppelte Verbindung spricht gegen eine Interpretation des Hoseazitats losgelöst von seinem engeren Kontext, wie sie u. a. von John Nolland und David Hill vorgeschlagen wird.709 Die anlogen Sinnlinien lauten:

 

Priester – Opfer – Tempel (als Ort der Gottesgegenwart) Pharisäer – Barmherzigkeit (als nicht-kultisches Opfer) – die Hungernden (als Ort der Gottesgegenwart) 3. Der ἔλεος-Bezug von μεῖζον kann nun seinerseits nicht gegen die christologische Dimension der Barmherzigkeit ausgespielt werden. So ist V. 8 durch γάρ eng mit dem vorangehenden Kontext verbunden und legitimiert die Aussage von V. 7, von der her das in V. 8 angeführte Herr-Sein des Menschensohns über den Sabbat seine inhaltliche Füllung gewinnt: Barmherzigkeit wird zum entscheidenden Kennzeichen der messianischen Herrschaft Jesu bzw. der Nähe des Himmelreichs. Es gibt eine wechselseitige Bezogenheit der Barmherzigkeit und des Menschensohnes. 4. Der Evangelist legt in den V. 5–7 ein valides qal wa-ḥomer Argument vor, dass wie folgt aufgebaut ist:

 

A) Barmherzigkeit ist größer als der Tempel(gottesdienst). B) Die Opferdarbringung der Priester am Sabbat (Num 28,9f.) regiert als (gegenüber der Barmherzigkeit) Kleineres über das Arbeitsverbot am Sabbat (Ex 20,10; Dtn 5,14). (Die Priester, die am Sabbat am Tempel Opfer darbringen und damit den Sabbat profanisieren, sind unschuldig.) C) Deshalb gilt: Als Größeres regiert auch die Barmherzigkeit, die „mehr“ ist als die Opfer (Hos 6,6), über das Arbeitsverbot am Sabbat. (Diejenigen, an denen Barmherzigkeit geübt wird, sind ebenso unschuldig wie diejenigen, die Barmherzigkeit üben.)

 

709 Zur Auseinandersetzung mit Nolland und Hill vgl. Abschnitt 2.3.2 in diesem Kapitel.

244 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 Das so geartete qal wa-ḥomer Argument setzt voraus, dass der Evangelist die von den Pharisäern geforderte Barmherzigkeit und die Opferdarbringung miteinander in Beziehung setzt und nicht in erster Linie die Tätigkeit der Schüler Jesu mit der der Priester vergleicht. Die Pharisäer wären wie die Priester unschuldig, wenn sie die Schüler Jesu nicht verurteilen würden. In diesem Falle wäre ihre Barmherzigkeit ein nichtkultisches Opfer. Tertium comparationis des (von den Pharisäern verweigerten) Barmherzigkeitserweises und der Opferdarbringung aber ist die Gottesgegenwart im Tempel und der Zuwendung zum Nächsten. Die Unschuld der Schüler Jesu (V. 7), die diese mit den Priestern verbindet (V. 5), ist über die gegenüber den Pharisäern erhobene Forderung nach Barmherzigkeit vermittelt. 5. In semantischer Hinsicht versteht der Verfasser den Terminus ἔλεος im Sinne eines konkreten Liebeswerkes: Den Hungernden ist mit Barmherzigkeit zu begegnen, sei es, dass ihnen Nahrung gegeben wird (Mt 25,35.37), sei es, dass ihnen erlaubt wird, sich auch am Sabbat selbst zu versorgen (Mt 12,1–8). Barmherzigkeit ist in beiden Fällen ein gottesdienstlicher Akt: Während sich auf der Erzählebene von Mt 12,1–8 die Pharisäer den Schülern Jesu gegenüber als barmherzig erweisen und darin Gott selbst dienen sollen, werden diejenigen, die sich gegenüber ihren Nächsten als barmherzig erwiesen haben, erkennen, dass sie im Nächsten dem wiederkehrenden Menschensohn selbst gedient haben (Mt 25,31–46). Vergleichbar mit diesem Verständnis von ἔλεος als Barmherzigkeitserweis wird sein hebräisches Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬in ARN 4 (A) als Liebeswerke (gemilut hassadim) gedeutet. Derjenige, der sie übt, gibt sich Gott selbst hin.710 6. Für das in den Punkten 1–5 skizzierte Verständnis der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 in Mt 12,5–7 ist die im engeren Sinne verstandene gottesdienstliche Dimension der Barmherzigkeit maßgeblich. Die Gottesgegenwart wird dabei aus dem kultischen Kontext auf die zwischenmenschlichen Beziehungen übertragen und mit ihnen verschränkt. Wie die qal wa-ḥomer Argumentation zeigt, erhält die Barmherzigkeit ihre Legitimation als nichtkultisches Opfer auf Grundlage der Würde der Opfer, an deren Aussetzung des Sabbatgebots sie partizipiert. Die so geartete Interpretation von Hos 6,6 teilt Mt 12,5–7 mit der in ARN 4 (A) vorliegenden Tradition, in der Rabbi Jochanan ben Zakkai seinen Schüler Josua angesichts des Verlustes des Tempels mit dem Verweis auf die Liebeswerke tröstet: Barmherzigkeit bzw. Liebeswerke fungieren in beiden Fällen insofern als Opferäquivalent, als mit ihnen das wesentliche Charakteristikum der Opfer verbunden ist: Sie werden in der Gegenwart Gottes dargebracht und dienen der Gestaltung der Gottesbeziehung. Für dieses Verständnis von Hos 6,6 ist entscheidend, dass der Terminus ἔλεος in erster Linie die Gottesbeziehung im Blick hat, darüber hinaus aber auch für die zwischenmenschlichen Beziehungen transparent ist. Der Evangelist und sein rabbinisches Pendant greifen dieses Oszillieren der Barmherzigkeit zwischen 710 Vgl. Müller, Diakonie, 179.

2.3 Hos 6,6 in Mt 12,5–7 unter besonderer Berücksichtigung von ARN 4 (A)

245

den beiden Beziehungsebenen auf und verschränken die Gott-Mensch-Beziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. 7. Der Schluss vom Kleineren aufs Größere dient in erster Linie dem Ausweis dessen, dass Barmherzigkeit an der partiellen Aussetzung des Arbeitsverbots am Sabbat partizipiert. Demgegenüber ist die Differenz zwischen Barmherzigkeit und Opferdarbringung zwar vorausgesetzt, sie ist aber nicht Ziel des Gedankengangs. Das „Mehr“ der Barmherzigkeit wird nicht näher erläutert. Dennoch deutet sich in Mt 12,5–7 an, worin dieses „Mehr“ nach Auffassung des Evangelisten besteht: Es besteht in einem Verhalten, das Gottes Zuwendung zu seiner Schöpfung nachahmt (Hos 6,6 verankert Barmherzigkeit im Willen Gottes selbst) und das insofern über die halachische Ebene der Torainterpretation und einem dieser Ebene entsprechenden Handeln hinausgeht: Die Zuwendung Gottes ist kein Rechtsakt, sondern ein Akt der Gnade, auf den die Menschen keinen Anspruch haben. Gleiches gilt für diejenigen, die dieses Handeln Gottes imitieren: Barmherziges Handeln ist überrechtlicher Natur (bei Hos 6,6 handelt es sich nicht um ein Gebot der Tora als Gesetz), wobei die halachische Ebene der Torainterpretation, wie der qal wa-ḥomer Schluss in aller Deutlichkeit zeigt, nicht unterminiert wird. Das „Mehr“ der Barmherzigkeit besteht also in einem „Auf-Grundlage-Von-Darüber-Hinausgehen“. In diesem Sinne ist Barmherzigkeit Leitkriterium der Torainterpretation Jesu (vgl. die Kommentarworte Jesu [Mt 5,21–48]). Das Hinausgehen über die grundlegende halachische Ebene impliziert im Umkehrschluss auch, dass der matthäische Jesus hier weder eine halachische Ausnahmeregelung noch eine konkrete Handlungsanweisung formuliert.711 Seine Torainterpretation geht über das hinaus, was auf der Rechtsebene gefordert werden kann. Eine solches Verfahren nennt die erst später greifbare rabbinische Literatur ‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫„( לִ פְ נִ ים ִמ‬jenseits der Linie des Rechts“).712 Es kommt als mögliche Parallele zur Toraauslegung Jesu in Mt 12,5–7 bzw. Mt 5,21–48 in Betracht.713 8. Im Blick auf die Gemeinsamkeiten und Differenzen von Mt 12,5–7 zu der in ARN 4 (A) Rabbi Jochanan ben Zakkai zugeschriebenen Tradition sticht vor allem die strukturanaloge Gedankenführung heraus: Die in ARN 4 (A) implizite Logik, die es ermöglicht, die Liebeserweise (gemilut hassadim) als Ort der Gottesbegegnung zu profilieren, legt der Evangelist in Mt 12,5–7 durch den qal wa-ḥomer Schluss mit eigener Akzentsetzung offen: Das Größere, die Barmherzigkeit, gewinnt die Würde vom Kleineren, der Opferdarbringung, her. Unbeschadet dessen, dass die Liebeserweise in ARN 4 (A) nicht als größer als die Opferdarbringung verstanden werden, gewinnen sie auch hier ihre Würde von der Opferdarbringung her. Auf Grundlage dieser Profilierung der Barmherzigkeit als gottesdienstlicher Akt wird 711 Vgl. Doering, Schabbat, 435. 712 Dieser terminus technicus für eine über die formale Rechtsebene hinausgehende Torainterpretation wird aus Ex 18,20 abgeleitet (vgl. bBM 30b). Vgl. hierzu Anm. 831. 713 Vgl. Wick, Antithesen, 162–166.

246 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 sie dann in einem zweiten Schritt in Mt 12,5–7 gegenüber der Opferdarbringung priorisiert. Ein letztes: Wir haben die grundlegenden Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen ARN 4 (A) und Mt 12,5–7 hinsichtlich ihres Verständnisses von Hos 6,6 vor allem in Punkt (6) und Punkt (8) bereits herausgestellt. Vergleichbar ist der Rückgriff auf den Hoseavers auch in historischer Hinsicht: Er erfolgt sowohl im Falle des Matthäusevangeliums als auch im Falle von ARN 4 (A) in der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels durch die Römer. Dass in beiden Fällen der Barmherzigkeit (ἔλεος/gemilut hassadim) grundlegende Bedeutung für die Gestaltung des Gottesverhältnisses zugeschrieben wird, dürfte deshalb kein Zufall, sondern vielmehr Ausdruck einer großen Nähe der matthäischen Gemeinde zum sich neu formierenden Judentum sein. Im Matthäusevangelium ist allerdings von dieser grossen Nähe nichts zu spüren. So stilisiert der Evangelist die für das zeitgenössische Judentum transparenten Pharisäer als Gegner Jesu par excellence: Sie verweigern sich der Aufforderung Jesu, zu lernen (Mt 9,13), und verstehen dementsprechend nicht (Mt 12,7), was Hos 6,6 sagt. Kurz nach der Episode mit dem Ährenraufen beschließen die Pharisäer, Jesus zu töten (Mt 12,14). Wir verstehen die Negativzeichnung der Pharisäer als Ausdruck einer Polemik, die sich aus einer großen Nähe und den Enttäuschungen beidseitiger Abgrenzungen ergeben hat. Im Rahmen dieser Polemik reklamiert der Evangelist strukturell und inhaltlich Verbindendes wie das aus Hos 6,6 gewonnene Verständnis der Barmherzigkeit als gottesdienstlicher Akt und die damit eng verbundene Verschränkung der Gott-Mensch-Beziehung und den zwischenmenschlichen Beziehungen für sich und seine Gemeinde.

2.4

Zur Übersetzung von Hos 6,6 bei Matthäus

Wir haben bereits Übersetzungen zu den drei Stellen, an denen der Verfasser des Matthäusevangeliums das Substantiv ἔλεος einfügt bzw. verwendet, geboten.714 An dieser Stelle ist abschließend der Frage nachzugehen, wie eine angemessene Übersetzung des Hoseaverses im Matthäusevangelium unter Berücksichtigung der besonderen Beziehung zwischen der Barmherzigkeit und der Opferdarbringung, wie sie in diesem Kapitel erarbeitet wurde, aussehen könnte. Es ist das Verdienst Christoph Landmessers, die Frage nach einer angemessenen Übersetzung des Begriffs ἔλεος im Matthäusevangelium aufgeworfen zu haben. Landmesser geht von der auch in der vorliegenden Arbeit vertretenen An-

714 Die Übersetzung von Mt 9,9–13 findet sich zu Beginn des Abschnitts 2.2.1, die Übersetzung von Mt 12,1–8 zu Beginn des Abschnitts 2.3 und die Übersetzung von Mt 23,23 zu Beginn des Abschnitts 2.5.

2.4 Zur Übersetzung von Hos 6,6 bei Matthäus

247

nahme aus, dass „ἔλεος als Zuwendung … zwei miteinander verbundene Komponenten [hat]: die Zuwendung zu Gott und die damit verbundene Zuwendung zu den Sündern, denen die Zuwendung Gottes gilt“715. Auf Grundlage dieser zwei Dimensionen von ἔλεος kritisiert er Übersetzungen dieses Terminus, die seine Bedeutung auf die Zuwendung zum Mitmenschen beschränken und so die göttliche Dimension ausblenden: „Die verbreitete Übersetzung des Begriffs ἔλεος mit ‚Barmherzigkeit‘ oder ‚Erbarmen‘ greift im Kontext von Mt 9,13 zu kurz, weil diese Ausdrücke die Umfassendheit von ἔλεος bzw. ‫ חֶ סֶ ד‬nicht erreichen. ἔλεος ist nach Hos 6,6 und auch in Mt 9,13 weit mehr als das Erbarmen gegenüber den Sündern. Dies ist es nach Mt 9,13 auch, aber eben nicht nur.“716 Wir stimmen Landmesser grundsätzlich darin zu, dass Übersetzungen, die allein die zwischenmenschliche Dimension des Begriffes ἔλεος zum Klingen bringen, zu kurz greifen. In Analogie zur Verwendung des hebräischen Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬in Hos 6,6 umfasst auch der griechische Terminus ἔλεος in Mt 9,13 und Mt 12,7 für den Verfasser des Matthäusevangeliums auch und gerade die Zuwendung zu Gott. Allerdings schlagen wir anders als Landmesser als Übersetzung von ἔλεος (als Teil von Hos 6,6) den Begriff „Hingabe“ vor, was der in diesem Kapitel begründeten Annahme entspricht, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums ἔλεος in Mt 9,13 und Mt 12,7 als gottesdienstlichen Akt profiliert und eine Funktionsäquivalenz zwischen ἔλεος und Schlachtopfer insinuiert.717 Wenn aber für den Evangelisten die barmherzige Zuwendung zum Nächsten metaphorisch zugleich ein Gott dargebrachtes Opfer darstellt und er an anderen Stellen seines Evangeliums das Gott auf dem Schlachtopferaltar Dargebrachte als Gabe (τὸ δῶρoν) bezeichnen kann (Mt 5,23– 34; vgl. Mt 15,5), dann legt sich eine Wiedergabe von ἔλεος mit Hin-Gabe durchaus nahe: In ihr klingt die kultische Dimension der Ethik an. Wird ferner berücksichtigt, dass der Stellenwert der Beziehung zu Gott in Hos 6,6 selbst und auch in dessen Einspielung in Mt 9,13 und Mt 12,7 durch die ἔλεος-Forderung nicht unterlaufen wird, legt sich folgende, in Bibelübersetzungen aber nur schwer zu realisierende Wiedergabe von ἔλεος in Mt 9,13 und Mt 12,7 nahe: Hier stehen sich die „Hingabe an Gott in der Beziehung zum Nächsten“ (ἔλεος) und die „Hingabe an Gott im Kult“ (θυσία) gegenüber.

715 Landmesser, Jüngerberufung, 128. 716 Landemesser, Jüngerberufung, 128–129. 717 Vgl. die Interpretation der beiden Stellen in Abschnitt 2.2 und Abschnitt 2.3.

248 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6

2.5

Der matthäische Dreiklang gelingender Sozialität: Recht, Barmherzigkeit und Treue (Mt 23,23)

Die letzte Stelle, an der der Verfasser des Matthäusevangeliums das Substantiv ἔλεος verwendet, findet sich in der Rede Jesu gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt 23,1–39), deren zweiter Teil (23,13–36) durch sieben Weherufe strukturiert ist. Der vierte Weheruf lautet: (23) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, denn ihr verzehntet die Minze und den Dill und den Kümmel und lasst die gewichtigeren Bestimmungen des Gesetzes, das Recht und das Erbarmen und die Treue außer Acht. Dieses aber wäre zu tun und jenes nicht außer Acht zu lassen. (24) Ihr blinden Wegführer, die ihr die Mücke aussiebt, das Kamel aber verschluckt!“ Drei Aspekte scheinen für unsere Fragestellung nach dem Bedeutungsgehalt von ἔλεος relevant: 1. Wie in Mt 9,9–13 und Mt 12,1–8 führt der matthäische Jesus das Substantiv ἔλεος in einer Auseinandersetzung mit den Pharisäern im Munde und spricht ihnen ab, der Barmherzigkeit den ihr zukommenden Stellenwert einzuräumen. Diejenigen, die der Aufforderung „hinzugehen und zu lernen“ (9,13), was die Aussage aus Hos 6,6, bedeutet, nicht gefolgt sind (Mt 12,7), verstehen es nicht, die Gebote der Tora angemessen zu gewichten. 2. Wie in Hos 6,6 werden auch in Mt 23,23 auf den Tempel bezogene rituelle und ethische Vorschriften in ein hierarchisches Verhältnis von gewichtigen und – relativ gesehen – weniger gewichtigen Geboten gesetzt. Sprachlich kunstvoll und in polemischer Absicht stehen sich die Dreierreihen Recht, Barmherzigkeit und Treue und Minze, Dill und Kümmel gegenüber, deren von der Mischna gebotene Verzehntung (mMaas 1,1)718 dem Unterhalt von Priester und Leviten dient.719 Dem komparativischen Verständnis der antithetischen Aussage: „Barmherzigkeit will ich keine Opfer“ (Hos 6,6) in Mt 9,13 und Mt 12,7 entspricht die Aufforderung, auch die relativ betrachtet weniger gewichtigeren Gebote zu halten (vgl. Mt 5,18–19).

718 mMaas 1,1 lautet: „Alles, was zur Speise dient, aufbewahrt wird und aus der Erde wächst ist zehntpflichtig“ (Übersetzung Bunte); zum Kümmel vgl. mDem 2,1, zum Dill mMaas 4,5. Die Rabbinen weiten damit die biblischen Gebote zur Verzehntung von Getreide und Baumfrüchten (Lev 27,30) bzw. von Getreide, Wein und Öl (Dtn 14,22–23) auf Gartenkräuter aus. 719 Matthias Konradt, Matthäus, 361, weist zurecht darauf hin, dass der Evangelist die Abgabe des alle drei Jahre fälligen Armenzehnts (Dtn 14,28f; 26,12f) „als soziale Errungenschaft“ (ebd.) außer Betracht lässt.

2.5 Der Dreiklang gelungener Sozialität (Mt 23,23)

249

3. Die Dreierreihe Recht, Barmherzigkeit und Treue stellt wie bereits die Goldene Regel in Mt 7,12 oder auch das Doppelgebot der Liebe in Mt 22,37–40 eine Zusammenfassung der Tora dar und erinnert an prophetische Aussagen, die Recht und Erbarmen (vgl. z. B. Mi 6,8; Sach 7,9, Hos 12,7; Jer 9,23; Ps 88,15 LXX; 100,1) bzw. Erbarmen und Treue einander zuordnen (vgl. z. B. Gen 24,49; 47,29; Jos 2,14; Spr 14,22; 16,6; 20,6). 3.1 Das erste Substantiv der Dreierreihe, κρίσις, dürfte dem hebräischen ‫ ִמ ְשׁפָּט‬entsprechen und abstrakt die Rechtsnorm im Blick haben,720 die sich in einzelnen Rechtsbestimmungen (‫ ) ִמ ְשׁפָּטִ ים‬konkretisiert. Dass der Evangelist beim Begriffs κρίσις an das gerechte Urteil im Gericht (so Eßer)721 oder an Rechtsanspruch der Einzelperson denkt (so Luz)722, ist gut möglich, dürfte wahrscheinlich aber schon zu spezifisch gedacht sein. Möglich wäre auch, dass die Erwähnung des Rechts hier auf ein konkretes, an den Satzungen der Tora orientiertes Handeln zielt. In diesem Sinne spricht Mi 6,8 LXX, eine Stelle auf die fast in allen Kommentaren als Parallele zu der Dreierreihe in Mt 23,23 verwiesen wird, vom Recht-Tun (τοῦ ποιεῖν κρίμα) und stellt dieses neben das Lieben der Barmherzigkeit. Wir halten die Wiedergabe von κρίσις mit „Recht“, die auch die meisten Übersetzungen bieten, für angemessen, da Recht als abstrakter Oberbegriff offen für konkretere semantische Inhalte ist, die der Begriff umfasst. 3.2 Worin die Barmherzigkeit, die an zweiter Stelle innerhalb der Dreierreihe genannt wird, konkret besteht, wird nicht näher erläutert. Hier kommen im Rückblick auf 9,13 und 12,7 und vor allem im Vorausblick auf Mt 25,31–46 die konkreten Liebeserweise in Betracht,723 zu denen auch die Sozialität wieder neu ermöglichende Sündenvergebung zählt (9,9–13). Es wäre aber auch zu überlegen, ob die Reihenfolge Recht und Barmherzigkeit dem von uns im ersten Kapitel erarbeiteten Verständnis einer auf der Grundlage des Rechts über dieses hinausgehenden Barmherzigkeit entspricht. Dann wäre auch in Mt 23,23 der Differenz zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit bei ihrer gleichzeitigen Bezogenheit aufeinander Rechnung getragen. Barmherzigkeit unterminiert das Recht nicht, sondern geht über es hinaus. 3.3 Das dritte Substantiv der Dreierreihe, πίστις, dürfte in Mt 23,23 nicht den Glauben, sondern die Treue724 meinen und könnte gezielt ans Ende der Reihe gesetzt 720 Wiefel, Matthäus, 403, geht davon aus, dass κρίσις „nicht nur Rechtsprechung, sondern auch Gerechtigkeit“ meint, also die abstrakte Norm im Blick hat. 721 Eßer, Art. Barmherzigkeit/ἔλεος, 113. 722 Luz, Matthäus Bd. 3, 332. 723 So z. B. Ulrich Luz, Matthäus Bd. 3, 332. Fiedler, Matthäusevangelium, 353, versteht ἔλεος im Sinne mitmenschlichen Verhaltens. 724 Anders Davies und Allison, Matthew Bd. 3, 294, die ihr Verständnis von πίστις als Glaube („faith“) damit begründen, dass der Evangelist den Begriff sonst nirgends im Sinne von Treue („faithfulness“) versteht und das dritte Glied der parallelen Reihung in Mi 8,6, dass sie

250 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 werden sein. Die sozialen Gebote der Tora, die die Dreierreihe im Blick hat, zielen im Verständnis des Evangelisten auf eine Gemeinschaft, die sich auf Recht gründet, die aber in der strikten Anwendung des Rechts nicht bestehen kann und immer wieder darauf angewiesen ist, dass neben dem Recht auch Barmherzigkeit (Rechtsverzicht) geübt wird. Wir haben bereits an verschiedenen Stellen gesehen, dass der Barmherzigkeit im Unterschied zum Recht der Aspekt der Freiwilligkeit innewohnt.725 Barmherzigkeit ist nicht justitiabel. Aus diesem Grund ist sie auf Verlässlichkeit und Treue angewiesen. Wir verstehen die Dreierreihe Recht, Barmherzigkeit und Treue also als Zusammenfassung dessen, wie solidarisches Zusammenleben gelingt, als Dreiklang von Sozialität. Allerdings lässt sich unser Verständnis des Begriffes πίστις als zwischenmenschliche Treue nicht gegen einen Bezug auf Gott ausspielen. Was für die zwischenmenschliche Barmherzigkeit gilt, gilt auch für die Treue: In der zwischenmenschlichen Treue zeigt sich die Treue gegenüber Gott.726 Dieses in diesem knapp gehaltenen Abschnitt erarbeitetes Verständnis des Begriffes ἔλεος fügt sich gut zu unseren bisherigen Beobachtungen.

2.6

Hos 6,6 als hermeneutischer Schlüssel zur matthäischen Version des Doppelgebots der Liebe (Mt 22,34–40)

Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Hos 6,6 (Mt 9,13; 12,7) und dem Doppelgebot der Liebe (Mt 22,34–40) bedarf einer eingehenderen Begründung. Ein solcher Zusammenhang drängt sich zumindest auf den ersten Blick nicht von selbst auf: So verweist der Evangelist in Mt 22,34–40 weder direkt noch indirekt auf Hos 6,6, obwohl ihm die kultkritische Aussage seiner Markusvorlage (12,33) dazu eine Möglichkeit geboten hätte. Dennoch finden sich in den Kommentaren vereinzelt Verweise auf Mt 9,13 und Mt 12,7, die allerdings eher Nebenaspekte der Interpretation von Mt 22,34–40 betreffen.727 So sieht Ulrich Luck eine Parallele der genannten Stellen darin, dass keine von einer Reaktion der Pharisäer berichtet.728

725 726 727 728

als engste Parallele heranziehen, die Gottesbeziehung im Blick habe (καὶ ἕτοιμον εἶναι τοῦ πορεύεσθαι μετὰ κυρίου θεοῦ σου). Vgl. vor allem Abschnitt 1.1.1.3 im ersten Kapitel der Arbeit. Vgl. Frankemölle, Matthäus Bd. 2, 376. In folgenden Kommentaren findet sich kein Hinweis auf das Hoseazitat: Davies/Allison, Matthew Bd. 3; Fiedler, Matthäusevangelium; Luz, Matthäus Bd. 3. Vgl. Luck, Matthäus, 244.

2.6 Hos 6,6 als hermeneutischer Schlüssel zum Doppelgebot der Liebe

251

Joachim Gnilka hingegen stellt das Doppelgebot der Liebe in eine Reihe mit „andere[n] summierende[n] Formeln der Ethik“729, zu denen er nicht nur das Hoseazitat zählt, sondern auch die in Mt 23,23 vorliegende Trias „Recht, Erbarmen und Treue“.730 Der Frage nach einem Zusammenhang dieser ethischen Formeln geht er allerdings nicht nach.731 Er belässt es vielmehr mit dem Hinweis darauf, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums dem Doppelgebot der Liebe gegenüber den anderen Formeln höchste Priorität einräumt.732 Und während Wolfgang Wiefel in seinen Ausführungen zur letzten Aussage der Perikope, Gesetz und Propheten hingen am Doppelgebot der Liebe (22,40), in einer Klammer auf Hos 6,6 hinweist,733 stellt John Nolland in einer Fußnote unter Auflistung von Mt 5,7; 9,13; 27,36; 12,7; 14,14; 15,22.32, 18,27.33; 20,30–31.34 und 23:23 fest, dass „[t]o the direct language of love must be added at least the language of compassion and mercy“734. Aber auch Nolland macht die von ihm angeführten Stellen, die wie das Hoseazitat von der Barmherzigkeit sprechen, nicht für die Interpretation der Gottes- und Nächstenliebe fruchtbar. Anders verhält es sich mit dem Matthäuskommentar von Matthias Konradt. Konradt zufolge „entspricht“ die Gleichordnung der Gottes- und Nächstenliebe in Mt 22,34–40 „der im Mt vorangehenden Betonung der barmherzigen Zuwendung zum Mitmenschen (9,13; 12,7)“735. Wie auch die folgenden, im selben Kontext gemachten Ausführungen zeigen, identifiziert Konradt die als Gottesliebe verstandene Nächstenliebe gewissermaßen mit der Barmherzigkeit. So führt er das, was Liebe zu Gott und Liebe zum Mitmenschen für den Evangelisten bedeuten, vor allem anhand der ἔλεος-Stellen des Matthäusevangeliums (9,13; 12,7; 23,23) aus: „Aus dem weiteren Kontext ist dabei evident, dass sich die Liebe zu Gott für Matthäus nicht in der Verschärfung der Reinheitsregeln (15,1–20), der rigorosen Observanz von Sabbatbestimmungen (12,1–14) oder der Extensivierung der Verzehntung (23,23) realisiert, sondern im Tun des göttlichen Willens, der zentral in der Barmherzigkeitsforderung besteht, so dass Gottes- und Nächstenliebe, sowenig sie einfach identisch sind, nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Und da die Gleichordnung der Nächstenliebe eben die vorangehende Betonung der Barmherzigkeit aufnimmt, schwingt in Jesu Antwort zugleich der Vorwurf mit, dass die Pharisäer der Nächstenliebe nicht den ihr gebührenden Rang einräumen (vgl. zu 729 730 731 732 733 734 735

Gnilka, Matthäusevangelium Bd. 2, 262. Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium Bd. 2, 262. Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium Bd. 2, 262. Vgl. Gnilka, Matthäusevangelium Bd. 2, 262. Vgl. Wiefel, Matthäus, 389. Nolland, Matthew, 912 Anm. 112. Konradt, Matthäus, 349. Ähnlich sieht es Christoph Burchard, wenn er im Rahmen seiner grundlegenden Untersuchung zum doppelten Liebesgebot schreibt: „Was das Liebesgebot faktisch leisten muß, geht aus anderen Stellen hervor. In Gestalt von Hos 6,6 LXX ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν hat Matthäus es in 9,13 in die Perikope vom Zöllnergastmahl und in 12,7 in die Geschichte vom Ährenraufen am Sabbat eingefügt. Das Liebesgebot begründet die Kritik am Zeremonialgesetz“ (Liebesgebot, 25).

252 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 5,43–48; 9,13; 12,7; 23,23).“736 Diese Äußerungen Konradts legen nicht nur eine weitgehende Identität von Nächstenliebe und Barmherzigkeit nahe, sondern sie implizieren darüber hinaus, dass das Gegenüber von Barmherzigkeit und kultischrituellen Geboten auch für die Verhältnisbestimmung von Gottes- und Nächstenliebe relevant ist. So stehen die Reinheitsvorschriften, die Sabbatbestimmungen und die Bestimmungen zur Verzehntung (als im weitesten Sinne den Kult betreffende Vorschriften), in denen sich auch – anders als Konradts etwas überzeichnende Formulierung nahelegt – der Wille Gottes manifestiert, der Barmherzigkeitsforderung gegenüber, die in der Beziehung zum Nächsten umgesetzt werden soll. Inwiefern die Opposition Barmherzigkeit – Kult einen hermeneutischen Schlüssel zur Gleichordnung von Gottes- und Nächstenliebe darstellt und so über Konradt hinaus für die Verhältnisbestimmung von Gottes- und Nächstenliebe fruchtbar gemacht werden kann, wird weiter unten gezeigt werden. Entscheidend aber ist vorerst der Zusammenhang des im Kontext der Frage nach dem höchsten Gebot nicht angeführten Hoseazitats und dem Doppelgebot der Liebe, den Konradt in seinem Kommentar seinen Lesern in aller Deutlichkeit vor Augen führt: Neben den drei ἔλεος-Stellen 9,13, 12,7 und 23,23 sind es nur noch die mit den Pharisäern geführte Auseinandersetzung um die Reinheitsvorschriften (Mt 15,1–20) und das Feindesliebegebot der Bergpredigt (5,43–48), die nach Konradts Auffassung den Sinn des Doppelgebots der Liebe erschließen helfen. Wir halten diesen Interpretationsansatz, das Doppelgebot der Liebe konsequent von den ἔλεος-Stellen des Matthäusevangeliums her zu interpretieren, für wegweisend, geht es doch auch in Hos 6,6 im Rahmen der Opposition Kult – Ethik um das Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe.737 Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe findet sich in Mt 22,34–40. Ein Vergleich mit den synoptischen Parallelen zeigt vor allem einen weitreichenden „atmosphärischen“ Unterschied: Während in Mk 12,28–34 der Schriftgelehrte dem von Jesus formulierten Doppelgebot der Liebe mit den Worten: „Schön, Lehrer, du hast recht geredet“ (V. 32) zustimmt und in Lk 10,25–28 selbst die Zusammengehörigkeit von Gottes- und Nächstenliebe herausstellt,738 qualifiziert der Verfasser des Matthäusevangeliums die Frage des nur hier der Gruppe der Pharisäer zugeordneten Gesetzeslehrers nach dem größten Gebot als versucherische: καὶ ἐπηρώτησεν εἷς ἐξ αὐτῶν [νομικὸς] πειράζων αὐτόν (V. 35).739 Die Pharisäer beabsichtigen also, Jesus durch die Frage, welches das größte Gebot sei, in eine Falle zu locken. Nicht der Konsens, sondern der Dissens Jesu mit seinen Gegnern steht in 736 Konradt, Matthäus, 350. 737 Darüber hinaus wären neben Mt 23,23 auch Stellen wie Mt 5,7; 5,23–24; 6,12.14–15 und Mt 18,23–35 bei der Interpretation des Doppelgebots der Liebe heranzuziehen, geht es doch auch in ihnen um eine Verschränkung der Beziehung zu Gott und der Beziehung zum Mitmenschen. 738 Dafür lobt ihn der lukanische Jesus (Lk 10,28). 739 Auch im Lukasevangelium „versucht“ (ἐκπειράζω) ein Gesetzeslehrer Jesus (Lk 10,25), allerdings entwickelt sich hier ein Lehrgespräch zwischen beiden Akteuren.

2.6 Hos 6,6 als hermeneutischer Schlüssel zum Doppelgebot der Liebe

253

der matthäischen Version im Vordergrund. Die Klassifizierung der Frage als versucherischer zeigt dabei auch, dass die vom matthäischen Jesus in seiner Antwort vorgenommene explizite Gleichstellung von Gottes- und Nächstenliebe (Mt 22,39), die Mt 22,34–40 von den synoptischen Parallelen unterscheidet, an den Kern des Konflikts zwischen Jesus und den Pharisäern rührt. Der matthäische Jesus und die Pharisäer sind uneins über die Relevanz der Nächstenliebe in ihrem Verhältnis zur Gottesliebe. Dass das Verhältnis zwischen Gottes- und Nächstenliebe zwischen Jesus und den Pharisäern umstritten ist, zeigt sich nirgends so deutlich wie in den matthäischen ἔλεος-Aussagen, insbesondere im redaktionellen Zitat Hos 6,6. Davon geht auch Matthias Konradt aus.740 Allerdings greifen seine Ausführungen in einem wesentlichen Punkt zu kurz. So zieht Konradt zwar Mt 9,13; 12,7 und 23,23 zur Auslegung von Mt 22,34–40 heran, ohne allerdings die in Hos 6,6 vorgegebene Opposition Barmherzigkeit – Opfer/Kult für die Interpretation wirklich fruchtbar zu machen. Er lässt damit den hermeneutischen Schlüssel zur Begründung der Gleichstellung von Nächstenliebe und Gottesliebe liegen. U. E. aber liefert das Hoseazitat den entscheidenden Hinweis darauf, wie der Verfasser des Matthäusevangeliums einerseits die Gottesliebe als höchstes und erstes Gebot hervorheben und gleichzeitig die Nächstenliebe diesem gleichstellen kann. Auf den ersten Blick liegt in dieser Gleichordnung unter Beibehaltung der Priorität des Gebots der Gottesliebe ein Paradox vor, das in den meisten Fällen mit dem Hinweis darauf, es sei dem Evangelisten um die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe zu tun, übergangen wird.741 Der Aspekt der Gleichstellung wird betont, die Vorrangstellung der Gottesliebe als erstes und größtes Gebot hingegen nur selten beachtet. In diesem Sinne hält auch Konradt die Gleichordnung für „die Pointe der mt Version“742, ohne der Frage nachzugehen, wie sich dazu die Überordnung der Gottesliebe als erstes und höchstes Gebot verhält. Es soll deshalb im Folgenden gezeigt werden, wie unter Berücksichtigung von Hos 6,6 und der dortigen Opposition: Hingabe an Gott in der Beziehung zum Nächsten und Hingabe an Gott im Kult, das Paradox der Vorrangstellung des Gebotes der Gottesliebe bei gleichzeitiger Gleichstellung der Nächstliebe mit diesem Gebot einer Erklärung zugeführt werden kann. Bei unserer Interpretation von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7 konnten wir zeigen, dass die Aussage von Hos 6,6 dem Evangelisten zufolge lautet: Die Gottesbeziehung wird vor allem in der Beziehung zum Mitmenschen gelebt. Von entscheidender Bedeutung für dieses Verständnis von Hos 6,6 hat sich dabei die Aufwertung der Beziehung zum Mitmenschen von der (kultischen) Gottesbeziehung her 740 Vgl. Konradt, Matthäus, 350. 741 Die Formel, auf die Wiefel dieses Paradox bringt, ohne es als ein solches zu benennen und ihm nachzugehen, lautet: „trotz … Unterschiedenheit gegebene Gleichrangigkeit“ (Matthäus, 389). Neben Christoph Burchard, Liebesgebot, 25, betont Renate Kirchhoff explizit den paradoxen Charakter der Hierarchisierung und Gleichstellung der Gebote: „Mt bezeichnet das Gottesliebegebot als das größte und erste … Gebot (Mt 22,38); das ist ein Rang, den logisch nur ein einziges Gebot einnehmen kann“ (Biblische Grundlegung, 51). 742 Konradt, Matthäus, 350.

254 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 erwiesen: Unter der Voraussetzung, dass der Kult der Ort der Gottesgegenwart ist und die Opfer der Gestaltung der Gottesbeziehung dienen, werden die Gottesgegenwart und die verschiedenen Funktionen der Opferdarbringung auf die Beziehung zum Nächsten übertragen und sogar priorisiert. Es ist diese dem Kult und der Beziehung zum Nächsten gemeinsame Gottesgegenwart, die der Evangelist in Mt 22,34–40 aktiviert und die es ihm ermöglicht, das Gebot der Gottesliebe als erstes zu qualifizieren und das Gebot der Nächstenliebe diesem gleichzustellen. Die Nächstenliebe ist als Ort der Gottesgegenwart und der Hingabe an Gott der Gottesliebe gleich. Kurzum: Dem Ausweis der Barmherzigkeit als vornehmsten Ort der Gottesbeziehung in der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7 entspricht die Gleichstellung der Nächsten- mit der Gottesliebe in Mt 22,34–40. Diese Begründung der Gleichordnung von Gottes- und Nächstliebe geht über die weit verbreite Annahme, es sei dem Verfasser des Matthäusevangeliums um die intrinsische Verknüpfung von Religiosität und Ethik zu tun, hinaus.743 Sie erklärt, wie es dazu kommen kann, dass der matthäische Jesus die Bedeutung des Gebots der Gottesliebe betonen und gleichzeitig die Nächstenliebe diesem größten und ersten Gebot gleichordnen kann. Diese Gleichordnung unterläuft nur dann den Stellenwert der Gottesliebe nicht, wenn Gott im Nächsten geliebt wird, Nächstenliebe also nicht wie alle anderen Gebote auch einfach Ausdruck der Gottesliebe, sondern sich selbst Gott hingebende Liebe ist. Nur wenn die Hingabe an den Nächsten zugleich Hingabe an Gott ist, bleibt das erste Gebot das erste. Vergleichbar mit dem matthäischen Verständnis von Hos 6,6, dem zufolge die Barmherzigkeit ihre Aufwertung von der Opferdarbringung her erfährt, erfährt auch das Gebot der Nächstenliebe vom Gottesliebegebot her seine Aufwertung, weshalb dieses wirklich das erste und das höchste ist.744 Nochmals: Weil sich der Mensch in der Hingabe an den Nächsten Gott selbst hingibt, weil Gott im Nächsten ist, ist die Nächstenliebe der Gottesliebe gleich.745 743 Vgl. dazu die Diskussion weiter unten im Text. 744 Es ist zwar richtig gesehen, dass die Gottesliebe Voraussetzung der Nächstenliebe ist und insofern von ihr unterschieden werden muss (so auch Luz, Matthäus Bd. 3, 283, und Zahn, Matthäus, 637), nur hilft diese Erklärung nicht weiter. Sie warnt vor der Verschmelzung von Gottes- und Nächstenliebe, ohne aber erklären zu können, warum die Gleichrangigkeit der Nächstenliebe die Gottesliebe nicht unterläuft. 745 Zur Recht verweisen Davies und Allison im Rahmen eines Überblicks über die im Laufe der Theologiegeschichte gegebenen Antworten auf die Frage, wie das Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe genau zu bestimmen sei, auf Mt 25,31–46: „[T]here is some sense in which, according to Matthew, God is in others. Especially striking is 25.31–46. In this Jesus, the functional presence of God (cf. 18.20; 28.20), is the direct recipient of acts of love done to others: ‘as you did it unto the least of these …’. Service of neighbour is service of Christ, which means service of God. Chrysostom was right: ‘to love God is to love one’s neighbour’ (Hom. on Mt. 71.1). We recall the agraphon: ‘You have seen your brother; you have seen God’“ (Davies/Allison, Matthew Bd. 3, 244). Wir halten diesen Verweis auf Mt 25,31–46 für hilfreich, fügen aber sogleich hinzu, dass, wie bereits oben dargestellt, auch das Hoseazitat (zumindest) in seiner matthäischen Rezeption nicht nur den Stellenwert der Beziehung zum Nächsten aufzeigt, sondern diesen Wert aus der Funktionsäquivalenz von Barmherzigkeit

2.6 Hos 6,6 als hermeneutischer Schlüssel zum Doppelgebot der Liebe

255

Die von uns vorgeschlagene Interpretation löst also das Problem, wie das Gebot der Gottesliebe auch bei Gleichordnung der Nächstenliebe das erste und größte Gebot bleiben kann. Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Problem häufig übergangen wird. So belassen es viele Exegeten dabei, die Gleichrangigkeit des Gebotes der Nächstenliebe mit dem Gebot der Gottesliebe herauszustellen. Hinter dieser Aufwertung der Nächstenliebe tritt die Qualifikation der Gottesliebe als erstes und höchstes Gebot zurück. So spricht, wie wir bereits gesehen haben, Konradt von der Gleichordnung beider Gebote als „Pointe der mt Version“746 und unterstreicht die Bedeutung der Nächstenliebe noch durch den Hinweis darauf, dass gegenüber Mt 7,12 das Gottesliebegebot zum Nächstenliebegebot hinzutritt.747 In ähnlicher Weise richten auch Davies/Allison und Gnilka den Fokus auf die Einheit, Gleichheit und Untrennbarkeit beider Gebote. So mündet die Feststellung, dass „Jesus, although asked for the greatest commandment, answers with two which are inextricable“748, bei Davies/Allison etwas später in die Aussage: „Their equality reflects their unity“749. Und Gnilka hält zum Verhältnis von Gottesliebe und Nächstenliebe fest: „Zunächst sind Gottes- und Nächstenliebe gleichrangig. Dies muß man auch als Ausdruck ihrer Untrennbarkeit nehmen. Der Jünger kann diese beiden sein Leben bestimmenden Orientierungen nicht voneinander ablösen“750. All diese Äußerungen treffen einen wichtigen Punkt, der sich auch von der matthäischen Rezeption von Hos 6,6 her nahelegt: Gottesliebe und Nächstenliebe sind untrennbar miteinander verknüpft, sie können und sollen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Allerdings können diese Aussagen letztendlich nicht erklären, wie die Gottesliebe das erste und höchste Gebot bleiben kann. Sie fokussieren ausschließlich auf die Aufwertung und Gleichstellung der Nächstenliebe. Umgekehrt finden sich in der Forschungsliteratur vereinzelt Versuche, der Bezeichnung der Gottesliebe als erstes und höchstes Gebot Rechnung zu tragen. So

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748 749 750

und Opferdarbringung gewinnt: Weil Barmherzigkeit nach Auffassung des Evangelisten ein Gott dargebrachtes Opfer darstellt, gibt sich derjenige, der sich dem Nächsten hingibt, Gott hin. Vom Aussagegehalt her liegt Mt 25,31–46 auf einer Linie. Konradt, Matthäus, 350. Etwas anders gelagert sind die Ausführungen Burchards zur Stelle. Burchard betont im Gegensatz zu Konradt den Rang des Gottesliebegebots als erstes und höchstes, geht dann aber wie Konradt davon aus, dass es dem Evangelisten um die Gleichstellung des Nächstenliebegebots mit dem Gebot der Gottesliebe zu tun ist. Anders als Konradt benennt er dabei das Paradox, lässt es aber als solches stehen: „Obwohl das Gebot der Liebe zu Gott das größte und erste ist, und nur eins kann das sein, ist das Gebot der Liebe zum Nächsten ihm gleich. Hier liegt also der Ton. Damit ist angedeutet, was der Leser schon Matthäus’ vorherigen Äußerungen zum Gesetz entnehmen mußte: die beiden Liebesgebote sind nicht nur Hauptsätze oder Summe des Gesetzes, sondern insbesondere das Gebot der Nächstenliebe ist dessen hermeneutisches Prinzip und kritischer Kanon. Durch ihn und erst durch ihn ermöglicht Jesus die gesetzestreue Gerechtigkeit, die besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer“ (Liebesgebot, 25). Davies/Allison, Matthew Bd. 3, 243. Davies/Allison, Matthew Bd. 3, 243. Gnilka, Matthäusevangelium Bd. 2, 261.

256 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 spricht John Nolland in seiner Auslegung von V. 38 zu Recht von der Priorität des Gebots der Gottesliebe.751 Er will in der Gleichstellung des zweiten Gebots mit dem ersten nur eine „formale Ähnlichkeit“ sehen, die eine Verbindung zwischen beiden nahelege: „Mark’s δευτέρα αὕτη … becomes δευτέρα ὁμοία αὐτῇ … In the first instance he (Matthew; J.-C. M) is probably marking formal similarity and then, via the interpretive view of the day that formal similarity invites connection, the suggestion is being made that these two commandments belong together in their claims on humanity. The ‘second’ is, thus, second in importance only to the greatest commandment“752. Beide Gebote werden nach Nolland also vom Evangelisten deswegen miteinander verknüpft, weil sie in zwei unterschiedlichen Bereichen die ersten sind: Das Gottesliebegebot regiert die Bestimmungen, die den Gottesdienst betreffen, das Nächstenliebegebot die Bestimmungen, die die Beziehung zum Mitmenschen tangieren. Formal vergleichbar sind beide Gebote in einer solchen Sichtweise in ihrer Vorrangstellung gegenüber anderen Geboten, ohne dass die Stellung des Gottesliebegebots als Hauptgebot in Frage gestellt würde. Nolland gelingt es mit dieser Interpretation, die Priorität des Gottesliebegebots zu wahren, allerdings zu dem Preis, dass er die Aussage über die Gleichheit beider Gebote auf die formale Überordnung über andere Gebote beschränkt und damit die Gleichordnung beider Gebote unterminiert. Das Nächstenliebegebot bleibt das zweite. Ähnlich wie Nolland hatte bereits Theodor Zahn die Vorrangstellung des ersten vor dem zweiten Gebot betont: „Gleichartig ist dieses (das Gebot der Nächstenliebe; J.C. M) dem ersten, sofern es wie jenes aufrichtige Liebe fordert und das Gesamtverhalten des Menschen bestimmen will, so daß seine Erfüllung 7,12 als Inbegriff aller Forderungen des AT’s bezeichnet werden konnte. Aber das erste Gebot bleibt das der Gottesliebe, weil Gott dem Israeliten nicht nur höher, sondern trotz seiner Unsichtbarkeit auch näher steht, als der Mitmensch, und weil die Liebe zu Gott eine Quelle ist, aus welcher die Nächstenliebe fließt, nicht umgekehrt“753. Anders als Nolland verweist Zahn auf inhaltliche Gemeinsamkeiten – in beiden Liebesgeboten gehe es um den ganzen Menschen, die die Gleichstellung von Gottes- und Nächstenliebe aufzeigen solle. Aber auch Zahn geht von der Priorität der Gottesliebe aus und verliert dabei die Gleichordnung aus dem Blick. Auch Ulrich Luz insinuiert eine Vorrangstellung des Gottesliebegebots, wenn er in seiner durch Leitfragen strukturierten Zusammenfassung der Auslegung von Mt 22,34–40 im Blick auf das Gebot der Gottesliebe festhält, dass „die Beziehung zu Gott nicht einfach in der Beziehung zu den Mitmenschen aufgeht, sondern sie begründet und trägt“754. Dieser Hinweis von Luz aber macht die Frage nur umso dringlicher, warum die Unterschiedenheit und die damit einhergehende Überordnung der Gottesliebe durch die Gleichheit der Gebote nicht in Frage gestellt wird bzw. wie die Priorisierung der

751 752 753 754

Vgl. Nolland, Matthew, 911. Nolland, Matthew, 911–912. Zahn, Matthäus, 637. Luz, Matthäus Bd. 3, 283.

2.6 Hos 6,6 als hermeneutischer Schlüssel zum Doppelgebot der Liebe

257

Gottesliebe und die Gleichordnung der Nächstenliebe zusammengedacht werden können. Es dürfte deutlich geworden sein, dass in der neutestamtlichen Forschung entweder die Einheit und Gleichheit des Nächstenliebe- mit dem Gottesliebegebot oder aber (seltener) die Vorrangstellung des Gottesliebegebots vor dem Gebot der Nächstenliebe betont wird. Hier muss offensichtlich eine Entscheidung für das eine oder das andere getroffen werden. Unsere Interpretation vermag sowohl der Überordnung des Gebots der Gottesliebe als erstem und höchstem Gebot als auch der Gleichordnung beider Gebote Rechnung zu tragen. Indem der Verfasser des Matthäusevangeliums anknüpfend an seine Rezeption von Hos 6,6 die Beziehung zum Mitmenschen zum vornehmsten Ort der Gestaltung der Gottesbeziehung macht (Gott im Nächsten)755, stellt er die Nächstenliebe der Gottesliebe gleich. Als Gottesliebegebot ist das Gebot der Nächstenliebe dem Gebot der Gottesliebe gleichgeordnet, ohne dass das Gebot der Gottesliebe seinen Rang als Hauptgebot verliert. Hos 6,6 verbietet also für den Evangelisten nicht nur das Gegeneinander-Ausspielen von Kult und Ethik, sondern weist die Beziehung zum Mitmenschen als Ort der Gottespräsenz aus. So verstanden wird Hos 6,6 zum hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis der auf den ersten Blick paradoxen Verhältnisbestimmung des Gottesliebe- und des Nächstenliebegebots in Mt 22,34–40: Die Gottesliebe ist das höchste Gebot und die als Ort der Gottesbeziehung konzeptualisierte Beziehung zum Nächsten ist diesem Gebot gleich. Das johanneische „Das Wort ward Fleisch“ (Joh 1,14) lautet im Matthäusevangelium: Christus begegnet im Nächsten (Mt 25,31–46). Interessanterweise wendet sich Victor P. Furnish bei seiner Besprechung des Liebesgebots im Matthäusevangelium Mt 22,34–40 kaum zu. Er beginnt vielmehr mit einer Besprechung der Perikope über den reichen Jüngling (Mt 19,16–30),756 bei der er die Verschränkung von Nächstenliebe und Taten der Barmherzigkeit für wesentlich hält757 und mündet in eine Interpretation der Parabel von den Schafen und Böcken (Mt 25,31–46), zu der er programmatisch festhält: „Matthew’s love ethic finds no better summary than that afforded by these verses.“758 Liebe und Taten der Barmherzigkeit fallen hier nach Auffassung Furnishs ebenso zusammen wie Gottesliebe und Nächstenliebe miteinander verschränkt werden: „In Matthew service of the neighbor is not just analogous to the service of God, but it is in itself God’s service. The love ethic in Matthew is emphatically christological – not just because Jesus commands love, but because the service love renders the neighbor is 755 Der Nächste wird dabei nicht divinisiert. Die Parabel vom Weltgericht (Mt 25,31–46) bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck: In der Beziehung zum Nächsten, in der der Bruder als Bruder geliebt wird, kommt es zur Begegnung mit dem Menschensohn selbst, wobei dies erst in der Retrospektive deutlich wird. 756 Vgl. Furnish, Love Command, 74–75. 757 Der vom Jüngling geforderte Verkauf seines Besitzes zu Gunsten der Armen ist nach Furnish identisch mit der Nächstenliebe (vgl. Furnish, Love Command, 75). 758 Furnish, Love Command, 83.

258 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 service to the Lord Christ“759. Wir halten diese Einsichten von Furnish im Großen und Ganzen für zutreffend.760 Allerdings helfen unsere Beobachtungen zum Verständnis und zur Relevanz von Hos 6,6 im Matthäusevangelium, sie auf eine noch breitere Basis zu stellen: So ist das Doppelgebot der Liebe nicht in erster Linie von Mt 25,31–46 her zu erklären, sondern vom matthäischen Verständnis von Hos 6,6 her: Die Verschränkung von Gottesliebe und Nächstenliebe, wie wir sie in Mt 22,34–40 oder auch in Mt 25,31–46 finden, läuft im Matthäusevangelium über das Hoseazitat und den in ihm vorkommenden Terminus ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος, dessen semantischer Gehalt zwischen Hingabe an Gott und Hingabe an den Mitmenschen oszilliert.

2.7

Bündelung der Ergebnisse: Barmherzigkeit als gottesdienstliche Handlung und hermeneutisches Prinzip

Zum Abschluss dieses Kapitels sollen die wesentlichen Ergebnisse unserer Untersuchung zur Bedeutung des Terminus ἔλεος im Matthäusevangelium (Mt 9,13; 12,7; 23,23) in Form einer Synthese zusammengeschaut und gebündelt werden. Angesichts der bereits erfolgten ausführlichen Zusammenfassungen der Ergebnisse der Interpretation von Hos 6,6 in seinen matthäischen Kontexten lässt sich eine gewisse Wiederholung nicht vermeiden. Dennoch sei an dieser Stelle ausdrücklich auf diese Zusammenfassungen verwiesen.761

759 Furnish, Love Command, 81. 760 Allerdings stellt sich uns die Frage, ob im Blick auf die rabbinische Tradition in der Tat eine Differenz dahingehend vorliegt, dass diese „nur“ von einer Analogie menschlichen und göttlichen Handelns spricht (so Furnish, Love Command, 81, mit Verweis auf MTann 15,9), während im Matthäusevangelium Nächstenliebe und Gottesliebe identisch sind. Inwiefern geht der Verfasser des Matthäusevangeliums in Mt 25,31–46 über ein „als ob“ hinaus? Die Leserinnen und Leser werden ja gerade als solche angesprochen, die erst in der Retrospektive erkennen werden, dass sie im Nächsten Gott selbst begegnet sind. Die dadurch entstehende Spannung kann gerade nicht aufgehoben werden, sondern ist beabsichtigt. Die Adressaten können und sollen also so handeln, als ob sie im Nächsten Gott dienen, aber eben im Nächsten: Der Nächste bleibt ja der Nächste. Dieses Oszillieren zwischen Nächsten- und Gottesliebe, das – wie wir gesehen haben – die matthäische Rezeption von Hos 6,6 bestimmt, kann und soll auch nicht vereindeutigt werden. Das Geheimnis, dass die Adressaten, gerade indem sie dem Nächsten als Nächsten dienen, Gott selbst dienen, kann eben nicht ohne Weiteres gelöst werden. 761 Vgl. die Abschnitte 2.2.4 bzw. 2.3.4.

2.7 Bündelung der Ergebnisse

259

1. Ἔλεος bezeichnet im Matthäusevangelium einen konkreten Akt der Zuwendung zum Nächsten. Als hervorragendste Konkretion dominiert dabei die Sündenvergebung in der Zuwendung Jesu und seiner für die matthäischen Adressaten transparenten Schülerschaft zu den groben Sündern (Mt 9,9–13) und in der Zuwendung der Gemeindeglieder zueinander (Mt 18,23–35). In der Nachahmung des göttlichen Erbarmens nach innen und nach außen konstituiert sich die ἐκκλησία als Sündenvergebungsgemeinschaft. 2. Neben die Konkretion der Sündenvergebung treten weitere Konkretionen der Barmherzigkeit, die – wie die Sündenvergebung auch – die geschöpfliche Bedürftigkeit des Mitmenschen im Blick haben. So kann das Ährenraufen der Schülerschaft Jesu (Mt 12,1–8) als Ausdruck des Liebeserweises der Speisung Hungernder (vgl. Mt 25,35.37.42.44) gewertet werden. Die Pharisäer sind aufgefordert, der Barmherzigkeit des Menschensohnes zu entsprechen und die Schüler Jesu nicht für ihr Verhalten zu verurteilen. So würden sie die Barmherzigkeit Gottes nachahmen. Zu den Liebeserweisen zählen auch die Krankenheilungen Jesu – die Kranken bitten Jesus jeweils, er möge sich ihrer erbarmen (9,27; 15,22; 17,15; 20,30f.), und die in Mt 25,31–46 aufgeführten Werke der Versorgung Hungernder und Dürstender, der Kleidung Nackter, der Beherbergung Fremder und der Besuch Kranker und Gefangener, auch wenn hier der Begriff Barmherzigkeit nicht explizit fällt.762 Ein weiteres Werk der Barmherzigkeit ist die Almosengabe (ἐλεημοσύνη: Mt 6,2– 4), in der augenfällig ist, dass es sich bei der Zuwendung zum Nächsten um einen gottesdienstlichen Akt handelt: So steht die Almosengabe an der Spitze der auf Gott bezogenen Gerechtigkeitspraktiken (6,1) des Almosens, des Gebets und des Fastens (Mt 6,2–18). 3. Was für die ἐλεημοσύνη gilt, gilt für alle anderen Konkretionen von ἔλεος im Matthäusevangelium gleichermaßen: Die Beziehung zu Gott und die zwischenmenschlichen Beziehungen werden über den Begriff ἔλεοs miteinander verschränkt. In der Hingabe an den Bruder/Mitmenschen gibt sich die Schülerschaft Jesu Gott selbst hin. Diese Verschränkung wächst ἔλεος über sein hebräisches Äquivalent aus Hos 6,6, ‫חֶ סֶ ד‬, zu. Die Bedeutung dieses Verses für das matthäische Verständnis von Barmherzigkeit ist kaum zu unterschätzen, erklärt sich von der angesprochenen Verschränkung her doch auch das Paradox der Gleichordnung der Nächstenliebe mit der Gottesliebe (Mt 22,37–40), die weiterhin das erste Gebot (V. 38: ἡ μεγάλη καὶ πρώτη ἐντολή) bleibt: Als Aufforderung der Hingabe an Gott kann das Nächstenliebegebot dem Gottesliebegebot gleichgestellt werden und gleichzeitig die Gottesliebe das erste Gebot bleiben. In diesem Kontext ist auch die Pointe des Gleichnisses vom Weltgericht (Mt 25,31–46) relevant, der zufolge sich die Gerechten im bedürftigen Geschwister dem Menschensohn selbst zuwenden:

762 Zum Verständnis der in Mt 25,31–46 angeführten Werke als „Werke der Barmherzigkeit“ vgl. S. 170–171.

260 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 „‚Amen, ich sage euch, was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan‘“ (V. 40). 4. Ein Vergleich der matthäischen mit einer Rabbi Jochanan ben Zakkai zugeschriebenen, in Avot deRabbi Natan (A)763 vorliegenden rabbinischen Rezeption von Hos 6,6 hat auf einen grundlegenden Aspekt aufmerksam gemacht, der bisher in der Interpretation von Mt 9,13 und Mt 12,7 unter den Tisch gefallen ist: Ein komparativisches Verständnis der Aussage: ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν, setzt als tertium comparationis zwischen der Barmherzigkeit und den Opfern die Gottesgegenwart in der Zuwendung zum Nächsten voraus. Barmherzigkeit und Opfer sind gottesdienstliche Handlungen, die sich im Blick auf die Gestaltung der Gottesbeziehung funktionsäquivalent verhalten, so dass Rabbi Jochanan ben Zakkai in der genannten Tradition seinen Schüler Josua angesichts der Zerstörung des Zweiten Tempels mit dem Hinweis auf die Liebeswerke als Ersatz für die Sühnopfer trösten kann (gemilut chassadim [‫ ]גְּ ִמילוּת חֲסָ ִדים‬interpretieren in ARN 4 [A] den Begriff ‫ חֶ סֶ ד‬aus Hos 6,6). Dass auch der Verfasser des Matthäusevangeliums Barmherzigkeit als gottesdienstliche Handlung versteht, zeigt sich insbesondere in Mt 12,5–7: Die Priorisierung der Barmherzigkeit, mit der sich der Evangelist von der Rabbi Jochanan zugeschriebenen Tradition unterscheidet, erfolgt hier auf der Grundlage dessen, dass Barmherzigkeit wie die Opferdarbringung an der Aussetzung des Arbeitsverbots am Sabbat teilhat. Die Legitimation des Ährenraufens fußt dementsprechend auf der Legitimation der Opferdarbringung am Sabbat, an der die Barmherzigkeit partizipiert und über die sie gleichzeitig hinausgeht. Kurzum: Die Priorisierung der Barmherzigkeit basiert auf ihrer Partizipation an der Gottesgegenwart im Kult und der ihr entsprechenden Funktionsäquivalenz von ἔλεος und θυσία: Sowohl die in ARN 4 (A) vorliegende Tradition als auch das Matthäusevangelium verstehen Barmherzigkeit also als nichtkultisches Opfer, ‫גְּ ִמלוּת חְ ַסָ ִדים‬/ἔλεος führen vor das Angesicht und in die Gegenwart Gottes bzw. des Menschensohns (vgl. Mt 25,40). Die in Mt 9,13 und Mt 12,7 vorliegende Opposition ist dementsprechend genauer als Gegenüber der „Hingabe an Gott in der Beziehung zum Nächsten“ (ἔλεος) und der „Hingabe an Gott im Kult“ (θυσία) zu fassen. 5. Im Rahmen unserer Interpretation von Mt 12,1–8 konnten wir zeigen, dass dem matthäischen Verständnis der Barmherzigkeit zugleich ein hermeneutisches Verfahren entspricht, das in der erst später greifbaren rabbinischen Literatur „jenseits des Buchstabens des Gerichts“ (‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫ )לִ פְ נִ ים ִמ‬genannt wird.764 Der in

763 Bei ARN 4 handelt es sich um ein Kommentarwerk zum Mischnatraktat Avot. 764 Wir behaupten keine Homogenität im Blick auf die konkrete Methodik, sehen aber eine strukturelle Analogie darin, dass Schriftauslegung hier auf einen Sinn zielt, der jenseits der formalen Rechtsebene liegt und dem höchste Relevanz zukommt. So präferieren die Rabbinen unter Anwendung des überrechtlichen Verfahrens im Bereich des Zivilrechts den aussergerichtlichen Vergleich bzw. die außergerichtliche Schlichtung eines Streits gegenüber

2.7 Bündelung der Ergebnisse

261

Mt 12,5–7 vorliegende – und wie wir zeigen konnten – valide qal wa-ḥomer-Schluss geht in der Einspielung von Hos 6,6 über die halachische Ebene hinaus, auf der er aufbaut und die auch weiterhin Gültigkeit besitzt. Während die Hierarchisierung der Bestimmungen der Tora zur Opferdarbringung (Num 28,9–10) und des Arbeitsverbots am Sabbat (Ex 20,10; Dtn 5,14) phänomenologisch betrachtet als halachisch bezeichnet werden kann und zu der halachischen Regelung führt, dass die Priester auch am Sabbat Opfer darbringen dürfen und dementsprechend unschuldig sind (V. 5), zielt die Argumentation des matthäischen Jesus nicht auf eine halachische Ausnahmereglung, die das Ährenrupfen im Falle des Hungers freigibt.765 So setzt die den Pharisäern geforderte Barmherzigkeit, konkret: die Nicht-Verurteilung der unschuldigen Schüler Jesu (V. 7), die bleibende Gültigkeit des Arbeitsverbots voraus. Wie im ersten Kapitel zeigt sich auch hier, dass Barmherzigkeit gerade dann, wenn sie über das Recht hinausgeht, dessen Validität bestätigt. Unserer in der Exegese von Mt 18,23–35 gewonnenen Bestimmung der Grundstruktur von Barmherzigkeit: Auf-Grundlage-Von-Über-Hinaus, die sich in Mt 12,5–7 im qal wa-ḥomer-Schluss widerspiegelt, entspricht ein hermeneutisches Verfahren, das, wie Peter Wick gezeigt hat, auch in den Kommentarworten Jesu vorliegt: Auf der Grundlage der halachischen Ebene fordert Jesus, dass ihre Gerechtigkeit darüber hinausgeht.766 6. In unserer Auslegung von Mt 12,5–7 konnte zudem gezeigt werden, dass die Unschuld der Schüler Jesu (V. 7), die mit der Unschuld der Priester bei der sabbatlichen Opferdarbringung parallelisiert wird (V. 5), über die gegenüber den Pharisäern erhobene Barmherzigkeitsforderung vermittelt ist. Die Unschuld der Schüler Jesu ist die Kehrseite der Barmherzigkeitsforderung. Diese Annahme hat den Vorteil, dass nicht die in der Tat nicht miteinander vergleichbaren Tätigkeit der Schüler Jesu (profanes Ährenrupfen) und der Priester (gottesdienstliche Opferdarbringung), sondern Barmherzigkeit und Opferdarbringung als gottesdienstliche Handlungen in ein Verhältnis von „größer“ und „kleiner“ zueinander gesetzt werden. Dementsprechend haben wir nachgewiesen, dass der matthäische Jesus – phänomenologisch betrachtet – rabbinisch argumentiert: Er wendet in Mt 12,5–7 einen validen Schluss vom Kleineren aufs Größere (qal wa-ḥomer) an, der wie folgt gestaltet ist767:

 

1. Prämisse: Barmherzigkeit (als gottesdienstlicher Akt) ist größer als die Opferdarbringung (Hos 6,6).

dem Gerichtsverfahren (Beispiele bei Böhl, Gebotserschwerung, 66–71). Im ersten Kommentarwort fordert der matthäische Jesus seinen Adressaten auf, Streitigkeiten mit dem Gegner zu regeln, bevor es zum Prozess kommt (Mt 5,25–26). 765 So mit Doering, Schabbat, 435. 766 Vgl. Peter Wick, Antithesen; ders., Strategies. 767 Die folgende Tabelle ist übernommen von S. 249.

262 2. Ἒλεος im Matthäusevangelium und die rabbinische Rezeption von Hos 6,6 2. Prämisse: Der Opferdienst am Tempel (Num 28,9–10) regiert über das Arbeitsverbot am Sabbat (Ex 20,10; Dtn 5,14). 3. Schlussfolgerung: Barmherzigkeit regiert über das Arbeitsverbot.

 

Damit ist zugleich die vor allem im englischsprachigen Raum vertretende, grammatikalisch schwierige Annahme widerlegt, der Komparativ μεῖζον (V. 6) beziehe sich auf Jesus. 7. Als gottesdienstliche Handlung, in der die Hingabe an den Mitmenschen mit der Hingabe an Gott verschränkt wird, erweist sich ἔλεος als Beziehungsbegriff ersten Ranges, für den über das Recht hinausgehende Gegenseitigkeit wesentlich ist. Der Gegenseitigkeitscharakter, den das Erbarmen mit der Opferdarbringung teilt, zeigt sich vor allem in den Reziprozitätsformeln des Matthäusevangeliums, insbesondere in der – in dieser Arbeit nicht näher untersuchten – fünften Seligpreisung: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7).768 8. In der Trias „Recht, Erbarmen und Treue“ (κρίσις, ἔλεος, πίστις) in Mt 23,23 zeigt sich der für die Gottesbeziehung transparente matthäische Dreiklang zwischenmenschlicher Sozialität. Auf der Grundlage des Rechts ist diese immer wieder auf über das Recht hinausgehendes ἔλεος angewiesen und dieses Erbarmen wiederum erfordert, weil es sich um einen freiwilligen, nicht justitiablen Akt der Gnade handelt, Treue.

768 Vgl. darüber hinaus Mt 7,1–2; Mt 6,12.14–15.

3.

Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen bei Matthäus

Wir haben uns in den vorangegangenen Kapiteln intensiv mit der Bedeutung des Substantivs ἔλεος für das Matthäusevangelium beschäftigt. In diesem Kapitel soll nun abschließend nach dem Verhältnis dieses Begriffs zu anderen theologischen Leittermini gefragt werden: Wie verhält sich die vom matthäischen Jesus von seiner Schülerschaft geforderte Barmherzigkeit zu der „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), die Jesus in den Kommentarworten (5,21–48) der Bergpredigt entfaltet? Wie verhält sie sich zum Feindesliebegebot (5,43–48), auf das die Kommentarworte zulaufen, wie zur Goldenen Regel (7,12), die den Hauptteil der Bergpredigt (5,17–7,12) beschließt? Und wie kann das Verhältnis der Barmherzigkeit zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) bestimmt werden, das nach Luz im Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt steht?769 Endlich ist auch nach der Relation der Barmherzigkeit zum Doppelgebot der Liebe (Mt 22,34–40) zu fragen. Wirft man, um einen ersten Zugang zu diesen Fragen zu gewinnen, einen Blick in die Kommentare oder auch die Sekundärliteratur, zeigt sich, dass die verschiedenen Begriffe einander angenähert und z. T. sogar miteinander verschmolzen werden. So betonen Christoph Burchard und Matthias Konradt, dass ἔλεος im Matthäusevangelium konkretisiert, wie der Evangelist Liebe inhaltlich füllt.770 Gerd Theißen geht – wie viele andere neben ihm auch – davon aus, dass das Gebot der Nächstenliebe und die positiv formulierte Goldene Regel inhaltlich dasselbe sagen.771 Für Stiewe und Vouga legt sich eine Äquivalenz der „größeren“ Gerechtigkeit mit der Goldenen Regel nahe.772 Überspitzt formuliert laufen all diese semantischen Annäherungen darauf hinaus, dass Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Feindesliebe, „größere“ Gerechtigkeit, Vergebung und die Goldene Regel – von einigen spezifischen Akzentuierungen abgesehen – letztendlich in Eins gesetzt werden. Dies erscheint uns vor allem deshalb problematisch, weil mit einigen dieser Begriffe Vorstellungen von Reziprozität und Gegenseitigkeit (Goldene Regel, Gerechtigkeit), mit anderen hingegen Vorstellungen von Einseitigkeit und Selbstlosigkeit (Liebe, Feindesliebe) verbunden

769 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 254–255. 770 In diesem Sinne beschreibt Matthias Konradt das Verhältnis zwischen Liebesgebot und Barmherzigkeitsforderung folgendermaßen: „Das Liebesgebot macht das Wohlergehen des Nächsten zur zentralen Handlungsperspektive; die Barmherzigkeitsforderung konkretisiert dies im Blick auf Menschen in Notlagen, seien sie sozialer oder anderer Natur“ (Mitleid und Erbarmen, 154). Vgl. auch Burchard, Liebesgebot, 25. 771 „Den anderen so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, ist für ihn (Mt; J.-C. M) dasselbe wie, den anderen zu lieben wie sich selbst“ (Theißen, Gesetz und Goldene Regel, 245). 772 Vgl. Stiewe/Vouga, Bergpredigt, 211.

264

3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

werden. Wir werden im Folgenden die genannten Leittermini auf ihren Einseitigkeits- bzw. Gegenseitigkeitscharakter hin befragen und unter besonderer Berücksichtigung dieses Fokus ihr Verhältnis zueinander klären. Wir nähern uns in diesem Kapitel den genannten Fragen, indem wir das Verhältnis der Goldenen Regel (Mt 7,12) zum Feindesliebegebot (Mt 5,43–48) untersuchen. Ein solches Vorgehen legt sich deshalb nahe, weil die Diskussionen um ein angemessenes Verständnis der Goldenen Regel bezeichnenderweise parallel zur Interpretation der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) verlaufen: Die von der Parabel aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit stellt sich in diesem Kapitel als Frage nach dem Verhältnis des Feindesliebegebots (Mt 5,43–48) zur Goldenen Regel (Mt 7,12). Wie in der Interpretation der Parabel wird Gegenseitigkeit zum Problem, Einseitigkeit hingegen zum zentralen Merkmal eines „christlichen“ Liebesverständnisses. So ist für Luz die Goldene Regel „ungleich weniger radikal“773 als die Feindesliebe, „denn sie basiert auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit, welche das Gebot der Feindesliebe gerade durchbricht.“774 Bei der von der Feindesliebe her interpretierten Goldenen Regel geht es nach Luz deshalb auch „nicht um Gegenseitigkeit, sondern um Liebe“775. In der Forschungslandschaft kann der Gegenseitigkeitscharakter der Goldenen Regel entweder wie von Luz in einen diametralen Gegensatz zur reinen Einseitigkeit der Feindesliebe gestellt werden, oder aber ein bestimmtes, häufig durch die Formel do ut des repräsentiertes Verständnis von Gegenseitigkeit problematisiert werden. Beide Perspektiven auf die vom Feindesliebegebot her interpretierte Goldene Regel haben ihren kleinsten gemeinsamen Nenner darin, dass sie ein zwischenmenschliches Verhalten, das durch die Erwartung einer Erwiderung seitens des Gegenübers motiviert ist, vom Verfasser des Matthäusevangeliums kritisiert sehen. Liebe und (ein bestimmtes Verständnis von) Gegenseitigkeit stehen sich somit als unvereinbare Gegensätze gegenüber. In diesem Sinne hält auch Matthias Konradt in seinem in der Reihe NTD erschienenen Kommentar zum Matthäusevangelium in der Auslegung zur Goldenen Regel fest: „Für die Interpretation von Mt 7,12 (und Lk 6,31) ist die Einsicht von zentraler Bedeutung, dass die Goldene Regel in der hier begegnenden Fassung weder dem Vergeltungs- noch dem Reziprozitätsdenken verhaftet ist; es geht weder darum, eine erwiesene Wohltat zu erwidern …, noch darum, eine Wohltat in der Erwartung zu erweisen, sie anschliessend auch vom anderen zu empfangen … . Der Kerngedanke ist vielmehr allein, das vom anderen erhoffte Verhalten zum Maßstab des eigenen Handelns zu machen: Unabhängig davon, wie der andere sich tatsächlich verhält bzw. verhalten hat, soll man alles, von dem man will, dass man es von anderen erfährt, auch ihnen zukommen lassen.“776

773 774 775 776

Luz, Matthäus Bd. 1, 507. Luz, Matthäus Bd. 1, 507, bezieht diese Äußerungen bereits auf Q. Luz, Matthäus Bd. 1, 511. Konradt, Matthäus, 122.

3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

265

Eine solche Sichtweise, die die Unabhängigkeit des eigenen Verhaltens von dem des Mitmenschen trotz der Hoffnung auf dessen positive Reaktion als Infragestellung einer bestimmten Art von Gegenseitigkeit versteht und dabei mit einem Gegensatz zwischen Erwartung und Hoffnung operiert, ist paradigmatisch für viele in der neutestamentlichen Forschung vertretenen Ansätze. Das matthäische Verständnis der Goldenen Regel wird unterschieden von einem Vergeltungs- und Reziprozitätsdenken, das ihr in anderen Kontexten anhafte. Zwar kann Bernd Kollmann im Blick auf die Goldene Regel im Gegensatz zu Konradt von „intendierte[r] Reziprozität“777 sprechen,778 interessanterweise aber impliziert diese Redeweise auch für ihn eine Kritik an „einem formalen Vergeltungs- oder Entsprechungsdenken.“779 Dass die Goldene Regel auf Gegenseitigkeit zielt, wird für Kollmann zum Problem, insbesondere auch deshalb, weil er im Anschluss an Ulrich Luz davon ausgeht, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel vom Feindesliebegebot her versteht, das die Erwartung einer positiven Reaktion des Gegenübers verbietet.780 Wir werden in der ausführlichen Diskussion der Position von Kollmann sehen,781 dass er sich ähnlich wie Konradt fragen lassen muss, worin der Unterschied zwischen der Hoffnung auf ein wohlwollendes Verhalten des Mitmenschen und der Erwartung eines ebensolchen besteht. Es mag insofern eine Differenz zwischen beiden geben, als dass Erwartung eher im Sinne einer Forderung verstanden werden kann, Hoffnung dagegen den Aspekt der Freiwilligkeit der Erwiderung des Gegenübers betont. Allerdings taugt diese Differenz u. E. gerade nicht dazu, den Gegenseitigkeitscharakter der Goldenen Regel in Frage zu stellen: Hoffnung und Erwartung haben nämlich beide das Ziel, dass der Mitmensch die erwiesene Wohltat erwidern möge. Von diesem Ziel her betrachtet erweist sich die Annahme, die Goldene Regel sei im Matthäusevangelium „weder dem Vergeltungs- noch dem Reziprozitätsdenken“782 bzw. sie kritisiere ein formales „Vergeltungs- oder Entsprechungsdenken“783 als nicht tragfähig. Wir werden darauf zurückkommen und zeigen, dass das von der Goldenen Regel und der Feindesliebe Geforderte nur im Rahmen und unter der Voraussetzung der Gültigkeit des Vergeltungs-, Reziprozitäts- und Entsprechungsdenkens möglich ist. Sie zielt wie das Feindesliebegebot auf eine Durchbrechung negativer Reziprozität, die positive Gegenseitigkeit ermöglichen soll. Eine Verhältnisbestimmung der Goldenen Regel zum Feindesliebegebot, wie sie bei der Interpretation der Goldenen Regel von den meisten Exegeten vorge-

777 Kollmann, Goldene Regel, 104 (Kursiv des Originals rückgängig gemacht). 778 Theißen spricht von „ideale[r] Gegenseitigkeitsethik“ (Gesetz und Goldene Regel, 241; Kursiv des Originals rückgängig gemacht). 779 Kollmann, Goldene Regel, 112. Vgl. auch seine Aussage, dass der Goldenen Regel „kein schematisiertes Gegenseitigkeits- oder Ausgleichsdenken zu Grunde [liegt]“ (ebd., 104). 780 Vgl. Luz, Art. Bergpredigt I. Neues Testament, Sp. 1311. 781 Vgl. Abschnitt 3.2.2 in diesem Kapitel. 782 Konradt, Matthäus, 122. 783 Kollmann, Goldene Regel, 112.

266

3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

nommen wird, legt sich vor allem deshalb nahe, weil der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel als Zusammenfassung von Gesetz und Propheten versteht: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut auch ihnen! Das ist das Gesetz und die Propheten“. Von Gesetz und Propheten hatte der matthäische Jesus bereits im Proömium zu seiner Torainterpretation (Mt 5,17–20) gesprochen: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Der wiederholte Verweis auf „Gesetz und Propheten“ wird auf der Textebene in der Regel zu Recht als Rahmung um den Hauptteil der Bergpredigt verstanden (Mt 5,17–7,12),784 wobei das Feindesliebegebot als vornehmster Ausdruck der „größeren Gerechtigkeit“ (5,20) in besonderer Weise die Verpflichtung der Schülerschaft Jesu auf Tora und Propheten (5,17) zum Ausdruck bringt.785 In diesem Sinne bemerkt Ulrich Luz zum Verhältnis von Feindesliebegebot und Goldener Regel, dass „das Liebesgebot der zentralste ‚Vorspruch‘ der Goldenen Regel sein [dürfte]“786, und diese folglich vom sechsten Kommentarwort her verstanden werden will.787

784 Das ist Konsens der Forschung. Der Evangelist verweist allerdings noch an einer weiteren Stelle auf Gesetz und Propheten. Auf die Frage eines zur Gruppe der Pharisäer gehörenden Schriftgelehrten nach dem höchsten Gebot, antwortet der matthäische Jesus mit dem Gottesliebe- und Nächstenliebegebot und stellt fest, dass Tora und Propheten an diesen beiden Geboten hängen (Mt 22,34–40). Das Doppelgebot der Liebe und die Goldene Regel stellen, auch das ist Konsens der Forschung, einen hermeneutischen Schlüssel zu diesen beiden Teilen der Schrift bereit. Diese Funktion der Goldenen Regel als hermeneutischer Schlüssel dient u. E. nicht dazu, über die Relevanz eines Gebots zu urteilen, sondern in der Interpretation der Toragebote die Goldene Regel als Grundsatz zum Vorschein zu bringen. In diesem Sinne stimmen wir Davies/Allison zu, die die Goldene Regel als „most basic or important demand of the law, a demand which in no way replaces Torah but instead states its true end“ (Matthew Bd. 1, 690) verstehen. 785 Die Verbindung zwischen Feindesliebegebot und der „größeren“ Gerechtigkeit läuft über das Stichwort περισσεύειν (5,20) bzw. περισσόν (5,46). In der lukanischen Version des Feindesliebegebots sind das Liebesgebot und die Goldene Regel noch enger miteinander verknüpft (Lk 6,27–36): So wird die Goldene Regel (6,31) in der Feldrede (Lk 6,17–49) durch die zweimalige Aufforderung, die Feinde zu lieben (6,27; 6,36), gerahmt. Zur Interpretation der Goldenen Regel im Lukasevangelium vgl. Anm. 839. 786 Luz, Matthäus Bd. 1, 511, affirmativ zitiert von Kollmann, Goldene Regel, 107 Anm. 26. Vgl. Heiligenthal, Art. Goldene Regel II. Neues Testament und frühes Christentum, 573. 787 „In der B. hat das Liebesgebot zentrale Bedeutung: Das Gebot der Feindesliebe … rahmt die Antithesen (5,25f.43–47). Es erstreckt sich auf alle Bereiche des Lebens, nicht nur den privaten (vgl. 5,40f.). Die alles menschliche Handeln zusammenfassende Goldene Regel (7,12) muß unter dem Vorzeichen der Liebe gelesen werden“ (Luz, Art. Bergpredigt I. Neues Testament, Sp. 1311). In diesem Sinne geht auch Weder davon aus, dass die Goldene Regel keine „Zusammenfassung der Bergpredigt sein [kann]“, sondern „[v]ielmehr … darauf angewiesen [ist], von der Bergpredigt her inhaltliche Orientierung zu gewinnen. Die Goldene Regel ist angewiesen darauf, daß das, was ich den anderen tue, weil ich es mir selbst wünsche, inhaltlich bestimmt wird. Die Bergpredigt bestimmt dieses Verhalten inhaltlich als Liebe, genauer als Feindesliebe“ (Auslegung, 232).

3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

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Neben der Verhältnisbestimmung der Goldenen Regel zum Gebot der Feindesliebe ist vor allem auch ihr Verhältnis zur Vergebungsbitte (6,12) des Vaterunsers (6,7–13), das sich formal im Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt (5,17–7,12) findet,788 zu untersuchen. Die besondere Relevanz der Vergebungsbitte zeigt sich daran, dass sie im unmittelbaren Anschluss an das Gebet aufgegriffen und erläutert wird: „(14) Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. (15) Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ Bezeichnenderweise, das sei schon an dieser Stelle bemerkt, sind die Vergebungsbitte inklusive ihrer Erläuterungen und die Goldene Regel beide von einem Reziprozitätsdenken bestimmt, wobei allerdings die Goldene Regel auf den ersten Blick ausschließlich auf zwischenmenschliche Beziehungen zielt,789 während die Vergebungsbitte und ihre Erläuterungen zwischenmenschliche und göttliche Vergebung miteinander verknüpfen. Dieser Sachverhalt rät im Blick auf das Verhältnis der Goldenen Regel zum Feindesliebegebot dazu, einen Perspektivwechsel vorzunehmen: In der Regel wird, wie das oben gebrachte Zitat von Luz deutlich gemacht hat, die Goldene Regel vom Feindesliebegebot her interpretiert, was dann aufgrund eines bestimmten Verständnisses von Liebe zu Problemen mit dem Gegenseitigkeitscharakter der Goldenen Regel führt. Hier soll umgekehrt gefragt werden, ob es nicht möglich ist, das Feindesliebegebot auf der Grundlage des Reziprozitätscharakters, der nicht nur der Goldenen Regel, sondern auch der Vergebungsbitte des Vaterunsers als Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt eigen ist, zu verstehen. Unsere These lautet: Auch das Gebot der Feindesliebe bleibt in seiner Einseitigkeit und Selbstlosigkeit positiv auf den grundsätzlichen Gegenseitigkeitscharakter der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Gott-Mensch-Beziehung bezogen, den sie voraussetzt. Einseitigkeit und Selbstlosigkeit dienen erneuter Gegenseitigkeit. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die auf Gegenseitigkeit bezogene Einseitigkeit der Feindesliebe auf der Ebene der Gottesbeziehung Ausdruck der Gegenseitigkeit dieser Beziehung ist. Zum Vorgehen: In einem ersten Schritt (3.1) soll die Goldene Regel (Mt 7,12) in ihrem unmittelbaren Kontext (Mt 7,7–11) und danach sukzessive ihr Verhältnis zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), zur Feindesliebe (5,43–48) und zur Vergebungsbitte (6,12) des Vaterunsers (6,9–13) untersucht werden. Wir näher uns methodisch also vom Rahmen (Goldene Regel und „größere“ Gerechtigkeit) dem Zentrum (Vergebungsbitte). Die Verhältnisbestimmung der Goldenen Regel zum Feindesliebegebot ist dabei Teil der Verhältnisbestimmung der Goldenen Regel zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), deren hervorragendste Konkretion die Durchbrechung negativer Reziprozität (5,38–42) und die Feindesliebe (5,43–48) ist. Im Anschluss an die Interpretation der neutestamentlichen Texte selbst, sollen in einem zweiten Schritt (3.2) in Auseinandersetzung mit den profilierten Positionen von

788 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 254–255. 789 Vgl. dazu die Analyse der Goldenen Regel in ihrem unmittelbaren Kontext in Abschnitt 3.1.1.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Ulrich Luz, Bernd Kollmann und Paul Ricœur verschiedene Verhältnisbestimmungen der Goldenen Regel und des Feindesliebegebots im Matthäusevangelium kritisch beleuchtet und die eigene Position überprüft und geschärft werden. Vor einer Bündelung der Ergebnisse in zusammenfassenden Thesen (3.4) soll der der Goldenen Regel inhärenten Spannung zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe nachgegangen werden (3.3).

3.1

Verhältnisbestimmung der Goldenen Regel zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), zur Feindesliebe (5,43–48) und zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12)

Vor einer Untersuchung des Verhältnisses der Goldenen Regel zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), zur Feindesliebe (5,43–48) und zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12), ist ihre Einbettung in den unmittelbaren Kontext zu analysieren. Da die Rahmenfunktion der Goldenen Regel als Abschluss des Hauptteils der Bergpredigt (Mt 5,17–7,12) unstrittig ist, richten wir das Augenmerk ausschließlich auf den Zusammenhang der Goldenen Regel zu den unmittelbar vorangehenden Versen (Mt 7,7–11).

3.1.1 Die Goldene Regel im Kontext von Mt 7,7–11 In der neutestamentlichen Forschung gibt es keinen Konsens hinsichtlich der Frage, ob und wenn ja, inwieweit die Goldene Regel mit den unmittelbar vorangehenden Versen verbunden ist. Während Ulrich Luz die Einbettung von Mt 7,12 in den engeren Kontext dezidiert ausschließt,790 interpretiert Robert H. Gundry die Goldene Regel wesentlich unter Rückbezug auf die Aussagen darüber, dass Gott die Bitten seiner Kinder hören und ihnen gute Gaben geben wird (Mt 7,7–11).791 Ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel entspricht dem des himmlischen Vaters, der seinen bösen (!) Kindern gute Gaben gewährt. Einige Exegeten hadern mit der Anknüpfung von Mt 7,12 an Mt 7,7–11, verbinden aber in ihrer Interpretation beides miteinander.792 Auf sprachlich-syntaktischer Ebene erfolgt der Anschluss der Goldenen Regel an die vorangehenden Verse durch die koordinierende Konjunktion οὖν. Diese muss nicht zwangsläufig eine Verbindung der V. 7–11 an V. 12 nahelegen, insbesondere wenn die Funktion von V. 12 als Rahmen um den Hauptteil der Bergpre790 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 511; Fiedler, Matthäusevangelium, 188. 791 Vgl. Gundry, Matthew, 125. 792 Vgl. z. B. Schweizer, Matthäus, 110; Hagner, Matthew Bd. 1, 176.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

269

digt (5,17–7,12) berücksichtigt wird. Allerdings schließt das οὖν einen Rückbezug der Goldenen Regel auf die unmittelbar vorangehenden Verse auch nicht aus. Im Folgenden soll deshalb in der Diskussion mit verschiedenen Exegeten nach der inhaltlichen Plausibilität eines solchen Rückbezugs gefragt werden. Ulrich Luz zählt neben Matthias Konradt zu denjenigen Vertretern, die keinen Zusammenhang zwischen der Goldenen Regel und den unmittelbar vorangehenden Versen sehen.793 So kann nach seiner Auffassung „οὖν nicht an den unmittelbar vorangehenden Text V 7–11 anknüpfen; dort ging es ja um das Verhältnis der Menschen zu Gott. V. 12 bündelt vielmehr vor allem diejenigen Texte, in denen es um das Verhältnis der Menschen untereinander geht, also die durch das Liebesgebot gerahmten Antithesen und 7,1–5“794. Die Begründung, die Luz dafür anführt, dass sich V. 12 nicht auf V. 11 zurückbeziehen kann, spricht u. E. gerade für diesen Rückbezug. So ist eine strikte Trennung zwischen Texten, die allein das Verhältnis zum Mitmenschen betreffen, und solchen, in denen ausschließlich das Gottesverhältnis im Blick ist, im Matthäusevangelium nicht möglich. Gerade die von Luz angeführten Texte, das erste (Mt 5,21–26) und sechste Kommentarwort Jesu (Mt 5,43– 48) und Mt 7,1–5 zeugen von einer Verschränkung der Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen. So wird die Versöhnung mit dem Bruder im ersten Kommentarwort (Mt 5,21–26) zur Voraussetzung für die Darbringung von Opfergaben im Tempel und damit zur Voraussetzung einer heilvollen Gottesbegegnung gemacht (Mt 5,23–24).795 Wie in der Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) und deren Erläuterungen (6,14–15) tangiert zwischenmenschliche Vergebung nicht nur die Beziehung zum Bruder, sondern auch das Gottesverhältnis unmittelbar. Gleiches gilt auch für das Feindesliebegebot (Mt 5,43–48): In der Nachahmung des himmlischen Vaters in den zwischenmenschlichen Beziehungen erweisen sich die Schülerinnen und Schüler Jesu als Gottes Kinder (5,45). Einem solchen Handeln ist göttlicher Lohn (Mt 5,46) verheißen. Entsprechungshandeln ist für den Verfasser des Matthäusevangeliums reziprok strukturiertes Beziehungshandeln. Die für das Matthäusevangelium charakteristische Verschränkung der Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen zeigt sich auch in dem von Luz ins Spiel gebrachten Abschnitt Mt 7,1–5, der vor menschlichem Richten mit dem Hinweis darauf warnt, dass Gott denselben Maßstab, den die Menschen gegenüber ihren Mitmenschen anlegen, an die Adressaten anlegen wird: „Denn wenn ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden“ (Mt 7,2). Dass es sich bei diesen Formulierungen im Hintersatz jeweils um ein passivum divinum handelt, ist in der Forschung ebenso 793 Konradt, Matthäus, 121–123, geht in seinem Kommentar nicht auf das Verhältnis der Goldenen Regel zu den unmittelbar vorangehenden Versen 7–11 ein, sondern interpretiert Mt 7,12 im Rahmen des mit Mt 5,17 anhebenden Gesamtkontextes dieses zentralen Teils der Bergpredigt. 794 Luz, Matthäus Bd. 1, 511. 795 Vgl. Wick, Strategies, 237f.

270

3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

unstrittig wie hinsichtlich der fünften Seligpreisung: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7). Auch hier ist an Gott als Subjekt der Erwiderung zwischenmenschlich gewährter Barmherzigkeit gedacht. Endlich sei in diesem Zusammenhang auf das Doppelgebot der Liebe (Mt 22,34–40) verwiesen, das Luz bei seiner Besprechung der Goldenen Regel als Beleg davor anführt, dass beide faktisch identisch sind.796 Wir haben bei unserer Interpretation von Mt 22,34–40 gesehen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums das Nächstenliebegebot nur deshalb der Gottesliebe gleichstellen kann, weil die zwischenmenschliche Liebe zum hervorragenden Ort der Gottesliebe wird.797 Dass aber heißt: Als vornehmster Ausdruck der Gottesliebe ist die Nächstenliebe für ebendiese Gottesliebe transparent, ja, sie gilt letztendlich Gott selbst. Unter der Voraussetzung einer weitgehenden Identität des doppelten Liebesgebots mit der Goldenen Regel betrifft damit auch die goldene Regel die Gottesbeziehung. Dass V. 7–11 ein Handeln Gottes am Menschen, V. 12 dagegen zwischenmenschliches Handeln im Blick hat, kann deshalb gerade nicht als Begründung dafür angeführt werden, dass V. 12 keinen Bezug zu den unmittelbar vorangehenden Versen hat.798 Vielmehr wäre auch hier ein enger Zusammenhang zwischen beiden zu erwarten, auch wenn die Verknüpfung der göttlichen Gewährung guter Gaben (Mt 7,11) und die Aufforderung zu einem Handeln am Mitmenschen gemäß der Goldenen Regel (Mt 7,12) auf den ersten Blick in ihrer Konkretion Fragen aufwerfen mag. Strukturell jedoch entspräche das reziproke Verhältnis göttlichen und zwischenmenschlichen Handelns und die Transparenz der zwischenmenschlichen Beziehungen für die Gottesbeziehung zentralen Aussagen der Bergpredigt und des Matthäusevangeliums, so dass eine inhaltliche Plausibilität für die Verbindung zwischen Mt 7,12 und den vorangehenden Versen gegeben ist. Die These, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums das von der Goldenen Regel geforderte zwischenmenschliche Handeln eng mit dem von Gott ausgesagten Handeln in V. 7–11 (Gewährung guter Gaben) verknüpft, erhärtet sich dann, wenn die Aussagen der V. 7–11 vor dem Hintergrund des antiken Gabeverständnisses interpretiert werden. In der jüngeren Vergangenheit ist von einigen Neutestamentlern auf die grundlegende Bedeutung von Reziprozität für das Verständnis sozialer Beziehungen in den antiken Gesellschaften hingewiesen und zudem darauf aufmerksam gemacht worden, dass diese Beziehungen vornehmlich durch einen wechselseitigen Austausch von Gaben strukturiert sind. In diesem Sinne bemerkt Alan Kirk im Rahmen seiner Interpretation der Goldenen Regel im Lukasevangelium: „Relations in all social spheres are articulated through acts of reciprocal exchange. Stated differently, social relations are by definition relations of reciprocity.“799 Im Anschluss an Marshall Sahlins800 kennzeichnet Kirk die Art der 796 797 798 799 800

Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 511. Vgl. die Auslegung von Mt 22,34–40 im zweiten Kapitel in Abschnitt 2.6. Dies nimmt neben Luz auch Schweizer an (vgl. Schweizer, Matthäus, 110). Kirk, Reciprocity, 674. Sahlins, Stone Age Economics, 193–196, unterscheidet zwischen generalisierter („generali-

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

271

Gegenseitigkeit, die freundschaftliche Beziehungen auszeichne als generelle Reziprozität, deren besonderer Charakter in der paradoxen Spannung zwischen Freiwilligkeit der Gewährung einer Gabe und der Notwendigkeit ihrer Erwiderung besteht: „General reciprocity drives the intimate relation of friendship …, and accordingly its emblematic feature is open-ended, generous sharing, typically construed in the language of unconditional giving. ‘The nature of the return is invariably not stipulated in advance, cannot be bargained about,’ and time lines for returns are left vague. The open-ended, generous nature of the exchange, along with the absence of overt accounting, expresses at the material level the personal trust that is the heart of friendship. It is the ‘paradox of friendship,’ however, that free, generous giving generates obligation to make a return.“801 Soziale Beziehungen werden demnach durch den Kreislauf wechselseitigen Gebens und Nehmens bestimmt, wobei auch die Erwiderung einer Gabe ein freiwilliger Akt ist, auf den der Geber der ersten Gabe vertraut. Reziprozität ist das entscheidende konstitutive Element innerhalb der Gestaltung von Sozialbeziehungen. Ähnlich wie Kirk formuliert Hans Dieter Betz im Kontext seiner Auslegung der Goldenen Regel: „It is presupposed that human social life consists of conventions of reciprocity, exchange of gifts and favors, action and reaction, and so forth.“802 Und Gary Stansell hält mit Verweis auf Seneca fest, dass „Geben und Empfangen … ein sozialer Austausch [ist] und …den Empfänger in die Pflicht [nimmt]. Der Austausch stellt für Seneca das wichtigste Bindeglied der menschlichen Gemeinschaft dar“803. Interessanterweise finden sich in Auslegungen zur Goldenen Regel Formulierungen, die das von der Goldene Regel geforderte Handeln mit dem vorangehenden Gabehandeln Gottes verbinden, ohne dieses allerdings in seinem soziokulturellen Kontext zu verorten. In diesem Sinne bezieht sich die Goldene Regel nach Gundry auf „the Father’s giving good gifts as a pattern for Jesus’ disciples to follow“804. In die gleiche Richtung weist seine Aussage, dass das „οὖν makes the Father’s giving good gifts a reason for Jesus’ disciples to treat others well. More particularly, in Matthew the Golden Rule requires giving good gifts to fellow disciples (vv 7–11) instead of judging them false (vv 1–5)“805. Und Sand bemerkt zum οὖν: „Die Anbindung mit ‚nun‘ an das Vorausgehende macht deutlich, daß Mt die Lebensregel im Sinne einer Grundregel versteht, die vom Verhalten des Vaters ge-

801 802 803 804 805

zed“), ausgeglichener („balanced“) und negativer („negative“) Reziprozität, wobei die ausgewogene im Gegensatz zur generalisierten Reziprozität unpersönlicher Natur ist. Ausgeglichene Reziprozität zielt auf ein striktes quid pro quo und wäre aus heutiger Perspektive eher dem Bereich der Ökonomie zuzuordnen, während generalisierte Reziprozität eher dem Bereich der sozialen, familialen bzw. freundschaftlichen Beziehungen zuzuordnen ist. Kirk, Reciprocity, 675; die Zitate stammen von Blau, Interaction, 454–455, und Pitt-Rivers, Kith and Kin, 97. Betz, Sermon, 516. Stansell, Gabe und Reziprozität, 186. Gundry, Matthew, 125. Gundry, Matthew, 125.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

gen seine Kinder geprägt ist.“806 Diese Aussagen Sands und Gundrys entfalten dann ihre volle Plausibilität, wenn ihre Einbettung in die antike Gabelogik Berücksichtigung findet: Weil in der Antike soziale Beziehungen als reziproke Gabebeziehungen konzeptualisiert, also durch ein gegenseitiges Geben und Empfangen bestimmt werden, kann ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel als Gegengabe zu den Gaben Gottes verstanden werden. Eine Interpretation von Mt 7,7–11 vor dem Hintergrund des antiken Gabeverständnisses kann deshalb dazu beitragen, Licht in das Dunkel des Verhältnisses der Goldenen Regel zu den unmittelbar vorangehenden Versen zu bringen. So hatte zwar auch Hagner ähnlich wie Gundry, aber vorsichtiger formulierend, zur Goldenen Regel festgestellt, dass „[t]his separate logion is probably added here by the evangelist because of the reference in the preceding pericope to the giving and receiving of good things“807. Etwas später betont er dann auch die Entsprechung des von der Goldenen Regel geforderten Verhaltens zum Verhalten Gottes: „To do good to others is to mirror the activity of the Father (7:11)“808. Allerdings schränkt er seine inhaltliche Beobachtung zum Zusammenhang zwischen Goldener Regel und den unmittelbar vorangehenden Versen ein und konzediert, dass „the connection is not that clear“809. Wie gesagt: Der von Hagner810 vermutete und von Gundry postulierte Zusammenhang von Mt 7,12 zu Mt 7,7–11 kann dann erhärtet werden, wenn diese Verse im Kontext des antiken Gabeverständnisses verstanden werden. Findet darüber hinaus der für den Verfasser des Matthäusevangeliums zentrale Zusammenhang zwischen dem Handeln Gottes am Menschen und des Handelns des Menschen an seinem Mitmenschen Berücksichtigung, dann wird die Verbindung zwischen 7,7–11 und 7,12 noch deutlicher. Was ermöglich es uns nun, Mt 7,7–11 mit dem antiken Gabediskurs in Verbindung zu bringen? Zum einen ist in diesem Zusammenhang auf den Vergleich irdischer Väter mit dem himmlischen Vater zu verweisen (V. 9–11), wobei beiden gemeinsam ist, dass sie ihren Kindern „gute Gaben“ (δόματα ἀγαθά bzw. ἀγαθά geben (V. 11). Darüber hinaus fällt auf, dass die Verbindungen bitten – geben (αἰτέω δίδωμι) in V. 7 bzw. geben – bitten (δίδωμι - αἰτέω) in V. 11 einen Rahmen um den Abschnitt bilden, in dem konjugierte Formen von δίδωμι insgesamt fünfmal vorkommen, wovon zwei dieser Formen mit dem Präfix ἐπί gebildet werden (V. 9.10). Kurzum: „Geben“ bzw. „Gabe“ besitzt in diesem Abschnitt Leitwortcharakter.811 Gary Stansell bemerkt zu V. 11: „Dieser Vers zeigt, dass Kinder um Gaben bitten; 806 807 808 809 810

Sand, Matthäus-Evangelium, 149. Hagner, Matthew Bd. 1, 176. Hagner, Matthew Bd. 1, 177. Hagner, Matthew Bd. 1, 176. Anders als Hagner übergehen viele Exegeten die Frage der Verhältnisbestimmung von Goldener Regel und dem vorangehenden Abschnitt 7,7–11, stellen in der Interpretation dann aber z. T. doch einen Zusammenhang zwischen beiden her. Davies/Allison argumentieren widersprüchlich: Einerseits schließen sie einen Bezug auf 7,7–11 aus (vgl. Davies/Allison, Matthew Bd. 1, 688f.), andererseits aber verstehen sie diesen Vers auch als Abschluss von 6,19–7,11 (vgl. ebd., 685). 811 Vom Empfangen des Erbetenen ist in V. 8 die Rede: „Denn jeder, der bittet, empfängt …“.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

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und dass es in der Natur der Elternschaft liegt, ihren Kindern gute Gaben zu geben. Dies reflektiert erneut ein auf Verwandtschaft beruhendes Wirtschaftssystem (‚kinship economy‘), die in (sic!) Rahmen der generellen Reziprozität stattfindet.“812 V. 11 ist demnach ein gutes Beispiel dafür, wie dem Verfasser des Matthäusevangeliums das Prinzip der Reziprozität dazu dient, dem wechselseitigen Charakter der Sozialbeziehung Vater-Sohn, die eine Metapher auch für die menschliche Gottesbeziehung ist, Ausdruck zu verleihen. Eine solche, von Stansell als generelle Reziprozität charakterisierte Wechselseitigkeit aber impliziert auch dann, wenn in den V. 7–11 eindeutig nur von der einseitigen Gabe von Vätern gegenüber ihren Kindern die Rede ist, einen gegenseitigen Austausch von Gaben.813 Dabei ist für generelle Reziprozität anders als für ausgeglichene Reziprozität der Zeitpunkt und die Art der Gegengabe nicht entscheidend. Nach Kirk ist diese Offenheit hinsichtlich der Gegengabe Ausdruck des Vertrauens und damit der Intimität der Beziehung.814 Voraussetzung aber bleibt auch hier, dass eine Gabe mit einer Gegengabe beantwortet wird. Man sollte sich also nicht dazu verleiten lassen, das Geben der guten Gaben und die darin zum Ausdruck kommende Güte der irdischen Väter wie des himmlischen Vaters damit zu begründen, dass hier eine „reine Gabe“ vorliege, für die keine Gegengabe erwartet wird. Vielmehr gilt auch für den Verfasser des Matthäusevangeliums, was Stansell über den Gabentausch in der Antike als ersten, grundlegenden Punkt anführt: „Es besteht eine universelle Pflicht zu geben, zu empfangen und Gaben zu erwidern.“815 Dass auch der Verfasser des Matthäusevangeliums die sozialen Beziehungen oder auch die Gottesbeziehung als reziprok strukturierte Gabebeziehungen konzeptualisiert, zeigt u. E. nicht zuletzt das matthäische Leitwort ἀποδίδωμι, mit dem der Evangelist u. a. in Mt 6,1–18 das vergeltende Handeln Gottes beschreibt und somit das Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt mit dem Vaterunser in seiner Mitte prägt (6,4.6.18).816 Wenden wir das Konzept der Gabe auf Mt 7,7–11 und 7,12 an, dann legt es sich also nahe, ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel als Gegengabe zu der Gewährung der guten Gaben des himmlischen Vaters zu verstehen. In Anlehnung an Gundry und Hagner und unter der über beide hinausgehenden Einbettung von Mt 7,7–11 in den antiken Gabediskurs lässt sich deshalb der Zusammenhang der Goldenen Regel zu den unmittelbar vorangehenden Versen wie 812 Stansell, Gabe und Reziprozität, 194. 813 Assoziativ könnte hier an das Gebot, die Eltern zu ehren (Ex 20,12; Dtn 5,16), gedacht sein. Wie die Eltern ihren Kindern gute Gaben respektive das zum Leben Notwendige geben, so sind auch die Kinder dazu aufgefordert, ihre Eltern im Alter zu versorgen. Eine solche Fürsorge durch eine Opfergabe zu „umgehen“, lehnt der matthäische Jesus strikt ab (Mt 15,1– 6). 814 Vgl. Kirk, Reciprocity, 675. Entscheidend ist darüber hinaus, dass die Erwartung des Gebers, eine Gegengabe zu empfangen, eine implizite ist. Es geht also nicht primär um Aufrechnung (vgl. ebd.). 815 Stansell, Gabe und Reziprozität, 188. 816 Zur Bedeutung von ἀποδίδωμι im Matthäusevangelium vgl. unsere Ausführungen im ersten Kapitel in den Abschnitten 1.2.2.1.1 und 1.2.2.1.2.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

folgt beschreiben: Das Verhalten Gottes seinen Kindern gegenüber – er gibt ihnen die erbetenen „guten Gaben“ – soll in die „guten Gaben“ seiner Kinder gegenüber ihren Mitmenschen münden: Sie sollen diese so behandeln, wie sie selbst von ihnen behandelt werden wollen. Damit aber legt sich ein Verständnis der V. 7–12 nahe, dem zufolge es in den V. 7–11 um die Menschenliebe Gottes, in V. 12 um die Gottesliebe des Menschen geht, die sich insbesondere daran zeigt, ob die Güte Gottes in den zwischenmenschlichen Beziehungen imitiert wird. Das, was weiter oben bereits angedeutet wurde, wird durch die Einordnung der Gabethematik der V. 7– 11 in ihren kulturellen Kontext bestätigt: Es ist von hervorgehobener Bedeutung, die Goldene Regel nicht nur in ihrer Funktion als Rahmen um den Hauptteil der Bergpredigt zu verstehen, sondern den engen Zusammenhang mit 7,7–11 zu berücksichtigen: Die göttliche Fürsorge bzw. das göttliche Geben guter Gaben zielt auf ein analoges, imitierendes Verhalten, das nach dem Konzept der Gabe und Gegengabe verstanden werden kann. Die Interpretation der Verse 7–11 vor dem Hintergrund des antiken Gabeverständnisses plausibilisiert auf diese Weise die Einbettung der Goldenen Regel in ihren unmittelbaren Kontext. Die von uns vorgeschlagene Interpretation der Verse Mt 7,7–12 und ihres Zusammenhanges kann durch eine weitere Beobachtung unterstützt werden: So dient der Schluss vom Kleineren aufs Größere in den Versen 9–11 u. E. nicht nur der Vergewisserung, dass Gott die Gebete seiner Kinder erhört, sondern auch der Analogisierung der Goldenen Regel mit dem göttlichen Verhalten respektive der Vorstellung der Nachahmung Gottes (imitatio Dei). Beide besitzen einen gemeinsamen Nenner darin, dass gute Gaben unabhängig vom Verhalten bzw. Beziehungsstatus gewährt werden bzw. gewährt werden sollen. In diesem Sinne spielt der Verfasser des Matthäusevangeliums in Mt 7,11 mit seinem Schluss vom Kleineren aufs Größere (qal wa-ḥomer) auf das Feindesliebegebot (Mt 5,43–48) an und ruft dieses bei seinen Lesern in Erinnerung. Die Anspielung erfolgt dabei nicht nur über die in beiden Perikopen verwendeten Begriffe „böse“ (5,45; 7,11) und „himmlischer Vater“ (5,45.48; 7,11), sondern über einen analogen Sachverhalt: Sowohl im Feindesliebegebot als auch in Mt 7,11 ist von einem Handeln Gottes gegenüber „Bösen“ die Rede. So vergleicht der matthäische Jesus in V. 11 das Handeln seiner als „böse“ charakterisierten Zuhörerinnen und Zuhörer ihren Kindern gegenüber mit dem Handeln des himmlischen Vaters ihnen selbst gegenüber: „Wenn nun ihr, die ihr böse seid, es versteht, euren Kindern gute Gaben zu geben, um wie viel mehr wird nicht eurer Vater im Himmel Gutes denen geben, die ihn bitten?“ Berücksichtigt man, dass diese Aussage als Voraussetzung der direkt anschließenden Goldenen Regel fungiert,817 zeigt sich die strukturelle Übereinstimmung mit dem 817 Vgl. Stiewe/Vouga, Bergpredigt, 220, die das Verhältnis von V. 11 zu V. 12 als das Verhältnis einer theologischen Begründung (V. 11) zu der daraus folgenden Konsequenz (V. 12) fassen. Sie interpretieren – wie wir – die Bergpredigt vor dem Hintergrund der Gabetheorie. Allerdings machen sie in ihrer Auslegung den kategorialen Unterschied zwischen der ökonomischen Logik des Tausches und der Logik der Umsonstheit der Gabe zum hermeneutischen Schlüssel ihrer Interpretation (vgl. ebd., 58): Nur die Logik der Umsonstheit der Gabe vermöge den Mitmenschen als Subjekt wahrzunehmen und ermögliche echte Beziehung (vgl.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

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Feindesliebegebot darin, dass es sich in beiden Fällen um eine Aufforderung zur Nachahmung eines Verhaltens des himmlischen Vaters handelt, dessen Charakteristik darin besteht, dass er gut gegenüber solchen handelt, die es nicht verdient haben bzw. ihm feindlich gesinnt sind. Während allerdings in 7,11 die Adressaten selbst als „böse“ qualifiziert werden, verweist der matthäische Jesus in 5,45 auf die Vollkommenheit des himmlischen Vaters, der die Sonne auch über den Bösen aufgehen und den Regen auch auf den Ungerechten niedergehen lässt.818 Die Bösen und Ungerechten sind in diesem Falle die anderen, denen mit Liebe begegnet werden soll. Die Vollkommenheit Gottes, an der sich die Schülerschaft Jesu orientieren soll, zeigt sich demnach in einem Handeln, das Feindschaft nicht fortschreibt und damit zementiert, sondern die Möglichkeit gelingender Gemeinschaft eröffnet: Wenn Gott seine Feinde (die „Bösen“ und „Ungerechten“) am Leben erhält, dann haben diese die Chance, dem Umkehrruf Jesu angesichts der Nähe des Himmelreichs zu folgen (4,17; vgl. 3,2), göttliche Vergebung zu erlangen und Teil der Schülerschaft Jesu zu werden. Wie das Feindesliebegebot fordert die Goldene Regel in analoger Weise ein Handeln gegenüber allen Menschen, also auch gegenüber denjenigen, die einem feindlich gesinnt sind. Im Unterschied zum Feindesliebegebot allerdings wird durch den Kontext der Goldenen Regel explizit hervorgehoben, dass dieses Handeln in der Liebe Gottes den Adressaten selbst gegenüber gründet: Wie Gott ihnen, die doch „böse“ sind, gute Gaben gibt, wenn sie ihn darum bitten, so sollen auch sie unabhängig vom jeweiligen Beziehungsstatus („gut“/„böse“) ihren Mitmenschen gegenüber agieren, indem sie diese so behandeln, wie sie von ihnen behandelt werden wollen. Auf diese Weise geben sie die ihnen vom himmlischen Vater gewährten „guten Gaben“ weiter. Gegenüber Freunden eröffnet ein solches Verhalten die Chance, gelingende Gemeinschaft zu leben: Wo die eigenen Bedürfnisse in intakten freundschaftlichen Beziehungen jeweils zum Maßstab des eigenen Verhaltens gegenüber den Mitmenschen gemacht werden, darf mit der Gegenseitigkeit eines solchen Verhaltens gerechnet werden. Gegenüber Feinden ermöglicht die Goldene Regel die Erneuerung zerstörter Beziehungen oder die Ein-

ebd. u. ö.). Problematisch scheint uns, dass beide Exegeten die genannten Logiken einander diametral entgegensetzen und so nicht deutlich genug herausarbeiten, dass auch die Gabe auf Gegenseitigkeit aus ist. So sprechen sie nur an einer einzigen Stelle von der „Umsonstheit der Gabe und der Gegengabe (Freiheit, Asymmetrie, Unberechenbarkeit)“ (ebd., 58; Kursivierung: J.-C.M), während sie ansonsten den Einseitigkeitscharakter der Umsonstheit hervorheben (vgl. z. B. die Interpretation der 5. und 6. sogenannten Antithese: ebd., 88–91). Nach unserer Auffassung nehmen Stiewe und Vouga letztendlich ihre Einsicht nicht ernst genug, dass die Charakteristika der Gabe: Freiheit, Asymmetrie und Unberechenbarkeit, eine Symmetrie eigener Ordnung im Blick haben: Erstrebt wird eine asymmetrische Symmetrie bzw., wie wir in den ersten beiden Kapiteln der Arbeit gezeigt haben, eine ungeschuldete Gegenseitigkeit. 818 Durch die Parallelisierung der Bösen und Ungerechten (5,45) mit Zöllnern (5,46) und Heiden (5,47) ist eine Identifikation mit den Adressaten des Feindesliebegebots nicht möglich. Die Bösen und Ungerechten sind also im Feindesliebegebot die anderen, denen dennoch mit einer Liebe begegnet werden soll, die auf Gemeinschaft zielt.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

bindung der Feinde in die Reziprozität gelingender Gemeinschaft. Wie beim Feindesliebegebot ließe sich auch im Blick auf die Goldene Regel formulieren, dass es bei ihr darum geht, „soziale Feinde in die Solidaritätsbeziehung der Reziprozitätsbeziehungen wieder zurückzuholen“819. Trifft es zu, dass die strukturelle Parallele zwischen Feindesliebegebot und Goldener Regel darin besteht, dass ein Verhalten Gottes, das dem Beziehungsstatus gerade nicht entspricht bzw. unabhängig von diesem Beziehungsstatus ist, nachgeahmt werden soll, dann zeigt sich auch, dass weder durch das Feindesliebegebot noch durch die Goldene Regel positive Reziprozität kritisiert wird: Ebenso wenig wie der Schluss vom Kleineren aufs Größere in 7,11 das Verhalten der „Bösen“ gegenüber ihren Kindern kritisiert, sondern dieses Verhalten den positiven Vergleichspunktpunkt für das Handeln des himmlischen Vaters darstellt, greift der matthäische Jesus das Reziprozitätsdenken von Zöllnern (5,46) bzw. Heiden (5,47) an. Er verurteilt hier lediglich, dass die Wechselseitigkeit, die für den Verfasser des Matthäusevangeliums Charakteristikum gelingender Beziehungen ist, auf die eigene Gruppe beschränkt bleibt, und fordert dementsprechend eine Ausweitung der Reziprozität über die eigene Gruppe hinaus.820 Der entscheidende Schritt, Feinde in eine wechselseitige Beziehung einzubinden und sie auf diese Art und Weise zu Freunden zu machen, ist nach matthäischer Auffassung die Unterbrechung negativer Reziprozität: Hass soll nicht mit Hass vergolten, sondern durch Liebe und Empathie unterbrochen werden. Wo Feinde so behandelt werden, dass man die eigenen basalen Bedürfnisse zum Kriterium des Verhaltens ihnen gegenüber macht, dort besteht zumindest die Möglichkeit und darf darauf gehofft werden, dass die Feinde dieses positive Verhalten erwidern. Jesus fordert sowohl mit dem Feindesliebegebot als auch mit der Goldenen Regel dazu auf, Feindschaft zu unterbrechen und in der Nachahmung des himmlischen Vaters den ersten risikobehafteten Schritt zu wagen.821 Auch deshalb legte sich für ihn zwangsläufig eine positive Formulierung der Goldenen Regel nahe.822 819 Stegemann, Jesus, 295. 820 Vgl. unsere Auslegung des Feindesliebegebots in Abschnitt 3.1.2. 821 Dass es sich insbesondere bei der positiv formulierten Goldenen Regel um ein Wagnis handelt, betont der Systematiker Christofer Frey. Während die negative Formulierung nach Auffassung Freys einen „Kontrakt der Vermeidung“ (Partikularität, 116) darstellt, stellt sich im Blick auf die positive Fassung vor allem die Frage nach dem Risiko, das mit einem Handeln gemäß der Goldenen Regel verbunden ist: „Welche der beiden Seiten sollte anfangen, an dem Anderen zu gut zu handeln? Bei der positiven Form kann die Reziprozität schwächer und gefährdeter sein als bei der negativen. Wenn die positive Form den Angesprochenen auffordert, etwas für den Anderen Förderliches zu tun, dann liegt darin ein großes Risiko. Wer eine Vorgabe macht, kann umgekehrt leicht leer ausgehen“ (ebd.). Zum Risiko, das mit einer sich an der Goldenen Regel orientierenden Gerechtigkeitspraxis verbunden ist, vgl. auch Betz, Sermon, 519. 822 In der Forschung ist umstritten, ob es eine inhaltliche Differenz zwischen der positiven und der negativen Formulierung gibt. Diese Frage lässt sich u. E. pauschal gar nicht beantworten, sondern es ist immer auch der Kontext zu berücksichtigen, in dem die Goldene Regel gebracht wird. Wenn z. B. in Targum Pseudo-Jonathan zu Lev 19,18 die negativ formulierte

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Ist das richtig gesehen, dann zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass sich für den Verfasser des Matthäusevangeliums Liebe und Reziprozität nicht widersprechen, sondern dass der Evangelist Liebe im Kontext antiken Reziprozitätsdenkens versteht: Liebe und Feindesliebe zielen auf Gegenseitigkeit, wobei im Falle der Feindesliebe negative Reziprozität durchbrochen und in eine positive überführt werden soll. Entscheidend ist also nicht, ob Liebe und Feindesliebe einseitig sind – sie sind es (in unterschiedlichem Maße), sondern ob sie auf positive Gegenseitigkeit bezogen bleiben. Das bleiben sie. Damit stellen sich kritische Anfragen an all jene Ausleger, die annehmen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums Liebe als Verzicht auf Reziprozität bzw. als Überwindung des Gegenseitigkeitsprinzips interpretiert.823

3.1.2 Das Verhältnis der Goldenen Regel (7,12) zur „größeren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) und zur Feindesliebe (5,43–48) Nachdem im vorangehenden Abschnitt die Goldene Regel im Kontext der unmittelbar vorangehenden Verse interpretiert und der enge Zusammenhang von 7,7– 11 und 7,12 aufgezeigt wurde, soll im Folgenden ihr Verhältnis zur „größeren“ Gerechtigkeit und deren hervorragendster Konkretion, der Feindesliebe (5,43–48), untersucht werden.824 Wir nähern uns dabei der „größeren“ Gerechtigkeit über Goldene Regel an die Stelle des ‫ כָּמוֹ‬aus Lev 19,18 tritt, dann erläutert diese negative Formulierung das positiv formulierte Liebesgebot, ohne dass Liebe hier auf einen „Kontrakt der Vermeidung“ (Frey, Partikularität, 116) zu reduzieren wäre. Und auch in Did 1,2 erläutern sich das positiv formulierte Gottes- und Nächstenliebegebot einerseits und die negativ formulierte Goldene Regel andererseits gegenseitig. Dies ist mit einiger Wahrscheinlichkeit auch in Röm 13,10 der Fall, wo Paulus das unmittelbar vorher zitierte Nächstenliebegebot mit Worten kommentiert, in denen die negativ formulierte Goldene Regel anklingt: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.“ Philip S. Alexander hat darauf aufmerksam gemacht, dass erst ab dem 19. Jahrhundert christliche Autoren/Exegeten aus polemischen Gründen die Überlegenheit der (in Lk 6,31 und Mt 7,12 vorkommenden) positiven Formulierung der Goldenen Regel über die negative Form behauptet haben, während in Antike und Mittelalter bis hin zu den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts der Unterschied beider Fassungen keine Rolle spielte (vgl. Alexander, Golden Rule, 378–379). Das allgemein gehaltene Urteil Freys, die negative Fassung stelle einen „Kontrakt der Vermeidung“ (Partikularität, 116) dar, dürfte auf die angeführten biblischen und außerbiblischen Stellen nicht zutreffen, die Frey allerdings auch nicht im Blick hat. 823 So z. B. Luz, Matthäus Bd. 1, 388. Vgl. dazu unsere Auseinandersetzung mit Luz in Abschnitt 3.2.1. 824 Stiewe und Vouga verstehen die Goldene Regel „[a]ls Äquivalent des Begriffes der Gerechtigkeit, der das hermeneutische Programm in Mt 5,17–20 beherrschte“ (Bergpredigt, 211). Und Davies und Allison gehen davon aus, dass „Mt 7.12 gives expression to the ultimum desideratum, to the highest expression of the ‘better righteousness’“ (Matthew Bd. 1, 686). Beiden Autorenpaaren zufolge sind also die „überfließende Gerechtigkeit“ und die positiv

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

den Wortstamm περισσ-, über den die Verbindung der Gerechtigkeit und dem sechsten Kommentarwort (5,47) läuft. Ein Schnelldurchgang durch die Kommentarworte (5,21–48) wird dabei zeigen, dass das hermeneutische Grundprinzip, dass alle Kommentarworte miteinander verbindet, ein „Über-Hinaus“ ist: Die Toraauslegungen Jesu gehen über die halachisch-justitiable Ebene hinaus und fordern ein nicht vor irdischen Gerichten, sondern nur vor Gott justitiables „Mehr“. Als ein solches „Mehr“ versteht der matthäische Jesus auch die Ausweitung des Liebesgebots auf die Feinde (5,43–48). Wir werden sehen, dass die Feindesliebe in ihrer Einseitigkeit darauf zielt, negative Gegenseitigkeit zu durchbrechen, um positive Gegenseitigkeit, d. h. gelingende Beziehung, zu ermöglichen.825 Das aber impliziert, das sich der Reziprozitätscharakter der Goldenen Regel und die Einseitigkeit der Feindesliebe komplementär zueinander verhalten: Die Durchbrechung negativer Reziprozität zielt auf durch Gegenseitigkeit bestimmte Gemeinschaft. Beginnen wir mit der Forderung einer über das Maß hinausgehenden Gerechtigkeit, die der matthäische Jesus in 5,20 von seiner Schülerschaft fordert: Λέγω γὰρ ὑμῖν ὅτι ἐὰν μὴ περισσεύσῃ ὑμῶν ἡ δικαιοσύνη πλεῖον τῶν γραμματέων καὶ Φαρισαίων, οὐ μὴ εἰσέλθητε εἰς τὴν βασιλείαν τῶν οὐρανῶν. Laut Friedrich Hauck handelt es sich bei dem Verb περισσεύω um ein „eschatologisches Leitwort“826, für das – so Gerhard Schneider – der Verfasser des Matthäusevangeliums im Vergleich zu den anderen beiden Synoptikern „eine gewisse Vorliebe“827 zeigt. Das Urteil Schneiders liegt vor allem darin begründet, dass sich das Evangelium an zwei Stellen von der jeweiligen Paralleltradition unterscheidet: Während der Evangelist in 13,12 seine Markusvorlage 4,25 ὃς γὰρ ἔχει, δοθήσεται αὐτῷ durch καὶ περισσευθήσεται erweitert, findet sich dieselbe Differenz auch bei einem synoptischen Vergleich der Parabel von den anvertrauten Pfunden. So steht der lukanischen Version λέγω ὑμῖν ὅτι παντὶ τῷ ἔχοντι δοθήσεται in Lk 19,26 die durch καὶ περισσευθήσεται erweiterte matthäische Variante gegenüber (25,29). Unter der Voraussetzung, dass auch Mt 5,20 im Wesentlichen der matthäischen Redaktion geschuldet ist,828 finden sich im Matthäusevangelium damit drei Stellen, in denen der Evangelist das Verb περισσεύω bewusst einsetzt. Welchen semantischen Gehalt besitzt nun das Verb περισσεύω? Eine erste Auskunft ist von der Verwendung der Wurzel περισσ- in der Bergpredigt zu erwarten. Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums durch das Adjektiv περισσός, welches er in 5,47 verwendet, die Kommentarworte Jesu rahmt: Die geforderte „größere“ Gerechtigkeit (5,20) zeigt sich darin, dass die Schülerschaft Jesu in der Nachahmung der göttlichen Liebe

825 826 827 828

formulierte Goldene Regel letztendlich identisch. Die Goldene Regel ist vornehmster Ausdruck der „größeren Gerechtigkeit“. Auch Betz nimmt an, dass die Goldene Regel „corresponds to the greater righteousness required in 5:20“ (Sermon, 518). Vgl. Strecker, Golden Rule, 45. Vgl. Maschmeier, Feindesliebegebot, 47. Hauck, Art. περισσεύω κτλ., 59. Die Aussage ist auf das Neue Testament insgesamt bezogen. Schneider, Art. περισσεύω, Sp. 181. Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 308.

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nicht nur die Nächsten, sondern auch die Feinde liebt und damit über das Erwartbare hinausgeht. Bevor wir uns aber dem sechsten Kommentarwort direkt zuwenden, soll der bereits angekündigte Schnelldurchgang durch die sogenannten Antithesen (5,21–48) erfolgen. Vorausgesetzt ist dabei, dass auch die im Feindesliebegebot kulminierenden Kommentarworte in struktureller Hinsicht Auskunft über die Beschaffenheit der „größeren“ Gerechtigkeit geben. Das „Mehr“ lässt sich nicht nur im Feindesliebegebot, sondern auch in den vorangehenden Toraauslegungen Jesu finden. Beginnen wir mit dem ersten Kommentarwort in Mt 5,21–26. Auf der Grundlage des Dekaloggebots, nicht zu morden (Ex 20,13; Dtn 5,17), verbietet der matthäische Jesus hier bereits den Zorn und harmlose Schimpfworte829. Das Verbot, nicht zu morden, wird also ausgeweitet. Jesus erhebt eine Forderung, die über das Dekaloggebot hinausgeht und dabei dessen Gültigkeit weiterhin voraussetzt. Dem korrespondiert die grundlegende, im Proömium zu den Kommentarworten getätigte Aussage Jesu, er sei nicht gekommen, Tora und Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt 5,17). Ähnlich wie mit dem ersten verhält es sich mit dem zweiten Kommentarwort (Mt 5,27–30): Unter der Voraussetzung, dass das Verbot, die Ehe zu brechen, auch weiterhin Gültigkeit besitzt, verbietet der matthäische Jesus bereits den intentionalen begehrlichen Blick seiner männlichen Adressaten auf eine verheiratete Frau. Jesus fordert gegenüber dem Dekaloggebot ein „Mehr“: Nicht nur der faktische Ehebruch, sondern bereits der begehrliche Blick werden verboten. Auch das dritte Kommentarwort (Mt 5,31–32) kann letztendlich nicht als Infragestellung der Scheidebriefpraxis verstanden werden: Im Falle der Unzucht nämlich wird die Ausstellung des Scheidebriefs weiterhin erlaubt (vgl. Mt 19,9), was die prinzipielle Gültigkeit dieses Gebots voraussetzt. Der matthäische Jesus setzt hier also nicht die Scheidebriefregelung außer Kraft, sondern er weitet das Verbot, die Ehe zu brechen, aus. Ehebruch umfasst nicht nur den begehrlichen Blick des Mannes, sondern auch die Entlassung der eigenen Frau. Der formalen Gestaltung des zweiten und dritten Kommentarworts, die durch die Verkürzung der Einleitungswendung des dritten Kommentarworts („Ἐρρέθη δέ“) dessen enge Anbindung an das zweite Kommentarwort zum Ausdruck bringt, signalisiert in inhaltlicher Hinsicht, dass die Scheidebriefreglung im Rahmen der Ausweitung des Ehebruchverbots verstanden werden will. Bis auf Unzucht gibt es in den Augen Jesu keine Gründe, die die Scheidung rechtfertigen. Es soll idealerweise überhaupt nicht geschieden werden. Auch im dritten Kommentarwort geht es damit um ein „Über-Hinaus“ bzw. „Mehr als“. Im Blick auf das dritte Kommentarwort ist auch zu berücksichtigen, was schon für die ersten beiden gilt: Ebenso wenig wie der Zorn und der begehrliche Blick ist das vom matthäischen Jesus hinsichtlich der Scheidebriefpraxis Geforderte justitiabel: Insinuiert wird hier nämlich, dass sowohl der Ehemann, der seiner Frau einen Scheidebrief ausstellt, als auch die Ehefrau, die einen neuen Mann heiratet, als 829 Ein qualitativer Unterschied zwischen beiden Schimpfworten ist nicht erkennbar. Vgl. dazu Wengst, Regierungsprogramm, 87.

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auch dieser neue Mann Ehebruch begehen: „Ich aber sage euch. Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn wegen Ehebruchs, der macht, daß sie die Ehe bricht; und wer eine Geschiedene heiratet, der bricht die Ehe“ (Mt 5,32). Wer soll hier wen verklagen? Die Absurdität der vorgestellten Situation macht deutlich, dass das von Jesus Geforderte – anders als die Ausstellung eines Scheidebriefs – vor Gericht nicht verhandelbar ist. Ein wesentliches Kennzeichen der über eine bestehende Norm, konkret: das jeweilige Gebot, hinausgehenden Gerechtigkeit ist damit ihre Nicht-Justitiabilität. Es ist das Verdienst von Peter Wick, diese Dimension der Kommentarworte herausgearbeitet und als wesentliches Merkmal der „größeren“ Gerechtigkeit herausgestellt zu haben.830 In diesem Zusammenhang ist nun auch zu berücksichtigen, dass der Maßstab der Forderungen Jesu die Vollkommenheit Gottes selbst ist (5,48). Das aber impliziert, dass zwischen den justitiablen Forderungen der (von Gott gegebenen) Tora als Gesetz und zwischen den nichtjustitiablen Forderungen, die über die Gesetzesebene hinausgehen und an Gott selbst Maß nehmen, unterschieden werden muss.831 Der matthäische Jesus fordert hier mehr,

830 Vgl. Wick, Antithesen, 162–166. Bei den Toraverschärfungen handelt es sich nach Wick um haggadische Torainterpretationen, die in der rabbinischen Literatur unter der Wendung le-fenim mi-shurat ha-din bekannt sind (vgl. Wick, Strategies, 237; vgl. ders., Antithesen, 175). Wick bezieht die „größere“ Gerechtigkeit aber nicht auf diese haggadische Interpretation, sondern auf die Interpretation der Toragebote vom Liebesgebot her: Demnach fügt der Verfasser des Matthäusevangeliums der Torainterpretation Jesu gegenüber der halachischen und der haggadischen Ebene noch eine weitere Ebene hinzu. 831 Dies hat eine rabbinische Parallele in der Forderung nach einem Handeln „innerhalb der Rechtslinie“, d. h einem Handeln gemäß der von der Tora selbst nicht gebotenen überrechtlichen Barmherzigkeit. Nach bBM 30b ist die Zerstörung Jerusalems darauf zurückzuführen, dass nach dem strengen Recht der Tora gerichtet wurde: „‚Daß sie üben sollen: innerhalb der Rechtslinie.‘ R. Joḥanan sagte nämlich, Jerusalem sei nur deshalb zerstört worden, weil sie nach dem Rechte der Tora richteten. Sollten sie denn nach dem Dorfrechte richten? Vielmehr ist dies zu verstehen; sie sprachen Recht genau nach der Tora und verblieben nicht innerhalb der Rechtslinie“ (Übersetzung Goldschmidt, Der babylonische Talmud Bd. VII, 531–532). Felix Böhl kommentiert diese Stelle folgendermaßen: „Es muß hier auffallen, daß Jerusalem zerstört und Israel bestraft wurde für die Mißachtung eines Gebotes, das gar keines ist: Ein Handeln innerhalb der Rechtslinie ist nirgends geboten. Nach Ansicht der Rabbinen jedoch ist dieses Prinzip des Handelns innerhalb der Rechtslinie als der Thora immanent zu denken“ (Gebotserschwerung, 63). Im Kontext dieser Aussagen macht Böhl darauf aufmerksam, dass das Handeln innerhalb der Rechtslinie einerseits freiwillig ist (vgl. ebd., 62), anderseits dieses „sittliche Handeln … so sehr vorbildlich, grundlegend [wird], daß zuweilen die Freiwilligkeit aufgehoben erscheint. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, daß die Forderung, innerhalb der Rechtslinie zu handeln, ihre Verbindlichkeit eben nicht aus dem Gewissen erhält im Sinne einer Gewissensautonomie, sondern aus dem Willen Gottes“ (ebd.). Diese Aussagen sind insofern höchst aufschlussreich, weil Böhl hier eine Spannung zwischen Freiwilligkeit und Notwendigkeit wahrnimmt und die Notwendigkeit mit dem „Willen“ Gottes verbindet, der ein solches Handeln „innerhalb der Rechtslinie“ fordert. Die Parallelen zu den Kommentarworten der Bergpredigt sind offensichtlich: Auch hier wird ein Handeln „innerhalb der Rechtslinie“ gefordert, das sich an der Barmherzigkeit bzw. der Liebe Gottes selbst orientiert, das die Ebene des Rechts übersteigt und nicht justitiabel ist.

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als vor irdischen Gerichtshöfen verhandelbar wäre. Seine Forderung geht somit über die justitiable halachische Ebene hinaus, ohne diese prinzipiell in Frage zu stellen. Von besonderer Bedeutung für den semantischen Gehalt des Stammes περισσist neben dem sechsten Kommentarwort das vierte „vom Schwören“ (Mt 5,33–37). Hier zeigt sich die „größere“ Gerechtigkeit darin, dass ein bestimmter Maßstab, die eindeutige und wahrhaftige Rede, nicht unterschritten werden darf. In hyperbolischer Sprache fordert der matthäische Jesus, alles, was über ein einfaches Ja bzw. Nein hinausgeht, zu vermeiden. Jedes Wort zu viel ist ein Ausdruck des Bösen: ἔστω δὲ ὁ λόγος ὑμῶν ναὶ ναί, οὒ οὔ· τὸ δὲ περισσὸν τούτων ἐκ τοῦ πονηροῦ ἐστιν (5,37). Offensichtlich kann der Verfasser des Matthäusevangeliums das Übermaß, den Exzess, positiv und negativ konnotieren: Während in den ersten drei Kommentarworten ein Mehr (als Entsprechung zur Vollkommenheit Gottes) gefordert wird, ist das περισσόν im vierten Kommentarwort negativ qualifiziert. Im Blick auf die menschliche Rede ist jedes Eindeutigkeit und Wahrhaftigkeit überschreitende Gerede strengstens verboten. Allerdings handelt es sich auch beim vierten Kommentarwort wie bei den vorangehenden um die Ausweitung einer Norm: Das, was für Gelübde gilt, dass sie nämlich zu halten sind, soll immer gelten. Das Gebot wird nicht aufgehoben, sondern die dem Gebot inhärente Norm auf Alltagssituationen ausgeweitet.832 Auch hier ist offensichtlich, dass anders als beim Eid, die geforderte Wahrhaftigkeit und Eindeutigkeit auf halachischer Ebene nicht justitiabel ist. Auch hier ist es Gott selbst, dem sich der Mensch in seiner Unfähigkeit, für die von ihm gemachten Gelübde gerade zu stehen, Rechenschaft schuldig ist. Auch die Forderung Jesu im fünften Kommentarwort (Mt 5,38–42), dem Bösen nicht zu widerstehen (5,39), liegt letztendlich auf einer Linie mit der Vorstellung, dass die „größere“ Gerechtigkeit über einen gültigen Maßstab hinausgeht: Derjenige, der die andere Wange hinhält (5,39), der zum letzten Hemd auch noch den gemäß der Tora nicht justitiablen Mantel (Ex 22,25f.; Dtn 24,12f.) gibt (5,40), und sich anstelle der einen Meile für zwei Meilen requirieren lässt (5,41), tut nicht nur – zumindest in den letzten zwei Fällen etwas, was ganz konkret über das Geforderte bzw. über das Recht hinausgeht, sondern er verzichtet auf Reziprozität, die Grundlage der in V. 38 zitierten Talionsformel ist. Dieser Reziprozitätsverzicht gegenüber dem als böse charakterisiertem Gegenüber, stellt nicht die Gegenseitigkeit als solche in Frage, sondern verbietet wie das sechste Kommentarwort ausschließlich negative Reziprozität. Der Verzicht ist dabei in Mt 5,38–42 näherhin als Rechtsverzicht zu verstehen,833 der die Gültigkeit des Rechts voraussetzt. Auf der Grundlage des Rechts fordert der matthäische Jesus den Rechtsverzicht seiner Wie bereits gesagt, halten wir die Ausdrucksweise eines Handelns „innerhalb der Rechtslinie“ für problematisch und präferieren die Übersetzung „jenseits der Linie des Rechts“ (vgl. Anm. 692). 832 Damit, auch darauf hat Peter Wick aufmerksam gemacht, zieht der matthäische Jesus einen Zaun um die Tora und schützt dieses Gebot vor der Übertretung (vgl. Wick, Antithesen, 161). 833 So Wengst, Vom kreativen Rechtsverzicht.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Adressaten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Forderung in einer Situation erfolgt, in der die Adressaten als solche verstanden werden, in der sie ihr gutes Recht nicht einklagen können und durch die Übererfüllung der rechtswidrigen Forderungen dem „Bösen“ (V. 39) dessen Rechtsbruch vor Augen führen.834 Dass im Bereich des Rechts natürlicherweise gilt, dass Schädigungen durch ein Gegenüber durch ein Gericht geahndet werden, stellt der matthäische Jesus hier also nicht in Frage.835 Es gilt auch weiterhin. Gleichzeitig fordert er aber mit dem Rechtsverzicht etwas, was über dieses Recht hinausgeht und damit auch nicht justitiabel ist.836 Von Rechts wegen kann der Rechtsverzicht nicht gefordert werden. Fassen wir zusammen: Ein Schnelldurchgang durch die ersten fünf Kommentarworte hat hinsichtlich der Frage nach dem Gehalt der „größeren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) ergeben, dass (1) ein Maßstab bzw. eine Norm vorausgesetzt wird, die überboten werden soll, aber auf keinen Fall unterboten werden darf und dass (2) das Geforderte über die halachische Ebene hinausgeht und damit nicht justitiabel ist. Die „größere“ Gerechtigkeit nimmt Maß am göttlichen Verhalten selbst, an der göttlichen Vollkommenheit (5,48). Lässt sich nun auch das sechste Kommentarwort vor diesem Hintergrund verstehen? Wir haben oben bereits angedeutet, dass auch das Gebot, nicht nur den Nächsten, sondern auch die Feinde zu lieben, als Ausweitung des Nächstenliebegebots verstanden werden kann.837 Das macht die zweite Reihe rhetorischer Fragen, die der matthäische Jesus seinen Adressaten stellt, deutlich: „Und wenn ihr allein eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes (τί περισσὸν ποιεῖτε;)? Tun nicht auch die Völker dasselbe?“ Entscheidend sind hier die Worte μόνον und περισσόν. Während das μόνον deutlich macht, dass der matthäische Jesus nicht die Freundlichkeit zu den Brüdern, sondern die Beschränkung der Freundlichkeit allein auf die Brüder kritisiert, bringt περισσόν zum Ausdruck, dass Freundlichkeit gegenüber den Feinden über das, was normalerweise zu erwarten wäre, hinausgeht. Nicht ein bestimmtes Verständnis von Nächstenliebe wird hier in Frage gestellt, sondern auf der Grundlage dessen, dass Nächstenliebe selbstverständlich geübt werden soll, eine solche auch gegenüber den Feinden gefordert.838 Der für die anderen Kommentarworte entscheidende Aspekt der Nicht-Justitiabilität ist in der 834 Diese Auslegung der Talionsformel in einem Kontext, in dem die Adressaten Jesu ihr Recht nicht einklagen können, hat Klaus Wengst zum Schlüssel seiner Interpretation gemacht. Vgl. Wengst, Vom kreativen Rechtsverzicht, 40.43; ders., Regierungsprogramm, 117–118. 835 So auch Peter Wick, Antithesen,172. 836 Das wird besonders in der zweiten geschilderten Situation (5,40) deutlich: Der Verklagte soll etwas tun, was nach der Tora nicht erlaubt ist, nämlich auch seinen Mantel pfänden lassen (Ex 22,25f.; Dtn. 24,12f.). Aus halachischer Perspektive ist dieses Verhalten absurd. 837 Vgl. S. 274. 838 Häufig wird ein Rückschluss von der Forderung der Feindesliebe auf den Charakter der Nächstenliebe gezogen: Ebenso wie die Feindesliebe, zeichne sich die Nächstenliebe dadurch aus, dass ohne die Erwartung einer Gegenleistung gegeben wird. In diesem Sinne bemerkt Moisés Mayordomo: „Die selektive und eigennützige Liebe wird in 5,46f. in Frage gestellt“ (Gewaltvermeidung, 20). Dass die eigennützige Liebe im Sinne eines gelungenen Miteinanders in Frage gestellt wird, können wir nicht sehen.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

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Vorstellung der Vollkommenheit Gottes enthalten, die der matthäische Jesus hier zum Maßstab des Handelns seiner Schülerschaft macht (5,48). Nicht-Justitiabilität auf halachischer Ebene und die Orientierung an der Vollkommenheit Gottes sind zwei Seiten derselben Medaille. Entscheidend im Blick auf unsere Fragestellung nach der Einseitigkeit bzw. Gegenseitigkeit von Goldener Regel, Feindesliebe und „größerer Gerechtigkeit“ ist nun, dass die vorgeschlagene Interpretation des sechsten Kommentarworts ohne die Vorstellung von Liebe als eines rein-einseitigen und selbstlosen Handelns auskommt. Nochmals: Nichts deutet darauf hin, dass der matthäische Jesus die gegenseitige Zuwendung der Heiden oder Zöllner zueinander kritisiert.839 Im Zentrum 839 Dieser Aspekt ist in der lukanischen Version des Feindesliebegebots (Lk 6,27–35) nicht so deutlich. So versteht eine Reihe von Forschern vor allem Lk 6,32–34 als prinzipielle Infragestellung von Reziprozität und Gegenseitigkeit: Es soll geliehen werden, ohne zurückzuerwarten. In diesem stellt Hans Klein zu V. 34 fest, dass „[a]uch gegenüber versteckten Forderungen, das Erbetene nur zu leihen, … Jünger Jesu nicht zurückhaltend sein [sollen]. Die Erwartung, es zurückzubekommen, soll aufgegeben werden. Das Entliehene soll als geschenkt angesehen werden. Denn nur ‚Sünder‘, Unerlöste, erwarten die Rückgabe. Wer Rückgabe erwartet, kann mit Gottes ‚Dank‘ als Vergeltung bei der Auferstehung der Gerechten (14,14) nicht mehr rechnen. Er bekommt, was er erhofft, von Menschen“ (Lukasevangelium, 258). Abgesehen davon, dass Klein hier die Forderung, zu geben, ohne zurückzuerwarten, aus dem Kontext der Feindesliebe, um die es hier geht, löst und allgemein auf zwischenmenschliche Beziehungen bezieht, mutet es merkwürdig an, wie er die in V. 35 verheißene Vergeltung Gottes (μισθός!) gegen zwischenmenschliche Gegenseitigkeit ausspielt. Ohne zu viel in seine Worte hineinzulesen, lautet die Quintessenz seiner Interpretation des Feindesliebegebots: Verzichtet prinzipiell, also nicht nur in feindlichen, sondern auch in freundschaftlichen Beziehungen auf eine Rückgabe, weil ihr sonst keine Gabe Gottes erwarten könnt. Hier werden u. E. göttliche und zwischenmenschliche Reziprozität gegeneinander ausgespielt, ohne zu erklären, was die göttliche Reziprozität von der zwischenmenschlichen unterscheidet. Eine solche Erklärung bietet François Bovon, der einen kategorialen Unterschied zwischen berechnenden zwischenmenschlichen Gaben in der hellenistischen und der jüdisch-utilitaristischen Ethik und der Feindesliebe betont, die die nicht-berechnende, selbstlose Liebe Gottes nachahme (vgl. Bovon, Lukas Bd. 1, 317). Unseres Erachtens übersieht Bovon an dieser Stelle, dass in der hellenistischen Antike Beziehungen als Gabebeziehungen konzeptualisiert werden, die durch die Spannung von Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit geprägt sind und sich vom Tauschgeschäft unterscheiden. Zudem wäre zu fragen, wie sich die Verheißung göttlichen Lohns (Lk 6,35) für ein Handeln gemäß der Feindesliebe mit der Vorstellung einer sich von zwischenmenschlicher Gegenseitigkeit kategorial unterschiedenen Gegenseitigkeit vereinbaren lässt. Mit Wolfgang Stegemann ist deshalb auch die lukanische Version der Forderung Jesu, die Feinde zu lieben, im Kontext antiken Reziprozitätsdenkens zu verorten. So hebt Stegemann die Rolle, die Gott in und für die zwischenmenschliche Reziprozität spielt, hervor. Letztendlich ist Gott für Stegemann derjenige, der Reziprozität dort garantiert, wo sie auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht realisiert wird: Gott kompensiert die ausbleibende Reaktion auf praktizierte Feindesliebe. Entscheidend für dieses Verständnis der Feindesliebesperikope ist deren Abschluss in V. 35: „Dieser Vers (6,35) rät auch dazu, die Feindesliebe-Forderung nicht aus dem Konzept der Reziprozität herausfallen zu lassen, sie also nicht in irgendeinen utopischen Raum moralischen Verhaltens hineinzustellen. Lesen wir dort doch etwas von einem Dritten, der die in der Feindesliebe erbrachte Leistung vergelten wird. ‚Denn euer Lohn wird groß sein, und zwar werdet ihr Söhne des Höchsten sein.‘ Die

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

seiner Kritik steht vielmehr die Beschränkung dieser Zuwendung auf die eigene Gruppe. Zudem ist auch zu berücksichtigen, dass das Gott selbst nachahmende Handeln der Schülerschaft Jesu in einem wechselseitigen Verhältnis zu ihrer Gottesbeziehung steht. Nicht nur erweisen sich diejenigen, die Feindesliebe üben, als Gottes Kinder (5,45), sondern ihnen ist göttlicher Lohn verheißen (vgl. Lk 6,35). So lautet die erste Reihe der rhetorischen Fragen, die parallel zu 5,47 formuliert ist: „Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?“ Wir verstehen die hier anklingende Verheißung von Lohn als Metapher dafür, dass Feindesliebe nicht „umsonst“ geübt wird.840 Die geforderte, auf Gegenseitigkeit zielende Einseitigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen, durch die negative Reziprozität durchbrochen werden soll und die nicht unbedingt mit einer positiven Reaktion des Gegenübers rechnen darf, stellt gleichzeitig auf der Ebene der Gott-Mensch-Beziehung ein reziprokes Handeln dar: Die Nachahmung Gottes gestaltet die Gottesbeziehung und darf darauf vertrauen, von Gott angenommen zu werden. In diesem Sinne ist der Feindesliebe Lohn (5,46) verheißen und entscheidet die „größere“ Gerechtigkeit über den Eingang ins Himmelreich (5,20).841 Ein Einfallstor für Kritik an Gegenseitigkeit findet sich am ehesten in V. 46. Kann aus der Verheißung des Lohnes für die Feindesliebe nicht geschlossen werden, dass auch die Nächstenliebe nicht auf Gegenseitigkeit aus sein soll? U. E. ist das nicht der Fall. Der Lohn derjenigen, die ihren Nächsten lieben, besteht darin, dass diese Liebe in der Regel vom Nächsten erwidert wird. Dieser Wert von Gegenseitigkeit wird hier nicht in Frage gestellt. Nach gesamtbiblischem Verständnis hat Gott den Menschen als Beziehungswesen geschaffen, Beziehung aber ist durch ein Kompensation besteht also in einer Statuserhöhung, oder, so ließe sich auch sagen, in einem enormen Zugewinn an Ehre, mehr noch: in einer damit verbundenen postmortalen Hoffnung. Diese ‚Vergeltung‘ der (mit ‚Feindesliebe‘ umschriebenen) ‚Leistungen‘ erwartet der Text von Gott als dem Dritten in der Reziprozitätsbeziehung“ (Stegemann, Gabenkultur, 77). Die entscheidende Pointe in der Interpretation Stegemanns besteht darin, dass er zu Recht auf den Reziprozitätscharakter der Gott-Mensch-Beziehung verweist. Stegemann dürfte dabei voraussetzen, dass diejenigen, die durch ihre Feindesliebe die göttliche Liebe selbst nachahmen und damit den göttlichen Willen erfüllen, darauf hoffen dürfen, dass dieses Verhalten, das auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht mit einer Erwiderung der Liebe rechnen darf, nicht umsonst ist, sondern von Gott anerkannt wird. Stegemann spricht in diesem Zusammenhang von göttlicher Vergeltung, Feindesliebe als ‚Leistung‘ und Kompensation. Ihm zufolge gibt es also einen Ausgleich für diejenigen, die Feindesliebe üben, auch wenn er auf einer anderen Ebene als derjenigen, die mit der Feindesliebe anvisiert ist, erfolgt. Interessant ist in diesem Kontext auch der Übersetzungsvorschlag von Matthias Adrian, der Lk 6,35 wie folgt übersetzt: „Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, wodurch ihr nichts verloren gebt“ (Mutuum date nihil desperantes, 162). Zu dieser Übersetzung von ἀπελπίζω und der damit verbundenen Deutung des Verses vgl. ebd. 840 Das gilt erst recht, wenn die Rede vom Lohn auf Mt 6,1–18 vorausverweist, wo in ökonomischer Terminologie vom vergeltenden Handeln Gottes die Rede ist. 841 Vorausgesetzt ist auch hier, dass dem geforderten Verhalten ein göttliches Handeln vorausgeht.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

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gegenseitiges Geben und Nehmen gestaltet. Das sechste Kommentarwort propagiert deshalb nicht die reine, einseitige, altruistische Liebe, sondern die Durchbrechung negativer Reziprozität: Dem Feind soll nicht, wie die an das Nächstenliebegebot angeschlossene vulgärethische Maxime nahelegt (5,43), mit Hass begegnet werden, sondern mit Liebe. Idealerweise ermöglicht die Durchbrechung negativer Reziprozität wechselseitige Beziehung. Kurz: Das hier skizzierte Verständnis des sechsten Kommentarworts weitet die Nächstenliebe auf den Feind aus. Feindesliebe geht dabei auch strukturell über die Nächstenliebe hinaus, indem sie Böses mit Gutem vergilt: Guten und Bösen wird somit in Güte begegnet (vgl. 5,45). Dabei nimmt die Feindesliebe Maß an der göttlichen Vollkommenheit (5,48). Sie ist vor weltlichen Gerichtshöfen nicht justitiabel. Das Hinausgehen über ein in seiner Gültigkeit nicht eingeschränkten Gebots und die Nicht-Justitiabilität teilt das sechste Kommentarwort mit den vorangehenden. Mit dem hier vorgeschlagenen Verständnis der „größeren“ Gerechtigkeit (5,20) als einer solchen, die auf Grundlage eines gültigen Maßstabs über diesen noch hinausgeht und ihn übertrifft, ist auch eine Antwort auf die Frage gegeben, worin aus der Sicht des Verfassers des Matthäusevangeliums die quantitative Differenz zwischen der Gerechtigkeit, die der matthäische Jesus von seiner Schülerschaft fordert, und der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer besteht: Das Hinausgehen über die halachische Ebene der Torainterpretation und das ihm korrespondiere Maßnehmen an der Vollkommenheit Gottes (5,48) machen den Unterschied! Hierin liegt das „Mehr“. Diese Interpretation trägt der quantitativen Bedeutung des Verbs περισσεύειν und des Komparativs πλεῖον Rechnung, die in der Regel anerkannt wird, ohne sie dann aber inhaltlich näher bestimmen zu können: Worin die quantitative Differenz der jeweiligen Gerechtigkeit besteht, gibt den Exegeten Rätsel auf.842 Ulrich Luz spricht in diesem Zusammenhang von einer „Leerstelle“843 und warnt in Auseinandersetzung mit Georg Strecker und Hans Weder zu Recht vor ihrer vorschnellen Füllung von der die Kommentarworte bestimmenden und qualitativ verstandenen Liebe her.844 Für ihn bleiben die quantitative Dimension der Gerechtigkeit, die er nicht näher zu bestimmen vermag, und die qualitative Dimension, die sich durch die Berücksichtigung der sogenannten Antithesen ergibt, unverbunden nebeneinander stehen: „Von den Antithesen her bedeutet die quantitativ größere Gerechtigkeit der Jünger zugleich eine von der

842 Eine Ausnahme bilden Klaus Wengst und Matthias Konradt: Während Wengst das quantitative „Mehr“ der Gerechtigkeit der Schülerschaft Jesu als Einheit von Lehre und Tun versteht, deren Diskrepanz auf Seiten der Pharisäer und Schriftgelehrten der matthäische Jesus in Mt 23,3–4 verurteilt (vgl. Wengst, Regierungsprogramm, 75–76), erklärt Konradt die quantitative Differenz vor dem Hintergrund der matthäischen Hierarchisierung der Gebote: So würden die Pharisäer und Schriftgelehrten die wichtigen Gebote des „Rechts, der Barmherzigkeit und der Treue“ (Mt 23,23) nicht beachten und so das Gerechtigkeitsniveau der Schülerschaft Jesu nicht erreichen (vgl. Konradt, Matthäus, 77). 843 Luz, Matthäus Bd. 1, 319 mit Anm. 95. 844 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 319 Anm. 95.

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Liebe geleitete qualitative Intensivierung ihres Lebens vor Gott.“ 845 Dieses unverbundene Nebeneinander einer quantitativen, nicht näher bestimmbaren, und einer qualitativen Dimension der Gerechtigkeit, führt in den allermeisten Fällen dazu, dass die quantitative Leerstelle qualitativ gefüllt wird. Ganz unbefangen kann Donald A. Hagner davon sprechen, dass „[a]lthough the language here sounds quantitative (lit. ‘abound more than’), the contrast is really qualitative, as the great difference between the ethical teaching of Jesus in the Gospels and the oral tradition of the Pharisees indicates (note too the reference to the ‘heavy burdens’ imposed by the Pharisees in 23:4, and the contrast to the ‘easy yoke’ and ‘light burden’ of Jesus in 11:30)“846. Auch wenn dieses offensive Übergehen der

845 Luz, Matthäus Bd. 1, 320. 846 Hagner, Holiness and Ecclesiology, 175. Interessanterweise finden sich immer wieder Ausführungen darüber, wie die quantitative Differenz nicht verstanden werden darf. So ist John Nolland davon überzeugt, dass Jesus seine Schülerschaft nicht dazu auffordert, noch „förmlicher“, „peinlich genauer“ oder „spitzfindiger“ die Gebote zu beachten (alle drei Übersetzungen sind laut dem Englisch-Wörterbuch von Langenscheidt Wiedergabemöglichkeiten des Adjektivs „punctilious“), als es seine Gegner tun: „What can be said about the righteousness in view in v. 20? The imagery is immediately of a quantifiable righteousness (‘abundant’). … At the same time the aside about the scribes and Pharisees suggests that something different from mere punctilious attention to the details of the Law is in view“ (Matthew, 224). Etwas später, nachdem er erneut betont hat, was das „Mehr“ nicht beinhaltet, nämlich Aufrechnen und Messen („calculation or measurement“[ebd., 225]), bezieht er das Verb περισσεύειν auf den Gehorsam der Schüler: Diese sollen sich in einem stärkeren Maß mit dem Willen Gottes beschäftigen, als es die Pharisäer und Schriftgelehrten tun: „[V.] 20 does give some sort of quantitative test for entry into the kingdom of heaven, though the chosen language – that of abundance – is not designed to encourage specific calculation or measurement. It is rather more likely that the desire is to encourage an exuberant engagement with the demands of the will of God made known through the Law as unveiled by Jesus“ (Matthew, 225f.). Auch durch diese Verlagerung weg von der Charakterisierung der Gerechtigkeit als einer quantitativ sich von der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer abhebenden hin zu einem größeren Engagement der Schülerschaft kann keine Antwort auf die Frage sein, worin die größere Gerechtigkeit inhaltlich besteht. Die Aussage, die Schülerschaft Jesu solle sich einfach mehr mit dem Willen Gottes beschäftigen, ist zu unspezifisch und verbleibt an der Oberfläche. In eine ähnliche Richtung wie die Ausführungen Nollands geht die Interpretation Jan Lambrechts. Seiner Ansicht zufolge „wäre [es] … falsch, mit Hilfe von Vers 19 die Gerechtigkeit, welche die der Schriftgelehrten und Pharisäer übertrifft, als eine Gesetzestreue auszulegen, die noch gewissenhafter als diese die kleinste Vorschrift befolgt“ (Bergpredigt, 85). Donald Hagner wehrt das mögliche Missverständnis ab, der matthäische Jesus erhöhe die Anzahl der gesetzlichen Bestimmungen, um auf diese Weise einen höheren Zaun um die Tora zu ziehen, als es die Pharisäer und Schriftgelehrten tun (vgl. Hagner, Holiness and Ecclesiology, 175). Und Udo Schnelle bemerkt in seiner Theologie des Neuen Testaments, dass Jesus keine „Beachtung vieler einzelner Vorschriften, Gebote und Regeln“ (Theologie des Neuen Testaments, 433) fordere.

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quantitativen Bedeutung von περισσεύειν und πλεῖον nicht die Regel ist (für Hagner klingt es nur quantitativ),847 liegen die meisten Interpretationen auf einer Linie mit Hagner. Sie interpretieren die Differenz von der die Kommentarworte bestimmenden Liebe qualitativ.848 Das zeigt sich sehr schön in der Interpretation von Davis und Allison. So verweisen sie im Rahmen ihrer quantitativen Deutung der „größeren“ Gerechtigkeit auf das περισσόν in 5,47, das sie ebenfalls quantitativ übersetzen: „‘And if you salute only your brethren, what more are you doing than others? ’“849. Im unmittelbaren Anschluss an diese Übersetzung stellen sie fest: „The greater righteousness is a doing more. It is therefore a quantitative advance. Yet this is not to deny that, in Matthew’s eyes, there is also a qualitative advance. After all, love cannot be quantified.“850 Exemplarisch für viele andere starten auch Davis und Allison bei einer quantitativen Deutung der „größeren“ Gerechtigkeit und landen bei ihrer qualitativen Dimension, die, weil die quantitative Dimension nicht näher bestimmt wird, als einzige inhaltliche Deutung der Gerechtigkeit übrigbleibt. Vor allem ihre Begründung für ein qualitatives Verständnis der Liebe, diese sei nicht quantifizierbar, ist in dieser Pauschalität zu hinterfragen: Wenn die „größere Gerechtigkeit“ ein „doing more“851 ist und ihr somit quantitative Natur 847 Vgl. aber neben Hagner auch Wolfgang Harnisch und Roland Deines. Harnisch versteht die doppelte quantitative Ausdrucksweise der Konstruktion περισσεύειν … πλεῖον als rhetorisches Mittel, mit dem der Verfasser des Matthäusevangeliums auf die qualitative Differenz zwischen der Gerechtigkeit der Schülerschaft Jesu und der der Schriftgelehrten und Pharisäer aufmerksam machen will (vgl. Harnisch, Goldene Regel, 217). Und Roland Deines kritisiert auf Seiten derjenigen, die περισσεύειν und πλεῖον quantitativ verstehen, dass sie die qualitative Dimension, um die es hier eigentlich gehe, ausblenden (vgl. Deines, Gerechtigkeit der Tora, 425f.). Für ihn steht die qualitative Differenz zwischen der Gerechtigkeit der Schülerschaft Jesu und der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer im Vordergrund, die er vor allem im Handeln Gottes in Jesus gegeben sieht (vgl. ebd. 427). In diesem Sinne kann er auch vom „eschatologischen Mehrwert“ der Gerechtigkeit der Schülerschaft Jesu sprechen (vgl. ebd. 429). Was Deines übersieht, ist, dass der eschatologische Mehrwert quantitativer Natur ist (vgl. dazu unten im Text). 848 Auch Luz entgeht dieser Gefahr nicht. So versieht er die sogenannten Antithesen mit der Überschrift „Die bessere Gerechtigkeit“ (Matthäus Bd. 1, 324; Kursiv des Originals wurde nicht übernommen). Eine Verschiebung deutet sich bereits vorher an. So macht er zuerst auf ein quantitatives „Moment“ der Gerechtigkeit aufmerksam, es liege „auf jeden Fall im Text“ (ebd., 320) vor, um wenige Zeilen später davon zu sprechen, dass die „bessere“ (!) Gerechtigkeit „mindestens auch ein quantitatives Mehr an Toraherfüllung“ (ebd.) bedeute. Die Schwierigkeit, die Leerstelle, nicht füllen zu können, schließt auch bei ihm das Einfalltor einer qualitativen Deutung gerade nicht, sondern hält es offen. Spannenderweise interpretiert Luz dann in seiner Auslegung zu Mt 5,46f. die Feindesliebe als Ausweitung der Liebe zu Freunden und damit letztendlich auch quantitativ (vgl. Luz, Matthäus, Bd. 1, 408). Er spricht aber auch in diesem Zusammenhang von der „besseren Gerechtigkeit“ (ebd.) und geht auf die im Rahmen seiner Interpretation von 5,20 gestellte Ausgangsfrage, wie die „Leerstelle“ (ebd., 319) einer genaueren Bestimmung der quantitativen Differenz zwischen den „Gerechtigkeiten“ gefüllt werden könne, nicht mehr ein. 849 Davies/Allison, Matthew Bd. 1, 500. 850 Davies/Allison, Matthew Bd. 1, 500. 851 Davies/Allison, Matthew Bd. 1, 500.

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eignet, dann ist dieses „doing more“852 auch auf die Liebe als Konkretion der Gerechtigkeit zu übertragen. Nicht nur die größere Gerechtigkeit, sondern auch die Liebe, von der 5,43–48 spricht, ist dann „a doing more“853. Inwiefern aber ist Liebe ein „a doing more“854? In unserem Schnelldurchgang durch die Kommentarworte haben wir zeigen können, dass die vom matthäischen Jesus geforderte „größere“ Gerechtigkeit in Analogie zum rabbinischen le-fenim mi-shurat ha-din im Sinne eines „Auf Grundlage von – über Hinaus“ bzw. „Mehr“ verstanden werden kann. Dies gilt, wie wir gesehen haben, auch und insbesondere für das sechste Kommentarwort, dass durch den Wortstamm περισσ- in besonderer Weise Auskunft über das inhaltliche Verständnis der Gerechtigkeit zu geben vermag: Auf Grundlage des Liebesgebotes (Lev 19,18), soll die Schülerschaft über dieses hinausgehen, indem sie auch die Feinde liebt und negative Reziprozität durchbricht, ein Verhalten, was auf halachischer Ebene weder gefordert werden kann, noch einklagbar ist. Anstatt einer qualitativen Deutung der quantitativ bestimmten Gerechtigkeit schlagen wir vor, die qualitative Differenz, die der Verfasser des Matthäusevangeliums dadurch zum Ausdruck bringt, dass die größere Gerechtigkeit Kriterium für das Eingehen ins Himmelreich ist (Mt 5,20), quantitativ zu deuten.855 In diesem Zusammenhang ist nun auch zu berücksichtigen, dass Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Hebräischen als Maßeinheiten verstanden werden können. So hat Markus Zehetbauer im Anschluss an Gillis Gerlemann darauf aufmerksam gemacht, dass ‫ חֶ סֶ ד‬in der Hebräischen Bibel ein Übermaß im Unterschied zum genauen Maß der Gerechtigkeit bezeichnet, das bis auf eine Ausnahme positiv konnotiert ist: „Die Grundbedeutung [von ḥæsæd; J.-C. M] wäre also Übermaß, das je nach Zusammenhang positiv im Sinne überfließender Zuwendung und Barmherzigkeit, aber eben – im Hebräischen nur selten, im Syrischen überwiegend – auch negativ die Maßlosigkeit, d. h. das Schädliche und Schändliche bezeichnen kann. Wenn für den ḥæsæd-Begriff das Übermaß charakteristisch ist, dann könnte dem ṣdq-Begriff das genaue Maß entsprechen“856. Die von Zehetbauer aufgezeigte Mög-

852 853 854 855

Davies/Allison, Matthew Bd. 1, 500. Davies/Allison, Matthew Bd. 1, 500. Davies/Allison, Matthew Bd. 1, 500. Wir untermauern damit die Aussage Wolfgang Stegemanns, dass es in Mt 5,20 „um einen Vergleich (pleion), um ein Mehr, einen Überschuss an Gerechtigkeit aufseiten der von Jesus Angesprochenen, und zwar um ein Mehr im Verhältnis zu Schriftgelehrten und Pharisäern [geht]“ (Jesus, 50). 856 Zehetbauer, Polarität, 70. Zehetbauer zitiert in diesem Kontext die von Gillis Gerlemann vorgenommene Charakterisierung von ‫חֶ סֶ ד‬: „Das eigentliche Merkmal einer Handlung oder Gesinnung, die als ḥaesaed bezeichnet wird, ist nicht, daß sie pflichtgemäß wäre, sondern daß sie über das Maß hinaus geht, eine übliche oder geltende Norm übersteigt“ (Gerlemann, Das übervolle Maß, 153). Diese Definition von ‫ חֶ סֶ ד‬passt zu unserer Definition der Feindesliebe bzw. der „größeren“ Gerechtigkeit (vgl. oben im Text). Das heißt aber auch: Übermaß und Maßlosigkeit sind streng voneinander zu trennen. Maßlose Liebe, d. h. Liebe, die das genaue Maß nicht überschreitet, sondern unterschreitet (in diesem Fall das Maß der Selbstliebe),

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lichkeit eines Verständnisses von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Maßeinheiten kann für unser quantitatives Verständnis der über das genaue Maß hinausgehenden Gerechtigkeit in Mt 5,20 fruchtbar gemacht werden. Die über das halachische Gerechtigkeitsniveau hinausgehende Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind für den Verfasser des Matthäusevangeliums Äquivalenzbegriffe. Mit dem hier vorgeschlagenen Verständnis quantitativen Verständnis der „größeren“ Gerechtigkeit, dem zufolge die Torainterpretation Jesu über das halachische Gerechtigkeitsniveau hinausgeht und dieses aber gleichzeitig bleibend voraussetzt, ist auch eine Antwort auf die Frage gegeben, worin die strukturelle Gemeinsamkeit der sechs Kommentarworte besteht. Die Suche nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner der Kommentarworte scheiterte bisher spätestens am fünften bzw. sechsten Kommentarwort, das sich weder der Kategorie Toraverschärfung bzw. Toraentschärfung zuordnen ließ, sondern häufig so verstanden wurde, dass der matthäische Jesus hier dem ius talionis als solchem widerspricht.857 Wir haben gesehen, dass die Durchbrechung negativer Reziprozität bzw. der Rechtsverzicht weiterhin den Wert positiver Gegenseitigkeit respektive das Recht voraussetzen. Ähnliches gilt für das Gebot der Feindesliebe. Die Durchbrechung negativer Gegenseitigkeit, der Rechtsverzicht oder die Feindesliebe gehen über das hinaus, was von Rechts wegen gefordert und nur vor Gott selbst „justitiabel“ ist. Ein letztes ist in diesem Zusammenhang zu bedenken: Wir haben im Anschluss an Peter Wick bereits an verschiedenen Punkten auf die Gemeinsamkeiten der Torainterpretation des matthäischen Jesus mit einem rabbinischen Verfahren aufmerksam gemacht, das in der rabbinischen Literatur le-fenim mi-shurat ha-din genannt wird und das sich nicht am strengen Recht der Tora, sondern an der Barmherzigkeit Gottes orientiert, die jenseits dieses strengen Rechts bzw. dieser rechtlichen Ebene steht. Das matthäische περισσεύειν ist vergleichbar mit dem rabbinischen le-fenim. Sollte das stimmen, dann reklamiert der Verfasser des Matthäusevangeliums ein erst später greifbares rabbinisches Verfahren für seine Gemeinden und behauptet, dass Jesus mit diesem jüdischen Ideal die zeitgenössischen wäre u. E. auch für den Verfasser des Matthäusevangeliums negativ konnotiert (vgl. dazu Abschnitt 3.3 in diesem Kapitel: Die Goldene Regel zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe). Vgl. dazu unsere Interpretation des vierten Kommentarworts, in dem eine Rede, die das Maß der Wahrhaftigkeit unterschreitet, indem sie über ein „Ja, Ja“, bzw. ein „Nein, Nein“ hinausgeht, zutiefst negativ konnotiert ist. 857 In diesem Sinne konstatiert Udo Schnelle in der dritten, neubearbeiteten und 2016 erschienenen Auflage seiner Theologie des Neuen Testaments: „Mit der Verwerfung des atl. Grundsatzes der Wiedervergeltung in Mt 5,38–42 und dem absoluten Gebot der Feindesliebe in Mt 5,43–48 verlässt der Bergprediger jüdisches Denken und betont, dass nur in der schrankenlosen und vollkommenen Liebe und Gerechtigkeit der wahre Wille Gottes liegt“ (Theologie des Neuen Testaments, 432). Für Schnelle besteht die „bessere“ Gerechtigkeit in einem „Mehr“, das für ihn durch die Vollmacht und Autorität Jesu bestimmt wird (vgl. ebd.). Diese Definition des „Mehr“ aber bleibt unspezifisch und trägt dem quantitativen Charakter des περισσεύειν keine Rechnung.

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Lehrer übertroffen hat.858 Der matthäische Jesus betreibt protorabbinische Schriftauslegung. Wenden wir uns nun zur weiteren Überprüfung der inhaltlichen Füllung der „größeren“ Gerechtigkeit denjenigen Stellen im Matthäusevangelium zu, bei denen wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen können, dass der Evangelist selbst für die Hinzufügung des Stammes περισσ- verantwortlich ist. Im Rahmen der gegenüber seiner Markusvorlage umgearbeiteten Gleichnistheorie (Mk 4,10–12) antwortet der matthäische Jesus auf die Frage seiner Schüler, warum er zu den Volksmengen (13,2) in Gleichnissen rede (13,10), in einem ersten Argumentationsgang: „(11) Weil euch gegeben ist, die Geheimnisse des Himmelreiches zu kennen, jenen aber ist es nicht gegeben. (12) Denn wer hat, dem wird gegeben werden und er wird überreich gemacht werden; wer aber nicht hat, von dem wird auch das genommen werden, was er hat.“ In diesen Versen bezieht sich der Überfluss respektive der Reichtum auf die Kenntnis und das Verstehen der Geheimnisse des Himmelreiches, die der Schülerschaft Jesu offenbart werden: Ihr ist es gegeben, die Gleichnisse nicht nur zu hören, sondern auch zu verstehen, und ihnen wird noch größeres Verstehen verheißen. Im engeren Kontext des 13. Kapitels des Matthäusevangeliums bezieht sich die Gabe des überreichen Verstehens auf Jesu Rede in Gleichnissen, vermutlich aber dürfte der Evangelist darüber hinaus auch an das Handeln Gottes in der Geschichte Jesu Christi denken. Der Stamm περισσ- ist hier Ausdruck eines „Mehr als“: Die Schülerinnen und Schüler werden zu einem grösseren, vollkommeneren Verstehen geführt. Ganz plastisch zeigt sich der semantische Gehalt des Stammes περισσ- auch in den Speisungswundern (14,13–21; 15,32–39): Die übriggebliebenen Brote und Fische (14,20; 15,37) symbolisieren den Reichtum der nahe herbeigekommenen Himmelherrschaft Gottes: Für alle gibt es mehr als genug.859 Von besonderer Relevanz für das matthäische Verständnis des Verbs περισσεύω ist die bereits erwähnte redaktionelle Hinzufügung des καὶ περισσευθήσεται in der Parabel von den anvertrauten Pfunden (Mt 25,29), die im Lukasevangelium eine Parallele hat (Lk 19,12–27). Die Parabel (Mt 25,14–30) lebt von der exakten Entsprechung zwischen dem, was der Herr vor Antritt seiner Reise seinen Sklaven anvertraut, und dem, was er nach seiner Rückkehr aufgrund ihres jeweiligen Wirtschaftens in ihre Verantwortung stellt: Der erste Knecht, der aus den ihm anvertrauten fünf Talenten weitere fünf gemacht hat, erhält diese. Auch der zweite Knecht erhält das von ihm in der Abwesenheit seines Herrn Erwirtschaftete: Der Verdoppelung der zwei anvertrauten Talente entspricht die Verdoppelung nach der Rückkehr des Herrn: Er darf, so legt es die Parabel nahe, 858 Ein ähnliches Vorgehen des Verfassers des Matthäusevangeliums haben wir im Umgang mit Hos 6,6 festgestellt: Der Evangelist übernimmt eine zeitlich erst später greifbare rabbinische Tradition und untermauert sie christologisch. 859 Der Stamm περισσ- findet sich im Markusevangelium nur in der Erzählung von der Speisung der Viertausend (Mk 8,1–10) in Mk 8,8, im Matthäusevangelium hingegen in beiden Speisungswundern.

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mit den vier Talenten weiter wirtschaften. Allerdings wird diese exakte Entsprechung von Erwirtschaftetem und erneut zur Vermehrung Anvertrautem an einem Punkt durchbrochen: Das eine Talent, das der dritte Knecht nicht gewinnbringend eingesetzt hat, wird diesem genommen und dem ersten Knecht gegeben. Der Evangelist kommentiert das in Vers 29 folgendermaßen: ῷ γὰρ ἔχοντι παντὶ δοθήσεται καὶ περισσευθήσεται, τοῦ δὲ μὴ ἔχοντος καὶ ὃ ἔχει ἀρθήσεται ἀπ’ αὐτοῦ. Mit dieser Aussage macht der Verfasser des Matthäusevangeliums die Differenz zwischen genauem Maß und überfließenden Maß auf, die beide das Handeln des Herrn bezeichnen: Auf Grundlage der gerechten Entsprechung zwischen dem Erwirtschafteten und dem erneut Anvertrautem erhält der erste Knecht über diese Entsprechung hinaus ein weiteres Talent. Er erhält mehr als er erwirtschaftet hat. Dieses Verhältnis zwischen genauem Maß und Übermaß findet sich in vergleichbarer Weise auch in der Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16): Während die im Laufe des Tages angeheuerten Erntekräfte den vereinbarten gerechten Lohn erhalten, erhalten die zuletzt angeheuerten Arbeiter einen Lohn, der in keinem Verhältnis zu ihrer Arbeitszeit steht. Ulrich Luz spricht hier zu Recht von einem „Geschenklohn“860. U. E. lässt sich diese Differenz als Differenz zwischen Gerechtigkeit und größerer Gerechtigkeit bzw. Barmherzigkeit fassen. Sie kann als weiterer Hinweis darauf verstanden werden, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums Barmherzigkeit und Gerechtigkeit auch als Maßeinheiten versteht. Dem quantitativen Verständnis des Stammes περισσ- entspricht das Verständnis von Barmherzigkeit als Übermaß, dem die Gerechtigkeit als genaues Maß korrespondiert. Barmherzigkeit geht über Gerechtigkeit hinaus und setzt sie gleichzeitig voraus. Eine letzte Stelle ist hier zu berücksichtigen, an der der Verfasser des Matthäusevangeliums zwar nicht den Stamm περισσ- verwendet, die Logik des Übermasses aber im Zusammenspiel mit der im sechsten Kommentarwort geforderten Vollkommenheit eine bedeutende Rolle spielt. Wie ein synoptischer Vergleich der Perikope des reichen Jünglings (Mt 19,16–26) zeigt, geht die Rede von der göttlichen Vollkommenheit, der die Schülerschaft Jesu entsprechen soll, auf den Verfasser des Matthäusevangeliums zurück. Nachdem der matthäische Jesus auf die Frage des Jünglings, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erben, mit Verweis auf vier Dekaloggebote und das Nächstenliebegebot geantwortet hat, und der Jüngling bestätigt hat, diese Gebote gehalten zu haben, antwortet Jesus auf die erneute Frage des Mannes, was ihm noch fehle: „Willst du vollkommen sein, so geh’ hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach“ (19,21). Die Vollkommenheit zeigt sich in dieser Erzählung darin, dass das von Jesus geforderte Verhalten das Tun der Gebote selbstverständlich voraussetzt, aber noch darüber hinausgeht. Vollkommenheit besteht hier in einem Mehr, das von der Tora nicht geboten wird: Der junge Mann soll sein Hab und Gut verkaufen und es den Armen geben. Vollkommenheit besteht in einem auf der Gesetzesebene nicht justitiablen „Mehr“, dass in 860 Luz, Matthäus Bd. 3, 508.

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Wechselwirkung steht mit der Gottesbeziehung. Darauf deutet die Rede vom Schatz bei Gott im Himmel hin. Unser Durchgang durch die Stellen, an denen der Verfasser des Matthäusevangeliums den Stamm περισσ- verwendet, hat ergeben, dass ihn der Evangelist im Sinne eines Hinausgehens über eine bestehende Norm oder ein bestehendes Maß versteht. Diese wesentlich quantitative Dimension des Stammes περισσ- wird durch die Wörterbücher bestätigt: Liddell-Scott geben als Erstbedeutung von περισσεύω mit „to be over and above the number“, als Zweitbedeutung „to be more than enough, remain over“ und als dritte, auf Personen bezogene Übersetzungsmöglichkeit „abound in“ bzw. „to be superior“ an.861 Die letzte angeführte Möglichkeit halten wir insofern für problematisch, als hier vor allem eine qualitative Dimension mitschwingt oder gar im Vordergrund steht, hinter der die Vorstellung eines Hinausgehens über ein bestehendes Maß respektive über einen gültigen Maßstab zurücktritt. Von dieser Problematik legen die Bemühungen, eine Antwort auf die Frage zu finden, worin die qualitative Differenz zwischen der Gerechtigkeit der Schülerschaft Jesu und der der Schriftgelehrten und Pharisäer nach Auffassung des Evangelisten besteht, Zeugnis ab. Gerade hier gilt es genau hinzugucken: Die Differenz zwischen beiden Gruppierungen besteht dem Verfasser des Matthäusevangeliums zufolge darin, dass die Gerechtigkeit der Schülerschaft Jesu über die bestehenden Normen hinausgeht, ohne deren Gültigkeit in Frage zu stellen. So verstanden kann die Differenz dann auch als qualitative interpretiert werden, aber nur so verstanden. In den deutschsprachigen Wörterbüchern wird derselbe Ton angeschlagen: Walter Bauer übersetzt Mt 5,20 in seinem Wörterbuch zum Neuen Testament mit „wenn euere Gerechtigkeit nicht in größerem Maß vorhanden ist als die der Schriftgelehrten“862, ähnlich verfährt G. Schneider, der im Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament anstelle von „Maß“ mit „Überfluß“ übersetzt.863 Gemoll gibt als erste Übersetzungsmöglichkeit von περισσεύω „im Überfluß oder reichlich vorhanden sein, übrig oder überflüssig sein“, als zweite „an Menge übertreffen, überflügeln“. Die Rede vom Überfluss (Bauer, Schneider, Gemoll) setzt ein Normalmaß und damit ein quantitatives Verständnis voraus, wie die Wiedergabe mit „an Menge übertreffen“ (Gemoll). Problematisch für die Texte des Neuen Testaments ist u. E. eine Übersetzung mit „überflüssig sein“. Sie ist zur Charakterisierung des eschatologischen Reichtums der nahe herbeigekommenen Himmelsherrschaft Gottes nicht geeignet. Was nun kann als Ergebnis unserer Untersuchung zur Bedeutung der „größeren“ Gerechtigkeit, die diejenige der Schriftgelehrten und Pharisäer bei weitem

861 Liddell/Scott, Lexicon, 1387. Martin Vahrenhorst verweist darauf, dass die jeweiligen Bezugsstellen von Liddell/Scott alle christlicher Provenienz sind (vgl. Vahrenhorst, Matthäus im halachischen Diskurs, 248 Anm. 192). 862 Bauer, Wörterbuch, 1311 (Kursiv des Originals nicht beibehalten). 863 Schneider, Art. περισσεύω, Sp. 181.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

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übertrifft, festgehalten werden? Wir haben gesehen, dass die größere Gerechtigkeit über ein bleibend gültiges Maß hinausgeht,864 an der göttlichen Vollkommenheit selbst Maß nimmt (5,48) und vor weltlichen Gerichten nicht justitiabel ist. Die Schülerschaft Jesu soll schon auf Erden nach den Regeln des Himmelreichs leben. Wir haben darüber hinaus bei unserer Besprechung des sechsten Kommentarworts (Mt 5,43–48) gesehen, dass dieses ganz auf einer Linie mit den anderen Kommentarworten liegt: Der Aspekt reiner Einseitigkeit ohne einen Bezug zur Gegenseitigkeit spielt hier keine Rolle. Die Durchbrechung negativer Reziprozität zielt auf positive Wechselseitigkeit und ist als Nachahmung des Verhaltens Gottes auf der Ebene der Gottesbeziehung ihrerseits reziprok strukturiert. Damit aber bestätigt sich, was wir bereits zu Goldenen Regel herausgearbeitet haben: Die Gegenseitigkeit der Goldenen Regel (7,12), die in den zwischenmenschlichen Beziehungen als Antwort auf ein vorangehendes gütiges Gabehandeln Gottes verstanden werden kann (7,7–11), spiegelt sich im Gegenseitigkeitscharakter der „größeren“ Gerechtigkeit auf der Ebene der Gottesbeziehung. Auch hier werden die zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung verschränkt: Die Schülerschaft Jesu soll in der Beziehung zum Nächsten die grenzenlose Güte Gottes nachahmen. Einem solchen Handeln ist der Eingang ins Himmelreich (5,20) bzw. Lohn bei Gott im Himmel (5,46) verheißen. Die so charakterisierte „größere“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) ähnelt in frappierender Weise unseren Untersuchungen des Begriffs ‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,21–35). Wie sein hebräische Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬zeichnet sich Barmherzigkeit in der Parabel dadurch aus, dass sie mit ihrer Forderung des Rechtsverzichts über das Recht, dessen Gültigkeit gleichwohl auch weiterhin voraussetzend, hinausgeht und dementsprechend vor irdischen Gerichten nicht justitiabel ist. Maßstab des Handelns ist vielmehr das Handeln Gottes selbst, nach dem die Schülerinnen und Schüler Jesu im Endgericht beurteilt werden. Die „größere“ Gerechtigkeit teilt demnach mit der Barmherzigkeit die Grundfigur des „auf Grundlage von–Über-Hinaus“ und ihre Nicht-Justitiabilität. Beide unterscheiden sich aber auch: Während sich die „größere“ Barmherzigkeit auf das Grundmuster der Toraauslegung Jesu bezieht und damit so etwas wie ein hermeneutisches Programm darstellt, hat die Barmherzigkeit konkrete Liebeserweise wie die Sündenvergebung im Blick. In beiden Fällen aber werden die Gottesbeziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen miteinander dadurch verschränkt, dass das Handeln Gottes selbst zum entscheidenden Maßstab zwischenmenschlichen Handelns gemacht wird.

864 Geht die „größere“ Gerechtigkeit aber über das Recht hinaus, dann sind kritische Anfragen an die immer noch weit verbreitete Vorstellung zu stellen, Jesu enthülle den „tieferen“, den „wahren“, oder den „eigentlichen“ Sinn der Tora. Aufbauend auf den anderen und nicht zu vernachlässigenden Sinndimensionen enthüllt er diejenige Sinndimension, die Maß an der Vollkommenheit Gottes (5,48) nimmt und die für den Eingang ins Himmelreich entscheidend ist (5,20).

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

3.1.3 Zum Verhältnis der Goldenen Regel (Mt 7,12) zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) In diesem Abschnitt gilt es nun, das Verhältnis des Rahmens zum Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt in den Blick zu nehmen, d. h. konkret das Verhältnis der „größeren“ Gerechtigkeit (5,20) bzw. der Goldenen Regel (7,12) zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) inklusive der diese Bitte im direkten Anschluss an das Gebet aufgreifenden und erläuternden Verse 6,14–15. In einem ersten Schritt wird die Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) analysiert, um in einem zweiten Schritt ihr Verhältnis zum Rahmen zu klären. Die fünfte Bitte des Vaterunsers (6,12) inklusive ihrer Erläuterungen (6,14–15) hat die neutestamentliche Forschung immer wieder vor das Problem gestellt, das Verhältnis zwischen der Bitte um (göttliche) Vergebung und der Notwendigkeit vorausgehender zwischenmenschlicher Vergebung klären zu müssen: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ (6,12). Als problematisch wurden dabei vor allem mögliche Missverständnisse empfunden: Erwächst aus der Notwendigkeit zwischenmenschlicher Vergebung ein Anspruch der Schülerschaft Jesu auf göttliche Vergebung? Inwiefern bedingt die zwischenmenschliche Vergebung die göttliche? Kann sich der Mensch die göttliche Vergebung etwa verdienen? In ihren Antworten auf diese Fragen macht die exegetische Zunft in der Regel die göttliche Unabhängigkeit von zwischenmenschlicher Vergebung stark und versucht diese vor möglichen Missverständnissen, die sich aus der Verschränkung göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung ergeben könnten, zu schützen. Exemplarisch hierfür sei auf die Argumentation Donald Hagners verwiesen. Hagner kommentiert die V. 14–15 folgendermaßen: „These verses need not be taken to mean that the forgiveness we enjoy from God stands in a causal relation to our forgiveness of others, or that God’s forgiveness of us is the result of our forgiveness of others … . It is clear from these verses that a direct connection exists between God’s forgiveness and our forgiveness. But it is a given that God’s forgiveness is always prior (cf. 18:23–35). These verses are a forceful way of making the significant point that it is unthinkable–impossible–that we can enjoy God’s forgiveness without in turn extending our forgiveness toward others.“865 Hagner beginnt seine Ausführungen damit, dass er zeigt, wie die V. 14 und 15 nicht verstanden werden dürfen: Weder gebe es einen kausalen Zusammenhang zwischen göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung noch resultiere die göttliche Vergebung aus der zwischenmenschlichen. Während die erste Annahme Hagners zutrifft – grammatikalisch handelt es sich bei den V. 14 und 15 um zwei Konditionalsätze, sieht es bei der zweiten Aussage, die göttliche Vergebung sei kein Ergebnis der zwischenmenschlichen etwas anders aus. Vom Wortlaut her können die V. 14 und 15 so verstanden werden, dass die göttliche Vergebung aus der zwischenmenschlichen Vergebung resultiert: „Denn wenn ihr den Menschen 865 Hagner, Matthew Bd. 1, 152.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

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ihre Fehltritte vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben.“ Gott reagiert auf vergebendes Handeln der Menschen. Wir werden auf die Frage, wie der hier offen zu Tage tretende direkte Zusammenhang zwischenmenschlicher und göttlicher Vergebung plausibilisiert werden kann, zurückkommen, folgen aber vorerst der Argumentation Hagners. Nachdem Hagner gezeigt hat, wie er die V. 14 und 15 nicht verstanden wissen möchte, kommt die überraschende Wende: Es ist auch für ihn offensichtlich („clear“), dass es eine direkte Verbindung („direct connection“) zwischen göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung gibt. Wie nun erklärt Hagner diese Verbindung? Zur Aufhellung des Zusammenhangs göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung bezieht Hagner die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) in seine Überlegungen mit ein. Auffällig dabei ist, dass er die dritte Strophe der Parabel (18,31–34) marginalisiert und ihre Anwendung (18,35) gänzlich unberücksichtigt lässt: Er konstatiert, dass die göttliche Vergebung der zwischenmenschlichen vorausgeht und die zwischenmenschliche Vergebung eine notwendige Folge der göttlichen ist. Die Konsequenzen der ausbleibenden zwischenmenschlichen Vergebung aber lässt er außer Acht. So sehr wir es für legitim halten, bei der Interpretation der fünften Bitte des Vaterunsers (6,12) samt ihrer Erläuterungen (6,14–15) die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (18,23–35) heranzuziehen,866 um für so notwendiger erachten wir es, die Akzentsetzung zu beachten: Das Schwergewicht in 6,14–15 liegt, wie ihre Endstellung zeigt, auf der Aussage: „Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Fehltritte auch nicht vergeben.“ Dies entspricht der Anwendung der Parabel: „So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht, ein jeder seinem Bruder, von Herzen vergebt“ (18,35). Der Fokus liegt in beiden Fällen eindeutig nicht auf der zwischenmenschlichen Vergebung als Folge der göttlichen – das ist sie auch867, sondern auf den Konsequenzen fehlender zwischenmenschlicher Vergebungsbereitschaft.868 Diesen wesentlichen Aspekt berücksichtigt Hagner kaum. Mit seinem Verweis auf die Priorität der göttlichen Vergebung bei der Kommentierung von Mt 6,14–15 spielt er diese gegen die aus ihr resultierende Verantwortlichkeit der Menschen aus: Letztendlich versteht er die Aussage, dass Gott im Falle verweigerter zwischenmenschlicher Vergebung nicht vergeben wird, als Hinweis darauf, dass zwischenmenschliche Vergebung aus der göttlichen 866 Auf die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (18,23–35) verweisen fast alle Exegeten bei ihrer Interpretation von 6,12.14–15. 867 Auch in Mt 6,12.14–15 ist vorausgesetzt, dass Gott durch seine Heilsinitiative in Christus endzeitliche Vergebung gewährt, so dass hier kein Widerspruch zwischen der in der ersten Szene der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (18,23–27) geschilderten Priorität der göttlichen Gnade und der in der Vergebungsbitte und ihren Erläuterungen betonten zwischenmenschlichen Vergebung als Bedingung der göttlichen Vergebung konstruiert werden kann. Vgl. Konradt, Matthäus, 107–108. 868 Damit dreht Hagner das Aussagegefälle um: Während 6,14–15 von den Folgen zwischenmenschlich gewährter bzw. nichtgewährter Vergebung für das göttliche Vergebungshandeln sprechen, nimmt Hagner die zwischenmenschliche Vergebung als Folge der göttlichen in den Blick.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Folgen muss. So sei es undenkbar bzw. unmöglich, dass die göttliche Vergebung genossen werden könne, ohne dass die Menschen ihrerseits ihren Mitmenschen vergeben. Was aber in diesem „undenkbaren“ bzw. „unmöglichen“ Fall passiert, den die dritte Szene der Parabel und Mt 6,15 gleicherweise in den Blick nehmen, spielt für Hagner keine Rolle.869 Damit funktionalisiert er die Aussagen von 18,35 und 6,15 gleichsam zu leeren Drohungen um. Demgegenüber gilt festzuhalten: Die fünfte Vaterunser-Bitte und ihre Erläuterungen entsprechen der zweiten und dritten Szene der Parabel sowie deren Anwendung. Werden diese Aussagen über die negativen Folgen nicht gewährter zwischenmenschlicher Vergebungsbereitschaft ernst genommen, dann stellt sich hier die Frage des Zusammenhangs zwischenmenschlicher Vergebung und göttlicher Vergebung in voller Schärfe. Nun ist sich die Mehrheit der Exegeten dahingehend einig, dass die zwischenmenschliche Vergebung in Mt 6,12.14–15 die Voraussetzung bzw. Bedingung der göttlichen Vergebung darstellt.870 Gleichzeitig wird allerdings auch hier versucht, die Aussage, menschliches Vergeben sei Bedingung für göttliches, vor dem Missverständnis zu schützen, aus zwischenmenschlicher Vergebung erwachse ein Anrecht auf die göttliche. In diesem Sinne stellt Ulrich Luz bei seiner Interpretation der fünften Vaterunser-Bitte fest, dass die „paradoxe Einheit von zuvorkommender Gnade und vom Menschen geforderter Bedingung … erst zerstört [wird], wenn der Mensch mit seinem Vergeben einen Anspruch begründet, so daß er hoffen kann, daß Gott das menschliche Beispiel nachahmen werde“871. Die Souveränität und Unabhängigkeit göttlichen Handelns gegenüber dem menschlichen muss gewahrt bleiben. So ergibt sich eine unauflösbare Spannung zwischen der Unabhängigkeit des göttlichen Vergebungshandelns vom zwischenmenschlichen und eines gleichzeitigen Konnexes zwischen beiden. Diese Spannung tritt in den Ausführungen der Exegeten deutlich zu Tage, wird aber selten als solche benannt und fruchtbar gemacht. Vielmehr entsteht durch die Bemühungen, den Zusammenhang göttlichen und zwischenmenschlichen Handelns vor Missverständnissen zu schützen, der Eindruck, dieser Zusammenhang sei zutiefst problematisch: Gerade die Verschränkung göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung steht offenbar 869 U. E. steht hier die Überzeugung im Hintergrund, die zwischenmenschliche Vergebung ergebe sich „automatisch“ aus der göttlichen, weil es eben undenkbar bzw. unmöglich ist, dass Gott vergibt und der Mensch dieses Verhalten in den zwischenmenschlichen Beziehungen nicht nachahmt. 870 In diesem Sinne kommentiert Luz die V. 14–15 folgendermaßen: „Matthäus nimmt mit diesem Logion die Vergebungsbitte des Unservaters auf und formuliert sie paränetisch: Sowohl die konditionale Formulierung als auch der in Mk 11,25 fehlende ‚negative‘ V 15 machen klar, daß menschliches Vergeben Bedingung für göttliches Vergeben ist“ (Matthäus Bd. 1, 459). Frankemölle schreibt: „Unmißverständlich wird dem Leser noch einmal klar: Das Verhalten Gottes folgt dem Verhalten der Beter; menschliches Vergeben ist Bedingung für göttliches“ (Matthäus Bd. 1, 253). Vgl. auch Landmesser, Jüngerberufung, 144 Anm. 31. 871 Luz, Matthäus Bd. 1, 453. Gnilka schreibt in seiner Interpretation von 6,14–15: „Für das Verhältnis von Bedingung und Folge ist wieder zu sagen, daß die menschliche Vergebungsbereitschaft das göttliche Vergeben niemals erzwingen kann, ohne sie jedoch vergibt Gott nicht bzw. zieht er sein Vergeben zurück“ (Matthäusevangelium, 233f.).

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

297

in der Gefahr, die Unabhängigkeit und Freiheit Gottes zu untergraben. Demgegenüber gilt es festzuhalten, dass der Schutz vor Missverständnissen eher theologischen Vorbehalten auf Seiten der Exegeten entspringt als dem Bedürfnis des Evangelisten. Der Verfasser des Matthäusevangeliums hat offensichtlich kein Problem damit, den Wechselwirkungen zwischenmenschlicher und göttlicher Vergebung so klar und deutlich Ausdruck zu verleihen, wie er es in Mt 6,14–15 (und in 18,31– 35) tut: Nicht gewährte zwischenmenschliche Vergebung führt dazu, dass auch Gott nicht vergibt, gewährte zwischenmenschliche Vergebung zieht die göttliche Vergebung nach sich. Dass die Interpretationen von Mt 6,12.14–15 zutiefst von theologischen Vorbehalten geprägt sind, zeigt auch die Ablehnung der Vorstellung, der Evangelist lege durch seine Aussagen nahe, dass Vergebung eine Leistung sei und verdient werden könne. In diesem Sinne kommentieren Davies und Allison: „The point has to do not with deserts but with desire: God’s forgiveness, although it cannot be merited, must be received, and it cannot be received by those without the will to forgive others.“872 Und Jens Fiedler stellt in seiner Besprechung von 6,12 fest: „Für Mt stand es jedenfalls außer Frage, dass Jesus ihr [der Vergebung; J.-C. M] stärkstes Gewicht beigemessen hatte. Er sieht darin eine notwendige Bedingung für den Empfang der göttlichen Vergebung (V. 14f) – das heißt jedoch keineswegs, dass diese Vergebung zu verdienen wäre (vgl. 18,23–35; dort wird davor gewarnt, dieses Geschenk zu verspielen)“873. Uns leuchten diese Aussagen nicht von vornherein ein. Schließlich platziert der Verfasser des Matthäusevangeliums das Vaterunser und damit eben auch die Vergebungsbitte mit den erläuternden Versen 6,14–15 in einem Kontext (6,1–18), der durch die wiederholte Aussage strukturiert ist, dass der himmlische Vater den Adressaten ihr Almosengeben, Beten und Fasten vergelten, d. h. als Lohn auszahlen wird: „καὶ ὁ πατήρ σου ὁ βλέπων ἐν τῷ κρυπτῷ ἀποδώσει σοι (Mt 6,4.6.18)“.874 Er hat offensichtlich kein Problem mit der Verwendung ökonomischer Metaphorik für das Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch.875 Dem Evangelisten ist es prinzipiell möglich, die Reaktion Gottes auf menschlichen Gehorsam als Auszahlung von Lohn zu verstehen. Dass dies im Blick auf die Verbindung zwischenmenschlicher und göttlicher Vergebung in 6,12.14– 15 nicht möglich sein soll, bedarf einer ausführlicheren Begründung als des reinen Postulats, Vergebung könne nicht verdient werden. Dieses Postulat erweckt den Eindruck, es könne nicht sein, was aus theologischen Gründen nicht sein dürfe. Unsere Interpretation unterscheidet sich also von anderen vor allem in der Akzentsetzung: Die Verschränkung göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung wird theologisch nicht als Problem empfunden, sondern die Bedeutung 872 Matthew Bd. 1, 610f. Mit „empfangen“ („receive“) verwenden Davies und Allison – vermutlich unbewusst – Gabeterminologie. 873 Fiedler, Matthäusevangelium, 172. 874 Vgl. auch die implizite Verheißung göttlichen Lohns für diejenigen, die ihre Feinde lieben (5,46). 875 Dieser Sachverhalt zeigt sich ja auch in der Vergebungsbitte selbst, in der von Vergebung von Schuld die Rede ist.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

menschlichen Handelns für die Gottesbeziehung in ihren positiven wie negativen Folgen gewürdigt. Dabei interpretieren wir auch hier die zu Recht wahrgenommene, aber selten als solche benannte und ausgewertete Spannung zwischen der Unabhängigkeit des göttlichen Vergebungshandelns vom zwischenmenschlichen bei gleichzeitiger Verschränkung beider als Ausdruck der antiken Konzeptualisierung von Beziehungshandeln als Gabehandeln, für das die Spannung zwischen freiwilliger Gewährung einer Gabe und der Notwendigkeit ihrer ebenfalls freiwilligen Erwiderung charakteristisch ist. Die genannten Exegeten sind also im Recht, wenn sie die Freiwilligkeit der göttlichen Gewährung der Vergebung betonen. Diese Freiwilligkeit liegt aber anders als diese meinen nicht primär in Gottes Gottheit und seiner damit einhergehenden Souveränität begründet, sondern vielmehr in der Differenz zwischen Gabehandeln und Warentausch, sozialen und ökonomischen Beziehungen. Wie der unbefangene Umgang mit ökonomischer Metaphorik zeigt, dürfen wir das Wissen um diese Differenz auch beim Evangelisten und seiner Leserschaft voraussetzen: Ihm ist es anders als modernen Exegeten nicht darum zu tun, die menschliche Gottesbeziehung davor zu bewahren, ins Ökonomische zu kippen und instrumentalisiert zu werden. Für ihn und seine Leserschaft ist klar, dass sich soziale von ökonomischen Beziehungen im Blick auf den genannten Freiheitsaspekt unterscheiden. Kleinster gemeinsamer Nenner zwischen Sozialbeziehungen und ökonomischen Beziehungen ist die Reziprozität, und auf Grundlage dieser Gemeinsamkeit können sie dann auch voneinander unterschieden werden. Der Aspekt der Freiwilligkeit zeigt sich in der Vaterunser-Bitte (6,12) gerade darin, dass es sich eben um eine Bitte handelt. Dass der Beter seinem Nächsten die Schulden erlassen hat, impliziert also nicht automatisch, dass auch Gott vergeben wird. Und doch darf derjenige, der seinem Nächsten vergibt, mit der Vergebung Gottes „rechnen“.876

3.1.4 Zwischenergebnis: Zum Gegenseitigkeitscharakter theologischer Leitbegriffe der Bergpredigt Im Rahmen der Verhältnisbestimmung der Vergebungsbitte (6,12) und ihrer Erläuterungen (6,14–15) zur Goldenen Regel (7,12), zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20) und zum Feindesliebegebot (5,43–48) sei an dieser Stelle nochmals auf die Stellung des Vaterunsers (6,7–13) in der Bergpredigt eingegangen: Ulrich Luz geht 876 Die Anführungszeichen sind Ausdruck dessen, dass das, was für den Evangelisten unproblematisch war, im Laufe der Kirchengeschichte höchst problematisch geworden ist und an verschiedenen Stellen zur Annahme geführt hat, der Verfassers des Matthäusevangeliums müsse vor unsachgemäßen Fehlinterpretationen geschützt und seine Ehre so gewahrt werden: Der Evangelist benutze zwar ökonomische Metaphorik, meine es aber nicht so. Eindrücklichstes Beispiel hierfür dürfte der Versuch Günther Bornkamms sein, den Lohngedanken im Matthäusevangelium vom Verdienstgedanken zu trennen. Vgl. dazu Bornkamm, Lohngedanke.

3.1 Zum Verhältnis der Goldenen Regel zu anderen Leitvorstellungen

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in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium mit guten Gründen davon aus, dass das Vaterunser im Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt steht.877 Wir schließen uns dieser Auffassung an und gehen noch einen Schritt weiter: Wenn das Vaterunser (6,9–13) im Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt (5,17–7,12) steht, dann bildet die Bitte um Vergebung (6,12) in inhaltlicher Hinsicht die Mitte der Mitte. Das zeigt sich daran, dass sie als einzige im direkten Anschluss an das Gebet aufgegriffen und im besprochenen Sinn erläutert wird (6,14–15). Der zentralen Stellung des Vaterunsers und der Bitte um Vergebung entspricht in inhaltlicher Hinsicht die unumstrittene Bedeutung der Vergebungsthematik und mit ihr der Barmherzigkeit im Evangelium als Ganzem: Wir haben hier ein, wenn nicht das Kernthema matthäischer Theologie vor uns (vgl. Mt 1,21; 9,2–8.9–13; 18,23–35; 26,28). Die Verschränkung zwischenmenschlicher und göttlicher Vergebung hat nun erkennen lassen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Beziehung zwischen Gott und Mensch als reziprok konzeptualisiert. Das bestätigen auch die anderen Reziprozitätsformeln, die sich in der Bergpredigt finden (5,7; 7,1–2), insbesondere die fünfte Seligpreisung: „Selig sind die Barmherzigkeit Gewährenden, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (5,7). Angesichts der Bedeutung, die der Evangelist der Gegenseitigkeit im Blick auf die Gestaltung von Beziehung zumisst, stellt sich die Frage, wie sich die theologische Mitte der Bergpredigt zum Rahmen des Hauptteils der Bergpredigt (5,17–7,12) verhält. Unsere Analysen der Goldenen Regel (7,12) und der „größeren“ Gerechtigkeit (5,20) haben ergeben, dass auch diese reziprok strukturiert sind: Ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel zielt ebenso wie die „größere“ Gerechtigkeit auf Gegenseitigkeit, oder anders formuliert: auf gelingende zwischenmenschliche Beziehungen und Frieden. Gleiches gilt auch für das Feindesliebegebot (5,43–48), das in besonderem Maße die „grössere“ Gerechtigkeit konkretisiert. In beiden Fällen entspricht ein solches Handeln dem Handeln Gottes selbst und gestaltet die Gottesbeziehung. Der Einseitigkeit auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen korrespondiert eine Gegenseitigkeit auf der Ebene der Gottesbeziehung. Wird Feindesliebe unter Ausblendung der Reziprozität auf der Ebene der Gottesbeziehung als reine Einseitigkeit interpretiert, die Vergeltungs- bzw. Reziprozitätsdenken prinzipiell außer Kraft setzt (so vor allem Luz), dann lässt sich hier auf inhaltlicher Ebene nur ein Widerspruch konstatieren: Feindesliebe und die anderen theologischen Leitbegriffe stehen dann in einem diametralen, unvereinbaren Gegensatz zueinander. Da sich das Feindesliebegebot aber ohne Not im Rahmen des Reziprozitätsdenkens verorten lässt (Feindesliebe fordert einen auf Gegenseitigkeit zielenden einseitigen Akt, der Beziehung ermöglicht, indem der Kreislauf negativer Reziprozität durchbrochen wird), legt sich der Schluss nahe, dass Vergebung und Feindesliebe auf Gegenseitigkeit bezogen bleiben, zumal sie sich im Blick auf die Gottesbeziehung reziprok verhalten. Wenn Luz bei seiner Interpretation der V. 14–15 abschließend feststellt,

877 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 254–255.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

dass „das Vergebungsgebot dem Zentrum seiner Ethik, dem Liebesgebot [, inhaltlich entspricht]“878 dann liegt hier insofern eine Inkongruenz vor, als Luz das Liebesgebot im Sinne einer prinzipiellen Infragestellung reziprok gestalteter Beziehungen versteht. In diesem Sinne kann er zu der vom Liebesgebot her interpretierten Goldenen Regel sagen, es gehe ihr „nicht um Gegenseitigkeit, sondern um Liebe“879. Demgegenüber ist hier nochmals festzuhalten: Sowohl der Rahmen der Bergpredigt als auch ihr Zentrum sind von einem Reziprozitätsdenken bestimmt. So zielen die „größere“ Gerechtigkeit (5,20) und die Goldene Regel (7,12) und die fünfte Vaterunser-Bitte (6,12) samt ihren Erläuterungen (6,14–15) auf ein Gott imitierendes Handeln, das durch Gegenseitigkeit strukturierte zwischenmenschliche Beziehung ermöglicht. Gleiches gilt für das Liebesgebot und dessen Zuspitzung in Mt 5,43–48: Ziel der Einseitigkeit der Feindesliebe, Ziel der Orientierung an der Goldenen Regel, ist die Versöhnung, in der sich die Versöhnung zwischen Gott und Mensch in der Sendung seines Sohnes widerspiegelt. Einseitigkeit ist damit ein Mittel zum Zweck gelingender, durch positive Reziprozität gekennzeichneter Beziehung. Im Folgenden gilt es nun unsere Ergebnisse in der Diskussion mit Ulrich Luz, Bernd Kollmann und Paul Ricœur zu profilieren.

3.2

Zum Verhältnis von Goldener Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

Nachdem im Vorangehenden das Verständnis der Goldenen Regel (7,12), der „größeren“ Gerechtigkeit (5,20) und des Feindesliebegebots (5,43–48) und ihr Verhältnis zueinander auf Grundlage der neutestamentlichen Texte und ihrer Kontexte entfaltet wurde, soll im Folgenden die Verhältnisbestimmung von Goldener Regel und Feindesliebegebot bei Luz, Kollmann und Ricœur kritisch diskutiert werden: Während Ulrich Luz Feindesliebe (5,43–48) und Goldene Regel (7,12) in einen diametralen Gegensatz setzt und annimmt, dass die Goldene Regel unter Suspendierung ihres Gegenseitigkeitscharakters vom einseitigen Feindesliebegebot her verstanden sein will, vertritt Kollmann die Auffassung, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums nicht die Gegenseitigkeit als solche, sondern nur ein bestimmtes Verständnis von Gegenseitigkeit ablehnt. Der Philosoph Paul Ricœur schließlich geht zu Recht von einer unauflöslichen Spannung zwischen unilateraler Liebe und bilateraler Gerechtigkeit aus, löst diese Spannung dann aber doch wieder einseitig zu Gunsten der Liebe auf. Die Auseinandersetzung mit diesen drei Positionen dient der Profilierung unserer bisherigen Ergebnisse.

878 Luz, Matthäus Bd. 1, 459. 879 Luz, Matthäus Bd. 1, 511.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

301

3.2.1 Ulrich Luz: Einseitige Liebe als Gegensatz zur Gegenseitigkeit der Goldenen Regel In seiner zweiten Auflage des Kommentars zum Matthäusevangelium stellt Luz zu Beginn seiner „Erklärung“ der Goldenen Regel (Mt 7,12) in einem ersten Punkt fest, dass die Goldene Regel den Hauptteil der Bergpredigt rahme und dass es zudem über die Wendung „Gesetz und Propheten“ eine Verbindung zum Doppelgebot der Liebe gebe, das Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot anführe (22,34–40). Relativ unvermittelt und thetisch erfolgt dann eine Aussage, die für seine weiteren Ausführungen maßgeblich sein wird: „Es geht also nicht um Gegenseitigkeit, sondern um Liebe.“880 An dieser Stelle dazu nur so viel: Wenn das höchste Gebot im doppelten Liebesgebot, der Liebe gegenüber Gott und gegenüber dem Nächsten, besteht, dann ist diese Liebespraxis u. E. für den Verfasser des Matthäusevangeliums Ausdruck der menschlichen Gottesbeziehung, die ihren Ausgangspunkt im göttlichen Schuldenerlass und dem darin zum Ausdruck kommenden Erbarmen Gottes hat. Dieses Erbarmen, diese Liebe gilt es nun in der zwischenmenschlichen Liebe, die im Matthäusevangelium den hervorragenden Ort der Gottesbeziehung darstellt, zu imitieren (vgl. z. B. Mt 18,23–35). Sie kann als Antwort auf das eschatologische Handeln Gottes verstanden werden. Die Figur der imitatio Dei aber impliziert einen Gegenseitigkeitscharakter, selbst wenn dieser asymmetrisch angelegt ist: Gottes Erbarmen, seine dem Menschen Umkehr ermöglichende Liebe, geht voran, der Mensch antwortet durch die Nachahmung des göttlichen Verhaltens. 880 Luz, Matthäus Bd. 1, 511. In der ersten Auflage des ersten Teilbandes seines Matthäuskommmentars bemerkt Luz kritisch, dass die Evidenz der Goldenen Regel „nicht dieselbe [ist] wie diejenige des Gebotes der Feindesliebe oder des Gewaltverzichts. Dort basierte die innere Zustimmung des Hörers zur Wahrheit der Gebote auf dem Kontrast, den sie zu seiner eigenen Erfahrung bedeuteten: Für den in Lüge, Gewalt und Haß verstrickten Menschen bedeuteten Jesu Kontrastgebote ein Stück Hoffnung auf einen neuen, besseren Menschen im Anbruch des Gottesreichs. Die Goldene Regel aber ist auch ohne Eschatologie plausibel, weil sie dem eigenen Ich im ‚Tauschverhältnis‘ des Gebens und Empfangens von Liebe einen Platz anweist“ (Matthäus Bd. 1 [1. Auflage], 393). Auch Heinz-Wolfgang Kuhn, der die positive Fassung der Goldenen Regel (ähnlich wie Ulrich Luz) als Hinweis darauf verstanden wissen will, dass sie als Liebesgebot zu verstehen sei, übt theologische Kritik und fragt sich, ob die Radikalität der Feindesliebe nicht durch den Gegenseitigkeitscharakter der Goldenen Regel unterlaufen werde: „Hat nicht Matthäus, dadurch daß er den Hauptteil der Bergpredigt mit der Goldenen Regel abschließt, die radikale Einseitigkeit der Feindesliebe mit dem alten guten Ethos einer vernünftigen, am zwischenmenschlichen Gleichgewicht orientierten ‚egoistischen‘ Regel neutralisiert? Aber es ist jedenfalls zu betonen, daß die Goldene Regel das Verhalten nicht vom erfahrenen oder zu erwartenden Verhalten der anderen abhängig macht“ (Liebesgebot, 205f.). U. E. wären sowohl an Luz als auch an Kuhn die Anfrage zu stellen, worin sich die Radikalität des Feindesliebegebots von einem vom Verhalten des Mitmenschen unabhängigen Handelns gemäß der Goldenen Regel unterscheidet, zumal wenn es, wie Kuhn annimmt, unabhängig auch vom erwarteten Verhalten des Gegenübers sein soll. Letztendlich wird eine positive Erwiderung des Gegenübers zum Problem, weil sie die Einseitigkeit der Feindesliebe unterwandert und in ein „Tauschverhältnis“ mündet.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Liebe und Gegenseitigkeit schließen sich also nicht aus, sondern in der Liebe zeigt sich der Gegenseitigkeitscharakter der Gott-Mensch-Beziehung. Noch aufschlussreicher als das Postulat eines Gegensatzes von Liebe und Gegenseitigkeit sind die Ausführungen unter Punkt 5. Dort schreibt Luz: „Die positive Formulierung der Goldenen Regel, vor allem aber das den Imperativ so unschön einleitende οὕτως, deutet an, daß sie bei Matthäus als Einfühlungsregel und nicht als Gegenseitigkeitsregel funktioniert: Sie gibt keinen Zweck des guten Handelns an – es geht also nicht darum, daß man von den anderen auch etwas Gutes zurückerwarten darf –, sondern es geht nur darum, wie man handeln soll, nämlich eben so, wie man es selbst gerne erfahren würde. Die Goldene Regel ist also bei Matthäus nicht in erster Linie ethisches Grundprinzip, sondern Konkretionshilfe, welche der Liebe auf die rechte Spur hilft.“881 Die Ausschließlichkeit, mit der Luz hier zwischen der Goldenen Regel als Einfühlungs- und als Gegenseitigkeitsregel unterscheidet (vgl. das Wörtchen „nur“), um die Goldene Regel als Konkretionshilfe zu marginalisieren, setzt ein Verständnis von Liebe voraus, dem zufolge Liebe und Gegenseitigkeit nicht miteinander vereinbar sind. Warum der Evangelist eine solche, vor dem Missverständnis der Reziprozität zu wahrende Konkretionshilfe an den Abschluss des Hauptteils der Bergpredigt setzt und ihr damit eine zentrale Funktion zuweist, muss offen bleiben.882 Eine Konkretionshilfe wäre eher im unmittelbaren Kontext des Gebotes der Feindesliebe (5,43–48) zu erwarten. Stellung bzw. Funktion und Bedeutung der Golden Regel entsprechen sich nach Luz nicht. Seine Vermutung, der Verfasser des Matthäusevangeliums habe wahrscheinlich keinen Widerspruch zwischen Feindesliebe und Goldener Regel empfunden,883 die zur Erklärung der Diskrepanz zwischen Funktion und Bedeutung der Goldenen Regel herangezogen werden könnte, kann hier u. E. auch nicht weiterhelfen, sondern stellt vor das Paradox eines angeblich nicht empfundenen Widerspruchs und einer Interpretation der Goldenen Regel, die entgegen ihres ansonsten vorherrschenden zeitgenössischen Verständnisses ihres entscheidenden Charakteristikums, der Gegenseitigkeit, entledigt wird. Dass der Evangelist einen solchen Eingriff in den Charakter der Regel durch die Vorschaltung des Feindesliebegebots quasi nebenbei oder unbewusst und zudem in einem nicht zu unterschätzenden Abstand zum Gebot der Feindesliebe (5,43–48) vornimmt, scheint uns äußert unwahrscheinlich.

881 Luz, Matthäus Bd. 1, 512. 882 Mit Gnilka, Matthäusevangelium, 266, müsste dann gefragt werden, warum der Verfasser des Matthäusevangeliums nicht das Feindesliebegebot an den Schluss der Bergpredigt setzt. Der Verweis darauf, dass er es schon vorher im Rahmen der Kommentarworte gebracht hat, vermag nur dann zu überzeugen, wenn die Goldene Regel in der Tat als angemessenes Äquivalent zum Feindesliebegebot verstanden wird. Und das wäre ja möglich: Beiden ist der Charakter als eines Verhaltens gemein, dass unabhängig vom Beziehungsstatus und unabhängig von der Reaktion des Gegenübers dem Mitmenschen oder sogar dem Feind gegenüber positiv agiert. 883 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 511.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

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Darüber hinaus scheint uns auch die Interpretation des Adverbs οὕτως sehr gewagt. So ist von Luz zwar richtig gesehen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums von seiner Leserschaft Einfühlungsvermögen in das Gegenüber fordert: Die eigenen Wünsche sollen auch beim Gegenüber vorausgesetzt und zum Maßstab des zwischenmenschlichen Umgangs gemacht werden. Das Gegenüber soll als ein solches wahrgenommen werden, das die gleichen Wünsche und Bedürfnisse wie die Adressaten der Goldenen Regel hat, und das dann auch in diesem Sinne zu behandeln ist. So zumindest verstehen wir die Aussage von Luz, es gehe dem Verfasser des Matthäusevangeliums darum, „wie man handeln soll, nämlich eben so, wie man es selbst gerne erfahren würde“884. Allerdings wird diese Aussage von der unmittelbar vorangehenden, es gehe nicht darum, „daß man von den anderen auch etwas Gutes zurückerwarten darf“885 konterkariert und dominiert. Luz versteht diese Aussage nämlich nicht nur so, dass mit der Erwiderung des Guten, das man dem Gegenüber angedeihen lässt, nicht nur nicht gerechnet werden kann, sondern dass man auch nichts zurückerwarten soll, ja, dass eine solche Erwartung dem vom Feindesliebegebot Geforderten entgegenläuft. An dem Verständnis des „darf“ entscheidet sich, ob das Liebesgebot der Erwartung von Gegenseitigkeit prinzipiell entgegensteht, oder aber ob es um einen Verzicht auf Gegenseitigkeit geht, der eine solche gerade herstellen soll. Die Ausführungen von Luz sind in dieser Hinsicht eindeutig: Die vom matthäischen Jesus geforderte Liebespraxis, die auch die Goldene Regel inhaltlich bestimmt, besitzt ihren Zweck nicht in der Herstellung einer erneuten Gegenseitigkeit, weswegen auch die Erwartung einer solchen falsch ist. In der soeben skizzierten Interpretation der Goldenen Regel vom Feindesliebegebot her offenbart Luz seine monoperspektivische Sichtweise. Dieser ist entgegenzuhalten: Wenn der Verfasser des Matthäusevangeliums die eigenen Bedürfnisse als Kriterium des zwischenmenschlichen Miteinanders ins Feld führt, dann dürften diese ja nicht erst beim Gegenüber den Wunsch gelungener Kommunikation und Beziehung hervorrufen, sondern schon bei den Adressaten selbst. Überspitzt formuliert: Ohne den eigenen Wunsch auf gelingende Kommunikation mit meinem Gegenüber, können wir diesen Wunsch auch nicht im Mitmenschen wahrnehmen. Damit aber würde die Goldene Regel in sich selbst zusammenfallen. Das Verständnis der Golden Regel als Einfühlungsregel ist davon abhängig, dass sowohl das angesprochene „Ich“ als auch dessen Gegenüber vom Wunsch nach wechselseitigen, durch Reziprozität gekennzeichneten Beziehungen angetrieben werden, und zwar beide gleichermaßen.886 Der Wunsch gelingender Beziehung aber kann, wenn wir den Evangelisten richtig verstehen, nur auf Gegenseitigkeit 884 Luz, Matthäus Bd. 1, 512. 885 Luz, Matthäus Bd. 1, 512. 886 Ohne das weiter zu entfalten, geht Gerd Theißen davon aus, dass die Goldene Regel im Matthäusevangelium sowohl Ausdruck einer Empathie- als auch einer idealen Gegenseitigkeitsethik ist (vgl. Theißen, Gesetz und Goldene Regel, 241). Im Gegensatz zu Luz ist für ihn beides miteinander vereinbar.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

beruhen, die dementsprechend das Ziel und den Zweck eines Handelns gemäß der Goldenen Regel darstellt. Wie soll, so muss sich Luz fragen lassen, eine Gemeinschaft ohne Gegenseitigkeit aussehen?887 Nochmals: Die eigenen Bedürfnisse können nicht Maßstab des Sozialverkehrs sein und gleichzeitig das Liebesgebot konterkarieren. Die eigenen Wünsche und eine daraus resultierende Zielsetzung des Handelns können und dürfen u. E. nicht auseinandergerissen und in einen Gegensatz zueinander gestellt werden. Es ist also ernst zu machen mit unserer Annahme, dass nicht nur das Liebesgebot einen entscheidenden Hinweis dahingehend gibt, wie der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel versteht, sondern auch umgekehrt: Die Goldene Regel sagt Entscheidendes über das Verständnis des Liebesgebots aus. Kurzum: Die Goldene Regel und das Feindesliebegebot sind miteinander vereinbar, weil letzteres nicht den Gegenseitigkeitscharakter menschlicher Beziehung prinzipiell in Frage stellt, sondern diesen vielmehr voraussetzt. Sowohl die Goldene Regel als auch das Feindesliebegebot intendieren Reziprozität, für die die Adressaten des matthäischen Jesu alles in ihrer Macht Stehende unabhängig vom realen Verhalten ihrer Mitmenschen tun sollen. Darin besteht ihre Radikalität. Die Schülerschaft Jesu ist dazu aufgefordert, unabhängig vom jeweiligen Beziehungsstatus, die Möglichkeit gelingender zwischenmenschlicher Kommunikation und Beziehung dadurch offen zu halten, dass sie negative Reziprozität durchbricht: Auch die Feinde sollen geliebt werden. Die positive Formulierung der Goldenen Regel und das Feindesliebegebot besitzen also darin ihren kleinsten gemeinsamen Nenner, dass sie durch ein empathisches Initiativhandeln Gemeinschaft intendieren.

3.2.2 Bernd Kollmann: Die Goldene Regel als Ausdruck „intendierte[r] Reziprozität“888 Im letzten Abschnitt haben wir bereits auf unser Verständnis der Goldenen Regel, die Gemeinschaft ermöglichen soll und damit Gegenseitigkeit intendiert, hingewiesen. Eine solche Sichtweise ist in der jüngeren Vergangenheit von Bernd Kollmann vertreten worden. Anders als Luz sieht Kollmann keinen Gegensatz zwischen Liebe und Gegenseitigkeit, sondern er erkennt Gegenseitigkeit als Ziel des von der Schülerschaft Jesu geforderten Liebeshandelns an. In diesem Sinne spricht er explizit von „intendierte[r] Reziprozität“889. Allerdings stellt Kollmann diesen Begriff in Opposition zu einem „formalisierte[n] Gegenseitigkeitsprinzip“890 und unterscheidet die intendierte Reziprozität von „einem formalen Vergeltungs887 An dieser Stelle zeigt sich, von wie entscheidender Bedeutung die Berücksichtigung des Sachverhalts ist, dass in den antiken mediterranen Gesellschaften Beziehungen prinzipiell reziprok konzeptualisiert werden. 888 Kollmann, Goldene Regel, 104 (Kursiv des Originals nicht übernommen). 889 Kollmann, Goldene Regel, 104 (Kursiv des Originals nicht übernommen). 890 Kollmann, Goldene Regel, 107.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

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oder Entsprechungsdenken“891. Damit problematisiert er ein bestimmtes Verständnis von Gegenseitigkeit, von dem die Goldene Regel zu unterscheiden sei. Im Folgenden soll die Kollmannsche Position vorgestellt und kritisch gewürdigt werden. Nachdem Kollmann sich von Interpretationen kritisch distanziert hat, die im Gefolge von Dihle892 davon ausgehen, dass die Goldene Regel und das Feindesliebegebot in einem unvereinbaren Gegensatz zueinander stehen,893 beginnt er seine Ausführungen zum Verhältnis der beiden im Matthäusevangelium folgendermassen: „Gemeinsam mit dem Logion Mt 5,17 rahmt die Goldene Regel den Hauptteil der Bergpredigt und stellt diesen unter das Thema der Proklamierung wie Erfüllung des in Gesetz und Propheten dokumentierten Willens Gottes. Gleichzeitig bietet Matthäus mit seinem redaktionellen Zusatz zur Goldenen Regel eine kontextuelle Verknüpfung zum Streitgespräch um das höchste Gebot, wo das Doppelgebot der Liebe als Summe von Gesetz und Propheten gilt (Mt 22,40). Wenn aus der Perspektive des Matthäus sowohl die Goldene Regel als auch das Doppelgebot der Liebe die Quintessenz von Gesetz und Propheten darstellen, sind beide Größen gleichbedeutend und gegeneinander austauschbar. Das in der Goldenen Regel angesprochene Handeln gegenüber anderen Menschen ist als die Nächstenliebe qualifiziert, die in der Bergpredigt auch auf das Verhalten gegenüber dem Feind aus-

891 Kollmann, Goldene Regel, 112. 892 Nach Albrecht Dihle ist die Goldene Regel von einem Vergeltungsdenken geprägt, das am faktischen Ausgleich von Leistung und Gegenleistung interessiert ist (vgl. Dihle, Die goldene Regel, 110). Als solche gehört sie „einer früheren und primitiveren Schicht des sittlichen Bewußtseins an als das Nächstenliebegebot in seiner allgemeinen Form“ (ebd.). Das Gebot der Nächsten- und erst recht das Gebot der Feindesliebe hingegen seien Ausdruck einer reinen Gesinnungsethik, für die die faktische Beziehung überhaupt keine Rolle mehr spiele (vgl. ebd., 111). Der Gegenseitigkeitscharakter der Goldenen Regel wird also nach Auffassung Dihles durch das Feindesliebegebot überwunden. Der Problematik der Verwendung der Goldenen Regel im Neuen Testament versucht Dihle dadurch gerecht zu werden, dass er im Blick auf Mt 7,12 davon ausgeht, dass die Goldene Regel hier aufgrund des Zusatzes οὗτος γάρ ἐστιν ὁ νόμος καὶ οἱ προφῆται „eher die Anschauungsweise des Spätjudentums als den Geist echter Jesus-Logien verrät“ (ebd., 113), was den Verfasser des Matthäusevangeliums nicht besonders gut dastehen lässt, während er das ποιεῖτε in Lk 6,31 nicht als Aufforderung, sondern indikativisch versteht: So sei die Goldene Regel hier Ausdruck des in den folgenden Versen (Lk 6,32–34) beschriebenen und von Jesus kritisierten allgemeinen Verhaltens der Sünder, die nur lieben, von denen sie geliebt werden, und die geben, um zu bekommen (vgl. ebd., 114–115). Auch wenn dieses Verständnis so nicht mehr geteilt wird, prägt die Auffassung Dihles die Exegese z. T. immer noch: So geht u. E. die Auffassung, die eigenen Bedürfnisse sollen einerseits zur Grundlage des Handelns am Gegenüber gemacht und andererseits dadurch verleugnet werden, dass ein Handeln gemäß der Goldenen Regel nicht durch den Wunsch nach Gegenseitigkeit motiviert sein darf (Kollmann, Strecker, Luz u. v. m.), an der konkreten Beziehung vorbei: Wo das Verhalten des Gegenübers überhaupt keine Rolle mehr spielen darf, schwebt die Beziehung im luftleeren, unkonkreten Raum. Zur Problematik dieser Sichtweise vgl. die Auseinandersetzung insbesondere mit Kollmann oben im Text. 893 Vgl. Kollmann, Goldene Regel, 102–103.

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geweitet wird. Insoweit wahrt Matthäus trotz der Herauslösung der Goldenen Regel aus ihrem ursprünglichen Q-Kontext deren inhaltliche Füllung durch das radikalisierte Liebesgebot Jesu und setzt mit der Betrachtung der Goldenen Regel als Summe von Gesetz und Propheten zugleich neue Akzente. In jedem Falle ist auch für Matthäus die Goldene Regel Ausdruck einer von Initiativhandeln gegenüber den Mitmenschen getragenen Empathieethik und kein formalisiertes Gegenseitigkeitsprinzip, welche das am eigenen Leib erfahrene Handeln der anderen zum Maßstab des eigenen Handelns machen würde.“894 In vielem was Kollmann hier schreibt, stimmt er mit Luz überein. Bevor also die entscheidenden Differenzen in den Blick genommen werden, seien zuerst die Gemeinsamkeiten herausgestellt: Wie Luz und viele andere macht Kollmann zu Beginn seiner Ausführungen zu Recht darauf aufmerksam, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums durch die Goldene Regel und ihre Verknüpfung mit „Gesetz und Propheten“ nicht nur einen Rahmen um den Hauptteil der Bergpredigt schafft, sondern sie darüber hinaus mit dem Doppelgebot der Liebe verknüpft. Dieser Sachverhalt führt auch bei ihm zu einer Verhältnisbestimmung von Goldener Regel und Liebesgebot, in dem letzterem entscheidende Bedeutung zukommt. So stellt Kollmann zwar fest, dass die Goldene Regel und das Doppelgebot der Liebe als „Quintessenz von Gesetz und Propheten … gleichbedeutend und gegeneinander austauschbar“895 sind, was eine Gleichrangig- und wertigkeit beider Weisungen nahelegen würde, um dann aber doch in großer Einseitigkeit zu konstatieren, dass „[d]as in der Goldenen Regel angesprochene Handeln gegenüber anderen Menschen … als die Nächstenliebe qualifiziert [ist]“896. Zudem spricht er vom radikalisierten Liebesgebot, d. h. dem Feindesliebegebot, als „inhaltliche[r] Füllung“897 der Goldenen Regel. Wie Luz, dessen Interpretation des Liebesgebots Kollmann als „zentralen Vorspruch“ zur Goldenen Regel explizit zitiert,898 dominiert und bestimmt damit das Liebesgebot das Verständnis der Goldenen Regel. Wie Luz muss sich deshalb auch Kollmann fragen lassen, ob nicht auch umgekehrt nach dem Einfluss der Goldenen Regel auf das Liebesgebot zu fragen ist, ohne dass damit die unumstritten zentrale Bedeutung des Feindesliebegebots von vornherein abgeschwächt würde. Dass Kollmann und mit ihm viele andere Exegeten die Goldene Regel vom Feindesliebegebot her interpretieren, aber umgekehrt nicht danach fragen, ob – und wenn ja, welche – Konsequenzen die Goldene Regel für das Verständnis des Feindesliebegebots hat, liegt darin begründet, dass in der Tat das in der Goldenen Regel zum Ausdruck kommende Gegenseitigkeitsprinzip und ein Verständnis des Feindesliebegebots als Verzicht auf Gegenseitigkeit auf den ersten Blick nur 894 895 896 897 898

Kollmann, Goldene Regel, 107. Kollmann, Goldene Regel, 107. Kollmann, Goldene Regel, 107. Kollmann, Goldene Regel, 107. Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 511, zitiert bei Kollmann, Goldene Regel, 107 Anm. 26. Vgl. Heiligenthal, Art. Goldene Regel II. Neues Testament und frühes Christentum, 573.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

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schwer miteinander zu vereinen sind.899 Kollmann versucht diese Schwierigkeit dadurch zu umgehen, dass er im Blick auf Mt 7,12 von der diesem Vers zu Grunde liegenden „Vorstellung der intendierten Reziprozität“900 spricht. Diese zeichnet sich nach Kollmann nun dadurch aus, dass „die Goldene Regel im Gegensatz zu dem Prinzip ‚Wie Du mir, so ich dir‘ gerade nicht die tatsächlichen Verhaltensweisen oder Gegenleistungen anderer Menschen zum Maßstab des Handelns macht, sondern das eigene Verhalten gegenüber den Mitmenschen daran ausrichtet, wie man von diesen in idealer Weise behandelt zu werden wünscht“901. Ziel eines Handelns entsprechend der Goldenen Regel bleibt also (anders als bei Luz) durch Reziprozität gekennzeichnete Gemeinschaft, die aber, um diese intendierte Reziprozität zu erreichen, nicht das tatsächliche oder erwartete Verhalten902 des Gegenübers zum Maßstab des eigenen Handeln macht, sondern ausschließlich die eigenen Erwartungen hinsichtlich des Verhaltens anderer gegenüber sich selbst. Gegenüber Exegeten, denen zufolge das Feindesliebegebot und Reziprozität nicht miteinander vereinbar sind und wahre Liebe prinzipiell unabhängig von ihrer Erwiderung ist, ist das auf den ersten Blick ein gewaltiger Fortschritt. Kollmann unterscheidet sich von diesen Exegeten in der Annahme, dass das die Goldene Regel inhaltlich bestimmende Feindesliebegebot nicht den Reziprozitätscharakter von Beziehung, sondern nur ein bestimmtes Verständnis von Wechselseitigkeit unterminiert. Er verschiebt den Gegensatz zwischen der Einseitigkeit der Feindesliebe und der Gegenseitigkeit der Goldenen Regel auf zwei verschiedene Konzeptionen von Gegenseitigkeit und stellt die mit der Goldenen Regel verbundene „Vorstellung der intendierten Reziprozität“903 ein „formalisiertes Gegenseitigkeitsprinzip“904 bzw. „einem formalen Vergeltungs- oder Entsprechungsdenken“905 gegenüber. Allerdings ist auch Kollmanns Argumentation nicht zwingend. Denn worin sollte die Differenz zwischen intendierter Gegenseitigkeit und formaler Gegenseitigkeit bestehen? Die Auskunft, intendierte Gegenseitigkeit agiere unabhängig vom Verhalten oder Gegenleistungen des Gegenübers, hilft hier nicht weiter, da sie ja auch auf eine positive Erwiderung des Gegenübers zielt, die zudem in einem Entsprechungsverhältnis zum eigenen Verhalten steht. Auch intendierte Rezipro-

899 Diese Differenz bring Ricœur durch die Aussage auf den Punkt, dass „the Golden Rule remains within the … logic of equivalence, this very logic that the commandment to love one’s enemies shatters: nothing is expected in return, no equivalence because no reciprocity“ (Golden Rule, 394). 900 Kollmann, Goldene Regel, 104. 901 Kollmann, Goldene Regel, 103. 902 Wir verstehen die Aussage so, dass mit Gegenleistungen Verhaltensweisen des Gegenübers im Blick sind, die aufgrund des eigenen Verhaltens erwartet werden. Vgl. dazu weiter unten im Text. 903 Kollmann, Goldene Regel, 104. 904 Kollmann, Goldene Regel, 107. 905 Kollmann, Goldene Regel, 112.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

zität ist u. E. mit der Erwartung verbunden, dass das Gegenüber positiv auf das eigene Verhalten reagiert. Und genau an diesem Punkt treibt Kollmann einen Keil zwischen die Hoffnung auf und die Motivation bzw. Bedingung eines Handelns in Übereinstimmung mit der Goldenen Regel. In diesem Sinne stellt er fest, dass „[d]ie Gegenseitigkeit … das erhoffte Ziel [ist], nicht aber die Motivation oder Bedingung für das eigene Verhalten anderen gegenüber“906. Die Adressaten des matthäischen Jesu sollen also auf Gegenseitigkeit hoffen, ohne dass ihr Handeln durch diese Hoffnung motiviert oder bedingt ist. Wäre es durch diese Hoffnung motiviert, dann würden sie nämlich eine Gegenleistung907 erwarten und diese zur Bedingung ihres Handelns machen, was aber im diametralen Gegensatz zu dem von der Goldenen Regel anvisierten Handeln steht. U. E. versucht Kollmann hier die Quadratur des Kreises: Ob nämlich in diesem Sinne zwischen Hoffnung und Motivation unterschieden werden kann, scheint uns fraglich. So steckt ja auch im von Kollmann verwendeten Begriff der Intention eine Zielgerichtetheit bzw. Zweckbestimmtheit des Handelns.908 Es handelt sich hier also um den Versuch, das Konstrukt aufrechtzuerhalten, Feindesliebegebot und Goldene Regel kritisierten mit ihrem Verbot, negatives Handeln zu vergelten, die Beziehungen vermeintlich instrumentalisierende Maxime do ut des. U. E. aber zieht der Verfasser des Matthäusevangeliums nicht gegen ein falsches Verständnis von Wechselseitigkeit zu Felde,909 sondern fordert von seiner Leserschaft die Durchbrechung der Feindschafts- und Gewaltspirale. Die Schülerschaft Jesu soll alles daransetzen, auch Feinde wieder in die Gemeinschaft einzubinden. Gemeinschaft aber gibt es nur im wechselseitigen Geben und Nehmen.910 Kollmann übersieht in seiner Argumentation, dass die Orientierung am tatsächlichen Verhalten des Gegenübers nur in dem Falle Gemeinschaft

906 Kollmann, Goldene Regel, 112. 907 Wir halten die Rede von der Erwartung von Gegenleistungen auch deshalb nicht für besonders glücklich gewählt, weil sie eine Instrumentalisierung von Beziehung als Gegenbild zum von der Goldenen Regel geforderten Verhalten wachruft. 908 Vgl. den Duden zum Stichwort „intentional“, das er mit „zweckbestimmt“ bzw. „zielgerichtet“ erklärt. 909 Wir gehen nicht davon aus, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel vor einer Instrumentalisierung von Beziehungen schützen muss, zumal die Konzeptualisierung von Sozialität als Gabebeziehungen in der Antike gerade keiner Marktlogik folgt. Die Absicherung gegen eine solche Instrumentalisierung ist das Bedürfnis moderner Exegeten. 910 Es geht also u. E. nicht an, die rhetorischen Fragen, die die Verfasser des Matthäus- und des Lukasevangeliums im Kontext des Feindesliebegebots stellen (Mt 5,46–47; Lk 6,32–34), als Infragestellung des Wertes ausgeglichener Reziprozität zu deuten: Nicht, dass die Zöllner sich untereinander lieben, ist das Problem (Mt 5,46), sondern dass sie die Liebe auf die eigene Gruppe beschränken (vgl. die Interpretation des Feindesliebegebots in Abschnitt 3.1.2). Dass Feindesliebe nicht mit Gegenseitigkeit rechnen kann, darf deshalb nicht gegen die Vorstellung ausgespielt werden, dass Gemeinschaft nach matthäischem Verständnis – wie es ja auch in Rede Kollmanns von der intendierten Reziprozität zum Ausdruck kommt, durch Gegenseitigkeit realisiert wird und diese Gegenseitigkeit als Ausdruck gelingender Beziehung auch erwartet werden kann.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

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verhindert, wo es um negative Reziprozität geht, wo also feindliche Verhaltensweisen mit feindlichem Verhalten erwidert werden. Dass „das am eigenen Leib erfahrene Handeln der anderen zum Maßstab des eigenen Handelns“911 wird, ist ja nur dort problematisch, wo das erfahrene Handeln nicht deckungsgleich mit den eigenen Erwartungen ist. Wo aber eine solche Deckungsgleichheit besteht, wird u. E. nach matthäischer Vorstellung Gemeinschaft gelebt. Goldene Regel und Feindesliebegebot passen also u. E. für den Verfasser des Matthäusevangeliums deshalb zusammen, weil Reziprozität und die Unterbrechung negativer Reziprozität zwei Seiten derselben Medaille sind: Gelingende Gemeinschaft ist immer durch Gegenseitigkeit gekennzeichnet und gleichzeitig darauf angewiesen, dass im Falle gestörter Gemeinschaft oder aber im Fall bestehender Feindschaft der Kreislauf negativer Reziprozität durchbrochen wird, um zu ausgeglichener Reziprozität zurückzufinden oder diese allererst zu ermöglichen. Auf diesen Sachverhalt macht der matthäische Jesus am Schluss des Hauptteils der Bergpredigt aufmerksam. Er fordert zu einer Haltung und einem Handeln auf, das bereit ist, unabhängig vom Status der jeweiligen Beziehung Gemeinschaft (und Frieden) dadurch ermöglichen, dass die eigenen Erwartungen an die anderen zum Maßstab des eigenen Handelns werden. Der Reziprozitätscharakter gelingender Gemeinschaft wird dadurch ebenso wenig negiert wie die legitime Erwartungshaltung in intakten Freundschaftsbeziehungen. Eine Auslegungstradition, die durch die Interpretation der Goldenen Regel vom Feindesliebegebot her die Goldene Regel ihres Gegenseitigkeitscharakters entkleiden (Luz) oder aber ein falsches Gegenseitigkeitsverständnis korrigieren möchte (Kollmann), muss sich nicht nur fragen lassen, warum die Verfasser des Matthäus- und des Lukasevangeliums die Goldene Regel überhaupt bringen, sondern auch, ob altruistische Liebe Gemeinschaft nicht verunmöglicht. Liebe, die nicht in der Hoffnung ihrer Erwiderung geübt wird und durch diese motiviert ist, geht am Gegenüber als Gegenüber vorbei und verhindert Gemeinschaft. Um zu zeigen, dass der Goldenen Regel im Matthäusevangelium kein formalisiertes Gegenseitigkeitsprinzip zu Grunde liegt, bringt Kollmann ein längeres Zitat aus dem Bergpredigt-Kommentar von Georg Strecker.912 Ähnlich wie Kollmann nimmt Strecker die Goldene Regel zuallererst vor Missverständnissen in Schutz, so vor der von Bultmann vertretenen Annahme, die Goldene Regel sei Ausdruck der „Moral eines naiven Egoismus“913. Diese Annahme speist sich letzten Endes aus einer der Golden Regel fälschlicherweise unterstellten „Wie Du mir, so ich Dir“Logik, d. h. der Orientierung des eigenen Verhaltens am Verhalten des Gegenübers. Eine solche Logik aber sieht Strecker – und darin folgt ihm Kollmann – durch die Goldene Regel gerade überwunden. Strecker schreibt: „Auf den ersten Blick gesehen, spricht die Goldene Regel den Gedanken aus, daß das eigene Tun gegenüber dem Mitmenschen am Verhalten des anderen sich orientieren muß. 911 Kollmann, Goldene Regel, 107. 912 Vgl. Kollmann, Goldene Regel, 103. Vgl. unten im Text die Besprechung dieses Zitats. 913 Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 107.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Von hier aus scheint das Urteil, diese ethische Sentenz reflektiere die ‚Moral eines naiven Egoismus‘, berechtigt zu sein. Jedoch gilt dies nur, wenn man den Spruch isoliert betrachtet, ihn ‚in malam partem‘ interpretiert und übersieht, daß nicht real vorhandene Verhaltensweisen oder Gegenleistungen zur Grundlage des eigenen Verhaltens, sondern gewünschte (Wohl-)Taten von Seiten der anderen zum Maßstab für das eigene Handeln an den Mitmenschen gemacht werden. Die ideale Forderung an den anderen wird zum Maßstab des eigenen realen Verhaltens. Die ethische Norm der Goldenen Regel übersteigt also sowohl die Reziprozität wie auch die Realität des menschlichen Verhaltens. Denn für ihre Verwirklichung ist kennzeichnend, daß man sich nicht von dem Wollen oder Tun eines anderen bestimmen läßt, sondern sich unter die uneingeschränkte Forderung gestellt weiß, das zu tun, was man sich selbst an Gutem wünscht, und das zu unterlassen, was man selbst an Bösem nicht erleiden möchte. Der Wertmaßstab, der mit der Goldenen Regel aufgestellt wird, ist demnach von einem do-ut-des-Prinzip geschieden. Er ist eher mit dem kategorischen Imperativ eines Immanuel Kant zu vergleichen, wonach der Mensch so handeln soll, ‚daß die Maxime deines Willens jeder Zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne‘“914. Auch die Ausführungen Streckers zeigen in aller Deutlichkeit, dass er wie Kollmann die Aussetzung des Prinzips der Reziprozität gegen die Vorstellung eines bestimmten Verständnisses von Gegenseitigkeit, wie es für ihn von der Regel do ut des repräsentiert wird, wendet. So zumindest verstehen wir die Aussage, dass „nicht real vorhandene Verhaltensweisen oder Gegenleistungen zur Grundlage des eigenen Verhaltens“915 gemacht werden sollen. Allerdings muss sich auch Strecker – in ähnlicher Weise wie bereits Kollmann – die Frage gefallen lassen, worin genau der Unterschied zwischen „gewünschte[n] (Wohl-)Taten“916 des Gegenübers und „Gegenleistungen“917 besteht, zumal ja auch die dem Ausdruck „gewünschte (Wohl-)Taten“918 korrespondierende Rede von der „ideale[n] Forderung“919 (an das Gegenüber) eine zumindest implizite Erwartungshaltung nahe legt, auch wenn das eigene Verhalten dann nicht davon abhängig gemacht werden soll, ob der Nächste dieser idealen Forderung entspricht. Ideale Forderung kann ja u. E. gerade nicht bedeuten, dass diese Forderung keinen Anhalt an der Realität hat. Die Adressaten Jesu sollen sich also nicht überlegen, wie sie von ihren Mitmenschen behandelt werden wollen, um dann ihren eigenen Wunsch ad acta zu legen und diesen nur noch als einen solchen ihres jeweiligen Gegenübers gelten zu lassen. Kurzum: Die Unabhängigkeit vom realen Verhalten der Mitmenschen schließt gerade nicht aus, dass die ideale eine reale Forderung ist und bleibt. Insofern muss die Frage gestellt werden, ob der Ausdruck „ideale Forderung“ nicht auf 914 915 916 917 918 919

Strecker, Bergpredigt, 158. Strecker, Bergpredigt, 158. Strecker, Bergpredigt, 158. Strecker, Bergpredigt, 158. Strecker, Bergpredigt, 158. Strecker, Bergpredigt, 158.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

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eine falsche Fährte lockt, indem er – ähnlich wie bei Kollmann – eine Differenz zwischen Wunsch und Motivation des eigenen Handelns nahe legen könnte, die beim Verfasser des Matthäusevangeliums nicht gegeben ist. Die ideale Forderung ist auch dann eine reale, wenn sie unabhängig vom tatsächlichen Verhalten des Gegenübers erfolgt. Die Unabhängigkeit vom realen Verhalten des Gegenübers stellt also den (impliziten) Forderungscharakter und die damit verbundene Reziprozität nicht in Frage. Das würde auch den „Kosten“ desjenigen, der feindseliges Verhalten erfährt und dieses durch ein an den eigenen Wünschen nach positiver Gegenseitigkeit orientiertes Verhalten erwidert, nicht gerecht. Auch wenn sich ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel im Falle der Feindschaft nicht am konkreten Verhalten des Gegenübers orientiert, nimmt es denjenigen, der das Gegenüber so behandelt, wie er von ihm wünscht, behandelt zu werden, nicht aus der konkreten Situation heraus. Das feindliche Verhalten trifft ihn real und auch das diesem entgegengesetzte positive Verhalten erfolgt nicht im luftleeren Raum. Das eigene und das fremde Verhalten werden gleichermaßen ernst genommen. Die Goldene Regel will also nicht als Prinzip, sondern in der jeweiligen Situation gelebt werden. Dies aber impliziert u. E., dass die Aussage Streckers, dass die „ethische Norm der Goldenen Regel ... Reziprozität übersteigt“ nur dann dem matthäischen Verständnis entspricht, wenn dieses Übersteigen der Wechselseitigkeit auf Reziprozität bezogen bleibt. Das, was über das Maß hinausgeht, setzt ein gültiges Maß voraus. Anders als die Ausführungen Streckers und Kollmanns es nahelegen, ist die Unabhängigkeit des eigenen Verhaltens vom konkreten Verhalten des Gegenübers deshalb nicht gleichzusetzen mit der Kritik an einem bestimmten Verständnis von Reziprozität. Zwischen dem Verzicht, Böses mit Bösem zu vergelten, und der Konzeptualisierung von Sozialität als (ungeschuldete) Gegenseitigkeit ist deshalb zu unterscheiden. Kurz: Der Wunsch nach einer durch Güte bestimmten Gegenseitigkeit, der das eigene Verhalten unabhängig vom tatsächlichen Verhalten des Gegenübers prägen soll, setzt Reziprozität als Grundstruktur menschlicher Sozialität in keiner Weise außer Kraft. Die Aussetzung der Gegenseitigkeit im Falle eines negativen Verhaltens des Gegenübers dient auf der Grundlage dessen, dass Gemeinschaft immer durch Gegenseitigkeit charakterisiert ist, der Ermöglichung der Aufnahme reziprok gestalteter Beziehungen. Die von Kollmann und anderen beim Evangelisten wahrgenommene Kritik an einem „formalisierte[n] Gegenseitigkeitsprinzip“920 bzw. am Formalismus und Berechnenden der Maxime do ut des trifft einen wichtigen Punkt, der auch für das antike Verständnis sozialer Beziehungen wesentlich ist: Soziale Beziehungen sind zu einem gewissen Grade „unberechenbar“: Sie können scheitern. Das liegt, so haben wir bereits bei unserer Analyse der Goldenen Regel gesehen,921 daran, dass soziale Beziehungen in der Antike als Gabebeziehungen konstruiert werden und dass für das Gabehandeln die Spannung zwischen der Freiwilligkeit der Gewährung ei-

920 Kollmann, Goldene Regel, 107. 921 Vgl. Abschnitt 3.1.1.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

ner Gabe und der Notwendigkeit ihrer Erwiderung konstitutiv ist. Es ist dieser Aspekt der Freiwilligkeit, der nach antikem Verständnis soziale von ökonomischen Beziehungen unterscheidet, ohne dass die Gefahr der Ökonomisierung zwischenmenschlicher Beziehungen bestünde. Entsprechend unbefangen kann der Verfasser des Matthäusevangeliums ökonomische Terminologie für die Beschreibung und Darstellung sozialer Beziehungen und sogar der Gottesbeziehung des Menschen verwenden. Die Versuche, den Evangelisten vor dem vermeintlichen Missverständnis zu schützen, er ökonomisiere in insbesondere für reformatorische Theologie problematischer Weise Beziehungen, beruhen also ihrerseits auf einem Missverständnis: Sie tragen dem auch mit der Formel do ut des922 verbundenen Freiwilligkeitscharakter des Gabehandelns keine Rechnung.

3.2.3 Ricœur: Die nicht auflösbare Spannung zwischen unilateraler Liebe und bilateraler Goldener Regel Zum Abschluss der kritischen Diskussion um ein angemessenes Verständnis der Goldenen Regel (7,12) und ihrer Beziehung zum Feindesliebegebot (5,43–48) soll hier auf den Philosophen Paul Ricœur eingegangen werden. Ricœur unterscheidet sich insofern von den bisher diskutierten Positionen, als er eine nicht auflösbare Spannung zwischen unilateraler Liebe und bilateraler Goldener Regel annimmt. Aber auch Ricœur geht davon aus, dass das (Feindes-)liebegebot ein bestimmtes Verständnis der Goldenen Regel korrigiert. In diesem Sinne betont er, dass die Goldene Regel „[i]nterpreted literally … is an index of what the radical critique claims that it is, namely, a sheer refinement of the law of retaliation, of the jus talionis ultimately. Its formula would be: do ut des. I give in order that you give. The doer takes the initiative, but for the sake of receiving a reward in return“923. Alles 922 Dass die Formel do ut des selbst missverstanden werden könnte und kein formales oder schematisiertes und damit Beziehung pervertierendes Gegenseitigkeitsprinzip darstellt, darauf hat Fritz Rüdiger Volz hingewiesen: „Die Formel do ut des … wird heute häufig als Inbegriff und Instrument der Entlarvung von Gabehandeln und Gabehandlungen genutzt. Diese Verwendung zielt auf die Delegitimierung tendenziell allen Gabehandelns und aller Gabehandlungen. Dies ist von modernen Positionen der Religions- und Ökonomiekritik her gedacht. In den historischen Kontexten ihrer authentischen Verwendung hat diese Formel noch nichts von dem Berechnenden, Rechenhaftem des Geld vermittelten Tauschhandels. Diese ökonomische Rechenhaftigkeit ist ein Problem der Moderne, die ihren Individuen ‚alles zutraut‘ und die mit ihrer eigenen Abhängigkeit von ihrer eigenen ‚Ökonomie‘ nicht zurande kommt. Die historische Unkenntnis und der inflationäre Gebrauch schränken die Erklärungskraft dieser Formel beträchtlich ein. Ursprünglich ist sie jedoch eine Programmformel, die in großartiger Einfachheit und Elementarität genau jene wechselseitige Bedingung, Verschränkung und Verpflichtung zum Ausdruck bringt, die alles Gabehandeln als Beziehungshandeln und die daraus erwachsenden Sozialformen charakterisiert“ (Grundlagen des Gabehandelns, 248). 923 Ricœur, Golden Rule, 395.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

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das, was theologisch zu bekämpfen ist, lässt sich also – auch wenn es sich hier um die Zusammenstellung eines Philosophen handelt – in der Goldenen Regel bündeln: ein dem Talionsrecht folgendes Vergeltungs- und ein Beziehung pervertierendes Lohndenken. Allerdings, so Ricœur, wäre eine so verstandene Goldene Regel im Neuen Testament nicht denkbar. Sie stünde dann in einem unüberbrückbaren Gegensatz zum Gebot der Feindes- bzw. Nächstenliebe. Wenn also Jesus die Goldene Regel im Matthäus- und im Lukasevangelium an prominenter Stelle affirmativ im Munde führt, dann kann sie nicht ihren ursprünglichen Sinn beibehalten haben. Vielmehr werde ihr durch das Feindesliebegebot ein neuer Sinn gegeben: Vom Feindesliebegebot her interpretiert folge die Goldene Regel der religiösen Logik des Überflusses („logic of superabundance“) und verwandle das durch die Äquivalenzlogik („logic of equivalence“) bestimmte „Ich gebe, damit Du gibst“ in ein „Weil mir gegeben wurde, gebe ich Dir“: „I see the logic of superabundance rescuing true reciprocity from its caricature as denounced in Lk 6. 32–5. This logic works in the following way. The economy of gift is construed around a because: because it has been given to you, go and do alike. This because undermines the in order that of the rule do ut des, I give in order that you give. Then the rule of reciprocity and even the principle of equivalence may be redeemed from their initial disgrace thanks to the substitution of the new motive of generosity for the ancient motive of self-interest.“924 Die Ehre der Goldenen Regel und des ihr inhärenten Gegenseitigkeitsprinzips (Reziprozität) wird also nach Ricœur durch das Feindesliebegebot dadurch gerettet, dass ein Verhalten gemäß der Golden Regel durch ein vorangehendes “weil“ und nicht durch ein „um zu“ motiviert ist: „Weil mir gegeben wurde, gebe ich Dir“. Auch wenn wir, wie bereits deutlich geworden sein dürfte, nicht davon ausgehen, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel gegen ein menschliche Beziehungen pervertierendes Gegenseitigkeitsverständnis richtet, passt die von Ricœur beschriebene Logik „Weil mir gegeben wurde, gebe ich Dir“ genau zu unserem Verständnis des Zusammenhangs zwischen Mt 7,7–11 und Mt 7,12,925 ohne dass Ricœur diesen exegetischen Aspekt zur Unterstützung seiner Argumentation heranziehen würde. Allerdings beachtet Ricœur zweierlei nicht: Zum einen zeugt bereits die Formulierung der Goldenen Regel sowohl im Lukas- als auch im Matthäusevangelium von Eigeninteresse (selfinterest). So ist nicht nur der eigene Wunsch, vom Mitmenschen in Güte behandelt zu werden, Maßstab eines Verhaltens gemäß der Goldenden Regel, sondern dieser Maßstab macht gleichzeitig deutlich, dass das eigene Verhalten auf Gegenliebe zielt. Zum anderen blendet Ricœur den Sachverhalt aus, dass ein Verhalten in Analogie zum göttlichen Verhalten auf eine erneute Zuwendung hoffen darf. In diesem Sinne ist der Feindesliebe im Matthäusevangelium Lohn (μισθός) verheißen: Gott 924 Ricœur, Golden Rule, 395. Ricœur übersieht, dass die Formel do ut des als Ausdruck antiken Gabehandelns („economy of gift“) verstanden werden kann, das nicht erst durch das Motiv der Großzügigkeit korrigiert werden muss, um es vor seiner Karikatur zur schützen. Vgl. dazu Anm. 922. 925 Vgl. Abschnitt 3.1.1.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

vergilt. Das zeigt sich in den beiden in strenger Parallelität formulierten rhetorischen Fragen in Mt 5,46 und 47: „Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben?“ und „Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes?“ Dem Besonderen, der über die Bruderliebe hinausgehende Feindesliebe, ist Lohn bei Gott verheißen. In vergleichbarer Weise spricht Lk 6,36 davon, dass der Lohn dafür, zu leihen, ohne die Hoffnung zu hegen, etwas zurückzubekommen, groß sein wird. Interessanterweise aber blendet Ricœur diesen Vers aus und belässt es dabei, Lk 6,32–35 als Beleg dafür anzuführen, dass der lukanische Jesus nicht nur zur Durchbrechung negativer Reziprozität auffordert, sondern gleichsam ein durch die Maxime do ut des geprägtes Verhalten ablehnt. Wird aber Lk 6,36 in die Überlegungen einbezogen, dann zeigt sich in aller Deutlichkeit, dass die dem Handeln Gottes entsprechende Feindesliebe auf der Ebene der Gott-Mensch-Beziehung, die durch Entsprechung und Wechselseitigkeit geprägt ist, höchst relevant ist: Gott vergilt. U. E. ist hier eine Vergleichbarkeit zu der im ersten Kapitel dargelegten inneren Logik des Begriffs ‫ חֶ סֶ ד‬gegeben, der zufolge Gott zwischenmenschlich nicht erwiderten ‫ חֶ סֶ ד‬kompensieren kann.926 Wichtig scheint uns an dieser Stelle ein weiterer Aspekt der Argumentation Ricœurs. Er stellt nämlich die These auf, dass die Goldene Regel und das Liebesgebot in der christlichen Ethik in einer produktiven, unauflöslichen Spannung zueinander stehen. So modifiziere das Feindesliebegebot die Goldene Regel und überführe die ihr inhärente Logik der Äquivalenz in eine Logik des Überflusses. Umgekehrt aber bewahre die durch das Feindesliebegebot modifizierte Goldene Regel – Ricœur spricht von Neuausrichtung – das supra-ethische Feindesliebegebot davor, ins unethische oder gar unethische zu kippen: „Now why is this reorientation so important? For a basic reason which I submit for your consideration: because a disorientation without a reorientation would amount to an ethical void. No penal law, no justice in general could be derived from the naked commandment of the love for enemies. Which distribution of tasks, of roles, of benefits and burdens, of obligations and duties … could obtain if the lack of reciprocity became the standard of ethics? Which economic fairness could derive from the commandment, ‘Lend, expecting nothing in return’? In this sense the commandment of love for enemies is not ethical but supra-ethical. In order that the supra-ethical does not turn to the a-moral, if not the immoral, it must reinterpret the principle of morality summarized in the Golden Rule. By so doing, the new commandment elevates the principle of morality above itself, close to its breaking point, to the point where it would turn once more into the non-ethical.“927 Diese Argumentation ist höchst aufschlussreich. So geht Ricœur davon aus, dass das Feindesliebegebot eines Gegenpols bedarf, um nicht ins Unethische zu kippen. Anders als Strecker ist sich Ricœur also dessen bewusst, dass unbegrenzte Feindesliebe Sozialität verunmöglichen würde. Das Feindesliebegebot bleibt nach Ricœur auf das Recht und Gerechtigkeit bezogen und nur dieser Bezug bewahrt es davor, im luftleeren Raum zu 926 Vgl. S. 104 und den Exkurs „‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος in Jos 2,12 und Ruth 1,8; 2,20; 3,10“ (ab S. 106). 927 Ricœur, Golden Rule, 397.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

315

schweben. Nach Ricœur ist diese Spannung zwischen unilateraler Liebe und bilateraler Gerechtigkeit wesentlich für christliche Ethik. Wir halten diese Annahme Ricœurs für weiterführend, weil sie deutlich macht, dass nicht nur die Goldene Regel von der Feindesliebe her interpretiert wird, sondern gleichzeitig die Feindesliebe von der Goldenen Regel her begrenzt wird. Wir fragen uns allerdings, wie sich die von Ricœur angenommene Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit zu seiner Kritik an einer Logik der Äquivalenz verhält. Dass er hier nicht ganz konsequent argumentiert, zeigt sich u. a. daran, dass er einerseits die Logik des Überflusses einem Eigeninteresse entgegenstellt, das der perversen Logik des do ut des folgt, andererseits aber davon sprechen kann, dass die Goldene Regel in der Mitte des basalen Konfliktes zwischen Eigeninteresse und Selbstaufgabe zu stehen kommt928. Die Goldene Regel bewahrt, so verstehen wir Ricœur hier, denjenigen, der dem Feindesliebegebot folgt, sich selbst aufzugeben. Eigeninteresse ist also auch Ricœur zufolge nicht gänzlich zu verteufeln. Dass das bereits die Formulierung der Goldenen Regel nahelegt, die den eigenen Wunsch zum Maßstab des Handelns macht, wurde bereits angedeutet. Wenn aber das Motiv des Eigeninteresses ein legitimes Motiv in der Beziehungsgestaltung ist, dann ist nicht einsichtig, warum die Goldene Regel vom Feindesliebegebot her erst korrigiert werden muss, um dann doch auf die positive Seite einer Logik der Äquivalenz als notwendiger Gegenpol zur Feindesliebe hinzuweisen. Wohlgemerkt: Wir halten die Ausführungen Ricœurs für hilfreich und weiterführend. Sie gehen über exegetische Beiträge hinaus, indem sie auch nach dem Einfluss der Goldenen Regel auf das Feindesliebegebot fragen und erstere nicht einlinig vom letzteren her interpretieren. Allerdings will uns der Umweg über die Kritik an einer buchstäblich verstandenen Goldenen Regel, die dem Vergeltungsdenken respektive der Logik der Äquivalenz folgt, nicht einleuchten.929 Darüber hinaus scheint uns auch nicht ganz stimmig, dass Ricœur die Spannung zwischen unilateraler Liebe und bilateraler Gerechtigkeit als Spannung von Maßlosigkeit (lack of measure) und Äquivalenz bestimmt. In diesem Sinne schreibt er im letzten Absatz seines Beitrags: „Let me close by quoting a wonderful verse from the Sermon on the Plain which conflates, so to say, the lack of measure proper to love and the sense of measure characteristic of justice: ‘give, and it will be given to you; good measure, pressed down, shaken together, running over, will be put into your lap. For the measure you give will be the measure you get back.’ (Lk 6. 38) The lack of measure is the good measure. Such is the poetic transposition of the rhetoric of paradox: superabundance becomes the hidden truth of equivalence. The Golden Rule is repeated. But repetition means transfiguration.“930 Zu 928 Vgl. Ricœur, Golden Rule, 397. 929 Gibt er dem Kind dadurch, dass er überwiegend von der Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit spricht, nicht einfach einen anderen Namen? Gerechtigkeit steht u. E. für das vorher negativ qualifizierte Vergeltungs- bzw. Lohndenken und für eine negative Sicht auf die Logik der Äquivalenz. 930 Ricœur, Golden Rule, 397.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Recht bestimmt Ricœur in seinen Ausführungen die Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit unter Bezugnahme auf das vom Lukasevangelium verwendete Bild des Maßes, das aus dem antiken Handeln stammt und bei dem konkret an eine Waage oder ein Längenmaß gedacht sein dürfte. Allerdings steht die Rede vom Mangel an Maß zum Bild des überlaufenden Maßes in Widerspruch. Liebe ist nicht maßlos, sie geht über das Maß hinaus. Das gute Maß ist dementsprechend auch nicht die Maßlosigkeit, sondern das über das exakte Maß hinausgehende Maß. Die Bestimmung der Liebe als Maßlosigkeit ist deshalb zu ersetzen durch ihre Bestimmung als über das exakte Maß hinausgehende. Liebe bleibt dynamisch auf das exakte Maß bezogen. Gerade indem das Übermaß über das genaue Maß hinausgeht, wird die Gültigkeit des genauen Maßes bestätigt. Dies macht die Rede von einer wahren Reziprozität („true reciprocity“), deren Kennzeichen die Logik des Überflusses ist, fragwürdig, insofern die Äquivalenz hier negativ bewertet wird. Äquivalenz ist aber nach matthäischem Verständnis nicht die Negativfolie, von der sich die Logik des Überflusses nur umso strahlender abhebt, sondern positive Voraussetzung einer Reziprozität, die der Logik des Überflusses folgt. Feindesliebe setzt Gerechtigkeit nicht außer Kraft, sondern reicht über sie hinaus. Dieses Verständnis der Polarität von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Äquivalenz und Überfluss, genauem Maß und Übermaß, zeigt sich im Matthäusevangelium in verschiedenen Gleichnissen: Sowohl die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) als auch die Parabel von den Talenten (Mt 25,14–30) zeigen, dass sich die Gerechtigkeit Gottes sowohl in Äquivalenz als auch im Überfluss äussern kann. So handelt der Weinbergbesitzer an den Arbeitern der ersten Stunde gerecht, indem er ihnen den vereinbarten Lohn auszahlen lässt. Die Güte, die in der Gleichbehandlung der zuletzt angeworbenen Arbeiter zum Ausdruck kommt, hebt die Äquivalenz ja gerade nicht auf. Beides steht vielmehr gleichwertig nebeneinander: Gott handelt gerecht, indem er das vereinbarte Maß einhält, und er handelt auf Grundlage des Rechts gütig, indem er es zur Grundlage seines Handelns gegenüber denjenigen macht, die erst später hinzugekommen sind.931 Der Hausherr weist dezidiert darauf hin, dass er nicht ungerecht handelt (Mt 20,13). Und die Parabel von den Talenten (Mt 25,14–30) zeigt, dass dem ersten Knecht, dem die meisten Talente anvertraut werden, bei der Rückkehr seines Herrn als „Lohn“ nicht nur die doppelte Summe, sondern auch das eine Talent dessen, der es aus Angst vergraben hat, gegeben und anvertraut wird. Der Unterschied zwischen dem ersten und zweiten Knecht zeigt: Gott handelt nach dem Maßstab strenger Äquivalenz, und er kann gleichzeitig, auf ihm aufbauend und ihn voraussetzend, diesen Maßstab übertreffen: Während der zweite Knecht zu seinen ursprünglich zwei anvertrauten Talenten zwei weitere hinzu erhält, erhält der erste Knecht neben den fünf weiteren, welche dem Ausgangsmaß entsprechen, ein weiteres hinzu. Auf Grundlage des Maßes der Äquivalenz kann dieses Maß überschritten werden. Das kommentiert der Verfasser des Matthäusevangeliums so: Τῷ γὰρ ἔχοντι παντὶ δοθήσεται καὶ περισσευθήσεται, τοῦ δὲ μὴ ἔχοντος καὶ ὃ ἔχει ἀρθήσεται ἀπ’ αὐτοῦ 931 Eubank, Divine Recompense, 251.

3.2 Goldene Regel und Feindesliebe bei Luz, Kollmann und Ricœur

317

(V. 29). Vorausgesetzt aber ist dabei nicht nur, dass demjenigen, der hat, das Ausgangskapital von seinem Herrn bekommen hat, sondern auch, dass die Knechte für das, was sie von ihrem Herrn erhalten haben, verantwortlich sind. Es zeigt sich überdeutlich: Die Anfangsgabe des Herrn setzt eine Gegengabe der Knechte voraus, die konkret in der Vermehrung der Talente besteht. Diese Gegengabe mündet wiederum in eine Gabe des Herrn, deren Maß die genaue Entsprechung bzw. ein Überschuss ist. Die Ergebnisse der Diskussionen mit Ricœur, Luz und Kollmann und sowie die in diesen Diskussionen profilierte eigene Position lassen sich tabellarisch wie folgt zusammenfassen: Verhältnisbestimmungen von Feindesliebegebot und Goldener Regel Exeget

Verhältnis von Liebe und Goldener Regel

Luz

Radikale Einseitigkeit der Liebe vs. Gegenseitigkeit der Goldenen Regel

Kollmann

„Intendierte Gegenseitigkeit“ vs. ein „formalisiertes Gegenseitigkeitsprinzip“ (Kollmann verschiebt den Gegensatz von Einseitigkeit und Gegenseitigkeit auf zwei verschiedene Formen von Gegenseitigkeit)

Ricœur

Dynamische Spannung von Einseitigkeit und Gegenseitigkeit (Allerdings unterscheidet auch Ricœur zwischen einer Beziehungen instrumentalisierenden und pervertierenden, dem Vergeltungs- und Lohndenken nahestehenden Logik der Äquivalenz und einer der Logik des Überflusses folgenden Gegenseitigkeit. Dadurch entsteht die Unstimmigkeit, dass Äquivalenz zuerst als schlecht abgelehnt wird, um sie dann als positiven und notwendigen Gegenpol zur Liebe wieder einzuführen.)

Eigene Position

Feindesliebe als Durchbrechung negativer Reziprozität mit dem Ziel eines Gegenseitigen Gebens und Nehmens Auf der Grundlage dessen, dass Sozialität durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen gestaltet wird, zielen Goldene Regel und das Feindesliebegebot im Matthäusevangelium auf die Durchbrechung negativer Reziprozität mit dem Ziel der Herstellung positiver Gegenseitigkeit. Der Evangelist gewinnt sein Verständnis der Goldenen Regel also nicht in Abgrenzung zu falsch verstandener Gegenseitigkeit. Er setzt vielmehr voraus, dass die Sozialbeziehungen durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen geprägt sind. Das positive Gegenseitigkeit als solche pro-blematisch sein könnte, deutet der Verfasser des Matthäusevangeliums an keiner Stelle an (auch nicht in Mt 5,46.47). Abzulehnen ist vielmehr eine Beschränkung der positiven Gegenseitigkeit auf die eigene Gruppe. Liebe und Gerechtigkeit, stehen in einem Verhältnis von genauem Maß und Übermaß zueinander. Liebe geht auf der Grundlage der Gerechtigkeit über diese hinaus und bleibt als solche positiv auf sie bezogen.

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3.3

3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Die Goldene Regel zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe

Wir haben bereits mehrfach auf den Selbstbezug hingewiesen, der den Ausgangspunkt eines Verhaltens gemäß der Goldenen Regel darstellt: Die Mitmenschen sollen so behandelt werden, wie man selbst von ihnen behandelt zu werden wünscht, nämlich in Güte. Genau dieser Ausgangspunkt und Maßstab der Goldenen Regel wird dort unterwandert, wo Liebe und Gegenseitigkeit in diametrale Opposition zueinander gesetzt werden (Luz) bzw. die „wahre Gegenseitigkeit“ darin besteht, zu agieren, ohne zurückzuerwarten (Kollmann, Ricœur). So besteht für Luz die Radikalität des Feindesliebegebot darin, dass das eigene „Ich“ aufs Spiel gesetzt wird: „Vielmehr bekommt die Liebe durch die Goldene Regel ein gewisses Rationalitätspotential, weil sie die eigenen Bedürfnisse des Menschen zum Maß des Handelns an anderen macht: Maßlose, mich selbst entlarvende und damit auch zerstörende Liebe ist ja nicht das, was ich für mich will! Offenbar gehört zur Liebe, sogar zur Feindesliebe, auch Klugheit.“932 Deutlich wird hier, dass Luz die von ihm angenommene Opposition der auf Gegenseitigkeit zielenden Golden Regel und der auf Reziprozität verzichtenden Feindesliebe nicht ganz durchzuhalten vermag. Hatte er vorher betont, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel nicht als Gegenseitigkeitsregel versteht und ein der Goldenen Regel konformes Handeln nicht mit der Erwartung einer Erwiderung verbunden sein darf,933 so schreibt er ihr hier aufgrund ihres Ansatzpunktes bei den eigenen Bedürfnissen ein „Rationalitätspotential“ und „Klugheit“ zu und lässt davon sogar die Liebe affiziert sein. Ganz stimmig ist das nicht. Anstatt sich nämlich die Frage zu stellen, ob nicht auch das Liebesgebot die Selbstliebe zum Maßstab ihres Umgangs mit dem Nächsten macht, postuliert Luz einen Gegensatz zwischen Goldener Regel und (Feindes-)Liebe und überträgt das von ihm angenommene Gegenüber auf das Verhältnis der Adressaten zum Mitmenschen: Im Verzicht auf Reziprozität gibt das angesprochene „Ich“ sich selbst preis bzw. sich selbst auf („zerstörende Liebe“), während die Orientierung an den eigenen Bedürfnissen und damit am eigenen „Ich“ offenbar die Gestaltung einer Beziehung nach dem Maßstab der Liebe verhindert. Die eigenen Bedürfnisse und die Aufgabe derselben stehen sich hier unvereinbar gegenüber.934 Diese Interpretation des matthäischen Verständnisses von Nächstenliebe bzw. Feindesliebe als Selbstaufgabe, die in einem Verzicht auf die 932 Luz, Matthäus Bd. 1, 513. 933 Vgl. die Auseinandersetzung mit Luz in Abschnitt 3.2.1. 934 In der mit der Goldenen Regel gegebenen Setzung der eigenen Wünsche zum Maßstab des zwischenmenschlichen Sozialverkehrs sieht Luz eine „Akzentverschiebung“ (Matthäus Bd. 1, 513) gegenüber dem ursprünglichen, ungleich radikaleren Sinn der Feindesliebe: „Aus Jesu exemplarischer, vom Kontrast zwischen Gottesreich und Welt bestimmten radikaler Forderung der Liebe zu den Feinden wird hier die allgemeingültige Forderung initiativer, aktiver Liebe zu jedem Menschen“ (ebd.).

3.3 Die Goldene Regel zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe

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eigenen Bedürfnisse besteht, geriete dann ins Wanken, wenn gezeigt werden kann, dass auch im Nächstenliebegebot der Maßstab der Liebe das eigene „Ich“ ist. Wie aus den in diesem Abschnitt zitierten Äußerungen von Luz deutlich hervorgeht, setzt er voraus, dass die Goldene Regel die eigenen Bedürfnisse zum Maßstab des Umgangs mit dem Mitmenschen macht, auch wenn er dies als Relativierung des (Feindes-)Liebegebots versteht. Damit stellt sich die Frage erneut, warum der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel überhaupt bringt und wie es ihm gelingt, letztendlich zwei unvereinbare Perspektiven: Die eigenen Bedürfnisse (Goldene Regel) bzw. die Selbstaufgabe (Nächstenliebe) sollen Maßstab des Handelns am Nächsten sein, miteinander zu vermitteln. Wie bereits gesagt, vermag die Auskunft, der Verfasser des Matthäusevangeliums habe diesen Widerspruch nicht wahrgenommen,935 nicht zu überzeugen. Von der Goldenen Regel her gedacht, ist es eindeutig so, dass in dem Moment, in dem die eigenen Wünsche negiert würden, die ja nicht in der Selbstzerstörung, sondern in gelingenden Beziehungen bestehen, der Maßstab der Goldenen Regel als solcher hinfällig werden würde: Wenn nämlich der Maßstab der Goldenen Regel die eigenen Wünsche sind, dann kann unter der Voraussetzung einer weitereichenden Übereinstimmung von Goldener Regel und Nächstenliebe die Liebe nicht in der prinzipiellen Aufgabe bzw. Negation dieser Wünsche bestehen. Würden die Wünsche aufgegeben, könnte das angesprochene „Ich“ den Nächsten gar nicht lieben, weil der Maßstab für diese Liebe verloren ginge. Kurzum: Besteht Liebe in der Selbstaufgabe, dann wird nicht nur das eigene „Ich“, sondern zugleich der Nächste eliminiert. Es ist deshalb entscheidend, zu berücksichtigen, dass die Einfühlung in den Mitmenschen zumindest für den Verfasser des Matthäusevangeliums nicht heißt, von diesem her zu überlegen, wie ich ihm gerecht werden könnte, sondern von den eigenen Bedürfnissen her! Der Evangelist setzt damit eine Identität der eigenen und der allgemeinmenschlichen Bedürfe voraus, eine Gleichsetzung die ihre Wurzeln in der Würde der gemeinsamen Geschöpflichkeit aller Menschen haben dürfte.936 Die eigenen Bedürfnisse werden somit gleichsam verobjektiviert. Das Verständnis des Nächsten von den eigenen Wünschen und Bedürfnissen her bringt Behnisch treffend auf den Punkt: „The point in this formula [= the Golden Rule; J.-C. M] is just that the ‘egoistic’ element of practical expectations and wishes is made the criterion of one’s own action towards others apart from the behaviour one has experienced from others. One’s own experience of the needs of a human being is thus being made the criterion for the commitment to others.“937 Wenn aber die eigenen Bedürfnisse und somit das eigene „Ich“ als Maßstab fungieren, muss gefragt werden, ob das Nächsten- und Feindesliebegebot Liebe in der Tat als prinzipielle Aufgabe bzw. Negation der eigenen Bedürfnisse und damit des eigenen „Ich“ verstehen. Auch Peder Borgen macht die eigenen Bedürfnisse und damit das eigene „Ich“ zum Ausgangspunkt seiner Interpretation der Goldenen Regel im Matthäus- und 935 So Luz, Matthäus Bd. 1, 513. 936 Wir werden bei der Besprechung von Betz darauf zurückkommen. 937 Behnisch, The Golden Rule, 84.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

Lukasevangelium. Den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen der Goldenen Regel und dem Feindesliebegebot sieht er darin, dass für beide die Liebe des eigenen Selbst („natural love of self“938) Maßstab des Umgangs mit den Mitmenschen ist. Allerdings besteht der Clou des Nächstenliebegebots für Borgen darin, dass dieser Maßstab nur im Blick auf den anderen, nicht aber im Blick auf die eigene Person von Relevanz ist. Was das jeweilige Gegenüber betrifft, gilt eine Gerechtigkeitspraxis, die sich an dem orientiert, was ich mir selbst von meinem Nächsten wünsche, nur vom anderen wünschen und fordern darf ich es nicht: „In Matthew the meaning of the rule is: Based on natural love of self, where claims are made on others, the disciples act in obedience to the will of God towards others. Instead of claiming from others, the disciples shall give love to others limitlessly.“939 Selbstliebe ist also einerseits die Voraussetzung für das Handeln am Mitmenschen, andererseits aber wird das eigene Ich dadurch überwunden, dass ich diese Liebe nicht in Anspruch nehme, sondern ausschließlich als Anspruch meines Mitmenschen verstehe. An die Stelle der Selbstliebe, die sich in Forderungen/Wünschen gegenüber anderen Bahn bricht, tritt demnach die Liebe der Forderungen des anderen mir gegenüber: „The meaning of the Golden Rule in the gospel of Matthew then must be this: Natural love of self claims from others.“940 Nach Borgen ersetzt also die Liebe dessen, was der andere von mir fordert, die Selbstliebe und damit der Nächste das eigene „Ich“. Dem auch nach Borgen entscheidenden Charakteristikum von Selbstliebe, der Erwartung nämlich, dass sie erwidert wird,941 wird damit ebenso die Grundlage entzogen wie dem eigenen „Ich“. Mit anderen Worten: Liebe, die prinzipiell nicht auf Gegenseitigkeit angelegt ist, ist, wie Luz bemerkt, selbstzerstörerische Liebe. Auf derselben Linie liegt die Äußerung Ricœurs, Selbstliebe (self-interest) pervertiere den Reziprozitätsgedanken der Golden Regel: „What perverts the reciprocity implied in the Golden Rule is its diversion for the sake of self-interest.“942 Genau der 938 Borgen, Golden Rule, 111; vgl. ebd. 108. 939 Borgen, Golden Rule, 111; vgl. ebd. 108. 940 Borgen, Golden Rule, 108. Im unmittelbaren Anschluss daran fährt er fort: „In obedience to the will of God, the disciples do not claim from others, their aim is the limitless giving, or yielding“ (ebd.). Den Selbstbezug der Goldenen Regel eliminiert auch John Nolland mit seiner Aussage, „the Golden Rule makes clear that the radical behaviour called for is not to be undertaken as focussed on the self (e.g., as some kind of ascetic discipline), but as focussed on the other person (of course this is already clear enough for the final antithesis in 5:43–48 and is implicit in other parts of the sermon)“ (Matthew, 330). Diese Interpretation widerspricht ebenso wie die Interpretation Borgens dem Wortlaut der Goldenen Regel, die bei den Bedürfnissen und Wünschen der Adressaten ansetzt. Die als selbstverständlich vorausgesetzte Selbstliebe ist der Ausgangspunkt zwischen Feindesliebe und Goldener Regel. Vgl. dazu weiter unten im Text. 941 Ausdrücklich stellt Borgen fest, dass die Schülerschaft Jesu, die sich an der Goldenen Regel orientiert, „regardless of any reciprocity“ (Golden Rule, 109) handelt bzw. handeln soll. 942 Ricœur, Golden Rule, 395. Ricœur kommentiert mit dieser Aussage Lk 6,32, sieht aber die Verfasser des Lukas- bzw. des Matthäusevangeliums im Blick auf ihr Verständnis der Goldenen Regel mit einer Zunge sprechen. Seiner Ansicht zufolge ersetzt das Motiv der Großzügigkeit das Motiv des Eigeninteresses (vgl. ebd.).

3.3 Die Goldene Regel zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe

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umgekehrte Sachverhalt dürfte für den Verfasser des Matthäusevangeliums zutreffen: Nächsten- und Feindesliebe eignet Selbstbezug!943 Im Unterschied zu den genannten Exegeten macht Betz in seinem Kommentar zur Bergpredigt die Bedürfnisse der Adressaten des Bergpredigers konsequent zum Maßstab des von der Goldenen Regel geforderten Handelns am Gegenüber. Unter der Voraussetzung, dass Sozialverkehr in der Antike wesentlich als ein Geben und Nehmen und somit reziprok strukturiert ist, stellt er unmissverständlich fest, dass die Orientierung an den eigenen Bedürfnissen und Wünschen auch vom Verfasser des Matthäusevangeliums als „normal“ betrachtet wird: „Far from being stigmatized as ‘naive’ or ‘egotistical,’ these desires and expectations are regarded as a normal part of human intercourse, and anything to the contrary one would have to call deviant and unsocial.“944 In geradezu provokanter Weise betont er im direkten Anschluss, dass dieser Ausgangspunkt der Goldenen Regel bei den eigenen Bedürfnissen dem Ziel dient, dass der Nächste „uns“ ebenso behandelt, wie wir „ihn“ behandelt haben: „Then we are to use these desires and anticipations positively to influence fellow human beings and their conduct toward us.“945 Etwas später beschreibt er die Forderung der Goldenen Regel folgendermaßen: „Instead of having the people’s actions determine our reaction, we should take the initiative and act toward them first in accordance with our imagination as to how we wish to be treated by them. The expectation then is that the people thus approached 943 Dieses Verständnis des Feindesliebegebots, dem zufolge das eigene „Ich“ zugunsten des Nächsten aufgegeben werden muss, ist von jüdischer Seite aus zu Recht heftig kritisiert worden. Acḥad Ha-Am hält dieser Auffassung den objektiven Wert menschlichen Lebens vor Gott respektive vor einer objektiven, absoluten Gerechtigkeit entgegen. Die Würde des Menschen ist ihm von außen gegeben, so dass der Mensch weder sein eigenes Leben noch das seiner Mitmenschen aufs Spiel setzen darf. Aus diesem Grund sind nach Auffassung Ha-Ams Egoismus und Altruismus zwei Seiten derselben Medaille, die den objektiven Wert menschlichen Lebens, des eigenen oder das des Mitmenschen, negieren: „The moral law of the Gospels beholds man in his individual shape, with his natural attitude towards himself and others, and asks him to reverse this attitude, to substitute the ‘ other’ for the ‘ self’ in his individual life, to abandon plain egoism for inverted egoism. For in truth the altruism of the Gospels is neither more nor less than inverted egoism. Altruism and egoism alike deny the individual as such all objective moral value, and make him merely a means to a subjective end ; but egoism makes the ‘ other’ a means to the advantage of the ‘ self,’ while altruism does just the reverse. Now Judaism removed this subjective attitude from the moral law, and based it on an abstract, objective foundation, on absolute justice, which regards the individual as such as having a moral value, and makes no distinction between the ‘ self’ and the ‘ other.’ … Just as I have no right to ruin another man’s life for the sake of my own, so I have no right to ruin my own life for the sake of another’s. Both of us are men, and both our lives have the same value before the throne of justice“ (Judaism, 235–236). Wir halten diese Ausführungen Acḥad Ha-Ams für sehr bedenkenswert, auch wenn wir seine Einschätzung, das Feindesliebegebot der Evangelien setze das eigene Leben aufs Spiel, gerade nicht teilen. Zumindest für den Verfasser des Matthäusevangeliums gilt, dass die „größere“ Gerechtigkeit der Feindesliebe die Selbstliebe nicht unterminiert. 944 Betz, Sermon, 517. 945 Betz, Sermon, 517.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

treat us in the same manner, so that we can anticipate what their actions toward us will be. The general presupposition here is that all people want to be treated fairly and beneficially, and that all people will respond with kindness and fairness if they are approached in that way.“946 Auch wenn diese überspitzten Äußerungen der Relativierung bedürfen, weil sie das Risiko marginalisieren, dass derjenige eingeht, der sein Gegenüber unabhängig von dessen erwartbaren Verhalten so behandelt, wie er selbst von seinem Mitmenschen behandelt werden möchte, sieht Betz doch zu Recht die eigenen Wünsche und Erwartungen (und damit auch die Motivation) zu einem Handeln, dem die Goldene Regel als Maßstab zu Grunde liegt, als eine Einheit. Die eigenen Wünsche und die Erwartungen, die mit dem eigenen Tun verbunden sind, lassen sich nicht auseinanderreißen. Insofern bietet Betz, ohne sich explizit mit anderen Interpretationen auseinanderzusetzen, eine erfrischende Alternative zu den vielfältigen Versuchen, Wunsch und Erwartung respektive Motivation voneinander zu trennen, um damit einem Verständnis des Liebesgebots gerecht zu werden, dass die Aufgabe und den Verzicht ebendieser Wünsche und Bedürfnisse fordert. Allerdings belässt es Betz nicht bei diesen utilitaristisch anmutenden Äußerungen. Vielmehr verweist er darauf, dass die eigenen Bedürfnisse für den Verfasser des Matthäusevangeliums ihren Maßstab in dem in Tora und Propheten offenbarten Willen Gottes und der von Tora und Propheten bezeugten gütigen Initiativhandeln Gottes habe, das es zu imitieren gelte.947 Wir halten die Ausführungen von Betz für weiterführend. Allerdings benennt Betz einen wesentlichen Aspekt nicht: So dürfte für den Verfasser des Matthäusevangeliums „normales soziales Verhalten“ oder der Wunsch, „fair und wohlwollend“ behandelt zu werden, letztendlich in der den Adressaten Jesu mit ihren Mitmenschen gemeinsamen Geschöpflichkeit gründen. Die eigenen Wünsche und Bedürfnisse können dann deshalb zum Maßstab eines Handelns gemäß der Goldenen Regel gemacht werden, weil sie an diese (quasi objektive) Gemeinsamkeit appelliert: „Der Mitmensch ist wie Du“, Geschöpf Gottes, mit denselben Wünschen und Bedürfnissen. Dass an die gemeinsame Geschöpflichkeit appelliert wird, ergibt sich daraus, dass das Liebeshandeln Gottes sich sowohl im unmittelbaren Kontext der Goldenen Regel (7,7–11) als auch im Feindesliebegebot (5,43–48) in seinem erhaltenden Handeln konkretisiert: So wird das Verhalten des Vaters im Himmel mit dem der irdischen Väter parallelisiert, die ihren Kindern mit Brot und Fisch als guten Gaben (δόματα ἀγαθά) das zum Leben Notwendige gewähren (7,11). Und im sechsten Kommentarwort spricht Jesus davon, dass Gott die Sonne über Böse und Gute aufgehen und Regen über sie niedergehen lässt, um ihnen auf diese Weise Fruchtbarkeit und Leben zu schenken (5,45). Diesem seine Geschöpfe erhaltenden Handeln Gottes korrespondiert mit dem Feindesliebegebot und der Goldenen Regel ein soziales Verhalten der Menschen, was gleichsam darauf verweist, dass Sozialität ein wesentliches Merkmal von Geschöpflichkeit ist: Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Wenn das Feindesliebegebot dazu aufruft, Böses nicht mit Bösem 946 Betz, Sermon, 517. 947 Vgl. Betz, Sermon, 518.

3.3 Die Goldene Regel zwischen Selbstbezug und Selbstaufgabe

323

zu vergelten, sondern die Feinde zu lieben, und wenn die Goldene Regel fordert, den Mitmenschen unabhängig von dessen Verhalten so zu behandeln, wie man es sich von ihm wünscht, dann wird Geschöpflichkeit gerade nicht verleugnet, sondern an ihr festgehalten: Der Mensch, der Bösem mit Güte begegnet, bleibt seinem Wesen als zur Beziehung geschaffenem Geschöpf Gottes treu. Kurz: Derjenige, der Feindesliebe übt oder entsprechend der Goldenen Regel agiert, verleugnet sich gerade nicht selbst, sondern entspricht der Intention des Schöpfers. Er gibt sich nicht auf, sondern hält an seiner Geschöpflichkeit und der seines ihm feindlich gesinnten Mitmenschen fest. Das hier vorgeschlagene Verständnis der Goldenen Regel und der Feindesliebe im Kontext des erhaltenden Handeln Gottes geht mit einer Interpretation des Liebegebots einher, dem zufolge das „wie Dich selbst“ im Sinne eines „er (dein Mitmensch) ist wie Du“ verstanden wird,948 wobei beide Verständnismöglichkeiten miteinander verknüpft sind.949 Unter der Voraussetzung der selbstverständlichen Selbstliebe fordert das Liebegebot, im Nächsten ein Gegenüber zu erkennen, dass der gleichen Liebe würdig ist, mit der man sich selbst begegnet. Die positiv formulierte Goldene Regel fügt sich hier zwang- und nahtlos ein: Weil das Gegenüber als Geschöpf Gottes die gleichen Wünsche und Bedürfnisse hat, wie die Adressaten, sollen sie auch als solche behandelt werden. Wenn das Feindesliebegebot die Liebe vom Nächsten auch auf die Feinde ausweitet, dann besteht die Radikalität dieser Forderung darin, den Feind weiterhin als Geschöpf Gottes zu betrachten und zu behandeln: In Liebe – wie Gott – über das Maß der Gerechtigkeit (5,20) hinaus. Ebenso wenig wie die über das genaue Maß hinausgehende Gerechtigkeit die Gerechtigkeit unterminiert, unterminiert die Feindesliebe die Selbstliebe. Es ist also zu unterscheiden zwischen einem Handeln gemäß der Goldenen Regel respektive der Feindesliebe und den möglichen Folgen: Dass der Feind Gutes 948 Der hebräische Text von Lev 19,18 ist hier nicht ganz eindeutig: So kann das ‫ כָּמוֹ‬entweder das Lieben modifizieren („Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“) oder den Nächsten qualifizieren („er ist wie Du“). Andreas Schüle, der die Wiedergabe mit „Denn er ist wie Du“ für näherliegt hält (vgl. Schüle, „Wer ist mein Nächster?“, 58–59), hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Wiedergabe, mit der die allen Menschen gemeinsame Identität als Geschöpfe ins Blickfeld tritt, so etwas wie einen objektiven Maßstab der Nächstenliebe bietet: Das Liebesgebot des Heiligkeitsgesetzes sei Beispiel „eines biblischen Humanismus, der sich auf die Einsicht gründet, dass die Erfahrung von Geschöpflichkeit, von Not und Rettung, von Angst und Befreiung Grundlage menschlicher Solidarität, wechselseitiger Zuwendung, ja sogar Liebe ist“ (ebd., 60). Die Wiedergabe des ‫ כָּמוֹ‬mit „Denn er ist wie Du“ macht also deutlich, dass der Maßstab der Nächstenliebe in und außerhalb des Menschen liegt, in den vom Schöpfer „geschaffenen“ geschöpflichen Bedürfnissen. Dieser Maßstab darf weder im Blick auf den Mitmenschen noch auf die eigene Person unterwandert werden. Vgl. hierzu auch den Rekurs auf Acḥad Ha-Am in Anm. 943. 949 Im Matthäusevangelium gehen beide Verständnismöglichkeiten des ‫ כָּמוֹ‬Hand in Hand. Wie wir oben im Text gesehen haben, legen der Kontext der Goldenen Regel und des Feindesliebegebots ein Verständnis im Sinne des „Denn er ist wie Du“ nahe, während in formaler Hinsicht die Zitate von Lev 19,18 in 19,19 und 22,39 das ‫ כָּמוֹ‬wie die Septuaginta mit ὡς σεαυτόν wiedergeben.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

mit Bösem vergilt und die Feindschaft von seiner Seite her fortschreibt, stellt ja nicht das Bedürfnis nach gelingender Gemeinschaft auf Seiten desjenigen in Frage, der Feindesliebe übt. Auf das Bedürfnis, der Mitmensch möge positiv reagieren, wird gerade nicht verzichtet, das wäre in der Tat eine die Selbstliebe unterminierende Selbstaufgabe. Zwischen der Negation der eigenen Bedürfnisse und dem Verzicht darauf, das eigene Verhalten von dem des Mitmenschen abhängig zu machen, ist deshalb ebenso streng zu unterscheiden wie zwischen dem Risiko, das mit der Feindesliebe bzw. einem Verhalten gemäß der Goldenen Regel verbunden ist, und prinzipieller Selbstlosigkeit. Diese Unterscheidung schmälert nichts an dem Umstand, dass Feindesliebe „kostet“. Unsere Ausführungen implizieren, dass Selbstbezug positiv gesehen wird. Es wäre also, von der Goldenen Regel herkommend, zu überlegen, ob dieser Selbstbezug eben nicht auch auf das Liebes- und das Feindesliebegebot zu übertragen ist. Zwar fehlt das „wie dich selbst“ im Zitat von Lev 19,18 in 5,43, aber dieses Fehlen dürfte angesichts des vollständigen Zitats („Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“) in 19,19 („Reicher Jüngling“) und 22,39 („Doppelgebot der Liebe“) eher der Rhetorik, d. h. konkret dem direkten Gegenüber von Lieben und Hassen geschuldet sein als der Überzeugung, Nächstenliebe oder Feindesliebe habe ohne Selbstbezug zu erfolgen: Du sollst deinen Feind lieben wie dich selbst heißt dann: Du sollst ihn wie Dich selbst als Geschöpf Gottes achten, ungeachtet dessen, dass er sich Dir gegenüber feindlich verhält. Von der Goldenen Regel her wird so der Gegenseitigkeitsbezug auch des Feindesliebegebots deutlich: Sie zielt, wie unrealistisch das im konkreten Fall auch immer sein mag, auf gelingende Beziehung.

3.4

Zusammenfassende Thesen: Zum Verhältnis der Barmherzigkeit zu den anderen theologischen Leitbegriffen

In diesem Abschnitt sollen in einem ersten Schritt die Ergebnisse der Verhältnisbestimmungen der Goldenen Regel (7,12) zur „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), zur Feindesliebe (5,43–48) und zur Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) zusammengefasst werden, bevor in einem zweiten Schritt das Verhältnis der Barmherzigkeit zu diesen theologischen Leittermini untersucht wird. Beides soll in Thesenform geschehen. Ausgangspunkt des zweiten Schrittes ist die begründete Annahme, dass die Bitte um Schuldenerlass (6,12) bzw. Vergebung (6,14–15) als Bitte um Barmherzigkeit zu verstehen ist.950 950 In den Kommentaren und Untersuchungen zur Vergebungsbitte (6,12) und ihren Erläuterungen (6,14–15) wird in der Regel ihr Verhältnis zur Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) erörtert, wobei in den allermeisten Fällen davon ausgegangen wird, dass sich beide komplementär ergänzen.

3.4 Zusammenfassende Thesen

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3.4.1 Goldene Regel (7,12), „größere“ Gerechtigkeit (5,20), Feindesliebe (5,43–48) und die Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12): Grundlegende Gemeinsamkeiten und spezifische Konturierungen 1. Wie die Wendung „Tora und Propheten“ deutlich macht, rahmt die Goldene Regel (7,12) den mit Mt 5,17 beginnenden Hauptteil der Bergpredigt (5,17–7,12). Der matthäische Jesus sagt dort, er sei nicht gekommen, Tora und Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen (5,17). Gleichsam erfüllen die Adressaten Jesu Tora und Propheten, wenn sie ihre Mitmenschen in allem so behandeln, wie sie es sich von ihrem jeweiligen Gegenüber wünschen (7,12). 1.1 Im Zentrum des Hauptteils der Bergpredigt (5,17–7,12) steht das Vaterunser (Mt 6,9–13).951 Besonderes Gewicht liegt hier auf der Vergebungsbitte (6,12), die als einzige im direkten Anschluss aufgegriffen und erläutert wird (6,14–15). Somit steht die Vergebungsbitte im Zentrum des Zentrums.952 Sowohl die Vergebungsbitte als auch ihre Erläuterungen verschränken das zwischenmenschliche und das göttliche Vergebungshandeln miteinander und setzen sie in ein reziprokes Entsprechungsverhältnis zueinander. Zwischenmenschliche Beziehungen und die Beziehung zwischen Gott und Mensch zeichnen sich nach Auffassung des Evangelisten wesentlich durch eine Gegenseitigkeit aus, die über das Recht hinausgeht und durch die freiwillige Gewährung von „Gaben“ strukturiert ist. 1.2 Die Goldene Regel (7,12) rahmt nicht nur den Hauptteil der Bergpredigt (5,17– 7,12), sondern steht in einem engen Zusammenhang mit den unmittelbar vorangehenden Versen, die von der Gebetserhörung handeln (7,7–11). Vor dem Hintergrund der in der Antike gängigen Konzeptualisierung von Beziehungshandeln als Gabehandeln wird deutlich, dass ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel die Gegengabe auf Gottes Gewährung von erbetenen „guten Gaben“ darstellt: Sowie Gott seinen bittenden „bösen“ Kindern gute Gaben (δόματα ἀγαθά) gibt, sollen seine Kinder unabhängig vom Verhalten ihrer Mitmenschen diesen mit Güte begegnen. 1.3 Das bisher zur reziproken Konzeptualisierung des Gott-Mensch-Verhältnisses und zur Verschränkung dieser Beziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl. auch 5,23–24; 18,23–35; 22,34–40) Gesagte, macht es unwahrscheinlich, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums die Goldene Regel nicht als Gegenseitigkeitsregel versteht bzw. sie von einem „formalen“ Gegenseitigkeitsprinzip, Entsprechungs- und Vergeltungsdenken unterscheidet und abgrenzt (so mit unterschiedlichen Akzentuierungen Luz, Kollmann, Ricœur). Wir dürfen vielmehr

951 Vgl. Luz, Matthäus Bd. 1, 254–255. 952 Hier bildet sie einen Gegenpol zu den Forderungen der Kommentarworte Jesu.

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

voraussetzen, dass er in impliziter Übereinstimmung mit den mediterranen Kulturen der antiken Mittelmeerwelt zwischen Gabehandeln und Warentausch differenziert, wobei beide sich darin unterscheiden, dass das Gabehandeln von der Spannung zwischen der Freiwilligkeit der Gewährung einer Gabe und der Notwendigkeit ihrer freiwilligen Erwiderung geprägt ist. Dieser Freiwilligkeitsaspekt ist dem Warentausch nicht inhärent. Kleinster gemeinsamer Nenner zwischen Gabehandeln und Warentausch, sozialen und ökonomischen Beziehungen, ist ihr Gegenseitigkeitscharakter. 1.4 Die unbefangene Verwendung ökonomischer Terminologie zur Beschreibung der Gott-Mensch-Beziehung lässt darauf schließen, dass der Evangelist ökonomische Beziehungen weder als Negativfolie für sozialen Beziehungen sieht, noch, dass er Sozialbeziehungen vor ihrer Ökonomisierung schützen muss. Die Gefahr einer Instrumentalisierung von Sozialbeziehungen, vor der viele Exegeten meinen den Evangelisten aufgrund seiner Verwendung ökonomischer Metaphorik in Schutz nehmen zu müssen, besteht für den Verfasser des Matthäusevangeliums nicht. 2. Die Goldene Regel macht die eigenen Wünsche und Bedürfnisse der Adressaten zum Maßstab ihres Verhaltens gegenüber ihren Mitmenschen. Es handelt sich dabei deshalb nicht um „die Moral eines naiven Egoismus“953, weil die Adressaten als Kinder ihres himmlischen Vaters angesprochen sind, der ihnen als seinen Geschöpfen das zum Leben Notwendige gewährt (7,11; vgl. 5,45). Die eigenen Bedürfnisse werden nicht auf den Mitmenschen projiziert, sondern die Mitmenschen als Mitgeschöpfe angesprochen. Analog zu einem möglichen, von den Rabbinen aktivierten Verständnis des Nächstenliebegebots (Lev 19,18; Mt 5,43; vgl. z. B. BerR 24,7) wird hier an die Einsicht appelliert: Der Mitmensch/der Nächste ist wie Du.954 2.1 Der Selbstbezug der Goldenen Regel und des Nächstenliebegebots wird durch das Feindesliebegebot nicht konterkariert. Vielmehr operieren beide auf Grundlage der Selbstliebe im Sinne der Anerkennung und Wertschätzung der eigenen geschöpflichen Bedürfnisse. Diese werden auf den Mitmenschen, auch den feindlich gesinnten, ausgeweitet. Dass auch der Feind als Geschöpf mit denselben basalen Grundbedürfnissen wahrgenommen werden soll, kann deshalb nicht mit Selbstlosigkeit im Sinne einer Negation der eigenen Bedürfnisse oder gar des eigenen Lebens gleichgesetzt werden. Feindesliebe bzw. ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel sind risikoreich und „kosten“, sie setzen aber die eigene Geschöpf-

953 Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 107. 954 Dem widerspricht nicht, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums das ‫ כָּמוֹ‬aus Lev 19,18 wie die Septuaginta mit ὡς σεαυτόν wiedergibt. Beide Verständnismöglichkeiten des ‫כָּמוֹ‬ ergänzen sich komplementär.

3.4 Zusammenfassende Thesen

327

lichkeit gerade nicht aufs Spiel, sondern halten sie durch. Die Definition der Feindesliebe als die eigene Geschöpflichkeit unterminierende Selbstlosigkeit würde nach Auffassung des Evangelisten, den Schöpfer entehren. 2.2 Dass der Mitmensch unabhängig von dessen vorgängigen oder reaktivem Verhalten so behandelt werden soll, wie man es sich von ihm wünscht, stellt den Wunsch nach Gegenseitigkeit nicht in Frage: Die Goldene Regel zielt auf positive Reziprozität. Es ist zutiefst unplausibel, dass die eigenen Bedürfnisse (im genannten Sinne) zum Maßstab eines Handelns gemäß der Goldenen Regel gemacht werden sollen, gleichzeitig aber dieses Handeln nicht motivieren dürfen (so z. B. Konradt und Kollmann). Der Verfasser des Matthäusevangeliums gewinnt sein Verständnis der Goldenen Regel nicht in Abgrenzung zu einer Beziehungen instrumentalisierenden Konzeptualisierung von Sozialität. Problematisch ist allein die Vergeltung von Bösem mit Bösem. 2.3 Die Goldene Regel (7,12) intendiert wie das Feindesliebegebot (5,43–48) die Durchbrechung negativer Reziprozität (vgl. 5,38–42). Dass Bösen Gutes entgegengebracht werden soll, zielt auf die Wiederaufnahme von Beziehungen. Soweit es an den Schülerinnen und Schülern Jesu liegt, sollen diese alles dafür tun, dass Feindschaft wieder (oder erstmals) zur gelingenden Kommunikation und Beziehung wird, die durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen bestimmt ist (7,7– 11). 2.4 Während das Feindesliebegebot auf zwischenmenschlicher Ebene die Durchbrechung negativer Reziprozität fordert, wird ihr auf der Ebene der Gott-MenschBeziehung „Lohn“ vom himmlischen Vater verheißen (5,46). Das über das genaue Maß hinausgehende (5,47) Handeln geschieht nicht „umsonst“. Während auf zwischenmenschlicher Ebene auf Äquivalenz verzichtet wird, kommt es auf der Ebene der Gott-Mensch-Beziehung zu einem Ausgleich. Überspitzt formuliert: Gott vergilt (vgl. 6,4.6.18) und kompensiert. Das entspricht dem Verständnis von ‫חֶ סֶ ד‬, dem zufolge nicht erwiderter zwischenmenschlicher ‫ חֶ סֶ ד‬von Gott erwidert wird.955 2.5 Die Einseitigkeit des Feindesliebegebots (5,43–48) und die Gegenseitigkeit der Goldenen Regel (7,12) ergänzen sich komplementär: Der einseitige Verzicht auf die Vergeltung von Bösem mit Bösem zielt auf gelingende Beziehungen, deren hervorragendstes Merkmal Gegenseitigkeit ist. Die Goldene Regel kann also nicht einseitig vom Liebesgebot her interpretiert und ihres Gegenseitigkeitscharakters entledigt werden (so vor allem Ulrich Luz). Die unauflösbare dynamische Spannung zwischen Feindesliebe und Goldener Regel ist konstitutiv für das matthäische Verständnis von Beziehung.

955 Vgl. S. 104 und den Exkurs „‫חֶ סֶ ד‬/ἔλεος in Jos 2,12 und Ruth 1,8; 2,20; 3,10“ (ab S. 106).

328

3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

2.6 Das Feindesliebegebot lässt sich angemessen nur im Rahmen des Reziprozitätsund Vergeltungsdenkens verstehen. 2.7 Im Verzicht auf die Vergeltung von Bösem mit Bösem geht die Goldene Regel (7,12) über die Gerechtigkeit, deren Maßstab die Äquivalenz ist, hinaus. Sie setzt dabei die bleibende Gültigkeit dieses Gerechtigkeitsmaßstabs voraus, die allererst die Durchbrechung negativer Reziprozität als Verzicht auf Vergeltung sichtbar macht. Indem ein Verhalten gemäß der Goldenen Regel und der Feindesliebe auf Vergeltung von Bösem mit Bösem verzichtet, entspricht sie der Forderung nach einer „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), die über den Maßstab der Äquivalenz hinausgehen soll und an Gottes Handeln bzw. Vollkommenheit (5,48) selbst Maß nimmt. 2.8 Die Kommentarworte Jesu (5,21–48) gleichen sich als Konkretionen der „grösseren“ Gerechtigkeit (5,20) darin, dass sie in ihren Forderungen über das hinausgehen, was von Rechts wegen gefordert werden kann. Sie sind vor irdischen Gerichten nicht justitiabel, wohl aber vor Gott. Das „Über-Hinaus“ bzw. „Mehr als“ der „größeren“ Gerechtigkeit (5,20) setzt die halachisch-justitiable Ebene der Torainterpretation und ihre Gültigkeit weiterhin voraus. Als solche ist sie haggadischer Natur und hat eine enge Parallele in einer rabbinischen Auslegungsmethodik, die in der rabbinischen Literatur le-fenim mi-shurat ha-din („jenseits der Linie des Gerichts) genannt wird. Die Differenz zu der (vom Evangelisten polemisch verzerrten Darstellung der) Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten ist in erster Linie eine quantitative, die als solche und nur als solche qualitativ verstanden werden kann. Anders formuliert: Der qualitative Unterschied besteht im „Über-Hinaus“. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Goldene Regel (7,12), die „größere“ Gerechtigkeit (5,20), die Feindesliebe (5,43–48) und die Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) ihren kleinsten gemeinsamen Nenner darin besitzen, dass sie durch Gegenseitigkeit geprägte Beziehungen fördern und neu bzw. allererst ermöglichen wollen. Sie zielen auf positive Gegenseitigkeit, die über ökonomische Reziprozität durch den Aspekt der Freiwilligkeit der Gewährung einer Gabe und der Notwendigkeit ihrer ebenfalls freiwilligen Erwiderung hinausgeht. Das Gesagte gilt auch im Falle der Feindesliebe: Ihre Einseitigkeit stellt keinen Wert an sich dar, sie dient vielmehr der κοινωνία.

3.4 Zusammenfassende Thesen

329

3.4.2 Thesen zum Verhältnis der Barmherzigkeit zu den anderen theologischen Leitbegriffen Bei den folgenden Thesen greifen wir auf die Ergebnisse der Untersuchung des Begriffs ἔλεος bzw. seines hebräischen Äquivalents ‫ חֶ סֶ ד‬im ersten und zweiten Kapitel dieser Arbeit zurück. 1. Den Ausgangspunkt der Verhältnisbestimmung der Barmherzigkeit zu den anderen theologischen Leitbegriffen stellt die Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) inklusive ihrer Erläuterungen im unmittelbaren Anschluss an das Gebet dar (6,14–15). Die Bitte um Schuldenerlass bzw. Vergebung dürfte dabei, wie auch die Parabel vom unbarmherzigen Knecht zeigt (Mt 18,23–35), als Bitte um über das Recht hinausgehende Barmherzigkeit verstanden sein. 2. Die Vergebungsbitte des Vaterunsers (6,12) und die Parabel vom unbarmherzigen Knecht (18,23–35) ergänzen sich komplementär: Wir dürfen voraussetzen, dass es sich beim Schuldenerlass gegenüber dem Schuldner, den der Beter Gott in Erinnerung ruft, bereits um eine Entsprechung zum vorausgegangenen göttlichen Vergebungshandeln handelt, die zur Bedingung erneuter göttlicher Vergebung wird. Über den Begriff Barmherzigkeit sind die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Gottesbeziehung miteinander verschränkt. 3. Auch die Vergebungsbitte (6,12) und ihre Erläuterungen (6,14–15) partizipieren am Gegenseitigkeitscharakter der Barmherzigkeit, die durch die Spannung der Freiwilligkeit der Gewährung einer Gabe und der Notwendigkeit ihrer freiwilligen Erwiderung geprägt ist. Dieser Aspekt der Freiwilligkeit verhindert jeglichen Automatismus. 4. Barmherzigkeit und die „größere“ Gerechtigkeit (5,20) haben gemein, dass sie über das hinaus gehen, was von Rechts wegen gefordert werden kann. Ebenso wie die Barmherzigkeit sind die Forderungen der Kommentarworte (5,21–48) nur vor Gott, nicht aber vor weltlichen Gerichten justitiabel. Barmherzigkeit und „grössere“ Gerechtigkeit teilen damit die Struktur des „Über-hinaus“. Sie unterscheiden sich darin, dass der Evangelist das hermeneutische Programm der Toraauslegung Jesu mit dem Begriff „größere“ Gerechtigkeit auf den Punkt bringt, während er mit dem Begriff Barmherzigkeit konkrete Liebeserweise, Taten der Barmherzigkeit wie die Vergebung (6,12; 9,9–13; 18,23–35; 26,28), die Speisung Hungernder (25,35; vgl. 12,1–8) oder die Almosengabe (6,1–4) im Blick hat. 5. Barmherzigkeit hat auch mit der Feindesliebe (5,43–48) als hervorragendster Konkretion der „größeren“ Gerechtigkeit (5,20) gemein, dass sie nicht justitiabel ist und am Handeln Gottes selbst Maß nimmt (imitatio Dei): Feindesliebe ist ebenso

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3. Barmherzigkeit, Feindesliebe und andere theologische Leitvorstellungen

wenig rechtlich einklagbar wie Barmherzigkeit. Barmherzigkeit und Feindesliebe unterscheiden sich hingegen im Blick auf die Adressaten: Während die Vergebungsbitte vermutlich auf die innergemeindlichen Beziehungen zielt und so im Rahmen bestehender Sozialbeziehungen einen Neuanfang ermöglichen möchte, zielt die Feindesliebe auf die Aufnahme von Beziehungen mit Menschen, die nicht zur eigenen Gemeinschaft gehören.956 6. Barmherzigkeit kann als Konkretion der Nächstenliebe gefasst werden. 7. Barmherzigkeit hat mit der Goldenen Regel gemein, dass sie dem Mitmenschen mit freiwillig gewährter Güte begegnet und dabei die eigene geschöpfliche Bedürftigkeit, die sie auch im Gegenüber sieht, zum Maßstab des Handelns macht. Zur Bedürftigkeit des Menschen zählen dabei nicht nur die basalen Grundbedürfnisse wie z. B. die Versorgung mit dem zum Leben Notwendigen (vgl. Mt 12,1–8; 25,31– 46), sondern auch die Vergebung bzw. die Durchbrechung negativer Reziprozität, die Gemeinschaft wiederherstellen und ermöglichen soll. Der Mensch wird hier als Beziehungswesen wahrgenommen, der Gemeinschaft immer wieder verfehlt und immer wieder auf barmherzig gewährte Neuanfänge angewiesen ist. In diesem Sinne handelt es sich bei der Barmherzigkeit um einen Beziehungsbegriff ersten Ranges. 8. Barmherzigkeit unterscheidet sich von den anderen theologischen Leitbegriffen vor allem dadurch, dass die Verschränkung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit der Gottesbeziehung des Menschen über den griechischen Begriff ἔλεος bzw. sein hebräisches Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬läuft. Verschränkung meint dabei nicht nur, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen für die Gottesbeziehung transparent sind, sondern dass im Nächsten Gott selbst begegnet. Eine solche Deutung des Terminus ἔλεος ergibt sich insbesondere aus der komparativisch zu verstehenden Aussage Gottes, er wolle Barmherzigkeit und keine Opfer (Hos 6,6). Wie im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit gezeigt werden konnte, geht Barmherzigkeit über Opfer auf der Grundlage hinaus, dass sie sich zu den Opfern funktionsäquivalent verhält: Wie bei den Opfern geht es bei der Barmherzigkeit in erster Linie um die Gottesbeziehung, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen gelebt wird. So verstanden liegt in diesem Verständnis von Hos 6,6 im Matthäusevangelium auch der hermeneutische Schlüssel zur Verhältnisbestimmung von Nächstenliebe und Gottesliebe (Mt 22,34–40): Ohne dass die Gottesliebe ihren Rang als erstes und wichtigstes Gebot verliert, kann die Nächstenliebe ihr gleichgestellt werden, weil im Nächsten Gott selbst geliebt wird.

956 Konkret dürfte im Matthäusevangelium an Jüdinnen und Juden gedacht sein, die die an Jesus als Messias glaubende Gemeinde (vielleicht sogar als Häretiker) ausschloss und „verfolgte“ (5,44; vgl. 5,10–12).

Auswertung und Ausblick An dieser Stelle gilt es nun, die wichtigsten Ergebnisse der Exegesen der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) und der drei ἔλεος-Stellen (Mt 9,13; 12,7; 23,23) sowie die Überlegungen zur Verhältnisbestimmung des Terminus ἔλεος zu anderen theologischen Leittermini bzw. – konzepten wie der „größeren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20), der Goldenen Regel (7,12) und der Nächsten- und Feindesliebe (Mt 5,43–48; 22,34–40) zu bündeln und theologisch auszuwerten. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war die im ersten Kapitel vorgenommene Exegese der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35), in der das Verb ἐλεέω an entscheidender Stelle zweifach Verwendung findet: So läuft die Parabel auf die Scheltrede des Königs in den V. 32f. zu, in der dieser seinem Knecht vorhält, er hätte dem ihm gewährten Schuldenerlass seinerseits in der Beziehung zu seinem Mitknecht entsprechen sollen, ja müssen: δοῦλε πονηρέ, πᾶσαν τὴν ὀφειλὴν ἐκείνην ἀφῆκά σοι, ἐπεὶ παρεκάλεσάς με·33οὐκ ἔδει καὶ σὲ ἐλεῆσαι τὸν σύνδουλόν σου, ὡς κἀγὼ σὲ ἠλέησα? Die Schwierigkeit der Wiedergabe des ἔδει (sollen oder müssen?) liegt im semantischen Gehalt des Terminus ἔλεος begründet, dessen Analyse einen Großteil des ersten Kapitels dieser Arbeit ausgemacht hat: Wie wir darin zeigen konnten, ist ἔλεος wie sein hebräisches Ursprungswort ‫ חֶ סֶ ד‬durch die Spannung von Freiwilligkeit und Normativität geprägt. So ist die Gewährung des Schuldenerlasses seitens des Königs ein freiwilliger Akt, der über das Recht hinausgeht,957 gleichzeitig aber verpflichtet: Der Knecht hätte sich seinem Mitknecht gegenüber aus freien Stücken als barmherzig erweisen sollen/müssen. Eine Berücksichtigung des Aspekts der Freiwilligkeit spräche eher für eine Wiedergabe des ἔδει mit „sollen“, da hier die Verantwortung, damit aber auch die Entscheidungsfreiheit anklingt.958 Soll hingegen die normative Dimension der Barmherzigkeit stärker betont werden, spräche dies eher für eine Übersetzung mit „müssen“. Als hermeneutischer Schlüssel für ein angemessenes Verständnis des ἔδει und damit auch der Parabel als ganzer erwies sich die Beantwortung von zwei Fragen: 1.

Wie verhält sich der verpflichtende Charakter der über das Recht hinausgehenden Barmherzigkeit zur Dimension der Freiwilligkeit?

957 Während der Knecht „nur“ um Zeitaufschub bittet (V. 26) und damit im Rahmen des Rechts verbleibt (Schulden müssen zurückgezahlt werden), erlässt der Herr ihm die Schulden ganz und geht damit über das Recht hinaus. 958 Allerdings ist diese Entscheidungsfreiheit mit dem Freiwilligkeitsaspekt nur bedingt deckungsgleich.

332 2.

Auswertung und Ausblick Was unterscheidet die Notwendigkeit, Barmherzigkeit zu erwidern – Eta Linnemann spricht im Blick auf diese Notwendigkeit vom „tiefen Ernst eines heiligen Gesetzes“959, von der Normativität des Rechts?

Im Blick auf die erste Frage konnte gezeigt werden,960 dass die Dimensionen der Freiwilligkeit und der Verpflichtung intrinsisch miteinander verknüpft sind. Dabei ist in sachlicher Hinsicht beides gleichursprünglich: Die Gewährung der Barmherzigkeit zielt ungeachtet ihrer zeitlichen Priorität von vornherein auf ihre Erwiderung und damit auf Beziehung gestaltende Gegenseitigkeit.961 Die Spannung zwischen freiwilliger Zuwendung und der Notwendigkeit ihrer Erwiderung ist also für den Terminus ἔλεος konstitutiv: So konterkariert die Freiwilligkeit des Barmherzigkeitserweises die Notwendigkeit seiner Erwiderung ebenso wenig wie die Notwendigkeit, Barmherzigkeit zu erwidern, die Freiwilligkeit des Barmherzigkeitserweises aufhebt. Letzteres zeigt sich vor allem daran, dass der König in der dritten Szene der Parabel in V. 34 die Barmherzigkeitsforderung nicht durchsetzt: Er exekutiert sein Recht auf die Rückzahlung der Schulden, indem er seinen Knecht ins Gefängnis wirft und den Folterern übergibt, „bis er die ganze Schuld zurückgezahlt habe“ (ἕως οὗ ἀποδῷ πᾶν τὸ ὀφειλόμενον).962 Was er hingegen nicht tut, ist, seinen Knecht dazu zu zwingen, dem Mitknecht die Schulden zu erlassen. Offenbar kann Barmherzigkeit nur aus freien Stücken gewährt, nicht aber erzwungen oder durchgesetzt werden.963 Gleichzeitig zeitigt die verweigerte Erwiderung der Barmherzigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen Konsequenzen für die Gottesbeziehung: Der König fordert das Darlehen (δάνειον), dessen Rückzahlung er dem Knecht zuvor erlassen hatte, nun erneut ein. Verweigerte Barmherzigkeit führt zur Anwendung und Durchsetzung des Rechts. Es ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Parabel, diese Differenz zwischen der Bestrafung des Knechts durch die Anwendung des Rechts und der nicht vorhandenen Möglichkeit, Barmherzigkeit zu erzwingen und durchzusetzen, zu berücksichtigen. Damit aber sind wir schon mitten bei der Beantwortung der zweiten Frage, wie sich der verpflichtende Charakter der Barmherzigkeit zur Normativität des Rechts verhält. 959 Linnemann, Gleichnisse Jesu, 116. 960 Vgl. vor allem die Punkte 1.1.1.2 und 1.1.1.3. 961 Wir haben uns diesen Ausdruck von Fritz Rüdiger Volz geliehen, der ihn in seinem Rekurs auf die Gabetheorie von Marcel Mauss verwendet (vgl. Volz, Gestaltung wechselseitiger Angewiesenheit, 12). 962 Damit orientiert er sich an dem Verhalten des unbarmherzigen Knechts gegenüber seinem Mitknecht (V. 30). Ulrich Luz, Matthäus Bd. 3, 72, hat darauf hingewiesen, dass diese Orientierung als plastische Darstellung der Reziprozitätsformeln aus Mt 7,1–2 verstanden werden kann: „(1) Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werden. (2) Denn mit welchem Urteil ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden.“ 963 Die Parabel lässt über das weitere Schicksal des zahlungsunfähigen Mitknechts nichts verlauten. Es ist deshalb anzunehmen, dass sich seine Situation durch die Bestrafung des unbarmherzigen Knechts (V. 34) nicht verbessert, dass er also im Gefängnis (V. 30) verbleibt.

Auswertung und Ausblick

333

Der verpflichtende Charakter der Barmherzigkeit unterscheidet sich von der Normativität des Rechts durch die Dimension der Freiwilligkeit, die dem Recht nicht innewohnt. Im Rahmen des Schuldner-Gläubiger-Verhältnisses, als das der Verfasser des Matthäusevangeliums das Herr-Knecht-Verhältnis in der Parabel fasst, ist es das gute Recht des Herrn, Schulden zurückzufordern. In der ersten Szene der Parabel (V. 23–27) wendet der Herr dieses Recht an, indem er veranlasst, den zum Zeitpunkt der Abrechnung nicht rückzahlungsfähigen Knecht samt seiner Familie und seiner Habe in die Schuldknechtschaft zu verkaufen (V. 25). Er beabsichtigt, sein Recht auf Rückzahlung der Schulden durchzusetzen. Wie bereits bei der Beantwortung der ersten Frage ausgeführt, verhält sich das im Blick auf die Barmherzigkeit, die über das Recht hinausgeht, anders: So wie der Schuldenerlass des Herrn aus freien Stücken erfolgt und auch der erste Knecht seinem Mitknecht aus freien Stücken die Schulden erlassen soll/muss, sowenig kann der Herr den Schuldenerlass unter seinen Knechten erzwingen. Es kommt also, anders als Zehetbauer aufgrund der von ihm nicht vorgenommenen Differenzierung zwischen der Nicht-Durchsetzbarkeit der Barmherzigkeitsforderung und dem strafenden Handeln des Königs annimmt, gerade nicht zu einer Verrechtlichung der Barmherzigkeit (dogmatisch gesprochen: zu einer Vergesetzlichung der Liebe).964 Vielmehr hält der Verfasser des Matthäusevangeliums sein Verständnis der Barmherzigkeit als freiwillige, über das Recht hinausgehende und deshalb nicht justitiable, gleichwohl aber auf eine Erwiderung zielende Zuwendung konsequent durch. Dass aber Barmherzigkeit anders als das Recht nicht einklagbar und durchsetzbar ist, bedeutet allerdings keineswegs, dass der König den Knecht für die Verweigerung nicht zur Rechenschaft ziehen könnte. Barmherzigkeit untersteht dem Vergeltungshandeln Gottes, das, weil es seinen Maßstab in der über das Recht hinausgehenden Barmherzigkeit besitzt, von der innerweltlichen Gerichtsbarkeit unterschieden werden muss. Die über das Recht hinausgehende, nicht justitiable und deshalb aus freien Stücken gewährte Barmherzigkeit zielt, wie die ihr gleichursprüngliche Notwendigkeit ihrer Erwiderung nahe legt, auf Gegenseitigkeit. Damit erweist sich ἔλεος als ein Beziehungsbegriff ersten Ranges, über den der Verfasser des Matthäusevangeliums in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht die Gottesbeziehung (1. und 3. Szene) mit den innergemeindlichen Beziehungen der Geschwister in Christo (2. Szene) verschränkt. Die Beziehungen der Gemeindeglieder sind in die Gottesbeziehung eingebettet. Was diese Beziehungen im Innersten ausmacht, ist ungeschuldete Gegenseitigkeit, konkret: aus freien Stücken und von ganzem Herzen gewährte Vergebung (V. 35). Barmherzigkeit und Gerechtigkeit unterscheiden sich also nicht hinsichtlich ihres Gegenseitigkeitscharakters, sondern hinsichtlich der Ebene, auf der Gegenseitigkeit gefordert wird: Auf der Ebene des Rechts ist Gegenseitigkeit einklagbar, auf der Ebene der Barmherzigkeit ist sie es nicht. Im Blick auf

964 Zehetbauer, Polarität, 212. Zur Auseinandersetzung mit der Position Zehetbauers vgl. Abschnitt 1.1.1.3.

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Auswertung und Ausblick

die Ebene der Barmherzigkeit sorgt vor allem der ihr eignende Aspekt der Freiwilligkeit für Dynamik: Freiwilligkeit impliziert nämlich, dass derjenige, der Barmherzigkeit übt, ein Risiko eingeht. Er kann nicht sicher sein, dass seine Zuwendung auch erwidert wird. Es dürfte kein Zufall sein, dass im Alten Testament ‫ חֶ סֶ ד‬häufig im Zusammenspiel mit ‫ אֱמֶ ת‬verwendet wird. Prominentestes Beispiel hierfür ist die von Hermann Spieckermann sogenannte alttestamentliche Gnadenformel,965 deren ältester Beleg sich vermutlich in Ex 34,6 findet: „Groß an Güte und Treue“ (‫ )וְ ַרב־חֶ סֶ ד ֶואֱמֶ ת‬gehört hier zu den herausragendsten „Eigenschaften“ Gottes. Dass die göttliche Güte auf Treue angewiesen ist, zeigt auf seine Weise, dass die sie auf ein Antwortverhalten des Menschen zielt und also auf Wechselseitigkeit hin angelegt ist. Gleiches gilt für zwischenmenschlich gewährte Güte, die erwidert werden will966: Der wechselseitige Erweis von Gegenseitigkeit schafft Vertrauen, die Zuwendung zum Nächsten ist auf dessen Treue angewiesen. In Mt 23,23 zählt der Evangelist neben dem Recht (κρίσις) und der Barmherzigkeit (ἔλεος) ebendiese Treue (πίστις) zu den gewichtigen Dingen in der Tora (τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου). Wo aber Barmherzigkeit nicht erwidert wird, dort regelt das Recht die Beziehungen. Die Leserinnen und Leser der Parabel dürften vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der Barmherzigkeit als auf wechselseitige Beziehung hin angelegte die Revision des Schuldenerlasses nicht als Akt der Willkür verstanden haben,967 sondern als Ausdruck dessen, dass die Weigerung, Barmherzigkeit zu erwidern, zwangsläufig die Gegenseitigkeit auf die Ebene des Rechts verlagert. Als Ergebnis der Parabel vom unbarmherzigen Knecht konnten wir folgende Definition von ἔλεος festhalten: Barmherzigkeit ist eine über das Recht hinausgehende, unverdiente und ungeschuldete Zuwendung Gottes zum Menschen bzw. der Gemeindeglieder untereinander, die auf Gegenseitigkeit zielt. Diese Gegenseitigkeit ist Ausdruck gelingender Beziehung und für gelingende Beziehungen konstitutiv. Sie kann nicht erzwungen werden, sondern muss aus freien Stücken gewährt werden. Ein Barmherzigkeitserweis ist immer risikobehaftet, gerade weil eine Erwiderung rechtlich nicht einklagbar ist. Auf den Punkt gebracht: Die Gewährung von und die Notwendigkeit der Erwiderung gewährter Güte sind als Ausdruck eines Beziehungsgeschehens dem Begriff ἔλεος in sachlicher Hinsicht gleichursprünglich. Ein letzter Aspekt ist zu berücksichtigen: Dass Barmherzigkeit über das Recht hinausgeht, impliziert die bleibende Gültigkeit des Rechts. Wird Barmherzigkeit verweigert, bestimmt das Recht den Umgang Gottes mit den Menschen und den zwischenmenschlichen Umgang. Barmherzigkeit bleibt auf das

965 Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“. 966 Vgl. vgl. z. B. Gen 24,49; 47,29; Jos 2,14; Spr 14,22; 16,6; 20,6 als Beispiele für die Zusammenstellung von Güte und Treue mit dem Menschen als Subjekt. 967 Dass der für Gott transparente König in V. 34 willkürlich handelt, unterstellen explizit oder der Sache nach u. a. Derrett, Parable, 34–35; Weder, Gleichnisse Jesu, 211, und Zehetbauer, Polarität, 214.

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Recht bezogen, auch wenn sie dieses transzendiert. Sie impliziert ein „Über Hinaus“, kein „Anstelle von“. Das Verhältnis zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ist durch Polarität und gegenseitigem Bezug aufeinander geprägt. Im Blick auf unsere Definition von ἔλεος konnten im ersten Kapitel der Arbeit zwei strukturelle Analogien aufgezeigt werden: So gibt es auch hinsichtlich des hebräischen Äquivalents von ἔλεος, ‫חֶ סֶ ד‬, Diskussionen um die Spannung zwischen Freiwilligkeit und Normativität: Gehört ‫ חֶ סֶ ד‬zu den Rechten und Pflichten bundesgemäßen Verhaltens (so Nelson Glueck968), oder bezeichnet der Begriff das über das Pflichtgemäße hinausgehende Besondere (so Hans-Joachim Stoebe969 und Alfred Jepsen970)?971 Diese Spannung und der mit ihr einhergehende Plausibilisierungsbedarf wächst dem Terminus ἔλεος offensichtlich von seinem hebräischen Äquivalenzbegriff her zu. Im Rahmen dieser strukturellen Analogie konnte auch gezeigt werden, dass die Annahme, dass sich in nachexilischer Zeit gegenseitiger ‫ חֶ סֶ ד‬immer mehr dem einseitigen ‫ ַר ֲח ִמים‬annähere, was sich in der Septuaginta in der Wiedergabe von ‫ חֶ סֶ ד‬mit ἔλεος widerspiegle,972 zumindest auf die Parabel vom unbarmherzigen Knecht nicht zutrifft. Der Gegenseitigkeitscharakter der Barmherzigkeit ist hier mehr als offensichtlich.973 Die zweite strukturelle Analogie hängt mit dem matthäischen „Vorzugswort“ ἀποδíδωμι zusammen, das siebenmal in der Parabel Verwendung findet (18,25 [2mal]; 26; 28; 29; 30; 34), Beziehung als wechselseitiges Geben und Zurückgeben/Erwidern konzeptualisiert974 und damit das in der Antike grundlegende Konzept der Gabebeziehungen aufruft. Bei der Gabe geht es wie bei der Barmherzigkeit, um ungeschuldete Gegenseitigkeit, die durch Geben, Nehmen und Erwidern gestaltet wird. Wie der Barmherzigkeitserweis wird eine Gabe freiwillig und unverdient gegeben, gleichzeitig aber zielt sie auf eine freiwillig gewährte Erwiderung, weil ohne Gegenseitigkeit Gemeinschaft nicht denkbar ist.975 Im Rahmen unserer Exegese der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) haben wir immer wieder auf diese Analogie Bezug genommen und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgearbeitet. Gemeinsam ist der Barmherzigkeit und der Gabe der Gegenseitigkeitscharakter, ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass Barmherzigkeit dem Vergeltungshandeln Gottes untersteht. Unsere Definition von ἔλεος lässt sich weder mit der Vorstellung, Barmherzigkeit schließe Gerechtigkeit aus (so z. B. Weder), noch auch mit der Funktionalisierung der Gerechtigkeit als einem Ausdruck der Liebe Gottes vereinbaren (so z. B. Ulrich Luz). Beide Auffassungen, so haben wir in ihrer kritischen Diskussion noch 968 969 970 971 972

Glueck, Das Wort ḥesed. Stoebe, Art. ‫ חֶ סֶ ד‬ḥǽsӕd Güte. Jepsen, Gnade und Barmherzigkeit. Vgl. Abschnitt 1.2.2.2 mit seinen Unterabschnitten. Vgl. Johnson, Ḥesed and Ḥāsȋd, 101; Joosten, ‫חסד‬, 99; vgl. auch Spieckermann, Art. Gnade/Gnade Gottes II, Sp. 1025, und Bultmann, Art. ἔλεος κτλ., 478. 973 Vgl. die TestXII, insbesondere TestSeb 5,3. 974 Vgl. Weber, Schulden, 253. 975 Vgl. Mauss, Die Gabe.

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vor der eigenständigen Auslegung der Parabel gesehen,976 besitzen ihren kleinsten gemeinsamen Nenner darin, dass der für Gott transparente König auf seine Barmherzigkeit festgelegt wird. Diese Auffassung teilt die Parabel nicht: Eine durch Barmherzigkeit konstituierte und gestaltete Gemeinschaft kann nicht erzwungen werden. Die Verweigerung der imitatio der Barmherzigkeit Gottes in den innergemeindlichen Beziehungen aber bedeutet – metaphorisch gesprochen – Verweigerung von Beziehung. Diese Verweigerung führt unweigerlich dazu, dass nicht mehr die Barmherzigkeit, sondern das Recht den Umgang miteinander bestimmt. Im Blick auf das matthäische Gottesbild konnte im ersten Kapitel gezeigt werden, dass der Evangelist in der Tradition der alttestamentlichen Gnadenformel steht, die Gott in Ex 34,6 als „mitleidig und barmherzig, langmütig und mitleidsvoll und wahrhaftig“ (Übersetzung: Roloff/Weber, in: Septuaginta Deutsch; LXX: οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων μακρόθυμος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινὸς) beschreibt.977 Wird berücksichtigt, dass der Verfasser des Matthäusevangeliums dem Sprachgebrauch der TestXII folgt und das hebräische ‫ ַרחוּם‬anders als die Septuaginta nicht mit dem Partizip οἰκτίρμων, sondern mit dem Partizip σπλαγχνισθείς wiedergibt,978 dann entfaltet die Parabel vier der fünf in der Gnadenformel genannten „Eigenschaften“ Gottes narrativ: Einzig die explizite Charakterisierung des Königs als ἀληθινός (treu) fehlt.979 Interessanterweise schließt nun auch in der Gnadenformel die Güte Gottes seine Gerechtigkeit nicht aus. Dass zeigt sich nicht erst in der Fortführung der Gnadenformel in Ex 34,7, wo davon die Rede ist, dass Gott die Sünden der Väter bis ins dritte und vierte Glied ahnden wird, sondern in der Charakterisierung Gottes als μακρόθυμος. Die Wiedergabe dieses Adjektivs mit „langmütig, geduldig, gelassen“980 verstellt den Blick darauf, dass bereits hier vom Zorn die Rede ist, wenn auch von der Langsamkeit zum Zorn. Diese Charakterisierung, die den gerechten Zorn gerade nicht ausschließt,981 findet sich in der Parabel in der Bitte des unbarmherzigen Knechts an seinen Herrn: „μακροθύμησον ἐπ’ ἐμοί“ (V. 26; vgl. V. 29). Damit aber spielt der Zorn Gottes nicht erst in der dritten Szene, sondern schon in der ersten Szene eine wichtige Rolle. Dies konnte als ein weiteres Indiz dafür gewertet werden, dass Güte den Zorn nicht ausschließt und beide miteinander vereinbar sind. In der Diskussion mit Reinhard Feldmeier und Hermann Spieckermann konnte darüber hinaus gezeigt werden,982 dass der Zorn gegenüber der Güte eine eigenständige Größe bleibt: Güte und Zorn stehen zugleich in einem 976 Vgl. Abschnitt 1.1 mit seinen Unterabschnitten. 977 Vgl. Abschnitt 1.3. Die Gnadenformel findet sich darüber hinaus in Joel 2,13; Jon 4,2; Ps 86,15; 103,8; 145,8 und Neh 9,17. Eine literarische Abhängigkeit der Parabel von der Gnadenformel haben wir nicht behauptet. 978 Vgl. Köster, Art. σπλάγχνον κτλ., 552.553. 979 Allerdings bestimmt das Thema der Treue die Frage des Petrus, wie oft er seinem Bruder vergeben müsse, und die Aufforderung Jesu zu unbegrenzter Vergebungsbereitschaft (Mt 18,21–22). 980 Bauer, Wörterbuch, 990. 981 Vgl. Horst, Art. μακροθυμία κτλ.,379f. 982 Feldmeier/Spieckermann, Gott der Lebendigen.

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Verhältnis der Asymmetrie als auch in einem Verhältnis der Polarität zueinander, ohne dass die Asymmetrie die Polarität auflöst. Das gilt sowohl für die Gnadenformel in ihren jeweiligen alttestamentlichen Kontexten, insbesondere aber für die Parabel vom unbarmherzigen Knecht. Die Polarität von Güte und Zorn ist Ausdruck der Konzeptualisierung der Beziehung zwischen Gott und Mensch als einer dynamischen und lebendigen. Im zweiten Kapitel wurden die ἔλεος-Stellen des Evangeliums (Mt 9,13; 12,7; 23,23) untersucht und im Blick auf das zweifache Hoseazitat in Mt 9,13 und 12,7: ἔλεος θέλω καὶ οὐ θυσίαν („Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“), gezeigt, dass der Begriff ἔλεος auch hier an der seinem hebräischen Äquivalent ‫ חֶ סֶ ד‬innewohnenden dynamischen Spannung zwischen Freiwilligkeit und Notwendigkeit der Gewährung bzw. Erwiderung von Güte und an dem für ‫ חֶ סֶ ד‬im Hoseabuch charakteristischen Oszillieren zwischen einem gottesdienstlichem Akt und der Zuwendung zum Mitmenschen partizipiert. Auf der Grundlage dieses semantischen Gehalts von ἔλεος profiliert der Evangelist die zwischenmenschlichen Barmherzigkeitserweise in Mt 9,13 und Mt 12,7 gleichsam als hervorragendsten Ort der Gottesbegegnung. Der Rückgriff auf Hos 6,6 dürfte dabei alles andere als Zufall sein: So handelt es sich bei diesem Vers um eine der wenigen Stellen im Alten Testament, die von einem ‫חֶ סֶ ד‬-Erweis Gott gegenüber sprechen (Jes 40,6; Jer 2,2; Hos 4,1; 6,4.6; 10,12; 12,7; Mi 6,8; Sach 7,9), der in den zwischenmenschlichen Beziehungen realisiert wird. Die an dieses Verständnis von Hos 6,6 anknüpfende matthäische Profilierung der zwischenmenschlichen Beziehungen als Ort der Gottesbeziehung und der Barmherzigkeit als gottesdienstlicher Akt steht traditionsgeschichtlich nicht nur in weisheitlicher Tradition, die Almosengabe, Gebet und Fasten als nicht an den Tempel gebundene gottesdienstliche Handlungen konzeptualisierte (vgl. u. a. Tob 4,7–11; 12,8–10), sondern sie weist auch Parallelen zu einer erst später greifbaren, Rabbi Jochanan ben Zakkai zugeschriebenen rabbinischen Tradition auf (Avot deRabbi Natan 4 [A]), in der die Werke der Barmherzigkeit in Folge der Zerstörung des Tempels als Opferersatz fungieren. Einige dieser rabbinischen Liebeswerke (gemilut hassadim) finden sich auch im Matthäusevangelium in der Endzeitrede: Wer Hungernden zu essen und Durstigen zu trinken gibt, wer Kranke und Gefangene besucht und Fremde aufnimmt,983 der begegnet dem wiederkehrenden Menschensohn selbst (Mt 25,31–46). Der Evangelist, so konnte bei der Exegese von Mt 9,9–13 gezeigt werden, versteht die dort wie in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,23–35) im Fokus stehende Sündenvergebung als hervorragendstes Liebeswerk (Sündenvergebung als nichtkultisches Sühnopfer), neben das die genannten anderen Werke treten. Im Blick auf die Verwendung von Hos 6,6 in Mt 12,7 haben wir gezeigt, dass die beiden von uns herausgearbeiteten, parallel verlaufenden Sinnlinien Priester – 983 In der rabbinischen Tradition zählen die Aufnahme Fremder und der Besuch Kranker zu den Liebeswerken, während die Versorgung Hungernder und Durstender, die Kleidung Nackter und die Sorge um die Gefangenen zu den Taten der Gerechtigkeit gezählt werden. Vgl. Müller, Diakonie.

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Opfer – Tempel (Ort der Gottesgegenwart) und Pharisäer – Barmherzigkeit (nichtkultisches Opfer) – Hungernde (Ort der Gottesgegenwart), die die Argumentation des matthäischen Jesus in Mt 12,5–7 strukturieren, und der Schluss vom Kleineren aufs Größere (V. 6) auf ihre Art und Weise zum Ausdruck bringen, dass das „mehr als“984 der Barmherzigkeit grundlegend auf den Geboten der Tora ruht: Als Größeres partizipiert Barmherzigkeit an der Würde des Kleineren, der Darbringung der Opfer am Sabbat (vgl. Num 28,9–10), die das Arbeitsverbot (Ex 20,10; Dtn 5,14) für diese spezifische gottesdienstliche Tätigkeit außer Kraft setzt.985 Die Plausibilität des von uns als valide erwiesenen qal wa-ḥomer-Schlusses, der den matthäischen Jesus in Mt 12,5–7 – phänomenologisch betrachtet – rabbinisch argumentieren lässt, hängt an der Gottesgegenwart im Tempel und der Zuwendung zum Nächsten als tertium comparationis, welches einen Vergleich zwischen beiden überhaupt erst ermöglicht und auf dessen Grundlage der Evangelist Barmherzigkeit allererst als vornehmste gottesdienstliche Handlung profilieren kann. In diesem Zusammenhang konnte auch gezeigt werden, dass dem matthäischen Verständnis der Barmherzigkeit ein hermeneutisches Verfahren korrespondiert, mit dem der matthäische Jesus über die halachische Ebene der Torainterpretation hinausgeht: So ist die von den Pharisäern (und seiner Schülerschaft) in Mt 12,5–7 geforderte Barmherzigkeit nicht justitiabel und als Rechtsprinzip wertlos. Jesus stellt hier keine neue halachische Regelung auf,986 sondern fordert, über die Halacha hinausgehend, die geschöpfliche Bedürftigkeit zum Maßstab der Torainterpretation zu machen. Die Forderung der imitatio Dei geht über die weiterhin notwendige Beobachtung der Toragebote hinaus.987 Die aufgezeigte Verschränkung der Gottesbeziehung mit den zwischenmenschlichen Beziehungen bzw. die Profilierung der Barmherzigkeit als Ort der Gottesbegegnung führte zum Abschluss des zweiten Kapitels zu der Frage, inwieweit diese Verschränkung für ein angemessenes Verständnis der matthäischen Zuordnung von Gottes- und Nächstenliebe (Mt 22,34–40) hilfreich sein könnte.988 Die matthäische Verhältnisbestimmung der beiden Gebote stellt die Exegese vor das – oft allerdings übergangene – Problem, die Charakterisierung des Gottesliebegebots als höchstes und größtes (αὕτη ἐστὶν ἡ μεγάλη καὶ πρώτη ἐντολή) bei gleichzeitiger Gleichstellung des Nächstenliebegebots (δευτέρα δὲ ὁμοία αὐτῇ) zu erklären: Wenn das Gottesliebegebot das größte und höchste ist, dann kann es eigentlich kein gleichrangiges Gebot geben. Die von uns vorgeschlagene Lösung lautet: Unter der Voraussetzung, dass im Nächsten Gott selbst geliebt wird, ist das Nächstenliebegebot als Gottesliebegebot diesem höchsten und größten Gebot gleichgestellt. Der Mensch dient also nicht nur Gott, indem er den Nächsten liebt, 984 Wir haben in der Diskussion insbesondere mit der englischsprachigen Forschung nachgewiesen (vgl. Abschnitt 2.3.2), dass sich der Komparativ μεῖζον (V. 6) auf das ebenfalls neutrische ἔλεος (V. 7) bezieht. 985 Vgl. Abschnitt 2.3. 986 So mit Doering, Schabbat, 435. 987 Zur Parallele in den sogenannten Antithesen (Mt 5,43–48) vgl. weiter unten im Text. 988 Vgl. Abschnitt 2.6.

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sondern in der Begegnung mit dem Nächsten kommt es zur Gottesbegegnung (vgl. Mt 25,31–46). Der matthäische Rekurs auf Hos 6,6 und die dortige Konzeptualisierung der Barmherzigkeit als Ort der Gottesbegegnung vermag so ein neues Licht auf die Verhältnisbestimmung von Gottes- und Nächstenliebe im Matthäusevangelium zu werfen. Im dritten Kapitel wurde eine Verhältnisbestimmung des Terminus ἔλεος zu den anderen theologischen Leitbegriffen des Matthäusevangeliums vorgenommen. Dabei konnte hinsichtlich der „größeren“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) der Analogiecharakter zur Barmherzigkeit herausgearbeitet werden: Wie die Barmherzigkeit geht die „größere“ Gerechtigkeit über ein gesetztes Maß, in diesem Falle die Gerechtigkeit, hinaus, welche aber nicht außer Kraft gesetzt wird, sondern durch ein „Mehr“ in einem sehr spezifischen Sinn noch übertroffen wird.989 So können in den sogenannten Antithesen (Mt 5,21–48), denen die Forderung nach einer „grösseren“ Gerechtigkeit als Überschrift voransteht (Mt 5,20), eine halachisch-justitiable Ebene und die vor irdischen Gerichtshöfen nicht justitiable Toraauslegung Jesu unterschieden werden. Wie Peter Wick, auf den diese Unterscheidung zurückgeht, an verschiedenen Stellen gezeigt hat,990 fußt die nichtjustitiable Toraauslegung Jesu auf dem Text der Tora und seiner halachischen Interpretation und setzt diese als bleibend gültig voraus. Sie geht aber zugleich über diese beiden Ebenen noch hinaus und nimmt wie die Barmherzigkeit Maß am Handeln Gottes bzw. an Gottes Vollkommenheit (Mt 5,48).991 Strukturell ähneln sich Barmherzigkeit und „größere“ Gerechtigkeit durch ihr Hinausgehen über das Justitiable und die Aufforderung zur Nachahmung Gottes. Im Blick auf das Verhältnis von ἔλεος zur Feindesliebe (Mt 5,43–48) konnte gezeigt werden, dass beide nur dann miteinander „kompatibel“ sind, wenn Feindesliebe nicht als prinzipieller Verzicht auf Gegenseitigkeit verstanden und im Rahmen antiken Reziprozitäts- und Vergeltungsdenkens verortet wird.992 Dass für den theologischen Leitbegriff der Barmherzigkeit Gegenseitigkeit konstitutiv ist, die Feindesliebe hingegen der Gegenseitigkeit grundsätzlich und prinzipiell ablehnend gegenübersteht, schien uns nicht plausibel. Vielmehr haben wir gezeigt, dass das Feindesliebegebot allein die Durchbrechung negativer Gegenseitigkeit fordert und darin über das Gebot der Nächstenliebe hinausgeht. Feindschaft soll durchbrochen, Gemeinschaft ermöglicht werden. Ziel der Feindesliebe sind also durch positive Gegenseitigkeit geprägte Beziehungen. Unabhängig davon, wie realistisch die Erfolgsaussichten auch sein mögen, die Schülerschaft Jesu soll die Möglichkeit der Beziehungsaufnahme von ihrer Seite aus offenhalten und so die Feindesliebe Gottes imitieren, die in der Zeit zwischen der Geburt des Messias (Mt 1,18–25) und 989 Vgl. Abschnitt 3.1.2. 990 Vgl. vor allem Wick, Strategies; ders. Antithesen. 991 Wick macht auch darauf aufmerksam, dass es ein vergleichbares rabbinisches Verfahren der Schriftauslegung gibt, dessen terminus technicus ‫שּׁוּרת הַ ִדּין‬ ַ ‫„( לִ פְ נִ ים ִמ‬jenseits der Linie des Rechts“) lautet. Vgl. Wick, Antithesen,175; vgl. ders., Strategies, 237. 992 Vgl. Abschnitt 3.1.2.

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dem erneuten Kommen des Menschensohns (Mt 16,27) den Ungerechten und Bösen (Mt 5,45) die Möglichkeit zur Umkehr bietet (Mt 3,2; 4,17). Ein solches Handeln der Schülerschaft Jesu wird von Gott vergolten, der als Dritter im Bunde dafür sorgt, dass Feindesliebe nicht „umsonst“ geübt wird: In ihrem Entsprechungshandeln gestaltet die Schülerschaft Jesu ihre Gottesbeziehung und darf sich dessen gewiss sein, dass Gott die Beziehung seinerseits durch sein Handeln aufrechterhält. Auf der Ebene der Gottesbeziehung ist der Feindesliebe in jedem Fall Gegenseitigkeit verheißen (vgl. die Rede vom Lohn in 5,46)! Ein solches Verständnis der Feindesliebe steht quer zu der weit verbreiteten Annahme, Feindesliebe impliziere eine prinzipielle Kritik am Gegenseitigkeits- bzw. Vergeltungsdenken, sie sei einseitig und fordere eine gänzlich altruistische Haltung. Nochmals: Wie die Barmherzigkeit zielt auch die Feindesliebe auf durch Gegenseitigkeit gestaltete Beziehungen. Sie ist ebenso wenig wie die Barmherzigkeit justitiabel, bildet aber gleichwohl die Voraussetzung für das Eingehen ins Himmelreich (5,20). Wie im dritten Kapitel ebenfalls gezeigt werden konnte, trifft das zur Feindesliebe Gesagte auch auf die Goldene Regel zu, die den Abschluss des Hauptteils der Bergpredigt bildet (7,12): Den Nächsten so zu behandeln, wie man von ihm behandelt zu werden wünscht, setzt den Wunsch nach positiver Gegenseitigkeit voraus.993 Dieser Wunsch wird vom Verfasser des Matthäusevangeliums entgegen der Annahme der meisten Exegeten keinesfalls problematisiert oder vom Feindesliebegebot her korrigiert (so Ulrich Luz, dem die Mehrheit der Exegeten folgt)994 und steht im Einklang mit seinem Liebesverständnis: Liebe will erwidert werden, auch die Feindesliebe. Die Verhältnisbestimmungen des Terminus ἔλεος zu den anderen theologischen Leitbegriffen laufen letzten Endes auf einen gemeinsamen Nenner hinaus: Für alle Begriffe respektive Konzepte ist Gemeinschaft stiftende und gestaltende Gegenseitigkeit entscheidend. Diese Gegenseitigkeit aber ist einerseits nicht justitiabel, ihr Wesensmerkmal ist, dass sie aus freien Stücken gelebt wird. Andererseits aber ist sie normativ, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass ἔλεος dem Vergeltungshandeln Gottes untersteht. Dies führt uns zu einem letzten Punkt: Wir haben in der Einleitung in der knappen Diskussion der Position Christof Landmessers gesehen, dass Landmesser bei seiner Exegese von Mt 9,9–13 die Forderung, Barmherzigkeit zu üben und sich darin Gott zuzuwenden (V. 13), als Widerspruch zur „wirkungsvoll[en] und bedingungslos[en]“995 Berufung (V. 9) empfindet: Die Gewährung von und die Forderung nach Barmherzigkeit passen für ihn nicht zusammen, so er sich dazu veranlasst sieht, die fehlende Plausibilität der matthäischen Argumentation zu bemängeln 993 Vgl. u. a. Abschnitt 3.1.1. 994 Luz, Art. Bergpredigt I. Neues Testament, Sp. 1311. Seine Aussage, dass „das Liebesgebot der zentralste ‚Vorspruch‘ der Goldenen Regel sein [dürfte]“ (Matthäus Bd. 1, 511), wird von Kollmann, Goldene Regel, 107 Anm. 26 aufgegriffen. Vgl. darüber hinaus auch Heiligenthal, Art. Goldene Regel II. Neues Testament und frühes Christentum, 573; Ricœur, Golden Rule, 395; Weder, Auslegung, 232. 995 Landmesser, Jüngerberufung, 142.

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und im Blick auf die Frage nach der gegenwärtigen Relevanz der matthäischen Position theologische Sachkritik zu üben. Diese sich an Paulus orientierende theologische Kritik steht in reformatorischer Tradition, der zufolge Gott seine Gnade voraussetzungslos und bedingungslos gewährt. Der in der vorliegenden Arbeit geführte Nachweis, dass ἔλεος von vornherein auf Gegenseitigkeit zielt und die Freiwilligkeit der Zuwendung wie die Notwendigkeit ihrer Erwiderung für den ἔλεοςBegriff in sachlicher Hinsicht gleichursprünglich sind, entzieht der Argumentation Landmessers den Boden. Vergleichen wir nun um einer eigenständigen theologischen Positionierung willen das durch Landmesser fortgeschriebene Gnadenverständnis eines durch die Lutherbrille wahrgenommenen Paulus und die von uns herausgearbeitete matthäische Konzeptualisierung von Barmherzigkeit, dann stehen sich hier die auf Heilssicherheit zielende Einseitigkeit der Gnade und die auf Gegenseitigkeit und Beziehung zielende Barmherzigkeit gegenüber. In der Regel zielen theologische Positionierungen wie das Beispiel Christof Landmessers eindrucksvoll vor Augen führt, darauf ab, die Einseitigkeit der Gnade mit allen Mitteln zu verteidigen. Der Preis für eine solche theologische Positionierung ist unseres Erachtens hoch: Mit ihr steht der Gemeinschaftscharakter der Gottesbeziehung auf dem Spiel. Anstatt wie sonst – zumindest im protestantischen Bereich weit verbreitet – kritische Anfragen von Paulus her an den Verfasser des Matthäusevangeliums zu richten, möge diese Arbeit dazu dienen, den Spieß einmal umzudrehen und einen lutherischen Paulus vom Verfasser des Matthäusevangeliums her kommend zu kritisieren: Eine Theologie, die den Gegenseitigkeitscharakter der Gott-Mensch-Beziehung marginalisiert, nimmt die Glaubenden als Gegenüber Gottes und als Subjekte ihres Handelns nicht ernst.996 Damit aber geht sie nicht nur an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei, sondern setzt letztendlich den Gemeinschaftscharakter der menschlichen Gottesbeziehung und darin eine wesentliche Dimension menschlicher Geschöpflichkeit aufs Spiel: Die κοινωνία wird hier letztendlich dem sola gratia geopfert.

996 Zur Notwendigkeit der Wiedergewinnung des Glaubenden als selbstständig handelndes Subjekt vgl. Maschmeier, Glaube und Handeln, und aus praktisch-theologischer Perspektive Elisabeth Gräb-Schmidt, Urteilsbildung, auf die Maschmeier in seinem Beitrag grundlegend Bezug nimmt (vgl. Maschmeier, Glaube und Handeln, vor allem: 30–33).

Literatur Die Abkürzungen im Literaturverzeichnis und in den Anmerkungen richten sich nach dem Internationalen Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG), zusammengestellt von Siegfried Schwertner, Berlin/New York 32014. In den Anmerkungen wird die Sekundärliteratur unter Angabe der Autorin/des Autors, einem Kurztitel, der im Literaturverzeichnis kursiv gedruckt ist, und den Seitenzahlen angegeben. Bei Zitaten aus dem Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de) werden in den Anmerkungen anstelle der Seitenzahlen die Unterpunkte angegeben.

Quellen und spezielle Übersetzungen Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, übers. und hg. von Emil Kautzsch, 2 Bde., Tübingen 1900 (Neudruck 1921). Die Apostolischen Väter, hg. v. Joseph A. Fischer (SUC I), Darmstadt 91986. Der Babylonische Talmud, Ausgabe Romm, 20 Bde., Vilna 1880–1886 (Nachdr. Jerusalem 1991). Der Babylonische Talmud, hg. von Lazarus Goldschmidt, 12 Bde., Berlin 21967 (Nachdruck Frankfurt am Main 41996). Eve-Marie Becker/Heinz-Josef Fabry/Michael Reitemeyer, Sophia Sirach/Jesus Sirach (Einleitung und Übersetzung), in: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von Wolfgang Kraus u. Martin Karrer, Stuttgart 2009, 1090–1163. Bereschit Rabba, mit kritischem Apparat und Kommentar, hg. v. J. Theodor u. Chanoch Albeck, Jerusalem 21965. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung mit Apokryphen. Bibeltext in der revidierten Fassung von 2017, hg. v. der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 2017. [Luther 2017] Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, hg. im Auftrag der Bischöfe Deutschlands, Stuttgart 22017. [Einheitsübersetzung 2017] Bible Works 9, Bible Works LLC 2013. Biblia Hebraica Stuttgartensia, hg. v. K. Elliger u. W. Rudolph, Stuttgart 41990. Beate Ego, Das Buch Tobit (Einleitung und Übersetzung), in: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von Wolfgang Kraus u. Martin Karrer, Stuttgart 2009, 635–662. Helmut Engel/Heinz-Dieter Neef, Daniel (Einleitung und Übersetzung), in: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von Wolfgang Kraus u. Martin Karrer, Stuttgart 2009, 1423–1462. Cornelis den Hertog/Martin Vahrenhorst, Levitikon/Levitikus (Einleitung und Übersetzung), in: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von Wolfgang Kraus u. Martin Karrer, Stuttgart 2009, 98–132. Cornelis den Hertog/Siegfried Kreuzer, Jesus/Josua (Einleitung und Übersetzung), in: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von Wolfgang Kraus u. Martin Karrer, Stuttgart 2009, 218–242. Jesus Sirach (Ben Sira), hg. u. übers. v. Georg Sauer (JSHRZ III/5), Güterloh 1981. Das Buch der Jubiläen, hg. u. übers. v. Klaus Berger (JSHRZ II/4), Gütersloh 1983.

Literatur

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Register (in Auswahl) Altes Testament Genesis 24,49

128, 249, 334

Exodus 18,20 20,5–6 20,10

245 135 194, 232, 235f., 242f., 261f., 338 20,12 273 20,13 279 20,22–26 177 21,24 154 22,25f. 281f. 22,26 135 29,43–45 177 32,7–14 150 33,19 135 34,6 13, 94, 102, 134f., 137–139, 141, 143, 145, 147–149, 151f., 334, 336 34,7 139f., 143f., 145, 147, 336 34,6–7 102, 109, 135, 136, 142f., 144, 147, 160, 189, 209 Leviticus 19,9f. 115 19,17 66 19,18 276f., 288, 323f., 326 24,9 221 24,20 154 27,30 248

Numeri 6,22–27 8,9 14,18 28,9–10

204 234 135, 139f. 194, 224, 227, 232, 235f., 242f, 261, 262, 338

Deuteronomium 4,31 135 5,9 135 5,14 194, 232, 235, 240, 242f., 261f., 338 5,16 273 5,17 279 6,25 175 7,9f. 135 14,22–23 248 14,28f. 248 15,12 39 16,18 171 19,21 154 24,12f. 281f. 24,13 175 26,12 248 Josua 2,3 2,12 2,12ff. 2,14 6,25

112 105, 109–112, 314, 327 113, 117 113, 117, 128, 249, 334 113

1. Samuelbuch 20,8 112 20,14 112 21 221 21,7 220

2. Samuelbuch 9,1–7 112 15,2 128 Jesaja 1,10–20 1,27 40,6 48,9 54,7f. 54,8 63,7

123 175 19, 91, 120, 129, 133, 337 135 135 142 135

Jeremia 2,2 19, 91, 120, 129, 133, 337 7,21ff 123 9,22f. 175 9,23 109, 249 15,15 135 30,11 135 32,18 135 Ezechiel 18,23 143, 149 Hosea 2,21 4,1 4,1–3 5,8–6,6 6,1f. 6,4 6,6

6,7ff.

97 19, 91, 120f., 129, 133, 170– 173, 337 184 180 180 19, 91, 120– 122, 133, 337 17, 19f., 90f., 94, 120–123, 126, 129f., 133, 153, 160–201, 203–262, 290, 330, 337, 339 187

355 10,12 11,8 11,8–9 12,7

Joel 2,13

Register 19, 91, 102, 120f., 129, 133, 337 129 150 19, 91, 109, 120f., 129, 133, 337 135, 141, 336

88,15 89,3 99,8 100,1 102,6 103,4 103,8 111,4 116,5 145,8

109, 249 170 135 109, 249 175 102 135, 336 135 135 135, 336

Amos 5,21–24 5,22–24

123 165

Proverbia (Sprüche) 14,22 249, 334 16,6 249, 334 20,6 249, 334 21,3 165

Jona 4,2

135, 141, 336

Ruth 1,8

7,18 8,6

123, 212 19, 91, 109, 120, 129, 133, 249, 336 135, 142 249

1,8f. 1,9 1,11–13 2,16 2,18 2,18f. 2,20

Nahum 1,2f.

135

3,9 3,10

Micha 6,6–8 6,8

Sacharja 7,9 19, 91, 97, 102, 104, 109, 120, 129, 133, 249, 336 7,12 102 Psalmen 25,6 40,7–9 40,12 41,4 50,14 51,3 51,18f. 51,19 51,18f. 78,38 86,5 86,15

102 212 102 173 172 102 212 172 165 135 135 135, 336

108, 110f., 116, 157, 314, 327 118, 153 117 114, 157 115 115 117 110f., 115, 118, 153, 314, 327 116 108, 110f., 114, 116f., 118, 153, 314, 327

Kohelet (Prediger) 4,17 212 Daniel 4,27 9,4

206 135

Nehemia 1,5 9,17 9,31 13,14

135 135, 336 135 114

2. Chronikbuch 30,9 135

Neues Testament Matthäusevangelium 1,1–17 111, 134 1,1.16–18 134 1,1.20 134 1,5 111 1,18ff. 37 1,18–25 134, 339 1,21 180, 187 1,23 134, 177, 180f., 189, 214 2,2.8.11 78 2,1–12 134 3,2 61, 199, 340 4,9.10 78 4,17 52, 61, 155, 199, 340 5,6 34 5,7 13, 17, 82, 86, 97, 157, 175, 188, 200, 262, 270 5,10.11.44 174 5,17 266, 269, 279, 305, 325 5,17–7,12 20, 266, 268 5,17–20 266, 277 5,18–19 248 5,20 20, 45, 115, 153f., 162, 278, 286, 288f., 292f., 331, 339 5,21–26 182f., 241, 269, 279 5,21–48 20, 45, 207, 230, 245, 339 5,23–24 182, 183, 191, 214, 247, 269 5,25–26 261 5,26.33 85 5,27–30 279 5,31–32 279 5,32 280 5,33–37 281 5,38–42 154, 156, 281, 289 5,39 86 5,43 326

Register 20, 61, 71, 108, 154–156, 264, 269, 274, 277, 293, 300, 331, 338f. 5,45 37, 45, 61, 340 5,46 108, 157, 269, 287, 308 5,46–47 308, 314, 317 5,48 60, 236, 339 6,1–18 82, 85, 87–89, 140, 198, 207, 273, 284 6,2–18 259 6,2–4 207, 211, 216, 259 6,5–15 216 6,9–13 325 6,12 139, 187f., 200 6,12–18 192 6,12.14–15 34, 38, 61, 81f., 200, 262, 295–297 6,14–15 139, 157, 187, 295, 297 6,15 296 6,16–18 216 7,1–5 269 7,1–2 82, 200, 262, 332 7,2 269 7,7–11 267f., 272f., 313 7,7–12 274 7,11 270, 274 7,12 20, 249, 255f., 264, 267–270, 272f., 277, 301, 305, 307, 313, 330 7,24–27 153 8,2 78 9,2 180 9,2–8 139, 178–180, 214 9,6 179 9,8 139, 214 9,9 16 9,9–13 13–15, 133, 162, 166, 168, 173, 176, 178–

356

5,43–48

9,12–13 9,13

9,18 10,6 12,1 12,1–7 12,1–8

12,3–4 12,5 12,5–6 12,5–7

12,6 12,7

12,9–14

181, 183, 185, 187–189, 191, 193–195, 199f., 207, 210–216, 218, 236, 248, 259, 337, 340 179 11f., 16f., 19f., 61, 91, 94, 120, 129, 153, 160– 162, 164, 169, 176f., 180, 182– 185, 187f., 190f., 193, 195f., 200, 212, 216, 231, 246– 248, 250, 253f., 258, 260, 331, 337 78 134 222 13, 20, 234 162, 166, 169, 189f., 194, 217f., 220f., 226f., 230, 234, 236, 242, 244, 248, 259f., 330 238 194, 228, 247 224, 238 162, 173, 182, 217–220, 230– 234, 236f., 239f., 244–246, 260f., 338 194 11f., 14, 17, 19f., 61, 91, 94, 120, 129, 153, 160–162, 165, 169, 176–178, 182, 188, 193f., 196, 212, 224f., 227, 230f., 236, 240–242, 246– 248, 250, 253f., 258, 260, 331, 337 219

12,12 12,14 12,41–42 14,33 15,1–6 15,1–20 15,21–28 15,25 16,27 18,1–22 18,10–14 18,12–14 18,15–18 18,15 18,17 18,21f. 18,21–35 18,21–22 18,22 18,23–25 18,23–27 18,23–35

18,23 18,26 18,27 18,28–30 18,31 18,31–34 18,32 18,32f.

227 246 225 78 273 252 134 78 37, 61, 85, 134, 140, 340 57, 59f. 67 65, 69 54, 58, 63, 64, 66, 69, 72 66, 71f. 63 28, 35, 38, 52f., 58, 63, 72, 75, 138 17, 139, 293 336 132 198 155, 157 13, 16, 18f., 22– 25, 28, 30, 32, 34, 36, 38, 40, 42, 44, 46, 48, 50, 52, 54, 61, 71–73, 82–84, 87–90, 92, 97, 106, 111, 131, 133, 136–138, 140, 144, 148– 150, 152, 154, 175–178, 180, 182, 200, 211, 214, 217, 235f., 252, 259, 261, 264, 295, 297, 301, 324, 329, 331, 335 37 142 93, 139 155, 157, 207 26 153 139 34, 132

357 18,33 18,34 18,35 19,9 19,16–30 19,16–26 19,29 20,1–16 20,8 20,13 20,20 20,29–34 21,41 22,34–40

22,37–40 22,38 22,39 22,40 23,1–39 23,3–4 23,16–22 23,23

23,25–26 25,14–30 25,29 25,30–46 25,31–46

25,35.37 25,36 25,40 26,20–30 26,26–30 26,28 27,58 28,9.17 28,20

Register 33, 89, 97 52, 90, 132, 134, 143, 149 55, 82, 97 279 257 291 87 87, 291, 316 85, 88 316 78 142 85 161, 164, 166, 199, 250–254, 256–258, 263, 266, 270, 330f., 337f. 249, 259 253f. 253 305 160, 194, 248 285 182, 248 11, 17, 19, 61, 79, 161, 166, 194, 248f., 251, 253, 258, 262, 285, 331, 334 191f. 290, 316 290 188 13, 20, 129, 167, 173–176, 188, 207, 211, 213, 216, 244, 249, 254–259, 330, 337, 339 244 174 260 181 177–179, 187, 214 133, 179 85 78 134

Markusevangelium 4,10–12 290 8,1–10 290 8,8 290 8,31 33, 79 11,25 294 12,28–34 252 13,7 79 Lukasevangelium 6,17–49 266 6,27–35 283 6,27–36 266 6,31 264, 277, 305 6,32 320 6,32–34 283, 305, 308 6,32–35 313f. 6,35 283f. 6,36 314 6,38 315 10,25–28 252 10,25 252 10,28 252 15,11–22 13, 142 19,12–27 290 19,26 278 22,7 79 24,26 33, 79 Johannesevangelium 1,14 257 3,14 33, 79

7,29–31 7,32–35 16,11 28,2 29,8–13 34,25–31 35,1–5 35,1–15 35,2 35,3 35,7 35,8–10 35,9 35,9–10 35,16–22 37,11 40,24

Testamente der Zwölf Patriarchen TestSeb 5,3 97, 142, 335 TestSeb 8,1 142 Tobit 1,4–8 1,16f. 4,5–16 4,7 4,7–11 4,9 4,10

Römerbrief 13,10 277

4,11 4,16

Jakobusbrief 2,13 81

12,8–10

Außerkanonische Schriften neben dem Alten Testament Jesus Sirach 2,11 135 3,3 209 3,14 209 3,30 209f. 5,4–6 141

209 209 141 81f., 208 210 167 209 205, 210 209 204, 206 217 204f., 206 200, 205 209 114 209

12,9

210 175 203 203, 216 202–205, 208, 337 210 208, 210, 216 210 203f., 206, 209 202, 207, 337 210

Außerkanonische Schriften neben dem Neuen Testament Didache 1,2 277

Register

358

Rabbinisches Schrifttum Mischna und Talmudtraktate mAv 1,2 163, 169 mMaas 1,1 248 mMaas 4,5 248 mDem 2,1 248 bBer 7a bBM 30b bNed 40a bSuk 49b

149, 150 245, 280 173 172, 175

Midraschim und Sammelwerke ARN 4 (A) 161, 163– 166, 168f., 173f., 176f., 181, 183– 187, 189, 201, 213, 216, 218, 238, 242, 244–246, 260 BerR 39,6 150 DevR 5,3 171