Anders als andere Philosophen verlieh Schopenhauer bereits früh in seinem Leben seiner Philosophie eine Struktur, an der
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German Pages 424 [425] Year 2021
Peter Welsen
GRUNDRISS
SCHOPENHAUER Ein Handbuch zu Leben und Werk
Meiner
GRUNDRISS SCHOPENHAUER
Peter Welsen
GRUNDRISS SCHOPENHAUER Ein Handbuch zu Leben und Werk
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3883-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7873-3884-9 Gefördert durch NEUSTART KULTUR Umschlagabbildung: Universitätsbibliothek Frankfurt, Nachlass Arthur Schopenhauer – Schopenhauer-Archiv © Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Systematischer Abriß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Genese und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Das »bessere Bewußtsein« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Metaphysik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Metaphysik des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Lemmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 a) Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Standardliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Vorwort Das vorliegende Buch wurde im Laufe des letzten Jahrzehnts auf Anregung des Felix Meiner Verlags geschrieben. Ich danke dem Verlag für sein Vertrauen sowie für die Geduld, die mir angesichts der einen oder anderen Verzögerung während der Abfassung entgegengebracht wurde. Für die umsichtige und verständnisvolle Betreuung des Projekts danke ich nicht zuletzt Dr. Marion Lauschke und Marcel Simon-Gadhof. Darüber hinaus gilt mein Dank Prof. Dr. Sebastian Gäb, Robert Mersiow sky, M. A., und Michael Steinmetz, M. A. M. A., mit denen ich mich in anregenden Gesprächen über den Inhalt des Manuskripts austauschte. Für die Mühe des Korrekturlesens schulde ich zahlreichen aktuellen und ehemaligen Hilfskräften, Mitarbeitern und Sekretärinnen besonderen Dank: Alisa Alić, Stefan Becker, Natalie Cramme-Hill, David Gauß, Dr. Dominic Harion, Dr. Katharina Helming, Christoph Hocks, M. Ed., Leon Krings, M. A., Matthias Minor, M. Ed., Dr. Eva Maria Phieler, Stephanie Schintgen, M. A., Stefan Schließmeyer, M. Ed., Gabriele Schmitt, Benita Schreuder, Sascha Settegast, M. A., Lena Winter sowie Dr. Dominik Zink. Ganz besonders danke ich Anika Türkkan, M. A., für ihre fachkundige Hilfe bei der Erstellung der Bibliographie, der Formatierung und der Korrektur des Textes. Ulrike Zellner bin ich ausgesprochen dankbar für die Nachsicht angesichts beinahe habituell gewordener lebensweltlicher Einschränkungen, wie sie die Abfassung eines umfangreicheren wissenschaftlichen Werks nun einmal mit sich bringt. Regensburg, im Dezember 2020
Peter Welsen
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Einleitung Das vorliegende Werk ist als Handbuch konzipiert. Es richtet sich an gebildete Laien, Studenten und Wissenschaftler, die sich für Schopenhauer interessieren, sich in sein Denken einführen lassen oder über ihn lehren oder forschen wollen. Dabei geht es weniger darum, spezielle Gegenstände seiner Philosophie detailliert zu erläutern, als vielmehr darum, dem Leser eine grundlegende und kompakte Orientierung zu vermitteln. Das gilt für folgende Bereiche: Schopenhauers Leben (»Biographische Skizze«), die gedanklichen Grundstrukturen seiner Philosophie (»Systematischer Abriß«), deren zentrale Begriffe (»Lemmata«) sowie schließlich deren Wirkungsgeschichte (»Rezeption«). Abgerundet wird das Buch durch einen bibliographischen Teil sowie ein Namensregister. Obgleich sich das Werk eines Philosophen keineswegs auf sein Leben reduzieren läßt, leistet doch letzteres in aller Regel zumindest einen Beitrag zum Verständnis desselben. Dies trifft sicherlich auch auf Schopenhauer zu. Deshalb ist es mehr als legitim, eine »biographische Skizze« an den Anfang dieses Buches zu stellen, die freilich nicht Selbstzweck ist, sondern im wesentlichen Schopenhauers Weg zur Philosophie und sein Leben in dieser wissenschaftlichen Disziplin nachzeichnet. Der »systematische Abriß« stellt zunächst die einzelnen Veröffentlichungen Schopenhauers mit ihren inhaltlichen Schwerpunkten sowie die Struktur seines Ansatzes vor, der – nach Auffassung des Philosophen – kein auf einem obersten Prinzip beruhendes System, sondern ein organisches Gebilde darstellt, dessen Teile ebenso vom Ganzen abhängen, wie das auch umgekehrt der Fall sei. Letzten Endes will Schopenhauer in seinem Ansatz einen »einzigen Gedanken« zum Ausdruck bringen: »[D]ie Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens.« (W I 506) Dabei gliedert er seine Philosophie in vier sich ergänzende und wechselseitig erläuternde Disziplinen: eine Erkenntnistheorie, eine Metaphysik der Natur, eine Metaphysik des Schönen sowie eine Metaphysik der Sitten, welche die vier Bücher von Die Welt als Wille und Vorstellung ausmachen. Nach einer kurzen Erläuterung der frühen »Philosophie des besseren Bewußtseins«, die Schopenhauer bald hinter sich läßt, werden in dem Kapitel die genannten Disziplinen als einzelne sowie in ihrem Verhältnis zueinander expliziert. Die »Lemmata« stellen den bei weitem umfangreichsten Teil des Buches dar. In mehr als 140 Abschnitten werden zentrale Begriffe von Schopenhauers Philosophie nicht einfach nur genannt, sondern im Ausgang von den Texten, in denen sie auftreten, gründlich analysiert. Es liegt auf der Hand, daß eine derartige Auswahl stets angreifbar bleibt. So wird weder der Anspruch der Alternativlosigkeit 9
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noch der Vollständigkeit erhoben. Vielmehr möge es genügen, daß die Auswahl im großen und ganzen nachvollziehbar und plausibel ist. Die Darstellung der Begriffe ist einerseits textnah, anderseits aber wird durchaus auch auf Schwierigkeiten hingewiesen, die einzelne Begriffe – sei es durch Ambiguität, mangelnde Präzision oder Defizite in der Begründung – aufweisen. Auf eine ausführliche Einbeziehung der einschlägigen Sekundärliteratur wurde verzichtet, da sie ein ohnedies umfangreiches Buch hätte gänzlich ausufern lassen. Wer eine tiefer gehende Diskussion einzelner Begriffe oder Gedankenkomplexe sucht, sei an die entsprechende Spezialliteratur verwiesen. Umgekehrt ist sich der Verfasser darüber im klaren, daß seine Darstellung keineswegs von einer Position einer tabula rasa ausgeht, sondern einen – von bestimmten Voraussetzungen geprägten – hermeneutischen Zugriff darstellt, der sich im Zuge einer langjährigen und in einschlägigen Veröffentlichungen dokumentierten Beschäftigung mit Schopenhauer und seinem Denken herausgebildet hat.1 Das Kapitel »Lemmata« stützt sich – wie auch die übrigen – im wesentlichen auf die von Arthur und Angela Hübscher edierte Zürcher Ausgabe (Werke in zehn Bänden) der Werke Schopenhauers, welche – mit Ausnahme der Schrift Ueber das Sehn und die Farben – alle zu Lebzeiten publizierten Texte des Philosophen enthält. Sicherlich böte die von Arthur Hübscher vorgelegte historischkritische Ausgabe (Sämtliche Werke) ein höheres Maß an philologischer Präzision, doch ist sie wohl aufgrund der Ausstattung und des Preises weniger verbreitet. Da sich der Grundriß Schopenhauer nicht allein an ein philosophisch ambitioniertes Fachpublikum, sondern an eine breitere – auch bildungsbürgerliche und studentische – Leserschaft richtet, erscheint die Wahl der Zürcher Ausgabe dem Verfasser plausibel. Darüber hinaus sei angemerkt, daß die in dieser Ausgabe enthaltenen Texte dieselbe Gestalt wie in den Sämtlichen Werken aufweisen.2 Bei Texten, die nicht in der Zürcher Ausgabe stehen, wurde auf entsprechende Ausgaben zurückgegriffen, etwa den von Arthur Hübscher edierten Handschriftlichen Nachlaß oder die von Volker Spierling herausgegebenen Philosophischen Vorlesungen.3 Da Schopenhauer zu den meistgelesenen Philosophen der Neuzeit zählt, erscheint es lohnend, der Rezeption seines Denkens ein eigenes Kapitel zu widmen. Angesichts der großen, kaum zu überblickenden Zahl seiner Leser muß dabei jedoch selektiv vorgegangen werden. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauers geistige Leistung insbesondere philosophischer Art ist, liegt es nahe, die 1
Vgl. z. B. Peter Welsen. »Schopenhauers Hermeneutik des Willens«. In: Thomas Regehly / Daniel Schubbe (Hg.). Schopenhauer und die Deutung der Existenz. Perspektiven auf Phänomenologie, Existenzphilosophie und Hermeneutik. Stuttgart 2016, 157–170. 2 Für Leser, die andere Ausgaben benutzen, sei auf die Konkordanz im Anhang des Schopenhauer-Handbuchs von Schubbe und Koßler verwiesen. Vgl. Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.). Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart / Weimar 2014, 403–426. 3 Die genauen Angaben befinden sich im bibliographischen Anhang des vorliegenden Buches.
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Rezeption im Bereich der Philosophie in den Vordergrund zu stellen. Dagegen wird Schopenhauers Einfluß auf Musiker und Schriftsteller lediglich kursorisch behandelt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die literarische Rezeption in ihrer ganzen Breite kaum von einem einzelnen Forscher bewältigt werden kann. Immerhin liegt zu diesem Thema eine Reihe mehr oder weniger gewichtiger Monographien vor.4 Am Ende des Buchs befindet sich ein bibliographischer Teil, der sich – angesichts der Fülle der Literatur über Schopenhauer – auf das Wesentliche beschränken muß. Dazu zählen die wichtigsten Ausgaben, in denen Schopenhauers Werke vorliegen, ein Verzeichnis der im vorliegenden Buch verwendeten oder zitierten Texte sowie eine Liste grundlegender Sekundärliteratur. Daß hier eine Auswahl getroffen werden muß, liegt ebenso auf der Hand wie der Einwand, daß diese bis zu einem gewissen Grad von den Präferenzen des Verfassers geprägt ist und daher kritisierbar bleibt.
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Vgl. Schubbe / Koßler (2014), 358–360.
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Biographische Skizze Arthur Schopenhauer wurde am 22. Februar 1788 als erstes Kind des wohlhabenden Kaufmanns Heinrich Floris Schopenhauer (1747–1805) und seiner Frau Johanna (1766–1838) in Danzig geboren. Die Familie zählte zu den angesehensten und wohlhabendsten der Stadt. Die Ehe der Eltern war wenig glücklich, und so erstaunt es nicht, daß die Mutter – ähnlich wie auch der Vater – ihrem Sohn kein Gefühl der Liebe und Geborgenheit vermitteln konnte. Als die – bis dahin freie – Stadt 1793 von Preußen annektiert wurde, verließ Heinrich Floris Schopenhauer diese, da er als überzeugter Republikaner nicht preußischer Untertan sein wollte, verkaufte sein Geschäft und zog mit seiner Familie nach Hamburg. Dort wurde er wieder erfolgreich als Kaufmann tätig. 1797 wurde Adele, die Schwester des Philosophen, geboren, die bis 1849 leben sollte. Nach dem Wunsch seines Vaters sollte Arthur Schopenhauer auf den Kaufmannsberuf vorbereitet werden, für den nicht zuletzt gründliche Kenntnisse der englischen und französischen Sprache erforderlich waren. Daher wurde er von 1797 bis 1799 nach Le Havre geschickt, wo er in der Familie eines Geschäftsfreundes lebte und sich das Französische so gut aneignete, daß seine Deutschkenntnisse zeitweise darunter litten. Nach seiner Rückkehr nach Hamburg verbrachte er vier Jahre an einer privaten Lehranstalt, dem Rungeschen Institut, um auf den künftigen Beruf vorbereitet zu werden. Wie er selbst feststellt, lernte er dort, »was einem Kaufmanne von Nutzen ist und dem Gebildeten wohl ansteht« (GBr 649). Freilich merkte Schopenhauer bald, daß er wenig Neigung zum vorgesehenen Beruf verspürte, sondern sich eher zur Gelehrtenlaufbahn hingezogen fühlte. Angesichts dieser Situation konfrontierte ihn sein Vater mit der Alternative, entweder ins Gymnasium einzutreten, um dann zu studieren, oder mit den Eltern eine ausgedehnte Bildungsreise durch Europa zu unternehmen und anschließend eine kaufmännische Lehre zu beginnen. Schopenhauer konnte der Verlockung solch einer Reise nicht widerstehen. Die Familie brach im Frühjahr 1803 auf und begab sich zunächst über die Niederlande nach England. Während seine Eltern nach Schottland weiterreisten, verbrachte Arthur Schopenhauer mehrere Monate in einem Internat in Wimbledon, um die englische Sprache zu erlernen. Darauf besuchte er mit seinen Eltern mehrere französische Städte wie Paris, Bordeaux, Toulouse und Marseille. Auf einem Ausflug nach Toulon machte Schopenhauer eine folgenreiche Erfahrung: Er erlebte im dortigen Arsenal das Elend der angeketteten Galeerensklaven und war darüber zutiefst erschüttert: »In meinem 17ten Jahre ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und 13
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Tod erblickte. […] [M]ein Resultat war, daß diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens seyn könnte, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Quaal sich zu weiden« (HN IV/1 96). Ähnlich intensiv wirkten auf den angehenden Philosophen die Schweizer Alpen in ihrer Erhabenheit, nicht zuletzt der Pilatus, den er im Zuge der Fortsetzung seiner Reise bestieg, die ihn schließlich über Österreich und Böhmen im Sommer 1804 nach Deutschland zurückführte. Gemäß der mit dem Vater getroffenen Vereinbarung nahm Schopenhauer widerwillig seine kaufmännische Ausbildung auf, zunächst bei Kabrun in Danzig, wenig später bei Jenisch in Hamburg. Offen bekannte er: »Nie aber hat es einen schlechteren Handlungsbeflissenen gegeben als mich.« (GBr 651) Im Winter 1804/05 verschlechterte sich der körperliche und seelische Zustand von Heinrich Floris Schopenhauer zusehends, am 20. April 1805 wurde seine Leiche im Fleet hinter seinem Haus gefunden. Wahrscheinlich hatte er sich vom Fenster des Speichers herabgestürzt. Im darauffolgenden Jahr verließen Adele und Johanna Schopenhauer Hamburg und zogen nach Weimar um. Dort führte Johanna einen literarischen Salon, in dem unter anderem Goethe und Wieland verkehrten, und begann darüber hin aus eine überaus erfolgreiche schriftstellerische Karriere. 1807 brach Schopenhauer seine Ausbildung ab, um sich zunächst in Gotha und ab Ende des Jahres in Weimar durch das Erlernen der alten Sprachen auf ein Universitätsstudium vorzubereiten, das er 1809 nach Auszahlung seines Erbes in Göttingen aufnahm. Anfänglich schrieb er sich für Medizin, ab dem Wintersemester 1810/11 aber für Philosophie ein. Das hinderte ihn allerdings nicht, weiterhin naturwissenschaftliche Vorlesungen zu besuchen. Auf Anregung von Gottlob Ernst Schulze, seines wichtigsten philosophischen Lehrers, der nicht zuletzt durch seine skeptische Kritik an Kant hervorgetreten war, widmete sich Schopenhauer insbesondere der Lektüre Platons und Kants, die zeit seines Lebens die für ihn bedeutendsten Philosophen bleiben sollten. Bei einem Besuch in Weimar riet ihm Wieland von der Philosophie ab. Schopenhauer entgegnete: »Das Leben ist eine mißliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit hinzubringen, über dasselbe nachzudenken.« (Gespr 22) Daraufhin änderte Wieland seine Einschätzung und empfahl ihm, doch bei der Philosophie zu bleiben. 1811 wechselte Schopenhauer an die neugegründete »Universität zu Berlin«, nicht zuletzt, um den auf dem Höhepunkt seines Ruhmes stehenden Johann Gottlieb Fichte zu hören, von dessen Vorlesungen (»Thatsachen des Bewußtseins« im Wintersemester 1811/12, »Wissenschaftslehre« im Sommersemester 1812) er jedoch so wenig angetan war, daß er sie immer wieder bissig kommentierte. Ferner nahm Schopenhauer an Vorlesungen der Philologen Boeckh und Wolf sowie von F. D. E. Schleiermacher teil. Dazu kamen gelegentliche Besuche an der Charité, an welcher der junge Philosoph zwei psychisch kranken Patienten regelmäßig Besuche abstattete, auf die seine späteren Überlegungen zum »Wahnsinn« aufbauen konnten. Insgesamt fühlte sich Schopenhauer in Berlin eher nur mäßig 14
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wohl. Davon zeugt, daß er die Stadt als »physisch und moralisch ein vermaledeites Nest« (GBr 338) beschrieb. Nichtsdestoweniger waren seine Überlegungen, die einige Jahre später in Die Welt als Wille und Vorstellung eine feste Gestalt annehmen sollten, so weit gediehen, daß er gegen Ende seines Aufenthaltes notieren konnte: »Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in Einem sein soll […]. Das Werk wächst, concrescirt allmählig und langsam wie das Kind im Mutterleibe« (HN I 55). Aufgrund der unsicheren militärischen Situation – nach der Schlacht von Lützen fühlte man sich in Berlin durch die napoleonischen Truppen bedroht – verließ Schopenhauer die Stadt im Mai 1813 in Richtung Weimar. Von dort zog er sich, um seine Dissertation zum Abschluß zu bringen, nach Rudolstadt zurück. Er reichte die Arbeit (Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde), in der er die erkenntnistheoretischen Grundlagen seines Ansatzes darlegt, an der Universität Jena ein und wurde dort im Oktober desselben Jahres in absentia mit der Note magna cum laude promoviert. In die Zeit, die Schopenhauer anschließend in Weimar verbrachte, fielen zwei wichtige Ereignisse: der Bruch mit der Mutter, der durch den Einzug des Freundes Müller von Gerstenbergk in deren Haus begünstigt wurde, sowie eine Reihe intensiver Begegnungen mit Goethe, in deren Mittelpunkt die Diskussion der Farbenlehre stand. Zwar waren sich beide Denker in der Ablehnung von Newtons einschlägiger Theorie einig, doch Schopenhauer betonte den subjektiven Aspekt der Wahrnehmung der Farben stärker als Goethe und versuchte, diesen von der Überlegenheit seines eigenen Ansatzes mit einiger Vehemenz zu überzeugen. Freilich ließ sich Goethe nicht belehren und brach den Austausch im Frühjahr 1814 ab. Er drückte seine Erfahrung mit dem jungen Philosophen wie folgt aus: »Trüge gern noch länger des Lehrers Bürden, wenn Schüler nur nicht gleich Lehrer würden.«1 Wenig später – im Jahr 1816 – veröffentlichte Schopenhauer seine Theorie unter dem Titel Ueber das Sehn und die Farben. Ebenfalls während des Aufenthalts in Weimar wurde er vom Orientalisten Majer erstmals auf die indische Philosophie – in Gestalt einer von Anquetil-Duperron angefertigten französischen Übersetzung einer persischen Übersetzung einer Auswahl von Texten aus den Upanischaden, die 1801/02 unter dem Titel Oupnekhat erschienen war – aufmerksam gemacht, die ähnlich großen Einfluß wie Platon und Kant auf ihn ausüben sollte: »Ich gestehe übrigens daß ich nicht glaube daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in des Menschen Geist werfen konnten.« (HN I 422) Im Mai 1814 zog Schopenhauer nach Dresden um. Dort verbrachte er in den folgenden Jahren die vielleicht glücklichste, sicher aber die produktivste Zeit seines Lebens, in der es ihm gelang, seinen eigenen metaphysischen Ansatz zu elaborieren und zur Niederschrift zu bringen. Lag seine Erkenntnistheorie bereits mit der Dissertation vor, so entstanden nun die Metaphysik der Natur, die Ästhetik 1
Johann Wolfgang v. Goethe. Gedichte. Vollständige Ausgabe. Stuttgart o. J., 467.
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und die Ethik, in deren Zentrum die Lehre vom Willen als dem Ding an sich steht. In dem des Sanskrit mächtigen K. C. F. Krause, der später vor allem in Spanien und Lateinamerika rezipiert werden sollte, fand Schopenhauer einen Gesprächspartner, mit dem er sich über das indische Denken austauschen konnte. Das im Entstehen begriffene Werk enthält nach Auffassung des Autors einen einzigen Gedanken: »Meine ganze Ph[ilosophie] läßt sich zusammenfassen in dem einen Ausdruck: die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens.« (HN I 462) Im Dezember 1818 wurde der – auf 1819 – vordatierte Text unter dem Titel Die Welt als Wille und Vorstellung bei Brockhaus veröffentlicht. Schon vorher war Schopenhauer zu einer Bildungsreise nach Italien aufgebrochen, die ihn unter anderem nach Venedig, Florenz, Rom und Neapel führen sollte. Als er sich im Juni 1819 in Mailand aufhielt, erreichte ihn die Nachricht von der Insolvenz des Danziger Bankiers Muhl, bei dem Mutter und Schwester ihr gesamtes Vermögen und er selbst ein Drittel des seinen angelegt hatten. Darauf kehrte er nach Deutschland zurück. Anders als seine Mutter und Schwester, die einen wenig günstigen Vergleich akzeptierten, gelang es ihm, sein Kapital vollständig zu erhalten. Als Schopenhauer es vom – inzwischen wieder zahlungsfähi gen – Muhl einforderte, konstatierte er diesem gegenüber: »Sie sehn, daß man wohl ein Philosoph seyn kann, ohne deshalb ein Narr zu seyn.« (GBr 69) Im gleichen Jahr faßte Schopenhauer den Entschluß, sich in Berlin zu habilitieren. Anläßlich der Probevorlesung im März 1820 kam es zu einem Disput mit Hegel, in dem Schopenhauer sachlich recht behielt. Freilich war seine Vorlesungs tätigkeit nicht von Erfolg gekrönt. Da er seine Veranstaltung zur gleichen Zeit wie Hegel abhielt, der sich gerade auf dem Gipfel seines Ruhmes befand, stellten sich im ersten Semester seiner Privatdozentur nur wenige Hörer und danach gar keine mehr bei ihm ein, so daß die angekündigten Vorlesungen nicht mehr stattfanden. Dazu kam, daß Die Welt als Wille und Vorstellung nicht die erhoffte Aufmerksamkeit hervorrief. Das Werk verkaufte sich mäßig, und die spärlichen Rezensionen fielen eher negativ aus. Anerkennend äußerte sich lediglich Jean Paul Friedrich Richter, als er das Werk 1824 besprach. Zum beruflichen Mißerfolg gesellten sich private Probleme. Schopenhauer hatte sich 1820 oder 1821 mit der Chorsängerin Caroline Richter liiert, die sich nach dem Vater ihres ersten Sohnes Medon nannte. Zwar hielt die Beziehung – mit Unterbrechungen – bis 1831, doch war sie von Krisen und Spannungen geprägt. So brachte Richter zehn Monate nach Schopenhauers Aufbruch zu einer zweiten Italienreise (1822–1823) einen Sohn zur Welt, der aus einer anderen Affäre hervorging und von Schopenhauer nicht akzeptiert wurde. Eine tatsächlich auf Schopenhauer zurückgehende Schwangerschaft Richters endete 1826 mit einer Fehlgeburt. Ein durch eine Begebenheit im Jahre 1821 ausgelöster Konflikt wirkte sich ebenfalls belastend aus. Schopenhauer hatte seine Nachbarin Caroline Marquet, die sich widerrechtlich im Vorraum seiner Wohnung aufhielt und sich weigerte, diesen zu verlassen, unter Einsatz physischer Kräfte zur Türe hinausbefördert. Dabei war sie zu Fall gekommen und hatte sich – nach eigener 16
Biographische Skizze
Aussage – mit bleibenden Folgen verletzt. Die von ihr angestrengte Klage führte nach einigem Hin und Her 1827 dazu, daß ihr Schopenhauer bis zu zum Lebensende ein Schmerzensgeld in Höhe von fünf Talern pro Monat entrichten mußte. Ihr Ableben (1841) kommentierte der Philosoph mit den Worten: »Obit anus, abit onus.«2 Auf der Rückreise aus Italien wurde Schopenhauer durch eine Krankheit gezwungen, ein Jahr – d. h. bis Mai 1824 – in München zu bleiben. Die von ihm beschriebenen Symptome deuten auf eine schwere, von psychosomatischen Beschwerden begleitete Depression hin. So notierte er: »Hämorrhoiden mit F istel, Gicht, Nervenübel succedirten sich […]: dabei ist das rechte Ohr ganz taub.« (GBr 92) Den darauffolgenden Winter verbrachte Schopenhauer in Dresden. Er hatte vor, eine Reihe fremdsprachiger Texte (Bruno: De la causa, principio et uno, Hume: Dialogues Concerning Natural Religion und The Natural History of Religion sowie Sterne: Tristram Shandy) ins Deutsche zu übertragen, doch diese Pläne zerschlugen sich letztlich. Eine Begegnung mit Ludwig Tieck endete mit einem Streit, dessen Gegenstand die Religion war. Schopenhauer hatte sich über Tieck mit den Worten »Was? Sie brauchen einen Gott?« (Gespr 53) lustig gemacht. Im Frühjahr 1825 traf der Philosoph wieder in Berlin ein und kündigte weiterhin, ohne ein Publikum für sich zu gewinnen, Vorlesungen an. Bemühungen, sich an anderen Universitäten (Würzburg, Heidelberg) zu etablieren, blieben ebenso erfolglos wie der Versuch, seine deutsche Übersetzung des Hand-Orakels von Baltasar Gracián bei Brockhaus zu veröffentlichen. Die einzige Übersetzung, die realisiert wurde und zur Publikation gelangte, war die seiner eigenen Abhandlung Ueber das Sehn und die Farben, die 1830 in lateinischer Sprache erschien. Begegnungen mit Alexander von Humboldt (1826) und Adelbert von Chamisso (um 1830) beeindruckten ihn wenig. Demgegenüber erwies sich die ebenfalls in dieses Jahrzehnt fallende Lektüre französischer Sensualisten wie Cabanis und Flourens insofern als nachhaltiger, als sie das Interesse des Philosophen – nach seinem Studium der Medizin – erneut auf anatomische und physiologische Fragestellungen lenkte und es verstärkte.3 Das sollte sich in späteren Publikationen wie Der Wille in der Natur (1836) und dem zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) niederschlagen. Während seines Aufenthalts in Berlin scheiterte Schopenhauer mit einem Heiratsantrag, den er einem deutlich jüngeren Mädchen, Flora Weiß, gemacht hatte. Als schließlich 1831 die Cholera an die Stadt heranrückte, brachte er sich in Sicherheit, indem er Berlin verließ und nach Frankfurt aufbrach, das als »cholerafest«4 galt. Damit endete auch die Beziehung zu Caroline Richter, die er gern mit2
Arthur Hübscher. »Arthur Schopenhauer. Ein Lebensbild.« In: Arthur Schopenhauer. Sämtliche Werke. Bd. I. Hg. v. Arthur Hübscher. Mannheim 1988, 96. 3 Auf das Werk von Bichat stieß Schopenhauer freilich erst 1838. 4 Hübscher (1988), 101.
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genommen hätte, aber eben nur unter der – für sie inakzeptablen – Bedingung, ihren Sohn in Berlin zurückzulassen. Nach seiner Ankunft in Frankfurt verfiel Schopenhauer in eine düstere Stimmung, die ihn zwei Monate lang hinderte, sein Quartier zu verlassen. Zweifel dar über, ob er sich am richtigen Ort niedergelassen hatte, bewogen ihn, im Juli 1832 nach Mannheim umzuziehen, wo er bis Juli 1833 blieb, um wieder in das größere und weltoffenere Frankfurt zurückzukehren, das er – mit Ausnahme einiger kürzerer Ausflüge – bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen sollte. Daß er sich dort letztlich doch wohlfühlte, geht daraus hervor, daß er die Stadt in einem an seinen französischen Jugendfreund Anthime gerichteten Brief als »le meilleur endroit de l’Allemagne« (GBr 158) beschrieb. Dort war er bald als zurückgezogen lebender Sonderling bekannt, der regelmäßig nachmittags mit seinem Pudel spazieren ging und dabei Selbstgespräche führte. Seine spärlichen sozialen Kontakte pflegte er am Mittagstisch des »Englischen Hofs«, der als das führende Lokal der Stadt galt. Schopenhauer gestaltete – ähnlich wie schon Kant – seinen Tagesablauf nach einem rigiden Muster: Morgens arbeitete er drei Stunden an seinen Texten, anschließend spielte er eine Stunde auf seiner Flöte und nahm daraufhin sein Mittagessen ein, auf das ein ausgedehnter Spaziergang mit dem Pudel folgte. Abends zog er sich zurück und las, oder aber er ging ins Konzert, die Oper oder das Theater. Die Anerkennung seiner philosophischen Anstrengungen ließ weiterhin auf sich warten. Zwar trug sich Schopenhauer eine Zeitlang mit dem Gedanken, eine erweiterte Auflage seines Hauptwerks zu veröffentlichen, doch gelangte dieser Plan nicht zur Ausführung. Statt dessen verfaßte er eine eigenständige Abhandlung, die Ergänzungen und Erweiterungen zum zweiten Teil von Die Welt als Wille und Vorstellung enthielt und 1836 unter dem Titel Ueber den Willen in der Natur erschien. Das Werk fand zunächst – wie schon die vorherigen – keine nennenswerte Beachtung. Erstmals erhielt Schopenhauer eine gewisse Anerkennung, als er 1837 den Professoren Schubert und Rosenkranz, die eine neue Ausgabe von Kants Werken vorbereiteten, den – von ihnen befolgten – Rat erteilte, die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1781) darin aufzunehmen, da sie die – im Vergleich zur zweiten – authentischere Gestalt des Buches sei. Die beiden Professoren zitierten in ihrem Vorwort ausgiebig aus dem Schreiben, in dem Schopenhauer seine Empfehlung ausgesprochen hatte. Auf diese Weise hatte sich dieser zumindest einen Namen als kompetenter Kenner der Kantischen Philosophie gemacht. In den Jahren 1837 und 1838 schrieben die Königlich Norwegische Societät der Wissenschaften und die Königlich Dänische Societät der Wissenschaften je eine Preisfrage zu wichtigen Problemen der praktischen Philosophie aus: zur Freiheit des menschlichen Willens sowie zur Grundlage der Moral. Schopenhauer nahm sich beider Themen an und verfaßte die Abhandlungen Ueber die Freiheit des menschlichen Willens sowie Ueber die Grundlage der Moral. Während die erste Preisschrift von der norwegischen Akademie gekrönt wurde, verweigerte die dänische Schopenhauer, der als einziger einen Text eingereicht hatte, den Preis, weil er angeblich 18
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das Thema verfehlt und sich abfällig über bedeutende zeitgenössische Denker geäußert habe. In der Tat hatte Schopenhauer für Fichte und Schelling wenig schmeichelhafte Worte gefunden und Hegel gar als »plumpe[n] geistlose[n] Charlatan« (E 187) verhöhnt. In seiner Replik auf das Urteil der dänischen Akademie bestritt Schopenhauer seinerseits energisch, daß es sich bei den Genannten um summi philosophi handle (vgl. E 17 ff.). Die beiden Abhandlungen erschienen 1841 unter dem Titel Die beiden Grundprobleme der Ethik. Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre traten mit Friedrich Dorguth (1776–1854) und Julius Frauenstädt (1813–1879) die beiden ersten Anhänger Schopenhauers in Erscheinung, die von diesem die Ehrentitel »Urevangelist« und »Erzevangelist« verliehen bekamen. In den Folgejahren arbeitete Schopenhauer am zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung, der im wesentlichen Ergänzungen und Erweiterungen zum ersten Band, oftmals in essayistischer Form, enthalten sollte. Eine ganze Reihe von Kapiteln war so konzipiert, daß sie als eigenständige Abhandlungen gelesen werden konnten, so z. B. die Kapitel 17 und 19 (»Ueber das metaphysische Bedürfnis des Menschen«, »Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn«) sowie das berühmte, mit »Metaphysik der Geschlechtsliebe« überschriebene Kapitel 44. Das Buch erschien 1844 und rief wiederum nur geringe Resonanz hervor. Der Absatz ließ zu wünschen übrig, die Anzahl der Rezensionen blieb überschaubar. Die 1847 erschienene zweite Auflage der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde war ähnlich erfolglos, sie verkaufte sich mäßig und wurde gar nicht rezensiert. Immerhin gewann Schopenhauer mit J ohann August Becker (1803–1881) und Adam von Doß (1820–1873) zwei weitere Anhänger, die sich für sein Denken einsetzten. Den revolutionären Ereignissen des Jahres 1848 brachte Schopenhauer keine Sympathie entgegen. Als überzeugter Befürworter der Monarchie verachtete er das sich erhebende, eine demokratische Staatsform anstrebende Volk als »Pack« und »souveräne Kanaille« (GBr 234). Mehr noch, er stellte österreichischen Soldaten, die sich anschickten, aus seiner Wohnung auf die Aufständischen zu schießen, sein Opernglas zur Verfügung, damit sie diese besser treffen konnten. Was den Philosophen vor allem beunruhigte, war die Vorstellung, er könne im Zuge der Revolution sein Vermögen verlieren. Es ist charakteristisch für seine politische Einstellung, daß er in seinem Testament den »Fonds zur Unterstützung der in den Aufruhr- und Empörungs-Kämpfen der Jahre 1848 & 1849 für die Aufrechterhaltung u. Herstellung der gesetzlichen Ordnung in Deutschland invalide gewordenen Preußischen Soldaten, wie auch der Hinterbliebenen solcher, die in jenen Kämpfen gefallen sind«5, als Universalerben einsetzte. 1850 beendete Schopenhauer die Arbeit an seinem letzten Werk, den Parerga und Paralipomena. Aufgrund der bescheidenen Verkaufszahlen der beiden Bände von Die Welt als Wille und Vorstellung lehnte es Brockhaus ab, das Buch 5
Hugo Busch. Das Testament Arthur Schopenhauers. Wiesbaden 1950, 67.
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zu veröffentlichen. Es erschien schließlich 1851 bei A. W. Hayn in Berlin. Wie schon im Titel anklingt, enthält es »Nebenwerke« und »Liegengelassenes«, also kleinere, oftmals in essayistischer Form abgefaßte Texte, die teils Ergänzungen des Hauptwerkes, teils eigenständige Untersuchungen zu verschiedenen – auch außerhalb der Philosophie angesiedelten Themen – darstellen. Besonders interessant darunter sind die »Aphorismen zur Lebensweisheit«, mit denen sich Schopenhauer in die Tradition der europäischen Moralistik einreiht, sowie der Dialog »Ueber Religion«, in dem er seine ambivalente Haltung gegenüber der Religion erläutert. Im Gegensatz zu den früheren Schriften richten sich die Parerga und Paralipomena weniger an ein akademisches als vielmehr an ein breiteres Publikum, das sie dann auch erreichten. Es erschienen mehrere Besprechungen des Buches, nicht zuletzt die umfangreiche Rezension von John Oxenford im Westminster and Foreign Quarterly Review (1852), welcher der Autor in der gleichen Zeitschrift ein Jahr später den – Schopenhauer rühmenden – Aufsatz »Iconoclasm in German Philosophy« folgen ließ. 1854 empfing Schopenhauer den Besuch von David Asher, der in der von Gutzkow herausgegebenen Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd über sein Gespräch mit dem Philosophen berichtete. In diesem Jahr schickte ihm Wagner »aus Verehrung und Dankbarkeit« einen Privatdruck des Rings des Nibelungen und lud ihn zu sich nach Zürich ein. Freilich folgte Schopenhauer der Einladung nicht, denn er hatte wenig Gefallen an dem Werk gefunden. Er bescheinigte dem Komponisten allenfalls dichterisches Talent, nicht aber musikalisches und beendete seine Ausführungen mit den Worten: »Ich, Schopenhauer, bleibe Rossini und Mozart treu!« (Gespr 200) 1856 schrieb die Universität Leipzig eine Preisaufgabe über Schopenhauer aus, und 1857 fanden erstmals Vorlesungen über sein Denken an Universitäten statt. Ebenfalls in diesem Jahr stattete Friedrich Hebbel dem Philosophen einen Besuch ab. Angesichts der Tatsache, daß sich im letzten Lebensjahr der lange ersehnte Ruhm eingestellt hatte, konnte Schopenhauer konstatieren: »Der Nil ist bei Kairo angelangt.«6 Aus der Anerkennung, die er nun erfuhr, resultierte eine Nachfrage nach seinen früheren Werken, so daß neue Auflagen erforderlich wurden, für die Schopenhauer zahlreiche Stellen überarbeitete. So erschien 1854 die zweite Auflage der Abhandlungen Ueber den Willen in der Natur sowie Ueber das Sehn und die Farben. 1859 wurde die dritte Auflage des Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung veröffentlicht, 1860 die zweite von Die beiden Grundprobleme der Ethik. Nach der Publikation der Parerga und Paralipomena hatte Schopenhauer kein neues Werk mehr begonnen, sondern seine Arbeitskraft ganz auf die Abfassung der Neuauflagen der genannten Schriften verwendet. Aufgrund seiner disziplinierten und gesunden Lebensweise, die reichliche Bewegung im Freien, regelmäßigen Schlaf sowie – bei geeignetem Wetter – Bäder im Main beinhaltete, erfreute sich Schopenhauer lange Zeit einer guten Gesundheit und wirkte auch in seinen letzten Lebensjahren ausgesprochen rüstig. Freilich 6
Hübscher (1988), 119.
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efielen ihn im April 1860 erstmals Atemnot und Herzklopfen. Die Beschwerden b traten in der Folgezeit erneut auf, so auch am 18. September, an dem er noch den Besuch seines Testamentsvollstreckers Gwinner empfing. Als in dem Gespräch die Rede auf den Tod kam, erklärte er seinem Gast gegenüber, wie dieser berichtete: »Daß seinen Leib nun bald die Würmer zernagen würden, sei ihm kein arger Gedanke: dagegen denke er mit Grauen daran, wie sein Geist unter den Händen der ›Philosophieprofessoren‹ zugerichtet werden würde.« (Gespr 394) Am Morgen des 21. September wurde Schopenhauer von seiner Haushälterin tot auf seinem Sofa vorgefunden. Ein Arzt gab als Todesursache einen »Lungenschlag« – in moderner Terminologie wohl eine Lungenembolie – an.
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Systematischer Abriß Genese und Struktur Schopenhauer zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, daß er bereits früh in seinem Leben seinem philosophischen Ansatz eine Struktur verleiht, an der er bis zu seinem Tod im großen und ganzen festhält. Diese tritt im ersten Band seines 1818 erscheinenden – auf 1819 vordatierten – Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung exemplarisch zutage und manifestiert sich darüber hinaus in der Gliederung der Philosophischen Vorlesungen sowie des zweiten, 1844 veröffentlichten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung. Vergleicht man die anderen Texte mit dem Hauptwerk, so kommt man zum Ergebnis, daß sie lediglich Vorarbeiten oder aber Ergänzungen zu Die Welt als Wille und Vorstellung darstellen. In der Vorrede zur ersten Auflage dieses Werkes konfrontiert Schopenhauer den Leser mit einer Forderung, die eng mit der erwähnten Struktur zusammenhängt, und zwar der einer doppelten Lektüre des Textes. Das sei dadurch bedingt, »daß der Anfang das Ende beinahe so sehr voraussetze, als das Ende den Anfang, und eben so jeder frühere Theil den spätern beinahe so sehr, als dieser jenen« (W I 8). Aufgrund dieser Eigentümlichkeit stuft Schopenhauer seinen Ansatz nicht etwa als System, sondern als Organismus ein. Während ersteres darin bestehe, daß jeder Gedanke von einem übergeordneten abhänge und von diesem abgeleitet werden könne, verhalte es sich bei letzterem so, daß »jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Theil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Theil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher verstanden sei« (W I 7 f.). Dabei ist Schopenhauer überzeugt, daß die verschiedenen Teile des Ansatzes letzten Endes »einen […] einzigen Gedanken« (W I 360) zum Ausdruck bringen, der sich im Titel des Hauptwerks andeutet und letztlich darauf hinausläuft, »daß diese Welt, in der wir leben und sind, ihrem ganzen Wesen nach, durch und durch Wille und zugleich durch und durch Vorstellung ist« (W I 215). Noch präziser ist die folgende – auf die Selbstentfaltung des Willens in seinen verschiedenen Stufen abzielende – Formulierung: »[D]ie Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens.« (W I 506) Sieht man von dem mit »Kritik der Kantischen Philosophie« betitelten Anhang des ersten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung ab, so gliedert sich dieser in vier Teile, denen vier philosophische Disziplinen entsprechen: Im ersten Teil entwickelt Schopenhauer seine Erkenntnistheorie, im zweiten eine Naturphilosophie bzw. Metaphysik der Natur, im dritten seine Ästhetik bzw. Metaphysik des 23
Systematischer Abriß
Schönen und im vierten seine Ethik bzw. Metaphysik der Sitten. Dabei verfolgt er im ersten und zweiten Teil das Ziel, die Welt in ihrem Ist-Bestand zu beschreiben, während er im dritten und vierten Teil versucht, Wege der Weltüberwindung aufzuzeigen. Das hat damit zu tun, daß sich die Welt – aus seiner pessimistischen Sicht – als etwas Negatives darbietet, an dem der Mensch leidet und das den Wunsch nach Erlösung aufkommen läßt. Grund des Leidens ist der Wille in seinem blinden, nicht zur Ruhe kommenden Drang, als den Schopenhauer das Ding an sich deutet (zweiter Teil), und die beiden Möglichkeiten der Erlösung, die er vorschlägt, sind die ästhetische Kontemplation (dritter Teil), in welcher der Wille vorübergehend, sowie die Resignation (vierter Teil), in welcher er dauerhafter aufgehoben werden kann. Ferner ist zu konstatieren, daß im ersten und dritten Teil der Vorstellung (abhängig bzw. unabhängig vom Satz vom Grunde), im zweiten und vierten hingegen dem Willen (in seinen Objektivationen bzw. als bejahter oder verneinter) ein relativer Vorrang zukommt. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer in den vier Teilen des Hauptwerks den Weg von der Erkenntnis des Willens hin zu einer – von dieser ermöglichten – Überwindung desselben beschreitet, so könnte man sagen, daß es auf eine Erlösungslehre oder – mit einem terminus technicus ausgedrückt – eine Soteriologie hinausläuft. Von Schopenhauers früheren Texten wurden zu seinen Lebzeiten lediglich zwei veröffentlicht. Es handelt sich um die Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, die 1813 in erster und 1847 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschien, sowie um die Abhandlung Ueber das Sehn und die Farben, die 1816 in erster Auflage, 1830 in einer lateinischen Fassung (Theoria colorum physiologica, eademque primaria) und schließlich 1854 in einer weiteren deutschen Auflage publiziert wurde. Während die Untersuchung über die Farben, wie der Verfasser in der Vorrede zur Auflage von 1854 selbst betont, »nur dem kleineren Theile nach der Philosophie, dem größern nach der Physiologie angehört« (F V, Sämtliche Werke, Bd. I), ist die Abhandlung über den Satz vom zureichenden Grunde von bleibender philosophischer Relevanz für ihn.1 In dieser Schrift entwickelt Schopenhauer wesentliche Gedanken seiner Erkenntnistheorie, wie sie auch später im Hauptwerk anzutreffen sind. Dabei geht es ihm nicht zuletzt um die Differenzierung zwischen vier Arten von Gründen, die apriorische Korrelation von Subjekt und Objekt, den transzendentalen Idealismus sowie die Frage nach der Kausalität. Man könnte geradezu sagen, daß die erkenntnistheoretischen Partien der ersten Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung im Vergleich zur Dissertation kaum entscheidend Neues bieten. Zwar äußert sich Schopenhauer im siebten Kapitel der Dissertation, welches dem Satz vom zureichenden Grunde des Handelns gewidmet ist, auch zu bestimmten Aspekten des Willens, doch behandelt er diesen im wesentlichen als empirisches Phänomen, das 1
Daher erstaunt es nicht weiter, daß Ueber das Sehn und die Farben nicht in die Zürcher Ausgabe aufgenommen wurde. Alle drei Fassungen sind freilich in den Sämtlichen Werken abgedruckt.
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heißt, er deutet ihn – anders als im Hauptwerk – keineswegs als Ding an sich.2 Mit anderen Worten, Schopenhauer ist in seinem Denken noch nicht bei seiner Metaphysik des Willens angelangt.3 Anderseits lassen beide Werke – die Dissertation sowie die Untersuchung Ueber das Sehn und die Farben – ein lebhaftes Interesse des Philosophen an physiologischen Fragen erkennen, das bisweilen so weit geht, daß sich transzendentalphilosophische und physiologische Erwägungen miteinander verbinden, ja ineinander übergehen.4 Schopenhauer war sich bereits 1813 im klaren darüber, daß er in seinem Denken verschiedene philosophische Disziplinen in eine Synthese einbringen werde: »Unter meinen Händen und vielmehr in meinem Geiste erwächst ein Werk, eine Philosophie, die Ethik und Metaphysik in Einem seyn soll, da man sie bisher trennte so fälschlich als den Menschen in Seele und Körper.« (HN I 55) Zwar hatte er sich bereits vor dem Erscheinen der Dissertation über diese Gebiete sowie das Verhältnis zwischen ihnen Gedanken gemacht, doch erst in den Jahren 1813 bis 1818, die er in Dresden verbrachte, verlieh er ihnen ihre endgültige Gestalt, wie sie im ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung dokumentiert ist. Während das 1836 erschienene Werk Ueber den Willen in der Natur eine – mit vielfältigen Beobachtungen aus dem Bereich der empirischen Wissenschaften angereicherte – Ergänzung des zweiten, der Metaphysik der Natur gewidmeten Teils des Hauptwerks ist, sind die beiden in den späten dreißiger Jahren verfaßten, 1841 in Die beiden Grundprobleme der Ethik veröffentlichten Preisschriften, wie im Titel anklingt, der Ethik bzw. der Metaphysik der Sitten gewidmet. Es handelt sich um die 1839 von der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften gekrönte Untersuchung Ueber die Freiheit des menschlichen Willens sowie die 1840 von der Königlich Dänischen Societät der Wissenschaften scharf kritisierte und zurückgewiesene Abhandlung Ueber die Grundlage der Moral. Beide Texte handeln von speziellen Problemen der Ethik, nämlich der Freiheit des Willens sowie dem Mitleid als Grundlage der Moral, und sind so abgefaßt, daß sie sich auch ohne Kenntnis des Hauptwerks dem Leser erschließen. Zwar bildet die Lehre vom Willen als dem Ding an sich den Hintergrund der beiden Texte, doch sie wird von Schopenhauer nicht eigens erläutert oder gar als bekannt vorausgesetzt, son2
In gewissem Sinne überschreitet Schopenhauer den Bereich der empirischen Wirklichkeit allerdings dadurch, daß er – inspiriert von Kant – dem empirischen Charakter des Menschen einen intelligiblen zur Seite stellt, den er aber nicht mit dem Ding an sich gleichsetzt. 3 Über die einzelnen Schritte der Ausarbeitung der Metaphysik des Willens in den Jahren 1813 bis 1818 berichtet Kamata. Vgl. Yasuo Kamata. Der junge Schopenhauer. Genese des Grundgedankens der Welt als Wille und Vorstellung. Freiburg / München 1988, 177 ff. – Ebenso legt Kamata in seinem Buch die Entwicklung dar, die Schopenhauer von den ersten Anfängen seines Philosophierens zur Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde durchläuft. 4 Diese Tendenz verstärkt sich später in der Abhandlung Ueber den Willen in der Natur (1836) sowie im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844).
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dern klingt lediglich am Ende der beiden Werke kurz an. Das für Schopenhauers Ansatz entscheidende Thema einer soteriologisch zu verstehenden Weltüberwindung wird hingegen in den beiden Preisschriften gänzlich ausgeblendet. Der zweite Band von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) gliedert sich – wie bereits der erste – in vier Teile, in denen Schopenhauer Ergänzungen und Vertiefungen zu den entsprechenden philosophischen Disziplinen präsentiert: zur Erkenntnistheorie, zur Metaphysik der Natur, zur Ästhetik sowie zur Ethik. Abgesehen davon, daß die Lehre vom Willen bzw. von dessen Primat sowie physiologische und psychologische Überlegungen – gerade im zweiten Teil des Werks – breiten Raum einnehmen, enthält dieser eine Reihe von Kapiteln, die wichtigen Aspekten von Schopenhauers Denken gewidmet sind und ohne weiteres auch ohne den Kontext des gesamten Ansatzes gelesen werden können. In diesem Zusammenhang wäre zunächst das siebzehnte, mit »Ueber das metaphysische Bedürfnis des Menschen« überschriebene Kapitel zu nennen, in dem Schopenhauer seine Konzeption von der Aufgabe sowie der Methode der Philosophie ausführlich erläutert. Dazu kommen das zweiunddreißigste (»Ueber den Wahnsinn«) und das vierundvierzigste Kapitel (»Metaphysik der Geschlechtsliebe«), die wesentliche Einsichten der Freudschen Psychoanalyse vorwegnehmen. Demgegenüber bieten sich die beiden Bände der Parerga und Paralipomena (1851), denen Schopenhauer seinen späten Ruhm verdankt, recht heterogen dar. Wie schon der Titel erkennen läßt, enthalten sie »Nebenwerke« und »Liegen gelassenes«, ohne sich dabei an der Struktur des Hauptwerks zu orientieren. Das gilt insbesondere für den ersten Band, der neben verstreuten Betrachtungen zur Geschichte der Philosophie, der von Schopenhauer zutiefst verachteten »Universitäts-Philosophie« sowie zur Parapsychologie die – unabhängig vom metaphysischen Ansatz des restlichen Werks – für sich selbst bestehenden »Aphorismen zur Lebensweisheit« enthält, die in der Tradition der europäischen Moralistik stehen und darlegen, wie das Leben nicht etwa unter metaphysischem, sondern unter empirischem Gesichtspunkt zu gestalten sei. Was den zweiten Band anbelangt, so konstatiert Schopenhauer zu Recht, daß er »[v]ereinzelte, jedoch systematisch geordnete Gedanken über vielerlei Gegenstände« (P II 7) zum Inhalt habe. Manche von ihnen stehen in enger, manche in weniger enger Beziehung zu seinen genuin philosophischen Überlegungen. Zu ersteren zählt sicherlich der ausführliche Dialog »Ueber Religion«, der Schopenhauers ambivalente Haltung gegenüber diesem Phänomen treffend zum Ausdruck bringt, zu letzteren etwa die berüchtigten, von ausgeprägter Misogynie zeugenden Bemerkungen »Ueber die Weiber«. Insgesamt fügen die Parerga und Paralipomena – mit Ausnahme der »Aphorismen zur Lebensweisheit« – kaum entscheidend Neues hinzu, sondern stellen allenfalls Ergänzungen und punktuelle Erweiterungen dar. Ähnliches gilt auch für spätere Auflagen, die einige der Werke zu Lebzeiten des Philosophen erlebt haben. Das sind im wesentlichen die zweite Auflage der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1847), die zweite und dritte Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844 26
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und 1859), die zweite Auflage von Ueber den Willen in der Natur (1854) sowie die zweite Auflage von Die beiden Grundprobleme der Ethik (1860). So interessant die einen oder anderen Zusätze im Detail erscheinen mögen, so wenig fügen sie dem Ansatz als ganzem Entscheidendes hinzu.5 Sie dürften allenfalls für Schopenhauer-Philologen, kaum aber für philosophisch ambitionierte Leser ins Gewicht fallen. Von den posthum erschienenen Schriften sind vor allem die – in den Jahren 1819 und 1820 entstandenen – vier Bände der Philosophischen Vorlesungen sowie der Handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden philosophisch relevant. Was die ersteren anbelangt, so lehnen sie sich eng an die Gliederung des Hauptwerks an und enthalten im Verhältnis zu diesem zahlreiche Ergänzungen und Präzisierungen. Während sich der zweite, dritte und vierte Band an den entsprechenden Abschnitten von Die Welt als Wille und Vorstellung orientieren, geht der erste (Theorie des gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens) erheblich über das erste Buch des Hauptwerks hinaus. Das zeigt sich nicht zuletzt in den äußerst detaillierten Ausführungen zur Logik sowie zur Wissenschaft. Demgegenüber ist der Handschriftliche Nachlaß für das Verständnis der Entstehung von Schopenhauers Ansatz von größter Wichtigkeit. Das gilt insbesondere für die beiden ersten Bände (Frühe Manuskripte [1804–1818] und Kritische Auseinandersetzungen [1809–1818]), welche die Entwicklung von den ersten Anfängen bis hin zur Dissertation und – im Anschluß daran – zu Die Welt als Wille und Vorstellung, aber auch die Rezeption anderer Denker (z. B. Kant, Fichte, Schelling) durch Schopenhauer ausführlich und durchaus eindrucksvoll dokumentieren. Vorwiegend erläuternden Charakters sind hingegen die Manuskripte, die nach der Veröffentlichung des ersten Bandes des Hauptwerks entstanden sind.6 Darunter befinden sich eine Reihe lesenswerter Texte, die sich auch ohne den Zusammenhang des Hauptwerks erschließen, so die »Eristische Dialektik« (HN III 666 ff.), die glänzende Polemik »Ueber die, seit einigen Jahren, methodisch betriebene Verhunzung der deutschen Sprache« (HN IV/2 36 ff.) sowie die Übersetzung von Baltasar Graciáns Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit (HN IV/2 131 ff.). 5
Die hinzugefügten und weggelassenen Stellen sind in den von A. Hübscher edierten Sämtlichen Werken dokumentiert. Freilich stellen diese insofern keine Ausgabe letzter Hand dar, als der Herausgeber zahlreiche Entwürfe, die Schopenhauer auf zwischen den Seiten der Handexemplare seiner Werke eingeschossenen Blättern notiert hatte, in diese integrierte, ohne zu wissen, wie ernst sie dieser letztlich gemeint hatte. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich verdienstvoll, daß Ludger Lütkehaus bei Haffmanns eine Ausgabe letzter Hand veröffentlicht hat: Arthur Schopenhauer. Werke in fünf Bänden. Hg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. – Besonders deutlich wird das Ausmaß von Hübschers editorischen Eingriffen bei den Parerga und Paralipomena, die in der Haffmanns-Ausgabe erheblich kürzer als in den Sämtlichen Werken ausfallen. 6 Die ab 1830 entstandenen Texte wurden, wie Hübscher in der Einleitung zum vierten Band feststellt, aufgrund knapper Finanzen nicht mehr vollständig, sondern lediglich selektiv veröffentlicht. Vgl. HN IV/1, VII.
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Das »bessere Bewußtsein« In seinen frühen, von 1812 bis 1814 entstandenen Manuskripten entwickelt Schopenhauer einen Ansatz, in dessen Zentrum der Begriff des »besseren Bewußtseins« steht. Dabei lehnt sich der Philosoph terminologisch an Fichte an, in dessen Vorlesung er im Herbst 1811 den Begriff des »höheren Bewußtseyns« (HN II 70) kennengelernt hat, welchem das »niedre«, empirische Bewußtsein entgegengesetzt sei. Beide sind – laut Schopenhauer – in der »Identität Eines Ichs verknüpft« (HN I 68). Der beschriebenen erkenntnistheoretischen Dichotomie entspricht eine ontologische Zweiweltenlehre, wie sie Schopenhauer von Platon (empirische Wirklichkeit / Ideen) sowie von Kant (mundus sensibilis / mundus intelligibilis) her kennt. Man könnte also sagen, daß Schopenhauer der »Duplicität des Bewußtseyns« (HN I 68 u. 136 f.) eine »Duplicität [des] Seyns« (HN II 329) zur Seite stellt. Entscheidend ist nun, daß diese Konstellation nicht nur erkenntnistheoretisch und ontologisch bedeutsam ist, sondern daß sie aufs engste mit dem soteriologischen, auf die Erlösung des Menschen abzielenden Grundanliegen von Schopenhauers Denken zusammenhängt, das bereits in einem früheren, 1808 oder 1809 niedergeschriebenem Aphorismus zum Ausdruck kommt: »Alle Philosophie und aller Trost, den sie gewährt, läuft darauf hinaus, daß eine Geisterwelt ist und daß wir in derselben, von allen Erscheinungen der Außenwelt getrennt, ihnen von einem erhabenen Sitz mit größter Ruhe ohne Theilnahme zusehen können, wenn unser der Körperwelt gehörender Theil auch noch so sehr darin herumgerissen wird.« (HN I 7 f.) Daß der Mensch der Erlösung bedarf, liegt – nach Schopenhauer – daran, daß die empirische Wirklichkeit im wesentlichen von Negativität geprägt sei bzw. etwas darstelle, »was nach dem Ausspruch unsers bessern Bewußtseyns nicht seyn sollte« (HN I 41), während die höhere Wirklichkeit positiv zu bewerten sei, ja dem Menschen die Erfahrung der »Seeligkeit« (HN I 79, 104 u. 167) ermögliche. Daraus ergibt sich für Schopenhauer, daß das Ziel des menschlichen Lebens in der Überwindung der empirischen Wirklichkeit im Zuge des Eintritts in das bessere Bewußtsein besteht: »Zum Lichte, zur Tugend, zum heiligen Geiste, zum bessern Bewußtseyn – müssen wir Alle: das ist der Einklang, der ewige Grundton der Schöpfung.« (HN I 90) Wie später in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung unterscheidet Schopenhauer zwischen zwei Wegen, auf welchen sich der Mensch von der empirischen Wirklichkeit lösen und in den Bereich des »besseren Bewußtseins« eindringen kann, einem ästhetischen und einem ethischen: »Im Moralischen spricht sich das bessre Bewußtseyn aus, das hoch über alle Vernunft liegt, sich im Handeln als Heiligkeit äußert, und die wahre Welterlösung ist: dasselbe äußert sich, zum Trost für die Zeitlichkeit, in der Kunst als Genie.« (HN I 44) Entscheidend für beide Weisen der Weltüberwindung ist, daß der Mensch nicht einfach nur einen kognitiven Schritt vollzieht, sondern daß er mit der empirischen Wirklichkeit das, was sie eigentlich ausmache, nämlich das »Leben« (HN I 85, 87 u. 104 f.) 28
Das »bessere Bewußtsein«
bzw. das »Lebenwollen« (HN I 91 u. 105) verneint. Dies aber läuft letzten Endes auf Askese hinaus: »Asketik […] ist Negation des zeitlichen Bewußtseins: und Hedonik seine Affirmation.« (HN I 69; vgl. a. HN I 39 u. 52) Mit anderen Worten, Schopenhauer charakterisiert bereits in seiner frühen Philosophie die Erlösung als »Befreiung vom Wollen […] durch die bessre Erkenntniß« (HN I 120). Dem »wahre[n], vollkommne[n], reine[n] Kriticismus« (HN II 356; vgl. a. HN II 360), den Schopenhauer in Anschluß an Kant – und in Abgrenzung gegen Fichte und Schelling – errichten will, weist er die Aufgabe zu, die beiden Arten des Bewußtseins bzw. die ihnen korrespondierenden Bereiche der Wirklichkeit »immer vollständiger […] zu trennen« (ebd.). Während sich das empirische Bewußtsein auf die raum-zeitliche, dem Korrelationsapriori von Subjekt und Objekt unterworfene Wirklichkeit bezieht, läßt sich das bessere Bewußtsein nicht positiv, sondern lediglich negativ beschreiben: »Will es bessres Bewußtseyn seyn so können wir positiv von ihm nichts weiter sagen, denn unser Sagen liegt im Gebiet der Vernunft; wir können also nur sagen was auf diesem vorgeht, wodurch wir von dem bessern Bewußtseyn nur negativ sprechen.« (HN I 23) Während das empirische Bewußtsein durch Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft sowie die Relation von Subjekt und Objekt bestimmt sei, treffe dies auf das bessere Bewußtsein nicht zu. Insbesondere macht Schopenhauer geltend, daß letzteres nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit angehört (vgl. HN I 67 u. 85), daß es nicht der Kausalität unterworfen ist (vgl. HN I 67 sowie HN II 326 u. 329) und daß es darin keinen Gegensatz von Subjekt und Objekt gibt (vgl. HN I 67, 137, 151 u. 167). Damit aber kommt dem besseren Bewußtsein keine kognitive Funktion im herkömmlichen Sinne zu: »[D]as bessre Bewußtsein denkt und erkennt nicht, da es jenseit des Subjekts und Objekts liegt« (HN I 67). Es liegt auf der Hand, daß sich Schopenhauer auf diese Weise der Mystik nähert, mit der er gut vertraut ist und die er durchaus schätzt.7 Vergegenwärtigt man sich, daß das bessere Bewußtsein außerhalb des Bereichs der menschlichen Erkenntnis liegt, so ist es, wie Schopenhauer hervorhebt, nicht statthaft, das empirische Bewußtsein von ihm herzuleiten: »Die Frage ist tran scendent und diese Relation ist ein transcendentaler Schein.« (HN I 67) Unter der Voraussetzung, daß sich das bessere Bewußtsein »jenseits aller Erfahrung also aller Vernunft« (HN I 23) befindet, ist keine der Aussagen, die Schopenhauer darüber macht, wörtlich zu nehmen. Das gilt für Thesen wie jene, daß das empirische Bewußtsein im Vergleich zum besseren einer Täuschung (vgl. HN I 104) verhaftet ist oder daß die Überwindung derselben auf die Erlösung des Menschen hinausläuft. Von daher wird auch verständlich, daß Schopenhauer die Versuche eines Fichte oder Schelling, die metaphysische Wirklichkeit gegenständlich zu erfassen, immer wieder scharf kritisiert.8 Das hindert Schopenhauer freilich nicht daran, vom Philosophen und vom Heiligen zu fordern, 7
Vgl. a. Urs App. Schopenhauers Kompass. Die Geburt seiner Philosophie. Rorschach / Kyoto, 2011, 59 f. 8 Vgl. a. App (2011), 58 ff.
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das bessere Bewußtsein angemessen zu bestimmen: »Der vollkommne Philosoph stellt theoretisch das bessre Bewußtseyn rein dar, indem er es genau und gänzlich vom empirischen sondert. Der Heilige thut dasselbe praktisch. Beiden ist es karakteristisches Merkmal ihrer Vollkommenheit, daß sie keinen Theil des empirischen Bewußtseyns schonen, unter welcher Gestalt er auch erscheinen mag.« (HN I 149) Es kann festgestellt werden, daß Schopenhauer in seiner »Philosophie des bessern Bewußtseins« mit seinem soteriologischen Grundanliegen, der Zweiweltenlehre, die ihm zugrunde liegt, sowie mit der Annahme, die Erlösung könne auf ethischem oder asketischem Weg erreicht werden, wesentliche Gedanken seines späteren Ansatzes vorwegnimmt. Was hingegen den Begriff des Willens anbelangt, so tritt dieser zwar gelegentlich auf, nimmt aber noch keine zentrale Stellung ein. Immerhin sieht Schopenhauer den Willen nicht nur im Menschen, sondern auch in der Natur wirken (vgl. HN I 91), und er macht geltend, daß der Übergang vom empirischen Bewußtsein zum besseren durch den Willen – und nicht die Vernunft – ermöglicht wird. In diesem Sinne stellt er fest: »[U]m das ungeheuer Schwere, Unmögliche zu vollenden, braucht man nur zu wollen, aber wollen muß man.« (HN I 54) Von der metaphysischen Deutung des Willens als Ding an sich sind diese Überlegungen allerdings noch ein gutes Stück entfernt.
Erkenntnistheorie Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer das Anliegen verfolgt, den »ächten« oder »wahren Kriticismus« (HN I 20, 24, 37, 126 u. 151) zu errichten, überrascht es nicht, daß er die Erkenntnistheorie an den Anfang der Darstellung seines Ansatzes stellt. Das liegt daran, daß er es für erforderlich hält, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zu klären, bevor er sich der Metaphysik – sei es der Natur, des Schönen oder der Sitten – zuwendet. Er erläutert seine einschlägigen Überlegungen zunächst in seiner Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde und später nochmals im jeweils ersten Teil der beiden Bände von Die Welt als Wille und Vorstellung sowie seiner Philosophischen Vorlesungen. Vor diesem Hintergrund könnte man die Dissertation durchaus als »›Propädeutik‹ zum Hauptwerk« betrachten.9 Schopenhauers erkenntnistheoretischer Ansatz bietet sich insofern als recht komplex dar, als er transzendentale und anthropologische – d. h. physiologische und psychologische – Ausführungen enthält, die nicht immer klar voneinander geschieden werden, sondern gelegentlich ineinander übergehen. Schopenhauer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer subjektiven und einer objekti9
Rudolf Malter. Der eine Gedanke. Hinführung zur Philosophie Arthur Schopenhauers. Darmstadt 1988, 13.
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ven »Betrachtungsweise des Intellekts« (W II 318). So betont er, daß man »nicht bloß […] vom Intellekt zur Erkenntniß der Welt gehn [muß], sondern auch […] von der als vorhanden genommenen Welt zum Intellekt. Dann wird diese, im weitern Sinn, physiologische Betrachtung die Ergänzung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, richtiger transscendentalen.« (W II 339) Aufgabe der transzendentalen Untersuchung der Erkenntnis ist es, die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit derselben zu beschreiben. Die beiden grundlegendsten dieser Bedingungen sind die apriorische Korrelation von Subjekt und Objekt sowie der Satz vom zureichenden Grunde, die ihrerseits eng miteinander zusammenhängen und für die gesamte Welt als Vorstellung gelten. Was den letzteren anbelangt, so wurde dieser, wie Schopenhauer ausführt, von Leibniz als »Hauptgrundsatz aller Erkenntniß und Wissenschaft förmlich aufgestellt« (G 31) und von Wolff in einem wesentlichen Punkt, nämlich der Unterscheidung zwischen Seins- und Erkenntnisgrund, ausdifferenziert. Schopenhauer schließt sich der auf Wolff zurückgehenden Formulierung des Satzes an: »Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit.« (G 17) Der Satz vom Grunde zeichnet sich – laut Schopenhauer – dadurch vor anderen Prinzipien aus, daß er sich nicht beweisen oder erklären läßt. Dabei versteht er unter einem Beweis oder einer Erklärung ein deduktives Verfahren, mit dessen Hilfe ein Satz oder ein Sachverhalt von einem anderen Satz oder Sachverhalt hergeleitet wird. Nun aber beinhaltet der Satz vom Grunde, daß sich alle Sätze oder Sachverhalte auf andere zurückführen lassen, so daß er das oberste Prinzip allen Beweisens oder Erklärens darstellt, das auf einer anderen, höheren Ebene angesiedelt ist und – als oberstes Prinzip – nicht von Prinzipien, die ihm nochmals übergeordnet wären, abgeleitet werden kann: »Denn jeder Beweis ist die Zurückführung des Zweifelhaften auf ein Anerkanntes, und wenn wir von diesem, was es auch sei, immer wieder einen Beweis fordern, so werden wir zuletzt auf gewisse Sätze gerathen, welche die Formen und Gesetze, und daher die Bedingungen alles Denkens und Erkennens ausdrücken, aus deren Anwendung mithin alles Denken und Erkennen besteht; so daß Gewißheit nichts weiter ist, als Uebereinstimmung mit ihnen, folglich ihre eigene Gewißheit nicht wieder aus andern Sätzen erhellen kann.« (G 38) Freilich bedeutet dies nicht, daß Schopenhauer über keine Argumente verfügt, um den Satz vom Grunde zu verteidigen, sondern es besagt lediglich, daß eine deduktive Herleitung – also eine Herleitung aus anderen Sätzen – zum Scheitern verurteilt ist. Vielmehr ist Schopenhauer überzeugt, daß der Satz vom Grunde deshalb wahr ist, weil er bei jeder Begründung vorausgesetzt wird, sogar dann, wenn man die Frage nach der Begründung des Satzes überhaupt erst aufwirft: »Wer nun einen Beweis, d. i. die Darlegung eines Grundes, für ihn fordert, setzt ihn eben hiedurch schon als wahr voraus, ja, stützt seine Forderung eben auf diese Voraussetzung. Er geräth also in diesen Cirkel, daß er einen Beweis der Berechtigung, einen Beweis zu fordern, fordert.« (G 38) Ist im Titel von Schopenhauers Dissertation von einer »vierfache[n] Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde« die Rede, so ist damit gemeint, daß sich 31
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dieses eine Prinzip in vier unterschiedliche Gestalten aufgliedert, je nachdem auf welche Art von Vorstellungen es sich gerade bezieht. All diesen Formen ist die folgende, von Schopenhauer als die »Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund« (G 41) bezeichnete Struktur gemeinsam, die sowohl das Verhältnis von Subjekt und Objekt wie auch das Verhältnis der Objekte zueinander betrifft: »Unser erkennendes Bewußtseyn, als äußere und innere Sinnlichkeit (Receptivität), Verstand und Vernunft auftretend, zerfällt in Subjekt und Objekt, und enthält nichts außerdem. Objekt für das Subjekt seyn, und unsere Vorstellung seyn, ist das Selbe. Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen. Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen unter einander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehn, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grund, in seiner Allgemeinheit, ausdrückt.« (G 41) Damit geht Schopenhauer zunächst von einer apriorischen Korrelation von Subjekt und Objekt aus, wie das auch schon Reinhold und Fichte getan hatten, und er setzt darüber hinaus Objekt und Vorstellung gleich, nimmt also, ohne dies zunächst näher zu begründen, eine idealistische Position ein. Was aber die Objekte bzw. Vorstellungen anbelangt, so ist er davon überzeugt, daß keines von ihnen isoliert bestehen könne, sondern daß ein jedes nach dem Satz vom zureichenden Grunde durch andere, derselben Klasse von Objekten bzw. Vorstellungen angehörende, bedingt sei. Angesichts der Identifizierung der Objekte mit Vorstellungen erstaunt es keineswegs, daß der Satz vom zureichenden Grunde lediglich für diese, nicht jedoch für das Ding an sich gilt. Deshalb stellt Schopenhauer fest: »Nun ist aber der Satz vom Grunde in allen seinen Gestalten a priori, wurzelt also in unserm Intellekt: daher darf er nicht auf das Ganze aller daseienden Dinge, die Welt, mit Einschluß dieses Intellekts, in welchem sie dasteht, angewandt werden. Denn eine solche, vermöge apriorischer Formen sich darstellende Welt ist eben deshalb bloße Erscheinung: was daher nur in Folge eben dieser Formen von ihr gilt, findet keine Anwendung auf sie selbst, d. h. auf das in ihr sich darstellende Ding an sich.« (G 175) Vergegenwärtigt man sich, daß sich der Satz vom Grunde auf die Relationen zwischen den Objekten bzw. Vorstellungen bezieht, so kann man nachvollziehen, daß schließlich auch das Subjekt, dem sie gegeben sind, sowie die Beziehung, in der es zu den Objekten steht, nicht unter ihn fallen. Deshalb weist Schopenhauer das Ansinnen zurück, das Subjekt vom Objekt oder das Objekt vom Subjekt nach dem Satz vom Grund abzuleiten: »Der Realismus setzt das Objekt als Ursache, und deren Wirkung ins Subjekt. Der Fichte’sche Idealismus macht das Objekt zur Wirkung des Subjekts. Weil nun aber, was nicht genug eingeschärft werden kann, zwischen Subjekt und Objekt gar kein Verhältniß nach dem Satz vom Grunde Statt findet; so konnte auch weder die eine, noch die andere der beiden Behauptungen je bewiesen werden, und der Skepticismus machte auf beide siegreiche Angriffe.« (W I 41) 32
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Schopenhauer unterscheidet zwischen vier Klassen von Objekten bzw. Vorstellungen, die jeweils unter eine eigene Gestalt des Satzes vom zureichenden Grunde fallen. Dies sind die anschaulichen, vollständigen, empirischen Vorstellungen bzw. Objekte, die abstrakten Vorstellungen bzw. Begriffe, die formalen Vorstellungen bzw. die apriorischen Anschauungen des Raumes und der Zeit sowie das Subjekt des Wollens oder – präziser formuliert – die affektiven, emotionalen und volitionalen Erlebnisse desselben. Diesen vier Klassen der Vorstellungen entsprechen der Satz vom zureichenden Grunde des Werdens, des Erkennens, des Seins und des Handelns. Hat die Erkenntnis lediglich Vorstellungen zum Gegenstand, nicht aber dasjenige, was jenseits der Vorstellung angesiedelt ist, so kann Schopenhauer von der »Immanenz unserer […] Erkenntniß« (W II 715) bzw. ihrer Untauglichkeit »zum transscendenten Gebrauch« (W II 338) sprechen. Mit dieser Festlegung tritt Schopenhauer für einen – auf Kant zurückgehenden – erkenntnistheoretischen Ansatz ein, der unter dem Namen »transzendentaler Idealismus« bekannt geworden ist. Inhaltlich läuft der transzendentale Idea lismus darauf hinaus, daß sich die Erkenntnis nicht etwa auf vorstellungsunabhängige Dinge an sich, sondern auf Erscheinungen bzw. Vorstellungen bezieht und daß ihre Gegenstände sowie deren apriorische Eigenschaften (Raum, Zeit, kategoriale Bestimmungen) ebenfalls Erscheinungen bzw. Vorstellungen sowie Eigen schaften derselben sind. Freilich grenzt Schopenhauer den transzendentalen Idealismus gegen den – z. B. von Berkeley vertretenen – »absoluten Idealismus« (W II 554) ab, der mit seiner These, die gesamte Wirklichkeit erschöpfe sich in Vorstellungen, einem »theoretischen Egoismus« gleichkomme: »Das angeschaute Objekt aber muß etwas an sich selbst seyn und nicht bloß etwas für Andere: denn sonst wäre es schlechthin nur Vorstellung, und wir hätten einen absoluten Idealismus, der am Ende theoretischer Egoismus würde, bei welchem alle Realität wegfällt und die Welt zum bloßen subjektiven Phantasma wird.« (W II 226) Was den transzendentalen Idealismus vom »absoluten Idealismus« unterscheidet, ist die Annahme der Existenz eines Dinges an sich. Darüber hinaus betont Schopenhauer im Einklang mit Kant, daß der transzendentale Idealismus mit einem empirischen Realismus einhergehe. Dies bedeutet, daß sich die Gegenstände der Erkenntnis – trotz ihrer Idealität – nicht etwa als »Lüge« oder »Schein« (W I 43), sondern als empirisch real darbieten. Vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus leuchtet ein, daß Kant und Schopenhauer die empirische Realität im Bereich der Erscheinung bzw. Vorstellung ansiedeln: »Der transscendentale Idealismus macht inzwischen der vorliegenden Welt ihre empirische Realität durchaus nicht streitig, sondern besagt nur, daß diese keine unbedingte sei […]; daß mithin diese empirische Realität selbst nur die Realität einer Erscheinung sei.« (P I 99)10 Innerhalb 10
Die entgegengesetzte Position ließe sich – mit Kant – als »empirischer Idealismus« bezeichnen. Sie beinhaltet, daß sich innerhalb des Bereichs der Erscheinung keine Unterscheidung zwischen bloß Subjektivem einerseits und Objektivem anderseits treffen läßt, so daß alle empirische Realität bloß subjektiv wäre. Vgl. Immanuel Kant. Kritik der reinen
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dieses Bereichs siedelt Schopenhauer dann auch den Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Vorstellungen an, also zwischen Phantasmen und Träumen auf der einen Seite und Vorstellungen von empirisch Realem auf der anderen, ohne freilich ein Kriterium angeben zu können, das es in jedem einzelnen Fall gestatten würde, beides auseinanderzuhalten.11 Zwar ist er sich darüber im klaren, daß sich die empirische Wirklichkeit tendenziell durch ein höheres Maß an Kohärenz auszeichnet als der Traum und daß zwischen beiden Bereichen in der Regel eine Kluft besteht, aber nichtsdestoweniger gibt er zu bedenken: »[W] enn nun aber […] der kausale Zusammenhang mit der Gegenwart, oder dessen Abwesenheit, schlechterdings nicht auszumitteln ist, so muß es auf immer unentschieden bleiben, ob ein Vorfall geträumt oder g eschehn sei.« (W I 45) Versichert Schopenhauer bei anderer Gelegenheit, der transzendentale Idealismus beinhalte, daß die empirische Wirklichkeit in gewisser Hinsicht einem Traum gleiche (W I 45 ff.), so ist darin kein Widerspruch zu seiner Konzeption des empirischen Realismus zu erblicken. Während der empirische Realismus innerhalb der Welt als Vorstellung angesiedelt ist und dort allein die Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Vorstellung stattfindet, stellt die Rede von der »traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt« (W I 516) das Resultat einer vom Standpunkt der Welt als Wille durchgeführten metaphysischen, über die Welt als Vorstellung hinausgehenden Reflexion dar. Solch eine Deutung des transzendentalen Idealismus geht natürlich über Kant hinaus und reiht sich eher in die Tradition des indischen Denkens ein. Während letzterer diese Lehre in der transzendentalen Ästhetik – also im Ausgang von den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit – zu begründen versucht, glaubt Schopenhauer, dieses Ziel auf einem einfacheren, von Berkeley gebahnten Weg erreichen zu können: »Es ist allerdings auffallend, daß er [Kant] jene bloß relative Existenz der Erscheinung nicht aus der einfachen, so nahe liegenden, unleugbaren Wahrheit ›Kein Objekt ohne Subjekt‹ ableitete, um so, schon an der Wurzel, das Objekt, weil es durchaus immer nur in Beziehung auf ein Subjekt daist, als von diesem abhängig, durch dieses bedingt und daher als bloße Erscheinung, die nicht an sich, nicht unbedingt existirt, darzustellen.« (W I 533)12 Schopenhauer geht von der korrekten Beobachtung aus, daß die Erkenntnis von einer subjektiven Bedingung abhängt, nämlich davon, daß etwas als Objekt vorgestellt wird. Daraus folgert er anscheinend, was erkannt werde, sei nicht etwa ein vorstellungsabhängiges Ding, sondern nur die Vorstellung bzw. ihr objektiver Gehalt. Anders ausgedrückt: »Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als dies, daß Alles, was für Vernunft. In: Werkausgabe III / IV. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968 (im folgenden: KrV), A 376 f. u. A 491 / B 520. 11 Vgl. W I 44 f. 12 In seinen erkenntnistheoretischen Vorlesungen lehnt sich Schopenhauer hingegen eng an Kants transzendentale Ästhetik an. Vgl. Vo I, 132 ff., 141 ff. und 150 ff.
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die Erkenntnis daist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung.« (W I 29) Umgekehrt hält Schopenhauer den Gedanken, es gebe vorstellungsunabhängige Objekte, für »falsch« und »absurd« (W II 11), ja er glaubt, daß er sich »nicht einmal denken läßt« (W II 16). Freilich ist solch ein Schluß von der Subjektivität einer Bedingung der Erkenntnis auf die Subjektivität des Erkannten alles andere als zwingend. Es scheint vielmehr, als liege damit ein nachgerade klassisches non sequitur vor. Im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung führt Schopenhauer weitere Argumente zugunsten des transzendentalen Idealismus an. Eines davon lautet, das Subjekt könne sich nur deshalb in der Welt orientieren, weil diese mit seinen Vorstellungen koinzidiere: »Daß wir nämlich so tief eingesenkt sind in Zeit, Raum, Kausalität und den ganzen darauf beruhenden gesetzmäßigen Hergang der Erfahrung, daß wir […] darin so vollkommen zu Hause sind und uns von Anfang an darin zurecht zu finden wissen, – Dies wäre nicht möglich, wenn unser Intellekt Eines und die Dinge ein Anderes wären; sondern ist nur daraus erklärlich, daß Beide ein Ganzes ausmachen, der Intellekt selbst jene Ordnung schafft und er nur für die Dinge, diese aber auch nur für ihn dasind.« (W II 16) Es liegt auf der Hand, daß die Orientierung des Menschen auch deshalb funktionieren könnte, weil die Erkenntnis – wenigstens zum Teil – mit einer von der Vorstellung unterschiedenen Wirklichkeit kongruiert und daß sie dies aufgrund ihrer evolutionären Entwicklung tut.13 Darüber hinaus versucht Schopenhauer, seine Position durch die Widerlegung des »Haupteinwands« des transzendentalen Realismus gegen den transzendentalen Idealismus zu verteidigen. Dieser lautet, daß ein Subjekt, um sich seiner Wirklichkeit zu versichern, nicht darauf angewiesen ist, daß diese von einem anderen Subjekt bezeugt wird. Übertrage man diese Überlegung auf andere, vom fraglichen Subjekt verschiedene Objekte, so folge nach realistischer Auffassung, daß auch diese vorstellungsunabhängig existieren. Genau dies akzeptiert Schopenhauer jedoch nicht: »Jener Andere, als dessen Objekt ich jetzt meine Person betrachte, ist nicht schlechthin das Subjekt, sondern zunächst ein erkennendes Individuum. Daher, wenn er auch nicht dawäre, ja wenn sogar überhaupt kein anderes erkennendes Wesen als ich selbst existirte; so wäre damit noch keineswegs das Subjekt aufgehoben, in dessen Vorstellung allein alle Objekte existiren. Denn dieses Subjekt bin ja eben auch ich selbst, wie jedes Erkennende es ist. Folglich wäre, im angegebenen Fall, meine Person allerdings noch da, aber wieder als Vorstellung, nämlich in meiner eigenen Erkenntniß.« (W II 12 f.) Dies aber bedeutet für Schopenhauer, daß auch alle anderen Objekte nur in der Vorstellung 13
Zwar steht Schopenhauer dem Gedanken einer Evolution ablehnend gegenüber, aber immerhin lehrt er, daß der Erkenntnisapparat eines Lebewesens der Umwelt angepaßt ist, um das Überleben der Spezies zu gewährleisten. Vgl. W I 201 ff., N 246 ff. sowie W II 326 f., 333 u. 336.
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existieren. Allerdings scheint er dabei zu übersehen, daß die Abhängigkeit aller Erfahrung von einem Subjekt keineswegs impliziert, daß alle Wirklichkeit, um zu bestehen, der Erfahrung – und damit des Subjekts – bedarf. Noch weniger überzeugend ist der Versuch, den transzendentalen Idealismus im Rekurs auf die Abhängigkeit der Erkenntnis vom Gehirn zu stützen. Aus der korrekten Beobachtung, daß die Anschauung der äußeren Wirklichkeit auf die vermittelnde Funktion des Gehirns angewiesen ist, folgert Schopenhauer, diese sei – im Sinne des transzendentalen Idealismus – bloße Erscheinung oder Vorstellung (vgl. W II 334). Freilich ist diese Argumentation aus zwei Gründen nicht überzeugend: Zum einen ergibt sich aus der Abhängigkeit der Vorstellung der äußeren Wirklichkeit von einer subjektiven Bedingung wie dem Gehirn keineswegs, daß sie auch selbst nur subjektiv, also bloßes Phänomen ist14, und zum andern stellt das Gehirn, aus dessen Vermittlung die Subjektivität der Vorstellung abgeleitet wird, eine empirisch reale Voraussetzung dar, die nicht mit dem Idealismus, zu dem sie führen soll, kompatibel ist. Würde man hingegen im Gehirn eine ideale Entität wie z. B. eine Erscheinung oder Vorstellung erblicken, so wäre der Idealismus, dessen Gültigkeit sie verbürgen soll, bereits zirkulär vorausgesetzt. Letztendlich könnte Schopenhauer im Ausgang vom Gehirn allenfalls zu einem kritischen Realismus, nicht aber zum transzendentalen Idealismus gelangen. Schopenhauer grenzt seinen Ansatz gegen zwei andere ab, in denen er Spielarten des Dogmatismus erblickt: den dogmatischen Realismus sowie den dogmatischen Idealismus. Während er selbst von einer apriorischen Korrelation von Subjekt und Objekt ausgeht und den Geltungsbereich des Satzes vom zureichenden Grunde auf die verschiedenen Klassen von Objekten eingrenzt, versuchen der dogmatische Realismus bzw. Idealismus nach seiner Auffassung, die gesamte Wirklichkeit vom Objekt bzw. Subjekt abzuleiten: »Der Realismus setzt das Objekt als Ursache, und deren Wirkung ins Subjekt. Der Fichte’sche Idealismus macht das Objekt zur Wirkung des Subjekts.« (W I 41) Dagegen wendet Schopenhauer zunächst ein, daß es nicht zulässig ist, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt als kausales zu betrachten. Die Kategorie der Kausalität gelte nämlich – wie der Satz vom zureichenden Grunde insgesamt – nur für Objekte, nicht jedoch für das Subjekt, denn dieses sei eine apriorische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Objekten. Was jedoch das Objekt anbelangt, so wirft Schopenhauer dem dogmatischen Realismus vor, er stufe es als von der Vorstellung verschiedenes »Objekt an sich« – und damit als etwas angeblich »völlig Undenkbares« (W I 42) – ein. Als solches könne es keineswegs an einem kausalen Vorgang teilhaben. Der dogmatische Idealismus hingegen zeichnet sich dadurch aus, das Objekt als Produkt einer Handlung des Subjekts zu erklären. Es liegt auf der Hand, auf wen Schopenhauer damit abzielt: »[I]n dieser Hinsicht muß ich also eines Systems erwähnen, das ich sonst durchaus nicht für beachtenswert 14
Vgl. a. David W. Hamlyn. Schopenhauer. London 1980, 71: »[D]ependence on brain functions is not the same as being solely determined by brain functions.«
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halt; die sogenannte Wissenschaftslehre von J. G. Fichte.« (Vo I 515) Auch gegen diesen wendet Schopenhauer ein, weder das Subjekt noch die Korrelation von Subjekt und Objekt falle unter die Kategorie der Kausalität. Die beiden anderen von Schopenhauer vorgetragenen Argumente haben damit zu tun, daß Fichte von einem einzigen Prinzip ausgeht, aus dem alle anderen Einsichten folgen sollen. Dagegen wendet Schopenhauer ein, das Subjekt lasse sich nicht vom Objekt isolieren, sondern trete stets mit ihm zusammen auf (vgl. W I 65). Darüber hinaus bemängelt er, daß ein Prinzip nicht ausreiche, um zu weiteren Erkenntnissen zu gelangen: »Mit Einem Princip ist überall nichts zu machen.« (HN I 124 Anm.) Dies bedeutet, daß Fichte mehr voraussetzen muß, als er selbst zugibt, etwa ein oder mehrere weitere Prinzipien sowie Deduktionsregeln, mit deren Hilfe sich weitere Einsichten ableiten ließen. Schopenhauer verbindet in seiner Erkenntnistheorie zwei Ansätze, einen subjektiven, transzendentalen, und einen objektiven, empirischen (vgl. W II 318). Ersteren stuft er als idealistisch, letzteren hingegen als realistisch bzw. materialistisch ein.15 Obgleich er im Zuge seines Kritizismus dem subjektiven Ansatz den methodischen Vorrang gewährt, betrachtet er ihn – ebenso wie den objektiven – als einseitig und daher ergänzungsbedürftig. Das gilt natürlich auch für das Verhältnis von Idealismus und Realismus bzw. Materialismus: »Keine, aus einer objektiven, anschauenden Auffassung der Dinge entsprungene und folgerecht durchgeführte Ansicht der Welt kann durchaus falsch seyn; sondern sie ist, im schlimmsten Fall, nur einseitig: so z. B. der vollkommene Materialismus, der absolute Idealismus u. a. m. Sie alle sind wahr; aber sie sind es zugleich: folglich ist ihre Wahrheit eine nur relative. Jede solche Auffassung ist nämlich nur von einem bestimmten Standpunkt aus wahr; wie ein Bild die Gegend nur von einem Gesichtspunkte aus darstellt.« (P II 19) Angesichts der Tatsache, daß er sowohl den Idealismus als auch den Realismus bzw. Materialismus für berechtigt hält, erklärt Schopenhauer sogar, es liege eine »Antinomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I 61) vor. Da aber eine Antinomie die Schwierigkeit beinhaltet, daß sich zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Thesen zugleich als wahr erweisen lassen, stellt sich die Frage, ob und wie sie sich überwinden lasse. Nun geht Schopenhauer keineswegs von einer vollkommenen Gleichberechtigung beider Ansätze aus, sondern löst den Gegensatz auf, indem er Idealismus und Realismus auf unterschiedlichen Ebenen ansiedelt bzw. die Materie zwar als empirisch real, aber als transzendental ideal betrachtet: »Der wahre Idealismus hingegen ist eben nicht der empirische, sondern der transscendentale. Dieser läßt die empirische Realität der Welt unangetastet, hält aber fest, daß alles Objekt, also das empirisch Reale überhaupt, durch das Subjekt zwiefach bedingt ist: erstlich materiell, oder als Objekt überhaupt, weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art und Weise 15
Dabei vertritt er folgende – wenig überzeugende – Auffassung: »Der Realismus führt […] nothwendig zum Materialismus.« (W II 21)
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der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität), vom Subjekt ausgeht, im Subjekt prädisponirt ist.« (W II 15) Darüber hinaus faßt Schopenhauer beides – Subjekt und Objekt bzw. Intellekt und Materie – unter dem Begriff der Vorstellung zusammen und läßt es im ontologisch primären Ding an sich gründen: »Bei mir hingegen sind Materie und Intellekt unzertrennliche Korrelata, nur für einander, daher nur relativ, da: die Materie ist die Vorstellung des Intellekts; der Intellekt ist das, in dessen Vorstellung allein die Materie existirt. Beide zusammen machen die Welt als Vorstellung aus, welche eben Kants Erscheinung, mithin ein sekundäres ist. Das Primäre ist das Erscheinende, das Ding an sich selbst, als welches wir nachher den Willen kennen lernen. Dieser ist an sich weder Vorstellendes, noch Vorgestelltes; sondern von seiner Erscheinungsweise völlig verschieden.« (W II 25; vgl. a. W II 27)16 Wie bereits angedeutet wurde, legt Schopenhauer neben der transzendentalen Betrachtung der Erkenntnis auch eine anthropologische – physiologisch und psychologisch ausgerichtete – vor, welche die Abhängigkeit des Intellekts von den Sinnesorganen, dem Nervensystem sowie dem Gehirn in den Vordergrund stellt. So sei der Intellekt als Funktion des Gehirns zu betrachten: »Dieser Intellekt ist das Sekundäre, ist das posterius des Organismus und, als eine bloße Gehirnfunktion, durch diesen bedingt.« (N 219 f.) Damit erweise sich der Intellekt – und damit auch die Erkenntnis – letztlich als »physisch« und nicht etwa als »metaphysisch« (W II 287). Nimmt man hinzu, daß Schopenhauer zugleich einen transzendentalen Idealismus lehrt, so stößt man auf das Problem, daß sich bald die Erkenntnis als Produkt der Materie bzw. des Gehirns, bald die Materie bzw. das Gehirn als Produkt der Erkenntnis darbietet: »Der Behauptung, daß das Erkennen Modifikation der Materie ist, stellt sich also immer mit gleichem Recht die umgekehrte entgegen, daß alle Materie nur Modifikation des Erkennens des Subjekts, als Vorstellung desselben, ist.« (W I 58; vgl. a. W II 25 u. 339)17 Stellt man in Rechnung, daß sich der Wille als Ding an sich in der empirischen Wirklichkeit als Wille zum Leben manifestiert, so ist nachvollziehbar, daß Schopenhauer das Gehirn und seine Leistung, die Erkenntnis, unter diesem Gesichtspunkt als Mittel zur »Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung des Geschlechts« (W I 202; vgl. a. W I 204 u. W II 327) charakterisiert. Da nun die Erkenntnis durch das Gehirn und dieses – als Erscheinung desselben – durch den Willen bedingt ist, könnte man sagen, daß sie im Verhältnis zum Gehirn bzw. zum 16
Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer Subjekt und Objekt als Glieder einer apriorischen Korrelation betrachtet, weist er auch die Art von Idealismus bzw. Realismus zurück, die versucht, die gesamte Wirklichkeit einseitig vom Subjekt bzw. vom Objekt her verständlich zu machen. Vgl. W I 55 f. 17 Letztlich löst Schopenhauer diese »Antinomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I 61) im Sinne des transzendentalen Idealismus auf. – Zeller hingegen wirft Schopenhauer vor, sich mit dieser Konstellation in einen Zirkel zu begeben. Vgl. Eduard Zeller. »Schopenhauer.« In: Volker Spierling (Hg.). Materialien zu Schopenhauers ›Die Welt als Wille und Vorstellung‹. Frankfurt a. M. 1984, 185.
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Leib sekundär und im Verhältnis zum Willen als Ding an sich gar nur tertiär sei. In diesem Sinn hebt Schopenhauer hervor: »Ich setze also erstlich den Willen, als Ding an sich, völlig Ursprüngliches; zweitens seine bloße Sichtbarkeit, Objektivation, den Leib; und drittens die Erkenntniß, als bloße Funktion eines Theils dieses Leibes.« (N 220; vgl. a. W II 234, 238, 287, 302, 320, 322 u. 324) Daß die Erkenntnis dem Willen untergeordnet ist, zeigt sich in mehrfacher Hinsicht: Zum einen dient sie ihm als bloße »μηχανη« (W I 202 u. 204), und zum andern hängt sie dergestalt von ihm ab, daß er sie bald fördert (vgl. W II 257 ff.), bald stört und verfälscht (vgl. W II 164 ff. u. 250 ff.). Demnach wäre das Gehirn – metaphysisch betrachtet – eine Erscheinung des Willens, genauer gesagt, eine Erscheinung, in der sich dieser »als ein Erkennenwollen« (W II 302) objektiviert. Was das Verhältnis des Gehirns zum übrigen Leib bzw. Organismus anbelangt, so stellt es sich als überaus komplex dar. Zunächst betont Schopenhauer, daß beide durch einander bedingt sind: »Demnach ist allerdings das Gehirn, mithin der Intellekt, unmittelbar durch den Leib bedingt, und dieser wiederum durch das Gehirn, jedoch nur mittelbar, nämlich als Räumliches und Körperliches, in der Welt der Anschauung, nicht aber an sich selbst, d. h. als Wille.« (W II 303) Gemeint ist damit, daß das Gehirn – als »Efflorescenz des Organismus« (W II 322) – physisch vom Leib abhängt18, während der Leib umgekehrt in kognitiver Hinsicht – das heißt, um erkannt zu werden – auf das Gehirn angewiesen ist. Setzt man für das Gehirn das, was es leistet, die Vorstellung, ein, so ergibt sich: »Allerdings setzt […] das Daseyn des Leibes die Welt der Vorstellung voraus; sofern auch er, als Körper oder reales Objekt, nur in ihr ist: und andererseits setzt die Vorstellung selbst eben so sehr den Leib voraus; da sie nur durch die Funktion eines Organs desselben entsteht.« (W II 323) Angesichts der wechselseitigen Bedingtheit der Vorstellung einerseits und des Gehirns bzw. Leibes anderseits, die Schopenhauer an dieser Stelle beschreibt, erhob Zeller 1873 den bekannt gewordenen Einwand, es liege ein Zirkel vor: »Wir befinden uns demnach in dem greifbaren Zirkel, daß die Vorstellung ein Produkt des Gehirns und das Gehirn ein Produkt der Vorstellung sein soll – ein Widerspruch, für dessen Lösung der Philosoph auch nicht das Geringste gethan hat.«19 Freilich war Zeller entgangen, daß Schopenhauer die Abhängigkeit von Vorstellung und Gehirn jeweils in einem anderen theoretischen Zusammenhang und nicht etwa im Rahmen eines einheitlichen Ansatzes diskutiert, so daß kein Zirkel entsteht, sondern lediglich zwei unterschiedliche Perspektiven – eine subjektive und eine objektive bzw. eine transzendentale und eine anthropologische – vorliegen und sich dabei ergänzen. Dies aber bedeutet, daß die von Zeller geübte Kritik ihr Ziel verfehlt. 18
Schopenhauer bewertet dieses Verhältnis gelegentlich als parasitär. Aus seiner Sicht ist das Gehirn »insofern ein Parasit des übrigen Organismus […], als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt regulirt.« (W II 234; vgl. a. W II 252, 288, 302 u. 464 sowie P II 85) 19 Zeller (1984), 185.
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Es war bereits davon die Rede, daß der Satz vom zureichenden Grunde in vier Gestalten auftritt, die mit der apriorischen Korrelation von Subjekt und Objekt sowie dem Verhältnis der gesetzmäßigen Abhängigkeit, in dem die Objekte bzw. Vorstellungen der jeweiligen Klasse zueinander stehen, eine gemeinsame Wurzel aufweisen. Verweist jedes Objekt auf ein anderes, so läuft dies für Schopenhauer auf die »Dependenz, Relativität, Instabilität und Endlichkeit der Objekte unsers in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, Subjekt und Objekt befangenen Bewußtseyns« (G 175; vgl. a. W I 34, 65 f. u. 221) hinaus, und es bedeutet darüber hinaus, daß es kein Objekt gibt, das als letzter Grund oder Absolutum in Frage käme (vgl. G 171 u. P I 92). Was nun die vier Gestalten des Satzes vom zureichenden Grunde anbelangt, so unterscheidet Schopenhauer zwischen dem Satz vom zureichenden Grunde des Werdens, des Erkennens, des Seins sowie des Handelns, von denen sich eine jede auf eine andere Klasse von Objekten bzw. Vorstellungen bezieht. Der Satz vom zureichenden Grund des Werdens läuft letztlich auf das »Gesetz der Kausalität« oder – in modernerer Terminologie – das Kausalitätsprinzip hinaus. Schopenhauer formuliert es wie folgt: »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt; so muß ihm ein anderer vorhergegangen seyn, auf welchen der neue regelmäßig, d. h. allemal, so oft der erstere daist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung.« (G 49) Dabei handelt es sich – nach Schopenhauer – um ein apriorisches bzw. transzendentales Gesetz (vgl. G 56, N 289, E 66 f. sowie W II 46 u. 48), das heißt, um eines, dessen Geltungsgrund nicht in der Erfahrung liegt, sondern das vielmehr eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung darstellt (vgl. W I 40 u. 553 sowie E 189). Dieses Prinzip bezieht sich allein auf den Bereich der empirischen Wirklichkeit bzw. der Welt als Vorstellung, und es beinhaltet, daß jedes Ereignis in diesem Bereich notwendig nach einer kausalen Regel durch ein anderes, ihm vorhergehendes Ereignis hervorgebracht wird. Indem Schopenhauer jede Wirkung als notwendige Folge einer Ursache betrachtet, nimmt er eine deterministische Position ein, die freilich nur für die empirische Wirklichkeit – also das Verhältnis empirischer Gegenstände bzw. Ereignisse zueinander – gilt. Eine über die Veränderungen in der empirischen Wirklichkeit hinausreichende Geltung kommt ihm, wie Schopenhauer hervorhebt, nicht zu. Damit erstreckt sich das »Gesetz der Kausalität« weder auf die Materie noch auf die Naturkräfte, aber auch das Ding an sich als metaphysische Entität, der Satz vom zureichenden Grunde sowie die apriorische Korrelation von Subjekt und Objekt als transzendentale Strukturen sind ihm nicht unterworfen. Zwar legt Schopenhauer im § 21 der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde eine ausführliche Erläuterung der »Apriorität des Kausalitätsbegriffes« vor, doch bereits in dieser Formulierung deutet sich an, daß er dort allenfalls die Apriorität der Kategorie der Kausalität, nicht aber jene des Gesetzes der Kausalität einsichtig macht. Er argumentiert, daß die Kategorie der Kausalität erforderlich ist, um den Übergang von der Empfindung 40
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zur empirischen Anschauung bzw. Wahrnehmung zu erklären: »Erst wenn der Verstand […] in Thätigkeit geräth und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird.« (G 67) Schopenhauer ist der Auffassung, daß dem erkennenden Subjekt nicht schon in der Empfindung, sondern erst in der Anschauung ein Gegenstand gegeben ist. Das liege daran, daß das Subjekt mit Hilfe des Verstandes bzw. der Kategorie der Kausalität die Empfindung als Resultat der Einwirkung eines Gegenstandes deutet, den es konstruiert und in den Raum projiziert: »[Der Verstand] nämlich faßt, vermöge seiner selbsteigenen Form, also a priori, d. i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf […], die als solche nothwendig eine Ursache haben muß. […] Bei diesem Proceß nimmt nun der Verstand […] alle, selbst die minutiösesten Data der gegebenen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entsprechend, die Ursache derselben im Raume zu konstruiren.« (G 67 f.)20 Sicherlich trifft es zu, daß man, um eine Wirkung auf eine Ursache zu beziehen, ein Verständnis von Kausalität benötigt, doch Schopenhauer geht erheblich weiter. Er behauptet, daß »das Gesetz der Kausalität uns a priori, folglich als ein, hinsichtlich der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt, nothwendiges bewußt ist« (E 66). Nun läuft das Kausalitätsprinzip darauf hinaus, daß alle Ereignisse durch andere Ereignisse bewirkt werden. Um aber der Empfindung eine Ursache zuzuordnen, ist es keineswegs erforderlich, alle Ereignisse als kausal abhängig zu betrachten, sondern es genügt zu wissen, daß es überhaupt so etwas wie kausale Abhängigkeit gibt, ganz gleich, ob sie alle oder nur einige Ereignisse kennzeichnet. Damit aber verfehlt Schopenhauer sein Ziel, die apriorische Geltung des Kausalitätsprinzips einsichtig zu machen. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, daß er nicht präzise zwischen der Kategorie der Kausalität einerseits und dem »Gesetz der Kausalität« anderseits unterscheidet. Der Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens bezieht sich hingegen nicht auf empirische Gegenstände, sondern auf Begriffe bzw. auf Urteile, die eine Verbindung von Begriffen darstellen: »Als solcher besagt er, daß wenn ein Urtheil eine Erkenntniß ausdrücken soll, es einen zureichenden Grund haben muß: wegen dieser Eigenschaft erhält es sodann das Prädikat wahr.« (G 121) Damit liefe die Wahrheit eines Urteils darauf hinaus, daß es begründet ist: »Die Wahrheit ist also die Beziehung eines Urtheils auf etwas von ihm Verschiedenes, das sein Grund genannt wird« (ebd.).21 Schopenhauer unterscheidet zwischen vier Arten 20
Natürlich stellt sich die Frage, ob Schopenhauer damit nicht den Rahmen seines transzendentalphilosophischen Ansatzes in Richtung auf eine – empirisch argumentierende – anthropologische Erkenntnistheorie überschreitet und ob beide Betrachtungsweisen miteinander kompatibel sind. 21 Gegen diese Auffassung könnte man geltend machen, daß ein Urteil auch dann wahr sein kann, wenn es nicht oder nicht richtig begründet ist. Eine Begründung kann zu einem wahren Urteil hinzutreten, muß es aber nicht. Sie würde ihm allenfalls zu einer höheren
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der Wahrheit, denen er vier Arten von Gründen zuordnet (vgl. G 121 ff.). Dies sind die logische, die empirische, die transzendentale sowie die metalogische Wahrheit. Während die logische Wahrheit eines Urteils darin besteht, daß es formal korrekt von anderen Urteilen – seinen Prämissen – abgeleitet ist, kommt einem Urteil empirische Wahrheit zu, wenn es durch empirische Anschauung bzw. Erfahrung bestätigt wird. Durch transzendentale Wahrheit zeichnen sich hingegen Urteile aus, die apriorische Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ausdrücken, und durch metalogische Wahrheit diejenigen, welche die formalen Bedingungen des Denkens zum Gegenstand haben. In den beiden letzteren Fällen wird die Begründung, wie Schopenhauer darlegt, durch eine »Reflexion« bzw. eine »Selbstuntersuchung der Vernunft« (G 125) geleistet. Der Satz vom zureichenden Grunde des Seins zielt auf die apriorischen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, ab und besagt, daß raum-zeitliche Objekte durch andere bestimmt sind: »Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Theile in einem Verhältniß zu einander stehn, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen andern bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dies Verhältniß Lage, in der Zeit Folge.« (G 148) Da nun der Raum die Grundlage der Geometrie und die Zeit, wie Schopenhauer – in Anlehnung an Kant – glaubt, die Grundlage der Arithmetik darstellt, könnte man sagen, daß sich der Satz vom zureichenden Grund des Seins auf die anschaulichen Grundlagen der Mathematik bezieht. Ist von einer Bestimmung raum-zeitlicher Gegebenheiten die Rede, so besagt dies nichts anderes, als daß deren Position in Raum und Zeit nicht etwa absolut ist, sondern allein in Relation zu anderen Gegebenheiten angegeben werden kann, die gleichsam den Grund für deren Position ausmachen. Dabei betrachtet Schopenhauer raum-zeitliche Objekte vor dem Hintergrund des transzendentalen Idealismus als bloße Vorstellungen, die freilich nicht in der Erfahrung, sondern in reiner Anschauung gegeben sind. Im Gegensatz zu den drei ersten Gestalten des Satzes vom zureichenden Grunde hat der Satz vom zureichenden Grunde des Handelns nur ein Objekt, das Subjekt als wollendes. Gelegentlich spricht Schopenhauer von einem »Subjekt des Wollens«, das er dem »Subjekt des Erkennens« gegenüberstellt (G 157 ff.). Einerseits siedelt Schopenhauer das wollende Subjekt in der empirischen Wirklichkeit an, anderseits stuft er die volitionalen Regungen, die es hat, nicht als äußere, sondern als innere Zustände ein. Genau diese Dualität schlägt sich auch im Status des Satzes vom zureichenden Grunde des Handelns nieder. Als empirische Gegebenheit fällt das wollende Subjekt unter den Satz vom zureichenden Grunde des Werdens bzw. das Gesetz der Kausalität, doch angesichts der Tatsache, Dignität, nicht jedoch zur Wahrheit verhelfen. Bei anderer Gelegenheit scheint Schopenhauer durchaus dem Umstand gerecht zu werden, daß die Wahrheit eines Urteils in seiner Korrespondenz zum beurteilten Sachverhalt besteht: »Folglich besteht in der Ueber einstimmung der Begriffe, also der abstrakten Vorstellung, mit dem in der anschaulichen Vorstellung Gegebenen […] die Wahrheit, und nach der Seite des Subjekts, das Wissen.« (W II 124)
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daß volitionale Regungen nicht dem äußeren, sondern dem inneren Sinn gegeben sind, hält es Schopenhauer für angemessen, eine besondere Art der Kausalität für sie zu fordern: »Hieraus ergiebt sich der wichtige Satz: die Motivation ist die Kausalität von innen gesehn.« (G 162) Daher bezeichnet Schopenhauer den Satz vom zureichenden Grund des Handelns auch als »Gesetz der Motivation« (ebd.). Es beinhaltet, daß volitionale Regungen bzw. Willensakte – zusammen mit den ihnen entsprechenden Handlungen – mit derselben Notwendigkeit durch Motive hervorgebracht werden wie äußere Ereignisse durch äußere Ursachen: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95) Dabei vertritt Schopenhauer – in Hinblick auf alle vier Fassungen des Satzes vom zureichenden Grunde – die Auffassung, daß alles, was aus einem Grund folgt, dies mit Notwendigkeit tut. In Anlehnung an die vier Klassen von Objekten unterscheidet Schopenhauer zwischen vier Arten der Notwendigkeit: der physischen, der logischen, der mathematischen sowie der moralischen bzw. praktischen (vgl. G 171). Während die physische Notwendigkeit der kausalen Abhängigkeit von Ursache und Wirkung entspricht, besteht die logische darin, daß sich eine Konklusion notwendig aus ihren Prämissen ergibt. Mathematische Notwendigkeit liegt im Bereich der Zahlen und geometrischen Figuren vor, moralische bzw. praktische hingegen im Bereich des Handelns. In allen vier Bereichen gilt, daß sich die Folge notwendig aus dem Grund ergibt. Unabhängig von den Schwierigkeiten, die Schopenhauers transzendentaler Idealismus sowie seine Argumentation für die apriorische Geltung des Kausalitätsprinzips mit sich bringen, ist es sicherlich ein Verdienst, daß er sowohl zwischen mehreren Arten von Gründen als auch zwischen mehreren Arten der Erkenntnis unterscheidet. Auf diese Weise lassen sich Verwechslungen vermeiden, wie sie z. B. in der rationalistischen Metaphysik in Hinblick auf den Grund des Werdens (causa) und den Grund des Erkennens (ratio) aufgetreten sind. Anderseits stellt sich die Frage, ob der Grund des Handelns eine selbständige Art von Grund oder nicht vielmehr einen Grund des Werdens darstellt. Wie erläutert wurde, begrenzt Schopenhauer die Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde auf den Bereich der Vorstellung, zu dem er auch die empirische Wirklichkeit als das Gesamt der »anschaulichen, vollständigen, empirischen Vorstellungen« (G 43) rechnet. Damit aber hält er sich zumindest die Möglichkeit einer ontologischen Region offen, die sich dem Satz vom zureichenden Grunde entzieht. Genau dies ist der Bereich des Dinges an sich, den Schopenhauer als den Willen deutet und dem er sich im zweiten Buch seines Hauptwerks zuwendet.
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Metaphysik der Natur Schopenhauer bleibt keineswegs bei dem transzendentalen Idealismus seiner erkenntnistheoretischen Betrachtung stehen, sondern er betont, daß diese »eine einseitige« (W I 30) sei und daher einer Korrektur bedürfe. Diese läuft darauf hinaus, daß die Welt nicht nur Vorstellung sei, sondern einen weiteren, die empirische Wirklichkeit übersteigenden metaphysischen Bereich enthalte, nämlich jenen des Dinges an sich. Damit ergänzt Schopenhauer – ähnlich wie Kant – seinen transzendentalen Idealismus durch einen ontologischen bzw. metaphysischen Realismus, das heißt, er geht von der Existenz von etwas Wirklichem jenseits der empirischen Realität aus. Im Gegensatz zu Kant begnügt sich Schopenhauer nicht etwa damit, daß das Ding an sich unerkennbar ist, sondern er ist der Auffassung, daß es als Wille zu deuten sei. Genau darin erblickt er das »Fundamentaldogma« (N 183) seiner Metaphysik. Schopenhauer nennt zunächst einmal zwei Gründe dafür, daß er sich nicht mit einer Untersuchung der empirischen Wirklichkeit begnügt, sondern den Schritt in die Metaphysik vollzieht. Zum einen macht er geltend, die Erscheinung bzw. Vorstellung impliziere, daß ihr etwas von ihr Verschiedenes zugrunde liegt: »Denn offenbar setzt Jenes als Erscheinung ein Erscheinendes, als Seyn für Anderes ein Seyn für sich, und als Objekt ein Subjekt voraus; nicht aber umgekehrt: weil überall die Wurzel der Dinge in Dem, was sie für sich selbst sind, also im Subjektiven liegen muß, nicht im Objektiven, d. h. in Dem, was sie erst für Andere, in einem fremden Bewußtseyn sind.« (W II 569 f.; vgl. a. W II 214 f. u. P I 104) – Zum andern hebt Schopenhauer hervor, daß die empirischen Wissenschaften nicht in der Lage seien, eine erschöpfende Erklärung der Welt als Vorstellung bzw. von deren Wesen zu liefern. Vielmehr blieben sie als Morphologie und als Ätiologie bei der Erscheinung stehen, ohne Rechenschaft über die darin wirksamen Naturkräfte zu geben, die als qualitates occultae nach zusätzlicher Aufklärung verlangten. Darüber hinaus nennt Schopenhauer einen weiteren, für ihn letztlich entscheidenden Grund, der ihn veranlaßt, die Welt als Vorstellung in Richtung auf das Ding an sich zu überschreiten. Angesichts der Negativität der empirischen Wirklichkeit werde der Mensch in Erstaunen versetzt und vom Bedürfnis ergriffen, ein tieferes Verständnis von ihr zu gewinnen: »Wenn die Welt nicht etwas wäre, das, praktisch ausgedrückt, nicht seyn sollte; so würde sie auch nicht theoretisch ein Problem seyn: vielmehr würde ihr Daseyn entweder gar keiner Erklärung bedürfen, indem es sich so gänzlich von selbst verstände, daß eine Verwunderung darüber und Frage danach in keinem Kopfe aufsteigen könnte; oder der Zweck desselben würde sich unverkennbar darbieten.« (W II 677 f.) Eine Lösung des Problems verspricht sich Schopenhauer nun von der Metaphysik, die er wie folgt beschreibt: »Unter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über 44
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Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht.« (W II 191) Man könnte also sagen, daß Schopenhauers Antwort auf die Frage nach dem Ding an sich nicht zuletzt durch das »metaphysische Bedürfnis« motiviert ist. Wie bereits angedeutet wurde, will Schopenhauer den »ächten« oder »wahren Kriticismus« (HN I 20, 24, 37, 126 u. 151) errichten. Dies bedeutet zunächst einmal, daß er die dogmatische Metaphysik ebenso ablehnt wie Kants kritizistische Auffassung, das Ding an sich lasse sich nicht erkennen. So erstaunt es nicht, daß Schopenhauer in seiner Metaphysik eine neue Richtung einschlägt: »[M]ein Weg liegt in der Mitte zwischen der Allwissenheitslehre der frühern Dogmatik und der Verzweiflung der Kantischen Kritik.« (W I 526) Schopenhauer führt Kants – sei es angeblichen oder tatsächlichen – Fehler auf die Annahme zurück, die Metaphysik dürfe sich nicht auf Erfahrung stützen. Genau darin erblickt er eine petitio principii (vgl. W I 525 u. W II 211). Mehr noch, Schopenhauer betont, daß sich die Metaphysik der Erfahrung zu bedienen hat, um Auskunft über das Ding an sich erteilen zu können: »Ich sage daher, daß die Lösung des Räthsels der Welt aus dem Verständniß der Welt selbst hervorgehn muß; daß also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund aus zu verstehn, indem Erfahrung, äußere und innere, allerdings die Hauptquelle aller Erkenntniß ist; daß daher nur durch die gehörige und am rechten Punkt vollzogene Anknüpfung der äußern Erfahrung an die innere, und dadurch zu Stande gebrachte Verbindung dieser zwei so heterogenen Erkenntnißquellen, die Lösung des Räthsels der Welt möglich ist« (W I 526). Aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Erfahrung bezeichnet Schopenhauer seine Metaphysik als »immanent« (W II 214) bzw. als »immanenten Dogmatismus« (P I 148), ja er stuft sie sogar als »Erfahrungswissenschaft« (ebd.) ein. Allerdings meint er damit nicht, daß sie sich in Erfahrung erschöpfe oder gar mit ihrer Hilfe das Ding an sich zur anschaulichen Gegebenheit bringe, sondern allenfalls, daß sie ihren Ausgang von der Erfahrung nehme und auch dann, wenn sie über diese hinausgehe, an sie gebunden bleibe: »In diesem Sinne also geht die Metaphysik über die Erscheinung, d. i. die Natur, hinaus, zu dem in oder hinter ihr Verborgenen […], es jedoch immer nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhängig von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher immanent und wird nicht transscendent. Denn sie reißt sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die bloße Deutung und Auslegung derselben, da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Beziehung zur Erscheinung redet.« (W II 214) Mit dieser Wendung rückt Schopenhauer die empirische Wirklichkeit in die Nähe eines Textes, der nicht einfach nur einen unmittelbar zugänglichen, manifesten, sondern darüber hinaus auch einen im Zuge einer hermeneutischen Bemühung – der »Deutung« oder »Auslegung« – zu ermittelnden latenten Sinn aufweist. Ebenfalls auf dieser Linie bewegt sich Schopenhauer, wenn er das, was die Metaphysik zu ergründen hat, nämlich das »wahre«, »innere« oder gar »innerste Wesen der Welt« (W I 139 f., 152, 154, 156 u. 168) mit einem der Hermeneutik entlehnten Ausdruck als ihre »Bedeutung« (W I 137, 141 u. 165) anspricht oder den Denkern – im 45
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Gegensatz zu den bloßen Gelehrten – die Aufgabe zuweist, im »Buche der Welt« (P II 538) zu lesen. Da nun die Metaphysik von der Erfahrung abhängt, diese aber keine apodiktische Erkenntnis zu liefern vermag, gilt dies auch für die Metaphysik selbst: »Der hier erörterte, redlicherweise nicht abzuleugnende Ursprung der Metaphysik aus empirischen Erkenntnißquellen benimmt ihr freilich die Art apodiktischer Gewißheit, welche allein durch Erkenntniß a priori möglich ist« (W II 212). Das hindert Schopenhauer allerdings nicht daran, die Aussichten auf eine Vollendung der Metaphysik überraschend günstig einzuschätzen: »Wann aber ein Mal ein, soweit die Schranken des menschlichen Intellekts es zulassen, richtiges System der Metaphysik gefunden seyn wird; so wird ihm die Unwandelbarkeit einer a priori erkannten Wissenschaft doch zukommen: weil sein Fundament nur die Erfahrung überhaupt seyn kann, nicht aber die einzelnen und besondern Erfahrungen, durch welche hingegen die Naturwissenschaften stets modificirt werden und der Geschichte immer neuer Stoff zuwächst. Denn die Erfahrung im Ganzen und Allgemeinen wird nie ihren Charakter gegen einen neuen vertauschen.« (W II 212 f.) Von der – von führenden Repräsentanten der modernen Hermeneutik vertretenen – Überzeugung, der Prozeß der Auslegung lasse sich nicht zum Abschluß bringen, sondern sei ins Unendliche fortzusetzen, ist Schopenhauer damit ein gutes Stück entfernt.22 Schopenhauer erblickt die Aufgabe der Metaphysik weniger in der »Beobachtung einzelner Erfahrungen« als in der »richtige[n] Erklärung der Erfahrung im Ganzen«, so daß er sie auch als »Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt« (W II 211) bezeichnen kann. Dabei vergleicht er die sich in der Erfahrung darbietende empirische Wirklichkeit mit einer »unbekannten Schrift« (W II 215 u. P II 26) oder »Geheimschrift« (W II 213), die es zu dechiffrieren gelte. Um diesen Vorgang zu charakterisieren, benutzt er Ausdrücke wie »Deutung« und »Auslegung« bzw. »Sinn« und »Bedeutung«, die aus dem Bereich der Hermeneutik stammen (W II 213 ff. u. P II 26). Als Kriterien für die Richtigkeit einer derartigen Interpretation nennt er zum einen ihre Kohärenz und zum andern ihre Übereinstimmung mit der empirischen Wirklichkeit (vgl. W II 215 f. u. P II 26).23 Allerdings ist 22
Hinsichtlich der prinzipiellen Revidierbarkeit einer jeden Interpretation stimmen so unterschiedliche Autoren wie Schleiermacher, Dilthey und Gadamer überein. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1977, 168 u. 328, Wilhelm Dilthey. »Die Entstehung der Hermeneutik.« In: Gesammelte Schriften. Bd. V. Göttingen 1968, 336 sowie Hans-Georg Gadamer. Wahrheit und Methode. Tübingen 1960, 285. 23 Hallich spricht in diesem Zusammenhang von einem »Kohärenzkriterium« und einem »Erklärungskriterium«. Oliver Hallich. »Die Entzifferung der Welt. Schopenhauer und die mittelalterliche Allegorese.« In: Dieter Birnbacher / Andreas Lorenz / Leon Miodonski (Hg.). Schopenhauer im Kontext. Würzburg 2002, 182. Nach seiner Auffassung reichen die beiden Kriterien allerdings nicht aus, um Schopenhauers metaphysische Über legungen zu begründen: »Da das Problem des Fehlens überzeugender Verifikationskrite-
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sich Schopenhauer darüber im klaren, daß jede solche Interpretation, auch seine eigene, unter dem Vorbehalt steht, daß sie ihren Gegenstand, das Ding an sich, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar – auf dem Umweg über eine Interpretation der empirischen Wirklichkeit – zu erfassen vermag. Er stellt dazu fest: »So läßt meine Lehre Uebereinstimmung und Zusammenhang in dem kontrastirenden Gewirre der Erscheinungen dieser Welt erblicken und löst die unzähligen Widersprüche, welche dasselbe, von jedem andern Standpunkt aus gesehn, darbietet: sie gleicht daher insofern einem Rechenexempel, welches aufgeht; wiewohl keineswegs in dem Sinne, daß sie kein Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbeantwortet ließe. Dergleichen zu behaupten, wäre eine vermessene Ableugnung der Schranken menschlicher Erkenntniß überhaupt. Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgränzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Räthsels der Welt müßte nothwendig bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden.« (W II 216) Mit anderen Worten, es ist die – im transzendentalen Idealismus – angelegte Beschränkung der Erkenntnis auf den Bereich der Vorstellung, welche die Metaphysik zu einem Rekurs auf die Interpretation nötigt und diese ihrerseits daran hindert, ihren Gegenstand, das Ding an sich, adäquat zu erkennen. In seiner Metaphysik der Natur beschreitet Schopenhauer zwei verschiedene, einander entgegengesetzte Wege: Zum einen dringt er von der empirischen Wirklichkeit zum Ding an sich vor, und zum andern schlägt er daraufhin die umgekehrte Richtung ein, indem er versucht, erstere als Objektivation des letzteren zu verstehen. Was die Erschließung des Dinges an sich im Ausgang von der Welt als Vorstellung anbelangt, so fällt auf, daß sich Schopenhauer zunächst dem Individuum als einem wollenden zuwendet und daß er dies erst in empirischer und dann in metaphysischer Hinsicht tut. Dabei vollzieht er eine Reihe interpretatorischer Schritte, die es legitim erscheinen lassen, von einer Hermeneutik des Individualwillens zu sprechen.24 Die einzelnen Schritte, die Schopenhauer vollzieht, um zur Erkenntnis des Individualwillens zu gelangen, erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als recht komplex. Bald macht sich der Philosoph empirische, bald metaphysische Überlegungen zunutze, und sein tatsächliches Vorgehen deckt sich nicht immer mit seiner Einschätzung desselben. Dazu kommt eine Reihe terminologischer Unschärfen, welche das Verständnis erschweren. Immerhin steht soviel fest, daß Schopenhauer bei seinem Unternehmen auf eine Verbindung von innerer und äußerer Erfahrung setzt. Was die erstere betrifft, so legt er dar, daß im »Selbstbewußtseyn« das, worauf es ihm ankomme, unmittelbar gegeben sei. Freilich ist seine Beschreibung rien für interpretative Hypothesen in Schopenhauers Philosophie ungelöst bleibt, können willensmetaphysische Aussagen nicht als überprüfbar, also auch nicht als streng wissenschaftlich begründbar gelten.« (185) 24 Der Ausdruck »Individualwille« stammt nicht von Schopenhauer selbst, sondern wurde von Pothast geprägt. Ulrich Pothast. Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett. Frankfurt a. M. 1989, 42.
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des Gegebenen erheblichen Schwankungen unterworfen. So ist die Rede vom »Subjekt des Wollens«, dem »Wollen«, dem »Willen« sowie auch von dessen »Akten«, »Affektionen« oder »Regungen«. Da schwer nachzuvollziehen ist, daß dem erkennenden Subjekt ein anderes, wollendes Subjekt bzw. ein Subjekt des Wollens gegeben ist oder daß eine Disposition, wie sie der Wille ist, als Gegenstand in Erscheinung tritt, liegt die Vermutung nahe, daß Akte des Willens das Gegebene ausmachen. Schopenhauer hat recht, wenn er konstatiert: »Ich erkenne meinen Willen nicht im Ganzen, nicht als Einheit, nicht vollkommen, seinem Wesen nach; sondern ich erkenne ihn allein in seinen einzelnen Akten.« (Vo II 76) Da nun die inneren Zustände, die Schopenhauer als Akte des Willens deutet, also die entsprechenden affektiven, emotionalen und volitiven Erlebnisse25, offenbar der Form der Zeit unterworfen bzw. durch sie vermittelt sind, ist es notwendig, die Rede von der unmittelbaren Gegebenheit der Willensakte wie folgt zu modifizieren: »Wäre dieses Sichbewußtwerden ein unmittelbares; so hätten wir eine völlig adäquate Erkenntniß des Dinges an sich. Weil es aber dadurch vermittelt ist, daß der Wille den organischen Leib und, mittelst eines Theiles desselben, sich einen Intellekt schafft, dann aber erst durch diesen sich im Selbstbewußtseyn als Willen findet und erkennt; so ist diese Erkenntniß des Dinges an sich erstlich durch das darin schon enthaltene Auseinandertreten eines Erkennenden und eines Erkannten und sodann durch die vom cerebralen Selbstbewußtseyn unzertrennliche Form der Zeit bedingt, daher also nicht völlig erschöpfend und adäquat.« (P II 105) Es läßt sich resümieren, daß Schopenhauer die im »Selbstbewußtseyn« gegebenen inneren Zustände zur Kenntnis nimmt und sie, indem er sie unter den Begriff des Willens subsumiert, als Ausdruck einer empirischen Disposition des Subjekts interpretiert, die in dessen Fähigkeit besteht, entsprechende Regungen zu erleben. Darüber hinaus wendet sich Schopenhauer auch der äußeren Erfahrung zu und versucht, sie mit der inneren zu verbinden. Genauer gesagt betrachtet er den Leib aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: »Dem Subjekt des Erkennens […] ist dieser Leib auf zwei ganz verschiedene Weisen gegeben: ein Mal als Vorstellung in verständiger Anschauung, als Objekt unter Objekten, und den Gesetzen dieser unterworfen; sodann aber auch zugleich auf eine ganz andere Weise, nämlich als jenes Jedem unmittelbar Bekannte, welches das Wort Wille bezeichnet.« (W I 143) Dabei ordnet er zunächst jedem Willensakt, der im »Selbstbewußtseyn« gegeben ist, eine Aktion des Leibes zu. In einem weiteren Schritt transzendiert Schopenhauer den Bereich der Erfahrung, indem er nicht allein den willkürlichen, sondern allen Bewegungen des Leibes einen Willensakt zuordnet. So betont er: »Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivirte, d. h. in 25
G 160: »Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend. Jedoch hat das Wollen viele Grade, vom leisesten Wunsche bis zur Leidenschaft, und daß nicht nur alle Affekte, sondern auch alle die Bewegungen unsers Innern, welche man dem weiten Begriffe Gefühl subsumirt, Zustände des Willens sind, habe ich öfter auseinandergesetzt […].«
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die Anschauung getretene Akt des Willens. Weiterhin wird sich uns zeigen, daß dieses von jeder Bewegung des Leibes gilt, nicht bloß von der auf Motive, sondern auch von der auf bloße Reize erfolgenden unwillkürlichen, ja, daß der ganze Leib nichts Anderes, als der objektivirte, d. h. zur Vorstellung gewordene Wille ist« (ebd.). Mit anderen Worten, Schopenhauer dehnt den Bereich des Willentlichen dadurch aus, daß er – über die im »Selbstbewußtseyn« gegebenen Willensakte hinaus – unbewußte Regungen des Willens einführt, die es ihm gestatten, einen Parallelismus von Physischem und Psychischem anzunehmen bzw. die Identität von Leib und Wille zu lehren. Hält man sich vor Augen, daß weder die unbewußten Willensakte noch der Wille als empirische Disposition, welche den – bewußten wie unbewußten – Akten zugrunde liegt, anschaulich gegeben sind, so leuchtet ohne weiteres ein, daß es sich in beiden Fällen um Resultate handelt, zu denen Schopenhauer lediglich auf dem Weg einer Interpretation der inneren und äußeren Erfahrung gelangt. Freilich bleibt Schopenhauer nicht bei einer Erläuterung der Willensakte oder des Willens als einer empirischen Disposition stehen, sondern unternimmt den Versuch, den Willen als das Ding an sich zu erweisen. Dabei geht er von der – bereits erwähnten – Identität von Leib und Wille aus: »[M]ein Leib und mein Wille sind Eines; – oder was ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, sofern ich desselben auf eine ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichenden Weise mir bewußt bin, meinen Willen; – oder, mein Leib ist die Objektität meines Willens; – oder, abgesehn davon, daß mein Leib meine Vorstellung ist, ist er nur noch mein Wille« (W I 146). Damit faßt Schopenhauer den Leib als Erscheinung von etwas von ihm Verschiedenem und dieses wiederum als den Willen auf. Ist es durchaus nachvollziehbar, daß der Leib nicht nur vorgestellt wird, sondern auch an sich selbst existiert, so erscheint eine Gleichsetzung von Ding an sich und Wille durchaus problematisch. Schopenhauer setzt zum einen voraus, daß es ein von der Vorstellung verschiedenes Ding an sich gibt, und zum anderen, daß sich die Wirklichkeit im Willen und in der Vorstellung erschöpft: »Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt, noch denkbar.« (W I 149) Träfe dies zu, so wäre das Ding an sich, da es keine Vorstellung wäre, tatsächlich mit dem Willen identisch. Freilich scheitert das Argument daran, daß es sehr wohl denkbar ist, daß es neben den Vorstellungen und dem Willen noch etwas anderes – nämlich vorstellungsunabhängige raum-zeitliche Gegenstände – gibt. Schopenhauer gelingt es offenbar nicht, die Identität des Leibes mit dem Willen als Ding an sich einsichtig zu machen. Das gilt auch für den zweiten Anlauf, den er in diesem Zusammenhang nimmt. Schopenhauer ist davon überzeugt, daß die Aktionen des Leibes Erscheinungen von Willensakten sind. Daraus ergibt sich für ihn, daß auch der Leib selbst eine Erscheinung des Willens ist: »Ist nun jede Aktion meines Leibes Erscheinung eines Willensaktes, in welchem sich, unter gegebenen Motiven, mein Wille selbst überhaupt und im Ganzen, also mein Charakter, wieder ausspricht; so muß auch die unumgängliche Bedingung und Voraussetzung jener Aktion Erscheinung des 49
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Willens seyn: denn sein Erscheinen kann nicht von etwas abhängen, das nicht unmittelbar und allein durch ihn, das mithin für ihn nur zufällig wäre, wodurch sein Erscheinen selbst nur zufällig würde: jene Bedingung aber ist der ganze Leib selbst. Dieser selbst also muß schon Erscheinung des Willens seyn« (W I 151). Man darf sich nicht davon irritieren lassen, daß Schopenhauer im folgenden den Willen mit dem intelligiblen Charakter gleichsetzt, denn dieser gilt ihm letztlich als Objektivation des Willens als Ding an sich, so daß – unter dieser Voraussetzung – der Leib sowohl Erscheinung des intelligiblen Charakters wie auch des Willens als eines Dinges an sich wäre. Freilich läßt sich nicht ohne weiteres nachvollziehen, daß der Leib, um Erscheinungen von Willensakten zu ermöglichen, selbst eine Erscheinung des Willens sein muß. Was aber sein Vorgehen anbelangt, mit dem er von den – sei es bewußten oder unbewußten – Willensakten zum Individualwillen als empirischer Disposition und von diesem zum Willen als Ding an sich gelangt, so ist festzuhalten, daß sich Schopenhauer – trotz mancher anderslautender Beteuerungen – nur bei den bewußten Regungen des Willens, nicht aber bei den unbewußten sowie beim Willen als Disposition oder gar als Ding an sich auf anschaulich Gegebenes stützt. Um über dieses hinauszugehen, deutet er dieses mit Hilfe von Begriffen oder – wie er gelegentlich formuliert – einer »Reflexion« (W I 154 sowie W II 325 u. 338), die man ohne weiteres hermeneutisch nennen könnte. Schopenhauer versucht, die Frage nach dem Ding an sich nicht allein hinsichtlich des Individuums, sondern auch hinsichtlich der empirischen Wirklichkeit insgesamt zu beantworten. Dabei bedient er sich erneut der inneren sowie der äußeren Erfahrung, die er in einer Reihe interpretatorischer Schritte in Richtung auf den Willen als »Kern und Wesen jener […] Welt« (W I 470) hinter sich zurückläßt. Da sich der Wille als Ding an sich nicht etwa der Anschauung darbietet, sondern allenfalls erdeutet wird, erscheint es angemessen, in diesem Zusammenhang von einer Hermeneutik des Weltwillens zu sprechen.26 Es fällt auf, daß Schopenhauer die – bereits erläuterte – These der Identität des Leibes mit dem Willen als »Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur« (W I 148) betrachtet. Damit setzt die Hermeneutik des Weltwillens die Hermeneutik des Individualwillens voraus. Entscheidend für die Interpretation der empirischen Wirklichkeit als Erscheinung des Willens als Ding an sich ist nun, daß Schopenhauer annimmt, die Welt erschöpfe sich in der Vorstellung und im Willen und das Ding an sich sei keine Vorstellung. Daraus ergibt sich für ihn: »Wenn wir der Körperwelt, welche unmittelbar nur in unserer Vorstellung dasteht, die größte uns bekannte Realität beilegen wollen; so geben wir ihr die Realität, welche für Jeden sein eigener Leib hat: denn der ist Jedem das Realste. Aber wenn 26
Ähnlich wie der Begriff des Individualwillens stammt auch jener des Weltwillens nicht von Schopenhauer selbst, sondern von einem seiner Interpreten, der ihn – im letzteren Fall – im Titel eines Buches gebraucht: Alfred Schmidt. Idee und Weltwille. Schopenhauer als Kritiker Hegels. München / Wien 1988.
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wir nun die Realität dieses Leibes und seiner Aktionen analysiren, so treffen wir, außerdem daß er unsere Vorstellung ist, nichts darin an, als den Willen: damit ist selbst seine Realität erschöpft. Wir können daher eine anderweitige Realität, um sie der Körperwelt beizulegen, nirgends finden. Wenn also die Körperwelt noch etwas mehr seyn soll, als bloß unsere Vorstellung, so müssen wir sagen, daß sie außer der Vorstellung, also an sich und ihrem innersten Wesen nach, Das sei, was wir in uns selbst unmittelbar als Willen finden.« (W I 149) Neben diesem Argument verwendet Schopenhauer noch ein anderes, das einem Analogieschluß gleichkommt. So erklärt er, er wolle alle Objekte »nach Analogie jenes Leibes beurtheilen und daher annehmen, daß, wie sie einerseits, ganz so wie er, Vorstellung und darin mit ihm gleichartig sind, auch andererseits, wenn man ihr Daseyn als Vorstellung des Subjekts bei Seite setzt, das dann noch übrig Bleibende, seinem innern Wesen nach, das selbe seyn muß, als was wir an uns Wille nennen« (W I 148 f.). Während das erste Argument daran krankt, daß die ontologische Voraussetzung, die Welt bestehe aus nichts anderem als dem Willen und der Vorstellung, problematisch erscheint, besteht die Schwäche des zweiten darin, daß Analogieschlüsse kein formal korrektes Verfahren des Folgerns darstellen. Daraus, daß eine Entität eine finite Menge von Eigenschaften sowie eine zusätzliche Eigenschaft besitzt, ergibt sich keineswegs, daß eine andere Entität mit derselben finiten Menge von Eigenschaften dieselbe zusätzliche Eigenschaft besitzt.27 Angesichts dieser Schwierigkeiten könnte man sich darauf zurückziehen, daß es Schopenhauer weniger um einen logisch zwingenden Schluß als vielmehr darum geht, im Ausgang von der Selbsterfahrung des Subjekts eine bloße – mehr oder weniger plausible – Deutung der äußeren Wirklichkeit zu präsentieren. Zugunsten dieses Vorschlags könnte man die folgende Stelle aus dem Handschriftlichen Nachlaß anführen: »Aus dir sollst du die Natur verstehn, nicht dich aus der Natur. Das ist mein revolutionäres Princip.« (HN I 421) Obgleich es nicht angeht, die These, das Ding an sich sei der Wille, im Zuge eines Analogieschlusses auf die gesamte äußere Wirklichkeit zu übertragen, weist diese eine Reihe von Eigenschaften auf, die Schopenhauer in seinem Vorgehen bestärkt haben mögen. Es handelt sich darum, daß es in der Natur finales und teleo logisches Verhalten gibt, das seinerseits mit Kräften zu tun hat. Schopenhauer teilt dieses Verhalten in solches ein, das durch Ursachen, Reize oder Motive bedingt ist. Während es im letzteren Fall keine Schwierigkeiten bereitet, eine Beziehung zum Willen herzustellen, ist es in den beiden ersteren weniger einfach. Schopenhauer legt zunächst dar, daß die Instinkte und Kunsttriebe der Tiere einerseits zweckmäßig seien, anderseits von der Erkenntnis nur begleitet, nicht aber geleitet würden. Der Wille befinde sich dort »in blinder Thätigkeit« (W I 160). Dies gelte für manche Funktionen des menschlichen Körpers ebenfalls: »Auch in uns wirkt der selbe Wille vielfach blind: in allen den Funktionen unsers Leibes, welche 27
Vgl. Franz von Kutschera. Vernunft und Glaube. Berlin / New York 1990, 34 ff.
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keine Erkenntniß leitet, in allen seinen vitalen und vegetativen Processen, Verdauung, Blutumlauf, Sekretion, Wachsthum, Reproduktion.« (W I 160) In einem weiteren Schritt legt Schopenhauer dar, daß die Pflanzen – anders als Mensch und Tier – lediglich für Reize empfänglich seien, aber dennoch Kräfte sowie eine gewisse Zweckmäßigkeit erkennen ließen und deshalb vom Willen bestimmt seien: »Wir werden also was für die Vorstellung als Pflanze, als bloße Vegetation, blind treibende Kraft erscheint, seinem Wesen an sich nach, für Willen ansprechen und für eben Das erkennen, was die Basis unserer eigenen Erscheinung ausmacht« (W I 163). Schopenhauer gibt sich aber keineswegs mit der Beobachtung zufrieden, daß das Verhalten von Lebewesen zweckmäßig ist, sondern er behauptet das auch von ihrem Körperbau, den er dann ebenfalls als Ausdruck des Willens deutet: »Hierauf beruht die vollkommene Angemessenheit des menschlichen und thierischen Leibes zum menschlichen und thierischen Willen überhaupt, derjenigen ähnlich, aber sie weit übertreffend, die ein absichtlich verfertigtes Werkzeug zum Willen des Verfertigers hat, und dieserhalb erscheinend als Zweckmäßigkeit, d. i. die teleologische Erklärbarkeit des Leibes.« (W I 152 f.) Was schließlich die – von Ursachen beherrschte – unbelebte Natur anbelangt, so räumt Schopenhauer zwar ein, daß »die Endursachen gänzlich zurücktreten« (W II 394), doch betont er, daß auch dort Kräfte in Richtung auf bestimmte Ziele wirken, und deutet sie als Ausdruck des Willens: »Wenn wir [die Welt] nun mit forschendem Blicke betrachten, wenn wir den gewaltigen, unaufhaltsamen Drang sehn, mit dem die Gewässer der Tiefe zueilen, die Beharrlichkeit, mit welcher der Magnet sich immer wieder zum Nordpol wendet, die Sehnsucht, mit der das Eisen zu ihm fliegt, die Heftigkeit, mit welcher die Pole der Elektricität zur Wiedervereinigung streben […] – so wird es uns keine große Anstrengung der Einbildungskraft kosten, selbst aus so großer Entfernung unser eigenes Wesen wiederzuerkennen, jenes Nämliche, das in uns beim Lichte der Erkenntniß seine Zwecke verfolgt, hier aber, in den schwächsten seiner Erscheinungen, nur blind, dumpf, einseitig und unveränderlich strebt, jedoch, weil es überall Eines und das Selbe ist […] – auch hier wie dort den Namen Wille führen muß, welcher Das bezeichnet, was das Seyn an sich jedes Dinges in der Welt und der alleinige Kern jeder Erscheinung ist.« (W I 163 f.) Schopenhauer ist sich darüber im klaren, daß er, indem er den Begriff des Willens nicht nur in Hinblick auf das Individuum, sondern auf die empirische Wirklichkeit insgesamt gebraucht, eine beträchtliche »Ausdehnung« oder »Erweiterung« (W I 155 f.) desselben vornimmt. In diesem Zusammenhang nimmt er an, daß der Wille in verschiedenen »Abstufungen« und »Grade[n]« (W I 149, 155 u. 173) erscheint. So heißt es, die Äußerungen des Willens brauchten weder von Erkenntnis begleitet (vgl. W I 149, 156 u. 159 ff.) noch durch Motive bestimmt zu werden (ebd.), ja sie müßten nicht einmal bewußt sein (vgl. N 279). Nun könnte man aber fragen, warum Schopenhauer nicht einen neutraleren Ausdruck wie z. B. »Kraft« oder »Energie« wählt. Genau dies lehnt er mit dem Argument ab, allein der Wille sei dem Menschen – aus seinem Inneren – vertraut und ermögliche dadurch einen größeren Erkenntnisgewinn: »Führen wir daher den Begriff der 52
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Kraft auf den des Willens zurück, so haben wir in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres, ja auf das einzige uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und unsere Erkenntniß um ein sehr großes erweitert.« (W I 157) Daß damit der Vorwurf des Anthropomorphismus droht, stört Schopenhauer nicht weiter. So bekennt er: »Ich habe […] die Welt als Makranthropos nachgewiesen; sofern Wille und Vorstellung ihr wie sein [des Menschen] Wesen erschöpft.« (W II 753) Obgleich sich Schopenhauer dessen bewußt ist, daß der Wille als Ding an sich nicht adäquat erkannt werden kann, schreibt er ihm bestimmte Eigenschaften zu. Dabei läßt er sich von der Annahme leiten, daß der Wille – im Verhältnis zur Vorstellung – »ein von dieser toto genere Verschiedenes [ist]« (W I 146). Unter dieser Voraussetzung kann Schopenhauer dem Willen genau die Eigenschaften absprechen, die für die Vorstellung konstitutiv sind: »Der Wille als Ding an sich ist von seiner Erscheinung gänzlich verschieden und völlig frei von allen Formen derselben […], die daher nur seine Objektität betreffen, ihm selbst fremd sind.« (W I 157) So falle der Wille weder unter die Anschauungsformen von Raum und Zeit noch unter den Satz vom zureichenden Grunde (vgl. W I 157 f.). Angesichts der Tatsache, daß – nach Schopenhauer – Raum und Zeit »Vielheit« und »Wechsel« (W I 205) ermöglichen, überrascht es nicht, daß er diese dem Willen als Ding an sich vorenthält und statt dessen erklärt, dieser zeichne sich vielmehr durch »Einheit« und »Identität« (W I 165, 205 f. u. 213) aus. Entzieht sich der Wille als Ding an sich überdies dem Satz vom zureichenden Grunde, so ist er »grundlos« (W I 150 u. 158) und steht damit außerhalb des Kausalitätsprinzips. Dies aber bedeutet darüber hinaus, daß der Wille als Ding an sich frei ist: »Daß der Wille als solcher frei sei, folgt schon daraus, daß er, nach unserer Ansicht, das Ding an sich […] ist.« (W I 361) Da überdies die Erkenntnis an den Bereich der Vorstellung gebunden ist, läßt sich nachvollziehen, daß Schopenhauer den Willen als »bewußtlos« (W II 234), »erkenntnißlos« (W II 546 u. P II 55) oder gar »blind[]« (W I 201 u. 234) charakterisiert. Darüber hinaus beschreitet Schopenhauer noch einen anderen Weg, um den Willen mit Eigenschaften auszustatten. Es handelt sich darum, daß er im Zuge einer Interpretation der empirischen Wirklichkeit bestimmtes darin auftretendes Verhalten als Ausdruck von Dispositionen deutet, die er mit dem Willen in Verbindung bringt. Freilich wird dabei nicht immer klar, ob er den Willen als Disposition oder Träger einer solchen auffaßt und ob diese empirisch oder metaphysisch ist. Von dieser Unschärfe sind auch die zuletzt angeführten Eigenschaften betroffen. Schopenhauer schreibt sie einem als »Drang« oder »Trieb« charakterisierten Willen zu. So stellt er fest: »Allein bei genauerer Betrachtung werden wir auch hier finden, daß [der Wille] vielmehr ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivirter Trieb ist.« (W II 418) Dieser besitzt, wie Schopenhauer darlegt, kein letztes Ziel, sondern sei eine »Bewegung« oder ein »Streben vorwärts in den unendlichen Raum, ohne Rast und Ziel« (W I 199; vgl. a. W I 217 u. 386). Angesichts der Tatsache, daß sich – laut Schopenhauer – das Leben als 53
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die höchste Stufe der Objektivationen des Willens darbietet, beschreibt er diesen gelegentlich als »Willen zum Leben«: »[D]a was der Wille will immer das Leben ist, eben weil dasselbe nichts weiter, als die Darstellung jenes Wollens für die Vorstellung ist; so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus, wenn wir statt schlechthin zu sagen, ›der Wille‹, sagen ›der Wille zum Leben‹.« (W I 347; vgl. a. W II 410 u. 419) Mit dieser Wendung distanziert sich Schopenhauer entschieden von der Tradition der abendländischen Metaphysik des Geistes. In diesem Sinne bekennt er, daß er »das nicht weiter Erklärliche, sondern jeder Erklärung zum Grunde zu Legende, den Willen zum Leben gesetzt habe, und daß dieser, weit entfernt, wie das Absolutum, das Unendliche, die Idee und ähnliche Ausdrücke mehr, ein leerer Wortschall zu seyn, das Allerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Realität selbst.« (W II 411) Schopenhauer begnügt sich nicht damit, das Ding an sich als Willen zu deuten, sondern macht sich diese Einsicht zunutze, um die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung als Objektivation desselben zu verstehen. Dabei schiebt er zwischen Wille und Vorstellung eine zusätzliche Instanz ein: »Das einzelne, in Gemäßheit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding ist also nur eine mittelbare Objektivation des Dinges an sich (welches der Wille ist), zwischen welchem und ihm noch die Idee steht, als die alleinige unmittelbare Objektität des Willens« (W I 228). Im Verhältnis zum Ding an sich bieten sich die Ideen als – angeblich zeitlose – »Akte« (W I 208 f. u. 211) dar, im Verhältnis zur Vorstellung hingegen als die verschiedenen »Grade« oder »Stufen« (W I 177 u. 182 f.), in denen der Wille erscheint. Als solche nennt Schopenhauer die als qualitates occultae auftretenden Naturkräfte (vgl. W I 171 ff., 178 f.), den artspezifischen Charakter der Pflanzen und Tiere sowie den individuellen Charakter der Menschen, wobei er die Ideen nicht mit dem empirischen, sondern dem intelligiblen Charakter gleichsetzt (vgl. W I 187, 208 u. 211). Wie Schopenhauer betont, liegt ein Gegensatz zwischen den »verschiedenen Ideen« auf der einen und dem »einen Willen[]« (W I 212) auf der anderen Seite vor. Mehr noch, die Ideen zeichneten sich nicht allein durch ihre Diversität aus, sondern stünden »unter einander in Konflikt« (W I 195). Schopenhauer deutet diesen »Streit« (W I 196) als eine »dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst« (W I 197; vgl. a. W I 318 u. 387), die er freilich nicht in einem geschichtsphilosophischen oder -theologischen Telos zur Aufhebung bringt, sondern bestehen bleiben läßt. So erklärt er: »In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist.« (W I 217) Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer den Willen als »Wille[n] zum Leben« (W I 347) interpretiert, erstaunt es nicht weiter, daß er die belebte Natur als eine auf den Zweck des Lebens ausgerichtete charakterisiert. Nach seiner Auffassung zeigt sich das sowohl an der organischen Ausstattung der Lebewesen als auch an ihrem Verhalten. Nicht zuletzt gelte das für die Erkenntnis, die auf ebendiesen Zweck ausgerichtet sei: »Die Erkenntniß […] geht also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern Stufen seiner Objekti54
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vation, als eine bloße μηχανη, ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes.« (W I 204) Daher überrascht es auch nicht, daß Schopenhauer – insbesondere im Kapitel 19 des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung – darauf insi stiert, daß der Wille im Verhältnis zur Erkenntnis den Primat innehat. Erblickt man in der Erkenntnis ein Phänomen, in dem sich der Wille manifestiert bzw. dem er zugrunde liegt, so kann man – mit Schopenhauer – dann, wenn die Erkenntnis den Willen selbst zum Gegenstand hat, geradezu von einer Erkenntnis des Willens durch den Willen bzw. von einer »Selbsterkenntniß« (W I 218, 238, 362 u. 506 sowie W II 754) des Willens sprechen. Daß sich der Wille tatsächlich selbst erkennt, gilt nun Schopenhauer als der »eine[] und einzige[] Gedanke[]« (W I 360), in dem seine Philosophie kulminiert: »Meine ganze Ph[ilosophie] läßt sich zusammenfassen in dem einen Ausdruck: die Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens.« (HN I 462) Auch wenn sich Schopenhauer in seiner Metaphysik der Natur weder auf bloße Begriffe noch gar auf eine intellektuelle Anschauung beruft, sondern in einer Reihe interpretatorischer Schritte von der empirischen Wirklichkeit zum Willen als dem Ding an sich voranschreitet, erhebt sich die Frage, ob sein Vorgehen sowie die Resultate, die es liefert, tatsächlich überzeugen. Dazu ist zunächst festzustellen, daß es durchaus legitim erscheint, bestimmte affektive und volitionale Regungen von Lebewesen auf eine entsprechende Disposition zurückzuführen, und ähnliches gilt sicher auch für den Vorschlag, den Leib mit seinen Funktionen als Ausdruck eines Willens zum Leben zu betrachten, der bald bewußt, bald unbewußt wirken mag. Freilich wird man in diesen Fällen – sowie bei allem, was Schopenhauer zur Zweckmäßigkeit in der belebten Natur ausführt – keineswegs zwingend zu einer stärkeren Annahme als zu jener einer empirischen Disposition gelangen, die man als Willen oder Willen zum Leben bezeichnen mag. Was hingegen die unbelebte Natur anbelangt, so scheint es keineswegs klar zu sein, ob sie durchgängig zweckmäßig ist und welchen Status die Kräfte besitzen, die Schopenhauer darin anzutreffen glaubt. Selbst unter der Voraussetzung, daß sich in beiderlei Hinsicht eine befriedigende Antwort finden ließe, spräche kaum etwas dafür, über die Annahme einer empirischen Disposition hinauszugehen. Dies ist allerdings nicht der Weg, den Schopenhauer beschreitet, indem er von empirischen Dispositionen bzw. dem empirischen Charakter zu intelligiblen Dispositionen bzw. zum intelligiblen Charakter der Dinge gelangt und den Bereich des Intelligiblen mit den Ideen identifiziert, die er wiederum als Objektivationen des Willens als eines Dinges an sich hinstellt. Der damit vollzogene Übergang von der empirischen zur intelligiblen bzw. metaphysischen Wirklichkeit erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst leuchtet nicht ein, wie das Ding an sich – als Ding – mit einer Disposition, dem Willen, in eins fallen soll. Die Fähigkeit, etwas zu wollen bzw. sich teleologisch oder final zu verhalten, ist nichts, was an sich selbst bestünde, sondern tritt vielmehr an – sei es belebten oder unbelebten – Dingen auf. Man könnte allenfalls sagen, das Ding an sich sei ein wol55
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lendes. Dies aber erscheint insofern bedenklich, als Schopenhauer dem Ding an sich die Zeitlichkeit abspricht und kaum verständlich ist, daß ein nicht-zeitliches Ding etwas will oder daß es eine nicht-zeitliche Disposition gibt, etwas zu wollen. Nicht minder schwierig ist vor diesem Hintergrund die von Schopenhauer vertretene These, der Wille als Ding an sich sei ein »Agens« oder ein »Thätiges« (N 220 u. 288). Es scheint, als sei Schopenhauer in folgende Aporie geraten: Einerseits betrachtet er das Ding an sich als von der Vorstellung toto genere verschieden, so daß er – streng genommen – nichts darüber aussagen dürfte; anderseits versucht er, angetrieben vom metaphysischen Bedürfnis, sich dennoch darüber zu äußern, und ist dabei auf eine Sprache angewiesen, die allenfalls der empirischen, nicht aber der metaphysischen Wirklichkeit angemessen ist. Daß er sich bei alledem einer hermeneutischen Methode bedient, ändert wenig an den Widersprüchen, in die er gerät, zeugt aber nichtsdestoweniger von einem höheren Maße an intellektueller Redlichkeit als der Rekurs auf bloße Begriffe oder gar die intellektuelle Anschauung, wie er im spekulativen Idealismus eines Fichte, Schelling oder Hegel anzutreffen ist. So muß Schopenhauer trotz seines Versuchs, den Willen als Ding an sich zu erdeuten und ihm auf diese Weise kognitiv gerecht zu werden, letzten Endes einräumen: »Ein ›Erkennen der Dinge an sich‹, im strengsten Sinne des Worts, wäre demnach schon darum unmöglich, weil wo das Wesen an sich der Dinge anfängt, das Erkennen wegfällt, und alle Erkenntniß schon grundwesentlich bloß auf Erscheinungen geht.« (W II 322) Es kann resümiert werden, daß sich Schopenhauer insofern einer hermeneutischen Methode bedient, als er in seiner Metaphysik des Willens den Versuch unternimmt, im Zuge einer Interpretation der Welt als Vorstellung deren »Bedeutung« zu ergründen und sie mit dem Willen als dem Ding an sich gleichzusetzen. Stellt man in Rechnung, daß er diesen als blinde, irrationale Kraft betrachtet, welche dem Menschen, ohne ihm bewußt zu sein, voraus liegt und ihn eher beherrscht, als daß er sie beherrschen würde, so könnte man sagen, daß seine Hermeneutik des Willens jener Art des entlarvenden Denkens ähnelt, wie es z. B. bei Marx, Nietzsche und Freud auftritt.
Metaphysik des Schönen Während Schopenhauer im ersten und zweiten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung die Realität so beschreibt, wie sie nach seiner Auffassung ist, erläutert er im dritten und vierten, wie sie überwunden werden kann. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß er von der »moralischen Bedeutung« der Wirklichkeit überzeugt ist. So stellt er fest: »Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrthum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch Das, was der 56
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Glaube als den Antichrist personificirt hat.« (P II 219) Mit anderen Worten, es geht Schopenhauer nicht einfach nur darum, wie die Welt ist, sondern auch darum, ob und wie sie sein sollte. Bliebe man bei einer bloßen Deskription stehen, wie sie die Metaphysik der Natur liefert, so käme das, wie er meint, einem »trostlosen und unmoralischen Spinozismus« (Vo I 89) gleich. Nach allem, was bisher dargelegt wurde, wäre die Welt nicht zuletzt deshalb negativ zu bewerten, weil der Wille als blinde, erkenntnislose Kraft mit sich selbst entzweit ist und weder für das individuell Seiende noch für die Wirklichkeit als Ganzes ein letztes Ziel hat: »In der That gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Gränzen, zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist.« (W I 217) Unter dieser Voraussetzung ist es keineswegs erstaunlich, daß Schopenhauer zur pessimistischen Auffassung neigt, die Welt sei etwas, das letzten Endes nicht sein sollte. In diesem Sinne erklärt Schopenhauer, daß »wir über das Daseyn der Welt uns nicht zu freuen, vielmehr zu betrüben haben; – daß ihr Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehn wäre; – daß sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte« (W II 674 f.). Nun ist es – nach Schopenhauer – ein legitimes Anliegen der Philosophie, dem Menschen angesichts der Negativität der Wirklichkeit einen Weg zu weisen, mit ihr fertig zu werden, und zwar dadurch, daß er sie überwindet. Damit bietet sich sein Ansatz als Erlösungslehre bzw. Soteriologie dar. Nach seiner Auffassung bestehen zwei Möglichkeiten der Weltüberwindung: eine ästhetische, die Gegenstand der Metaphysik des Schönen ist, und eine ethische, die in der Metaphysik der Sitten zu erörtern ist. Obgleich Schopenhauer dem Schönen durchaus ein hohes Maß an Bedeutung zuerkennt, bekennt er, daß ihm an der Metaphysik der Sitten weitaus mehr als an der Metaphysik des Schönen gelegen ist: »Wenn nun also die Metaphysik der Sitten zu den früher vorzunehmenden Betrachtungen nothwendig hinzukommen muß, um das Mißverstehn derselben zu verhüten, um solche ins gehörige Licht zu stellen, und um überhaupt das Wichtigste und Jedem am meisten Angelegene nicht wegzulassen: so ist hingegen mit der Metaphysik des Schönen dieses nicht in gleichem Grade der Fall, und sie könnte allenfalls, ohne großen Nachtheil, aus dem Ganzen unserer Betrachtungen wegfallen.« (Vo I 90)28 So wie Schopenhauer in einer »ersten Betrachtung« die Welt als Vorstellung (erstes Buch) und die Welt als Wille (zweites Buch) thematisiert, geht er – in einer »zweiten Betrachtung« – erneut auf die Welt als Vorstellung (drittes Buch) und die Welt als Wille (viertes Buch) ein. Dabei besteht der Unterschied zwischen den beiden »Betrachtungen« darin, daß sich die erste beschreibend, die zweite hingegen soteriologisch darbietet. Was nun die Welt als Vorstellung anbelangt, so wird sie im ersten Buch als »dem Satze vom Grunde unterworfen« (W I 27) betrachtet, im dritten aber als »unabhängig vom Satze vom Grunde« (W I 219). Vergegenwärtigt man sich, daß die im ersten Buch behandelten, unter den Satz 28
Demgegenüber insistiert Pothast (1989), in Anlehnung an eine Stelle aus Nietzsches Geburt der Tragödie, daß Schopenhauer die Kunst zur »eigentlich metaphysischen Tätigkeit« erhebt und ihr damit eine herausragende Stellung zuerkennt.
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vom zureichenden Grunde fallenden Vorstellungen die reine und die empirische Anschauung sowie der Begriff sind, so leuchtet ein, daß im dritten Buch von einer anderen Art von Vorstellung die Rede ist, die sich den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit sowie der Kategorie der Kausalität entzieht. Schopenhauer bezeichnet diese – mit einem von Platon entlehnten Ausdruck – als Idee oder auch als »Platonische Idee« (W I 219), der er auf seiten des Subjekts eine besondere Weise des Erkennens, die – im Sinne der Ästhetik zu verstehende – Kontemplation zuordnet.29 Da er die Ideen jenseits von Raum und Zeit ansiedelt, ist es nur konsequent, daß Schopenhauer sie als »bleibend« (W I 237) oder »ewig« (W I 222 u. 224) einstuft. Sie gehören damit einem metaphysischen Bereich an, dem er – im Vergleich zur empirischen Wirklichkeit – ein höheres Maß an Dignität zuerkennt (vgl. W I 235). Das zeigt sich an zwei Eigentümlichkeiten der Ideen. Zunächst einmal charakterisiert sie Schopenhauer – an Platon anknüpfend – als Urbilder der empirischen Dinge: »Diese Ideen also insgesammt stellen sich in unzähligen Individuen und Einzelheiten dar, als deren Vorbild sie sich zu diesen ihren Nachbildern verhalten.« (W I 221; vgl. a. W I 224 u. 235) Darüber hinaus ist Schopenhauer überzeugt, daß in den Ideen das Wesen der empirischen Dinge liegt: »Aber nur das Wesentliche aller jener Stufen seiner Objektivation macht die Idee aus: hingegen die Entfaltung dieser, indem sie in den Gestaltungen des Satzes vom Grunde auseinandergezogen wird zu mannigfaltigen und vielseitigen Erscheinungen; dieses ist der Idee unwesentlich, liegt bloß in der Erkenntnißweise des Individuums und hat auch nur für dieses Realität.« (W I 236)30 Da nun unter dem Wesen einer Sache diejenigen Eigenschaften zu verstehen sind, die entscheidend dafür sind, daß sie einer bestimmten Art bzw. Gattung angehört, ist es nicht weiter erstaunlich, daß Schopenhauer erklärt, die Idee enthalte die einer Art bzw. Gattung wesentlichen Eigenschaften (vgl. W II 341, 432 f. u. 566). Sieht man genauer hin, so bemerkt man, daß Schopenhauer die Ideen nicht etwa als gegenständlich betrachtet, sondern das Wesen, das sie zum Ausdruck bringen, mit den in der Metaphysik der Natur eingeführten Objektivationsstufen des Willens gleichsetzt, also den Naturkräften, dem artspezifischen Charakter der Pflanzen und Tiere sowie dem individuellen Charakter des Menschen.31 Als auf das gemeinsame Wesen mehrerer Dinge bezogene Vorstellung ist die Idee – ähnlich wie der Begriff – allgemein (vgl. W II 557), doch sie unterscheidet 29
Ob die Einführung der Ideen tatsächlich systematisch erforderlich ist oder nicht, wird durchaus kontrovers diskutiert. Während Janaway zu einer vorsichtig positiven Einschätzung gelangt, üben Hamlyn und Magee deutliche Kritik. Vgl. Hamlyn (1980), 8, Chri stopher Janaway. Schopenhauer. A Very Short Introduction. Oxford 2002, 75, Bryan Magee. The Philosophy of Schopenhauer. Oxford 1983, 239. 30 Daher kann Schopenhauer die Idee sowohl mit der – platonisch verstandenen – Form (vgl. W I 222 u. 232) bzw. der forma substantialis (vgl. W I 193 u. 270) wie auch dem intelligiblen Charakter (vgl. W I 208 f. u. 211 sowie W II 432) gleichsetzen. 31 Vgl. a. Pothast (1989), 67.
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sich darin von ihm, daß sie nicht abstrakt, sondern anschaulich und nicht unbestimmt, sondern bestimmt ist: »Der Begriff ist abstrakt, diskursiv, innerhalb seiner Sphäre völlig unbestimmt, nur ihrer Gränze nach bestimmt […]. Die Idee dagegen, allenfalls als adäquater Repräsentant des Begriffs zu definiren, ist durchaus anschaulich und, obwohl eine unendliche Menge einzelner Dinge vertretend, dennoch durchgängig bestimmt« (W I 296). Da die Idee den Dingen ontologisch vorgeordnet ist, der Begriff hingegen im Ausgang von bereits gegebenen Dingen durch Abstraktion gewonnen wird, also den Dingen ontologisch nachgeordnet ist, stuft Schopenhauer erstere als »unitas ante rem« und letzteren als »unitas post rem« ein (W I 297 u. W II 434). In Hinblick auf den Willen als Ding an sich gilt Schopenhauer die Idee als »Objektivation« (W I 178 ff.) oder »Objektität« (W I 179 u. 207) desselben. Damit meint er, daß sich der Wille nicht unmittelbar in der empirischen Wirklichkeit manifestiert, sondern daß er zunächst in den Ideen erscheint. Damit nehmen die Ideen eine mittlere Stellung zwischen dem Ding an sich auf der einen und der empirischen Wirklichkeit auf der anderen Seite ein. Stellt man in Rechnung, daß die Idee dem Willen damit näher steht als die empirische Wirklichkeit, so ist nachvollziehbar, daß Schopenhauer sie als »unmittelbare Objektität« des Willens charakterisiert: »Das einzelne, in Gemäßheit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding ist also nur eine mittelbare Objektivation des Dinges an sich (welches der Wille ist), zwischen welchem und ihm noch die Idee steht, als die alleinige unmittelbare Objektität des Willens, indem sie keine andere dem Erkennen als solchem eigene Form angenommen hat, als die der Vorstellung überhaupt, d. i. des Objektseyns für ein Subjekt.« (W I 228) Da die Idee nicht dem Raum, der Zeit und der Kausalität, sondern nur der Subjekt-Objekt-Relation unterworfen ist, hält sich Schopenhauer gar für berechtigt, sie als »adäquate Objektität« (W I 228 u. 233 ff.) des Willens zu bezeichnen.32 Ferner lehrt Schopenhauer, daß sich der Wille in den Ideen in unterschiedlichen Graden oder Stufen objektiviert, die eine hierarchische Ordnung darstellen, die sich von den Naturkräften über die Ideen der Pflanzen und Tiere bis zur Idee des Menschen erstreckt, in der sie kulminiert (vgl. W I 178 ff.).33 Dabei betont Schopenhauer, daß »in allen Ideen, d. h. in allen Kräften der unorganischen und allen Gestalten der organischen Natur, einer und der selbe Wille es ist, der sich offenbart, d. h. in die Form der Vorstellung, in die Objektität, eingeht« (W I 193). Gelegentlich beschreibt Schopenhauer die Ideen, in denen sich der Wille mani-
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Hält man sich vor Augen, daß sich der Wille streng genommen nicht erkennen läßt, so ist der Ausdruck »adäquate Objektität« allerdings mit Vorsicht zu genießen. 33 Von einer Stufe zur anderen nehmen die Ideen – nach Schopenhauer – an Individualität zu, und zwar dergestalt, daß auf der höchsten Stufe, dem Menschen, einer Idee nicht mehr eine Art oder Gattung, sondern ein Individuum mit einem jeweils eigenen Charakter entspricht (vgl. W I 180).
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festiert, als »Willensakte« (W I 207 ff. u. 211 f.)34 Das mutet insofern merkwürdig an, als unter einem Akt eine Tätigkeit und damit etwas Zeitliches zu verstehen ist, der Wille als Ding an sich aber – sowie auch die Idee – außerhalb der Zeit liegt. Eine ähnlich gelagerte Schwierigkeit besteht darin, begreiflich zu machen, wie der Wille und die Ideen als nicht-zeitliche Entitäten in zeitlichen Entitäten, wie sie die empirischen Dinge sind, in Erscheinung treten können. Da es sich bei der Idee um eine anschauliche Vorstellung handelt, leuchtet es ein, daß sie Gegenstand einer anschaulichen – und nicht etwa abstrakten – Erkenntnis ist (vgl. W I 307). Gelingt nun dem Menschen die Erkenntnis einer Idee, so erhebt er sich über die Beschränkungen, denen er als empirisches, vom Willen getriebenes Wesen unterworfen ist, und erlebt sich als »reines Subjekt des Erkennens« bzw. »reines Subjekt der Erkenntniß«: »Der […] Uebergang von der gemeinen Erkenntniß einzelner Dinge zur Erkenntniß der Idee geschieht plötzlich, indem die Erkenntniß sich vom Dienste des Willens losreißt, eben dadurch das Subjekt aufhört ein bloß individuelles zu seyn und jetzt reines, willenloses Subjekt der Erkenntniß ist, welches nicht mehr, dem Satze vom Grunde gemäß, den Relationen nachgeht; sondern in fester Kontemplation des dargebotenen Objekts […] ruht und darin aufgeht.« (W I 231) Kennzeichnend für diese Kontemplation ist, daß sich das Subjekt von Raum und Zeit – und damit von seiner Individualität – loslöst (vgl. W I 222), in der betrachteten Idee aufgeht (vgl. W I 232 f.), sich von seinem Willen emanzipiert (vgl. W I 234) und daher – solange dieser Zustand andauert – kein Leiden und keinen Schmerz mehr empfindet. Schopenhauer stellt dazu fest: »[W]ir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.« (W I 253) Genau dieser Zustand ließe sich in gewissem Sinne als Erlösung des Menschen vom Druck der Realität deuten. Zwar konzediert Schopenhauer, daß im Prinzip jeder Mensch in der Lage ist, Ideen zu erkennen (vgl. W I 250), doch schreibt er diese Fähigkeit dem Genie in besonderem Maße zu (vgl. W I 240 ff.). Allerdings versteht er unter einem Genie keineswegs einen Menschen, der sich durch ein besonders hohes Maß an Kreativität oder Originalität auszeichnet, sondern seine hervorstechende Eigenschaft ist eher kognitiv, sie hat weniger mit Subjektivität als mit Objektivität zu tun: »[S] o ist Genialität nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene Person, d. i. den Willen, gehenden. Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntniß, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens daist, diesem Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennen34
An einer Stelle setzt Schopenhauer die Ideen nicht mit Willensakten gleich, sondern erklärt, in der Idee trete ein Willensakt in Erscheinung: »Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch eigentlicher mit dem ursprünglichen Willensakt, der sich in ihr offenbart, zusammen« (W I 208).
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des Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben« (W I 240). Gegenstand der besonderen, dem Genie eigentümlichen Art von anschaulicher Erkenntnis sind nicht etwa einzelne Dinge, sondern das Allgemeine bzw. das Wesen der Dinge (vgl. W I 239 u. W II 449 f.). Dies bedeutet, daß mit Objektivität nicht empirische, sondern ideale, das Wesen betreffende Objektivität gemeint ist. Was aber das letztere anbelangt, so siedelt es Schopenhauer bekanntlich in den unveränderlichen, ewigen Ideen an. Angesichts der Tatsache, daß nach dem Satz vom zureichenden Grunde jedes Objekt in einer Beziehung zu einem anderen Objekt steht und durch sie bestimmt wird, läuft die empirische Erkenntnis darauf hinaus, eine Relation eines Objekts zu anderen herzustellen, während die geniale Erkenntnis gerade darin besteht, das Wesen des Objekts unabhängig von allen Relationen zu erfassen. Letztere bezeichnet der Philosoph auch als »Kontemplation« oder »reine Kontemplation« (W I 239 f. u. 243). Erfaßt das Genie die Idee, die einem Gegenstand zugrunde liegt, so erfährt es sich als »reines Subjekt des Erkennens« (W I 240). In diesem Zustand erlebt sich das Genie nicht mehr als Individuum, sondern geht in der Idee auf, die es kontempliert. Mehr noch, es löst sich vom Willen los, dem es sonst unterworfen ist (vgl. W I 240 u. 242 f.).35 Da die menschliche Erkenntnis in der Regel vom Willen geleitet und gelegentlich sogar getrübt wird, stellt die Erhebung des Genies über den Willen geradezu die Bedingung der Möglichkeit reinen, objektiven Erkennens dar. Dabei kann man – mit Schopenhauer – das Genie als den »höchsten Grad der Objektivität des Erkennens definiren« (W II 342). Ist in diesem Zusammenhang von der Reinheit der Erkenntnis die Rede, so bezieht sich dies zum einen darauf, daß die Erkenntnis die empirische Wirklichkeit transzendiert, und zum anderen darauf, daß sie nicht unter dem Einfluß des Willens steht. Der Preis, den das Genie für dieses Privileg zu entrichten hat, besteht nach Schopenhauer darin, daß es in praktischen Angelegenheiten wenig Geschick hat (vgl. W I 242) und mehr als gewöhnliche Menschen leidet (vgl. W I 246). Das Genie ragt nicht allein durch die Erkenntnis der Ideen heraus, sondern es verfügt darüber hinaus über die Fähigkeit, sie zu wiederholen und darzustellen. Dies geschieht, wie Schopenhauer erläutert, in Bereichen wie der Kunst, der Poesie sowie der Philosophie: »Ein Genie ist ein Mensch, der einen doppelten Intellekt hat: den einen für sich, zum Dienste seines Willens, und den andern für die Welt, deren Spiegel er wird, indem er sie rein objektiv auffaßt. Die Summe, oder Quintessenz dieser Auffassung wird, nachdem die technische Ausbildung hinzugekommen ist, in Werken der Kunst, der Poesie, oder der Philosophie wiedergegeben.« (P II 84) Um dies zu leisten, bedarf das Genie der »Besonnenheit« (W I 240 u. 250 f.), das heißt, es muß in der Lage sein, die entsprechende Erkenntnis 35
Da der Mensch als empirisches Wesen durch den Willen bestimmt ist, wird die für die willensfreie Erkenntnis der Ideen erforderliche Leistung gleichermaßen einem außerhalb desselben situierten Genius zugeschrieben. Vgl. W II 446 u. 455 f. sowie P II 461.
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über den Augenblick hinaus zu konservieren.36 Schopenhauer schreibt dem Genie darüber hinaus auch Phantasie zu. Er erblickt ihre Aufgabe jedoch nicht darin, Beliebiges zu erfinden, sondern darin, die unmittelbar gegebene empirische Wirklichkeit, in der sich die Ideen zumeist nur unvollkommen artikulierten, so zu variieren, daß sich die Ideen in reinerer Gestalt erfassen ließen: »Die Phantasie also erweitert den Gesichtskreis des Genius über die seiner Person sich in der Wirklichkeit darbietenden Objekte, sowohl der Qualität, als der Quantität nach.« (W I 241) Gelingt es dem Genie, die Idee zu erkennen und – z. B. in einem Kunstwerk – darzustellen, so macht es sie auf diese Weise auch anderen Menschen zugänglich: »Der Künstler läßt uns durch seine Augen in die Welt blicken. Daß er diese Augen hat, daß er das Wesentliche, außer allen Relationen liegende der Dinge erkennt, ist eben die Gabe des Genius, das Angeborene; daß er aber im Stande ist, auch uns diese Gabe zu leihen, uns seine Augen aufzusetzen: dies ist das Erworbene, das Technische der Kunst.« (W I 251) Insbesondere sieht Schopenhauer die Aufgabe der Kunst darin, dem Betrachter die Erkenntnis der Ideen zu erleichtern (vgl. W I 251). Angesichts des Gewichts, das Schopenhauer der Idee in Hinblick auf die Kunst beimißt, überrascht es nicht weiter, daß er sie als Grund des Schönen betrachtet: »Da nun einerseits jedes vorhandene Ding rein objektiv und außer aller Relation betrachtet werden kann; da ferner auch andererseits in jedem Dinge der Wille, auf irgend einer Stufe seiner Objektität, erscheint, und dasselbe sonach Ausdruck einer Idee ist; so ist auch jedes Ding schön.« (W I 268) Trotz seiner hohen Wertschätzung für die Kunst betont Schopenhauer freilich, daß sich die Erkenntnis der Idee nicht in der Kunst, sondern in der Philosophie vollendet: »[S]ie ist ästhetisch, wird, wenn selbstthätig, genial und erreicht den höchsten Grad, wenn sie philosophisch wird […]. Es ist der höchste Grad der Besonnenheit.« (P II 84 Anm.) Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer die Idee als sinnlich und ihre Erkenntnis als anschaulich betrachtet, so ist es konsequent, daß er fordert, die Kunst habe aus der Anschauung, nicht aber aus dem Begriff hervorzugehen (vgl. W I 94 u. 98). Insbesondere hält er die Vorstellung für verfehlt, die Befolgung der Regeln der Ästhetik sei dafür entscheidend, daß ein Kunstwerk von Rang entstehe. Er betont vielmehr, »daß noch kein Künstler es durch Studium der Aesthetik geworden ist« (W I 77). So kann der Künstler »von seinem Thun keine Rechenschaft geben: er arbeitet […] aus bloßem Gefühl und unbewußt, ja instinktmäßig« (W I 298). Unter der Voraussetzung, daß sich die Kunst nicht Begriffen, sondern Ideen verdankt, ist es auch verständlich, daß sie nicht etwa erstere, sondern letztere darstellen soll. So lehnt Schopenhauer den Versuch einer allegorischen Darstellung von Begriffen in den bildenden Künsten ab (vgl. W I 299 ff. u. W II 497). Umgekehrt ist er sich darüber im klaren, daß Ideen in der Sprache nur mit Hilfe von Begriffen ausgedrückt werden können. Angesichts dieser Schwierigkeit macht er 36
Die objektive Auffassung der Dinge selbst bleibt freilich, so Schopenhauer, stets »nur eine vorübergehende« (P II 462).
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geltend, daß Ideen unerschöpflich sind und nicht in Begriffen aufgehen (vgl. W II 479 u. 482). Diesem Umstand könne man dadurch gerecht werden, daß man den Begriff in einem bildlichen, übertragenen Sinne gebrauche, um die Phantasie »auf das Anschauliche zu leiten« (W I 303).37 Dazu erklärt Schopenhauer: »Solches geschieht schon in jedem tropischen Ausdruck, und geschieht in jeder Metapher, Gleichniß, Parabel und Allegorie, welche alle nur durch die Länge und Ausführlichkeit ihrer Darstellung sich unterscheiden. In den redenden Künsten sind dieserwegen Gleichnisse und Allegorien von trefflicher Wirkung.« (W I 303 f.) Durch den Vorrang der Anschauung unterscheide sich die Kunst auch von der Philosophie, die sich in erster Linie des Begriffs bediene und die nicht etwa Einzelnes, sondern das Ganze der Wirklichkeit präsentiere: »Zur Philosophie verhält sich die Poesie, wie die Erfahrung sich zur empirischen Wissenschaft verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns mit der Erscheinung im Einzelnen und beispielsweise bekannt: die Wissenschaft umfaßt das Ganze derselben, mittelst allgemeiner Begriffe.« (W II 503) Da sich – mit der Idee – der Gehalt der Kunst letzten Endes nicht auf den Begriff bringen lasse, sondern sich als unerschöpflich erweise, halte sich die Antwort, die sie auf die Frage nach dem Wesen der Wirklichkeit gebe, in einer Offenheit, die allenfalls die Philosophie aufheben könne: »Ihre Antwort, so richtig sie auch seyn mag, wird jedoch immer nur eine einstweilige, nicht eine gänzliche und finale Befriedigung gewähren. Denn sie [gibt] immer nur ein Fragment, ein Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze, als welches nur in der Allgemeinheit des Begriffes gegeben werden kann. Für diesen daher, also für die Reflexion und in abstracto, eine eben deshalb bleibende und auf immer genügende Beantwortung jener Frage zu geben, – ist die Aufgabe der Philosophie.« (W II 479 f.) Die Wirkung der Kunst besteht nach Schopenhauer zunächst darin, den Betrachter zur Erkenntnis der Ideen anzuregen und sie ihm zu erleichtern (vgl. W I 251). Zwar ist Schopenhauer davon überzeugt, daß diese sowohl der Natur als auch der Kunst zugrunde liegen, so daß beide als schön gelten können, doch er legt dar, daß die Kunst darauf angelegt ist, das in der Natur anzutreffende Ideale durch ihren gestaltenden Eingriff so zu präsentieren, daß es auch einem Betrachter zugänglich wird, der – im Vergleich zum Künstler – »schwächere Empfänglichkeit und keine Produktivität hat« (W I 299). Mit anderen Worten, er führt die Erleichterung der Erkenntnis darauf zurück, »daß der Künstler, der nur die Idee, nicht mehr die Wirklichkeit erkannte, in seinem Werk auch nur die Idee rein wiederholt hat, sie ausgesondert hat aus der Wirklichkeit, mit Auslassung aller störenden Zufälligkeiten« (W I 251). Damit der Betrachter die Ideen erfassen kann, muß er allerdings – ähnlich wie der Künstler, nur in geringerem Maße – die ent37
Mehr noch, Schopenhauer betont, daß jedes Kunstwerk stets hinter dem anschaulichen Gehalt, den es zum Ausdruck bringt, zurückbleibt und deshalb auf die Phantasie des Betrachters angewiesen ist: »In der Kunst aber ist überdies das Allerbeste zu geistig, um geradezu den Sinnen gegeben zu werden: es muß in der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch das Kunstwerk erzeugt werden.« (W II 481) Freilich treffe dies auf die Dichtung in ganz besonderem Maße zu.
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sprechende Fähigkeit besitzen: »Wir müssen daher in allen Menschen […] jenes Vermögen[,] in den Dingen ihre Ideen zu erkennen, und eben damit sich ihrer Persönlichkeit augenblicklich zu entäußern, als vorhanden annehmen. Der Genius hat vor ihnen nur den viel höhern Grad und die anhaltendere Dauer jener Erkenntnißweise voraus« (W I 250 f.). Einen weiteren Grund dafür, daß die Kunst der Erkenntnis der Idee förderlich ist, erblickt Schopenhauer darin, daß Gegenstände, die einem nicht in der Wirklichkeit, sondern in der künstlerischen Darstellung begegnen, den Willen weniger ansprechen und daher eine objektivere Betrachtung ermöglichen: »Daß also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher der ästhetische Genuß besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht bloß darauf, daß die Kunst, durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen, die Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt, sondern eben so sehr darauf, daß das zur rein objektiven Auffassung des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am sichersten dadurch erreicht wird, daß das angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig sind, indem es kein Wirkliches, sondern ein bloßes Bild ist.« (W II 438 f.) Wie gerade angedeutet wurde, ruft die Erkenntnis der Ideen beim Betrachter »ästhetischen Genu[ß]« bzw. »ästhetische[s] Wohlgefallen« (W I 250 f. u. 271) hervor. Das liegt – nach Schopenhauer – einerseits an der Idee selbst, die ihm als schön gilt, anderseits daran, daß der Wille in der Kontemplation zur Ruhe kommt und damit auch das Leiden an der Wirklichkeit aussetzt. Letzteres sei eher der Fall, wenn die Idee einer niedrigeren Stufe der Objektität des Willens, ersteres hingegen, wenn sie einer höheren angehöre (vgl. W I 271). Tritt der Wille beim Genuß des Schönen in den Hintergrund und findet dadurch eine Entlastung des Menschen von der Negativität der Wirklichkeit statt, so bietet sich die ästhetische Erfahrung als Vorstufe oder Vorwegnahme der Erlösung dar, die allerdings nicht dauerhaft ist. Schopenhauer stellt dazu fest: »Jene reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt wird [dem Künstler] nun Zweck an sich: er bleibt bei ihr stehn. Daher wird sie ihm nicht, wie wir es […] bei dem zur Resignation gelangten Heiligen sehn werden, Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift.« (W I 335) Schopenhauer weist den einzelnen Künsten einen unterschiedlichen Rang zu, der sich nach den Ideen bemißt, die sich darin ausdrücken (vgl. W I 269). Dabei geht er von der – freilich nicht eigens begründeten – Annahme aus, daß jede Idee eine niedrigere oder höhere Stufe der Objektität des Willens darstellt. Während der Baukunst lediglich Naturkräfte wie die Schwere, Kohäsion, Starrheit oder Härte zugrunde lägen und sich darin ästhetische Zwecke mit nützlichen verbänden (vgl. W I 273 u. 276 f.), stelle die Gartenkunst die »höhere Stufe der vegetabilischen Natur« (W I 278) dar. Über der Bau- und Gartenkunst siedelt Schopenhauer die bildenden Künste an. Diese gliedert er in Landschaftsmalerei, Tier malerei, Historienmalerei und Skulptur. Er ordnet ihnen die Ideen zu, welche den 64
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einzelnen Gattungen der Pflanzen und Tiere sowie dem Menschen entsprechen, der sich dadurch auszeichne, daß bei ihm der Charakter der Gattung und der Charakter des Individuums auseinander träten: »Bei der Darstellung des Menschen sondert sich nun aber der Gattungscharakter vom Charakter des Individuums: jener heißt nun Schönheit […], dieser aber behält den Namen Charakter oder Ausdruck bei« (W I 280; vgl. a. W I 285). Schopenhauer ist überzeugt, daß die Idee des Menschen – vor jenen der Tiere, Pflanzen und Naturkräfte – den höchsten Rang einnimmt und dies auch für die menschliche Schönheit bzw. die Künste gilt, in denen sie dargestellt wird: »Darum ist der Mensch vor allem Andern schön und die Offenbarung seines Wesens das höchste Ziel der Kunst. Menschliche Gestalt und menschlicher Ausdruck sind das bedeutendeste Objekt der bildenden Kunst, so wie menschliches Handeln das bedeutendeste Objekt der Poesie.« (W I 269; vgl. a. W I 281 u. 308) Einerseits ist der bildenden Kunst und der Poesie gemeinsam, daß sie den Menschen darstellen, anderseits ist Schopenhauer überzeugt, daß letztere der ersteren überlegen ist. Er begründet seine Auffassung damit, daß allein die Poesie dem Menschen in seiner Komplexität gerecht wird: »Wenn aber, in der Darstellung der niederigeren Stufen der Objektität des Willens, die bildende Kunst sie meistens übertrifft, weil die erkenntnißlose und auch die bloß thierische Natur in einem einzigen wohlgefaßten Moment fast ihr ganzes Wesen offenbart; so ist dagegen der Mensch, soweit er sich nicht durch seine bloße Gestalt und Ausdruck der Miene, sondern durch eine Kette von Handlungen und sie begleitender Gedanken und Affekte ausspricht, der Hauptgegenstand der Poesie, der es hierin keine andere Kunst gleich thut, weil ihr dabei die Fortschreitung zu Statten kommt, welche den bildenden Künsten abgeht.« (W I 308) Unter den literarischen Gattungen aber kommt – nach Schopenhauer – dem Trauerspiel der höchste Rang zu. Es stelle den »Gipfel der Dichtkunst, sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wirkung, als auf die Schwierigkeit der Leistung« (W I 318) dar. Inhaltlich zeichne es sich dadurch aus, daß es die Negativität der Wirklichkeit thematisiere, die Schopenhauer auf einen Konflikt des Willens mit sich selbst zurückführt: »Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt.« (ebd.) Damit läßt das Trauerspiel eine besondere Affinität zu Schopenhauers pessimistischer Weltsicht erkennen. Die in metaphysischer Hinsicht interessanteste Kunst erblickt Schopenhauer jedoch in der Musik. Er weist ihr insofern eine Sonderstellung innerhalb der Künste zu, als er ihre Aufgabe nicht in der Darstellung von Ideen, sondern des Willens selbst erblickt. Diesen drückt sie unmittelbar – das heißt, ohne Vermittlung durch Ideen – aus: »Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind« (W I 324). Damit kommt der Musik ein höherer Grad an Allgemeinheit zu als den an65
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deren Künsten, die auf einzelne Ideen beschränkt sind. Sie ist, wie Schopenhauer erklärt, die »ausgedehntest[e]« (W II 534) unter den Künsten. Da die Musik mit dem Willen diejenige Instanz zum Ausdruck bringt, welche das Wesen des Menschen ausmacht und ihn letztlich bestimmt, spricht sie ihn mit einer besonderen Intensität an. Ihre Wirkung ist deshalb »sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der andern Künste« (W I 324). Freilich ist sich Schopenhauer darüber im klaren, daß der Wille als Ding an sich nicht unmittelbar zugänglich ist und daß er seine Konzeption der Musik nicht im Sinne eines strengen Beweises einsichtig machen kann. So stellt er fest: »[W]elchen Aufschluß jedoch zu beweisen, ich als wesentlich unmöglich erkenne; da er ein Verhältniß der Musik, als einer Vorstellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn kann, annimmt und festsetzt, und die Musik als Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar vorgestellt werden kann, angesehn haben will.« (W I 323) Vergegenwärtigt man sich, daß auch die Philosophie das Ding an sich als das Wesen der Welt zum Gegenstand hat, so kann man nachvollziehen, daß Schopenhauer der Musik geradezu einen philosophischen Rang zuerkennt: »Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi.« (W I 332)38 Schopenhauer beschreibt das Verhältnis der Musik zur empirischen Wirklichkeit sowie zu den Ideen, die ihr zugrunde liegen, als »Analogie« (W I 323 f., 328 f. u. 331) bzw. »Parallelismus« (W I 324 u. W II 526).39 So legt er dar, daß die einzelnen Stimmen des vierstimmigen Satzes der Stufenfolge der Ideen entsprechen (vgl. W I 324 ff. u. W II 526), und ordnet der obersten, die Melodie artikulierenden Stimme die Idee des Menschen zu (vgl. W I 326 u. W II 526). Darüber hinaus erblickt Schopenhauer in der Entwicklung von Melodie, Harmonie und Rhythmus einen Ausdruck der Bewegung des Willens zwischen Wunsch und Befriedigung bzw. Entzweiung und Versöhnung (vgl. W I 326 f. sowie W II 530, 532 u. 534). Ähnlich interpretiert er den Gegensatz von Dur und Moll: »Aber wie wundervoll ist die Wirkung von Moll und Dur! Wie erstaunlich, daß der Wechsel eines halben Tones, der Eintritt der kleinen Terz, statt der großen, uns sogleich und unausbleiblich ein banges, peinliches Gefühl aufdringt, von welchem uns das Dur wieder eben so augenblicklich erlöst.« (W I 328) Hält man sich vor Augen, daß die Musik auf eine Darstellung des Willens hinausläuft, so ist es nicht weiter erstaunlich, daß sich ihre Wirkung insbesondere auf 38
Den Unterschied zwischen beiden Bereichen erblickt Schopenhauer darin, daß die Philosophie – anders als die Musik – mit Begriffen arbeitet. 39 Genauer gesagt stehen die empirische Wirklichkeit und die Musik insofern auf einer Stufe, als sie beide Erscheinungen des Willens sind. Besteht eine Analogie zwischen ihnen, so beruht sie auf dem metaphysischen Ursprung im Willen, den sie teilen: »Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache ansehn, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie Beider ist, dessen Erkenntniß erfordert wird, um jene Analogie einzusehn.« (W I 329)
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die emotionale und voluntative Seite des Menschen erstreckt. So erklärt Schopenhauer: »Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d. i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder auch umstimmt.« (W II 527) Freilich erblickt Schopenhauer in der Musik kein Stimulans, das sich damit begnügte, den Willen zu erregen, sondern er stellt sie insofern mit den anderen Künsten auf eine Stufe, als auch sie eine Haltung des reinen Erkennens hervorrufe. Diese habe zwar die Affektionen des Willens zum Gegenstand, doch sie würden nicht unmittelbar als solche, sondern mittelbar erlebt: »Wir sehn also hier die Willensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Vorstellung hinübergespielt, als welche der ausschließliche Schauplatz der Leistun gen aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlangen, daß der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhalten. Daher dürfen die Affektionen des Willens selbst, also wirklicher Schmerz und wirkliches Behagen, nicht erregt werden, sondern nur ihre Substitute, das dem Intellekt Angemessene, als Bild der Befriedigung des Willens, und das jenem mehr oder weniger Widerstrebende, als Bild des größern oder geringern Schmerzes.« (W II 531)
Metaphysik der Sitten Ähnlich wie im dritten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung geht es Schopenhauer auch im vierten darum, auf welche Weise sich die nach seiner Auffassung als negativ zu bewertende empirische Wirklichkeit überwinden läßt. Allerdings ist der Weg, den er nun beschreibt, kein ästhetischer, sondern ein ethischer – und damit das menschliche Handeln betreffender. Aus diesem Grund stuft der Philosoph das vierte Buch des Werks als das entscheidende ein: »Der letzte Theil unserer Betrachtung kündigt sich als der ernsteste an, da er die Handlungen der Menschen betrifft, den Gegenstand, der Jeden unmittelbar angeht, Niemanden fremd oder gleichgültig seyn kann« (W I 343). Während im ersten und dritten Buch die Vorstellung im Vordergrund steht, ist es im zweiten und vierten der Wille. Soll dieser in ethischer Hinsicht, also in seiner Beziehung auf das menschliche Handeln, untersucht werden, so stellt sich für Schopenhauer die naheliegende Frage, wie sich der Mensch in seinem Handeln zum Willen verhält. Dabei bestehen zwei Möglichkeiten: Er kann den Willen bejahen, oder er kann ihn verneinen, und zwar im Lichte der Erkenntnis, die er von ihm gewonnen hat. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den Menschen als eine Objektivation des Willens betrachtet, so daß seine Erkenntnis des Willens einer Selbsterkenntnis des letzteren gleichkommt, so läßt sich nachvollziehen, warum in der Überschrift des vierten Buchs geschrieben steht: »Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben.« (W I 341) 67
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Freilich äußert sich Schopenhauer nicht allein in seinem Hauptwerk zur Ethik bzw. Metaphysik der Sitten, sondern er geht auch in seinen beiden Preisschriften Ueber die Freiheit des menschlichen Willens sowie Ueber die Grundlage der Moral auf wesentliche Aspekte seiner Ethik ein. Dabei fällt auf, daß er dort den metaphysischen Kontext des Hauptwerks ebenso wie das soteriologische Grundanliegen seines Ansatzes weitgehend ausklammert. Dies liegt nicht zuletzt daran, daß er sich in den Preisschriften an ein Publikum wendet, das nicht mit Die Welt als Wille und Vorstellung vertraut ist. Inhaltlich geht es Schopenhauer in der ersten Preisschrift darum, in welcher Hinsicht der Mensch als frei gelten kann. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang im wesentlichen zwischen drei Arten von Freiheit: der physischen Freiheit (Handlungsfreiheit), der intellektuellen Freiheit sowie der moralischen Freiheit (Willensfreiheit). Die physische Freiheit besteht – nach seiner Auffassung – lediglich darin, daß einer Handlung kein äußeres Hindernis entgegensteht. Sie ist gegeben, wenn ein Lebewesen »nur aus seinem Willen handelt, […] wobei keine Rücksicht darauf genommen wird, was etwan auf seinen Willen selbst Einfluß haben mag.« (E 44) Schopenhauer stellt zu Recht fest, daß dieser Begriff der Freiheit »keinem Zweifel oder Kontrovers unterworfen ist« (ebd.). Die intellektuelle Freiheit läuft nach Schopenhauer auf eine angemessene Kenntnis der Umstände hinaus, unter denen eine Handlung ausgeführt wird. Erst wenn ein Mensch über diese Kenntnis verfügt, kann er »sich seiner Natur, d. h. dem individuellen Charakter des Menschen gemäß, entscheiden, also ungehindert, nach seinem selbsteigenen Wesen sich äußern: dann ist der Mensch intellektuell frei, d. h. seine Handlungen sind das reine Resultat der Reaktion seines Willens auf Motive« (E 139). Sind hingegen die Umstände einer Handlung nicht oder nicht hinreichend bekannt, so kann der Mangel an Wissen den Handelnden daran hindern, das zu tun, was er eigentlich tun will. Darüber hinaus legt Schopenhauer dar, daß die intellektuelle Freiheit – etwa durch Affekte oder Rausch – vermindert werden kann. Dabei führe eine Beeinträchtigung der intellektuellen Freiheit zu einer entsprechenden Modifikation der juridischen und moralischen Zurechenbarkeit. Die moralische Freiheit wäre laut Schopenhauer genau dann gegeben, wenn jemand in der Lage wäre, eine beliebige von mehreren möglichen Handlungen durchzuführen. Damit entspricht der Begriff der moralischen Freiheit jenem des liberum arbitrium indifferentiae: »Dieser Begriff ist übrigens der einzige deutlich bestimmte, feste und entschiedene von Dem, was Willensfreiheit genannt wird; daher man sich von ihm nicht entfernen kann, ohne in schwankende, nebelichte Erklärungen […] zu gerathen« (E 49). Wendet man sich dem Begriff der moralischen Freiheit zu, so stößt man darauf, daß sich Schopenhauer bei seiner Klärung im wesentlichen an Kant orientiert. Dies bedeutet insbesondere, daß er Kants Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich übernimmt und die Auffassung vertritt, der Bereich der Erscheinung bzw. der empirischen Wirklichkeit sei dem Kausalitätsprinzip und damit der Not68
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wendigkeit unterworfen, während im Bereich des Dinges an sich Freiheit herrsche. Allerdings geht Schopenhauer insofern über Kant hinaus, als er das Ding an sich nicht etwa als unerkennbar einstuft, sondern als den Willen deutet. Vor diesem Hintergrund kann er feststellen: »[D]as Zusammenbestehn dieser Noth wendigkeit mit der Freiheit des Willens an sich, d. h. außer der Erscheinung, hat zuerst Kant, dessen Verdienst hier besonders groß ist, nachgewiesen« (W I 364; vgl. a. W I 612, W II 203 sowie E 122 f. u. 214 f.). Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Handlungen des Menschen in der empirischen Wirklichkeit, das Sein desselben hingegen im Willen ansiedelt, ist ohne weiteres nachvollziehbar, daß er dem esse die Freiheit und dem operari die Notwendigkeit zuschreibt (vgl. E 137 f.). Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den genannten Bereichen spricht Schopenhauer gelegentlich auch von »empirischer Nothwendigkeit« und »trans scendentaler Freiheit« (E 137). Schopenhauer begründet die empirische Notwendigkeit mit Hilfe des Satzes vom zureichenden Grunde bzw. des Kausalitätsprinzips, das eine seiner vier Formen darstellt. Dieser Satz gilt, wie er betont, lediglich für den Bereich der Vorstellung, nicht aber für jenen des Dinges an sich. In der Fassung von Wolff lautet er: »Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit.« (G 17) Entscheidend ist nun, daß Schopenhauer unter Notwendigkeit die Abhängigkeit von einem zureichenden Grund versteht: »Nothwendigkeit hat keinen andern wahren und deutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichkeit der Folge, wenn der Grund gesetzt ist.« (G 170) Die für die empirische Notwendigkeit einschlägige Form des Satzes vom zureichenden Grunde ist das Kausalitätsprinzip bzw. der Satz vom zureichenden Grunde des Werdens.40 Schopenhauer bezeichnet es gelegentlich auch als »Gesetz der Kausalität« (G 49 u. E 97) oder – etwas mißverständlich – als »Kausalitätsgesetz« (E 139). Er formuliert es wie folgt: »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt; so muß ihm ein anderer vorhergegangen seyn, auf welchen der neue regelmäßig, d. h. allemal, so oft der erstere daist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung.« (G 49) Mit anderen Worten, das Kausalitätsprinzip beinhaltet, daß alle Ereignisse durch ihre Ursachen bestimmt sind und damit notwendig geschehen. Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer der Auffassung, daß sich dieses Prinzip durch apriorische Gültigkeit auszeichnet, und er unternimmt – in der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde – ebenfalls den Versuch, sie entsprechend zu begründen.41 Sollte das Kausalitätsprinzip tatsächlich a priori gelten, so wären auch menschliche Handlungen kausal determiniert, und dies würde bedeuten, daß sie der Notwendigkeit unterworfen wären. Es gäbe 40
Sicherlich ist auch der Satz vom zureichenden Grunde des Wollens einschlägig, aber dieser stellt letzten Endes eine Variante des Satzes vom zureichenden Grunde des Werdens dar. Das ergibt sich allein schon daraus, daß Schopenhauer die Motivation, welche den Gegenstand desselben bildet, als eine Art der Kausalität betrachtet: »[D]ie Motivation ist die Kausalität von innen gesehn.« (G 162) 41 Vgl. G 66 ff.
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dann in der empirischen Wirklichkeit keine moralische, sondern allenfalls physische Freiheit. Der Mensch könnte zwar tun, was er will, sofern er nicht auf ein äußeres Hindernis stieße, aber er könnte nicht frei darüber entscheiden, sich so oder so zu verhalten. Vielmehr hebt Schopenhauer hervor, daß eine Handlung durch zwei Faktoren, ihr Motiv sowie den Charakter, auf den es trifft, determiniert ist: »Die Nothwendigkeit, mit der […] die Motive, wie alle Ursachen überhaupt, wirken, ist keine voraussetzungslose. Jetzt haben wir ihre Voraussetzung […] kennen gelernt: es ist der angeborene, individuelle Charakter. Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußern den allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95; vgl. a. W I 158 sowie W II 203 u. 375)42 Vor dem Hintergrund seines Determinismus ist es keineswegs überraschend, daß Schopenhauer – insbesondere in seiner Preisschrift Ueber die Grundlage der Moral – das Ansinnen, eine präskriptive Ethik zu entwickeln, als verfehlt zurückweist und für eine deskriptive Ethik eintritt, wie er sie in dieser Abhandlung tatsächlich entwickelt. So erblickt er die Aufgabe der Ethik nicht etwa darin, Normen aufzustellen oder zu begründen, sondern darin, das menschliche Handeln zu beschreiben und die moralischen Kriterien, nach denen es beurteilt wird, einsichtig zu machen: »Ich setze hingegen der Ethik den Zweck, die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklären und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.« (E 234 f.) Geht man der Frage nach, warum Schopenhauer der präskriptiven Ethik eine Absage erteilt, so resultiert diese aus der deterministischen Position, die er vertritt. Nach seiner Auffassung sind menschliche Handlungen – wie alle Ereignisse in der Natur – kausalen Gesetzen unterworfen und geschehen daher notwendig: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen 42
Daß dennoch der »Schein der empirischen Freiheit des Willens« (W I 367) besteht, liegt nach Schopenhauer daran, daß der Mensch über die Möglichkeit verfügt, über mehrere Handlungsalternativen nachzudenken, bevor er tatsächlich eine von ihnen realisiert. Dies verleite ihn zu der Annahme, er könne sich frei zwischen den sich darbietenden Möglichkeiten entscheiden. In Wirklichkeit aber werde die Handlung trotz der Reflexion, die ihr vorhergehen könne, mit Notwendigkeit durch das stärkste Motiv verursacht: »Obgleich nun Thier und Mensch mit gleicher Nothwendigkeit durch die Motive bestimmt werden, so hat doch der Mensch eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Thiere voraus, welche auch oft für eine Freiheit des Willens in den einzelnen Thaten angesehn worden, obwohl sie nichts Anderes ist, als die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann mit Nothwendigkeit bestimmt.« (W I 373)
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Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95) Dabei hält Schopenhauer den Charakter des Menschen – und damit auch seine Tugenden und Laster – für angeboren und unveränderlich (vgl. E 89 ff.). Unter diesen Voraussetzungen kann der Mensch nicht anders handeln, als er tatsächlich handelt. Daher erscheint es – in moralischer Hinsicht – wenig sinnvoll, die Befolgung von Normen von ihm zu verlangen. So kann Schopenhauer die folgenden – rhetorisch gemeinten – Fragen stellen: »Wer sagt euch, daß es Gesetze giebt, denen unser Handeln sich unterwerfen soll? Wer sagt euch, daß geschehen soll, was nie geschieht? – Was berechtigt euch, dies vorweg anzunehmen und demnächst eine Ethik in legislatorisch-imperativer Form, als die allein mögliche, uns sofort aufzudringen?« (E 160) Trotz seiner Kritik an der präskriptiven Ethik räumt Schopenhauer ein, daß es – in anderer als moralischer Hinsicht – durchaus sinnvoll sein kann, dem Menschen ein bestimmtes Handeln vorzuschreiben. Allerdings weist er diese Aufgabe nicht der Ethik, sondern der Gesetzgebung zu. Dabei hebt Schopenhauer hervor, daß ein enger Zusammenhang zwischen den Normen und den Sanktionen besteht, mit denen sie verbunden sind: »Jedes Soll hat allen Sinn und Bedeutung schlechterdings nur in Beziehung auf angedrohte Strafe, oder verheißene Belohnung.« (E 162 f.) Schopenhauer meint damit, daß Normen erst durch entsprechende Sanktionen ihre praktische Wirksamkeit entfalten. Mehr noch, er zielt darauf ab, daß sie sich nicht etwa an freie Wesen richten, sondern lediglich ein Mittel darstellen, menschliches Verhalten zu steuern (vgl. a. E 142). So erweisen sie sich weniger als moralisches Phänomen denn als soziales. Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer davon überzeugt, daß sich der moralische Wert einer Handlung nicht bloß nach äußeren Kriterien, sondern auch nach der Einstellung bemißt, die ihr zugrunde liegt. Es geht ihm ganz wesentlich darum, welche Einstellung oder welches Motiv zur Handlung führt. Dabei vertritt Schopenhauer einen altruistischen Ansatz, das heißt, er betrachtet altruistische Handlungen als moralisch gut und egoistische als moralisch schlecht. Nach seiner Auffassung »schließen Egoismus und moralischer Werth einer Handlung einander schlechthin aus« (E 245). Während eine altruistische Handlung im Interesse des Anderen steht, dient eine egoistische Handlung dem eigenen: »Jede Handlung, deren letzter Zweck das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist, ist eine egoisti sche.« (ebd.) Demnach scheint es Schopenhauer zu genügen, daß eine Handlung aus Eigeninteresse erfolgt, um sie als egoistisch einzustufen. Anderseits zielt der Grundsatz, in welchem der Egoismus nach Schopenhauer zum Ausdruck kommt, durchaus auch darauf ab, daß egoistische Handlungen nicht bloß das Eigeninteresse befördern, sondern überdies dem Interesse des Anderen abträglich sind, wie das in folgendem Motto zum Ausdruck kommt: »Neminem juva, imo omnes, si forte conducit, laede.« (E 199) Zwar erblickt Schopenhauer im Egoismus keineswegs die alleinige Triebfeder menschlichen Handelns, aber er ist davon überzeugt, daß sich der Mensch in den meisten Fällen von egoistischen Motiven leiten läßt. So erklärt er, daß der Egois71
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mus »die erste und hauptsächlichste, wiewohl nicht die einzige Macht [ist], welche die moralische Triebfeder zu bekämpfen hat« (E 238) und daß »egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann.« (W II 629) Die beiden anderen Triebfedern menschlichen Handelns, die Schopenhauer in Erwägung zieht, sind die Bosheit sowie das Mitleid. So stellt er fest: »Es giebt überhaupt nur drei Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen: und allein durch Erregung derselben wirken alle irgend möglichen Motive. Sie sind: a) Egoismus; der das eigene Wohl will (ist gränzenlos). b) Bosheit; die das fremde Wehe will (geht bis zur äußersten Grausamkeit). c) Mitleid; welches das fremde Wohl will (geht bis zum Edelmuth und zur Großmuth).« (E 249) Es liegt auf der Hand, daß Schopenhauer nur Handlungen, die aus dem Mitleid entspringen, als moralisch gut betrachten kann. Sie entsprechen folgender Maxime: »Neminem laede; imo omnes, quantum potes, juva.« (E 251) Die beiden Teile der Maxime verweisen – nach Schopenhauer – auf die beiden Kardinaltugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe. Die Gerechtigkeit bietet sich insofern als die »erste und recht eigentliche Kardinaltugend« (E 238) dar, als jemand, der gerecht handelt, die Bejahung des eige nen Willens angesichts des Andern auf einer ersten Stufe zurücknimmt. Dies geschieht dadurch, daß man darauf verzichtet, »dem Andern ein Leiden zu ver ursachen, also […] selbst Ursache fremder Schmerzen zu werden« (E 252). Damit entspricht die Gerechtigkeit dem Grundsatz neminem laede (vgl. E 253 u. 270). Schopenhauer betrachtet die Gerechtigkeit insofern als negativ, als sie lediglich darin besteht, daß man einem anderen Individuum keinen Schaden zufügt, nicht aber darin, daß man ihm darüber hinaus noch Hilfe zukommen läßt. Er spricht gelegentlich von »freier« oder »freiwilliger Gerechtigkeit« (E 231, 242 u. 248), um zu betonen, daß eine Handlung nur dann wirklich gerecht ist, wenn ihr kein egoistisches Motiv zugrunde liegt. Während sich die Gerechtigkeit auf die Vermeidung fremden Leides beschränkt und sich in dieser Hinsicht lediglich als negativ erweist, geht die Menschenliebe einen Schritt weiter. Sie besteht darin, daß dem Anderen darüber hin aus Hilfe geleistet wird: »Der zweite Grad, in welchem […] das fremde Leiden an sich selbst und als solches unmittelbar mein Motiv wird, sondert sich von dem ersten deutlich ab, durch den positiven Charakter der daraus hervorgehenden Handlungen; indem alsdann das Mitleid nicht bloß mich abhält, den Andern zu verletzen, sondern sogar mich antreibt, ihm zu helfen.« (E 266) Beide Kardinaltugenden setzen eine »Durchschauung des principii individuationis« (W I 492; vgl. a. W I 461 u. 468 f.) voraus, wie sie im Mitleid vorliegt. Dieses bildet nach Schopenhauer das Fundament bzw. die Grundlage der Moral. Im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ handelt es sich dabei um kein formales, sondern um ein materiales Prinzip, dem eine metaphysische Einsicht zugrunde liegt. Angesichts der Tatsache, daß diese Einsicht intuitiv und nicht etwa diskursiv gewonnen wird, kann Schopenhauer das Mitleid als Gefühl einstufen. Freilich liegt im Mitleid keineswegs nur eine affektive oder emotionale Regung vor. Ent72
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scheidend ist, daß es darüber hinaus eine kognitive Komponente aufweist. Diese besteht im »Durchschauen des principii individuationis« (W I 469), mit anderen Worten, im Mitleid wird dem Menschen klar, daß er vom Anderen nicht durch eine radikale Kluft getrennt ist, sondern daß er – ebenso wie dieser – Erscheinung eines und desselben Willens als Ding an sich bzw. metaphysischen Willens ist. Daher kann sich der Mensch mit dem Anderen identifizieren, und zwar insbesondere, wenn dieser leidet. Schopenhauer betont, daß die Identifikation mit dem Anderen den Unterschied zwischen beiden Individuen nicht etwa aufhebt, sondern daß er lediglich »auf irgend eine Weise« oder »in einem gewissen Grade« (E 248) in den Hintergrund tritt: »[E]s bleibt uns gerade jeden Augenblick klar und gegenwärtig, daß Er der Leidende ist, nicht wir: und geradezu in seiner Person, nicht in unserer, fühlen wir das Leiden, zu unserer Betrübniß. Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen seinen Schmerz als den seinen und haben nicht die Einbildung, daß es der unserige sei« (E 251). Schopenhauer ist der Auffassung, daß die Identifizierung mit dem Anderen als einem Leidenden die einzige Triebfeder moralisch guten Handelns darstellt. Genauer gesagt motiviert das Mitleid den Handelnden dazu, die Bejahung seines eigenen Willens zurückzunehmen, um entweder dem Anderen kein Unrecht anzutun oder ihm sogar Hilfe zuteil werden zu lassen. Damit erweist sich das Mitleid als die »wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe« (E 248), ja als die »alleinige Quelle uneigennütziger Handlungen und deshalb als die wahre Basis der Moralität« (E 285). Das Mitleid bietet sich nach Schopenhauer insofern als das »große Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen« (E 248) dar, als es sich als Fundament bzw. Grundlage der Ethik erweist, das »zwar Alles unter ihm Begriffene und aus ihm Folgende erklärt, selbst aber unerklärt bleibt und als ein Räthsel vorliegt.« (E 301) Eine Aufklärung dieses Urphänomens kann nach Schopenhauer allein die Metaphysik leisten. Die entscheidende metaphysische Voraussetzung des Mitleids erblickt er im Gegensatz zwischen der empirischen Wirklichkeit in ihrer Vielheit und dem Willen als Ding an sich in seiner Einheit. Zwar erklärt Schopenhauer auch im vierten Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung, er wolle keine präskriptive Ethik errichten, doch tritt dort eine Tendenz, die sich auch in den Preisschriften bemerkbar macht, besonders deutlich zutage. Es handelt sich darum, daß sich Schopenhauer über den Wert bestimmter Handlungen und Zustände äußert bzw. ihnen einen positiven oder negativen Wert zuschreibt und auf diese Weise einen Ansatz vertritt, der sich keineswegs als rein deskriptiv, sondern vielmehr als axiologisch darbietet.43 Besonders deutlich wird diese Tendenz dadurch, daß Schopenhauer nicht einfach nur die genuin moralische Qualität menschlichen Handelns untersucht, sondern dieses unter dem Aspekt der Emanzipation des Menschen von der Negativität der empirischen Wirk43
Vgl. Daniel Schubbe / Matthias Koßler (Hg.). Schopenhauer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart / Weimar 2014, 40.
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lichkeit betrachtet und in diesem Zusammenhang geradezu vom »Heil« (W I 491 u. 495) bzw. der »Erlösung« (ebd.) des Menschen spricht. Ob der Mensch diesen Zustand erreicht oder verfehlt, hängt ganz entscheidend davon ab, wie er sich zu seinem Willen verhält. Dabei steht er vor zwei Möglichkeiten, die Schopenhauer in der Überschrift des vierten Buches seines Hauptwerkes nennt: »Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben« (W I 341). Daß sich Schopenhauer mit der Frage der Erlösung beschäftigt, hat nicht zuletzt damit zu tun, daß er die empirische Wirklichkeit im Rahmen seiner pessimistischen Weltanschauung äußerst negativ bewertet. Nach seiner Auffassung »läßt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen« (W II 678). Sie bietet sich vielmehr als etwas dar, was nicht sein sollte (vgl. W II 198 u. 677 f.) bzw. dessen Nichtsein seinem Dasein vorzuziehen wäre (vgl. W II 675). Mehr noch, Schopenhauer ist überzeugt, daß die Welt – und damit auch der Mensch – aus einer Schuld resultiert (vgl. W II 198). Dabei argumentiert er, daß die Wirklichkeit unter dieser Voraussetzung das Werk eines Willens sein müsse, der nicht mit Erkenntnis begabt sei: »[D]enn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueberschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten nicht deckt« (W II 678; vgl. a. W II 667). Um den Pessimismus zu begründen, ist es – laut Schopenhauer – nicht etwa erforderlich, die positiven und die negativen Aspekte der Wirklichkeit gegeneinander aufzurechnen. Allein schon der Umstand, daß es überhaupt Übel gebe, lasse den Pessimismus angemessen erscheinen: »Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gute getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann« (W II 674). Abgesehen davon, daß Schopenhauer den Willen als erkenntnislos, mit sich selbst widerstreitend und ziellos beschreibt, hebt er hervor, daß sich das mensch liche Leben insofern als negativ erweist, als es vom Leiden und der Langeweile bewegt wird, die beide zusammen dessen »letzte Bestandtheile sind« (W I 390). Den Grund des Leidens erblickt Schopenhauer in einem Mangel, der – aufgrund eines entsprechenden Wollens – als Bedürfnis erfahren wird. So stellt er fest: »Man sah ein, daß die Entbehrung, das Leiden, nicht unmittelbar und nothwendig hervorgieng aus dem Nicht-haben; sondern erst aus dem Haben-wollen und doch nicht haben; daß also dieses Haben-wollen die nothwendige Bedingung ist, unter der allein das Nicht-haben zur Entbehrung wird, und den Schmerz erzeugt.« (W I 129) Während das Leiden demnach einer Hemmung des Willens gleichkommt, bringt ihre Aufhebung den entgegengesetzten, angenehmen Zustand mit sich: »Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück.« (W I 387) Dabei betont Schopenhauer, daß das Leiden – als der ursprüngliche, unmittelbar erlebte Zustand – positiv, das Glück hingegen – als bloße Aufhebung desselben – negativ sei (vgl. W II 673). 74
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Die Langeweile hingegen tritt ein, wenn der Schmerz aufgehoben ist und sich nicht gleich eine neue Begierde oder ein neuer Wunsch meldet: »Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile« (W I 392). Ähnlich wie den Schmerz empfindet der Mensch auch die Langeweile als leidvoll. Sie ist »nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel« (ebd.), und der Kampf gegen sie erweist sich als »eben so quälend […] wie gegen die Noth.« (ebd.) Nun könnte man fragen, ob die Befriedigung eines Bedürfnisses – im Gegensatz zu dem, was Schopenhauer lehrt – nicht einfach nur als negativer Zustand im Sinne der bloßen Aufhebung eines Schmerzes, sondern als positiver Zustand eingeschätzt werden könnte, der für sich selbst genommen wertvoll ist. Freilich weist Schopenhauer diese Möglichkeit zurück. So stellt er fest: »Daß hinter der Noth sogleich die Langeweile liegt, […] ist eine Folge davon, daß das Leben keinen wahren ächten Gehalt hat, sondern bloß durch Bedürfniß und Illusion in Bewegung erhalten wird: sobald aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseyns zu Tage.« (P II 311) Und umgekehrt steht für ihn fest: »Wenn nämlich das Leben, in dem Verlangen nach welchem unser Wesen und Daseyn besteht, einen positiven Werth und realen Gehalt in sich selbst hätte; so könnte es gar keine Langeweile geben: sondern das bloße Daseyn, an sich selbst, müßte uns erfüllen und befriedigen.« (ebd.) Vergegenwärtigt man sich, daß das Leiden aus einer Hemmung des Willens resultiert, so leuchtet ein, daß die Möglichkeit einer Überwindung der Dialektik von Schmerz und Langeweile davon abhängt, ob der Wille ein »Streben ohne Ziel und Ende« (W I 402) bleibt oder aber zum Stillstand kommen oder aber aufgehoben werden kann. Damit stellt sich die Frage, ob der Wille bejaht oder verneint wird. Die Bejahung des Willens besteht nach Schopenhauer darin, daß der Leib, in welchem sich der Wille objektiviert, bejaht wird bzw. seine Bedürfnisse befriedigt werden. Sie zielt sowohl auf die »Erhaltung des Individuums« als auch – erst recht – auf die »Fortpflanzung des Geschlechts« (W I 408 ff.) ab. Mehr noch, Schopenhauer erblickt im Geschlechtstrieb den »Kern des Willens zum Leben« (W II 601) und in seiner Befriedigung die »entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben« (W I 410; vgl. a. W I 412 u. W II 666). So gelten Schopenhauer die Genitalien als der »eigentliche Brennpunkt des Willens« (W I 412) und der Geschlechtsakt als »dessen Kern, als dessen größte Koncentration« (P II 343). Dadurch werde neues Leben in die Welt gesetzt und neues Leiden hervorgebracht. Schopenhauer betont: »Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht und die […] Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt.« (W I 410) 75
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Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Negativität der empirischen Wirklichkeit auf die Bejahung des Willens zurückführt, ist nachvollziehbar, daß er, um zur Erlösung zu gelangen, auf die Verneinung desselben setzt: »Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.« (W I 491)44 Dabei unterscheidet er zwischen einer Verneinung des Willens im engeren und im weiteren Sinne. Letztere liegt bereits mit der ästhetischen Kontemplation oder dem tugendhaften Handeln vor, erstere hingegen mit der Resignation, die Schopenhauer mit der »Erlösung« (W I 204) bzw. dem »Heil« (W II 715) gleichsetzt. Handelt ein Mensch tugendhaft, so bedeutet dies, daß er seinen eigenen Willen zurücknimmt und dem Anderen entweder – im Sinne der Gerechtigkeit – nicht schadet oder – im Sinne der Menschenliebe – sogar hilft. Dabei ist die Tugend kein Selbstzweck, sondern ein Weg, der zur Verneinung des Willens im engeren Sinne – also zur Resignation – führt. Diese ist »das letzte Ziel, ja, das innerste Wesen aller Tugend und Heiligkeit« (W I 204; vgl. a. W II 709 u. 712 ff.). Die ästhetische Kontemplation hingegen kann insofern als Form der Verneinung des Willens gelten, als sie eine Erkenntnis beinhaltet, die nicht durch den Willen getrübt wird. Dabei gelingt es der Erkenntnis, »frei von allen Zwecken des Wollens rein für sich [zu] bestehn […], als bloßer klarer Spiegel der Welt« (W I 204). Allerdings werde der Wille in der ästhetischen Kontemplation nicht auf Dauer, sondern nur »für den Augenblick« (W I 482) außer Kraft gesetzt. Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß die Verneinung des Willens von einer Erkenntnis ausgeht, die ihrerseits als Quietiv auf diesen wirkt: »[D]ie Verneinung des Willens zum Leben […] zeigt sich, wenn auf jene Erkenntniß das Wollen endet, indem sodann nicht mehr die erkannten einzelnen Erscheinungen als Motive des Wollens wirken, sondern die ganze, durch Auffassung der Ideen erwachsene Erkenntniß des Wesens der Welt, die den Willen spiegelt, zum Quietiv des Willens wird und so der Wille frei sich selbst aufhebt.« (W I 359) Dabei beschreibt Schopenhauer die fragliche Erkenntnis recht unterschiedlich. Bald ist von der Durchschauung des principii individuationis (vgl. W I 469 f.), bald von der Erfassung der Ideen (vgl. W I 295) die Rede. Entscheidend ist, daß in beiden Fällen eine Erkenntnis vorliegt, die darauf hinausläuft, daß sowohl den empirischen Dingen als auch den Ideen ein und derselbe Wille als Ding an sich zugrunde liegt. Mit anderen Worten, es geht Schopenhauer darum, daß »das principium individuationis durchschaut, die Ideen, ja das Wesen der Dinge an sich, als der selbe 44
In diesem Zusammenhang vertritt Schopenhauer die – einigermaßen kryptisch anmutende – These, daß sich in der Verneinung des Willens die metaphysische Freiheit des Willens als Ding an sich ausdrücke, und zwar insofern, als dieser den Charakter aufhebe. So spricht Schopenhauer ausdrücklich von der »Freiheit des Willens an sich, sich selbst zu verneinen und den Charakter, mit aller auf ihn gegründeten Nothwendigkeit der Motive aufzuheben« (W I 504). Diesen Vorgang rückt Schopenhauer in die Nähe der – christlich verstandenen – Gnadenwirkung: »Denn eben Das, was die christlichen Mystiker die Gnadenwirkung und Wiedergeburt nennen, ist uns die einzige unmittelbare Aeußerung der Freiheit des Willens.« (W I 499)
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Wille in Allem, unmittelbar erkannt wird, und aus dieser Erkenntniß ein allgemeines Quietiv des Wollens hervorgeht« (W I 498). Während die Erkenntnis der Ideen bei der ästhetischen Kontemplation im Vordergrund steht, gilt dies für die Durchschauung des principii individuationis eher in Hinblick auf das Mitleid, das – nach Schopenhauer – darin besteht, daß sich der leidende Andere dem Betrachter unmittelbar als Erscheinung desselben Willens als Ding an sich darbietet, in dem auch er selbst gründet. Daher kommt Schopenhauer zum Ergebnis, daß die Erfahrung des Leidens eine wesentliche Voraussetzung für die Verneinung des Willens ist. Er macht geltend, daß neben dem fremden, im Mitleid erfaßten Leiden auch das eigene Leiden dazu führen kann, daß der Wille verneint wird: »Der Unterschied, den wir als zwei Wege dargestellt haben, ist, ob das bloß und rein erkannte Leiden, durch freie Aneignung desselben, mittelst Durchschauung des principii individuationis, oder ob das unmittelbar selbst empfundene Leiden jene Erkenntniß hervorruft.« (W I 491) Schopenhauer betrachtet die zweite Möglichkeit als die häufigere (vgl. W I 485), schreibt ihr aber die geringere Dignität zu. Das schlägt sich darin nieder, daß er sie als den »zweite[n] Weg (δευτερος πλους)« (W I 485) bezeichnet. Zwar wird der Wille bereits im tugendhaften Handeln und in der ästhetischen Kontemplation verneint, aber die »eigentliche[] Verneinung des Willens« (W I 478) liegt nach Schopenhauer erst mit der Askese vor. Diese ist die »vorsätzliche Brechung des Willens, durch Versagung des Angenehmen und Aufsuchen des Unangenehmen, die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung, zur anhaltenden Mortifikation des Willens.« (W I 484 f.) Obgleich der Wille, wenn er im eigentlichen Sinne verneint wird, dauerhafter als in der ästhetischen Kontemplation zur Ruhe gelangt, ist er damit nicht endgültig aufgehoben. In diesem Sinne stellt Schopenhauer fest: »Indessen dürfen wir doch nicht meinen, daß, nachdem durch die zum Quietiv gewordene Erkenntniß, die Verneinung des Willens zum Leben ein Mal eingetreten ist, sie nun nicht mehr wanke, und man auf ihr rasten könne, wie auf einem erworbenem Eigenthum. Vielmehr muß sie durch steten Kampf immer aufs Neue errungen werden.« (W I 484) Darüber hinaus kann die Verneinung des Willens – nach Schopenhauer – mit einer Verneinung der Erkenntnis einhergehen. Um das nachzuvollziehen, muß man in Rechnung stellen, daß Schopenhauer die Erkenntnis als Funktion des Leibes und damit des Willens auffaßt, dem sie letztlich dient. Wird nun mit letzterem auch die Erkenntnis aufgehoben, so bedeutet dies für Schopenhauer, daß sich mit der Verneinung des Willens zugleich die Welt in nichts auflöst: »Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntniß schwände dann auch von selbst die übrige Welt in Nichts; da ohne Subjekt kein Objekt.« (W I 471) Damit meint Schopenhauer jedoch nicht, daß es nach der Verneinung des Willens überhaupt nichts mehr gäbe oder zu erkennen gäbe. Er begreift das Nichts, von dem er spricht, nicht als ein nihil negativum, mit dem alles negiert wäre, sondern als ein nihil privativum, mit dem lediglich etwas Bestimmtes – nämlich die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung – negiert ist. Über den Bereich jenseits der Erkenntnis lasse 77
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sich nichts Positives aussagen. Wie dieser beschaffen sei, deute sich lediglich den Mystikern an, deren Erfahrung weder die Form einer Erkenntnis besitze noch gar mitteilbar sei: »Würde dennoch schlechterdings darauf bestanden, von Dem, was die Philosophie nur negativ, als Verneinung des Willens, ausdrücken kann, irgendwie eine positive Erkenntniß zu erlangen; so bliebe uns nichts übrig, als auf den Zustand zu verweisen, den alle Die, welche zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und den man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u. s. w. bezeichnet hat; welcher Zustand aber nicht eigentlich Erkenntniß zu nennen ist, weil er nicht mehr die Form von Subjekt und Objekt hat, und auch übrigens nur der eigenen, nicht weiter mittheilbaren Erfahrung zugänglich ist.« (W I 506) Mit dieser Wendung erweist sich die Erlösung als Überwindung der empirischen Wirklichkeit bzw. als das Eingehen in das Nichts. Für jemanden, der diesen Schritt getan hat, sei freilich die empirische Wirklichkeit ebenfalls nichts. Dies wird durch die Worte, mit denen Schopenhauer den ersten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung beendet, besonders deutlich: »[W]as nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.« (W I 508)
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Lemmata a priori In seiner von Kant inspirierten Erkenntnistheorie weist Schopenhauer dem Begriff des Apriorischen eine zentrale Rolle zu. Ähnlich wie der Königsberger Denker grenzt er apriorische Erkenntnis gegen aposteriorische ab. Während letztere ihren Geltungsgrund in der Erfahrung hat, also empirisch ist, geht erstere der Erfahrung in gewisser Hinsicht voraus. So erklärt Schopenhauer, die apriorische Erkenntnis liege »vor aller Erfahrung« (G 68; vgl. a. W I 524 sowie P I 59 u. 97) und hänge daher nicht von dieser ab (vgl. G 131 sowie W I 33, 40, 111, 117, 524 u. 537). Nach seiner Auffassung liegt vielmehr eine Abhängigkeit in umgekehrter Richtung vor. Schopenhauer knüpft expressis verbis an Kant an, dessen Position er folgendermaßen beschreibt: »Kant nun endlich versteht zuvörderst unter trans scendental die Anerkennung des Apriorischen und daher bloß Formalen in unserer Erkenntniß, als eines solchen; d. h. die Einsicht, daß dergleichen Erkenntniß von der Erfahrung unabhängig sei, ja, dieser selbst die unwandelbare Regel, nach der sie ausfallen muß, vorschreibe« (P I 96 f.).1 1 Besonders prägnant ist die folgende – allerdings auf die Kausalität beschränkte – Formulierung: »Denn die Unabhängigkeit der Erkenntniß der Kausalität von aller Erfahrung, d. h. ihre Apriorität, kann allein dargethan werden aus der Abhängigkeit aller Erfahrung von ihr: und dieses wieder kann allein geschehn, indem man auf die hier angegebene und an den soeben bezeichneten Stellen ausgeführte Art nachweist, daß die Erkenntniß der Kausalität
Damit stellt die apriorische Erkenntnis eine »Bedingung[] der Möglichkeit aller Erfahrung« (G 124) dar. Ferner schließt sich Schopenhauer auch darin Kant an, daß er die apriorische Erkenntnis, sofern sie als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung fungiert, mit dem Ausdruck »transscendental« (G 56, W II 211 f. u. P I 96 f.) bezeichnet.2 Der Bereich des Apriorischen beinhaltet nach Kant und Schopenhauer keine materialen Erkenntnisse, sondern formale. Schopenhauer hebt wiederholt hervor, daß »das Angeborene, daher Apriorische und von der Erfahrung Unabhängige unsers gesammten Erkenntnißvermögens durchaus beschränkt ist auf den formellen Theil der Erkenntniß, d. h. auf das Bewußtseyn der selbsteigenen Funktionen des Intellekts und der Weise ihrer allein möglichen Thätigkeit, welche Funktionen jedoch sammt und sonders des Stoffs von außen bedürfen, um materielle Erkenntin der Anschauung überhaupt, in deren Gebiet alle Erfahrung liegt, schon enthalten ist, also völlig a priori in Hinsicht auf die Erfahrung besteht, von ihr als Bedingung vorausgesetzt wird, nicht sie voraussetzt« (W I 40 f.). 2 Angesichts der Tatsache, daß – wie Schopenhauer selbst einzuräumen scheint (vgl. G 131 u. 147 ff.) – auch die Logik und die Mathematik auf apriorischen Voraussetzungen aufbauen, wäre es angemessener, den Begriff des Transzendentalen nicht auf die »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung« zu beschränken, sondern auf die »Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis« auszudehnen.
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a priori nisse zu liefern« (G 131; vgl. a. W I 525, W II 42 u. 211 sowie P I 95 ff. u. 106 ff.). Handelt es sich beim Apriorischen um formale Erkenntnisse bzw. formale Strukturen der Erkenntnis, die nicht in Erfahrung gründen, sondern diese ermöglichen, so bedeutet dies für Schopenhauer, daß es nicht etwa auf irgendwelche kontingenten, sondern auf die allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis hinausläuft. Mehr noch, Schopenhauer versichert, die apriorische Erkenntnis zeichne sich durch »absolute Allgemeingültigkeit« (W II 141), »unbedingte Gewißheit« (G 59) und »größte Notwendigkeit« (W I 106) aus, die sich grundlegend von der »approximativen« und »komparativen Allgemeinheit« (W II 103 u. 141) der empirischen Erkenntnis unterscheide. Um die entsprechenden Einsichten zu charakterisieren, gebraucht er sogar den Ausdruck »aeternae veritates« (W I 524 u. P I 57). Freilich ist diese Einschätzung nicht ganz wörtlich zu nehmen. In diesem Zusammenhang macht Schopenhauer geltend, daß die apriorische Erkenntnis in gewisser Hinsicht »aus der Erfahrung geschöpft« (P I 59) ist, und stellt fest: »Ja sogar die Apriorität eines Theils der menschlichen Erkenntniß wird von ihr [der Metaphysik] als eine gegebene Thatsache aufgefaßt, aus der sie auf den subjektiven Ursprung desselben schließt.« (W II 211 f.) Gemeint ist damit, daß die apriorischen Bedingungen der Erfahrung im Ausgang von einem kontingenten Faktum, der Tatsache der Erfahrung, erschlossen werden, so daß sie nicht absolut, sondern allenfalls relativ – d. h. im Verhältnis zu diesem Faktum – notwendig wären. Daher kann man Schopenhauer durchaus folgen, wenn er erklärt, daß bereits Kant bei seiner Untersuchung der apriorischen Strukturen 80
Lemmata der Erkenntnis auf ein empirisches Fundament rekurrierte: »Kant gieng, bei seiner Nachweisung des Unzulänglichen der vernünftigen Erkenntniß zur Ergründung des Wesens der Welt, von der Erkenntniß, als einer Thatsache, die unser Bewußtseyn liefert, aus, verfuhr also, in diesem Sinne, a posteriori.« (W II 339) Vergegenwärtigt man sich, daß Erkenntnis nach Schopenhauer ein erkennendes Subjekt voraussetzt, so erstaunt es nicht weiter, daß er den Ursprung der apriorischen Erkenntnis ebenfalls im Subjekt ansiedelt. Nun geht Schopenhauer jedoch einen Schritt weiter und behauptet mit Kant, daß »gerade die Apriorität dieser Erkenntnißformen […] nur auf dem subjektiven Ursprung derselben beruhen kann« (W I 525; vgl. a. P I 96 f.). Das ist so zu verstehen, daß Apriorität – nach Auffassung beider Philosophen – strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit bedeutet, diese aber nicht im Bereich der äußeren Wirklichkeit, sondern lediglich im Bereich der inneren Wirklichkeit – also des erkennenden Subjekts – angetroffen werden kann. Schopenhauer gibt dieses – von Descartes beeinflußte – Argument wie folgt wieder: »Apodiktische Gewißheit kann einer Erkenntniß freilich nur ihr Ursprung a priori geben: eben dieser aber beschränkt sie auf das bloß Formelle der Erfahrung überhaupt, indem er anzeigt, daß sie durch die subjektive Beschaffenheit des Intellekts bedingt sei.« (W II 211; vgl. a. W I 537 u. 556) Ob aber der subjektive Ursprung einer Erkenntnis ausreicht, um ihre Allgemeinheit und Notwendigkeit zu sichern, und ob diese Merkmale nicht auch Entitäten zukommen können, die keine Subjekte sind, wird weder von Kant noch von Schopenhauer eingehender diskutiert.
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Eine weitere, nicht zu unterschätzende Methoden untersucht: einer transzendenSchwierigkeit liegt darin, daß Schopen- talen, idealistischen und einer physiologihauer im Zuge seiner Erläuterung der schen, realistischen. Je nachdem, welche apriorischen Erkenntnis immer wie- Perspektive er wählt, fördert er andere der auf das Gehirn zu sprechen kommt. Aspekte des Problems zutage. Das gilt naDabei drückt er sich recht deutlich aus: türlich auch für die apriorische Erkennt»Transscendental ist die Philosophie, wel- nis, deren Grundsätze er im zweiten Band che sich zum Bewußtseyn bringt, daß die seines Hauptwerks tabellarisch darstellt: ersten und wesentlichsten Gesetze die- »Nun kann man diese Tafel nach Belieser sich uns darstellenden Welt in unserm ben betrachten entweder als eine ZusamGehirn wurzeln und dieserhalb a priori menstellung der ewigen Grundgesetze der erkannt werden.« (P I 97) Anscheinend Welt, mithin als die Basis einer Ontologie; gelangt Schopenhauer deshalb zu dieser oder aber als ein Kapitel aus der PhysioEinschätzung, weil er die Subjektivität der logie des Gehirns; je nachdem, ob man apriorischen Erkenntnis an deren Abhän- den realistischen, oder den idealistischen gigkeit vom Gehirn festmacht (vgl. W I 58, Gesichtspunkt faßt; wiewohl der zweite in W II 29, 43, 60 u. 99 sowie P II 49 ff.). Nun letzter Instanz Recht behält.« (W II 59)3 Vor dem Hintergrund seiner Lehre ist das Gehirn sicherlich eine Bedingung der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis vom transzendentalen Idealismus vertritt und bietet sich – im Verhältnis zu dieser – Schopenhauer – ähnlich wie Kant – die durchaus als vorgängig dar, doch kann Auffassung, die apriorische Erkenntnis dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß habe nicht einfach nur ihren Ursprung im es sich beim Gehirn nicht um eine for- Subjekt, sondern gelte auch nur für das, male, sondern um eine materiale – der was das Subjekt erkennen könne, also für empirischen Wirklichkeit angehörende – den Bereich der Erfahrung bzw. der ErEntität handelt. Beinhalten die Begriffe scheinung: »Denn gerade die Apriorität des Apriorischen und des Transzenden- dieser Erkenntnißformen, da sie nur auf talen die Unabhängigkeit von der empi- dem subjektiven Ursprung derselben berischen Wirklichkeit, so fällt das Gehirn ruhen kann, schneidet uns die Erkenntniß wohl kaum darunter. Ferner wird man des Wesens an sich der Dinge auf immer den Funktionen des Gehirns auch keine ab und beschränkt uns auf eine Welt von strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit bloßen Erscheinungen, so daß wir nicht ein Mal a posteriori, geschweige a priori, zuschreiben können. Es drängt sich die Frage auf, wie Scho- die Dinge erkennen können, wie sie an penhauer solch eine Verwechslung un- sich selbst seyn mögen.« (W I 525; vgl. a. terlaufen konnte. Auf den ersten Blick W II 214 f. u. P I 95) Dies aber bedeutet, scheint es tatsächlich, als setze er mensch- daß die Metaphysik nicht als apriorische liche Subjektivität mit dem »Erkenntniß- Wissenschaft auftreten kann. Angesichts apparat[] und seiner Einrichtung (Ge3 Daß sich Schopenhauer über die Diffehirnfunktion)« (P I 59) gleich, doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß er das renz zwischen beiden Betrachtungen im klaren ist, geht auch daraus hervor, daß er seine phyProblem der Erkenntnis im Ausgang von siologischen Einsichten lediglich als »in gewiszwei unterschiedlichen, sich ergänzenden sem Sinne« (W II 334) a priori einstuft. 81
a priori dieses Befundes gelangt Schopenhauer zu dem Ergebnis, sie müsse »empirische Erkenntißquellen haben« (W II 211) und nehme insofern den Rang einer »Erfahrungswissenschaft« (W II 214) ein. Wie bieten sich nun die apriorischen Erkenntnisse im einzelnen dar? Schopenhauer ist überzeugt, daß »der Satz vom Grunde der gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori bewußten Formen des Objekts ist, und daß daher Alles, was wir rein a priori wissen, nichts ist, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm also eigentlich unsre ganze a priori gewisse Erkenntniß ausgesprochen ist« (W I 32; vgl. a. W I 112 u. 588). Dieser Satz beinhaltet zum einen, daß sich im Bewußtsein stets Subjekt und Objekt gegenüberstehen, und zum anderen, daß jedes Objekt gesetzmäßig mit einem anderen Objekt verbunden ist.4 Mit anderen Worten: Schopenhauer geht von einer apriorischen Korrelation von Subjekt und Objekt sowie von apriorischen Verbindungen der Objekte untereinander aus. Was letztere betrifft, so teilt er sie in mehrere Klassen ein, denen er unterschiedliche Formen des Satzes vom Grunde zuordnet. Es handelt sich um den Satz des zureichenden Grundes des
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Werdens, des Erkennens, des Seins und des Wollens. Die entsprechenden apriorischen Strukturen sind die Kategorie bzw. das Gesetz der Kausalität (vgl. G 124 u. 131, W I 32, W II 46 ff. sowie P I 106 u. 108), der »formelle Theil der Erkenntniß« (G 131), die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit (vgl. G 124 u. 131, W I 32, W II 44 ff. sowie P I 106 u. 108) sowie das Gesetz der Motivation, das lediglich eine besondere Form des Satzes vom zureichenden Grunde des Werdens darstellt (vgl. G 162). Dazu kommen die Erkenntnisse, die sich daraus ableiten lassen: die »allerersten Elemente der Naturlehre« (W II 212; vgl. a. G 60, W I 38, 86 f., 106 u. 588 sowie W II 58 ff.) sowie die Einsichten der Logik (vgl. W I 75, N 282 sowie W II 107, 141 u. 212) und Mathematik (vgl. N 282, sowie W II 107, 141 u. 212). Ferner glaubt Schopenhauer, daß es eine – allerdings nicht formale, sondern inhaltliche – Erkenntnis des Schönen gibt, die in gewisser Hinsicht als apriorisch zu betrachten sei: »Rein a posteriori und aus bloßer Erfahrung ist gar keine Erkenntniß des Schönen möglich: sie ist immer, wenigstens zum Theil, a priori, wiewohl von ganz anderer Art, als die uns a priori bewußten Gestaltungen des Satzes vom Grunde. Diese betreffen die allgemeine 4 G 41: »Unser erkennendes Bewußtseyn, Form der Erscheinung als solcher, wie als äußere und innere Sinnlichkeit (Receptivi- sie die Möglichkeit der Erkenntiß übertät), Verstand und Vernunft auftretend, zerfällt haupt begründet, das allgemeine, ausin Subjekt und Objekt, und enthält nichts außernahmslose Wie des Erscheinens, und aus dem. Objekt für das Subjekt seyn, und unsere Vorstellung seyn, ist das Selbe. Alle unsere Vor- dieser Erkenntniß geht Mathematik und stellungen sind Objekte des Subjekts, und alle reine Naturw issenschaft hervor: jene anObjekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen. Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellun- dere Erkenntnißart a priori hingegen, welche die Darstellung des Schönen möglich gen unter einander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbin- macht, betrifft, statt der Form, den Inhalt dung stehn, vermöge welcher nichts für sich Beder Erscheinungen, statt des Wie, das Was stehendes und Unabhängiges, auch nichts Eindes Erscheinens.« (W I 282) zelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann.«
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Lemmata abstrakt Schopenhauer geht in seiner Erkenntnistheorie von einem Gegensatz zwischen abstrakten und intuitiven Vorstellungen aus. Letztere setzt er mit den Anschauungen, erstere mit den Begriffen gleich, deren Besitz den Menschen vom Tier abgrenzt und seine Vernunft ausmacht: »Der Hauptunterschied zwischen allen unsern Vorstellungen ist der des Intuitiven und Abstrakten. Letzteres macht nur eine Klasse von Vorstellungen aus, die Begriffe: und diese sind auf der Erde allein das Eigenthum des Menschen, dessen ihn von allen Thieren unterscheidende Fähigkeit zu denselben von jeher Vernunft genannt worden ist.« (W I 33; vgl. a. G 113 f., W I 66 ff., 71 u. 125 sowie W II 83) Schopenhauer betrachtet die abstrakten Vorstellungen im Vergleich zu den intuitiven insofern als abgeleitet, als sie im Ausgang von ihnen gebildet werden und ihren Inhalt von ihnen beziehen: »Wie aus dem unmittelbaren Lichte der Sonne in den geborgten Wiederschein [sic!] des Mondes, gehn wir von der anschaulichen, unmittelbaren, sich selbst vertretenden und verbürgenden Vorstellung über zur Reflexion, zu den abstrakten, diskursiven Begriffen der Vernunft, die allen Gehalt nur von jener anschaulichen Erkenntniß und in Beziehung auf dieselbe haben.« (W I 66) Dabei versteht Schopenhauer unter Reflexion eine Weise des Erkennens, die sich durch Nachträglichkeit auszeichnet, und er hebt den derivativen Charakter der Vorstellungen, mit denen sie zu tun hat, dadurch hervor, daß er sie als »Vorstellungen von Vorstellungen« einstuft: »Die Reflexion ist nothwendig Nachbildung, Wiederholung, der urbildlichen anschaulichen Welt, wiewohl Nachbildung ganz eigener Art, in einem völlig heterogenen Stoff. Deshalb sind die Begriffe ganz pas-
abstrakt send Vorstellungen von Vorstellungen zu nennen.« (W I 73; vgl. a. G 114 u. 117 sowie W I 67 f. u. 74) Die abstrakten Vorstellungen heben sich – nach Schopenhauer – auch in folgender Hinsicht von den intuitiven ab: Zum einen besitzen sie eine »Sphäre« (G 114 u. W I 75 f.) bzw. einen »Umfang« (W II 78), das heißt, sie sind allgemein, so daß es möglich ist, eine oder mehrere5 – sei es abstrakte oder anschauliche – Vorstellungen darunter zu subsumieren, und zum anderen bleiben sie, was ihre inhaltliche Bestimmung anbelangt, hinter den intuitiven zurück. Beides hängt in der Weise miteinander zusammen, daß der Inhalt e ines Begriffs mit seinem Umfang abnimmt: »Je höher man nun in der Abstraktion aufsteigt, desto mehr läßt man fallen, also desto weniger denkt man noch. Die höchsten, d. i. die allgemeinsten Begriffe sind die ausgeleertesten und ärmsten, zuletzt nur noch leichte Hülsen, wie z. B. Seyn, Wesen, Ding, Werden u. dgl. m.« (G 114 f.; vgl. a. W II 78 f. u. 87)6 Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß Begriffe durch eine Abstraktion entstehen, die von der Vernunft geleistet wird (vgl. G 132, W I 71 sowie W II 82 f., 89 u. 225) und die einem »Abwerfen unnützen Gepäckes« (G 117 u. W II 78) 5 In
diesem Zusammenhang betont Schopenhauer: »Allein dies Gelten von mehreren Dingen ist keine wesentliche, sondern nur accidentale Eigenschaft des Begriffs. Es kann daher Begriffe geben, durch welche nur ein einziges Objekt gedacht wird, die aber deswegen doch abstrakt und allgemein, keineswegs aber einzelne und anschauliche Vorstellungen sind« (W I 74). 6 Schopenhauer glaubt, daß es der Philosophie nicht gut bekommt, wenn sie den Boden der Anschauung hinter sich zurückläßt und sich in derartige Abstraktionen verliert. Vgl. G 115 u. W II 101.
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gleicht. Er beschreibt diesen Vorgang wie Anschauung Schopenhauer weist der folgt: »Denn bei ihrer Bildung zerlegt das Anschauung in seinen Überlegungen zur Abstraktionsvermögen die […] vollstän- Erkenntnis keineswegs nur eine wichtige, digen, also anschaulichen Vorstellungen sondern die entscheidende Rolle zu. Dain ihre Bestandtheile, um diese abge- bei geht er einen Schritt über Kant hinsondert, jeden für sich, denken zu kön- aus. Bekanntlich erblickt dieser – gemäß nen als die verschiedenen Eigenschaften, der Devise »Gedanken ohne Inhalt sind oder Beziehungen, der Dinge. Bei diesem leer, Anschauungen ohne Begriffe sind Processe nun aber büßen die Vorstellun- blind«8 – in der Erfahrung eine Synthese, gen nothwendig die Anschaulichkeit ein, in die Anschauung und Begriff in gleiwie Wasser, wenn in seine Bestandtheile cher Weise eingehen. Was jedoch Schozerlegt, die Flüssigkeit und Sichtbarkeit. penhauer betrifft, so schließt er sich zwar Denn jede also ausgesonderte (abstra- der Auffassung an, daß die Erkenntnis hirte) Eigenschaft läßt sich für sich allein ihren Stoff von der Anschauung erhält, wohl denken, jedoch darum nicht für sich doch wertet er diese im Vergleich zum allein auch anschauen. Die Bildung e ines Begriff ganz erheblich auf. Dabei beBegriffs geschieht überhaupt dadurch, zeichnet er die Anschauung häufig als daß von dem anschaulich Gegebenen intuitive Vorstellung, den Begriff hingeVieles fallen gelassen wird, um dann das gen als abstrakte. Sie bilden, wie nicht Uebrige für sich allein denken zu können: anders zu erwarten ist, einen Gegensatz: derselbe ist also ein Wenigerdenken, als »Der Hauptunterschied zwischen allen angeschaut wird. Hat man, verschiedene unsern Vorstellungen ist der des Intuianschauliche Gegenstände betrachtend, tiven und Abstrakten.« (W I 33) Dieser von jedem etwas Anderes fallen lassen besteht darin, daß die Anschauung den und doch bei Allen das Selbe übrig be- Inhalt der Erkenntnis liefert: »Also alles halten; so ist dies das genus jener Species. Materielle in unserer Erkenntniß, d. h. AlDemnach ist der Begriff eines jeden genus les, was sich nicht auf die subjektive Form, der Begriff einer jeden darunter begriffe- selbsteigene Thätigkeitsweise, Funktion nen Species, nach Abzug alles Dessen, was des Intellekts zurückführen läßt, mithin nicht allen Speciebus zukommt.« (G 114) der gesammte Stoff derselben, kommt Freilich bleibt bei dieser – empiristisch von außen, nämlich zuletzt aus der, von ausgerichteten 7 – Theorie der Begriffsbil- der Sinnesempfindung ausgehenden, obdung im dunkeln, wie es der Abstraktion jektiven Anschauung der Körperwelt.« gelingen soll, Merkmale zu isolieren, sie (G 131 f.; vgl. a. W II 86) 9 Aus diesem zu vernachlässigen und die übriggeblie8 KrV, A 51 / B 75. benen gemeinsamen Merkmale zu einem 9 Ferner kann die Erfahrung – neben der Begriff zusammenzufassen, ohne bereits äußeren Wirklichkeit – auch die innere zum selbst über Begriffe – nämlich jene der Gegenstand haben. Schopenhauer wird diesem entsprechenden Merkmale – zu verfügen. Umstand durchaus gerecht: »Der gegebene
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beruft sich insbesondere auf Reid. Vgl. W II 82.
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Stoff jeder Philosophie ist demnach kein anderer, als das empirische Bewußtseyn, welches in das Bewußtseyn des eigenen Selbst (Selbstbewußtseyn) und in das Bewußtseyn anderer Dinge (äußere Anschauung) zerfällt. Denn dies
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Grund erblickt Schopenhauer in der An- passend primäre, Begriffe hingegen seschauung den »innerste[n] Kern jeder äch- kundäre Vorstellungen benannt werden« ten und wirklichen Erkenntniß« (W II 87; (W II 86; vgl. a. G 95). Darüber hinaus vgl. a. G 120, W II 97 sowie P II 57), ja macht Schopenhauer – im Gegensatz zu sogar die Erkenntnis schlechthin: »Die Kant – geltend, daß es anschauliche ErAnschauung ist nicht nur die Quelle aller kenntnis gibt, die nicht auf Begriffe anErkenntniß, sondern sie selbst ist die Er- gewiesen, sondern rein intuitiv ist. Dabei kenntniß κατ’ εξοχην, ist allein die unbe- handelt es sich zum einen um bestimmte dingt wahre, die ächte, die ihres Namens Formen der empirischen Erkenntnis wie vollkommen würdige Erkenntniß: denn die unmittelbare, nicht begrifflich fixierte sie allein ertheilt eigentliche Einsicht, sie Auffassung kausaler Verhältnisse (vgl. allein wird vom Menschen wirklich assi- G 92 ff.) und zum andern um die Erkenntmilirt, geht in sein Wesen über und kann nis des Wesens der Dinge bzw. der Ideen, mit vollem Grunde sein heißen; während die Schopenhauer als die »höchste[] dem die Begriffe ihm bloß ankleben.« (W II Menschen erreichbare[]« (W II 96; vgl. a. 92) Damit will Schopenhauer zum Aus- W II 441 f.) betrachtet. Mit anderen Wordruck bringen, daß allein die Anschauung ten, der Primat der Anschauung beruht – im Gegensatz zum Begriff – die Wirk- auch darauf, daß sie – anders als noch lichkeit nicht mittelbar, sondern unmittel- bei Kant – nicht etwa für sich genommen bar präsentiert. Er nimmt einen wesent- »blind« ist, sondern bereits Erkenntnis lichen Gedanken der Phänomenologie liefert.11 Da nun die Anschauung einen vorweg, indem er versichert: »[Sie] giebt unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit – keine Meinung, sondern die Sache selbst.« und damit Erkenntnis aus erster Hand – (W I 66) Unter dieser Voraussetzung ist ermöglicht, ist es nicht weiter erstaunlich, es nur konsequent, daß Schopenhauer be- daß Schopenhauer die bedeutendsten kotont: »Alle letzte, d. h. ursprüngliche Evi- gnitiven Leistungen, zu denen ein Mensch denz ist eine anschauliche: dies verräth fähig ist, auf sie zurückführt: »Weisheit schon das Wort.« (W I 104; vgl. a. P II 57)10 und Genie, diese zwei Gipfel des ParnasGenießt die Anschauung bzw. die in- sus menschlicher Erkenntniß, wurzeln tuitive Vorstellung gegenüber dem Be- nicht im abstrakten, diskursiven, sondern griff bzw. der abstrakten Vorstellung den im anschauenden Vermögen.« (W II 90; Vorrang, so liegt das zunächst daran, daß vgl. a. W II 93, 96 u. 445 ff.) »die Begriffe ihren Stoff von der anschauÄhnlich wie Kant unterscheidet auch enden Erkenntniß entlehnen« (W II 85; Schopenhauer zwischen einer reinen, vgl. a. W I 66, 96 u. 104 sowie W II 224 f.). apriorischen und einer empirischen AnSchopenhauer stellt dazu fest: »In diesem schauung. Während die erstere auf die beiSinne können die Anschauungen recht allein ist das Unmittelbare, das wirkliche Gegebene.« (W II 99) 10 Schopenhauer glaubt, daß dies auch für die Mathematik gilt, und beklagt sich, daß sich der diskursive Beweis dort größeren Ansehens erfreut. Vgl. W I 104 u. 108 ff.
11 Deshalb kann sich Schopenhauer wie folgt von Kant abgrenzen: »Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kants Methode und der, welche ich befolge, liegt darin, daß er von der mittelbaren, der reflektirten Erkenntniß ausgeht, ich dagegen von der unmittelbaren, der intuitiven.« (W I 555)
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den Formen der Anschauung, Raum und gebe er sich in die Nähe eines Fichte oder Zeit, beschränkt ist, zeichnet sich letztere Schelling, die ebenfalls auf eine Instanz dadurch aus, daß sie darüber hinaus einen rekurrieren, die sie als intellektuale oder Inhalt bzw. eine Materie besitzt: »Was intellektuelle Anschauung bezeichnen. diese Klasse von Vorstellungen, in welcher Freilich meinen sie damit eine Art überRaum und Zeit rein angeschaut werden, sinnlicher Anschauung, deren Gegenvon der ersten Klasse, in der sie […] wahr- stand das Ich oder das Absolute ist. Gegenommen werden, unterscheidet, das ist gen diese Konzeption grenzt sich Schodie Materie« (G 147). Demnach bietet sich penhauer energisch ab: »Was übrigens die empirische Anschauung – im Gegen- mich betrifft, so muß ich bekennen, daß satz zur reinen – nicht als formal, sondern ich ebenfalls jene das Uebersinnliche, das als material dar. Was ihre Differenz zur Absolutum, nebst langen Geschichten, die reinen Anschauung ausmacht, ist ihr Stoff, sich mit demselben zutragen, unmittelbar der seinerseits zwei Komponenten auf- wahrnehmende, oder auch vernehmende, weist. Es handelt sich um die Empfindung oder intellektual anschauende Vernunft und die Kategorie der Kausalität, die er- mir, in meiner Beschränktheit, nicht anforderlich ist, um die Wahrnehmung e ines ders faßlich und vorstellig machen kann, Gegenstandes zu ermöglichen. So erklärt als gerade so, wie den sechsten Sinn der Schopenhauer, »daß was zur reinen An- Fledermäuse.« (W I 635; vgl. a. G 128 f. u. schauung des Raumes und der Zeit hin- 139 f., W I 17, 55 f., 515, 591 f. u. 623, W II zukommt, wenn aus ihr eine empirische 217 u. 224 sowie P II 17) Schopenhauer wird, einerseits die Empfindung und ande- begründet seine Einschätzung damit, daß rerseits die Erkenntniß der Kausalität ist, sich die Einsichten, die auf die intellektuwelche die bloße Empfindung in objektive elle Anschauung zurückgehen, einer obempirische Anschauung verwandelt« (W I jektiven Überprüfung entziehen und da553). Ein wesentlicher Einwand, den Scho- her »subjektiv, individuell und […] problepenhauer gegen Kant erhebt, läuft darauf matisch« (W II 217) sind. Letztlich handle hinaus, daß er die Beteiligung der Katego- es sich um ein Mittel, um die »fixirten Farie der Kausalität bei der Entstehung der voritideen« (W I 635) des jeweiligen Denempirischen Anschauung bzw. Wahrneh- kers zu rechtfertigen. mung übersehen habe (vgl. G 96 ff. sowie Es wurde bereits angedeutet, daß SchoW I 538 f., 545 f., 548 u. 553). penhauer die empirische Anschauung Angesichts der Tatsache, daß mit der bzw. die Wahrnehmung als »intellektual« Kategorie der Kausalität eine Funktion, betrachtet. In diesem Zusammenhang die nicht der Sinnlichkeit, sondern dem geht er von einer grundlegenden »Kluft Verstand angehört, in die empirische An- zwischen Empfindung und Anschauung« schauung eingeht, läßt sich ohne weiteres (G 68) aus. Diese besteht darin, daß die nachvollziehen, daß Schopenhauer auf de- Empfindung subjektiv und die Anschauren »Intellektualität« (G 66 ff.) besteht. Ist ung objektiv ist, und zwar insofern, als nur davon die Rede, daß »unsere Anschauung letztere, nicht aber erstere Gegenstände der Außenwelt nicht bloß sensual, son- präsentiert. Die Empfindung hingegen erdern hauptsächlich intellektual […] ist« schöpft sich in einem Reiz in den Sinnes(P I 250), so klingt das zunächst, als be- organen, der nach Schopenhauer »nichts 86
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mehr [ist], als ein lokales, specifisches, in- Intellekt […] prädisponirt liegende Form nerhalb seiner Art einiger Abwechslung des äußern Sinnes zu Hülfe, den Raum, fähiges, jedoch an sich selbst stets subjek- um jene Ursache außerhalb des Organistives Gefühl, welches als solches gar nichts mus zu verlegen: denn dadurch erst entObjektives, also nichts einer Anschauung steht ihm das Außerhalb, dessen MöglichAehnliches enthalten kann« (G 67; vgl. a. keit eben der Raum ist; so daß die reine W I 39). Allerdings stellt die Empfindung Anschauung a priori die Grundlage der die »Data« (G 72, W I 39 u. W II 48) bzw. empirischen abgeben muß. Bei diesem den »Stoff« (G 68 u. P I 108) der Erfah- Proceß nimmt nun der Verstand […] alle, rung dar. Um nun die Entstehung der em- selbst die minutiösesten Data der gegepirischen Anschauung im Ausgang von benen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen der Empfindung einsichtig zu machen, entsprechend, die Ursache derselben im nimmt Schopenhauer an, daß letztere von Raume zu konstruiren.« (G 67 f.; vgl. a. einer Instanz, die er als »Verstand« be- W I 39 u. 539, E 65 f., W II 31, 48 u. 322 sozeichnet, zu ersterer transformiert werde: wie P I 250) Der Übergang von der Emp»Die Sinne nämlich liefern nichts weiter, findung zur Anschauung ist nach Schoals den rohen Stoff, welchen allererst der penhauer ein unmittelbarer, das heißt, er Verstand […] in die objektive Auffassung ist nicht auf eine Vermittlung durch Beeiner gesetzmäßig geregelten Körperwelt griffe angewiesen: »Diese […] Verstanumarbeitet.« (G 68; vgl. a. P I 250) Dies desoperation ist […] keine diskursive, regeschehe dergestalt, daß das erkennende flektive, in abstracto, mittels Begriffen Subjekt die Empfindung als Wirkung ei- und Worten, vor sich gehende; sondern nes äußeren, seinen Leib affizierenden eine intuitive und ganz unmittelbare.« Gegenstandes auffasse, den es vermittels (G 68; vgl. a. W I 39) seines Verstandes bzw. der Kategorie der Kausalität – als außerhalb des Leibes im Anthropologie Auf den ersten Blick Raum situierten – konstruiere. Auf diese könnte der Eindruck entstehen, die AnWeise gelange das Subjekt zu einer objek- thropologie spiele bei Schopenhauer tiven, den affizierenden Gegenstand dar- keine wichtige Rolle. Das liegt daran, daß bietenden Anschauung. Schopenhauer er lediglich an wenigen Stellen auf diese beschreibt diesen Vorgang wie folgt: »Erst Disziplin eingeht. Nach seiner Auffassung wenn der Verstand […] in Thätigkeit ge handelt es sich dabei weniger um eine räth und seine einzige und alleinige Form, eigenständige Wissenschaft als um mehdas Gesetz der Kausalität, in Anwendung rere empirische Disziplinen, die sich unter bringt, geht eine mächtige Verwandlung der Voraussetzung, daß sie den Menschen vor, indem aus der subjektiven Empfin- zum Gegenstand haben, als Anthropolodung die objektive Anschauung wird. Er gie darbieten. Schopenhauer greift in vernämlich faßt, vermöge seiner selbsteige- schiedenen Teilen seines Werks auf ihre nen Form, also a priori, d. i. vor aller Er- Ergebnisse zurück: »Hingegen Anthrofahrung […], die gegebene Empfindung pologie, als Erfahrungswissenschaft, läßt des Leibes als eine Wirkung auf […], die sich aufstellen, ist aber theils Anatomie als solche nothwendig eine Ursache haben und Physiologie, – theils bloße empirische muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Psychologie, d. i. aus der Beobachtung ge87
Apperzeption
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schöpfte Kenntniß der moralischen und als Selbstbewußtsein im weitesten Sinne intellektuellen Aeußerungen und Eigen dar, während das, was Schopenhauer als thümlichkeiten des Menschengeschlechts, Selbstbewußtsein bezeichnet, keineswegs wie auch der Verschiedenheit der Indivi- alle Vorstellungen, sondern lediglich die dualitäten in dieser Hinsicht. Das Wich- Willensakte und nicht die Vorstellungen tigste daraus wird jedoch nothwendig, als der äußeren Dinge zum Gegenstand hat. empirischer Stoff, von den drei Theilen Ähnlich wie Kant möchte Schopender Metaphysik vorweggenommen und hauer klären, wie es dem erkennenden bei ihnen verarbeitet.« (P II 27; vgl. a. Subjekt möglich ist, den »erfahrungsmäßiHN III 253) Dem ist hinzuzufügen, daß gen Komplex des Ganzen und seinen Versich Schopenhauer nicht bloß in den me- lauf« (P I 190) zu überblicken, das heißt, taphysischen Partien seines Ansatzes er versucht die Frage nach der »Identi(Naturphilosophie, Ästhetik, Ethik), son- tät« bzw. der »Einheit des Bewußtseyns« dern darüber hinaus auch in seiner Er- (W I 61; vgl. a. W II 162 u. 293) zu klären. kenntnistheorie immer wieder anthropo- Nach seiner Auffassung gründet diese im logische Beobachtungen zunutze macht. »logische[n]« bzw. »theoretische[n] Ich«, Mehr noch, er nimmt dabei eine Reihe das als »Einheitspunkt« oder »Träger des interessanter Einsichten der philosophi- ganzen Bewußtseyns« (W II 293) fungiere. schen Anthropologie des 20. Jahrhun- Genau diese Instanz setzt nun Schopenderts vorweg (z. B. die Anpassung von In- hauer mit der »synthetischen Einheit der stinkt und organischer Ausstattung an die Apperception« (W I 554, W II 162 u. 293 Umwelt, die Rolle der Sprache in Hinblick sowie P I 190) gleich. Allerdings ist er inauf den Unterschied von Mensch und Tier, sofern etwas ungenau, als das logische die Überwindung des cartesianischen oder theoretische Ich lediglich dem erkenDualismus).12 nenden Subjekt entspricht. Unter der Apperzeption wäre hingegen die apriorische Apperzeption Während Schopenhauer Vertrautheit mit sich selbst zu verstehen, den Begriff der Apperzeption im Rah- mit der es ausgestattet ist, und unter der men seines eigenen Ansatzes eher selten synthetischen Einheit der Apperzeption gebraucht, geht er ihm anläßlich seiner deren spezifische Einheit, die etwa von Auseinandersetzung mit Kant ausführ- der analytischen zu unterscheiden wälicher nach. Systematisch ist dieser Be- re.13 Von der Sache her stimmt Schopengriff insofern von Interesse, als er – im hauer darin mit Kant überein, daß sich Gegensatz zu jenem des Selbstbewußt- das erkennende Subjekt gegenüber dem seins – bei Schopenhauer nicht etwa nur Mannigfaltigen der Vorstellungen als eineinen Teil des Bewußtseins, die Willens- heitliches durchhält und daß es dies auch akte, sondern das ganze Bewußtsein um13 Während sich die analytische Einheit der faßt. Damit bietet sich die Apperzeption Apperzeption nach Kant darin erschöpft, daß 12
Vgl. Arnold Gehlen. »Die Resultate Schopenhauers.« In: Gesamtausgabe. Bd. 4. Philosophische Anthropologie und Handlungslehre. Hg. v. Karl S. Rehberg. Frankfurt a. M. 1983, 27 u. 30 ff.
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sich das Subjekt angesichts jeder einzelnen Vorstellung seiner selbst als des Trägers derselben bewußt ist, besteht die – grundlegendere – synthetische Einheit darin, daß es weiß, daß es »ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann«. KrV, B 133.
Lemmata weiß. Er folgt ihm auch darin, daß dieses Wissen nicht explizit zu sein braucht, wohl aber jeder Erkenntnis implizit zugrunde liegt: »Auf den Einwand: ›Ich erkenne nicht nur, sondern ich weiß doch auch, daß ich erkenne‹, würde ich antworten: Dein Wissen von deinem Erkennen ist von deinem Erkennen nur im Ausdruck unterschieden.« (G 158)14 Ein wesentlicher Unterschied zu Kant besteht darin, daß Schopenhauer die Apperzeption nicht nur aus transzendentalphilosophischer, sondern auch aus physiologischer und willensmetaphysischer Sicht thematisiert. So bezeichnet er die synthetische Einheit der Apperzeption immer wieder als »Brennpunkt« oder »Fokus der Gehirnthätigkeit« (W I 554 sowie W II 293, 324 f. u. 585). Mehr noch, er vertritt die Auffassung, die transzendentalphilosophische Theorie der Apperzeption leide an einem entscheidenden Defizit und bedürfe – zusätzlich zu einer physiologischen – auch noch einer willensmetaphysischen Fundierung: »Kants Satz: ›das Ich denke muß alle unsere Vorstellungen begleiten‹, ist unzureichend: denn das Ich ist eine unbekannte Größe, d. h. sich selber ein Geheimniß. – Das, was dem Bewußtseyn Einheit und Zusammenhang giebt, indem es, durchgehend durch dessen sämmtliche Vorstellungen, seine Unterlage, sein bleibender Träger ist, kann nicht selbst durch das Bewußtseyn bedingt, mithin keine Vorstellung seyn: viel14 Angesichts dieser Nähe zu Kant mutet es merkwürdig an, daß Schopenhauer die synthetische Einheit der Apperzeption als »sehr wunderliches Ding, sehr wunderlich dargestellt« (W I 554) kritisiert und Kants einschlägiges Diktum »Das Ich denke muß all meine Vorstellungen begleiten können« (KrV, B 131) als »Satz, der mit der einen Hand nimmt, was er mit der andern giebt« (W I 554), zurückweist.
Apperzeption mehr muß es das Prius des Bewußtseyns und die Wurzel des Baumes seyn, davon jenes die Frucht ist. Dieses, sage ich, ist der Wille: er allein ist unwandelbar und schlechthin identisch, und hat, zu seinen Zwecken, das Bewußtseyn hervorgebracht.« (W II 162) In diesem Zusammenhang vergleicht Schopenhauer das transzendentale Subjekt mit dem Fokus eines Hohlspiegels und das Gehirn bzw. den Willen mit ihm selbst: »Wie aber der Fokus eines Brennglases oder eines Hohlspiegels sehr täuschend als ein reales, ja materielles Objekt vor uns schwebt; so auch das Ich. Ohne dies Ich giebt es jedoch kein Bewußtseyn; wie der Hohlspiegel kein Bild giebt, wenn sich nicht seine Stralen zum Fokus vereinigen können. Der Hohlspiegel selbst aber wäre der Leib oder der Wille, die im Grunde identisch sind« (HN IV/1 28 Anm.).15 Dabei zeichnen sich der Leib und der Wille gegenüber dem Subjekt des Erkennens dadurch aus, daß sie nichts Formales, sondern etwas Reales sind. Während ersterer der – im Rahmen des transzendentalen Idealismus 15 Demgegenüber ist die folgende Stelle insofern etwas irritierend, als das Subjekt nicht – wie sonst – mit dem Fokus, sondern mit dem Bild eines Hohlspiegels gleichgesetzt wird, das seinerseits im Fokus desselben angesiedelt wird: »Dieses erkennende und bewußte Ich verhält sich zum Willen, welcher die Basis der Erscheinung desselben ist, wie das Bild im Fokus des Hohlspiegels zu diesem selbst, und hat, wie jenes, nur eine bedingte, ja eigentlich bloß scheinbare Realität. Weit entfernt, das schlechthin Erste zu seyn […], ist es im Grunde tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser aber den Willen.« (W II 325) – Bei anderer Gelegenheit (vgl. W II 162 u. 324) geht Schopenhauer hingegen von einem Konvexspiegel aus, dessen Brennpunkt nicht vor, sondern hinter dem Spiegel liegt. Möglicherweise soll dadurch zum Ausdruck gebracht werden, daß sich das Subjekt in einem anderen Bereich als die abgebildete Wirklichkeit befindet.
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Askese als Erscheinung gedeuteten – empirischen Wirklichkeit angehört, ist letzterer das metaphysisch wirkliche Ding an sich. Mit anderen Worten, das erkennende Subjekt bzw. die transzendentale Apperzeption gewährleisten die Einheit des Bewußtseins lediglich formaliter, nicht aber realiter, und sind deshalb auf den Leib sowie den Willen angewiesen. Askese Schopenhauer versteht u nter Askese die »vorsätzliche Brechung des Willens, durch Versagung des Angenehmen und Aufsuchen des Unangenehmen, die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung, zur anhaltenden Mortifikation des Willens« (W I 484 f.). Das genannte Ziel soll durch ein Verhalten erreicht werden, das mit einer Verneinung des Willens zum Leben einhergeht. Dazu zählen der Verzicht auf geschlechtliche Betätigung und Besitz, die Einschränkung und Vernachlässigung leiblicher Bedürfnisse durch Fasten und Kasteiung sowie schließlich die gelassene Annahme des Todes. Entscheidend ist für Schopenhauer, daß diesen Verhaltensweisen eine entsprechende, auf die Verneinung des Willens zum Leben abzielende Einstellung zugrunde liegt. Obgleich die Askese in dieser Hinsicht über die moralischen Tugenden hinausgehe, seien diese ein »Beförderungsmittel der Selbstverleugnung« (W II 709) und könnten – bei konsequenter Ausübung – der Askese durchaus recht nahekommen (vgl. W II 710). Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß asketisches Verhalten keineswegs nur als un a ngenehm empfunden wird, sondern er betont: »[S]o ist dagegen Der, in welchem die Verneinung des Willens zum Leben aufgegangen ist, so arm, freudelos und voll Entbehrungen sein Zu90
Lemmata stand, von außen gesehn, auch ist, voll innerer Freudigkeit und wahrer Himmelsruhe.« (W I 482) metaphysisches Bedürfnis Schopenhauer schreibt dem Menschen im Gegensatz zum Tier ein metaphysisches Bedürfnis zu, das er als »unvertilgbar« (G 139) im Sinne eines irreduziblen Wesensmerkmals betrachtet. Zunächst äußert sich dieses Bedürfnis darin, daß der Mensch sein Dasein nicht als selbstverständlich hinnimmt, sondern – gerade angesichts der negativen Aspekte desselben wie z. B. der »Vergeblichkeit alles Strebens« (W II 187), des Leidens sowie des Todes (vgl. W II 187 f. u. 543) – darüber erstaunt und nachzudenken beginnt. Stellt man in Rechnung, daß Schopenhauer im Menschen eine Erscheinung des Willens als Ding an sich erblickt, so läßt sich nachvollziehen, wenn er erklärt, das »innere Wesen der Natur« komme »beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum ersten Male zur Besinnung« (W II 186). Freilich bleibe der Mensch nicht beim Erstaunen stehen, sondern er verlange nach einer Antwort auf die Frage, wer er sei und was es mit ihm – sowie der Welt, in der er sein Dasein friste – insgesamt auf sich habe. Genauer gesagt habe der Mensch das Bedürfnis, eine metaphysische Antwort auf seine Frage zu erhalten. In diesem Zusammenhang erklärt Schopenhauer: »Unter Meta physik verstehe ich jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht.« (W II 191) Ange-
Lemmata sichts der Tatsache, daß sich der Mensch – und allein dieser – durch ein Bedürfnis nach Metaphysik auszeichnet, stuft ihn Schopenhauer als animal metaphysicum (vgl. W II 187) ein. Befriedigung Der Begriff der Befriedigung nimmt in Schopenhauers Ausführungen zum Willen eine zentrale Stellung ein. Befriedigung tritt – nach seiner Auffassung – dann ein, wenn eine Begierde oder ein Wunsch erfüllt oder ein Schmerz beseitigt ist. Während der Zustand, in welchem die Begierde oder der Wunsch unerfüllt sind, als schmerzhaft erlebt wird, trifft auf den umgekehrten Zustand das Gegenteil zu. Was beiden Zuständen letztlich zugrunde liegt, ist der Wille, der im einen Fall an sein Ziel gelangt und im anderen daran gehindert wird, es zu erreichen. In diesem Sinn stellt Schopenhauer fest: »Wir haben längst dieses den Kern und das Ansich jedes Dinges ausmachende Streben als das selbe und nämliche erkannt, was in uns, wo es sich am deutlichsten, am Lichte des vollesten Bewußtseyns manifestirt, Wille heißt. Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück.« (W I 387) Schopenhauer charakterisiert die Befriedigung als negativ, den Wunsch hingegen, der ihr vorangeht, als positiv. Das liegt daran, daß er glaubt, Befriedigung könne nicht stattfinden, ohne daß zunächst ein entsprechender Wunsch gegeben sei: »Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kom-
Begriff mende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d. h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses.« (W I 399) Aber auch in anderer Hinsicht stuft Schopenhauer die Befriedigung als negativ ein. Es handelt sich darum, daß der Schmerz eher auffällt und intensiver erlebt wird als der Zustand der Befriedigung, der oftmals erst dann ins Bewußtsein tritt, wenn er beendet ist. Schopenhauer schätzt die Aussichten, einen Zustand dauerhafter Befriedigung zu erreichen, als gering ein. So legt er dar, daß mit jedem erfüllten Wunsch zahlreiche andere Wünsche offenbleiben, daß die Begierde länger anhält als die Befriedigung derselben und daß sich nach der Erfüllung einer Begierde sogleich eine neue oder aber Langeweile einstellt (vgl. W I 252 u. 400 f.). Schopenhauer erklärt sogar, daß »das Wesen des Menschen darin besteht, daß sein Wille strebt, befriedigt wird und von Neuem strebt, und so immerfort, ja, sein Glück und Wohlseyn nur Dieses ist, daß jener Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch rasch vorwärts geht, da das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist« (W I 326 f.). Angesichts der Tatsache, daß sich der Mensch von der Befriedigung eines Wunsches mehr erwartet, als diese einzulösen vermag, bietet sie sich – so Schopenhauer – tatsächlich als ein »beschämender Irrthum« (W I 398) dar. Begriff Schopenhauer versteht unter einem Begriff – im Gegensatz zu einer anschaulichen, intuitiven Vorstellung – eine abstrakte Vorstellung. Nach seiner Auffassung sind beide Arten von Vorstellun91
Begriff
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gen geradezu »toto genere verschiedene« Nachbildung, Wiederholung, der urbildli(W I 71). Ein Begriff ist insofern nicht in- chen anschaulichen Welt, wiewohl Nachtuitiv, als er keine – sei es reine oder em- bildung ganz eigener Art, in einem völlig pirische – Anschauung enthält16, und er heterogenen Stoff.« (W I 73) Daher nennt ist insofern abstrakt, als er aus einer Ab- Schopenhauer die Begriffe auch »Vorstelstraktion von einer anschaulichen Vorstel- lungen aus Vorstellungen« (G 114 u. W I lung hervorgeht. In diesem Zusammen- 73 f.) und stuft sie im Verhältnis zu den hang ordnet Schopenhauer dem Begriff Anschauungen, die »primäre [Vorstellundas Erkenntnisvermögen der Vernunft zu, gen]« seien, als »sekundäre Vorstellungen« durch welches sich der Mensch gegenüber (W II 86) ein. Diese Rangordnung beruht dem Tier auszeichne: »Der allein wesent- darauf, daß Begriffe ihren Inhalt letztlich liche Unterschied zwischen Mensch und der Anschauung verdanken, ja ohne diese Thier, den man von jeher einem, Jenem gar keinen Inhalt besäßen: »Wie aus dem ausschließlich eigenen und ganz besonde- unmittelbaren Lichte der Sonne in den geren Erkenntnißvermögen, der Vernunft, borgten Wiederschein [sic!] des Mondes, zugeschrieben hat, beruht darauf, daß der gehn wir von der anschaulichen, unmittelMensch eine Klasse von Vorstellungen baren, sich selbst vertretenden und verbürhat, deren kein Thier theilhaft ist: es sind genden Vorstellung über zur Reflexion, zu die Begriffe, also die abstrakten Vorstel- den abstrakten, diskursiven Begriffen der lungen; im Gegensatz der anschaulichen, Vernunft, die allen Gehalt nur von jener aus welchen jedoch jene abgezogen sind.« anschaulichen Erkenntniß und in Bezie(G 113; vgl. a. W I 33 u. 68 sowie W II 72) hung auf dieselbe haben.« (W I 66; vgl. a. Die Tätigkeit der Vernunft bezeichnet W I 86 u. 137 sowie W II 85 f.) Vor diesem Schopenhauer als »Denken« (G 117) oder Hintergrund wird auch verständlich, wa»Reflexion« (G 117 sowie W I 66, 68 u. 73). rum Schopenhauer glaubt, neue, die ErDabei bringt der Terminus »Reflexion« kenntnis bereichernde Einsichten ließen – nach seiner Auffassung – den abgelei- sich nicht aus dem Begriff, sondern ledigteten Charakter des Begriffs zum Aus- lich aus der Anschauung entnehmen (vgl. druck: »Die Reflexion ist nothwendig W II 78). Damit bleibt die Aufgabe der Reflexion darauf beschränkt, den Inhalt, den ihr die Anschauung präsentiert, zu verar16 Damit beinhaltet der Begriff auch keibeiten. Schopenhauer formuliert das wie nen die Gegenwart eines Dinges anzeigenden Sinneseindruck: »Der äußere Eindruck auf die folgt: »Da nun aber die Vernunft immer Sinne, sammt der Stimmung, die er allein und nur das anderweitig Empfangene wieder für sich in uns hervorruft, verschwindet mit der Gegenwart der Dinge. Jene Beiden können da- vor die Erkenntniß bringt, so erweitert sie her nicht selbst die eigentliche Erfahrung aus- nicht eigentlich unser Erkennen, sondern machen, deren Belehrung für die Zukunft unser giebt ihm bloß eine andere Form. NämHandeln leiten soll. Das Bild jenes Eindrucks, lich was intuitiv, was in concreto erkannt welches die Phantasie aufbewahrt, ist schon wurde, läßt sie abstrakt und allgemein ersogleich schwächer als er selbst, schwächt sich täglich mehr ab und verlischt mit der Zeit ganz. kennen.« (W I 89) Weder jenem augenblicklichen Verschwinden Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, des Eindrucks, noch dem allmäligen seines Bildaß Schopenhauer der Vernunft in Hindes unterworfen, mithin frei von der Gewalt der blick auf die Begriffe zwei unterschiedliZeit, ist nur Eines: der Begriff.« (W II 77) 92
Lemmata che Aufgaben zuweist. Die erste, grundlegendere besteht darin, die Begriffe im Ausgang von der Anschauung zu bilden, und zwar mit Hilfe ihrer Fähigkeit, abstrakt zu denken bzw. zu abstrahieren: »Unsere Vernunft, oder das Denkvermögen, hat […] zu ihrem Grundwesen das Abstraktionsvermögen, oder die Fähigkeit, Begriffe zu bilden« (G 116; vgl. a. W I 71 u. W II 80).17 Schopenhauer beschreibt die Leistung, welche die Vernunft dabei vollbringt, mit folgenden Worten: »[D]as Abstraktionsvermögen [zerlegt] die […] vollständigen, also anschaulichen Vorstellungen in ihre Bestandtheile, um diese abgesondert, jeden für sich, denken zu können als die verschiedenen Eigenschaften, oder Beziehungen, der Dinge. Bei diesem Processe nun aber büßen die Vorstellungen nothwendig die Anschaulichkeit ein […]. Denn jede also ausgesonderte (abstrahirte) Eigenschaft läßt sich für sich allein wohl denken, jedoch darum nicht für sich allein auch anschauen. Die Bildung eines Begriffs geschieht überhaupt dadurch, daß von dem anschaulich Gegebenen Vieles fallen gelassen wird, um dann das Uebrige für sich allein denken zu kön17 Die – wenigstens auf den ersten Blick – stärker anmutende These, die Begriffsbildung sei die einzige Funktion der Vernunft (vgl. W I 71), führt zu einer Zweideutigkeit. Stellt Schopenhauer bei anderer Gelegenheit nicht nur die Gewinnung der Begriffe aus der Anschauung, sondern auch das Operieren mit ihnen beim Urteilen und Schließen als das Geschäft der Vernunft hin, so ergibt sich daraus folgendes: Entweder gelten ihm Urteil und Schluß ebenfalls als – freilich komplexere – Arten der Begriffsbildung, so daß seine Konzeption derselben weit genug ist, um mit der genannten These vereinbar zu sein, oder aber er versteht unter Begriffsbildung allein die Formung des Begriffs im Ausgang von der Anschauung, die unter dieser Voraussetzung nicht mehr die einzige Aufgabe der Vernunft wäre.
Begriff nen: derselbe ist also ein Wenigerdenken, als angeschaut wird. Hat man, verschiedene anschauliche Gegenstände betrachtend, von jedem etwas Anderes fallen lassen und doch bei Allen das Selbe übrig behalten; so ist dies das genus jener Species. Demnach ist der Begriff eines jeden genus der Begriff einer jeden darunter begriffenen Species, nach Abzug alles Dessen, was nicht allen Speciebus zukommt.« (G 114) Es liegt auf der Hand, daß die Eigenschaften, die im Laufe dieses Verfahrens abgelegt werden, nicht wesentlich, jene hingegen, die festgehalten werden und in den Begriff eingehen, wesentlich – also konstitutiv für das entsprechende genus – sind: »Aber nicht das Angeschaute, noch das dabei Empfundene, bewahrt der Begriff auf, sondern dessen Wesentliches, Essentielles, in ganz veränderter Gestalt, und doch als genügenden Stellvertreter Jener.« (W II 77) Vergegenwärtigt man sich, daß im Zuge der Abstraktion die unwesentlichen Eigenschaften des anschaulich Gegebenen beiseite gelassen werden, so leuchtet durchaus ein, daß Schopenhauer erklärt, die Bildung von Begriffen gehe mit einem »Abwerfen unnützen Gepäckes« (G 117 u. W II 78) einher. Die zweite, auf der ersten aufbauende Aufgabe der Vernunft erblickt Schopenhauer darin, die im Ausgang von der Anschauung gebildeten Begriffe zu gebrauchen. Das geschieht etwa dann, wenn Begriffe zu Urteilen oder Urteile zu Schlüssen zusammengefügt werden. So legt Schopenhauer dar, daß das »Denken im engern Sinne« oder »eigentliche Denken« (G 121, W I 80 sowie W II 130) im Urteilen und – darauf aufbauend – im Schließen besteht. Damit nun diese Operationen stattfinden können, ist es – nach Schopenhauer – erforderlich, daß die Begriffe 93
Begriff mit Hilfe eines sinnlichen Zeichens – das heißt eines Wortes oder auch eines Phantasiebildes – fixiert werden: »Da nun […] die, zu abstrakten Begriffen sublimirten und dabei zersetzten Vorstellungen alle Anschaulichkeit eingebüßt haben; so würden sie dem Bewußtseyn ganz entschlüpfen und ihm zu den damit beabsichtigten Denkoperationen gar nicht Stand halten; wenn sie nicht durch willkürliche Zeichen sinnlich fixirt und festgehalten würden: dies sind die Worte.« (G 115; vgl. a. W II 80)18 Dies bedeutet, daß Schopenhauer die Sprache nicht als für die Begriffsbildung entscheidend betrachtet, sondern darin lediglich ein Mittel erblickt, den von der Sprache unabhängigen Begriff sinnlich zu repräsentieren. Obgleich er – aus pragmatischen Erwägungen – von einer »enge[n] Verbindung des Begriffs mit dem Wort, also der Sprache mit der Vernunft« (W II 80) ausgeht, ja sogar betont, daß der Begriff »an das Wort gebunden ist« (W II 77), gilt für ihn: »Dennoch ist der Begriff sowohl von dem Worte, an welches er geknüpft ist, als auch von den Anschauungen, aus denen er entstanden, völlig verschieden. Er ist ganz anderer Natur, als diese Sinneseindrücke.« (ebd.)19 Hält man sich vor Augen, daß im Begriff die wesentlichen Eigenschaften anschaulich gegebener Inhalte zusammengefaßt sind, so läßt sich nachvollziehen, daß ihn Schopenhauer als »Allgemeines« (G 114 u. 117 f.) charakterisiert. Demnach fungiert der Begriff als übergeordnete 18 Als weitere Möglichkeit einer sinnlichen Repräsentation des Begriffs führt Schopenhauer das »Phantasma« bzw. die »Phantasiebilder« (G 118 f. u. W I 72) an. 19 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Schopenhauer von Herders Metakritik als einem »schlechten Buch« (W I 72) spricht.
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Lemmata Gattung (oder genus), unter die, wie bereits angedeutet wurde, mehrere untergeordnete Spezies fallen können. Dies bedeutet, daß er einen »Umfang« oder eine »Sphäre« (G 114 u. W I 74 ff.) besitzt, die eine oder mehrere Entitäten geringerer Allgemeinheit in sich faßt. Dabei hebt Schopenhauer hervor, daß es in Hinblick auf die Allgemeinheit des Begriffs nicht entscheidend ist, daß er sich tatsächlich auf mehrere Entitäten bezieht, sondern lediglich, daß er über die Möglichkeit verfügt, dies zu tun: »Allein dies Gelten von mehreren Dingen ist keine wesentliche, sondern nur accidentale Eigenschaft des Begriffs. Es kann daher Begriffe geben, durch welche nur ein einziges reales Objekt gedacht wird, die aber deswegen doch abstrakt und allgemein […] sind […]. Nicht also weil ein Begriff von mehreren Objekten abstrahirt ist, hat er Allgemeinheit; sondern umgekehrt, weil Allgemeinheit, d. i. Nichtbestimmung des Einzelnen, ihm als abstrakter Vorstellung der Vernunft wesentlich ist, können verschiedene Dinge durch den selben Begriff gedacht werden.« (W I 74 f.) Angesichts der Tatsache, daß die Allgemeinheit eines Begriffs in dem Maße zunimmt, in dem Eigenschaften ausgeklammert werden, ist Schopenhauer darin zuzustimmen, daß Begriffe, je abstrakter sie sind, desto weniger Inhalt besitzen: »Die höchsten, d. i. die allgemeinsten Begriffe sind die ausgeleertesten und ärmsten, zuletzt nur noch leichte Hülsen, wie z. B. Seyn, Wesen, Ding, Werden u. dgl. m.« (G 115) Begriffe dieser Art begeben sich – nach seiner Einschätzung – in bedenkliche Nähe zu »bloße[m] Wortkram« (W II 78) und ähneln »Wolkengebilden ohne Realität« (W II 87). Besonders fatal wirkt sich ihr Gebrauch, wie Schopenhauer beobachtet, in der Philoso-
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Begriff
phie aus: »Wenn ich daher solche moderne den Satz vom Grunde – über den »Nutzen Philosopheme lese, die sich in lauter sehr der Begriffe«. Er erblickt diesen zunächst weiten Abstraktis fortbewegen; so kann darin, daß sich der Mensch mit Hilfe des ich bald, trotz aller Aufmerksamkeit, fast Begriffs über das an die Gegenwart genichts mehr dabei denken; weil ich eben bundene anschaulich Gegebene erheben keinen Stoff zum Denken erhalte, sondern und sich Abwesendem sowie Vergangemit lauter leeren Hülsen operiren soll […]. nem und Zukünftigem zuwenden kann. Wer dies erfahren will, lese die Schriften Aufgrund seiner – ihn vor dem Tier ausder Schellingianer und, noch besser, der zeichnenden – Fähigkeit, Begriffe zu geHegelianer.« (W II 79) brauchen, »kann er Unterschiede jeder Schopenhauer grenzt den Begriff nicht Art, also auch die des Raumes und der nur vom Wort, sondern auch von zwei Zeit, beliebig fallen lassen, wodurch er, weiteren Arten von Vorstellungen ab. in Gedanken, die Uebersicht der VerganZum einen handelt es sich um das Phan- genheit und Zukunft, wie auch des Abwetasma, zum anderen um die Idee. Ähnlich senden, erhält; während das Thier in jewie das Wort fungiere das Phantasma als der Hinsicht an die Gegenwart gebunden »Repräsentant eines Begriffs«, doch im ist« (G 117; vgl. a. W I 68 sowie W II 72 u. Gegensatz zu diesem liege mit dem Phan- 77). Könne sich der Mensch von der Getasma eine Vorstellung von etwas Einzel- genwart lösen, so bedeute dies, daß er zwinem vor, die dem Begriff – als Vorstellung schen mehreren Motiven abwägen, sein von etwas Allgemeinem – »nicht adäquat«, Handeln nach Plänen ausrichten und soja sogar »nie adäquat« sei (G 118 f. u. W I gar an seinen Tod denken könne (vgl. W I 72). Im Gegensatz zum Phantasma sei die 68 f.). Dies zusammen macht eine EigenIdee zwar eine allgemeine Vorstellung, tümlichkeit des Menschen aus, die Schodoch sie unterscheide sich darin vom Be- penhauer als »Besonnenheit« bezeichnet: griff, daß sie nicht abstrakt, sondern kon- »Diese Besonnenheit nun wieder, also die kret sei. Angesichts der Allgemeinheit, Fähigkeit sich zu besinnen, zu sich zu komdie Begriff und Idee gemeinsam haben, men, ist eigentlich die Wurzel aller seiner erblickt Schopenhauer in der Idee einen theoretischen und praktischen Leistunadäquaten Repräsentanten des Begriffs: gen, durch welche der Mensch das Thier »Der Begriff ist abstrakt, diskursiv, in- so sehr übertrifft; zunächst nämlich der nerhalb seiner Sphäre völlig unbestimmt, Sorge für seine Zukunft, unter Berücknur ihrer Gränze nach bestimmt […]. Die sichtigung der Vergangenheit, sodann Idee dagegen, allenfalls als adäquater Re- des absichtlichen, planmäßigen, methopräsentant des Begriffs zu definiren, ist dischen Verfahrens bei jedem Vorhaben, durchaus anschaulich und, obwohl eine daher des Zusammenwirkens Vieler zu unendliche Menge einzelner Dinge ver- Einem Zweck, mithin der Ordnung, des tretend, dennoch durchgängig bestimmt« Gesetzes, des Staats, u. s. w.« (G 117; vgl. a. (W I 296). W I 68 u. W II 72) Bei anderer Gelegenheit Schopenhauer begnügt sich keines- beschreibt Schopenhauer die »Wirkunwegs mit einer erkenntnistheoretischen gen«, die aus dem Gebrauch der Begriffe Erläuterung des Begriffs, sondern äußert resultieren, folgendermaßen: »Solche sind sich – etwa im § 27 der Abhandlung über die Sprache, das überlegte planmäßige 95
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Handeln und die Wissenschaft; hernach Zweifel und der Irrthum […] eingetreten.« was aus diesen allen sich ergiebt.« (W I (W I 66 f.; vgl. a. W II 83) 71) In anderen Bereichen wie z. B. der ÄsSchopenhauer vertritt die Auffassung, thetik und der Ethik betrachtet Schopen- daß sich Begriffe wie alle Vorstellungen hauer hingegen den Rekurs auf Begriffe auf andere Vorstellungen beziehen, die als weniger hilfreich; er ist vielmehr davon ihr Erkenntnisgrund sind: »[S]o besteht überzeugt, daß man sich dort in erster Li- auch das ganze Wesen der Begriffe, oder nie auf die Anschauung zu stützen habe der Klasse der abstrakten Vorstellun(vgl. W I 94 f., 297 u. 327). gen, allein in der Relation, welche in ihIst der Begriff hingegen in der Wissen- nen der Satz vom Grunde ausdrückt: und schaft unentbehrlich, so liegt dies nicht da diese die Beziehung auf den Erkenntzuletzt daran, daß ihre Aufgabe darin be- nißgrund ist, so hat die abstrakte Vorstelsteht, Wissen bzw. abstrakte Erkenntnis lung ihr ganzes Wesen einzig und allein zu liefern, die ihrerseits – im Gegensatz in ihrer Beziehung auf eine andere Vorzum Gefühl bzw. zur intuitiven Erkennt- stellung, welche ihr Erkenntnißgrund ist. nis – zwingend Begriffe voraussetzen: »In Diese kann nun zwar wieder zunächst ein dieser Hinsicht ist nun der eigentliche Ge- Begriff, oder abstrakte Vorstellung seyn, gensatz des Wissens das Gefühl […]. Der und sogar auch dieser wieder nur einen Begriff, den das Wort Gefühl bezeichnet, eben solchen abstrakten Erkenntißgrund hat durchaus nur einen negativen Inhalt, haben; aber nicht so ins Unendliche: sonnämlich diesen, daß etwas, das im Be- dern zuletzt muß die Reihe der Erkenntwußtseyn gegenwärtig ist, nicht Begriff, nißgründe mit einem Begriff schließen, nicht abstrakte Erkenntnis der Vernunft der seinen Grund in der anschaulichen sei« (W I 87; vgl. a. W I 89 u. 92). Dies Erkenntniß hat. Denn die ganze Welt der bedeutet, daß sich wissenschaftliche Er- Reflexion ruht auf der anschaulichen als kenntnis dadurch auszeichnet, daß sie in ihrem Grunde des Erkennens.« (W I 73) Urteilen zum Ausdruck kommt, die wahr Dies bedeutet, daß Erkenntnis, die in oder falsch sein können: »Wissen über- Urteilen – und damit in Begriffen – zum haupt heißt: solche Urtheile in der Gewalt Ausdruck kommt, auf eine Begründung seines Geistes zu willkürlicher Reproduk- durch andere Erkenntnis angewiesen ist, tion haben, welche in irgend etwas außer die, sofern sie nicht bloß formal ist, der ihnen ihren zureichenden Erkenntniß- Anschauung bedarf. Mehr noch, Schogrund haben, d. h. wahr sind.« (W I 87) Ist penhauer vertritt die Auffassung, daß die aber das Vorliegen eines Urteils die Be- beschriebene Relation zwischen den Bedingung dafür, daß überhaupt von »wahr« griffen das ist, was letztlich die Wahrheit und »falsch« gesprochen werden kann, so einer Erkenntnis ausmacht.20 läßt sich auch nachvollziehen, daß Scho20 G 121: »Die Wahrheit ist also die Beziepenhauer im Begriff, der sich als irredu- hung eines Urtheils auf etwas von ihm Verzible Komponente eines jeden Urteils dar- schiedenes, das sein Grund genannt wird und bietet, nicht allein die Grundlage des Wis- […] selbst eine bedeutende Varietät der Arten sens, sondern auch des Irrtums erblickt: zuläßt. Da es jedoch immer etwas ist, darauf das Urtheil sich stützt, oder beruht; so ist der deut»Aber mit der abstrakten Erkenntniß, mit sche Name Grund passend gewählt.« Daß diese der Vernunft, ist im Theoretischen der Konzeption von Wahrheit keineswegs selbst96
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Bejahung des Willens
Bejahung des Willens Schopenhauer des Individuums« als auch – erst recht – charakterisiert den Willen bzw. den Wil- auf die »Fortpflanzung des Geschlechts« len zum Leben als ein zielloses Streben: (W I 408 ff. u. 416 sowie W II 665) ab. »In der That gehört Abwesenheit alles Mehr noch, Schopenhauer erblickt im GeZieles, aller Gränzen, zum Wesen des schlechtstrieb den »Kern des Willens zum Willens an sich, der ein endloses Streben Leben« (W II 601) und in seiner Befrieist.« (W I 217) Nach seiner Auffassung be- digung die »entschiedenste Bejahung des jaht sich der Wille zunächst, das heißt, er Willens zum Leben« (W I 410; vgl. a. W I tritt in Erscheinung, ohne sich selbst zu 412 u. W II 666). Ähnlich gelten Schopenbeschränken oder zu hemmen. Allerdings hauer die Genitalien als der »eigentliche bestehe die Möglichkeit, daß der Wille zur Brennpunkt des Willens« (W I 412) und Selbsterkenntnis gelange. Dies geschieht – der Geschlechtsakt als »dessen Kern, als nach Schopenhauer – auf die Weise, daß dessen größte Koncentration« (P II 343; mit dem Menschen ein Wesen, in dem sich vgl. a. W II 667). der Wille als Ding an sich objektiviert, Vergegenwärtigt man sich, daß Schodarauf stößt, daß es letzten Endes nichts penhauer den Willen zum Leben als zielanderes als eine individuelle Erscheinung loses Streben betrachtet, so erstaunt es desselben ist.21 Angesichts dieser Einsicht nicht weiter, daß er sich von der Bejahung sehe es sich mit der Alternative konfron- desselben keine dauerhafte Befriedigung, tiert, den Willen zu bejahen oder aber zu geschweige denn Glück erwartet, sonverneinen (vgl. W I 238, 359 u. 385 f. sowie dern betont, sie bringe allenfalls Leiden W II 669 f.). mit sich (vgl. WI 387 ff.). Das gelte nicht Die Bejahung des Willens beschreibt er bloß für das Individuum, das seinen eigefolgendermaßen: »Der Wille bejaht sich nen Willen bejahe, sondern darüber hinselbst, besagt: indem in seiner Objektität, aus auch für die anderen, mit denen es zu d. i. der Welt und dem Leben, sein eige- tun habe.22 Zum einen bedeute die Benes Wesen ihm als Vorstellung vollständig jahung des eigenen Willens häufig eine und deutlich gegeben wird, hemmt diese Verneinung fremden Willens, die als LeiErkenntniß sein Wollen keineswegs; son- den empfunden werde und ein Unrecht dern eben dieses so erkannte Leben wird darstelle (vgl. W I 417 u. 454 sowie W II auch als solches von ihm gewollt, wie 709), zum andern aber laufe sie – im Gebis dahin ohne Erkenntniß, als blinder schlechtstrieb – darauf hinaus, daß neues Drang, so jetzt mit Erkenntniß, bewußt Leben in die Welt gesetzt und damit neues und besonnen.« (W I 359) Konkret bein- Leiden hervorgebracht werde. Schopenhaltet die Bejahung des Willens die Beja- hauer stellt dazu fest: »Mit jener Bejahung hung des Leibes, in welchem der Wille er- über den eigenen Leib hinaus, und bis zur scheint bzw. sich objektiviert (vgl. W I 408 Darstellung eines neuen, ist auch Leiden u. 416). Sie zielt sowohl auf die »Erhaltung und Tod, als zur Erscheinung des Lebens verständlich ist, braucht nicht eigens dargelegt zu werden. 21 Schopenhauer ist überzeugt, daß allein der Mensch die Fähigkeit besitzt, diese Erkenntnis zu erlangen. Vgl. W II 669 f.
22 Überhaupt
ist Schopenhauer der Auffassung, daß die Bejahung des Willens vom Menschen als Individuum ausgeht, während die Verneinung auf die Aufhebung der Individualität hinausläuft. Vgl. W II 713 u. P II 343.
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Bewußtsein gehörig, aufs Neue mitbejaht und die […] Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt.« (W I 410; vgl. a. W II 665 f.) Auf diesen Umstand führt Schopenhauer auch die Scham zurück, die mit der Sexualität einhergeht (vgl. W I 410, W II 666 f. u. P II 344). Da Schopenhauer keine präskriptive, sondern eine deskriptive Ethik lehrt, weigert er sich, dem Menschen hinsichtlich der Alternative einer Bejahung oder Verneinung des Willens etwas »vorzuschreiben oder anzuempfehlen« (W I 359). Nichtsdestoweniger stuft er die Bejahung – durchaus im ethischen Sinne – als negativ und die Verneinung als positiv ein. Dabei lehnt er sich an die christliche Auffassung von Schuld und Erlösung an: »Nicht, dem Satz vom Grunde gemäß, die Individuen, sondern die Idee des Menschen in ihrer Einheit betrachtend, symbolisirt die Christliche Glaubenslehre die Natur, die Bejahung des Willens zum Leben, im Adam, dessen auf uns vererbte Sünde, d. h. unsere Einheit mit ihm in der Idee, welche in der Zeit durch das Band der Zeugung sich darstellt, uns Alle des Leidens und des ewigen Todes theilhaft macht: dagegen symbolisirt sie die Gnade, die Verneinung des Willens, die Erlösung, im menschgewordenen Gotte, der, als frei von aller Sündhaftigkeit, d. h. von allem Lebenswillen, auch nicht, wie wir, aus der entschiedensten Bejahung des Willens hervorgegangen seyn kann, noch wie wir einen Leib haben kann, der durch und durch nur konkreter Wille, Erscheinung des Willens, ist; sondern von der reinen Jungfrau geboren, auch nur einen Scheinleib hat.« (W I 500; vgl. a. W II 666, 679 u. 712) Die Leiden aber, welche die Bejahung des Willens nach sich zieht, interpretiert Schopenhauer als Strafe für die Schuld, 98
Lemmata die sie beinhaltet. Angesichts dieses Befundes überrascht es nicht weiter, daß er im Zustand, in welchem der Mensch den Willen zum Leben bejaht, letzten Endes einen »Wahn« (W I 359 u. W II 709) erblickt. Bewußtsein Schopenhauer gebraucht den Begriff des Bewußtseins, um das Gesamt der mentalen Zustände zu bezeichnen, die von jemandem erlebt werden.23 Dabei setzt er das Bewußtsein entweder mit der Vorstellung gleich (vgl. W I 87) oder nähert es dadurch an sie an, daß er in der Vorstellung die »erste[] Thatsache des Bewußtseyns« (W I 65) erblickt. Daß beide Begriffe mehr oder weniger dasselbe meinen, geht auch daraus hervor, daß Schopenhauer dem Bewußtsein de facto dieselbe Struktur wie der Vorstellung zuschreibt. In Anlehnung an Reinhold und Fichte betont Schopenhauer, daß sich beides – Bewußtsein wie Vorstellung – durch eine apriorische Korrelation zwischen einem subjektiven und einem objektiven Pol auszeichnet: »Denn Bewußtseyn besteht im Erkennen: aber dazu gehört ein Erkennendes und ein Erkanntes […]. Wie nämlich kein Objekt ohne Subjekt seyn kann, so auch kein Subjekt ohne Objekt, d. h. kein Erkennendes ohne ein von ihm Verschiedenes, welches erkannt wird.« (W II 235) Ähnlich heißt es von der Vorstellung, daß ihre »erste wesentlichste Grundform das Zerfallen in Objekt und Subjekt ist« (W I 65).24 23 Diese Einschränkung ist erforderlich, weil Schopenhauer auch die Existenz mentaler Zustände annimmt, die nicht erlebt werden. 24 Freilich verwendet Schopenhauer den Ausdruck »Vorstellung« gelegentlich auch als »Synonym« von »Erkanntes« oder »Objekt«, doch auch dann hält er an der apriorischen Korrelation von Subjekt und Objekt fest: »Unser er-
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Bewußtsein
Innerhalb des Bereichs des Bewußt- meinschaftlicher Endpunkt, Beiden angeseins unterscheidet Schopenhauer zwi- hört.« (W II 236) Ferner zeichnet sich das schen dem Bewußtsein äußerer Dinge Bewußtsein nach seiner Auffassung auch einerseits und dem – auf innere Zustände insofern durch Einheit aus, als es sich – gerichteten – Selbstbewußtsein ander- angesichts des Wechsels seiner Zustände seits. So stellt er fest, daß das Bewußtsein – als identisch durchhält: »Ein Bewußt»in das Bewußtseyn des eigenen Selbst seyn aber ist wesentlich ein einheitliches (Selbstbewußtseyn) und in das Bewußt- und erfordert daher stets einen centralen seyn anderer Dinge (äußere Anschauung) Einheitspunkt.« (W II 292; vgl. a. W I 61) zerfällt« (W II 99; vgl. a. W II 234 f., 286 Damit nimmt Schopenhauer eine Position u. 435).25 In diesem Zusammenhang ver- ein, die im großen und ganzen mit Kants tritt Schopenhauer die Auffassung, das Lehre von der synthetischen Einheit der Selbstbewußtsein habe in erster Linie die Apperzeption in eins fällt (vgl. W II 293). willentlichen Regungen des Subjekts bzw. Im Gegensatz zu Kant stuft Schopenseinen Willen zum Inhalt: »Jeder wird, bei hauer das Bewußtsein allerdings nicht Beobachtung des eigenen Selbstbewußt- einfach nur als Bedingung der Möglichseyns bald gewahr werden, daß sein Ge- keit der Erkenntnis ein, sondern er wirft genstand allezeit das eigene Wollen ist.« darüber hinaus die Frage auf, wodurch (E 51) Im Vergleich zum Selbstbewußtsein das Bewußtsein seinerseits bedingt ist. beziehe sich das Bewußtsein der äußeren Ausgangspunkt dieser – anthropologisch Dinge auf eine Vielzahl von Gegenstän- gemeinten – Frage ist die Beobachtung, den und sei daher »von unserm gesamm- daß Bewußtsein in aller Regel an einen ten Bewußtseyn überhaupt der bei weitem Körper gebunden ist: »Das Bewußtseyn größte Theil« (E 50). ist uns schlechterdings nur als EigenBeide Komponenten des Bewußtseins schaft animalischer Wesen bekannt: folgtreffen, wie Schopenhauer erläutert, in lich dürfen, ja können wir es nicht anders, einer Instanz zusammen, die er als das denn als animalisches Bewußtseyn den»Ich« bezeichnet: »[D]er Indifferenzpunkt ken; so daß dieser Ausdruck schon tautoBeider […] wäre das Ich, welches, als ge- logisch ist.« (W II 237; vgl. a. P II 296)26 Mehr noch, Schopenhauer ist überzeugt, daß Bewußtsein nicht nur in Verbindung kennendes Bewußtseyn […] zerfällt in Subjekt und Objekt, und enthält nichts außerdem. Ob- mit einem Körper auftritt, sondern daß jekt für das Subjekt seyn, und unsere Vorstel- es den Bedürfnissen desselben dient und lung seyn, ist das Selbe. Alle unsere Vorstellunseine jeweilige Beschaffenheit durch sie gen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte bestimmt ist. So legt Schopenhauer dar: des Subjekts sind unsere Vorstellungen.« (G 41) 25 Schopenhauer scheint etwas ungenau zu »Die Nothwendigkeit des Bewußtseyns sein, wenn er in der Preisschrift über die Frei- wird […] dadurch herbeigeführt, daß, in heit des menschlichen Willens lediglich das Bewußtsein der äußeren Dinge als »Erkenntniß- Folge der gesteigerten Komplikation und vermögen« (E 49 f.) gelten läßt, denn auch innere Zustände lassen sich durchaus erkennen. Ähnlich mögen die Dinge liegen, wenn Schopenhauer von einem »vorstellenden Theil[] des Bewußtseyns (im Gegensatz des wollenden)« (W II 239) spricht.
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Ob damit tatsächlich eine Tautologie vorliegt oder ob lediglich per accidens kein anderes als ein von körperlichen Voraussetzungen abhängiges Bewußtsein bekannt ist, mag dahin gestellt bleiben.
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Bewußtsein, besseres
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dadurch der mannigfaltigeren Bedürf- Perspektive ist das Bewußtsein natürlich nisse eines Organismus, die Akte sei- auch Grundlage für die Erkenntnis des nes Willens durch Motive gelenkt wer- Körpers sowie des Willens. Umgekehrt den müssen, nicht mehr […] durch bloße betont Schopenhauer: »Allerdings nämReize. […] Im vernünftigen Intellekt aber lich steht dem subjektiven Ausgangspunkt erfahren sie hiezu überdies noch eine wei- ›die Welt ist meine Vorstellung‹ vorläufig tere Verarbeitung durch Reflexion und mit gleicher Berechtigung gegenüber der Ueberlegung.« (W II 292 f.; vgl. a. W II objektive ›die Welt ist Materie‹, oder ›die 326) Freilich geht Schopenhauer noch ei- Materie allein ist schlechthin‹ […], oder nen Schritt weiter. Angesichts der Tatsa- ›alles Existirende ist Materie‹.« (W II 22) che, daß er den Körper als Erscheinung Aus dieser Sicht böte sich das Bewußtdes Willens deutet, gelangt er zum Ergeb- sein als Funktion des Körpers bzw. des nis, daß das Bewußtsein nicht allein durch Gehirns dar und wäre nicht primär, sonden Körper, sondern letztlich auch – auf dern sekundär. Schopenhauer hält beide dem Umweg über den Körper – durch den Betrachtungsweisen für einseitig und forWillen bedingt ist: »Die Erkenntniß über- dert, daß sie »in Uebereinstimmung gehaupt […] geht also ursprünglich aus dem bracht werden müssen« (W II 318). Nimmt Willen selbst hervor, gehört zum Wesen man schließlich den Willen als Ding an der höhern Stufen seiner Objektivation, sich hinzu, so verschieben sich die Geals eine bloße μηχανη, ein Mittel zur Er- wichte noch einmal, und das Bewußtsein haltung des Individuums und der Art, so rückt im Verhältnis zum Körper und zum gut wie jedes Organ des Leibes.« (W I 204; Willen an die dritte Stelle. Aus der Pervgl. a. W II 165 u. 325 ff.) spektive der Metaphysik des Willens stellt Vergegenwärtigt man sich, daß Scho- Schopenhauer fest: »Dieses erkennende penhauer lehrt, das Bewußtsein hänge und bewußte Ich verhält sich zum Willen, vom Körper und dieser wiederum vom welcher die Basis der Erscheinung desselWillen ab, so könnte man sagen, er stufe ben ist, wie das Bild im Fokus des Hohldas Bewußtsein im Verhältnis zu jenem spiegels zu diesem selbst, und hat, wie jeals sekundär und im Verhältnis zu diesem nes, nur eine bedingte, ja eigentlich bloß sogar nur als tertiär ein. Nun aber betont scheinbare Realität. Weit entfernt, das Schopenhauer, daß sein Ansatz unter- schlechthin Erste zu seyn […], ist es im schiedliche, einander wechselseitig kor- Grunde tertiär, indem es den Organisrigierende Perspektiven in sich vereine. mus voraussetzt, dieser aber den Willen.« Im wesentlichen sind dies eine transzen- (W II 325; vgl. a. N 220) dentalphilosophische, eine anthropologische sowie eine willensmetaphysische Per- Bewußtsein, besseres Der Begriff des spektive. Geht man von der erstgenannten besseren Bewußtseins steht im Zentrum aus, so bietet sich das Bewußtsein als der von Schopenhauers frühen, in die Jahre Ursprung der Philosophie dar: »Nur das vor 1814 fallenden Überlegungen zur ErBewußtseyn ist unmittelbar gegeben, da- lösung, die im Handschriftlichen Nachher ist ihre Grundlage auf Thatsachen des laß dokumentiert sind. Bereits in einem Bewußtseyns beschränkt: d. h. sie ist we- Aphorismus, der wohl 1808 oder 1809 versentlich idealistisch.« (W II 11) Aus dieser faßt wurde, sieht Schopenhauer die Auf100
Lemmata gabe der Philosophie darin, dem Menschen durch den Aufstieg in einen Bereich jenseits der Außenwelt zu Trost zu verhelfen: »Alle Philosophie und aller Trost, den sie gewährt, läuft darauf hinaus, daß eine Geisterwelt ist und daß wir in derselben, von allen Erscheinungen der Außenwelt getrennt, ihnen von einem erhabenen Sitz mit größter Ruhe ohne Theilnahme zusehen können, wenn unser der Körperwelt gehörender Theil auch noch so sehr darin herumgerissen wird.« (HN I 7 f.) Den beiden genannten Bereichen ordnet Schopenhauer – im Sinne einer »Duplicität des Bewußtseyns« (HN I 68 u. 136 f.) – zwei Arten des Bewußtseins zu, die in der »Identität Eines Ichs verknüpft« (HN I 68) seien. Während der empirischen Wirklichkeit das »empirische Bewußtseyn« entspreche, sei das »bessere Bewußtseyn« auf die höhere, die empirische überbietende Wirklichkeit gerichtet. In diesem Zusammenhang bewertet Schopenhauer die empirische Wirklichkeit negativ, das heißt, er betrachtet sie als etwas, »was nach dem Ausspruch unsers besseren Bewußtseyns nicht seyn sollte« (HN I 41), die höhere Wirklichkeit hingegen schätzt er positiv ein, mehr noch, er setzt ihre – durch das bessere Bewußtsein ermöglichte – Erfahrung mit der »Seeligkeit« (HN I 79, 104 u. 167) des Menschen gleich. Daraus ergibt sich, daß Schopenhauer das Ziel des Menschen in der Überwindung der empirischen Wirklichkeit im Zuge des Eintritts in das bessere Bewußtsein erblickt: »Zum Lichte, zur Tugend, zum heiligen Geiste, zum bessern Bewußtseyn – müssen wir Alle: das ist der Einklang, der ewige Grundton der Schöpfung.« (HN I 90) Der Übergang vom empirischen zum besseren Bewußtsein kann nach Schopenhauer entweder frei (vgl.
Bewußtsein, besseres HN 91) oder im Ausgang von der Erfahrung des Leidens (vgl. HN I 52, 87, 91 u. 105) erfolgen. Freilich handle es sich dabei keineswegs nur um einen kognitiven Schritt, sondern darum, daß der Mensch mit der empirischen Wirklichkeit das, was sie zutiefst ausmache, nämlich das »Leben« (HN I 85, 87 u. 104 f.) bzw. das »Lebenwollen« (HN I 91 u. 105), verneine. Dies aber läuft, wie Schopenhauer versichert, auf Askese hinaus: »Asketik […] ist Negation des zeitlichen Bewußtseins: und Hedonik seine Affirmation.« (HN I 69; vgl. a. HN I 39 u. 52) Dabei betrachtet Schopenhauer das Leben bzw. das zeitliche Bewußtsein – im Sinne der indischen Maja 27 – als Wahn, den es mit dem Erreichen des besseren Bewußtseins zu überwinden gilt: »Soll Ruhe, Seeligkeit, Friede gefunden werden, so muß der Wahn aufgegeben werden, und soll dieser, so muß das Leben aufgegeben werden.« (HN I 104) Dabei geht es Schopenhauer allerdings weniger um den Tod selbst als um die Verneinung des Lebens, die zu fördern er geeignet ist und die einer Heiligung des Menschen gleichkommt: »[D]er Tod ist nicht die Heiligung sondern giebt nur die Möglichkeit der Heiligung. Denn wie mit dem Leben unausbleiblich der Wahn gesetzt ist, so ist auch mit dem Wahn das Leben gesetzt. Und wer beharrt auf dem Lebenwollen, wird leben, wenn auch dieser Leib stirbt: denn sofern der Wahn ist, bleibt auch seine Erscheinung nicht aus.« (HN I 105) 27 Gemeint ist damit, daß die empirische Wirklichkeit, die aufgrund der apriorischen Formen des Raumes und der Zeit in eine Vielfalt individueller Gegebenheiten zerfällt, mit der Wirklichkeit schlechthin verwechselt wird und daß das metaphysische Prinzip, das ihr zugrunde liegt und ihre Einheit ausmacht, nicht erkannt wird.
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Bewußtsein, besseres
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Schopenhauer betont, daß sich das bes- zeitlose Idee erfaßt und für einen Augensere Bewußtsein nicht positiv, sondern al- blick darin aufgeht (vgl. HN I 47 u. 136 f.), lenfalls negativ – in Abgrenzung gegen im zweiten hingegen darum, daß sich der das empirische Bewußtsein – beschreiben Mensch im tugendhaften Handeln altruiläßt: »Will es bessres Bewußtseyn seyn so stisch verhält und damit den Unterschied können wir positiv von ihm nichts weiter zwischen sich und dem Anderen aufhebt sagen, denn unser Sagen liegt im Gebiet (vgl. HN I 45, 51 u. 149). Freilich macht der Vernunft; wir können also nur sa- Schopenhauer geltend, daß die Idee ein gen was auf diesem vorgeht, wodurch wir Objekt ist, während im besseren Bewußtvon dem bessern Bewußtseyn nur negativ sein der Gegensatz zwischen Subjekt und sprechen.« (HN I 23) Während das em- Objekt verschwindet: »Aber das bessre pirische Bewußtsein durch Sinnlichkeit, Bewußtseyn kennt weder Objekt noch Verstand und Vernunft sowie die Rela- Subjekt: es steht also auf keinem von beition von Subjekt und Objekt bestimmt den Standpunkten da auch die Platonische sei, treffe dies auf das bessere Bewußt- Idee ein Objekt ist.« (HN I 151; vgl. a. HN I sein nicht zu. Insbesondere weist Scho- 76 u. 166 f.) Angesichts der Tatsache, daß penhauer darauf hin, daß letzteres nicht sich die Kontemplation der Idee an das der Zeit, sondern der Ewigkeit angehört bessere Bewußtsein annähert, ohne damit (vgl. HN I 67 u. 85), daß es nicht der Kau- in eins zu fallen, konstatiert Schopenhauer, salität unterworfen ist (vgl. HN I 67 sowie daß eine »Aeußerung« (HN I 151) desselHN II 326 u. 329) und daß es darin kei- ben vorliege oder es »repräsentirt« (HN I nen Gegensatz von Subjekt und Objekt 76) werde. Bei anderer Gelegenheit stuft gibt (vgl. HN I 67, 137, 151 u. 167). Damit er das Erfassen der Idee als »Bedingung« aber besitzt es nichts, was auf eine kogni- oder »Weg« (HN I 167) zum besseren Betive Funktion hinausliefe: »[D]as bessre wußtsein ein. Aus ähnlichen Erwägungen Bewußtsein denkt und erkennt nicht, da gelten ihm auch Heiligkeit und Tugend als es jenseit des Subjekts und Objekts liegt« »Aeußerung des bessern Bewußtseyns« (HN I 67). Liegt das bessere Bewußtsein (HN I 51 u. 151) und letzteres umgekehrt jenseits der menschlichen Erkenntnis, so als »Quelle der Tugend« (HN I 53 u. 122). ist es, wie Schopenhauer darlegt, nicht Während sich das bessere Bewußtsein statthaft, das empirische Bewußtsein von in der empirischen Wirklichkeit lediglich ihm herzuleiten: »Die Frage ist transcen- kundtut, nicht aber rein auftritt, stellt sich dent und diese Relation ist ein transcen- dem Philosophen sowie dem Heiligen die dentaler Schein.« (ebd.) Aufgabe, es angemessen zu bestimmen: Obgleich Schopenhauer auf der Diffe- »Der vollkommene Philosoph stellt theorenz zwischen beiden Arten des Bewußt- retisch das bessre Bewußtseyn rein dar, inseins insistiert, glaubt er, daß sich das bes- dem er es genau und gänzlich vom empisere Bewußtsein in zwei Bereichen der rischen sondert. Der Heilige thut dasselbe empirischen Wirklichkeit andeutet, von praktisch. Beiden ist es karakteristisches denen sich einer als eher theoretisch und Merkmal ihrer Vollkommenheit, daß sie der andere als eher praktisch darbietet keinen Theil des empirischen Bewußt(vgl. HN I 23). Im ersten Fall handelt es seyns schonen, unter welcher Gestalt er sich darum, daß das Genie die raum- und auch erscheinen mag.« (HN I 149) 102
Lemmata
Brahmanismus
Bosheit Die Bosheit stellt – neben dem – ohne Götter aus, ist also atheistisch, und Egoismus und dem Mitleid – die dritte zum andern stellt Buddha seine Lehre in Triebfeder menschlichen Handelns dar. abstrakterer, reinerer Form dar als jener: Vergegenwärtigt man sich, daß Schopen- »Hingegen war die Absicht des Buddha hauer die Quantität eines Unrechts als Schakya Muni, den Kern aus der Schaale die »Größe des Uebels, welches ich einem abzulösen, die hohe Lehre selbst von alAndern dadurch zufüge, dividirt durch lem Bilder- und Götterwesen zu befreien die Größe des Vortheils, den ich selbst und ihren reinen Gehalt sogar dem Volke dadurch erlange« (E 259) bestimmt, so zugänglich und faßlich zu machen. Dies kann man ohne weiteres nachvollziehen, ist ihm wundervoll gelungen, und daher daß er die Bosheit als das schlimmste Un- ist seine Religion die vortrefflichste und recht betrachtet (vgl. W I 416). Sie besteht durch die größte Anzahl von Gläubigen nämlich darin, daß eine Handlung nicht vertretene auf Erden.« (P II 245) etwa dem eigenen Interesse dient, sonDer Brahmanismus erscheint Schopendern allein den Schaden des Anderen zum hauer nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil Zweck hat. Genau dies macht ihren Un- er eine pessimistische Weltsicht beinhalterschied zum Egoismus aus: »Der Ego- tet, also die empirische Wirklichkeit als ismus kann zu Verbrechen und Unthaten im wesentlichen schlecht betrachtet. Ähnaller Art führen: aber der dadurch verur- lich wie Schopenhauer führt der Brahsachte Schaden und Schmerz Anderer ist manismus die Beschaffenheit der Welt ihm bloß Mittel, nicht Zweck, tritt also auf eine ursprüngliche, in ihrem obersten nur accidentell dabei ein. Der Bosheit und Prinzip gründende Schuld zurück und verGrausamkeit hingegen sind die Leiden bindet diesen Umstand mit dem Anliegen und Schmerzen Anderer Zweck an sich der Erlösung. So berichtet Schopenhauer: und dessen Erreichen Genuß.« (E 240) »Brahma bringt durch eine Art SündenDemzufolge lautet der Grundsatz, in dem fall, oder Verirrung, die Welt hervor, bleibt die Bosheit zum Ausdruck kommt, omnes, aber dafür selbst darin, es abzubüßen, bis quantum potes, laede (vgl. E 199 u. 240). er sich daraus erlöst hat.« (P II 326) Schopenhauer erklärt sich die Bosheit In diesem Zusammenhang nimmt die dadurch, daß ein Mensch, der angesichts Lehre von der Metempsychose bzw. Seeder Vergeblichkeit seines Begehrens von lenwanderung eine herausragende Stelübergroßem Leiden befallen wird, den lung ein. Sie stellt, wie Schopenhauer konVersuch unternimmt, »durch den Anblick statiert, geradezu den »Kern des Brahmades fremden Leidens, welches er zugleich nismus und Buddhaismus« (W II 592), ja als eine Aeußerung seiner Macht erkennt, die »natürliche Ueberzeugung des Mendas eigene zu mildern« (W I 452). schen« (W II 593) dar. Inhaltlich geht es darum, daß ein Mensch in einem anderen Brahmanismus Nach dem Buddhismus Lebewesen wiedergeboren wird und dabei ist der Brahmanismus diejenige Religion, für seine guten und schlechten Taten dadie Schopenhauer am meisten schätzt. Ge- durch belohnt oder bestraft wird, daß die währt er dem Buddhismus den Vorzug, so neue Form seiner Existenz eine bessere hat das zwei Gründe: Zum einen kommt oder schlechtere ist. Freilich leidet diese dieser – im Gegensatz zum Brahmanismus Konzeption nach Schopenhauer daran, 103
Brahmanismus daß sie die Vergeltung für die Handlungen eines Menschen in die Zukunft verlegt und damit das Wesen des Menschen als zeitlich darstellt (W II 588 f. u. 704 f.). Nach seiner Auffassung liegt dieses außerhalb der Zeit und besteht die Vergeltung darin, daß es ein und derselbe Wille ist, der Leiden zufügt und erduldet. Schopenhauer erblickt darin so etwas wie eine »ewige Gerechtigkeit« (W I 442 f.). Nichtsdestoweniger rechnet er es dem Brahmanismus hoch an, daß er das Wesen des Menschen nicht innerhalb, sondern außerhalb des Individuums ansiedelt: »Diese Wahrheit ist es, welche mythisch, d. h. dem Satze vom Grunde angepaßt und dadurch in die Form der Erscheinung übersetzt, durch die Seelenwanderung ausgedrückt wird« (W I 454). Bei alledem betont Schopenhauer, daß dasjenige, was sich von Individuum zu Individuum durchhält, nicht etwa eine mit Geist begabte Seele, sondern der Charakter bzw. der Wille ist. Daher zieht er es vor, nicht von Metempsychose, sondern von Palingenesie zu sprechen (vgl. W II 589). Was die Erlösung anbelangt, so besteht sie nach Auffassung des Brahmanismus darin, daß ein Individuum seinen Willen verneint und nicht mehr wiedergeboren wird (vgl. W I 443, W II 712 u. P I 73). Dabei geht es in das oberste Prinzip der Wirklichkeit, das Brahm, ein bzw. löst sich darin auf (vgl. W I 508 u. W II 712). Die Nähe zu Schopenhauers eigener Konzeption der Erlösung ist kaum zu übersehen. Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht tritt eine bedeutsame Übereinstimmung zutage. So hebt Schopenhauer hervor, daß auch der Brahmanismus idealistisch ist, also die Auffassung vertritt, die empirische Wirklichkeit sei lediglich eine Erscheinung oder Vorstellung (vgl. W I 104
Lemmata 30 u. 516, E 308 f. sowie P I 22 f.). Mehr noch, er interpretiert diesen Befund im Sinne einer »traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt« (W I 516). Damit meint er, die empirische Wirklichkeit sei eine bloße Illusion. Dem entspreche die brahmanistische Lehre, die menschliche Erkenntnis werde vom Schleier der Maja getrübt und sei daher nicht in der Lage, die wahre Wirklichkeit bzw. das Ding an sich zu erfassen (vgl. W I 34, 45, 453 u. 516, W II 705 sowie E 310). Dieses – im Brahmanismus als Brahm benannte – Prinzip zeichne sich durch Einheit sowie Ewigkeit aus und liege der empirischen Wirklichkeit zugrunde. Natürlich ergibt sich daraus, daß jedes Individuum an diesem Prinzip teilhat. Daher stellt Schopenhauer fest, der Brahmanismus lehre den Menschen, »sich als das Urwesen selbst, das Brahm, zu betrachten, welchem alles Entstehn und Vergehn wesentlich fremd ist« (W II 543). In diesem Zusammenhang macht er auch auf den praktischen Aspekt dieser Einsicht aufmerksam: Zum einen ließen sich die Anhänger des Brahmanismus – angesichts der Partizipation an einem ewigen Prinzip – vom Tod nur wenig beeindrucken (vgl. ebd.); zum andern aber stelle die Einsicht, daß sich die empirische Wirklichkeit im Schein erschöpfe und letzten Endes im Brahm gründe, die entscheidende Voraussetzung für die Erlösung dar (vgl. W II 712 u. P II 439). Aus der Annahme, der gesamten empirischen Wirklichkeit liege mit dem Brahm ein und dasselbe Prinzip zugrunde, ergibt sich natürlich, daß sich das Individuum allenfalls in empirischer, nicht aber in metaphysischer Hinsicht von den anderen Individuen unterscheidet. Diese – in ethischer Hinsicht folgenreiche – Erkenntnis kommt in den Worten tat twam asi zum Ausdruck,
Lemmata die Schopenhauer mit »Dies bist du« (W I 442 u. 464, E 311 f. sowie P II 239) übersetzt. Er legt dar, daß die Einsicht in den einheitlichen Grund der Wirklichkeit eine wesentliche Komponente des Mitleids darstellt, das seinerseits den Menschen zu tugendhaftem – und das heißt: altruistischem – Handeln motiviert. Damit nimmt der Brahmanismus eine ethische Position ein, die jener Schopenhauers ähnelt. So stellt dieser fest, daß auch der Brahmanismus – im Ausgang von seiner Tendenz zur Verneinung des Willens – für eine Ethik der Menschenliebe eintritt, die sich in Askese und Resignation vollendet. Die entsprechenden Ideale seien: »Liebe des Nächsten mit völliger Verleugnung aller Selbstliebe; die Liebe überhaupt nicht auf das Menschengeschlecht beschränkt, sondern alles Lebende umfassend; Wohlthätigkeit bis zum Weggeben des täglich sauer Erworbenen; gränzenlose Geduld gegen alle Beleidiger; Vergeltung alles Bösen, so arg es auch seyn mag, mit Gutem und Liebe; freiwillige und freudige Erduldung jeder Schmach; Enthaltung aller thierischen Nahrung; völlige Keuschheit und Entsagung aller Wollust für Den, welcher eigentliche Heiligkeit anstrebt; Wegwerfung alles Eigenthums, Verlassung jedes Wohnorts, aller Angehörigen, tiefe gänzliche Einsamkeit, zugebracht in stillschweigender Betrachtung, mit freiwilliger Buße und schrecklicher, langsamer Selbstpeinigung, zur gänzlichen Mortifikation des Willens, welche zuletzt bis zum freiwilligen Tode geht durch Hunger« (W I 480; vgl. a. W II 710 f. u. E 266).28
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Der Verzicht auf tierische Nahrung hängt ebenfalls damit zusammen, daß Tiere – ebenso wie der Mensch – am Brahm teilhaben. Vgl. a. E 280 ff.
Buddhismus Angesichts der Nähe der christlichen Ethik zur brahmanistischen – und auch buddhistischen – vermutet Schopenhauer, daß sie – ähnlich wie die Vorstellung der Menschwerdung Gottes – indischen Ursprungs ist. So könne man kaum zweifeln, »daß sie, wie auch die Idee von einem Mensch gewordenen Gotte (Avatar), aus Indien stammt […], so daß das Christen thum ein Abglanz Indischen Urlichtes […] wäre« (E 281; vgl. a. G 144, W II 572, 712 u. 730 sowie P II 419 ff.). Einen prägnanten Unterschied zwischen der christlichen und der brahmanistischen Religion erblickt Schopenhauer hingegen darin, daß erstere die Schöpfung der Welt aus dem Nichts, letztere hingegen deren Selbstgenügsamkeit bzw. Unendlichkeit lehrt (vgl. P I 123 sowie W I 592, P II 243 u. 420). Buddhismus Schopenhauer bringt dem Buddhismus eine besondere Wertschätzung entgegen. Das liegt nicht zuletzt daran, daß sein eigenes Denken dieser Religion näher als jeder anderen steht. So erklärt Schopenhauer: »Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn.« (W II 197; vgl. a. N 327 f. u. P II 245) Dabei betont Schopenhauer allerdings, er habe bei der Abfassung von Die Welt als Wille und Vorstellung nicht unter dem Einfluß des Buddhismus gestanden, sondern diesen erst später für sich entdeckt.29 Ein wesentlicher Punkt, in dem Schopenhauer mit dem Buddhismus übereinstimmt, besteht darin, daß er nicht von der Existenz eines Gottes überzeugt ist, also keine theistische, sondern eine athe29
Vgl. W II 197.
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Buddhismus istische Position einnimmt (vgl. W I 595 G 142 ff., N 331 u. P I 132). Dadurch fühlt er sich in seiner Auffassung bestätigt, daß es der Religion keineswegs wesentlich ist, auf die Existenz eines göttlichen Wesens zu setzen. Vielmehr erscheint es ihm »wirklich skandalös […], wie […] in den Schriften deutscher Gelehrter, durchgängig Religion und Theismus ohne Weiteres als identisch und synonym genommen werden« (G 144). Unter der Voraussetzung, daß Gott nicht existiert, ist es natürlich auch nicht sinnvoll, ihn als erste Ursache der Welt und diese als seine Schöpfung zu betrachten. Schopenhauer weist zu Recht darauf hin, daß der Buddhismus in dieser Hinsicht konsequent ist und sich von beiden Annahmen distanziert (vgl. W I 592 u. G 142 f.). Wichtiger als die Frage nach Gott ist für Schopenhauer, ob eine Religion optimistisch oder pessimistisch ist. Auch was diese Alternative betrifft, stimmt der Buddhismus – als pessimistische Religion (vgl. N 329, P I 48 sowie P II 417 u. 427 f.) – mit Schopenhauers eigener Einschätzung der empirischen Wirklichkeit als einer von Schuld und daraus resultierendem Leiden geprägten überein. Mit diesem aber drängt sich das Anliegen der Erlösung auf, die auch im Buddhismus das »höchste Ziel« (W II 707) darstelle. Dieser beinhaltet nach Schopenhauer die »Erkenntniß der vier Grundwahrheiten: 1) dolor, 2) doloris ortus, 3) doloris inter itus, 4) octopartita via ad doloris sedationem« (W II 730). Dabei bietet sich die Erlösung bei Schopenhauer ähnlich wie im Buddhismus dar. Sie besteht nicht etwa darin, daß der Mensch die empirische Wirklichkeit überwindet, indem er nach dem Tod in eine andere, bessere Wirklichkeit gelangt, son106
Lemmata dern indem er in einen Bereich eintritt, der – aus der Perspektive der Welt als Vorstellung – als Nichts bzw. Nirwana erscheint: »Die Buddhaisten aber bezeichnen, mit voller Redlichkeit, die Sache bloß negativ, durch Nirwana, welches die Negation dieser Welt, oder des Sansara ist. Wenn Nirwana als das Nichts definirt wird; so will dies nur sagen, daß der Sansara kein einziges Element enthält, welches zur Definition, oder Konstruktion des Nirwana dienen könnte.« (W II 712; vgl. a. W I 443 u. 508 sowie P II 406 f.) Erreicht wird dieses Ziel – sowohl nach Schopenhauer als auch aus buddhistischer Sicht – im Zuge einer zunehmenden Verneinung des Willens, die in der vollkommenen Askese kulminiert (vgl. G 142, W I 481, W II 710 f. u. 742 sowie P I 48 u. 132). Freilich ist das Nirwana im Buddhismus ein Zustand, der erst nach einer Reihe von Wiedergeburten bzw. am Ende einer Seelenwanderung erreicht wird. Zwar leidet die buddhistische Lehre von der Metempsychose nach Schopenhauer an einer Reihe von »Ungereimtheiten« (W II 588 f.), doch er räumt ein, daß sie einen wahren Kern besitze. Dieser bestehe darin, daß der Charakter des Menschen, den Schopenhauer als Idee – und damit als ewig – betrachtet, über den Tod hinaus fortdauere, um sich in einem neuen Individuum mit einem anderen Intellekt zu verbinden. Angesichts der Tatsache, daß nach dieser Auffassung nicht etwa die mit einem Intellekt ausgestattete Seele, sondern – mit dem Charakter – der Wille über den Tod hinaus Bestand hat, zieht es Schopenhauer vor, nicht von Metempsychose, sondern von Palingenesie zu sprechen: »[D]emgemäß ist zur Bezeichnung dieser Lehre das Wort Palingenesie richtiger, als Metempsychose.« (W II
Lemmata
Charakter
589) Der Bezug zur Erlösung bleibt auch befindet. Genauer gesagt vertreten sie die bei Schopenhauer erhalten: »Diese steten Auffassung, die empirische Wirklichkeit Wiedergeburten machten dann die Suc- erschöpfe sich in einer bloßen Erscheicession der Lebensträume eines an sich nung, ja sie laufe auf eine Illusion hinaus, unzerstörbaren Willens aus, bis er, durch während das Ding an sich unerkennbar sei so viele und verschiedenartige, successive (vgl. W II 198 u. 321 f.). Eine weitere ÄhnErkenntniß, in stets neuer Form, belehrt lichkeit besteht darin, daß auch der Budund gebessert, sich selbst aufhöbe.« (ebd.) dhismus das Individuum als Erscheinung Dabei führt Schopenhauer den Umstand, des Dinges an sich betrachtet, also »den daß nur wenige Menschen zur Erlösung Menschen [lehrt], sich als das Urwesen gelangen, darauf zurück, daß die mei- selbst […] zu betrachten, welchem alles sten die Schuld früherer Individuen über- Entstehn und Vergehn wesentlich fremd nommen haben und abbüßen müssen.30 ist« (W II 543). Er betrachtet diese Erklärung – im VerWas hingegen die Ethik anbelangt, so gleich zur augustinischen Lehre von der rechnet es Schopenhauer dem BuddhisPrädestination – als einleuchtender, da mus hoch an, daß er – ähnlich wie das sie die Frage nach der Zahl der Erlösten Christentum – für die Menschenliebe nicht bloß im Rekurs auf eine willkürliche eintritt (vgl. E 266), darüber hinaus aber Auswahl beantworte (vgl. P II 406). Einen auch die Tiere als leidensfähige Wesen weiteren Vorzug der buddhistischen Auf- ernst nimmt und ihnen ein Recht auf entfassung erblickt Schopenhauer darin, daß sprechende Behandlung konzediert (vgl. sie keine ewige Verdammnis, sondern le- W II 719 u. P II 408 ff.). Abgesehen von diglich – je nach Schuld – eine Wieder dieser Differenz ist Schopenhauer davon geburt in entsprechender Gestalt vorsieht überzeugt, »daß der Geist der Christli(vgl. ebd.). chen Moral mit dem […] des Buddhaismus Die Parallelen zwischen Schopenhauer identisch ist« (W II 743). Aufgrund dieser und dem Buddhismus gehen über die – sowie einer Reihe anderer – ÄhnlichFrage nach der Erlösung hinaus. In er- keiten vermutet Schopenhauer, daß die kenntnistheoretischer Hinsicht stimmen christliche Religion letzten Endes auf die beide darin überein, daß sich der Idealis- beiden indischen, nämlich den Brahmamus gegenüber dem Realismus im Recht nismus und den Buddhismus, zurückgeht: »Der Geist und die ethische Tendenz sind 30 Vgl. a. P II 440. – Dies paßt mit der für den aber das Wesentliche einer Religion, nicht Buddhismus charakteristischen – der christlidie Mythen, in welche sie solche kleidet. chen entgegengesetzten – Auffassung zusammen, der Mensch habe in gewisser Hinsicht be- Ich gebe daher den Glauben nicht auf, daß reits vor seiner Geburt existiert. Vgl. W II 547 f. die Lehren des Christenthums irgendwie u. 572. Schopenhauer zieht die buddhistische aus jenen Urreligionen abzuleiten sind.« Konzeption der christlichen vor, denn allein sie lasse sich mit der Überzeugung einer Fortdauer (W II 730; vgl. a. W II 572 sowie G 144 u. P II 419 ff.) nach dem Tod vereinbaren. Diese erstreckt sich nach Schopenhauer allerdings nicht auf das mit Bewußtsein ausgestattete Individuum, sondern lediglich auf dessen metaphysischen Kern, den Willen qua intelligiblen Charakter bzw. Ding an sich.
Charakter Der Begriff des Charakters nimmt in Schopenhauers Ethik eine zentrale Stellung ein. Dabei fällt auf, daß 107
Charakter
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Schopenhauer im Charakter keineswegs jene Eigenschaft, z. B. Gerechtigkeit, Unnur ein empirisches Phänomen erblickt, eigennützigkeit, Muth, nicht in dem Grade sondern ihm – vor dem Hintergrund sei- besitzt, als man gütigst voraussetzte. Daner Metaphysik der Natur sowie seiner her auch bleibt, bei einer vorliegenden Ideenlehre – eine metaphysische Grund- schweren Wahl, unser eigener Entschluß, lage verleiht. Zunächst bildet der Cha- gleich einem fremden, uns selber so lange rakter eine Disposition, die im Bereich ein Geheimniß, bis jene entschieden ist.« des Willens angesiedelt ist: »Diese spe- (E 87 f.) Dennoch kann das Urteil über ciell und individuell bestimmte Beschaf- den Charakter – nach Schopenhauer – mit fenheit des Willens, vermöge deren seine der Erfahrung durchaus an ZuverlässigReaktion auf die selben Motive in jedem keit gewinnen.32 Menschen eine andere ist, macht Das aus, Was den menschlichen Charakter anbe31 was man dessen Charakter nennt.« (E 87) langt, so betrachtet ihn Schopenhauer als Schopenhauer unterscheidet zwischen individuell. Zwar habe der Mensch auch drei Arten des Charakters, die miteinan- am Charakter der Gattung teil, doch im der eng zusammenhängen: dem empiri- Gegensatz zu den Tieren, Pflanzen und schen Charakter, dem erworbenen Cha- unorganischen Wesen, bei denen die Inrakter, der eine besondere Ausprägung dividualität des Charakters – in der gedes empirischen ist, sowie dem intelligib- nannten Reihenfolge – abnehme, bis sie len Charakter, der sich als metaphysische nicht mehr vorhanden sei, herrsche das Grundlage des empirischen darbietet. Individuelle bei ihm gegenüber dem GatDer empirische Charakter ist – im Ge- tungsmäßigen vor: »Auf den obern Stugensatz zum intelligiblen – der Erfahrung fen der Objektität des Willens sehn wir zugänglich. Er stellt eine Eigentümlich- die Individualiät bedeutend hervortreten, keit des individuellen Willens dar, die sich besonders beim Menschen, als die große darin äußert, wie jemand auf bestimmte Verschiedenheit individueller CharakMotive reagiert, und läßt sich im Aus- tere, d. h. als vollständige Persönlichkeit, gang von den entsprechenden Handlun- schon äußerlich ausgedrückt durch stark gen erschließen. Schopenhauer bezeich- gezeichnete individuelle Physiognomie, net ihn als empirischen Charakter, »weil welche die gesammte Korporisation miter nicht a priori sondern nur durch Erfah- begreift.« (W I 179; vgl. a. E 87) rung bekannt wird« (E 87). Stellt man in Ferner behauptet Schopenhauer, der Rechnung, daß Erfahrung stets die Mög- Charakter sei konstant, ja sogar unverlichkeit des Irrtums in sich birgt, so kann änderlich: »Der Charakter des Menschen man nachvollziehen, daß Menschen bei ist konstant: er bleibt der selbe, das ganze der Einschätzung des Charakters häufig Leben hindurch.« (E 89; vgl. a. W I 379, falsch liegen. So betont auch Schopen- W II 262, E 216 u. P I 226) Daraus ergibt hauer: »Daher wird man oft, wie über An- sich natürlich, daß Schopenhauer das Andere, so auch über sich selbst enttäuscht, sinnen, den Charakter eines Menschen zu wenn man entdeckt, daß man diese oder modifizieren, für aussichtslos hält. Was man beeinflussen könne, sei allenfalls die 31 Schopenhauer
grenzt den Charakter entschieden gegen den Intellekt ab. Vgl. W II 264.
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32
Vgl. E 88.
Lemmata Erkenntnis: »Weiter aber, als auf die Berichtigung der Erkenntniß, erstreckt sich keine moralische Einwirkung, und das Unternehmen, die Charakterfehler eines Menschen durch Reden und Moralisiren aufheben und so seinen Charakter selbst, seine eigentliche Moralität, umschaffen zu wollen, ist ganz gleich dem Vorhaben, Blei durch äußere Einwirkung in Gold zu verwandeln, oder eine Eiche durch sorgfältige Pflege dahin zu bringen, daß sie Aprikosen trüge.« (E 91; vgl. a. W II 260) Gegen diese Einschätzung ließe sich argumentieren, daß sich der Charakter eines Menschen – z. B. durch besonders intensive Erfahrungen und Erlebnisse oder therapeutische Maßnahmen – sehr wohl verändern könne. Einwände dieser Art diskutiert Schopenhauer gar nicht erst. Damit stellt sich die Frage, ob die Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters aus der Luft gegriffen ist oder nicht doch auf irgendeine Weise einsichtig gemacht werden kann. Bei genauerem Hinsehen drängt sich der Eindruck auf, daß diese Lehre keinen empirischen, sondern einen metaphysischen Hintergrund hat. Es handelt sich darum, daß Schopenhauer den empirischen Charakter als Erscheinung eines intelligiblen Charakters interpretiert: »Der empirische Charakter ist ganz und gar durch den intelligibeln, welcher grundloser, d. h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt. Der empirische Charakter muß in einem Lebenslauf das Abbild des intelligibeln liefern, und kann nicht anders ausfallen, als das Wesen dieses es erfordert.« (W I 211) Da nun der intelligible Charakter nicht unter die Form der Erscheinung – und damit auch nicht unter die Zeit – fällt, ist es nicht möglich, daß er sich än-
Charakter dert.33 Stellt der empirische Charakter ein Abbild des intelligiblen dar, so kann man nachvollziehen, daß er mit der Unveränderlichkeit ein Merkmal übernimmt, das für diesen konstitutiv ist.34 Zwar mag sich Schopenhauer mit diesen Überlegungen in den Bereich der Spekulation begeben, und es bleibt fraglich, ob die Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters der empirischen Wirklichkeit gerecht wird, doch lassen sie diese Lehre in gewisser Hinsicht verständlich e rscheinen. Ein weiteres Merkmal des empirischen Charakters, das Schopenhauer anführt, besteht darin, daß dieser angeboren ist. Genauer gesagt vertritt Schopenhauer die – etwas merkwürdige – These, der Charakter werde – ähnlich wie die Intelligenz von der Mutter – vom Vater vererbt: »Er ist sogar, in seinen Grundzügen, erblich, aber nur vom Vater, die Intelligenz hingegen von der Mutter.« (E 92)35 Schopenhauer widmet dieser These im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung sogar ein ganzes Kapitel, das er mit »Erblichkeit der Eigenschaften« (W II 604 ff.) überschreibt. – Aus der Auffassung, der Charakter sei angeboren, ergibt sich – für diejenigen Eigentümlichkeiten des Charakters, die unter moralischem Gesichtspunkt von Interesse sind – eine Konsequenz, die schwerer kaum sein könnte: »Aus dieser Darlegung des Wesens des individuellen Charakters folgt 33 Auf
dieser Linie bewegt sich Schopenhauer auch, wenn er den intelligiblen Charakter als – ebenfalls unveränderliche – Idee charakterisiert. Vgl. W I 209 ff. u. 378 f. 34 Freilich wäre die Unveränderlichkeit im einen Fall zeitlos und im anderen zeitlich. 35 Es liegt die Vermutung nahe, daß Schopenhauer in diesem Fall eine Beobachtung verallgemeinert, die er an seiner eigenen Person gemacht hat – und die auf ihn auch zutreffen mag.
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Charakter allerdings, daß Tugenden und Laster angeboren sind.« (E 92) Dies aber würde bedeuten, daß kein Mensch für seine Tugenden und Laster verantwortlich wäre. Zusammen mit dem Motiv bildet der Charakter eine der beiden Bedingungen, die determinieren, wie jemand handelt. Trifft ein bestimmtes Motiv auf einen bestimmten Charakter, so tritt die entsprechende Handlung – nach Schopenhauer – notwendig ein, das heißt, es ist nicht möglich, daß eine andere Handlung geschieht: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Pro dukt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich. Damit eine andere entstände, müßte entweder ein a nderes Motiv oder ein anderer Charakter gesetzt werden.« (E 95; vgl. a. W I 158 u. 362 ff. sowie E 87, 122 u. 135) Ähnlich wie Kant folgert Schopenhauer daraus, daß man eine Handlung, sofern man den Charakter und das Motiv kennen würde, mit der gleichen Sicherheit wie ein Ereignis in der unbelebten Natur voraussagen könnte: »[E]s ließe sich auch, wie Kant sagt, wenn nur der empirische Charakter und die Motive vollständig gegeben wären, des Menschen Verhalten, auf die Zukunft, wie eine Sonnen- oder Mondfinsterniß ausrechnen.« (W I 367; vgl. a. N 274 sowie E 95 u. 122 f.)36 Scheitert dieses Unterfangen in der Praxis, so liegt das nach Scho36 Vgl. a.
Immanuel Kant. Kritik der praktischen Vernunft. In: Werkausgabe. Bd. VII. Hg. v. W. Weischedel. Frankfurt a. M. 1968 (im folgenden: KpV), A 177.
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Lemmata penhauer allein daran, daß in der Regel keine ausreichende Kenntnis des Charakters sowie der Motive zur Verfügung steht (vgl. E 95). Obgleich Schopenhauer davon überzeugt ist, daß Handlungen determiniert sind und der Charakter angeboren und unveränderlich ist, vertritt er die Auffassung, daß es Freiheit gibt. Dabei geht er von der Beobachtung aus, daß sich der Mensch für seine Handlungen verantwortlich fühlt. Verantwortung aber setzt, wie Schopenhauer zu Recht betont, Freiheit voraus: »Soll […] ein Wesen für sein Thun verantwortlich, also soll es zurechnungsfähig seyn; so muß es frei seyn.« (P I 77) Da sich die Freiheit nicht auf Handlungen erstrecken kann, ist Schopenhauer gezwungen, sie in einem anderen Bereich anzusiedeln. Auf den ersten Blick mag es überraschend erscheinen, wenn er den Charakter ins Spiel bringt: »Da, wo die Schuld liegt, muß auch die Verantwortlichkeit liegen: und da diese das alleinige Datum ist, welches auf moralische Freiheit zu schließen berechtigt; so muß auch die Freiheit eben daselbst liegen, also im Charakter des Menschen; um so mehr, als wir uns hinlänglich überzeugt haben, daß sie unmittelbar in den einzelnen Handlungen nicht anzutreffen ist, als welche, unter Voraussetzung des Charakters, streng necessitirt eintreten.« (E 135) Nach allem, was bislang erläutert wurde, erscheint der Charakter aus zwei Gründen nicht als Ort der Freiheit geeignet. Zum einen gehört er der empirischen Wirklichkeit an, die unter dem Satz vom zureichenden Grunde des Werdens bzw. dem Kausalitätsprinzip steht, also determiniert ist, und zum anderen wurde er als angeboren und unveränderlich beschrieben. Um den Charakter dennoch mit der Freiheit
Lemmata vereinbaren zu können, macht sich Schopenhauer eine Distinktion zunutze, die er von Kant übernimmt. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen dem empirischen und dem intelligiblen Charakter, die er dem Königsberger Denker als »unsterbliches Verdienst« (W I 208) anrechnet, ja sogar für die »größte aller Leistungen des menschlichen Tiefsinns« (E 216) hält.37 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, daß Schopenhauer den empirischen Charakter dem Bereich der Erscheinung bzw. des mundus sensibilis und den intelligiblen Charakter dem Bereich des Dinges an sich bzw. des mundus intelligibilis zuordnet. Dies aber bedeutet, daß lediglich der empirische Charakter, nicht aber der intelligible der Notwendigkeit unterworfen ist. Letzterer hingegen ist frei: »Jenes von Kant dargelegte Verhältniß des empirischen zum intelligi blen Charakter beruht ganz und gar auf dem, was den Grundzug seiner gesammten Philosophie ausmacht, nämlich auf der Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich: und wie bei ihm die vollkommene empirische Realität der Erfahrungswelt zusammenbesteht mit ihrer transscendentalen Idealität; eben so die strenge empirische Nothwendigkeit des Handelns mit dessen transscendentaler Freiheit. Der empirische Charakter nämlich ist, wie der ganze Mensch, als Gegenstand der Erfahrung eine bloße Erscheinung, daher an die Formen aller Erscheinung, Zeit, Raum und Kausalität gebunden und deren Gesetzen unterworfen: hingegen ist die als Ding an sich von diesen Formen unabhängige und deshalb keinem Zeitunterschied unterworfene, mithin beharrende und unveränderliche 37
Vgl. a. E 124 u. 136 sowie W I 364.
Charakter Bedingung und Grundlage dieser ganzen Erscheinung sein intelligibler Charakter, d. h. sein Wille als Ding an sich, welchem, in solcher Eigenschaft, aller d ings auch absolute Freiheit, d. h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Kausalität (als einer bloßen Form der Erscheinungen) zukommt.« (E 136 f.) Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß Schopenhauer bei der Bestimmung des Verhältnisses des intelligiblen Charakters zum Ding an sich zwischen mehreren Alternativen schwankt. Bald setzt er ihn mit dem »Wille[n] als Ding an sich« (E 137) gleich, bald mit der »Beschaffenheit an sich« (E 216) oder dem »Wesen an sich« (E 217) desselben, aber er beschreibt ihn auch als »meine[n] Willen im Ganzen« (W I 151) oder als »Wille[n] als Ding an sich, sofern er in einem bestimmten Individuo, in bestimmtem Grade erscheint« (W I 364). Dabei stellt sich die Frage, auf welche Weise sich der empirische Charakter am ehesten als »Erscheinung« (W I 151), »Abbild« (W I 211), »Aeußerung« (W I 365) oder »Entfaltung« (W I 378) des intelligiblen begreifen läßt. Vergegenwärtigt man sich, daß der empirische Charakter individuell ist, und versucht man, seiner Individualität gerecht zu werden, so liegt es nahe, den intelligiblen Charakter als dasjenige, was den empirischen bestimmt, ebenfalls mit Individualität auszustatten. Genau diesen Weg beschreitet Schopenhauer letztlich auch. Deshalb ist es irreführend, den intelligiblen Charakter im Sinne der ersten Alternative einfach mit dem Ding an sich gleichzusetzen. Was hingegen die anderen Alternativen betrifft, so unterscheiden sie im Bereich dessen, was dem empirischen Charakter zugrunde liegt, zwischen dem einen Willen als Ding an sich und seiner Ausdiffe111
Christentum renzierung zu einer Vielzahl individueller »Beschaffenheiten« oder »Wesen«, die mit dem jeweiligen intelligiblen Charakter in eins fallen. Schopenhauer führt diese Ausdifferenzierung im Rahmen seiner Ideenlehre durch. Dabei identifiziert er den intelligiblen Charakter mit einer Idee, die ihrerseits einem Akt des Willens als Ding an sich entspricht: »Der Charakter jedes einzelnen Menschen kann, sofern er durchaus individuell und nicht ganz in dem der Species begriffen ist, als eine besondere Idee, entsprechend einem eigenthümlichen Objektivationsakt des Willens, angesehn werden. Dieser Akt selbst wäre dann sein intelligibler Charakter, sein empirischer aber die Erscheinung desselben. Der empirische Charakter ist ganz und gar durch den intelligiblen, welcher grundloser, d. h. als Ding an sich dem Satz vom Grund (der Form der Erscheinung) nicht unterworfener Wille ist, bestimmt.« (W I 211)38 Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den empirischen Charakter als eine Erscheinung des intelligiblen und diesen als zeitlose, unveränderliche Idee deutet, so fragt sich, in welcher Hinsicht er den intelligiblen Charakter noch als frei betrachten kann. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man, daß es Schopenhauer weniger darum geht, daß der Charakter frei ist, sondern daß er das Ergebnis einer freien Wahl ist. In diesem Zusammenhang vergleicht Schopenhauer – auf einen Mythos anspielend, den Platon in der Politeia 38 Vgl. a. W I 207 f. – Natürlich ist diese Auffassung problematisch. Abgesehen davon, daß Schopenhauer die Idee bald als Willensakt, bald als Ausdruck eines solchen einzustufen scheint, drängt sich die Frage auf, wie eine Idee ein Akt sein kann und auf welche Weise eine zeitlose Instanz wie der Wille als Ding an sich einen zeitlosen Akt ausführen kann.
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Lemmata (613e–621d) ausbreitet – den intelligiblen Charakter mit einem »Dämon, der [den Menschen] leitet und der nicht ihn, sondern den er selbst gewählt hat« (W I 343; vgl. a. E 218 ff.). Freilich scheint es, als könne diese Wahl nicht vom Menschen, der ja als empirisches Wesen determiniert ist, sondern allenfalls vom Willen als Ding an sich durchgeführt werden. Allein dieser trüge dann die Verantwortung für den Charakter des Menschen, aber auch für die Handlungen, die sich daraus ergeben. Was schließlich den erworbenen Charakter anbelangt, so ist dieser innerhalb des Bereichs des empirischen Charakters angesiedelt. Er besteht darin, daß jemand seinen empirischen Charakter im Laufe der Zeit kennengelernt hat und diesem gemäß handelt: »Haben wir nun erforscht, wo unsere Stärken und wo unsere Schwächen liegen; so werden wir unsere hervorstechenden natürlichen Anlagen ausbilden, gebrauchen, auf alle Weise zu nutzen suchen und immer uns dahin wenden, wo diese taugen und gelten, aber durchaus und mit Selbstüberwindung die Bestrebungen vermeiden, zu denen wir von Natur geringe Anlagen haben; werden uns hüten, Das zu versuchen, was uns doch nicht gelingt.« (W I 383; vgl. a. E 88 f.) Mit anderen Worten, im erworbenen Charakter treten die Züge, die im empirischen angelegt sind, aufgrund der entsprechenden Kenntnis besonders deutlich zutage. Der empirische Charakter befähigt den Menschen, im Einklang mit sich selbst zu leben und auf diese Weise »zur möglichsten Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen« (W I 384). Christentum Schopenhauer nimmt dem Christentum gegenüber eine ambivalente Haltung ein. Einerseits weist er die für die
Lemmata
Christentum
christliche Religion zentrale Annahme u. 428). Was in der christlichen Religion der Existenz eines göttlichen Wesens als tatsächlich Gewicht habe, sei vielmehr der grundlos zurück, anderseits teilt er mit Antagonismus zwischen der Erbsünde auf dem Christentum die Überzeugung, der der einen Seite und der Erlösung auf der Mensch bedürfe der Erlösung und könne anderen: »Der Mittelpunkt und das Herz sie auf dem Weg einer Überwindung der des Christenthums ist die Lehre vom Sünempirischen Wirklichkeit erreichen. Auf- denfall, von der Erbsünde, von der Heil grund dieser Gemeinsamkeit weiß er die losig keit unsers natürlichen Zustandes christliche Religion durchaus zu schätzen. und der Verderbtheit des natürlichen In diesem Zusammenhang betont er: »Bei Menschen, verbunden mit der Vertretung keiner Sache hat man so sehr den Kern und Versöhnung durch den Erlöser, devon der Schaale zu unterscheiden, wie ren man theilhaft wird durch den Glaubeim Christenthum. Eben weil ich die- ben an ihn.« (P II 427; vgl. a. W I 500 f. u. sen Kern hoch schätze, mache ich mit der 503 sowie W II 733 u. 736 f.) Dabei parSchaale bisweilen wenig Umstände: sie ist allelisiert Schopenhauer den Sündenfall jedoch dicker, als man meistens denkt.« und die Erlösung mit der Bejahung und (W II 732) der Verneinung des Willens.39 An der Fühlt sich Schopenhauer vom Chri- christlichen Vorstellung des Sündenfalls stentum angesprochen, so liegt das nicht kritisiert Schopenhauer allerdings, daß zuletzt daran, daß er das entscheidende sie den Menschen als ein ursprünglich Kriterium für die Bewertung einer Re- gutes Wesen hinstellt, das erst durch eine ligion darin erblickt, ob sie optimistisch bestimmte Handlung schuldig und damit oder pessimistisch ist, und daß sich die der Erlösung bedürftig wird. Demgegenchristliche Lehre nach seiner Auffassung über neigt er selbst zu der Auffassung, vorzüglich mit seinem eigenen Pessimis- daß bereits die Entstehung des Menschen mus verträgt (vgl. W I 408, W II 195, 198, schuldhaft ist, weil sie auf einer Bejahung 679 f., 685, 727 u. 730 ff. sowie P II 427 f.). des Willens beruht (vgl. W II 707 f.), und So macht Schopenhauer geltend, daß der er verteidigt die gnostische Einschätzung »wahre Geist und Kern des Christen der Schöpfung als einer von Anfang an thums […] die Erkenntniß der Nichtigkeit des Erdenglücks, die völlige Verach39 Schopenhauers Einschätzung, Jesus Chri tung desselben und Hinwendung zu einem stus sei eine »vortreffliche Gestalt, voll tiefen ganz andersartigen, ja, entgegengesetzten Lebens, von größter poetischer Wahrheit und höchster Bedeutsamkeit« (W I 134), ist darauf Daseyn ist« (W II 522; vgl. a. W II 684 f. u. zurückzuführen, daß sich dieser als den Wil745 sowie P II 420). Allerdings werde die- len zum Leben verneinender Weltüberwinder ser Pessimismus dadurch gemildert, daß darbietet (vgl. W I 134, 477 u. 500 f. sowie W II die Schöpfung als Werk eines guten Got- 736). Freilich ist er für Schopenhauer nicht als Individuum, sondern lediglich als Symbol, das tes und damit als positiv hingestellt werde. für den Menschen als Idee steht (vgl. W I 501 u. Schopenhauer führt diese Wendung auf W II 736), von Interesse. Daß Jesus Christus für den optimistischen Einfluß des Juden- die Verneinung des Willens zum Leben steht, tums zurück und erklärt, daß sie dem We- drückt sich – nach Schopenhauer – auch darin aus, daß er von einer Jungfrau geboren wurde sen des Christentums widerspricht (vgl. und, wie die Doketen glauben, einen Scheinleib W I 479, W II 726 f. u. 732 sowie P II 420 hatte (vgl. W I 500). 113
Christentum
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schlechten (vgl. W II 727 f.). Schopen- che die ganze Natur des Menschen modihauer erklärt sich die Nachträglichkeit fiziert, initiiert werden kann. In diesem der Sünde dadurch, daß die Schöpfung – Sinne erklärt Schopenhauer, »daß wir im Zuge des jüdischen Optimismus – po- selbst wesentlich dem Bösen angehören sitiv bewertet wird und daher zunächst und ihm so fest verbunden sind, daß unkeine negativen Elemente wie Schuld und sere Werke nach dem Gesetze und der Sünde enthalten kann.40 Vorschrift, d. h. nach Motiven, gar nie der Schopenhauer schätzt die christliche Gerechtigkeit genug thun, noch uns erReligion vor allem in der von Augustinus lösen können; sondern die Erlösung nur und Luther geprägten Gestalt (vgl. W II durch Glauben, d. i. durch eine veränderte 194 sowie P II 401, 404 u. 428). Dies be- Erkenntnißweise, gewonnen wird, und deutet im einzelnen, daß er die von Lu- dieser Glaube selbst nur durch die Gnade, ther vertretene Auffassung, der Wille des also wie von außen, kommen kann: dies Menschen sei nicht frei, sondern neige ur- heißt, daß das Heil ein unserer Person sprünglich zum Bösen, ebenso für richtig ganz fremdes ist, und deutet auf eine zum hält wie die Lehre, daß nicht etwa gute Ta- Heil nothwendige Verneinung und Auften, sondern allein der – durch Gnade er- gebung eben dieser Person.« (W I 503) möglichte – Glaube den Menschen recht- Es liegt auf der Hand, daß Schopenhauer fertige (vgl. W I 501 ff. sowie W II 706, 708 die fragliche Erkenntnis in der Durchu. 711). Schopenhauer erblickt darin eine schauung des principium individuationis Parallele zu seiner eigenen Überzeugung, erblickt, die zur Verneinung des Willens daß sich das Handeln eines Menschen aus und damit auch des wollenden Individuseinem Sein ergibt (operari sequitur esse) ums führt. Zwar räumt er ein, daß er daund daß aus der verderbten, auf Bejahung mit für eine »herbe Ausführung« (P II des Willens angelegten Natur des Men- 404) des Christentums plädiert, doch hat schen keine guten Taten resultieren kön- er keine Zweifel an ihrer Richtigkeit und nen, so daß eine Erlösung nur durch eine verteidigt sie vehement gegen pelagianispezielle, von außen kommende, gleich- sche und rationalistische Tendenzen, die sam durch Gnade bewirkte Einsicht, wel- auf die Freiheit des Willens und auf die Fähigkeit des Menschen hinauslaufen, von sich aus gut zu handeln (vgl. W I 501 f., 40 Ferner kann Schopenhauer nicht so recht nachvollziehen, wie der Mensch als von einem W II 708 u. 732 f. sowie P II 404 u. 428 ff.). gütigen Gott geschaffenes Wesen moralisch Vergegenwärtigt man sich, daß Schoschlechte Handlungen vollziehen und selbst die penhauer egoistische Handlungen bzw. Verantwortung dafür übernehmen soll: »Wenn die Bejahung des Willens zum Leben als ich aber suche, mir vorstellig zu machen, daß ich vor einem individuellen Wesen stände, zu dem schlecht und altruistische bzw. die Verich sagte: ›mein Schöpfer! ich bin einst nichts neinung desselben als gut einstuft, so ist gewesen: du aber hast mich hervorgebracht, so es keineswegs überraschend, daß er nicht daß ich jetzt etwas und zwar ich bin;‹ und dazu müde wird, seine Nähe zur christlichen noch: ›ich danke dir für diese Wohlthat;‹ – und am Ende gar: ›wenn ich nichts getaugt habe, so Ethik hervorzuheben. Dies gilt zunächst ist das meine Schuld;‹ – so muß ich gestehn, daß für die Ideale der Nächstenliebe (vgl. W I in Folge philosophischer und Indischer Studien mein Kopf unfähig geworden ist, einen solchen 478, E 266 u. 270 sowie P II 400 f.) sowie der Feindesliebe (vgl. W I 445, E 266 soGedanken auszuhalten.« (P II 416) 114
Lemmata wie P II 401 u. 420), mehr aber noch für die Askese, die bei Schopenhauer eine noch größere Rolle als im Christentum selbst zu spielen scheint. So stellt Schopenhauer – in Abgrenzung gegen den Optimismus – fest, daß »es viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck unsers Lebens zu betrachten (wie dies Brahmanismus und Buddhaismus, und auch das ächte Christenthum thun); weil diese es sind, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten« (W II 684; vgl. a. W II 720 ff., 737 u. 742 f.). Freilich sei der asketische Geist im Protestantismus – im Gegensatz zum »ächten und ursprünglichen Christenthum« (W II 721) – kaum noch bemerkbar. Das zeige sich nicht zuletzt in der Abschaffung des Zölibats: »Der Protestantismus hat, indem er die Askese und deren Centralpunkt, die Verdienstlichkeit des Cölibats, eliminirte, eigentlich schon den innersten Kern des Christenthums aufgegeben und ist insofern als ein Abfall von demselben anzusehn.« (W II 732 f.) Zu seiner Vollendung gelangte das Christentum freilich erst in der Mystik, in der sich die Verneinung des Willens zum Leben in ihrer reinsten Form darbiete. Schopenhauer betont: »Meines Erachtens verhalten die Lehren dieser ächten Christlichen Mystiker sich zu denen des Neuen Testaments, wie zum Wein der Weingeist. Oder: was im Neuen Testament uns wie durch Schleier und Nebel sichtbar wird, tritt in den Werken der Mystiker ohne Hülle, in voller Klarheit und Deutlichkeit uns entgegen.« (W I 479) Es liegt auf der Hand, daß Schopenhauer diejenigen Aspekte des Christentums, die mit seiner eigenen Konzeption der Verneinung des Willens konvergieren, besonders schätzt und – vielleicht etwas voreilig – als das Wesen desselben betrachtet. So ist es
Christentum durchaus mit Vorsicht zu genießen, wenn Schopenhauer erklärt, daß »die aus unserer ganzen Betrachtung hervorgehende […] Ethik, wenn sie auch dem Ausdruck nach neu und unerhört wäre, dem Wesen nach es keineswegs ist, sondern völlig übereinstimmt mit den ganz eigentlich Christlichen Dogmen, und sogar in diesen selbst, dem Wesentlichen nach, enthalten und vorhanden war« (W I 503 f.). Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß sich in der christlichen Religion zwei Elemente vereinigen, die »heterogen[]« (W I 479), ja »diametral entgegengesetzt« (W II 727 u. P II 420) sind. Es handelt sich um das Alte und das Neue Testament bzw. das Judentum und das, was nach Schopenhauer das eigentlich Christliche ausmacht. Daß beides nicht zusammenpaßt, kommt nach Schopenhauer daher, daß das Judentum optimistisch, das Christentum hingegen pessimistisch ist. Der jüdische Optimismus drücke sich insbesondere in der Schöpfungsgeschichte aus, die darauf hinauslaufe, daß die Welt – als von Gott geschaffene – gut sei (vgl. W II 726 f. u. 732 sowie P II 420). Der einzige Punkt im Alten Testament, an welchen das Christentum anknüpfen könne, sei der Sündenfall, der für die schuldhafte Bejahung des Willens zum Leben stehe. In diesem Sinne erklärt Schopenhauer: »Der Mythos vom Sündenfall […] ist das Einzige im Alten Testament, dem ich eine metaphysische, wenn gleich nur allegorische Wahrheit zugestehn kann; ja, er ist es allein, was mich mit dem Alten Testament aussöhnt. Nichts Anderm nämlich sieht unser Daseyn so ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Das neutestamentliche Christenthum […] hat auch, höchst weise, gleich an jenen Mythos angeknüpft: ja, ohne diesen hätte es 115
Egoismus im Judenthum gar keinen Anhaltspunkt gefunden.« (W II 679; vgl. a. W II 727 sowie P II 420 u. 428) Ansonsten hält Schopenhauer die christliche Religion – im Vergleich zur jüdischen – für »weit überlegen« (P II 401). Anders als das Judentum weiß Schopenhauer den Brahmanismus und den Buddhismus – aufgrund ihrer pessimistischen Weltsicht (vgl. W II 522, 679 u. 730 sowie P II 420) – außerordentlich zu schätzen. Beide Religionen würden der Schuldhaftigkeit des menschlichen Daseins und dem sich daraus ergebenden Leiden gerecht, und sie lehrten, daß der Mensch im Zuge einer Verneinung des Willens zum Leben erlöst werden könne. Insofern lasse das Christentum eine Verwandtschaft mit ihnen erkennen: »In Wahrheit ist nicht das Judenthum […], sondern Brahmanismus und Buddhaismus sind, dem Geiste und der ethischen Tendenz nach, dem Christenthum verwandt.« (W II 730; vgl. a. P II 420 u. 428) Schopenhauer geht sogar noch einen Schritt weiter und äußert die Vermutung, die christliche Religion gehe auf die beiden indischen zurück. So bekennt er: »Ich gebe daher den Glauben nicht auf, daß die Lehren des Christenthums irgendwie aus jenen Urreligionen abzuleiten sind.« (W II 730; vgl. a. W II 572 sowie G 144 u. P II 419 ff.) Um seine Vermutung zu stützen, führt Schopenhauer eine Reihe von Parallelen zwischen den genannten Religionen an: die auf Askese ausgerichtete Moral, den Pessimismus sowie die Vorstellung, ein göttliches Wesen sei Mensch geworden (vgl. W II 730 f., E 281 sowie P II 419 u. 421 f.). Freilich gelingt es ihm nicht, einen direkten Einfluß nachzuweisen. Trotz seiner Affinität zum christlichen Anliegen der Weltüberwindung läßt es 116
Lemmata Schopenhauer keineswegs an Kritik am Christentum fehlen. Wie bereits angedeutet wurde, lehnt er die Überzeugung, es gebe ein göttliches Wesen, ebenso ab wie den Optimismus, der in der Schöpfungsgeschichte zum Ausdruck kommt. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den zeitlosen Ideen im Verhältnis zur Geschichte den Vorrang zuerkennt und daß Adam sowie Jesus Christus für ihn ein »Symbol« (W I 501) oder die »Idee« (W II 736) des Menschen darstellen, so überrascht es nicht, daß er der historischen Einkleidung dieser Idee nur wenig abzugewinnen vermag: »Das Christen thum hat den eigenthümlichen Nachtheil, daß es nicht, wie die andern Religionen, eine reine Lehre ist; sondern es ist wesentlich und hauptsächlich eine Historie, eine Reihe von Begebenheiten, ein Komplex von Thatsachen, von Handlungen und Leiden individueller Wesen: und eben diese Historie macht das Dogma aus, der Glaube an welches sälig macht.« (P II 407 f.) Ein weiterer Grund dafür, daß Schopenhauer den historischen Aspekt des Christentums kritisiert, liegt darin, daß aus seiner Sicht eine Religion, die sich – mit Jesus Christus – auf eine individuelle Gestalt beruft, ein »so schwaches Fundament [hat], daß sie unmöglich bestehn kann, sobald einiges Nachdenken unter die Leute gekommen« (P II 433). Ferner erhebt Schopenhauer den Vorwurf, die christliche Religion neige – nicht zuletzt aufgrund ihres Monotheismus – zu Intoleranz und Gewalt gegenüber Abweichlern und Andersgläubigen (vgl. E 274 sowie P II 361, 380, 386 f. u. 393 ff.). Egoismus Schopenhauer vertritt in seiner Ethik einen altruistischen Ansatz, das heißt, er betrachtet altruistische Hand-
Lemmata
Egoismus
lungen als moralisch gut und egoistische Schopenhauer versucht den Egoisals moralisch schlecht. Nach seiner Auf- mus als Folge einer Eigentümlichkeit der fassung »schließen Egoismus und mo- menschlichen Erkenntnis zu begreifen. Es ralischer Werth einer Handlung einan- handelt sich darum, daß die empirische der schlechthin aus« (E 245). Während Wirklichkeit dem Menschen aufgrund eine altruistische Handlung im Interesse der Anschauungsformen des Raumes des Anderen steht, dient eine egoistische und der Zeit, die zusammen das princiHandlung dem eigenen: »Jede Handlung, pium individuationis ausmachen, als eine deren letzter Zweck das Wohl und Wehe Vielfalt individueller Gegebenheiten erdes Handelnden selbst ist, ist eine egoisti- scheint. Daher erfährt er sich als ein Wesche.« (ebd.) Demnach scheint es Scho- sen, das sich von den anderen Menschen penhauer zu genügen, daß eine Handlung unterscheidet, ja das von ihnen getrennt aus Eigeninteresse erfolgt, um sie als ego- ist. Dazu kommt, daß jedes Individuum istisch einzustufen. Anderseits zielt der das Zentrum seines eigenen Erlebens Grundsatz, in welchem der Egoismus nach bildet und daß ihm lediglich seine voSchopenhauer zum Ausdruck kommt, luntativen Regungen bzw. sein individudurchaus auch darauf ab, daß egoistische eller Wille direkt zugänglich sind. Dies Handlungen nicht bloß das Eigeninter- hat – nach Schopenhauer – zur Folge, daß esse befördern, sondern überdies dem »jedes in der gränzenlosen Welt gänzInteresse des Anderen abträglich sind: lich verschwindende und zu Nichts ver»Neminem juva, imo omnes, si forte con- kleinerte Individuum dennoch sich zum ducit, laede.« (E 199) Mittelpunkt der Welt macht, seine eigene Zwar erblickt Schopenhauer im Ego- Existenz und Wohlseyn vor allem Anismus keineswegs die alleinige Triebfe- dern berücksichtigt, ja, auf dem natürlider menschlichen Handelns, aber er ist chen Standpunkte, alles Andere dieser überzeugt, daß sich der Mensch in den aufzuopfern bereit ist, bereit ist die Welt meisten Fällen von egoistischen Motiven zu vernichten, um nur sein eigenes Selbst, leiten läßt. So erklärt er, daß der Egois- diesen Tropfen im Meer, etwas länger zu mus »die erste und hauptsächlichste, wie- erhalten« (W I 415). Was hingegen den wohl nicht die einzige Macht [ist], welche Andern betrifft, so ist er dem Individuum die moralische Triebfeder zu bekämpfen nur indirekt gegeben: »Während also jehat« (E 238), und daß »egoistische Zwecke des sich selber als der ganze Wille und das die einzigen sind, auf welche man mit Si- ganze Vorstellende unmittelbar gegeben cherheit rechnen kann« (W II 629). Aller- ist, sind die übrigen ihm zunächst nur als dings bleibt Schopenhauer eine Begrün- seine Vorstellungen gegeben; daher geht dung seiner These schuldig. Es scheint, als ihm sein eigenes Wesen und dessen Erhalschließe er sich lediglich einer negativen tung allen andern zusammen vor.« (ebd.) Einschätzung des Menschen an, wie er sie Schopenhauer lehrt, daß der empiriz. B. bei Hobbes, Hume und La Rochefou- schen Wirklichkeit bzw. der Welt der Ercauld antrifft. – Die beiden anderen Trieb- scheinung der Wille als Ding an sich zufedern menschlichen Handelns, die Scho- grunde liegt. Angesichts der Tatsache, penhauer noch in Erwägung zieht, sind daß er – im Gegensatz zu dieser – nicht die Bosheit sowie das Mitleid. unter den Satz vom zureichenden Grunde 117
Egoismus, theoretischer und deshalb auch nicht unter das principium individuationis falle, erscheine er nicht als Vielheit, sondern stelle eine Einheit dar. Dies bedeutet für Schopenhauer, daß allen empirischen Gegenständen ein und derselbe Wille als Ding an sich entspricht. Natürlich gilt dies auch für die Menschen, die sich als empirische Wesen als eine Vielzahl voneinander getrennter Individuen erfahren und deshalb dem Egoismus verfallen. Schopenhauer ist nun der Auffassung, daß ein Individuum, sobald es das principium individuationis durchschaut, nicht einfach nur erkennt, daß es – ebenso wie alle anderen – eine Erscheinung des Willens als Ding an sich ist, sondern daß die Einsicht in die metaphysische Identität der Individuen auch eine Überwindung des Egoismus mit sich bringt: »Wie wir früher Haß und Bosheit bedingt sahen durch den Egoismus und diesen beruhen auf dem Befangenseyn der Erkenntniß im principio individuationis; so fanden wir als den Ursprung und das Wesen der Gerechtigkeit, sodann, wann es weiter geht, der Liebe und des Edelmuths, bis zu den höchsten Graden, die Durchschauung jenes principii individuationis, welche allein, indem sie den Unterschied zwischen dem eigenen und den fremden Individuen aufhebt, die vollkommene Güte der Gesinnung, bis zur uneigennützigsten Liebe und zur großmüthigsten Selbstaufopferung für Andere, möglich macht und erklärt.« (W I 468 f.)
Lemmata Der theoretische Egoismus hingegen ist eine erkenntnistheoretische Position, die auf ein Leugnen der Realität der Außenwelt hinausläuft. Ein theoretischer Egoist betrachtet die Gegenstände der empirischen Realität als bloßen Schein und hält allein sich selbst und seine Vorstellungen für wirklich. Damit erweist er sich – in Hinblick auf die Realität der Außenwelt – als Skeptiker. Man könnte den theoretischen Egoismus auch als Solipsismus bezeichnen. Schopenhauer stuft diese Position zwar als unwiderlegbar, aber als wenig überzeugend ein: »Der theoretische Egoismus ist zwar durch Beweise nimmermehr zu widerlegen: dennoch ist er zuverlässig in der Philosophie nie anders, denn als skeptisches Sophisma, d. h. zum Schein gebraucht worden. Als ernstliche Ueberzeugung hingegen könnte er allein im Tollhause gefunden werden: als solche bedürfte es dann gegen ihn nicht sowohl eines Beweises, als einer Kur.« (W I 148)
Einbildungskraft Schopenhauer versteht unter Einbildungskraft das Vermögen, anschauliche Vorstellungen empirischer Gegebenheiten zu erzeugen, die nicht aktuell durch Empfindung präsentiert werden bzw. nicht anwesend sind. Er pflegt Vorstellungen dieser Art als Phantasiebilder oder Phantasmen zu bezeichnen. Damit die Einbildungskraft ihre Funktion erfüllen kann, muß sie »vielen Stoff von der Außenwelt empfangen haben: denn diese Egoismus, theoretischer Schopenhauer allein füllt ihre Vorrathskammer« (P II unterscheidet zwischen einem theoreti- 657). Anderseits vertritt Schopenhauer schen und einem praktischen Egoismus. die Auffassung, daß die Einbildungskraft An den meisten Stellen, an denen er auf nicht zuletzt in Situationen tätig wird, in den Egoismus eingeht, meint er den prak- denen gerade »weniger äußere Anschautischen. Dieser besteht darin, daß man im ung uns durch die Sinne zugeführt wird« Sinne seines eigenen Interesses handelt. (ebd.). 118
Lemmata
Entschluß
Empfindung Schopenhauer unterschei- G 70 ff.) Fände diese Operation nicht statt, det die Empfindung dadurch von der so erschöpfte sich die Empfindung – im Anschauung, daß er sie nicht als objek- Bereich des Gesichtssinnes – in »vielerlei tiv, sondern als subjektiv betrachtet. Da- bunten Farbenklexen« (G 73), die nicht mit meint er, daß sie – im Gegensatz zu ausreichten, um einen Gegenstand zu dieser – keine Gegenstände präsentiert, präsentieren. In solch einer »Empfindung sondern lediglich eine von einem äuße- ohne Verstand« erblickt Schopenhauer ren Gegenstand bewirkte Affektion e ines »nicht nur ein unnützes, sondern ein grauSinnesorgans ist: »Denn was für ein ärm- sames Geschenk der Natur« (G 92). Hält liches Ding ist doch die bloße Sinnesemp- man sich vor Augen, daß sich die Empfindung! Selbst in den edelsten Sinnes findung von der Anschauung darin unorganen ist sie nichts mehr, als ein loka- terscheidet, daß sie nicht der Vermittlung les, specifisches, innerhalb seiner Art des Verstandes bedarf, so leuchtet ein, einiger Abwechselung fähiges, jedoch an daß Schopenhauer sie – im Vergleich zu sich selbst stets subjektives Gefühl, wel- jener – als das »Unmittelbare« (W II 31) ches als solches gar nichts Objektives, also einstuft. nichts einer Anschauung Aehnliches enthalten kann. Denn die Empfindung je- Entschluß Unter einem Entschluß – geder Art ist und bleibt ein Vorgang im Or- legentlich ist auch von »Beschluß« oder ganismus selbst, als solcher aber auf das »Entscheidung« (W I 365 f.) die Rede – Gebiet unterhalb der Haut beschränkt, versteht Schopenhauer einen Willensakt, kann daher, an sich selbst, nie etwas ent- dem er auf seiten des Leibes eine Bewehalten, das jenseit dieser Haut, also außer gung zuordnet. Dabei stuft er nicht etwa uns läge. Sie kann angenehm oder unan- den Entschluß als Ursache und die Bewegenehm seyn, – welches eine Beziehung gung als Wirkung ein, sondern betrachauf unsern Willen besagt, – aber etwas tet sie beide als parallel: »Der Willensakt Objektives liegt in keiner Empfindung.« und die Aktion des Leibes sind nicht zwei (G 67; vgl. a. W II 235) Bei dem, was die objektiv erkannte verschiedene Zustände, Empfindung liefere, handle es sich allen- die das Band der Kausalität verknüpft, falls um die »Data« (G 70 u. 72, W I 39 u. stehn nicht im Verhältnis der Ursache und 48 sowie W II 48) oder den »rohen Stoff« Wirkung; sondern sie sind Eines und das (G 66 u. 68 sowie W II 31 u. 35), die in die Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Erfahrung eingingen. Schopenhauer ist Weisen gegeben: ein Mal ganz unmittelbar der Auffassung, die Empfindung sei, um und ein Mal in der Anschauung für den in eine Anschauung eines Gegenstandes Verstand.« (W I 143) In diesem Zusamumgeformt zu werden, auf einen Eingriff menhang unterscheidet Schopenhauer des Verstandes angewiesen: »Erst wenn zwischen dem Zustand des wollenden der Verstand […] in Thätigkeit geräth und Subjekts, welcher der Handlung vorangeht seine einzige und alleinige Form, das Ge- und sie – gegebenenfalls mit alternativen setz der Kausalität, in Anwendung bringt, Handlungen – antizipiert, sowie jenem, geht eine mächtige Verwandlung vor, in- der mit ihr selbst einhergeht. Gelegentlich dem aus der subjektiven Empfindung die bezeichnet er bereits den ersten Zustand objektive Anschauung wird.« (G 67; vgl. a. als »Willensbeschluß« und den zwei119
Erfahrung ten als »eigentliche[n] Willensakt« (ebd.) oder »Willensakt im engsten Sinn« (W II 290), in der Regel aber reserviert er Ausdrücke wie »Beschluß«, »Entscheidung« oder »Entschluß« für den zweiten. Was diesem vorangeht, nennt er in diesem Fall hingegen »bloße Ueberlegungen« (W I 143) oder »Wunsch« (W I 376 f. u. E 56). Unabhängig von der Terminologie kommt es Schopenhauer darauf an, daß ein Entschluß im eigentlichen Sinn erst dann vorliegt, wenn zugleich eine Handlung erfolgt: »Willensbeschlüsse, die sich auf die Zukunft beziehn, sind bloße Ueberlegun gen der Vernunft, über das, was man dereinst wollen wird, nicht eigentliche Willensakte: nur die Ausführung stämpelt den Entschluß, der bis dahin immer nur noch veränderlicher Vorsatz ist und nur in der Vernunft, in abstracto existirt. In der Reflexion allein ist Wollen und Thun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie Eins.« (W I 143 f.; vgl. a. W I 376 f., E 56 sowie W II 245 u. 290) Als Determinist vertritt Schopenhauer die Auffassung, daß ein Entschluß durch Motiv und Charakter bestimmt ist. Darum resultiert die Entscheidung nicht aus Freiheit, sondern es steht unverrückbar fest, wie sie ausfällt. Da jedoch der Handelnde keine angemessene Erkenntnis seines Charakters besitze, nehme er fälschlich an, er sei bei seinem Entschluß frei: »Denn der intelligible Charakter, vermöge dessen, bei gegebenen Motiven, nur eine Entscheidung möglich und diese demnach eine nothwendige ist, fällt nicht in die Erkenntniß des Intellekts, sondern bloß der empirische wird ihm, durch seine einzelnen Akte, successiv bekannt. Daher also scheint es dem erkennenden Bewußtseyn (Intellekt), daß, in einem vorliegenden Fall, dem Willen zwei entgegen120
Lemmata gesetzte Entscheidungen gleich möglich wären.« (W I 365 f.; vgl. a. E 56 f. u. 87 f.) Unter dieser Voraussetzung läßt sich auch nicht vorhersagen, welchen Entschluß ein Mensch letzten Endes faßt, sondern das zeigt sich erst, nachdem er ihn tatsächlich getroffen hat: »Ueber die gesetzmäßige Nothwendigkeit aber, vermöge deren, von entgegengesetzten Wünschen, der eine und nicht der andere zum Willensakt und That wird, kann eben deshalb das Selbstbewußtseyn nichts enthalten, da es das Resultat so ganz a posteriori erfährt, nicht aber a priori weiß.« (E 56; vgl. a. W I 365 ff.)41 Schopenhauer ergänzt diesen Befund durch die Feststellung, daß der »ganze Proceß unsers Denkens und Beschließens« (W II 158) häufig mehr oder weniger unbewußt verläuft. Damit gehört er einem Bereich an, der nur schwer zugänglich ist. So betont Schopenhauer, daß »der Intellekt dem Willen so fremd ist, daß er von diesem bisweilen sogar mystificirt wird: denn er liefert ihm zwar die Motive, aber in die geheime Werkstätte seiner Beschlüsse dringt er nicht« (W II 245). Erfahrung Obgleich sich Schopenhauer bei seiner Konzeption der Erfahrung an Kant anlehnt, grenzt er sich in einer Reihe entscheidender Punkte von ihm ab. Das betrifft zum einen die Funktion des Begriffs bei der Erfahrung und zum anderen das Gewicht, das sie in Hinblick auf die Metaphysik einnimmt. Zunächst aber fällt auf, daß Schopenhauer – ähnlich wie Kant – die Abhängigkeit der Erfahrung
41 Dennoch
traut Schopenhauer dem Menschen zu, seine Entschlüsse mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren. Vgl. W II 245 u. 290.
Lemmata von transzendentalen Bedingungen hervorhebt und daraus ihre Idealität ableitet (vgl. G 59 u. W II 211). Damit beschränkt sich die Erfahrung nicht etwa darauf, die empirische Wirklichkeit zu präsentieren, sondern fällt geradezu mit ihr zusammen: »Vielmehr ist in der Anschauung selbst schon die empirische Realität, mithin die Erfahrung, gegeben« (W I 544). Setzt nun Schopenhauer die Erfahrung mit der empirischen Anschauung – und damit der Wahrnehmung – gleich (vgl. a. G 59 u. 123 sowie W II 210), so weicht er damit insofern von Kant ab, als diese – nach seiner Auffassung – ohne Begriffe auskommt. Kant hingegen ist überzeugt, daß Erfahrung darin besteht, daß eine unbestimmte Anschauung bzw. eine Wahrnehmung mit Hilfe eines Begriffs als Präsentation eines Gegenstandes gedeutet wird. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer glaubt, die bloße Anschauung eines Gegenstandes laufe bereits auf eine Erfahrung desselben hinaus, wirft er Kant vor, mit dem – begrifflich erdeuteten – Gegenstand eine Art »absoluten Objekts« (W I 543) einzuführen, das sich angeblich zwischen der Anschauung und dem Ding an sich befinde, in Wirklichkeit aber völlig überflüssig sei: »Immer aber steht Dies fest, daß, bei deutlicher Besinnung, nichts weiter zu finden ist, als Vorstellung und Ding an sich. Das unberechtigte Einschieben jenes Zwitters, Gegenstand der Vorstellung, ist die Quelle der Irrthümer Kants: mit dessen Wegnahme fällt aber auch die Lehre von den Kategorien als Begriffen a priori dahin; da sie zur Anschauung nichts beitragen und vom Dinge an sich nicht gelten sollen, sondern wir mittelst ihrer nur jene ›Gegenstände der Vorstellungen‹ denken und dadurch die Vorstellung in Erfahrung umwandeln.
Erfahrung Denn jede empirische Anschauung ist schon Erfahrung« (W I 545).42 Sieht man ein wenig genauer hin, so stößt man freilich darauf, daß Schopenhauer den Unterschied zwischen empirischer Anschauung und Erfahrung nicht etwa gänzlich einebnet oder die Rolle des Begriffs für dieselbe vernachlässigt. Vielmehr macht Schopenhauer im zweiten Band seines Hauptwerks geltend, daß sich Erfahrung durch eine bestimmte Dauerhaftigkeit auszeichnet, die ihr erst der Begriff verleiht: »Der äußere Eindruck auf die Sinne, sammt der Stimmung, die er allein und für sich in uns hervorruft, verschwindet mit der Gegenwart der Dinge. Jene Beiden können daher nicht selbst die eigentliche Erfahrung ausmachen […]. Das Bild jenes Eindrucks, welches die Phantasie aufbewahrt, ist schon sogleich schwächer als er selbst, schwächt sich täglich mehr ab und verlischt mit der Zeit ganz. Weder jenem augenblicklichen Verschwinden des Eindrucks, noch dem allmäligen seines Bildes unterworfen, mithin frei von der Gewalt der Zeit, ist nur Eines: der Begriff. In ihm also muß die belehrende Erfahrung niedergelegt seyn, und er allein eignet sich zum sichern Lenker unserer Schritte im Leben.« (W II 77) Besteht ein Unterschied zwischen Kant und Schopenhauer, so betrifft er weniger die Frage, ob der Begriff für die Erfahrung 42 Vor
dem Hintergrund seiner Überzeugung, es gebe eine unmittelbare Erkenntnis, die ohne Begriffe auskomme, ist Schopenhauer offenbar nicht in der Lage, die Aufgabe, die Kant dem Begriff zuweist, angemessen zu verstehen. Es handelt sich darum, daß ein unbestimmter, lediglich anschaulich gegebener Gegenstand durch den Begriff bestimmt und damit als Gegenstand erkannt wird. Damit liegt keineswegs ein zusätzlicher, zwischen der Anschauung und dem Ding an sich situierter Gegenstand vor.
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erhaben, das Erhabene erforderlich ist oder nicht, sondern eher die Aufgabe, die er dabei erfüllt. Zwar stimmen Kant und Schopenhauer in ihrer Ablehnung der dogmatischen Metaphysik überein, aber bei der Einschätzung der Methode, auf die sie aufbaue, liegen sie weit voneinander entfernt. Schopenhauer erblickt darin, daß Kant die Metaphysik für eine apriorische Disziplin hält, eine bloße petitio principii. Deshalb sieht er »keinen Grund, uns, bei der wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnißquellen, innere und äußere Erfahrung, zu verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operiren« (W I 526). Vielmehr tritt Schopenhauer dafür ein, daß sich die Metaphysik auf die Erfahrung stützt und sie als Ganzes einsichtig macht. Einer seits übersteige sie die Erfahrung zum Ding an sich hin, anderseits bleibe sie an diese gebunden, so daß sie als die »Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt« (W II 211) oder gar – in gewissem Sinne – als »Erfahrungswissenschaft« (W II 214) gelten könne: »Demnach ist die Philosophie nichts Anderes, als das richtige, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, d. h. das in die Erscheinung bloß Gekleidete und in ihre Form Verhüllte, ist Das, was sich zu ihr verhält, wie der Gedanke zu den Worten.« (W II 215) erhaben, das Erhabene Der Begriff des Erhabenen hängt insofern mit dem Begriff des Schönen zusammen, als beide in der Idee bzw. der Erfahrung der Idee fundiert sind. So kann diese mit dem »Gefühl des Erhabenen« (W I 257) oder dem »Gefühl der Schönheit« (W I 258) einhergehen, und entsprechend kann die Idee oder ihre 122
Lemmata Darstellung in einem empirischen Gegenstand als erhaben oder schön eingestuft werden. Besteht ein Unterschied zwischen dem Schönen und dem Erhabenen, so liegt er darin, daß das Schöne leichter rezipiert wird als das Erhabene, das beim Betrachter einen dem Willen entgegengesetzten Eindruck hervorruft. Demnach spricht Schopenhauer vom Erhabenen, wenn die Gegenstände der Kontemplation »gegen den menschlichen Willen überhaupt […] ein feindliches Verhältniß haben, ihm entgegen sind, durch ihre allen Widerstand aufhebende Uebermacht ihn bedrohen, oder vor ihrer unermeßlichen Größe ihn bis zum Nichts verkleinern« (W I 258). Die Betrachtung des Schönen stimmt mit jener des Erhabenen in einem entscheidenden Punkt überein, nämlich dem »reinen, willensfreien Erkennen und der mit demselben nothwendig eintretenden Erkenntniß der […] Ideen« (W I 260). Soll ein derartiges Erkennen möglich sein, so darf sich das Subjekt nicht durch das Widrige, das dem Erhabenen anhaftet, beeindrucken lassen. Es muß eine Distanz zu diesem schaffen: »[B]ei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewußtes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen des selben Objekts zum Willen, durch ein freies, von Bewußtseyn begleitetes Erheben über den Willen und die auf ihn sich beziehende Erkenntniß.« (W I 259; vgl. a. W I 265) Zwar ist sich, wie Schopenhauer darlegt, der Betrachter weiterhin im klaren über den bedrohlichen oder feindlichen Charakter des Erhabenen, doch er bezieht ihn nicht auf seinen individuellen Willen, sondern auf den menschlichen Willen im allgemeinen. Dabei könne das Erhabene – je nachdem, wie leicht oder schwer die Erhe-
Lemmata bung über den Willen falle – unterschiedliche Grade annehmen (vgl. W I 260), und es könne als Dynamisch-Erhabenes oder Mathematisch-Erhabenes auftreten (vgl. W I 263). Diese – von Kant übernommene – Distinktion beinhaltet, daß das Erhabene seine Wirkung entweder durch seine Kraft oder durch seine bloße Größe ausübt. Erkenntnis Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer das Anliegen verfolgt, den »wahren Kriticismus« (HN I 24, 37 u. 151) zu errichten, überrascht es nicht, daß er die Erkenntnistheorie an den Anfang der Darstellung seines Ansatzes stellt. So entwickelt er diese jeweils im ersten Teil der beiden Bände des Hauptwerks sowie im ersten Teil seiner Vorlesungen. Der Grund für dieses Vorgehen liegt darin, daß es Schopenhauer für erforderlich hält, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zu klären, bevor er sich der Metaphysik – sei es der Natur, des Schönen oder der Sitten – zuwendet. Freilich nimmt die Erkenntnis auch im Rahmen der letztgenannten Disziplinen eine zentrale Stellung ein. Während es in der Metaphysik der Natur nicht zuletzt um die Erkenntnis des Willens geht, steht in der Metaphysik des Schönen die Erkenntnis der Ideen im Vordergrund. In der Metaphysik der Sitten hingegen erweist sich eine besondere Art der Erkenntnis, die Durchschauung des principium individuationis, als entscheidende Voraussetzung für die Überwindung des Willens im Sinne des tugendhaften Handelns sowie der Askese. Schopenhauer verbindet in seiner Erkenntnistheorie transzendentale und anthropologische – d. h. physiologische und psychologische – Überlegungen. Er spricht in diesem Zusammenhang auch
Erkenntnis von einer subjektiven und einer objektiven »Betrachtungsweise des Intellekts« (W II 318). So betont er, daß man »nicht bloß […] vom Intellekt zur Erkenntniß der Welt gehn [muß], sondern auch […] von der als vorhanden genommenen Welt zum Intellekt. Dann wird diese, im weitern Sinn, physiologische Betrachtung die Ergänzung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, richtiger transscendentalen.« (W II 339) Aufgabe der transzendentalen Untersuchung der Erkenntnis ist es, die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit derselben zu beschreiben. Die beiden wichtigsten dieser Bedingungen sind die apriorische Korrelation von Subjekt und Objekt sowie der Satz vom zureichenden Grunde, welche die gesamte Welt als Vorstellung bestimmen. Aus der ersteren läßt sich – nach Schopenhauer – der transzendentale Idealismus ableiten, also die Auffassung, daß sich die Erkenntnis lediglich auf Vorstellungen bezieht: »Keine Wahrheit ist also gewisser […] als diese, daß Alles, was für die Erkenntniß daist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung.« (W I 29) Der Satz vom zureichenden Grunde hingegen beinhalte, daß »jedes irgend mögliche Objekt […] in einer nothwendigen Beziehung zu andern Objekten steht, einerseits als bestimmt, andererseits als bestimmend« (W I 32). Hat die Erkenntnis lediglich Vorstellungen zum Gegenstand, nicht aber dasjenige, was jenseits der Vorstellung angesiedelt ist, so kann Schopenhauer von der »Immanenz unserer […] Erkenntniß« (W II 715) bzw. ihrer Untauglichkeit »zum transscendenten Gebrauch« (W II 338) sprechen. 123
Erkenntnis
Lemmata
Schopenhauer teilt die im Bereich des Abhängigkeit des Intellekts von den SinSatzes vom zureichenden Grunde situ- nesorganen, dem Nervensystem sowie ierte Erkenntnis zunächst in intuitive bzw. dem Gehirn in den Vordergrund stellt. So anschauliche und abstrakte bzw. begriff- sei der Intellekt als Funktion des Gehirns liche Erkenntnis ein. Während die intui- zu betrachten: »Dieser Intellekt ist das Setive Erkenntnis auf Wahrnehmung beruht, kundäre, ist das posterius des Organismus also mit der Erfahrung gleichzusetzen ist, und, als eine bloße Gehirnfunktion, durch in welcher Gegenstände anschaulich ge- diesen bedingt.« (N 219 f.) Damit erweise geben sind, bezieht sich die abstrakte Er- sich der Intellekt – und damit auch die kenntnis nicht unmittelbar, sondern mit- Erkenntnis – letztlich als »physisch« und telbar – auf dem Umweg über die intui- nicht etwa als »metaphysisch« (W II 287). tive Erkenntnis – auf ihre Gegenstände. Nimmt man hinzu, daß Schopenhauer zuSchopenhauer stellt fest: »In diesem Sinne gleich einen transzendentalen Idealismus könnten die Anschauungen recht passend lehrt, so stößt man auf das Problem, daß primäre, Begriffe hingegen sekundäre sich bald die Erkenntnis als Produkt der Vorstellungen benannt werden« (W II 86). Materie bzw. des Gehirns, bald die MateEr gewährt der intuitiven Erkenntnis den rie bzw. das Gehirn als Produkt der ErVorrang, weil sie – nach seiner Auffas- kenntnis darbietet: »Der Behauptung, daß sung – »der letzte Grund und die Quelle das Erkennen Modifikation der Materie aller Wahrheit ist« (W I 117). Dabei kann ist, stellt sich also immer mit gleichem die intuitive Erkenntnis in empirischer Recht die umgekehrte entgegen, daß alle oder – im Falle der Mathematik – in rei- Materie nur Modifikation des Erkennens ner Anschauung gründen. Vergegenwär- des Subjekts, als Vorstellung desselben, tigt man sich, daß Schopenhauer zwi- ist.« (W I 58; vgl. a. W II 25 u. 339)43 schen mehreren Arten der Wahrheit difAnders als Kant betrachtet Schopenferenziert, so kann man behaupten, daß hauer das Ding an sich weder als unerseiner Einteilung implicite folgende Ar- kennbar noch als vollständig erkennbar. ten der Erkenntnis entsprechen: logische So betont er, daß »wir nicht, mit Kant, Erkenntnis, die – eben beschriebene – em- die Erkennbarkeit des Dinges an sich pirische Erkenntnis, die – auf die apriori- schlechthin aufgegeben haben, sondern schen Bedingungen der Möglichkeit von wissen, daß dasselbe im Willen zu suchen Erkenntnis abzielende – transzendentale sei. Zwar haben wir eine absolute und Erkenntnis sowie die metalogische Er- erschöpfende Erkenntniß des Dinges an kenntnis, welche die obersten Prinzipien sich nie behauptet, vielmehr sehr wohl der Logik beinhaltet. Dazu käme die be- eingesehn, daß, Etwas nach dem, was es reits erwähnte mathematische Erkenntnis, schlechthin an und für sich sei, zu erkendie mit der empirischen Erkenntnis die nen, unmöglich ist.« (W II 579) Einerseits Eigenschaft teilt, in Anschauung zu grün43 Letztlich löst Schopenhauer diese »Antiden, was für die logische, transzendentale nomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I und metalogische Erkenntnis nicht gilt. 61) im Sinne des transzendentalen Idealismus Neben der transzendentalen Betrachauf. – Zeller hingegen wirft Schopenhauer vor, tung der Erkenntnis legt Schopenhauer sich mit dieser Konstellation in einen Zirkel zu auch eine physiologische vor, welche die begeben. Vgl. Zeller (1984), 185. 124
Lemmata
Erkenntnis
steht Schopenhauer keine – sei es empiri- punkt als Mittel zur »Erhaltung des Insche oder intellektuelle – Anschauung des dividuums und Fortpflanzung des GeDinges an sich zur Verfügung, anderseits schlechts« (W I 202; vgl. a. W I 204 u. W II ist er überzeugt, es durch eine Interpre- 327) charakterisiert. Da nun die Erkennttation der empirischen Wirklichkeit er- nis durch das Gehirn und dieses – als Erschließen zu können, die wie eine »Ge- scheinung desselben – durch den Willen heimschrift« (W II 213) zu dechiffrieren bedingt ist, könnte man sagen, daß sie im sei. Tatsächlich gegeben seien dem erken- Verhältnis zum Gehirn bzw. zum Leib senenden Subjekt lediglich die Akte und Af- kundär und im Verhältnis zum Willen als fektionen des Willens, denen bestimmte Ding an sich gar nur tertiär sei. In dieAktionen des Leibes entsprächen. Im Aus- sem Sinn hebt Schopenhauer hervor: »Ich gang von diesen Gegebenheiten schreitet setze also erstlich den Willen, als Ding Schopenhauer von den Annahmen unbe- an sich, völlig Ursprüngliches; zweitens wußter Willensakte sowie des Willens als seine bloße Sichtbarkeit, Objektivation, einer – sämtlichen Akten zugrunde lie- den Leib; und drittens die Erkenntniß, als genden – Disposition bis hin zur der meta- bloße Funktion eines Theils dieses Leiphysischen Einsicht voran, der Wille liege bes.« (N 220; vgl. a. W II 234, 238, 287, der gesamten empirischen Wirklichkeit 302, 320, 322 u. 324) Daß die Erkenntnis als Ding an sich zugrunde. Die in dieser dem Willen untergeordnet ist, zeigt sich in These kulminierende Erkenntnis stützt mehrfacher Hinsicht: Zum einen dient sie sich zum einen auf – innere sowie äußere – ihm als bloße »μηχανη« (W I 202 u. 204), Erfahrung, zum andern aber auf interpre- und zum andern hängt sie dergestalt von tative Hypothesen, die auf dem »Umwege ihm ab, daß er sie bald fördert (vgl. W II der Reflexion« (P II 44) gewonnen wer- 257 ff.), bald stört und verfälscht (vgl. W II den. In diesem Sinne faßt Schopenhauer 164 ff. u. 250 ff.). zusammen: »Diese Anwendung der RefleFreilich kann sich die Erkenntnis auch xion ist es allein, welche uns nicht mehr vom Willen emanzipieren. Das geschieht bei der Erscheinung stehn bleiben läßt, zunächst in der ästhetischen Kontemplasondern hinüberführt zum Ding an sich.« tion, in der sich das Subjekt – insbeson(W I 154; vgl. a. W II 338) Es liegt auf der dere das Genie – den zwischen der emHand, daß solch eine Erkenntnis keinen pirischen Wirklichkeit und dem Willen Anspruch auf letzte Gewißheit erheben als Ding an sich angesiedelten Ideen zukann. Daher stellt Schopenhauer fest, wendet, darin gleichermaßen aufgeht und daß die »wirkliche, positive Lösung des sich selbst als »rein erkennendes Subjekt« Räthsels der Welt etwas seyn [muß], das oder »reines Subjekt des Erkennens« erder menschliche Intellekt zu fassen und lebt: »Demnach ist Genialität die Fähigzu denken völlig unfähig ist« (W II 216 f.). keit, sich rein anschauend zu verhalten, Stellt man in Rechnung, daß sich der sich in die Anschauung zu verlieren und Wille als Ding an sich in der empirischen die Erkenntniß, welche ursprünglich nur Wirklichkeit als Wille zum Leben mani- zum Dienste des Willens daist, diesem festiert, so ist nachvollziehbar, daß Scho- Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, penhauer das Gehirn und seine Leistung, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den die Erkenntnis, unter diesem Gesichts- Augen zu lassen, sonach seiner Persön125
Erlösung
Lemmata
lichkeit sich auf eine Zeit völlig zu ent- 715). Vergegenwärtigt man sich, daß die äußern, um als rein erkennendes Subjekt, Erkenntnis eine Objektivation des Wilklares Weltauge, übrig zu bleiben« (W I lens ist, die auf die Erfassung desselben 240). Dabei erblickt Schopenhauer in der hinausläuft, so kann man Schopenhauer Befreiung vom Willen, die mit der Er- darin zustimmen, daß eine Selbsterkenntkenntnis der Ideen einhergeht, eine Form nis des Willens stattfindet, die ihrerseits der Erlösung des Subjekts von den Leiden, mit seiner Überwindung endet. So hebt denen es in der empirischen Wirklichkeit Schopenhauer hervor: »Bei mir hingeausgesetzt ist. gen kommt der Wille durch seine ObjekIm Gegensatz zu der Erlösung, wie sie in tivation, wie sie auch immer ausfalle, zur der Metaphysik des Schönen bzw. der Äs- Selbsterkenntniß, wodurch seine Aufhethetik dargelegt wird, ist die in der Meta- bung, Wendung, Erlösung, möglich wird.« physik der Sitten bzw. der Ethik erläuterte (W II 754) Form der Erlösung dauerhafter. Auch sie gründet letztlich in Erkenntnis. Genauer Erlösung Schopenhauers gesamtes Dengesagt handelt es sich darum, daß das Sub- ken läuft letzten Endes auf eine Erlöjekt das principium individuationis durch- sungslehre hinaus. Das gilt insbesondere schaut und dabei zur Einsicht gelangt, für seine Ästhetik bzw. Metaphysik des daß ein und derselbe Wille als Ding an Schönen sowie seine Ethik bzw. Metaphysich der gesamten empirischen Wirklich- sik der Sitten. Der Grund für diese Wenkeit bzw. Welt als Vorstellung zugrunde dung liegt darin, daß Schopenhauer eine liegt, so daß sich der Unterschied zwi- pessimistische Auffassung von der emschen den einzelnen Erscheinungen als il- pirischen Wirklichkeit hat. Er betrachtet lusorisch erweist. Genau diese Erkenntnis sie – im Gegensatz zu Leibniz – als die wirkt – ebenso wie die Erfahrung eigenen »schlechteste unter den möglichen [Welund fremden Leidens (vgl. W I 491) – als ten]« (W II 683) und ist überzeugt, daß »Quietiv« (W I 359) des Willens, das heißt es besser wäre, wenn es sie gar nicht gäbe. an die Stelle der Bejahung des Willens tritt Angesichts dieser Tatsache ist es verständseine Verneinung, die sich im tugendhaf- lich, daß Schopenhauer der Frage nach der ten Handeln, der Askese und der mysti- Erlösung des Menschen nachgeht. Es liegt schen Versenkung realisiert. Damit wäre auf der Hand, daß Erlösung in diesem ZuErkenntnis eine Bedingung der Mög- sammenhang die Überwindung der Negalichkeit der Verneinung des Willens, mit tivität der empirischen Wirklichkeit bzw. der allerdings – laut Schopenhauer – die der Welt als Vorstellung bedeutet. SchoErkenntnis in letzter Konsequenz an ihr penhauer unterscheidet zwei Aspekte der Ende gelangt: »In Uebereinstimmung mit Negativität, die ihrerseits miteinander zuallen diesen Betrachtungen […] sehn wir sammenhängen. Zum einen nennt er Phäalle Religionen, auf ihrem Gipfelpunkte, nomene wie das Leiden, den Schmerz und in Mystik und Mysterien, d. h. in Dunkel den Tod, die in der empirischen Wirklichund Verhüllung auslaufen, welche eigent- keit vorherrschen, und zum andern deulich bloß einen für die Erkenntniß leeren tet er die Negativität derselben als Folge Fleck, nämlich den Punkt andeuten, wo einer metaphysischen Schuld, die er darin alle Erkenntiß nothwendig aufhört« (W II erblickt, daß sich der Wille bejaht und in 126
Lemmata der Welt als Vorstellung objektiviert. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Negativität der empirischen Wirklichkeit auf die Bejahung des Willens zurückführt, ist nachvollziehbar, daß er, um zur Erlösung zu gelangen, auf die Verneinung desselben setzt: »Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.« (W I 491)44 Um die Verneinung des Willens zu beschreiben, benutzt Schopenhauer auch Ausdrücke wie »Resignation« (W I 335, 471 u. 489 f.) oder »Selbstverleugnung« (W II 709), wobei er im letzteren Fall daran erinnert, daß das »eigentliche Selbst […] der Wille zum Leben [ist]« (ebd.). Schopenhauer nennt zwei Wege, die zur Erlösung führen und die beide mit Erkenntnis zu tun haben. Genauer gesagt handelt es sich um die Erkenntnis, daß die empirische Realität, die sich als Vielzahl individueller, voneinander getrennter Gegenstände darbietet, in Wirklichkeit die Erscheinung eines und desselben Dinges an sich bzw. Willens ist. Erscheinen in der empirischen Realität individuelle Dinge, so setzt das – nach Schopenhauer – die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit voraus. Diese seien die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß individuelle Dinge gegeben seien, machten also das principium individuationis aus. Was nun die Erlösung einleite, sei eine »Durchschauung des principii individuationis« (W I 464 u. 492) und damit genau die Einsicht, daß sich die individuellen Gegenstände lediglich als Erscheinungen, nicht aber in Hinblick auf ihr metaphysisches 44
Natürlich ist Schopenhauer bekannt, daß diese Einsicht auch im Buddhismus, im Brahmanismus sowie im Christentum anzutreffen ist (vgl. W II 737).
Erlösung Substrat, das ihnen gemeinsam ist, voneinander unterscheiden. Damit aber zeige sich, daß das Leid, das ein Mensch einem anderen durch die Bejahung des Willens antue, stets auf den Willen zurückfalle, an dem er auch selbst teilhabe. Das bedeutet für Schopenhauer, daß der Wille mit sich selbst im Widerstreit liegt. Zu dieser Einsicht kann man, wie er darlegt, auf zweierlei Weise gelangen: »Der Unterschied, den wir als zwei Wege dargestellt haben, ist, ob das bloß und rein erkannte Leiden, durch freie Aneignung desselben, mittelst Durchschauung des principii individuationis, oder ob das unmittelbar selbst empfundene Leiden jene Erkenntniß hervorruft.« (W I 491) Schopenhauer hält die zweite Möglichkeit für diejenige, die häufiger auftritt: »Denn nur bei Wenigen reicht die bloße Erkenntniß hin, welche, das principium individuationis durchschauend, erstlich die vollkommenste Güte der Gesinnung und allgemeine Menschenliebe hervorbringt, und endlich alle Leiden der Welt sie als ihre eigenen erkennen läßt, um die Verneinung des Willens herbeizuführen.« (W I 485) Darüber hinaus erblickt Schopenhauer in den moralischen Tugenden, also der Gerechtigkeit sowie der Menschenliebe, ein »Beförderungsmittel der Selbstverleugnung und demnach der Verneinung des Willens zum Leben« (W II 709; vgl. a. W II 712 u. 714). Das liegt daran, daß bereits diese eine erste – allerdings weniger stark ausgeprägte – Zurücknahme des eigenen Willens beinhalten. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer den Menschen als Erscheinung des Willens betrachtet, kann er die Erkenntnis, die in die Erlösung mündet, als »Selbsterkenntniß« (W II 754) des – sich im betreffenden Individuum objektivierenden – Willens bezeichnen. 127
Erlösung Schopenhauer lehrt, daß erst dann von Erlösung die Rede sein kann, wenn eine »gänzliche Verneinung des Willens« (W I 491) eingetreten ist. Dieses Ziel soll insbesondere durch Askese erreicht werden. Selbst wenn dies gelinge, sei der Zustand der Erlösung allerdings nicht ein für allemal gesichert: »Indessen dürfen wir doch nicht meinen, daß, nachdem durch die zum Quietiv gewordene Erkenntniß, die Verneinung des Willens zum Leben ein Mal eingetreten ist, sie nun nicht mehr wanke, und man auf ihr rasten könne, wie auf einem erworbenem Eigenthum. Vielmehr muß sie durch steten Kampf immer aufs Neue errungen werden.« (W I 484) Mit anderen Worten: »[D]auernde Ruhe kann auf Erden Keiner haben.« (ebd.) Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer nicht an ein Weiterleben nach dem Tod glaubt, so ergibt sich aus diesem Befund, daß der Mensch den Zustand der Erlösung nur für begrenzte Zeit erleben kann. Da auch der Tod eine Verneinung des Willens zum Leben beinhaltet, fragt sich, wie dieser in Hinblick auf die Erlösung des Menschen zu bewerten sei. Schopenhauer nimmt dem Tod gegenüber eine ambivalente Haltung ein: Werde er durch Selbstmord herbeigeführt, so zeuge dies von einer Bejahung des Willens zum Leben und sei verwerflich, stelle er sich aber als Folge einer asketischen Lebensführung ein, so resultiere er aus einer Verneinung des Willens zum Leben und sei moralisch nicht weiter bedenklich. Schopenhauer versteht unter Erlösung nicht einfach nur Befreiung vom Leiden, sondern ebenso die Aufhebung einer Schuld, und diese findet erst dann statt, wenn der Wille verneint wird. Ist diese Voraussetzung erfüllt, so stellt der Tod für Schopenhauer durchaus eine Form der Erlösung 128
Lemmata dar: »Kommt endlich der Tod, der diese Erscheinung jenes Willens auflöst, dessen Wesen hier, durch freie Verneinung seiner selbst, schon längst, bis auf den schwachen Rest, der als Belebung dieses Leibes erschien, abgestorben war; so ist er, als ersehnte Erlösung, hoch willkommen und wird freudig empfangen. Mit ihm endigt hier nicht, wie bei Andern, bloß die Erscheinung; sondern das Wesen selbst ist aufgehoben, welches hier nur noch in der Erscheinung und durch sie ein schwaches Daseyn hatte; welches letzte mürbe Band nun auch zerreißt. Für Den, welcher so endet, hat zugleich die Welt geendigt.« (W I 473)45 45
Es ist nicht auf Anhieb einleuchtend, warum im einen Fall mit dem Tod nur die Erscheinung und im anderen auch das Wesen zu Ende gehen soll. Man könnte allenfalls nachvollziehen, daß in beiden Fällen der Mensch als empirisches Wesen stirbt und daß im ersten die Bejahung des Willens bis zum Tod andauert, im zweiten aber nicht. Was als Wesen weiterhin besteht, kann demnach nicht die Bejahung des Willens im Sinne eines empirischen Phänomens sein. Es kann aber auch nicht gemeint sein, daß der Wille zum Leben nach dem Tod irgendwelcher Individuen als allgemeines Phänomen fortdauert. Schopenhauer stellt ja ausdrücklich fest, daß das Wesen im einen – individuellen – Fall weiterbesteht und im anderen – ebenfalls individuellen – Fall aufgehoben ist und daß beides mit dem Ende der empirischen Existenz einhergeht. Plausibel erscheint die fragliche These jedoch vor dem Hintergrund der – doch recht spekulativen – Annahme, daß die Verneinung des Willens eine Aufhebung des Charakters eines Menschen beinhaltet (vgl. W I 497 f. u. 503 sowie W II 713). Für diese Deutung spräche wenigstens der Umstand, daß Schopenhauer den Charakter des Menschen mit seinem Wesen gleichsetzt. Die Annahme, der Charakter werde im Zuge der Durchschauung des principii individuationis – infolge eines »Eingreifen[s] der keine Nothwendigkeit kennenden Freiheit des Willens an sich« (W I 498) – aufgehoben, ist, wie Schopenhauer selbst zugibt, einigermaßen problematisch. Angesichts
Lemmata Gelingt die Verneinung des Willens, so geht sie – nach Schopenhauer – mit einer Verneinung der Erkenntnis einher. Das mag zunächst merkwürdig klingen, wird aber verständlich, wenn man in Rechnung stellt, daß Schopenhauer die Erkenntnis aus der Perspektive seiner Metaphysik der Natur als Funktion des Leibes und damit des Willens auffaßt, dem sie letztlich dient. Fällt aber die Erkenntnis weg, so wird nichts mehr erkannt, und dies bedeutet für Schopenhauer, daß sich mit der Verneinung des Willens zugleich die Welt in nichts auflöst: »Mit gänzlicher Aufhebung der Erkenntniß schwände dann auch von selbst die übrige Welt in Nichts; da ohne der grundlegenden Differenz zwischen empirischer Wirklichkeit und Ding an sich ist schwer nachvollziehbar, wie es zu einem derartigen Eingriff kommen soll. Schopenhauer versucht den Einwand mit der zusätzlichen Annahme zurückzuweisen, daß »der Zustand, in welchem der Charakter der Macht der Motive entzogen ist, nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, sondern von einer veränderten Erkenntnißweise« (ebd.). Damit widerspricht Schopenhauer jedoch seiner These, der Charakter sei unveränderlich. Auch diese Schwierigkeit ist ihm keineswegs entgangen, und er glaubt sie dadurch ausräumen zu können, daß er erklärt, der Charakter ändere sich nicht, sondern werde aufgehoben. Inwieweit eine Aufhebung – zumal eine zeitlich begrenzte – keine Veränderung darstellen soll, leuchtet allerdings nicht wirklich ein. Trotz des Eingeständnisses, daß die Aufhebung des Charakters nur schwer zu erklären ist, hält Schopenhauer daran fest, daß sie die »einzige unmittelbare Aeußerung der Freiheit des Willens« (W I 499) ist. Der beiläufige Hinweis, die Freiheit sei letztlich ein Mysterium, deutet zwar an, daß ein Problem vorliegt, beseitigt es aber nicht. – Eine Möglichkeit, die geschilderten Schwierigkeiten zu vermeiden, bestünde darin, die Disposition zur Erlösung im Charakter anzusiedeln, und zwar dergestalt, daß sie erst durch entsprechende Erkenntnis zur Geltung kommt. Auf diese Weise bräuchte man weder eine Aufhebung des Charakters noch eine Manifestation von Freiheit anzunehmen.
Erlösung Subjekt kein Objekt.« (W I 471; vgl. a. W I 506 f.) Damit meint Schopenhauer jedoch nicht, daß es nach der Verneinung des Willens überhaupt nichts mehr gäbe oder zu erkennen gäbe. Er begreift das Nichts, von dem er spricht, nicht als ein nihil negativum, mit dem alles negiert wäre, sondern als ein nihil privativum, mit dem lediglich etwas Bestimmtes – nämlich die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung – negiert ist. Über den Bereich, der sich jenseits der Erkenntnis befindet, läßt sich, wie Schopenhauer zu Recht betont, nichts Positives aussagen. Wie dieser Bereich beschaffen sei, deute sich lediglich den Mystikern an, deren Erfahrung weder die Form e iner Erkenntnis besitze noch gar mitteilbar sei: »Würde dennoch schlechterdings darauf bestanden, von Dem, was die Philosophie nur negativ, als Verneinung des Willens, ausdrücken kann, irgendwie eine positive Erkenntniß zu erlangen; so bliebe uns nichts übrig, als auf den Zustand zu verweisen, den alle Die, welche zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und den man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u. s. w. bezeichnet hat; welcher Zustand aber nicht eigentlich Erkenntniß zu nennen ist, weil er nicht mehr die Form von Subjekt und Objekt hat, und auch übrigens nur der eigenen, nicht weiter mittheilbaren Erfahrung zugänglich ist.« (W I 506; vgl. a. W II 715 f.) Mit dieser Wendung erweist sich die Erlösung als Überwindung der empirischen Wirklichkeit bzw. als das Eingehen in das Nichts. Für jemanden, der diesen Schritt getan hat, sei freilich die empirische Wirklichkeit ebenfalls nichts. Dies wird durch die Worte, mit denen Schopenhauer den ersten Band von Die Welt als Wille und 129
Ethik, deskriptive und präskriptive Vorstellung beendet, besonders deutlich: »[W]as nach gänzlicher Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich gewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.« (W I 508) Ethik, deskriptive und präskriptive Schopenhauer betrachtet das Ansinnen, eine präskriptive Ethik zu errichten, als verfehlt und tritt für eine deskriptive Ethik ein. In diesem Zusammenhang kritisiert er nicht zuletzt die »imperative Form der Kantischen Ethik«, der er im § 4 seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral nachgeht. Wendet sich Schopenhauer gegen einen präskriptiven Ansatz in der Ethik, so bedeutet dies, daß er deren Aufgabe nicht etwa darin erblickt, Normen aufzustellen und zu begründen, nach denen sich der Mensch richten soll. Vielmehr bestehe die Aufgabe der Ethik darin, das menschliche Handeln zu beschreiben und die moralischen Kriterien, nach denen es beurteilt wird, einsichtig zu machen. So stellt Schopenhauer fest: »Man wird mir vielleicht entgegensetzen wollen, daß die Ethik es nicht damit zu thun habe, wie die Menschen wirklich handeln, sondern die Wissenschaft sei, welche angiebt, wie sie handeln sollen. Dies ist aber gerade der Grundsatz, den ich leugne, nachdem ich […] dargethan habe, daß der Begriff des Sollens, die imperative Form der Ethik, allein in der theologischen Moral gilt, außerhalb derselben aber allen Sinn und Bedeutung verliert. Ich setze hingegen der Ethik den Zweck, die in moralischer Hinsicht höchst verschiedene Handlungsweise der Menschen zu deuten, zu erklä130
Lemmata ren und auf ihren letzten Grund zurückzuführen.« (E 234 f.) Offenbar erblickt Schopenhauer den Ursprung der präskriptiven Ethik in der »theologischen Moral«, d. h. er glaubt, sie beruhe auf der Vorstellung eines gesetzgebenden Gottes, der die Menschen für ihre Handlungen belohnt oder bestraft. Nun trifft es sicherlich zu, daß Moral im Rahmen religiöser Weltanschauungen auf göttliche Vorschriften zurückgeführt und auf diese Weise begründet wird und daß dieses Procedere aus philosophischer Sicht keineswegs zu überzeugen vermag, doch bleibt Schopenhauer den Nachweis schuldig, daß die präskriptive Ethik tatsächlich nur ein Relikt der theologischen Moral ist. Geht man der Frage nach, warum Schopenhauer der präskriptiven Ethik eine Absage erteilt, so stößt man auf zwei Überlegungen, deren systematisches Gewicht sich recht unterschiedlich darstellt. Die erste lautet: »Es ist doch wohl handgreiflicher Widerspruch, den Willen frei zu nennen und doch ihm Gesetze vorzuschreiben, nach denen er wollen soll.« (W I 344; vgl. a. W I 359 f.) Zunächst einmal mutet dieses Argument einigermaßen befremdlich an. Liegt nämlich Freiheit vor, so ist das gerade kein Hindernis, sondern die Voraussetzung dafür, daß es Sinn macht, jemandem etwas zu gebieten oder zu verbieten. Im gegenteiligen Fall wären moralische Normen lediglich Mittel einer sozialen Dressur, die darauf hinausliefe, den Menschen durch Sanktionen abzurichten. Sieht man ein wenig genauer hin, so bemerkt man freilich, daß Schopenhauer nicht den Menschen, sondern den Willen als frei betrachtet. Damit meint er nicht etwa den Willen als empirische Disposition, sondern den Willen
Lemmata
Eudämonismus
als Ding an sich. Dieser bietet sich inso- daß es Gesetze giebt, denen unser Hanfern als frei dar, als er nicht dem Satz vom deln sich unterwerfen soll? Wer sagt euch, zureichenden Grunde – und damit auch daß geschehen soll, was nie geschieht ? – nicht dem Kausalitätsprinzip – unterwor- Was berechtigt euch, dies vorweg anzufen ist. Allerdings ist der Wille als Ding an nehmen und demnächst eine Ethik in lesich keine Instanz, die als Adressat mora- gislatorisch-imperativer Form, als die allischer Normen in Betracht kommt. Diese lein mögliche, uns sofort aufzudringen?« richten sich vielmehr an den Menschen, (E 160) Unabhängig davon, ob man sich und dieser ist – als empirisches Wesen – dem Determinismus anschließt oder nicht, keineswegs frei, sondern sein Verhalten leuchtet ohne weiteres ein, daß dieser eine ist determiniert. Daher geht das genannte Absage an die präskriptive Ethik nahelegt. Argument an der Sache vorbei. Trotz seiner Kritik an der präskriptiven Was hingegen die andere Überlegung Ethik räumt Schopenhauer ein, daß es – in betrifft, so erweist sie sich immerhin als anderer als moralischer Hinsicht – durchkonsequent. Es wurde bereits angedeutet, aus sinnvoll sein kann, dem Menschen ein daß Schopenhauer in Hinblick auf die em- bestimmtes Handeln vorzuschreiben. Alpirische Wirklichkeit eine deterministi- lerdings weist er diese Aufgabe nicht der sche Position einnimmt. Nach seiner Auf- Ethik, sondern der Gesetzgebung zu. Dafassung sind menschliche Handlungen – bei hebt Schopenhauer hervor, daß ein wie alle Ereignisse in der Natur – kausalen enger Zusammenhang zwischen den NorGesetzen unterworfen und geschehen da- men und den Sanktionen besteht, mit deher notwendig: »Wie jede Wirkung in der nen sie verbunden sind: »Jedes Soll hat unbelebten Natur ein nothwendiges Pro- a llen Sinn und Bedeutung schlechterdukt zweier Faktoren ist, nämlich der hier dings nur in Beziehung auf angedrohte sich äußernden allgemeinen Naturkraft Strafe, oder verheißene Belohnung.« und der diese Aeußerung hier hervorru- (E 162 f.; vgl. a. W I 638) Schopenhauer fenden einzelnen Ursache; gerade so ist meint damit, daß Normen erst durch entjede That eines Menschen das nothwen- sprechende Sanktionen ihre praktische dige Produkt seines Charakters und des Wirksamkeit entfalten. Mehr noch, er zielt eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden darauf ab, daß sie sich nicht etwa an freie gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« Wesen richten, sondern lediglich ein Mit(E 95; vgl. a. E 161) Überdies hält Scho- tel darstellen, menschliches Verhalten zu penhauer den Charakter des Menschen – steuern (vgl. a. E 142). So erweisen sie sich und damit auch seine Tugenden und La- weniger als moralisches Phänomen denn ster – für angeboren und unveränderlich als soziales. Es liegt auf der Hand, daß (vgl. W I 379 u. E 92 f.). Unter diesen Vor- gerade diese Deutung des Sollens mit der aussetzungen kann der Mensch nicht an- Ablehnung einer präskriptiven Ethik auf ders handeln, als er tatsächlich handelt. einer Linie liegt. Daher erscheint es – in moralischer Hinsicht – wenig sinnvoll, die Befolgung von Eudämonismus Schopenhauer ist ein Normen von ihm zu verlangen. So kann erklärter Gegner des Eudämonismus, das Schopenhauer die folgenden – rhetorisch heißt, er hält es für verkehrt, den moraligemeinten – Fragen stellen: »Wer sagt euch, schen Wert einer Handlung danach zu be131
Eudämonismus
Lemmata
messen, ob sie dem Glück des Menschen physischer Hinsicht dagegen als Erscheidienlich ist. Er stellt eine Reihe von Über- nung eines und desselben Dinges an sich legungen an, die geeignet erscheinen, die- darbietet. Angesichts der Tatsache, daß ser Einschätzung eine gewisse Plausibili- Schopenhauer die eigentliche Dimension tät zu verleihen. Freilich handelt es sich der Wirklichkeit nicht in der Erscheinung, nicht um Argumente, die wirklich zwin- sondern im Ding an sich bzw. im metagend wären. Zwei der Überlegungen ste- physischen Willen erblickt, kann er das hen in engem Zusammenhang mit dem Individuum sub specie aeternitatis zum Pessimismus, den Schopenhauer mit gro- bloßen Schein degradieren. Natürlich gilt ßer Entschiedenheit vertritt. Die erste das auch für das Glück, das es gelegentlich lautet, daß der Mensch nicht in der Lage erleben mag: »In der That steht alles zeitist, dauerhaftes Glück zu erreichen. Um liche Glück und wandelt alle Klugheit – diese These zu verstehen, muß man sich auf untergrabenem Boden. Sie schützen vergegenwärtigen, daß Glück nach Scho- die Person vor Unfällen und verschaffen penhauer ein »befriedigtes Wollen« (W I ihr Genüsse; aber die Person ist bloße Er643; vgl. a. W II 743) ist. Zwar hält es Scho- scheinung, und ihre Verschiedenheit von penhauer durchaus für möglich, daß ein andern Individuen und das Freiseyn von Schmerz gestillt oder daß einem Mangel den Leiden, welche diese tragen, beruht abgeholfen wird, doch nach seiner Auffas- auf der Form der Erscheinung, dem prinsung hält der Zustand der Befriedigung, cipio individuationis. Dem wahren Weder auf diese Weise erreicht wird, nicht sen der Dinge nach hat Jeder alle Leiden lange an. Vielmehr trete sogleich eine der Welt als die seinigen, ja alle nur mögneue Begierde oder aber Langeweile ein. lichen als für ihn wirklich zu betrachten, In diesem Sinne betont Schopenhauer, solange er der feste Wille zum Leben ist, »[d]aß alles Glück nur negativer, nicht po- d. h. mit aller Kraft das Leben bejaht.« sitiver Natur ist, daß es eben deshalb nicht (W I 440) Die beiden Überlegungen laudauernde Befriedigung und Beglückung fen darauf hinaus, daß dauerhaftes Glück seyn kann, sondern immer nur von einem nicht realisierbar ist und daß Glück, wenn Schmerz oder Mangel erlöst, auf welchen es tatsächlich einmal realisiert wird, leentweder ein neuer Schmerz, oder auch diglich in der empirischen Wirklichkeit languor, leeres Sehnen und Langeweile auftritt, die im Verhältnis zur metaphyfolgen muß« (W I 400 f.; vgl. a. W I 252). sischen Wirklichkeit lediglich Schein ist. Vor diesem Hintergrund wird verständ- Angesichts dieser Umstände erscheint es lich, daß Schopenhauer die Auffassung, verständlich, daß Schopenhauer mit dem das menschliche Leben sei zum Glück be- Eudämonismus einen ethischen Ansatz stimmt, als »angeborenen Irrthum« (W II ablehnt, der das Ziel menschlichen Han743 u. P I 343) zurückweist. In eine ähn- delns im Glück erblickt. Allerdings ist die liche Richtung weist eine weitere Über Konsequenz, die er aus der Unmöglichkeit legung, die Schopenhauer im Zusam- dauerhaften und wirklichen Glücks zieht, menhang mit seiner Lehre von der ewi- keineswegs zwingend. Es ist denkbar, daß gen Gerechtigkeit präsentiert. Es handelt die Ethik dem Menschen ein Ziel vorgibt, sich darum, daß sich der Mensch in empi- das nicht erreichbar ist, sondern lediglich rischer Hinsicht als Individuum, in meta- ein Ideal darstellt. Anderseits wäre es be132
Lemmata fremdend, wenn die Ethik auf ein Ideal setzen würde, das sich letzten Endes als bloßer Schein erweisen würde. Ein dritter Grund dafür, daß Schopenhauer den Eudämonismus verwirft, liegt sicherlich darin, daß er das Streben nach Glück als egoistisch betrachtet. So stuft er die Lehre vom höchsten Gut, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft präsentiert, ausdrücklich als »auf Glücksäligkeit ausgehende, folglich auf Eigennutz gestützte Moral, oder Eudämonismus« (E 164) ein. Träfe es tatsächlich zu, daß der Eudämonismus notwendig in den Egoismus mündet, so könnte ihn Schopenhauer als Vertreter eines altruistischen Ansatzes kaum akzeptieren. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Gleichsetzung des Eudämonismus mit dem Egoismus berechtigt ist. Sicherlich gibt es eudämonistische Ansätze, die auf das Glück des handelnden Individuums abzielen, doch ist es zumindest denkbar, das Glück aller Betroffenen zum Maßstab des moralisch Guten zu erheben. Dies entspräche z. B. der Position des Utilitarismus, mit dem Schopenhauer freilich kaum vertraut gewesen sein dürfte.46 Daher ist das Argument, der Eudämonismus sei aufgrund seiner egoistischen Ausrichtung abzulehnen, nicht sonderlich überzeugend. In historischer Hinsicht könnte man Schopenhauer allerdings insofern entlasten, als er sich mit seiner Gleichsetzung des Eudämonismus mit dem Egoismus einem Irrtum anschließt, der bereits bei Kant auftritt.47 Es 46 Schopenhauer kannte allerdings mit Hobbes und Hume zwei bedeutende Vorläufer des Utilitarismus. 47 Vgl. Immanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Werkausgabe. Bd. VII. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1968 (im folgenden: GMS), BA 90 sowie KpV, A 45 ff.
Freiheit ist durchaus möglich, daß Schopenhauer seine Fehleinschätzung einfach von Kant übernommen hat. Freiheit Der Begriff der Freiheit nimmt in Schopenhauers Denken eine zentrale Stellung ein. Das zeigt sich rein äußerlich daran, daß er Thema einer eigenen Abhandlung – der Preisschrift über die Freiheit des Willens – ist, die anläßlich einer Preisfrage der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften geschrieben und 1841 zusammen mit der Preisschrift über die Grundlage der Moral in dem Band Die beiden Grundprobleme der Ethik veröffentlicht wurde. Freilich geht Schopenhauer auch in anderen Werken – vor allem in Die Welt als Wille und Vorstellung – immer wieder auf das Problem der Freiheit ein. Daß es sich um ein besonders schwerwiegendes Problem handelt, hängt damit zusammen, daß mit der Freiheit auf dem Spiel steht, ob der Mensch für seine Handlungen zur Verantwortung gezogen werden kann und wem die Übel in der Welt, die Schopenhauer so wortreich beklagt, letztlich anzulasten sind. Schopenhauer betrachtet den Begriff der Freiheit insofern als negativ, als er lediglich die »Abwesenheit alles Hindernden und Hemmenden« (E 43) bzw. die »Verneinung der Nothwendigkeit« (W I 361) beinhalte. Je nachdem, wie das Posi tive, welches diese Funktion innehat, geartet ist, differenziert er zwischen drei Formen der Freiheit, denen er recht unterschiedliches Gewicht beimißt: der physischen, der moralischen sowie der intellektuellen Freiheit. Von geringerer Bedeutung sind die physische und die intellektuelle Freiheit, deren Klärung auch keine größeren Probleme bereitet. 133
Freiheit Die physische Freiheit besteht nach Schopenhauer lediglich in der »Abwesenheit der materiellen Hindernisse jeder Art« (E 43). Sie ist gegeben, wenn ein Lebewesen »nur aus seinem Willen handelt, […] wobei keine Rücksicht darauf genommen wird, was etwan auf seinen Willen selbst Einfluß haben mag« (E 44). Schopenhauer stellt zu Recht fest, daß dieser Begriff der Freiheit »keinem Zweifel oder Kontrovers unterworfen ist, sondern seine Realität stets durch die Erfahrung beglaubigen kann« (ebd.). Nun kann man einen Menschen nicht nur physischem, sondern auch psychischem Zwang – etwa in Gestalt von Drohungen oder Versprechungen – aussetzen und dadurch zu erreichen versuchen, daß er anders handelt, als er zunächst handeln wollte. In diesem Fall geht es – laut Schopenhauer – nicht mehr darum, ob jemand tun kann, was er will, sondern darum, ob er an seiner ursprünglichen Absicht festhält oder nicht, also darum, was er unter den gegebenen Umständen will. Es liegt also ein Konflikt zwischen entgegengesetzten Willensregungen vor. Schopenhauer nimmt diesen Unterschied zum Anlaß, den Fall unter den Begriff der moralischen Freiheit zu subsumieren.48 Diese läge nach seiner Auffassung genau dann vor, wenn jemand in der Lage wäre, eine beliebige von mehreren möglichen Handlungen durchzuführen.49 Damit entspricht der Begriff der moralischen Freiheit jenem des liberum arbitrium indifferentiae: 48 Der Ausdruck »moralische Freiheit« ist insofern nicht glücklich gewählt, als ein Konflikt der beschriebenen Art nicht moralisch relevant zu sein braucht. 49 G 63: »Freiheit des Willens bedeutet […], daß einem gegebenen Menschen, in einer gegebenen Lage, zwei verschiedene Handlungen möglich seien.«
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Lemmata »Dieser Begriff ist übrigens der einzige deutlich bestimmte, feste und entschiedene von Dem, was Willensfreiheit genannt wird; daher man sich von ihm nicht entfernen kann, ohne in schwankende, nebelichte Erklärungen […] zu gerathen« (E 49). Was die intellektuelle Freiheit anbelangt, so besteht sie nach Schopenhauer in der angemessenen Kenntnis der Umstände, unter denen eine Handlung ausgeführt wird. Erst wenn ein Mensch über diese Kenntnis verfügt, kann er »sich seiner Natur, d. h. dem individuellen Charakter des Menschen gemäß, entscheiden, also ungehindert, nach seinem selbsteigenen Wesen sich äußern: dann ist der Mensch intellektuell frei, d. h. seine Handlungen sind das reine Resultat der Reaktion seines Willens auf Motive« (E 139). Sind hingegen die Umstände einer Handlung nicht oder nicht hinreichend bekannt, so kann der Mangel an Wissen den Handelnden daran hindern, das zu tun, was er eigentlich tun will. Schopenhauer erläutert das wie folgt: »Diese intellektuelle Freiheit wird aufgehoben entweder dadurch, daß das Medium der Motive, das Erkenntnißvermögen, auf die Dauer oder nur vorübergehend, zerrüttet ist, oder dadurch, daß äußere Umstände, im einzelnen Fall, die Auffassung der Motive verfälschen. Ersteres ist der Fall im Wahnsinn, Delirium, Paroxysmus und Schlaftrunkenheit; letzteres bei einem entschiedenen und unverschuldeten Irrthum, z. B. wenn man Gift statt Arznei eingießt, oder den nächtlich eintretenden Diener für einen Räuber hält und erschießt, u. dgl. m.« (E 140) Ferner legt Schopenhauer dar, daß die intellektuelle Freiheit – etwa durch Affekte oder Rausch – vermindert werden kann. Dabei führe eine Beeinträchtigung der
Lemmata intellektuellen Freiheit zu einer entsprechenden Modifikation der juridischen und moralischen Zurechenbarkeit. Wendet man sich dem Begriff der moralischen Freiheit zu, so stößt man darauf, daß sich Schopenhauer bei der Klärung desselben im wesentlichen an Kant orientiert. Dies bedeutet insbesondere, daß er Kants Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich übernimmt und – ähnlich wie dieser – die Auffassung vertritt, der Bereich der Erscheinung bzw. der empirischen Wirklichkeit sei dem Kausalitätsprinzip und damit der Notwendigkeit unterworfen, während im Bereich des Dinges an sich Freiheit herrsche. Allerdings geht Schopenhauer insofern über Kant hinaus, als er das Ding an sich nicht etwa als unerkennbar einstuft, sondern als den Willen deutet. Vor diesem Hintergrund kann er feststellen: »[D]as Zusammenbestehn dieser Nothwendigkeit mit der Freiheit des Willens an sich, d. h. außer der Erscheinung, hat zuerst Kant, dessen Verdienst hier besonders groß ist, nachgewiesen« (W I 364; vgl. a. W I 612, W II 203 sowie E 122 f. u. 214 f.).50 Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Handlungen des Menschen in der empirischen Wirklichkeit, das Sein desselben hingegen im Willen ansiedelt, ist ohne weiteres nachvollziehbar, daß er dem esse die Freiheit und dem operari die Notwen50 Gelegentlich
bezeichnet Schopenhauer den Willen nicht einfach nur als frei, sondern geradezu als »allmächtig« (W I 377 u. 614 u. W II 375). Sicherlich ist das nicht wörtlich, sondern metaphorisch zu verstehen. Schopenhauer bringt mit dem Prädikat »allmächtig« zum Ausdruck, daß der Wille durch keine Notwendigkeit eingeschränkt ist und daß er darüber hin aus den letzten, metaphysischen Grund der Wirklichkeit bildet, dessen Stelle in der christlichen Tradition von Gott eingenommen wird.
Freiheit digkeit zuschreibt (vgl. W I 502, W II 375 u. 620 sowie E 137 f. u. 217).51 Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den genannten Bereichen spricht Schopenhauer gelegentlich auch von »empirischer Nothwendigkeit« und »transscendentaler Freiheit« (W II 374 f. u. E 137). Schopenhauer begründet die empirische Notwendigkeit mit Hilfe des Satzes vom zureichenden Grunde bzw. einer der vier Formen, in denen er anzutreffen ist. Dabei vertritt er die Auffassung, daß dieser Satz lediglich für den Bereich der Vorstellung, nicht aber für jenen des Dinges an sich gilt. In der Fassung von Wolff, die sich auch Schopenhauer zu eigen macht, lautet er: »Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit.« (G 17) Entscheidend ist nun, daß Schopenhauer unter Notwendigkeit die Abhängigkeit von einem zureichenden Grund versteht: »Nothwendigkeit hat keinen andern wahren und deutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichkeit der Folge, wenn der Grund gesetzt ist.« (G 170; vgl. a. E 47 u. 49) Die für die empirische Notwendigkeit einschlägige Form des Satzes vom zureichenden Grunde ist das Kausalitätsprinzip bzw. der Satz vom zureichenden Grunde des Werdens.52 51 Es
ist nicht ohne weiteres verständlich, wie Schopenhauer dem Willen als Ding an sich, der ja gerade nicht der empirischen Wirklichkeit angehört, ein »Handeln« (W I 344) zuschreiben kann. Handeln setzt nämlich Zeit voraus, und diese gehört dem von Schopenhauer vertretenen transzendentalen Idealismus zufolge lediglich der empirischen Wirklichkeit an. 52 Sicherlich ist auch der Satz vom zureichenden Grunde des Wollens einschlägig, aber dieser stellt letzten Endes eine Variante des Satzes vom zureichenden Grunde des Werdens dar. Das ergibt sich allein schon daraus, daß Schopenhauer die Motivation, welche den Gegenstand desselben bildet, als eine Art der Kausalität betrachtet: »[D]ie Motivation ist die Kausalität von innen gesehn.« (G 162)
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Freiheit Schopenhauer bezeichnet es gelegentlich auch als »Gesetz der Kausalität« (G 49 u. E 97) oder – etwas mißverständlich – als »Kausalitätsgesetz« (E 139). Er formuliert es wie folgt: »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt; so muß ihm ein anderer vorhergegangen seyn, auf welchen der neue regelmäßig, d. h. allemal, so oft der erstere daist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung.« (G 49) Mit anderen Worten, das Kausalitätsprinzip beinhaltet, daß alle Ereignisse durch ihre Ursachen bestimmt sind und damit notwendig geschehen. Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer der Auffassung, daß sich dieses Prinzip durch apriorische Gültigkeit auszeichnet, und er unternimmt – in der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde – ebenfalls den Versuch, sie zu begründen.53 Sollte sich das Kausalitätsprinzip tatsächlich als a priori gültig erweisen, so wären auch menschliche Handlungen kausal determiniert, und dies würde bedeuten, daß sie der Notwendigkeit unterworfen wären. Es gäbe dann in der empirischen Wirklichkeit keine moralische Freiheit. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß Schopenhauer drei Arten von Ursachen unterscheidet, von denen eine für den Bereich des menschlichen Handelns einschlägig ist. Dies sind die Ursache im engeren Sinn, der Reiz sowie das Motiv. Die erstere ist in der unorganischen Natur anzutreffen, der zweite bei den Pflanzen und das letztere bei Wesen, die mit Erkenntnis begabt sind. Dabei fungiert die Erkenntnis als das »Medium der Motive« (G 62), das heißt, der Zustand, der als Ur53
Vgl. G 66 ff.
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Lemmata sache für eine Handlung in Frage kommt, ist ein erkannter. Was die entsprechende Handlung bewirkt, ist nicht der Zustand selbst, sondern der Zustand, wie er sich in der Erkenntnis darbietet. Man könnte auch sagen, daß es die Vorstellung eines Zustands ist, welche die Handlung hervorbringt. Daher charakterisiert Schopenhauer die Motivation als die »durch das Erkennen hindurchgehende Kausalität« (E 70). In diesem Zusammenhang betont Schopenhauer, daß es unterschiedliche Formen der Erkenntnis gibt. Während die Tiere lediglich über anschauliche, an die Gegenwart gebundene Erkenntnis verfügten, sei der Mensch mit der Vernunft auch mit der Fähigkeit ausgestattet, sich über die Gegenwart zu erheben und abstrakte Erkenntnis zu erlangen. Schopenhauer ist sich darüber im klaren, daß der Abstand zwischen der Handlung und dem, was sie auslöst, beim Motiv größer ist als bei einer Ursache im engeren Sinn oder einem Reiz und daß er gerade bei einem abstrakten Motiv besonders groß ist. Dennoch besteht er darauf, daß ein Motiv eine Ursache ist und mit der Notwendigkeit wirkt, die jeder Ursache eigentümlich ist: »Motiv wird der Gedanke, wie die Anschauung Motiv wird, sobald sie auf den vorliegenden Willen zu wirken vermag. Alle Motive aber sind Ursachen, und alle Kausalität führt Nothwendigkeit mit sich.« (E 74; vgl. a. E 78) Darüber hinaus weist Schopenhauer auch das Ansinnen zurück, das Motiv als causa finalis von der Ursache als causa efficiens abzugrenzen.54 Dies bedeutet, daß 54
W II 388: »Denn, was man auch zwischen den Willensakt und die Körperbewegung physiologisch einschieben möchte, immer bleibt hier eigenständlich der Wille das Bewegende, und was ihn bewegt, ist das von außen kommende Motiv, also die causa finalis; welche folg-
Lemmata er die Möglichkeit ausschließt, dem Motiv einen anderen Rang als den einer Ursache zu verleihen und es auf diese Weise aus dem Bereich dessen, was eine notwendige Folge mit sich bringt, herauszulösen. Vielmehr besteht Schopenhauer darauf, daß »nothwendig seyn und Folge eines gegebenen Grundes seyn Wechselbegriffe sind« (E 67). So kann er resümieren: »Kurzum, der Determinismus steht fest: an ihm zu rütteln haben nun schon anderthalb Jahrtausende vergeblich sich bemüht, dazu getrieben durch gewisse Grillen, welche man wohl kennt, jedoch noch nicht so ganz bei ihrem Namen nennen darf. In Folge seiner aber wird die Welt zu einem Spiel mit Puppen, an Drähten (Motiven) gezogen; ohne daß auch nur abzusehn wäre, zu wessen Belustigung: hat das Stück einen Plan, so ist ein Fatum, hat es keinen, so ist die blinde Nothwendigkeit der Direktor.« (W II 375 f.) Freilich wird eine Handlung nicht allein durch das Motiv bestimmt. Wie dieses wirkt, hängt – nach Schopenhauer – ganz entscheidend davon ab, welchen Charakter das betreffende Individuum hat: »Die Nothwendigkeit, mit der […] die Motive, wie alle Ursachen überhaupt, wirken, ist keine voraussetzungslose. Jetzt haben wir ihre Voraussetzung […] kennen gelernt: es ist der angeborene, individuelle Charakter. Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeußerung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Molich hier als causa efficiens auftritt.« Eine Begründung für diese – doch recht merkwürdige – Folgerung bleibt Schopenhauer indes schuldig.
Freiheit tivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95; vgl. a. W I 158 sowie W II 203 u. 375) Dabei nimmt Schopenhauer an, daß der Charakter nicht nur angeboren, sondern auch unveränderlich ist. Würde eine Handlung tatsächlich durch den Charakter sowie das Motiv determiniert werden, so ergäbe sich daraus, daß sie, sofern beide Faktoren – Charakter sowie Motiv – bekannt wären, vorhergesagt werden könnte. Angesichts dessen, was bisher dargelegt wurde, ist es keineswegs überraschend, daß Schopenhauer – wie bereits Kant – zu genau dieser Folgerung gelangt: »[E]s ließe sich auch, wie Kant sagt, wenn nur der empirische Charakter und die Motive vollständig gegeben wären, des Menschen Verhalten, auf die Zukunft, wie eine Sonnen- oder Mondfinsterniß ausrechnen.« (W I 367; vgl. a. N 274 sowie E 95 u. 122 f.) Natürlich ist sich Schopenhauer darüber im klaren, daß eine derartige Prognose in den meisten Fällen mißlingt. Er führt dies allerdings nur darauf zurück, daß keine ausreichende Kenntnis des Charakters und der Motive vorliegt. So macht er geltend, daß »theils der Charakter sehr schwer zu erforschen, theils auch das Motiv oft verborgen und stets der Gegenwirkung anderer Motive, die allein in der Gedankensphäre des Menschen, Andern unzugänglich, liegen, bloßgestellt [ist]« (E 95). Auf die Möglichkeit, daß eine Vorhersage menschlicher Handlungen aus anderen Gründen – z. B. weil sie nicht determiniert sind – scheitert, geht Schopenhauer gar nicht erst ein. Natürlich nimmt Schopenhauer zur Kenntnis, daß andere Denker hinsichtlich der empirischen Wirklichkeit eine indeterministische Position einnehmen. Nach seiner Auffassung befinden sie sich im 137
Freiheit Unrecht und sitzen allenfalls dem »Schein der empirischen Freiheit des Willens« (W I 367) auf. Daß es zu diesem Irrtum kommt, versucht Schopenhauer durch eine ganze Reihe von Überlegungen zu erklären. So legt er dar, daß der Mensch aufgrund seiner Vernunft die Möglichkeit besitzt, über mehrere Handlungsalternativen nachzudenken, bevor er tatsächlich eine von ihnen realisiert. Dies verleite ihn zu der Annahme, er könne sich frei zwischen den Möglichkeiten, die sich darbieten, entscheiden. In Wirklichkeit aber werde die Handlung trotz der Reflexion, die ihr vorhergehen könne, mit Notwendigkeit durch das stärkste Motiv verursacht: »Obgleich nun Thier und Mensch mit gleicher Nothwendigkeit durch die Motive bestimmt werden, so hat doch der Mensch eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Thiere voraus, welche auch oft für eine Freiheit des Willens in den einzelnen Thaten angesehn worden, obwohl sie nichts Anderes ist, als die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann mit Nothwendigkeit bestimmt.« (W I 373) Dabei ist der Ausdruck »Wahlentscheidung« keineswegs wörtlich zu nehmen, sondern Schopenhauer betont, daß sich der Unterschied zwischen Mensch und Tier in der »Deliberationsfähigkeit« (W I 374) erschöpfe, die ersterer im Gegensatz zu letzterem besitze.55 Welches der Motive sich letztlich durchsetzt, hängt nach Schopenhauer nicht vom Intellekt, sondern vom Charakter bzw. Willen 55 Schopenhauer
billigt dem Menschen im Unterschied zum Tier insofern »relative Freiheit« zu, als er dank seiner Deliberationsfähigkeit »frei vom unmittelbaren Zwange der anschaulich gegenwärtigen, auf seinen Willen als Motive wirkenden Objekte« (E 74) ist.
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Lemmata ab. Dieser weise eine Eigentümlichkeit auf, in der ein weiterer Grund dafür liege, daß sich der Mensch fälschlich als frei betrachte. Genauer gesagt handelt es sich darum, daß sich der Charakter nicht ohne weiteres erkennen lasse: »Der Intellekt nämlich erfährt die Beschlüsse des Willens erst a posteriori und empirisch. Demnach hat er, bei einer vorliegenden Wahl, kein Datum darüber, wie der Wille sich entscheiden werde. Denn der intelligible Charakter, vermöge dessen, bei gegebenen Motiven, nur eine Entscheidung möglich und diese demnach eine nothwendige ist, fällt nicht in die Erkenntniß des Intellekts, sondern bloß der empirische wird ihm, durch seine einzelnen Akte, successiv bekannt. Daher also scheint es dem erkennenden Bewußtseyn (Intellekt), daß, in einem vorliegenden Fall, dem Willen zwei entgegengesetzte Entscheidungen gleich möglich wären.« (W I 365 f.; vgl. a. W I 379 u. E 56) Schließlich macht Schopenhauer geltend, der Mensch sei sich bewußt, daß er als Ding an sich frei sei, und übertrage diese Einsicht irrtümlich auf den Bereich der Erscheinung, die – wie erläutert wurde – dem Satz vom Grunde des Werdens bzw. dem Kausalitätsprinzip unterworfen sei: »Die Grundlosigkeit des Willens hat man auch wirklich da erkannt, wo er sich am deutlichsten manifestirt, als Wille des Menschen, und diesen frei, unabhängig genannt. Sogleich hat man aber auch, über die Grundlosigkeit des Willens selbst, die Nothwendigkeit, der seine Erscheinung überall unterworfen ist, übersehn, und die Thaten für frei erklärt, was sie nicht sind, da jede einzelne Handlung aus der Wirkung des Motivs auf den Charakter mit strenger Nothwendigkeit folgt.« (W I 158; vgl. a. W I 363 f. u. 614 f. sowie N 274)
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Im Gegensatz zur empirischen Wirk- der Allmacht jenem der Aseität an, mit lichkeit fällt das Ding an sich bzw. der der er den Willen folgerichtig ausstattet. Wille nach Schopenhauer nicht unter den Mehr noch, er betont, daß Freiheit notSatz vom zureichenden Grunde. Insofern wendig Aseität beinhaltet. Der Wille ist ist es »grundlos« bzw. »frei« (W I 158, 359 für ihn »schlechthin freier Wille«, und »eiu. 361, W II 374 u. 620 sowie E 48). Scho- nem solchen Willen muß dann aber auch penhauer geht noch einen Schritt weiter Aseität zukommen« (W II 374). Ähnlich und stuft den Willen gelegentlich sogar gilt für die moralische Dimension des als »allmächtig« (W I 344, 377 u. 614 so- Willens: »Soll hingegen ein Wesen morawie W II 375) ein. Damit ist freilich nicht lisch frei seyn; so darf es nicht geschaffen gemeint, daß der Wille fähig sei, jeden seyn, sondern muß Aseität haben, d. h. ein beliebigen Sachverhalt hervorzubringen. ursprüngliches, aus eigener Urkraft und Abgesehen von den Schwierigkeiten, die Machtvollkommenheit existirendes seyn, der Begriff der Allmacht schon als sol- und nicht auf ein anderes zurückweisen.« cher mit sich bringt, könnte man diese (P I 77; vgl. a. E 113 f., P I 141 u. P II 256) These auch deshalb kaum nachvollziehen, Unter der Voraussetzung, daß ein Weweil sie beinhalten würde, daß der Wille sen nur dann frei ist, wenn es in sich selbst als Ding an sich eine Handlung vollzieht. gründet, wäre selbstverständlich nur der Zwar schreibt ihm Schopenhauer tatsäch- Wille als Ding an sich frei. Alle anderen lich ein »Handeln« (W I 344) zu, doch als Entitäten wären determiniert. Darüber Ding an sich ist der Wille nicht zeitlich, hinaus beinhaltet die Abhängigkeit der und wie eine Entität, die nicht zeitlich ist, Freiheit von der Aseität, daß ein Wesen, eine Handlung ausführen soll, bleibt im das bestimmte Eigenschaften von einem dunkeln. Es scheint, als laufe der Begriff anderen Wesen erhalten hat, nicht frei einer zeitlosen Handlung geradezu auf sein kann. Dabei argumentiert Schopeneine contradictio in adiecto hinaus. An- hauer, daß solch ein Wesen nicht nur seine gesichts dieses Befundes dürfte die All- Existenz, sondern auch seine Essenz von macht des Willens eher darin bestehen, seinem Schöpfer empfangen hätte und daß er von nichts anderem abhängt und daß es genau deswegen nicht frei sei: vielmehr alles andere von ihm. In diesem »Daß der Schöpfer den Menschen frei geSinne stellt Schopenhauer fest: »In Folge schaffen habe, besagt eine Unmöglichkeit, unserer ganzen Ansicht aber ist der Wille nämlich daß er ihm eine existentia ohne nicht nur frei, sondern sogar allmächtig: essentia verliehen, also ihm das Daseyn aus ihm ist nicht nur sein Handeln, son- bloß in abstracto gegeben habe, indem er dern auch seine Welt; und wie er ist, so er- ihm überließ, als was er daseyn wolle.« scheint sein Handeln, so erscheint seine (P I 141) Gegen diese Auffassung könnte Welt: seine Selbsterkenntniß sind Beide man einwenden, daß solche Eigenschafund sonst nichts: er bestimmt sich und ten die Freiheit zwar einschränken köneben damit Beide: denn außer ihm ist nen, aber keineswegs aufheben müssen. nichts, und sie sind er selbst: nur so ist er Daß eine durch Vorgaben begrenzte, endwahrhaft autonomisch; nach jeder andern liche Freiheit möglich ist, kann SchopenAnsicht aber heteronomisch.« (W I 344 f.) hauer – im Ausgang von der Prämisse, die Damit nähert Schopenhauer den Begriff er nun einmal gewählt hat – nicht zuge139
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stehen. Es drängt sich allerdings der VerZwar ist Schopenhauer insofern konsedacht auf, diese lasse sich nicht ohne wei- quent, als er die Freiheit in einen Bereich teres als einsichtig erweisen. jenseits der empirischen Wirklichkeit verAus der Annahme, allein der Wille als lagert, doch handelt er sich dabei eine Ding an sich, nicht aber empirische Enti- Reihe anderer Schwierigkeiten ein. Diese täten seien frei, ergeben sich schwerwie- betreffen das Verhältnis des intelligiblen gende Konsequenzen für die Frage der Charakters zur Freiheit sowie zum Ding Verantwortung des Menschen für seine an sich. Bald heißt es, die Freiheit liege Handlungen. Schopenhauer ist sich dar- »im Charakter des Menschen« (E 135), über im klaren, daß Verantwortung nicht bald heißt es, das »Seyn und Wesen (exiohne Freiheit zu denken ist: »Soll […] ein stentia et essentia) des Menschen« (E 137), Wesen für sein Thun verantwortlich, also also auch der intelligible Charakter, sei soll es zurechnungsfähig seyn; so muß es als »seine freie That« (ebd.) bzw. als ein frei seyn.« (P I 77) Mehr noch, er nimmt »Werk unserer Freiheit« (ebd.) zu betrachden Umstand, daß sich der Mensch für ten.56 Während der intelligible Charakter seine Handlungen verantwortlich fühlt, im einen Fall selbst als frei eingestuft wird, durchaus ernst, und er versucht ihn auch wäre er im anderen eine Instanz, die ledigzu erklären. Nach allem, was bisher erläu- lich aus Freiheit resultieren würde. Vergetert wurde, kommt nicht etwa der Mensch genwärtigt man sich, daß Schopenhauer als empirisches Wesen als Träger der Ver- den Charakter als angeboren und unverantwortung in Frage, sondern allenfalls änderlich einstuft, so erscheint der zweite eine Entität, die jenseits der empirischen Vorschlag angemessener. So erklärt SchoWirklichkeit angesiedelt ist. In diesem penhauer auch im ersten Band seines Sinne betont Schopenhauer: »Der empiri- Hauptwerks, daß das »innerste Wesen des sche Charakter nämlich ist, wie der ganze Menschen selbst, der Dämon, der ihn leiMensch, als Gegenstand der Erfahrung tet«, einer ist, »der nicht ihn, sondern den eine bloße Erscheinung, daher an die For- er [der Mensch] selbst gewählt hat« (W I men aller Erscheinung, Zeit, Raum und 343), und setzt diesen ausdrücklich mit Kausalität gebunden und deren Gesetzen dem intelligiblen Charakter gleich. – Was unterworfen: hingegen ist die als Ding an sich von diesen Formen unabhängige 56 Zieht man andere einschlägige Stelund deshalb keinem Zeitunterschied un- len heran, so stößt man darauf, daß Schopenterworfene, mithin beharrende und un- hauer dort ebenfalls in seinen Formulierungen schwankt. So bezeichnet er das, was aus Freiheit veränderliche Bedingung und Grundlage resultiert, als »Daseyn« (W I 616) oder »Entdieser ganzen Erscheinung sein intelli- stehn des Menschen« (W II 707) oder aber als gibler Charakter, d. h. sein Wille als Ding seinen »individuellen Charakter« (P II 247). an sich, welchem, in solcher Eigenschaft, Stuft er dies alles als »Akt seiner Freiheit« (W I 616), »That seines freien Willens« (W II allerdings auch absolute Freiheit, d. h. Un- 707) und »freie That« (P II 247) ein, so ist dies abhängigkeit vom Gesetze der Kausalität insofern problematisch, als mit dem Dasein und (als einer bloßen Form der Erscheinun- dem Charakter etwas als frei hingestellt wird, gen) zukommt. […] Vermöge dieser Frei- was selbst schwerlich eine Tat, sondern allenfalls das Ergebnis einer solchen sein kann. Anheit sind alle Thaten des Menschen sein derseits erscheint es durchaus korrekt, das Enteigenes Werk« (E 137). stehen von etwas als Akt zu charakterisieren. 140
Lemmata hingegen das Verhältnis des intelligiblen Charakters zum Ding an sich anbelangt, so erscheint die Gleichsetzung beider, die Schopenhauer gelegentlich suggeriert, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Zwar könnte man den intelligiblen Charakter im übertragenen Sinn insofern als Ding an sich einstufen, als er das ist, was im empirischen Charakter erscheint, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß er sich deutlich von dem unterscheidet, was Schopenhauer üblicherweise unter dem Ding an sich versteht. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß es nach Schopenhauer lediglich ein Ding an sich, aber eine Vielzahl intelligibler Charaktere gibt, welche das »Wesen an sich« (E 217) des jeweiligen Dinges ausmachen. Darüber hinaus ist ins Feld zu führen, daß Schopenhauer den intelligiblen Charakter als Idee und die Ideen als Akte oder Objektivationen des Willens als Ding an sich hinstellt. Unter dieser Voraussetzung fiele der intelligible Charakter ebenfalls nicht mit dem Willen als Ding an sich in eins, sondern er ginge daraus hervor. – Als frei wäre der intelligible Charakter allenfalls insofern einzustufen, als er nicht der – unter dem Satz vom zureichenden Grunde stehenden – empirischen Wirklichkeit angehört. Eine für die menschliche Verantwortung relevante Freiheit käme jedoch allein der Instanz zu, aus deren Wahl er hervorgeht und deren Werk er ist. Diese aber ist nicht der Mensch als empirisches Wesen, sondern der Wille als Ding an sich. Damit gäbe es zwar eine Verantwortung für das Handeln des Menschen, doch wäre sie keine menschliche, sondern eine metaphysische. Obgleich Schopenhauer klar zwischen der Notwendigkeit, die in der empirischen Wirklichkeit herrscht, und der Freiheit
Freiheit des Willens als eines Dinges an sich unterscheidet, ist er überzeugt, daß sich letztere gelegentlich in der Welt der Erscheinung bzw. Vorstellung bemerkbar macht. Nach seiner Auffassung geschieht dies genau dann, wenn der Mensch das principium individuationis durchschaut und wenn infolge dieser Einsicht die Bejahung des Willens zum Leben in eine Verneinung desselben umschlägt. In diesem Fall ändert sich das Verhalten des Menschen dergestalt, daß die Motive, die ursprünglich eine Bejahung des Willens ausgelöst haben, nicht mehr wirksam sind. Schopenhauer charakterisiert diesen Vorgang auch als »Aufhebung und Selbstverneinung« bzw. »Selbstverleugnung« des Willens (W I 362, 378 u. 499), und er charakterisiert die Erkenntnis, die ihr zugrunde liegt, als »Quietiv« (W I 484 u. 500). Nun behauptet Schopenhauer, »daß die Freiheit, welche sonst, als nur dem Ding an sich zukommend, nie in der Erscheinung sich zeigen kann, in solchem Fall auch in dieser hervortritt und, indem sie das der Erscheinung zum Grunde liegende Wesen aufhebt, während diese selbst in der Zeit noch fortdauert, einen Widerspruch der Erscheinung mit sich selbst hervorbringt und gerade dadurch die Phänomene der Heiligkeit und Selbstverleugnung darstellt« (W I 362). Was aber heißt es genau, daß die Freiheit »in der Erscheinung eintreten kann« (W I 363) oder »hervortritt« (W I 378), daß eine »Aeußerung« oder »Erscheinung« der Freiheit (ebd.) vorliegt? Angesichts der Tatsache, daß die empirische Wirklichkeit unter dem – a priori geltenden und damit streng allgemeinen – Satz vom zureichenden Grunde des Werdens bzw. dem Kausalitätsprinzip steht, kann schlechterdings nicht gemeint sein, daß die empirische Notwendigkeit 141
Freiheit
Lemmata
auf einmal durchbrochen wird. So hebt sondern eine Aufhebung des Charakters Schopenhauer hervor: »[Die Person] ist vor: »Daher kann der Charakter sich zwar nie frei, obwohl sie die Erscheinung eines nimmermehr theilweise ändern […]: aber freien Willens ist« (W I 363).57 Vielmehr eben dieses Ganze, der Charakter selbst, geht es Schopenhauer darum, daß in der kann völlig aufgehoben werden, durch die Verneinung des Willens eine Freiheit zum oben angegebene Veränderung der ErAusdruck kommt, die nicht empirisch, kenntniß.« (ebd.) Gegen die erste Übersondern metaphysisch ist. Das »der Er- legung ist einzuwenden, daß die fragliche scheinung zum Grunde liegende Wesen«, Erkenntnis offenbar eine Veränderung das aufgehoben wird, ist der sich beja- des Charakters bewirkt, gegen die zweite hende Wille des betreffenden Menschen hingegen, daß auch eine Aufhebung eibzw. sein Charakter (W I 498; vgl. a. W I nes Zustands eine Veränderung ist, und 504). Allerdings bringt dieser Vorschlag zwar in Hinblick darauf, ob dieser besteht eine erhebliche Schwierigkeit mit sich: oder nicht. Allerdings scheint es, als hätte Einer seits betont Schopenhauer immer Schopenhauer den Widerspruch auf anwieder, der Charakter sei unveränderlich, dere Weise vermeiden können. Er hätte anderseits soll die Verneinung des Wil- zur Annahme greifen können, daß die lens auf einer Modifikation des Charak- Verneinung des Willens eine bereits im ters beruhen. Dabei ist sich Schopenhauer Charakter angelegte Möglichkeit ist, die des Widerspruchs, in den er sich verstrickt, erst durch die Einsicht in das principium durchaus bewußt, und er unternimmt zwei individuationis realisiert wird.58 – Um zu – allerdings wenig überzeugende – Ver- unterstreichen, daß die Freiheit, die zur suche, ihn zu überwinden. Zum einen er- Verneinung des Willens führt, nicht dem klärt er, »daß der Zustand, in welchem der Menschen als einem empirischen Wesen Charakter der Macht der Motive entzogen zukommt, erklärt Schopenhauer: »[S]o ist ist, nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, auch jene Verneinung des Wollens, jener sondern von einer veränderten Erkennt- Eintritt in die Freiheit, nicht durch Vornißweise« (W I 498), und zum andern ar- satz zu erzwingen, sondern geht aus dem gumentiert er, es liege keine Veränderung, innersten Verhältniß des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher 57 Freilich scheint Schopenhauer dieser Aufplötzlich und wie von außen angeflogen.« fassung etwas weiter oben zu widersprechen. Er (W I 499) Hält man sich zudem vor Augen, erklärt, daß beim Eintreten der Freiheit in die empirische Wirklichkeit »nicht nur der Wille an daß die Verneinung des Willens auf die sich, sondern sogar der Mensch allerdings frei Erlösung des Menschen hinausläuft, so genannt und dadurch von allen andern Wesen läßt sich nachvollziehen, daß sich Schounterschieden werden [kann].« (W I 363) Sieht man jedoch etwas genauer hin, so entdeckt man, daß der Mensch lediglich in einem bestimmten Sinne als frei gelten kann, ohne daß eine Ausnahme von der empirischen Notwendigkeit gegeben wäre. Gemeint dürfte sein, daß sich der Mensch dadurch von anderen Wesen abhebt, daß allein er das principium individuationis durchschauen kann, und daß er infolge dieser Erkenntnis nicht mehr gezwungen ist, den Willen zum Leben zu bejahen.
142
58 Übrigens setzt Schopenhauer in seiner Lehre vom erworbenen Charakter ebenfalls voraus, daß im Charakter ein unveränderlicher Kern ohne weiteres mit Modifikationen im Detail vereinbar ist. – Für diesen Vorschlag spräche darüber hinaus, daß er sich mit Schopenhauers Auffassung, der intelligible Charakter sei eine Idee und als solche ewig, vertragen würde.
Lemmata
Gefühl
penhauer einer religiös gefärbten Sprache die abstrakte Erkenntnis einschätzt, läßt bedient, um die metaphysische Wirklich- sich nachvollziehen, daß er sie unter den keit, in der Freiheit herrscht, von der em- Begriff des Gefühls subsumiert (vgl. W I pirischen abzugrenzen: »Nothwendigkeit 88 u. 126). Damit spricht er diesem auch ist das Reich der Natur; Freiheit ist das eine kognitive Relevanz zu. Das gilt nicht Reich der Gnade.« (ebd.) Was schließlich zuletzt in Hinblick auf die Philosophie, die Instanz betrifft, der Schopenhauer deren Aufgabe sich darin erschöpft, die den fraglichen Akt der Freiheit zuschreibt, ursprünglich intuitive Einsicht in das Weso ist dies nicht der intelligible Charakter sen der Wirklichkeit nachträglich in Beselbst, sondern der Wille als Ding an sich, griffe zu fassen: »Die Philosophie kann dem er sich letztlich verdankt. In diesem nirgends mehr thun, als das Vorhandene Sinne spricht Schopenhauer ausdrücklich deuten und erklären, das Wesen der Welt, von der »Freiheit des Willens an sich, sich welches in concreto, d. h. als Gefühl, Jeselbst zu verneinen und den Charakter, dem verständlich sich ausspricht, zur mit aller auf ihn gegründeten Nothwen- deutlichen, abstrakten Erkenntniß der digkeit der Motive aufzuheben« (W I 504). Vernunft bringen, Dieses aber in jeder möglichen Beziehung und von jedem GeGefühl Schopenhauer geht in zwei unter sichtspunkt aus.« (W I 343 f.)59 schiedlichen Zusammenhängen auf den Darüber hinaus wendet sich SchopenBegriff des Gefühls ein. Zunächst hebt er hauer im Rahmen seiner Lehre vom Wilhervor, daß sich dieser in erster Linie ne- len dem Begriff des Gefühls zu. In diesem gativ – in Abgrenzung gegen das abstrakte, Zusammenhang vertritt er die Auffasin Begriffen festgehaltene Wissen – dar- sung, daß all die affektiven und emotiobietet: »In dieser Hinsicht ist nun der ei- nalen Regungen, die als Gefühle in Begentliche Gegensatz des Wissens das Ge- tracht kommen, letzten Endes im Willen fühl […]. Der Begriff, den das Wort Gefühl gründen: »Dem sogenannten innern Sinn bezeichnet, hat durchaus nur einen negati- liegt […] nichts vor, als der eigene Wille, ven Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, das auf dessen Bewegungen eigentlich auch im Bewußtseyn gegenwärtig ist, nicht Be- alle sogenannten innern Gefühle zurückgriff, nicht abstrakte Erkenntniß der Ver- zuführen sind.« (E 61)60 Daß eine überaus nunft sei: übrigens mag es seyn, was es will, 59 Ähnliches gilt – nach Schopenhauer – für es gehört unter den Begriff Gefühl, dessen unmäßig weite Sphäre daher die hete- die Grundlagen der Ethik (vgl. W I 417 u. 456 sowie E 247 ff.). rogensten Dinge begreift, von denen man 60 Dabei kann sich Schopenhauer auf Augu nimmer einsieht, wie sie zusammenkom- stinus berufen (vgl. E 51 u. W II 235). – Eine gemen, so lange man nicht erkannt hat, daß nauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen sie allein in dieser negativen Rücksicht, den fraglichen Begriffen wie »Affekt«, »Gefühl« und »Leidenschaft« bleibt Schopenhauer nicht abstrakte Begriffe zu seyn, überein- schuldig. Bald klingen seine Formulierungen, stimmen.« (W I 87; vgl. a. W I 89 u. 123) als ob er sie voneinander unterscheiden wolle Angesichts der Tatsache, daß Schopen- (vgl. G 160), bald stellt er sie nebeneinander, hauer von der Möglichkeit einer intuiti- ohne daß ersichtlich würde, ob er sie als Synonyme auffaßt oder nicht (vgl. W II 279 u. 527), ven, nicht begrifflich verfaßten Erkennt- bald scheint er sie als Synonyme zu behandeln nis überzeugt ist, ja diese sogar höher als (vgl. W I 326). 143
Gehirn enge Beziehung zwischen beidem – dem Willen und den Gefühlen – besteht, betont Schopenhauer auch in seinen Überlegungen zur Musik: »Sie [die Melodie] erzählt folglich die Geschichte des von der Besonnenheit beleuchteten Willens […]; aber sie sagt mehr, sie erzählt seine geheimste Geschichte, malt jede Regung, jedes Streben, jede Bewegung des Willens, alles Das, was die Vernunft unter den weiten und negativen Begriff Gefühl zusammenfaßt und nicht weiter in ihre Abstraktionen aufnehmen kann. Daher auch hat es immer geheißen, die Musik sei die Sprache des Gefühls und der Leidenschaft« (W I 326). Gehirn Schopenhauer bezieht das Gehirn in seine Überlegungen zur Erkenntnis ein, weil er sich nicht mit einem transzendentalen Ansatz begnügen, sondern diesem einen physiologischen zur Seite stellen möchte. Gelegentlich spricht er in diesem Zusammenhang auch von einer subjektiven, idealistischen, und einer objektiven, realistischen Betrachtungsweise bzw. davon, daß es die Erkenntnis von innen und von außen einsichtig zu machen gelte (vgl. W II 59, 286, 303, 318 f. u. 334). Obgleich bereits in frühen Schriften wie Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813) sowie Ueber das Sehn und die Farben (1816) physiologische Erwägungen eine bedeutende Rolle spielen, nimmt ihr Gewicht in der Abhandlung Ueber den Willen in der Natur (1836) sowie im zweiten Band von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844) merklich zu.61
61
Einschlägig sind vor allem das 20. und das 22. Kapitel (»Objektivation des Willens im thierischen Organismus« und »Objektive Ansicht des Intellekts«) dieses Werks.
144
Lemmata Aus physiologischer Perspektive erblickt Schopenhauer in der Erkenntnis – insbesondere der intellektuellen Komponente derselben bzw. dem »Intellekt« – eine »Funktion des Gehirns« (N 219 f. sowie W II 29, 234, 252, 272, 286 f. u. 302).62 Im einzelnen nennt er die apriorischen Formen der Erkenntnis wie Raum, Zeit und Kausalität (vgl. W II 29, 234 u. 334) sowie auch Vermögen wie den Verstand (vgl. G 67 u. N 270) bzw. die Vernunft (vgl. W II 29 u. 322 f.), die für die anschauliche bzw. die abstrakte Erkenntnis zuständig sind. Um seine Auffassung zu begründen, macht Schopenhauer geltend, das Gehirn sei eine Bedingung dafür, daß es Bewußtsein (vgl. W II 234) – sei es der Außenwelt oder des eigenen Selbst (vgl. W II 324 u. P I 250) – gebe. Damit aber biete sich der Intellekt geradezu als »physisch« (W II 287) dar. Weiter führt Schopenhauer aus, daß die Anschauung der äußeren Wirklichkeit erst dadurch möglich wird, daß Empfindungen entsprechend durch das Gehirn verarbeitet werden: »Alles Objektive, Ausgedehnte, Wirkende, also alles Materielle […] ist durchgegangen durch die Maschinerie und Fabrikation des Gehirns und also eingegangen in deren Formen, Zeit, Raum und Kausalität« (W I 58; vgl. a. W II 28 f., 35 u. 299).
62 Gelegentlich
benutzt Schopenhauer Formulierungen, die eine – der These einer wechselseitigen Ergänzung des subjektiven und des objektiven Standpunktes (vgl. P II 19 u. 41) zuwiderlaufende – Identifizierung des Intellekts mit dem Gehirn suggerieren. So heißt es, der Intellekt sei »die bloße Funktion des Gehirns« (W II 272), oder aber: »Intellekt und Gehirn sind Eins« (W II 467). Demgegenüber klingt es weniger verfänglich, wenn Schopenhauer erklärt, daß die Erkenntnis »repräsentirt [ist] durch das Gehirn« (W I 202) oder »materiell sich darstell[t] als […] Gehirn« (E 71).
Lemmata Obgleich man darüber streiten mag, ob sich formale Bedingungen der Erkenntnis wie Raum, Zeit und Kausalität auf derselben Stufe wie das Gehirn ansiedeln lassen, kann man letzteres durchaus als materielle Grundlage der ersteren deuten. So erklärt Schopenhauer: »Hier also kommt unsere objektive und daher großentheils physiologische Betrachtung des Intellekts seiner [Kants] transscendentalen entgegen, ja, tritt, in gewissem Sinne, sogar als eine Einsicht a priori in dieselbe auf, indem sie, von einem außerhalb derselben genommenen Standpunkt, uns genetisch und daher als nothwendig erkennen läßt, was jene, von Thatsachen des Bewußtseyns ausgehend, auch nur thatsächlich darlegt.« (W II 334) Aus der – an sich korrekten – Beobachtung, daß die Anschauung der äußeren Wirklichkeit auf das Gehirn angewiesen ist, folgert Schopenhauer, diese sei – im Sinne des transzendentalen Idealismus – als bloße Erscheinung oder Vorstellung zu deuten: »Denn in Folge unserer objektiven Betrachtung des Intellekts ist die Welt als Vorstellung […] zunächst nur ein physiologisches Phänomen, eine Funktion des Gehirns, welche dieses, zwar auf Anlaß gewisser äußerer Reize, aber doch seinen eigenen Gesetzen gemäß vollzieht. Demnach versteht es sich zum voraus, daß was in dieser Funktion selbst, mithin durch sie und für sie vorgeht, keineswegs für die Beschaffenheit unabhängig von ihr vorhandener und ganz von ihr verschiedener Dinge an sich gehalten werden darf, sondern zunächst bloß die Art und Weise dieser Funktion selbst darstellt, als welche immer nur eine sehr untergeordnete Modifikation durch das von ihr völlig unabhängig Vorhandene, welches als Reiz sie in Bewegung setzt, erhalten kann.« (ebd.)
Gehirn Bei anderer Gelegenheit stuft Schopenhauer die empirische Wirklichkeit daher als »Gehirnphänomen« (W II 34 u. 286) oder – drastischer – als »eine gewisse Bewegung oder Affektion der Breimasse im Hirnschädel« (W II 319) ein. Freilich ist diese Argumentation aus zwei Gründen nicht überzeugend: Zum einen ergibt sich aus der Abhängigkeit der Vorstellung der äußeren Wirklichkeit von einer subjektiven Bedingung wie dem Gehirn keineswegs, daß sie auch selbst nur subjektiv, also bloßes Phänomen ist, und zum andern stellt das Gehirn, aus dessen Vermittlung die Subjektivität der Vorstellung abgeleitet wird, eine reale Voraussetzung dar, die nicht mit dem Idealismus, zu dem sie führen soll, kompatibel ist. Im Ausgang vom Gehirn könnte Schopenhauer allenfalls zu einem kritischen Realismus, nicht aber zum transzendentalen Idealismus gelangen.63 Darüber hinaus zeigt sich die Abhängigkeit der Erkenntnis vom Gehirn, wie Schopenhauer darlegt, auch daran, daß die Leistungsfähigkeit der ersteren jene des letzteren zur Voraussetzung hat. Wie stark oder schwach beide letztlich sind, liegt an den Bedürfnissen des jeweiligen Lebewesens: »Demgemäß sehn wir das Organ der Intelligenz, also das Cerebralsystem, sammt den Sinneswerkzeugen, mit der Steigerung der Bedürfnisse und der Komplikation des Organismus gleichen Schritt halten, und die Zunahme des vorstellenden Theiles des Bewußtseyns (im Gegensatz des wollenden) sich kör63 Ginge
man hingegen von einer idealisti schen Deutung des Gehirns aus, so wäre das, was zu beweisen wäre, nämlich der Idealismus, bereits vorausgesetzt. In diesem Fall widerspräche sich die Argumentation zwar nicht, aber sie wäre zirkulär.
145
Gehirn
Lemmata
perlich darstellen im immer größer wer- Intellekt, unmittelbar durch den Leib denden Verhältniß des Gehirns überhaupt bedingt, und dieser wiederum durch das zum übrigen Nervensystem, und sodann Gehirn, jedoch nur mittelbar, nämlich als des großen Gehirns zum kleinen; da […] Räumliches und Körperliches, in der Welt Ersteres die Werkstätte der Vorstellun- der Anschauung, nicht aber an sich selbst, gen, Letzteres der Lenker und Ordner der d. h. als Wille.« (W II 303) Gemeint ist daBewegungen ist.« (W II 239; vgl. a. W II mit, daß das Gehirn – als »Efflorescenz 326 f.)64 Anders als der Intellekt ist der des Organismus« (W II 322) – physisch Wille, wie Schopenhauer versichert, nicht vom Leib abhängt 65, während der Leib auf das Gehirn angewiesen: »[D]er Wille umgekehrt in kognitiver Hinsicht – das hat seinen Sitz nicht im Gehirn, und über- heißt, um erkannt zu werden – auf das dies ist er, als das Metaphysische […] nicht Gehirn angewiesen ist. Setzt man für das durch Verletzungen des Gehirns verän- Gehirn das, was es leistet, die Vorstellung, derlich.« (W II 287) ein, so ergibt sich: »Allerdings setzt […] Ähnlich wie der Intellekt im Gehirn das Daseyn des Leibes die Welt der Vorfundiert ist, gründet das Gehirn als Teil stellung voraus; sofern auch er, als Körper des Organismus im Willen als dem Ding oder reales Objekt, nur in ihr ist: und anan sich. So hebt Schopenhauer hervor: dererseits setzt die Vorstellung selbst eben »Ich setze also erstlich den Willen, als so sehr den Leib voraus; da sie nur durch Ding an sich, völlig Ursprüngliches; zwei- die Funktion eines Organs desselben enttens seine bloße Sichtbarkeit, Objektiva- steht.« (W II 323) Angesichts der wechtion, den Leib; und drittens die Erkennt- selseitigen Bedingtheit der Vorstellung niß, als bloße Funktion eines Theils dieses einerseits und des Gehirns bzw. Leibes Leibes.« (N 220; vgl. a. W II 234, 238, 287, anderseits, die Schopenhauer an dieser 302, 320, 322 u. 324) Demnach wäre das Stelle beschreibt, erhob Zeller 1873 den Gehirn – metaphysisch betrachtet – eine bekannt gewordenen Einwand, es liege Erscheinung des Willens, genauer gesagt ein Zirkel vor: »Wir befinden uns demeine Erscheinung, in der sich dieser »als nach in dem greifbaren Zirkel, daß die ein Erkennenwollen« (W II 302) objekti- Vorstellung ein Produkt des Gehirns und viert. das Gehirn ein Produkt der Vorstellung Was hingegen das Verhältnis des Ge- sein soll – ein Widerspruch, für dessen hirns zum übrigen Leib bzw. Organismus Lösung der Philosoph auch nicht das Geanbelangt, so bietet es sich recht komplex ringste gethan hat.«66 Freilich war Zeller dar. Zunächst betont Schopenhauer, daß beide durch einander bedingt sind: »Dem65 Schopenhauer bewertet dieses Verhältnach ist allerdings das Gehirn, mithin der 64 Eine gewisse Ausnahme stellt in dieser Hinsicht das Genie dar. Zwar benötige es, um die Ideen zu erfassen, ein »Gehirn von ungewöhnlicher Entwickelung und Größe« (W II 464 f. u. 615), doch stehe dieses gerade nicht im Dienste vitaler Bedürfnisse bzw. des Willens (vgl. W I 240).
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nis gelegentlich als parasitär. Aus seiner Sicht ist das Gehirn »insofern ein Parasit des übrigen Organismus […], als es nicht direkt eingreift in dessen inneres Getriebe, sondern dem Zweck der Selbsterhaltung bloß dadurch dient, daß es die Verhältnisse desselben zur Außenwelt regulirt.« (W II 234; vgl. a. W II 252, 288, 302 u. 464 sowie P II 85) 66 Zeller (1984), 185.
Lemmata entgangen, daß die Abhängigkeit jeweils einen anderen Aspekt der Vorstellung betrifft, so daß die Kritik ihr Ziel verfehlt. Genie Schopenhauer weist dem Genie im Rahmen seiner Ästhetik bzw. Meta physik des Schönen eine bedeutende Rolle zu. Allerdings versteht er unter einem Genie keineswegs einen Menschen, der sich durch ein besonders hohes Maß an Kreativität oder Originalität auszeichnet, sondern seine hervorstechende Eigenschaft ist eher kognitiv, und sie hat weniger mit Subjektivität als mit Objektivität zu tun: »[S]o ist Genialität nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene Person, d. i. den Willen, gehenden. Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntniß, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens daist, diesem Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke, ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrig zu bleiben« (W I 240). Genau diese Fähigkeit erklärt Schopenhauer zur »höchsten geistigen Eminenz« (P I 371), die entsprechend selten anzutreffen sei (vgl. W II 170 f. u. P II 461). Gegenstand der besonderen, dem Genie eigentümlichen Art von anschaulicher Erkenntnis sind nicht etwa einzelne Dinge, sondern das Allgemeine bzw. das Wesen der Dinge (vgl. W I 239, W II 449 u. P I 371). Dies bedeutet, daß mit Objektivität nicht empirische, sondern ideale, das Wesen betreffende Objektivität gemeint ist. Was aber das letztere anbelangt, so siedelt es Scho-
Genie penhauer bekanntlich in den unveränderlichen, ewigen Ideen an. Demnach besteht die geniale Erkenntnis für Schopenhauer in der »Auffassung der (Platonischen) Ideen der Dinge« (W II 90; vgl. a. W I 239, 243, 250 u. 296, W II 255, 341, 445 u. 449 sowie P II 83 f.).67 Da nun die Ideen nicht der empirischen Wirklichkeit angehören, fallen sie auch nicht unter den Satz vom zureichenden Grunde, und dementsprechend ist die Erkenntnis der Ideen eine »Betrachtungsart der Dinge unabhängig vom Satze des Grundes, im Gegensatz der gerade diesem nachgehenden Betrachtung, welche der Weg der Erfahrung und Wissenschaft ist« (W I 239; vgl. a. W I 243 u. 250 sowie W II 441). Angesichts der Tatsache, daß nach dem Satz vom zureichenden Grunde jedes Objekt in einer Beziehung zu einem anderen Objekt steht und durch sie bestimmt wird, läuft die empirische Erkenntnis darauf hinaus, eine Relation eines Objekts zu anderen herzustellen, während die geniale Erkenntnis gerade darin besteht, das Wesen des Objekts unabhängig von allen Relationen zu erfassen. Ferner hebt Schopenhauer hervor, daß sich die Ideen dadurch von den Begriffen unterscheiden, daß sie – ungeachtet ihrer Allgemeinheit – sinnlich und demnach nicht etwa Gegenstand einer abstrakten, von der Vernunft zu leistenden, 67
Diese sind nach Schopenhauer ihrerseits schön. Vgl. W I 197, 267 f., 271 u. 373 sowie P II 690. – Um erklären zu können, daß das Schöne – ebenso wie das Erhabene – im Prinzip allen Menschen zugänglich ist, konzediert er, daß die Fähigkeit zur Erkenntnis der Ideen nicht allein dem Genie gegeben ist. Wohl aber sei dieses in besonderem Maße damit ausgestattet. Vgl. W I 250. Dem entspricht auch die Einschätzung, die Objektivität der Erkenntnis habe »unzählige Grade« (W II 341; vgl. a. W II 440 u. P II 86).
147
Genie
Lemmata
sondern einer anschaulichen, intuitiven nis die empirische Wirklichkeit transzenErkenntnis sind: »[S]o muß das Wesen des diert, und zum anderen darauf, daß sie Genies in der Vollkommenheit und Ener- nicht unter dem Einfluß des Willens steht. gie der anschauenden Erkenntniß liegen.« Verfügt das Genie über mehr Erkennt(W II 445; vgl. a. W I 241 u. 245 sowie W II nis, als für den Willen erforderlich ist (vgl. 89 f.) Diese Erkenntnis bezeichnet er als W I 240 u. W II 446), und zeichnet es sich »Kontemplation« oder »reine Kontempla- durch ein Überwiegen des Erkennens getion« (W I 239 f. u. 243). genüber dem Wollen aus (vgl. W I 242 f., Erfaßt das Genie die Idee, die einem W II 446 u. P II 461), so stellt es – im VerGegenstand zugrunde liegt, so gerät es – gleich zur Mehrzahl der Menschen – eine analog zur außerhalb der empirischen Ausnahme, ja sogar eine Abnormität dar Wirklichkeit liegenden Idee – in einen Zu- (vgl. W II 447, 452, 457, 461 sowie P II 78, stand, den Schopenhauer als »reines Sub- 82 u. 461). Der Preis, den das Genie für jekt des Erkennens« (W I 240, 250, 252 dieses Privileg zu entrichten hat, besteht u. 296 sowie W II 255, 440 u. 450), »ewi- nach Schopenhauer darin, daß es in prakges« oder »klares Weltauge« (W I 240 u. tischen Angelegenheiten wenig Geschick 356 sowie W II 445) oder »klaren Spiegel hat (vgl. W I 242, W II 170, 331, 455 u. der Welt« (W II 450) beschreibt. In die- 458 ff. sowie P II 80 u. 82) und mehr als gesem Zustand erlebt sich das Genie nicht wöhnliche Menschen leidet (vgl. W I 246 mehr als Individuum, sondern geht in der u. 388 sowie P II 83). Idee auf, die es kontempliert. Mehr noch, Das Genie ragt nicht allein durch die es löst sich vom Willen los, dem es sonst Erkenntnis der Ideen heraus, sondern es unterworfen ist (vgl. W I 240 u. 242 f., verfügt darüber hinaus über die FähigW II 255, 341 f., 440, 450 u. 453 sowie P II keit, sie zu wiederholen und darzustellen. 80).68 Vergegenwärtigt man sich, daß die Dies geschieht, wie Schopenhauer erläumenschliche Erkenntnis in aller Regel tert, in Bereichen wie der Kunst, der Poevom Willen geleitet und gelegentlich so- sie sowie der Philosophie: »Ein Genie ist gar getrübt wird, so stellt die Erhebung ein Mensch, der einen doppelten Intellekt des Genies über den Willen geradezu die hat: den einen für sich, zum Dienste seiBedingung der Möglichkeit reinen, ob- nes Willens, und den andern für die Welt, jektiven Erkennens dar. Dabei kann man deren Spiegel er wird, indem er sie rein – mit Schopenhauer – das Genie als den objektiv auffaßt. Die Summe, oder Quint»höchsten Grad der Objektivität des Er- essenz dieser Auffassung wird, nachkennens definiren« (W II 342). Ist in die- dem die technische Ausbildung hinzusem Zusammenhang von der Reinheit gekommen ist, in Werken der Kunst, der der Erkenntnis die Rede, so bezieht sich Poesie, oder der Philosophie wiedergegedies zum einen darauf, daß die Erkennt- ben.« (P II 84; vgl. a. W I 239, W II 342 u. 453, P I 372 sowie P II 79 u. 86) Um 68 Da der Mensch als empirisches Wesen dies zu leisten, bedarf das Genie der »Bedurch den Willen bestimmt ist, wird die für die sonnenheit« (W I 240 u. 250 f., W II 452 willensfreie Erkenntnis der Ideen erforderlisowie P II 461), das heißt, es muß in der che Leistung gleichermaßen einem außerhalb desselben situierten Genius zugeschrieben. Vgl. Lage sein, die entsprechende Erkenntnis über den Augenblick hinaus zu konserW II 446 u. 455 f. sowie P II 461. 148
Lemmata
Gerechtigkeit, ewige
vieren.69 Schopenhauer schreibt dem Ge- daß einer entsprechenden Handlung die nie darüber hinaus auch Phantasie zu. Er Einsicht vorausgeht, daß das handelnde erblickt ihre Aufgabe jedoch nicht darin, Individuum und das Individuum, das von Beliebiges zu erfinden, sondern darin, die den Folgen der Handlung betroffen ist, unmittelbar gegebene empirische Wirk- nicht durch eine radikale Kluft voneinanlichkeit, in der sich die Ideen zumeist nur der getrennt sind, sondern daß beide Erunvollkommen artikulierten, so zu variie- scheinungen eines und desselben Willens ren, daß sich die Ideen in reinerer Gestalt als Ding an sich darstellen. Diese Einsicht erfassen ließen: »Die Phantasie also er- befähigt den Handelnden, das Leiden des weitert den Gesichtskreis des Genius über Anderen als sein eigenes zu identifizieren die seiner Person sich in der Wirklichkeit und sich infolgedessen tugendhaft zu verdarbietenden Objekte, sowohl der Qua- halten. lität, als der Quantität nach.« (W I 241; Die Gerechtigkeit bietet sich insofern vgl. a. W II 448 f.) Gelingt es dem Genie als die »erste und recht eigentliche Karnun, die Idee zu erkennen und – z. B. in dinaltugend« (E 238) dar, als jemand, der einem Kunstwerk – darzustellen, so macht gerecht handelt, die Bejahung des eigenen es sie auf diese Weise auch anderen Men- Willens angesichts des Anderen auf einer schen zugänglich: »Der Künstler läßt uns ersten Stufe zurücknimmt. Dies geschieht durch seine Augen in die Welt blicken. dadurch, daß man darauf verzichtet, »dem Daß er diese Augen hat, daß er das We- Anderen ein Leiden zu verursachen, also sentliche, außer allen Relationen liegende […] selbst Ursache fremder Schmerzen der Dinge erkennt, ist eben die Gabe des zu werden« (E 252). Damit entspricht die Genius, das Angeborene; daß er aber im Gerechtigkeit dem Grundsatz neminem Stande ist, auch uns diese Gabe zu leihen, laede (vgl. E 253 u. 270). Schopenhauer uns seine Augen aufzusetzen: dies ist das betrachtet die Gerechtigkeit insofern als Erworbene, das Technische der Kunst.« negativ, als sie lediglich darin besteht, (W I 251) daß man einem anderen Individuum keinen Schaden zufügt, nicht aber darin, daß Gerechtigkeit Schopenhauer stuft die man ihm darüber hinaus noch Hilfe zuGerechtigkeit – zusammen mit der Men- kommen läßt. Er spricht gelegentlich von schenliebe – als Kardinaltugend ein. Er »freier« oder »freiwilliger Gerechtigkeit« begründet diese Einschätzung damit, daß (W I 461 u. 492 sowie E 231, 242 u. 248), aus diesen beiden Tugenden »alle übrigen um zu betonen, daß eine Handlung nur praktisch hervorgehn und theoretisch sich dann wirklich gerecht ist, wenn ihr kein ableiten lassen« (E 252; vgl. a. E 270). Sie egoistisches Motiv zugrunde liegt. setzen eine »Durchschauung des principii individuationis« (W I 492; vgl. a. WI 461 u. Gerechtigkeit, ewige Neben der zeit468) voraus, wie sie nicht zuletzt im Gefühl lichen Gerechtigkeit gibt es nach Schodes Mitleids vorliegt. Damit ist gemeint, penhauer auch eine ewige Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang hat Gerechtigkeit allerdings weniger damit zu 69 Die objektive Auffassung der Dinge tun, daß man darauf verzichtet, anderen selbst bleibt freilich, so Schopenhauer, stets Leid zuzufügen, sondern Schopenhauer »nur eine vorübergehende« (P II 462). 149
Geschichte geht es eher um die retributive Gerechtigkeit, insbesondere darum, daß schlechte Handlungen bestraft werden. Während die zeitliche Gerechtigkeit die empirische Wirklichkeit betrifft, findet die ewige Gerechtigkeit im Bereich des Willens als des Dinges an sich bzw. des metaphysischen Willens statt. Sie beruht darauf, daß alle empirischen Gegenstände letztlich Erscheinungen eines und desselben Dinges an sich sind. Was sich in der empirischen Wirklichkeit als Pluralität individueller Gegenstände darbietet, gründet in einem und demselben Ding an sich. Die empirischen Gegenstände sind insofern identisch, als sie Erscheinungen des Dinges an sich sind. Fügt ein Individuum einem anderen ein Unrecht zu, so sind in der empirischen Wirklichkeit zwei Individuen von diesem Vorgang betroffen, von denen eines aktiv und das andere passiv ist. Das Verhältnis zwischen den Individuen ist offenbar asymmetrisch. Nun aber betrachtet Schopenhauer die beiden Individuen in metaphysischer Hinsicht als identisch, und das bedeutet für ihn, daß sich der Wille sub specie aeternitatis als Täter und Opfer zugleich darbietet. So erklärt Schopenhauer: »Wer also bis zu der besagten Erkenntniß gelangt ist, dem wird es deutlich, daß, weil der Wille das Ansich aller Erscheinung ist, die über Andere verhängte und die selbsterfahrene Quaal, das Böse und das Uebel, immer nur jenes eine und selbe Wesen treffen; wenn gleich die Erscheinungen, in welchen das Eine und das Andere sich darstellt, als ganz verschiedene Individuen dastehn und sogar durch ferne Zeiten und Räume getrennt sind.« (W I 441) Gerechtigkeit liegt hier insofern vor, als dieselbe Entität, die ein Unrecht begeht, zugleich dessen Folgen erleidet. Freilich drängt sich die Frage auf, 150
Lemmata ob vom Willen als Ding an sich, der nicht dem Satz vom zureichenden Grunde – und damit auch nicht dem Raum und der Zeit – unterworfen ist, ausgesagt werden kann, daß er Handlungen durchführt oder erleidet. Geschichte Schopenhauer mißt der Geschichte keine herausragende Bedeutung zu, sondern bewertet sie – im Vergleich mit der Dichtung sowie der Wissenschaft – auffallend negativ. Das liegt daran, daß sie von empirischen Ereignissen handelt, Schopenhauer aber die empirische Wirklichkeit, die zeitlich verfaßt ist, im Ausgang von seinem Verständnis des transzendentalen Idealismus nicht einfach nur als Erscheinung betrachtet, sondern als bloßen Schein abwertet. Demgegenüber erblickt er das eigentliche Wesen der Welt in den zeitlosen Ideen bzw. im Willen als Ding an sich. Angesichts des Primats der zeitlosen metaphysischen Wirklichkeit gegenüber der zeitlichen empirischen ist die Beschäftigung mit der Geschichte für ihn nicht der Mühe wert: »Von diesem Standpunkt aus erscheint uns der Stoff der Geschichte kaum noch als ein der ernsten und mühsamen Betrachtung des Menschengeistes würdiger Gegenstand, des Menschengeistes, der, gerade weil er so vergänglich ist, das Unvergängliche zu seiner Betrachtung wählen sollte.« (W II 520) Schopenhauer ist überzeugt, daß sich Wissenschaft und Geschichte darin voneinander unterscheiden, daß erstere ihre Gegenstände in ein Verhältnis der Sub ordination bringt, während letztere bei einem Verhältnis der bloßen Koordination stehen bleibt und sie deshalb kein System bildet (vgl. W I 101 u. W II 517). Da es der Wissenschaft wesentlich sei, systematisch vorzugehen, sei die Geschichte al-
Lemmata
Geschichte
lenfalls als Wissen, nicht jedoch als Wis- »lächerlich und abgeschmackt« (P II 490) senschaft zu betrachten. In diesem Sinne erscheinen.70 resümiert Schopenhauer: »[D]aher GeÄhnlich deutet Schopenhauer das Verschichte, genau genommen, zwar ein Wis- hältnis, das die Geschichte zur Dichtung sen, aber keine Wissenschaft ist.« (W I einnimmt. Wie die Wissenschaft hat nach 101; vgl. a. W II 517 u. 523 sowie P II 490) seiner Auffassung auch die Dichtung mit Ein weiteres Defizit der Geschichte sieht dem Allgemeinen zu tun, allerdings nicht Schopenhauer darin, daß sie nicht Allge- in Gestalt des Begriffs, sondern in Gemeines, sondern Einzelnes zum Gegen- stalt der Idee: »Sofern nun also der Stoff stand habe und dieses nicht im Rekurs der Kunst die Idee, der Stoff der Wissenauf das Allgemeine, sondern als Einzel- schaft der Begriff ist, sehn wir Beide mit nes thematisiere (vgl. W I 308 u. W II 517 Dem beschäftigt, was immer daist und u. 520). Dies bedeute auch, daß sie keine stets auf gleiche Weise, nicht aber jetzt Wesenserkenntnis liefere (vgl. W I 236 u. ist und jetzt nicht, jetzt so und jetzt an308). Zwar verbinde die Geschichte die ders« (W II 520). Daraus ergibt sich, daß Ereignisse nach dem Satz vom zureichen- sich die Geschichte ebenfalls dadurch von den Grunde, doch tue sie dies »nicht nach der Dichtung abhebt, daß sie – anders als ihrer innern, ächten, die Idee ausdrücken- diese – nicht dem Allgemeinen, sondern den Bedeutsamkeit […]; sondern nach der dem Einzelnen nachgeht (vgl. W I 308 f. äußern, scheinbaren, relativen, in Bezie- u. W II 520). Da nun Schopenhauer dem hung auf die Verknüpfung, auf die Fol- Allgemeinen ein höheres Maß an Dignität gen, wichtigen Bedeutsamkeit« (W I 309). zuerkennt, ist er überzeugt, daß die DichBesonders deutlich wird der Gegensatz tung im Vergleich zur Geschichte den der Geschichte zur Wissenschaft anhand Vorrang genießt (vgl. W I 310 f. u. 313 soihres Verhältnisses zur Philosophie, die wie W II 523).71 – nach Schopenhauer – »[ü]ber ihnen alObgleich die Geschichte – nach Scholen aber schwebt« (W II 517): »Sofern nun penhauer – in erster Linie eine Menge die Geschichte eigentlich immer nur das einzelner Begebenheiten darstellt, die Einzelne, die individuelle Thatsache, zum sich nicht unter allgemeine Gesetze subGegenstande hat und dieses als das aus- sumieren lassen, besitzt sie eine Eigenschließlich Reale ansieht, ist sie das ge- schaft, die sie insgesamt charakterisiert. rade Gegentheil und Widerspiel der Phi- Diese besteht darin, daß sich der Wille losophie, als welche die Dinge vom allge- zum Leben darin bejaht, von sich selbst meinsten Gesichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine zum 70 So erhebt Schopenhauer gegen Hegel Gegenstande hat, welches in allem Einzel- den Vorwurf, er sitze »gewissen mythologischen nen identisch bleibt; daher sie in diesem Grundansichten« (W II 520) auf und habe das, was er als Geschichte der Selbstentfaltung des stets nur Jenes sieht und den Wechsel an Geistes darstelle, allenfalls »künstlich und imader Erscheinung desselben als unwesent- ginär konstruirt« (W II 522). 71 Freilich räumt Schopenhauer ein, daß lich erkennt« (W II 519). Unter dieser Voraussetzung kann Schopenhauer der – z. B. auch die Geschichte gelegentlich das Wesen des Menschen erfasse, doch nähere sie sich dabei von Hegel unternommene – Versuch, die bereits der Dichtung an, ohne sie je wirklich zu Philosophie zu vergeschichtlichen, nur erreichen. Vgl. W I 308 ff. 151
Geschlechtstrieb entzweit und letztlich als nichtig erweist: »Denn der Stoff der Weltgeschichte ist […] nicht das Verneinen und Aufgeben des Willens zum Leben, sondern eben sein Bejahen und Erscheinen in unzähligen Individuen, in welchem seine Entzweiung mit sich selbst, auf dem höchsten Gipfel seiner Objektivation, mit vollendeter Deutlichkeit hervortritt, und nun uns […] immer die Vergeblichkeit und Nichtigkeit des ganzen Strebens vor Augen bringt.« (W I 477) Diesen Befund bekräftigt Schopenhauer auch dadurch, daß er die Geschichte im wesentlichen als von Kriegen gekennzeichnet hinstellt (vgl. P II 317 u. 491). Angesichts der Tatsache, daß sich bei allem geschichtlichen Wandel dieser eine – metaphysisch entscheidende – Grundzug durchhält, kommt Schopenhauer zum Ergebnis: »Die Devise der Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter.« (W II 523) Demgegenüber bieten sich die einzelnen Begebenheiten lediglich als der »lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit« (W II 521) dar. Trotz seiner Abneigung gegenüber der Geschichte gesteht ihr Schopenhauer allerdings das Verdienst zu, der Menschheit einen die bloße Gegenwart übersteigenden Überblick über ihre Vergangenheit und damit ein Selbstbewußtsein zu verschaffen, das sowohl für das Verständnis der Gegenwart als auch für die Gestaltung der Zukunft hilfreich ist. Schopenhauer formuliert das wie folgt: »Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewußtseyn des menschlichen Geschlechtes anzusehn, und ist diesem Das, was dem Einzelnen das durch die Vernunft bedingte, besonnene und zusammenhängende Bewußtseyn ist, durch dessen Ermangelung das Thier in der 152
Lemmata ngen, anschaulichen Gegenwart befane gen bleibt.« (W II 524; vgl. a. W II 523) Geschlechtstrieb Schopenhauer mißt dem Geschlechtstrieb weitaus größere Bedeutung zu als die meisten abendländischen Philosophen, die ihm vorangehen. Das kommt nicht zuletzt daher, daß er in seiner Metaphysik der Natur vom Primat des Willens zum Leben gegenüber dem Intellekt ausgeht und im Geschlechtstrieb dasjenige Phänomen erblickt, in dem »das innere Wesen der Natur, der Wille zum Leben, sich am stärksten ausspricht« (W I 412). Dies betrifft natürlich auch den Menschen. Schopenhauer behauptet, »der Mensch sei konkreter Geschlechtstrieb; da seine Entstehung ein Kopulationsakt und der Wunsch seiner Wünsche ein Kopulationsakt ist, und dieser Trieb allein seine ganze Erscheinung perpetuirt und zusammenhält« (W II 601). Mit seiner Einschätzung übt Schopenhauer erheblichen Einfluß auf Denker wie Nietzsche aus und nimmt eine wesentliche Einsicht der von Freud begründeten Psychoanalyse vorweg.72 Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer dem Geschlechtstrieb überaus große Aufmerksamkeit schenkt, ist es nicht weiter erstaunlich, daß er in den zweiten Band seines Hauptwerks ein umfangreiches Kapitel mit der Überschrift »Metaphysik der Geschlechtsliebe« aufnimmt. Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß sich der Wille zum Leben im Menschen in zwei Trieben manifestiert, die das »Grundthema aller mannigfaltigen Willensakte« (W I 408) bilden. Sie zielen auf die »Erhaltung des Individuums und 72 Zu
diesem Thema vgl. a. Günter Gödde. Traditionslinien des »Unbewußten«. Schopenhauer – Nietzsche – Freud. Tübingen 1999.
Lemmata Fortpflanzung des Geschlechts« (ebd.; vgl. a. W I 412 sowie W II 601 u. 665) ab. Während der Selbsterhaltungstrieb lediglich auf das Dasein des Individuums gerichtet ist, zeichnet sich der Geschlechtstrieb dadurch aus, daß er die Weitergabe menschlichen Lebens und damit den Fortbestand des Menschen über das Individuum hinaus ermöglicht: »Allein schon die Befriedigung des Geschlechtstriebes geht über die Bejahung der eigenen Existenz, die eine so kurze Zeit füllt, hinaus, bejaht das Leben über den Tod des Individuums, in eine unbestimmte Zeit hinaus.« (W I 410) Darüber hinaus bietet sich der Geschlechtstrieb als der heftigere der beiden Triebe dar, er erweist sich als die »entschiedene, stärkste Bejahung des Lebens«, ja als »der letzte Zweck, das höchste Ziel [des] Lebens« (W I 412). Zwar steht der Geschlechtstrieb in erster Linie im Dienste der Art73, deren Bestand er sichert, aber auch dem Individuum ist in hohem Maße daran gelegen, seine Begierde zu befriedigen. So legt Schopenhauer dar, daß der Geschlechtstrieb der »unsichtbare Mittelpunkt alles Thuns und Treibens« bzw. die »Haupt angelegenheit aller Menschen« (W II 601) ist. Allerdings täusche sich das Individuum darin, daß es dem Geschlechtstrieb individuelle Bedeutung beimesse. Schopenhauer ist überzeugt, daß dieser vielmehr auf die Erhaltung der Art angelegt sei und, um dieses Ziel zu erreichen, dem Individuum den falschen Eindruck vermittle, es seien seine eigenen Belange, die auf dem Spiel stünden. Daher stuft Schopenhauer den Geschlechtstrieb als einen 73 Schopenhauer
spricht in diesem Zusammenhang eher von »Gattung« als von »Art«, meint damit aber das, was in der Biologie üblicherweise als »Art« bezeichnet wird.
Geschlechtstrieb »illusorischen Trieb« (W II 584) ein, der darin begründet sei, daß »die Natur ihren Zweck nur dadurch erreichen [kann], daß sie dem Individuo einen gewissen Wahn einpflanzt, vermöge dessen ihm als ein Gut für sich selbst erscheint, was in Wahrheit bloß eines für die Gattung ist, so daß dasselbe dieser dient, während es sich selber zu dienen wähnt […]. Dieser Wahn ist der Instinkt.« (W II 630; vgl. a. W II 664) Mit anderen Worten, der Mensch wird lediglich durch den Instinkt zum Irrtum verleitet, seinen Geschlechtstrieb für eine wichtige individuelle Angelegenheit zu halten, und auf diese Weise dazu gebracht, an der Erhaltung der Art mitzuwirken. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer in der Bejahung des Willens zum Leben den Ursprung allen Leidens erblickt, so ist es nicht weiter erstaunlich, daß er diese Einschätzung auf den Geschlechtstrieb überträgt und die Scham, die mit ihm verbunden ist, auf diesen Umstand zurückführt: »Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht und die durch die vollkommenste Erkenntnißfähigkeit herbeigeführte Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt. Hier liegt der tiefe Grund der Schaam über das Zeugungsgeschäft.« (W I 410; vgl. a. W II 656 u. 666 f.) Mehr noch, Schopenhauer betrachtet die Bejahung des Willens zum Leben als moralisch schlecht, und deshalb erklärt er, dem Leben, das auf die Befriedigung des Geschlechtstriebs zurückgehe, hafte eine Schuld an, die durch die Leiden des neu entstandenen Individuums abzutragen sei: »Das Leben stellt sich dar als eine Aufgabe, ein Pensum zum Abarbeiten, und daher, 153
Glück in der Regel, als ein steter Kampf gegen die Noth. Demnach sucht Jeder durch und davon zu kommen, so gut es gehen will: er thut das Leben ab, wie einen Frohndienst, welchen er schuldig war. Wer aber hat diese Schuld kontrahirt? – Sein Erzeuger, im Genuß der Wollust. Also dafür, daß der Eine diese genossen hat, muß der Andere leben, leiden und sterben.« (W II 665) Auf diese Weise bietet sich das Leben als durch den Geschlechtstrieb – und damit die Bejahung des Willens zum Leben – bedingte »Strafe und Buße« (W II 679) dar. Umgekehrt ist Schopenhauer der Auffassung, daß die Verneinung des Willens zum Leben moralisch gut ist und den Menschen auf den Weg der Erlösung bringt. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht weiter, daß er die Askese – und damit auch den Verzicht auf geschlechtliche Befriedigung – als geeignetes Mittel betrachtet: »Freiwillige, vollkommene Keuschheit ist der erste Schritt in der Askese oder der Verneinung des Willens zum Leben.« (W I 471; vgl. a. W II 665 u. 721 ff.) Glück Schopenhauer definiert Glück als einen Zustand, der durch die Befriedigung einer Begierde oder eines Wunsches erreicht wird. Dies bedeutet, daß dem Glück eine Regung des Willens zugrunde liegt, die auf die Behebung eines Mangels gerichtet ist. Solange der Mangel nicht behoben ist, leidet das betroffene Individuum, sobald er abgestellt ist, fühlt es sich glücklich. Damit stellt das Glück das Gegenteil des Leidens dar: »Wir nennen dann seine [des Willens] Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück.« (W I 387) Daneben 154
Lemmata schlägt Schopenhauer zwei weitere Definitionen vor, die freilich nur Differenzierungen der bereits genannten beinhalten. Die eine lautet, Glück sei die »successive Befriedigung alles unsers Wollens« (W II 743). Auf diese Weise dehnt Schopenhauer den Begriff des Glücks lediglich auf die Befriedigung aller aufeinanderfolgenden Regungen des Willens aus. Die andere Definition geht hingegen von der Beobachtung aus, daß sowohl die Begierde als auch ihre Befriedigung, sofern sie zu lange anhalten, dem Wohlbefinden abträglich sind. Wird eine Begierde nicht befriedigt, so leidet der Mensch, dauert hingegen die Befriedigung zu lange an, ohne daß sich eine neue Begierde einstellt, so stellt sich Langeweile ein. Angesichts dieser Tatsache kommt Schopenhauer zum Ergebnis, daß Glück darin besteht, »daß jener Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch rasch vorwärts geht, da das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist« (W I 327; vgl. a. W I 218). Vergegenwärtigt man sich, daß Glück nach Schopenhauer aus einer Befriedigung einer Begierde oder eines Wunsches resultiert bzw. auf ein »befriedigtes Wollen« (W I 643; vgl. a. W II 743) hinausläuft, so besteht für den Menschen unter dieser Voraussetzung keine Aussicht, zu dauerhaftem Glück zu gelangen. Das liegt zunächst einmal daran, daß keine anhaltende Befriedigung erreicht werden kann: »[K]eine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maaß und Ziel des Lei-
Lemmata dens.« (W I 388) Mit anderen Worten, der Wille ist ein »Streben ohne Ziel und ohne Ende« (W I 402), und aus diesem Grund erweist sich Glück im Sinne einer andauernden Befriedigung nicht als realisierbar. Deshalb weist Schopenhauer auch die Annahme, der Mensch sei zum Glück bestimmt, als falsch zurück: »Es giebt nur einen angeborenen Irrthum, und es ist der, daß wir dasind, um glücklich zu seyn.« (W II 743) Freilich trifft diese Einschätzung lediglich auf das Glück als dauerhafte Befriedigung zu. Wie bereits angedeutet wurde, erblickt Schopenhauer in der raschen Aufeinanderfolge von Wunsch und Befriedigung ebenfalls eine Form des Glücks, die allerdings auf einer niedrigeren Stufe steht. So erklärt Schopenhauer auch, daß »wahres Wohlseyn« erst dann vorliegt, wenn der Wille zum Stillstand gekommen ist: »Darum nun, solange unser Bewußtseyn von unserm Willen erfüllt ist, solange wir dem Drange der Wünsche, mit seinem steten Hoffen und Fürchten, hingegeben sind, solange wir Subjekt des Wollens sind, wird uns nimmermehr dauerndes Glück, noch Ruhe. […] [O]hne Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlseyn möglich.« (W I 252) Hält man sich vor Augen, daß Schopenhauer das Glück in der Befriedigung des Wollens erblickt, so kann man den Zustand, in dem der Wille zur Ruhe gekommen ist, nicht mehr als Glück ansprechen, denn es liegt kein Wollen mehr vor, das befriedigt werden könnte. Daß Schopenhauer den entsprechenden Zustand als »wahres Wohlseyn« bezeichnet, liegt nicht etwa daran, daß der Wille dauerhaft befriedigt wäre, sondern daran, daß er erloschen ist, also auch kein Leiden mehr hervorbringen kann. Man könnte resümieren, daß Glück im strengen Sinne
Glück eine dauerhafte Befriedigung des Wollens sei, die sich jedoch nicht realisieren lasse, während Glück in einem weniger strengen Sinne in einer raschen Abfolge von Wollen und Befriedigung bestehe. Allerdings ist Schopenhauer überzeugt, daß letzteres dem Menschen lediglich als einem empirischen Wesen, nicht aber als Ding an sich zuteil wird: »In der That steht alles zeitliche Glück und wandelt alle Klugheit – auf untergrabenem Boden. Sie schützen die Person vor Unfällen und verschaffen ihr Genüsse; aber die Person ist bloße Erscheinung, und ihre Verschiedenheit von andern Individuen und das Freisein von den Leiden, welche diese tragen, beruht auf der Form der Erscheinung, dem principio individuationis. Dem wahren Wesen der Dinge nach hat Jeder alle Leiden der Welt als die seinigen, ja alle nur möglichen als für ihn wirklich zu betrachten, solange er der feste Wille zum Leben ist, d. h. mit aller Kraft das Leben bejaht.« (W I 440) In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß Schopenhauer die empirische Wirklichkeit im Verhältnis zur metaphysischen Wirklichkeit des Dinges an sich nicht einfach nur als Erscheinung, sondern als Schein betrachtet. Dies aber würde bedeuten, daß diejenige Form des Glücks, die im günstigsten Fall aufträte, ebenfalls bloßer Schein wäre. Schopenhauer betont immer wieder, daß das Glück nicht positiv, sondern negativ ist. Damit meint er, daß Glück kein ursprünglich gegebener, an sich guter Zustand ist, sondern daß es sich darin erschöpft, daß ein Mangel behoben bzw. ein Wunsch erfüllt wird, der seinerseits als schmerzhaft empfunden wird: »Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie 155
Glück positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d. h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuß auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth« (W I 399; vgl. a. W II 672 f.). Demnach ist Glück nicht mehr und nicht weniger als die »Abwesenheit des Schmerzes, des Mangels und der Noth« (E 250). Die Negativität des Glücks zeigt sich nach Schopenhauer auch daran, daß Mangel und Schmerz unmittelbar empfunden werden, ihre Abwesenheit hingegen nur mittelbar, d. h. als Aufhebung des ursprünglich leidvollen Zustands. Empfinde der Mensch gerade keinen Mangel oder Schmerz, so falle ihm dies nicht weiter auf, es sei denn, er erinnere sich daran, zu einem früheren Zeitpunkt darunter gelitten zu haben: »Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermißt, sondern höchstens wird absichtlich, mittelst der Reflexion, ihrer gedacht.« (W II 673) Schopenhauer folgert daraus, daß »unser Daseyn dann am glücklichsten ist, wann wir es am wenigsten spüren« (ebd.). Nach allem, was bisher erläutert wurde, resultiert Glück aus der Befriedigung einer Begierde oder eines Wunsches. Daß aber etwas begehrt oder gewünscht wird, läuft auf eine Bejahung des Willens hinaus. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Bejahung des Willens für moralisch schlecht hält, muß er auch das Streben nach Glück ablehnen. Moralisch gute, tugendhafte Handlungen beinhalten nach seiner Auffassung vielmehr, daß 156
Lemmata der Wille verneint wird. Daher erklärt Schopenhauer, Tugend und Glück ließen sich nicht miteinander vereinbaren: »In unserm vierten Buche hat sich ergeben, daß alle ächte Tugend, nachdem sie ihren höchsten Grad erreicht hat, zuletzt hinleitet zu einer völligen Entsagung, in der alles Wollen ein Ende findet: hingegen ist Glücksäligkeit ein befriedigtes Wollen, Beide sind also von Grund aus unvereinbar.« (W I 642 f.) Vor diesem Hintergrund leuchtet ohne weiteres ein, daß Schopenhauer den Eudämonismus ablehnt. Dieser lehrt nämlich, daß tugendhaftes Handeln den Menschen zum Glück führt oder mit diesem in eins fällt. Was Schopenhauer daran tadelt, ist zum einen, daß Glück nicht erreichbar ist, und zum anderen, daß es aufgrund der Bejahung des Willens, die es voraussetzt, nicht moralisch gut ist. Umgekehrt äußert sich Schopenhauer voller Anerkennung über Ansätze, in denen die Tugend nicht auf das Glück des Menschen ausgerichtet ist. Das sind – aus seiner Sicht – insbesondere die Platonische, die christliche sowie die Kantische Ethik.74 Trotz seiner Ablehnung des Eudämonismus legt Schopenhauer in den »Aphorismen zur Lebensweisheit«, die im ersten Band der Parerga und Paralipomena enthalten sind, selbst eine »Anweisung zu 74 Vgl. W
I 638 f. u. E 157 f. – Allerdings moniert Schopenhauer, daß Kant mit seiner Lehre vom höchsten Gut doch wieder eine eudämonistische Tendenz in seine Ethik einführt: »Die Glücksäligkeit im höchsten Gut soll nun zwar nicht eigentlich das Motiv zur Tugend seyn: dennoch steht sie da, wie ein geheimer Artikel, dessen Anwesenheit alles Uebrige zu einem bloßen Scheinvertrage macht: sie ist nicht eigentlich Lohn der Tugend, aber doch eine freiwillige Gabe, zu der die Tugend, nach ausgestandener Arbeit, verstohlen die Hand offen hält.« (W I 639)
Lemmata einem glücklichen Daseyn« (P I 343) vor. Allerdings ist darin insofern kein Widerspruch zu erblicken, als Schopenhauer in diesem Text von seinem »metaphysischethischen Standpunkt« absieht und lediglich einen »empirischen« einnimmt. Dies aber bedeutet, daß er die – im Rahmen seiner Metaphysik des Willens – dargelegte pessimistische Auffassung, nach der es unmöglich ist, einen Zustand des Glücks zu erreichen, im Kontext der »Aphorismen zur Lebensweisheit« vernachlässigt. So erklärt Schopenhauer ausdrücklich: »Folglich beruht die ganze hier zu gebende Auseinandersetzung gewissermaaßen auf einer Ackommodation, sofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen, empirischen Standpunkte bleibt und dessen Irrthum festhält.« (ebd.) Was die Richtung anbelangt, die Schopenhauer in seinen Ausführungen einschlägt, so fällt vor allem auf, daß er das Glück nicht etwa in Freude und Genuß, sondern in der Abwesenheit von Schmerz und Langeweile erblickt: »Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch die Abwesenheit der Langeweile; so ist das irdische Glück im Wesentlichen erreicht: denn das Uebrige ist Chimäre.« (P I 443) Goldene Regel Die Goldene Regel ist ein moralisches Prinzip, das in den unterschiedlichsten Kulturen anzutreffen ist. Es läuft darauf hinaus, daß man den Anderen so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden will. Eine der bekanntesten Fassungen dieses Grundsatzes lautet: »Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.« Schopenhauer kritisiert an dieser Formulierung zu Recht, daß sie bloß negativ ist und sich auf ein Verbot solcher Handlungen beschränkt, die man nicht erlei-
Goldene Regel den möchte. Er schlägt als Alternative eine Formulierung vor, die überdies auch Handlungen gebietet, die man an sich selbst erfahren möchte. In diesem Sinne erklärt Schopenhauer, er betrachte das Prinzip quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris als einen Grundsatz, »dessen Mangel, daß er bloß die Rechts- und nicht die Tugendpflichten ausdrückt, durch eine Wiederholung ohne non und ne leicht abzuhelfen ist.« (E 177) Schopenhauer schätzt die Goldene Regel vor dem Hintergrund seines altruistischen Ansatzes zwiespältig ein. Einerseits weiß er sie als ein Prinzip zu würdigen, das dem Egoismus insofern entgegenwirkt, als es eine Berücksichtigung der Interessen des Anderen fordert, anderseits sieht er die Gefahr, daß gerade diese Forderung im Namen des eigenen Interesses – und damit doch wieder des Egoismus – erhoben wird. Das zeigt sich nicht zuletzt an Schopenhauers Bewertung des kategorischen Imperativs, den er als bloße Rationalisierung der Goldenen Regel interpretiert.75 So hält Schopenhauer die zweite Fassung des kategorischen Imperativs, nach der es geboten ist, den Anderen als Zweck und nicht einfach nur als Mittel zu behandeln, aufgrund ihrer antiegoistischen Ausrichtung für einen »Glanzpunkt« (E 205), während er die erste Fassung energisch als Ausdruck eines rationalen Egoismus zurückweist: »Alsdann wird, statt meines eigenen Wohlseyns, das Wohlseyn Aller, ohne Unterschied, mein Zweck. Derselbe bleibt aber noch immer Wohlseyn. Ich finde sodann, daß Alle sich nur so gleich wohl befinden können, wenn Jeder seinem Egoismus den 75 Vgl.
E 198. Schopenhauer gebraucht in diesem Zusammenhang die Worte »Umschreibung, Einkleidung, verblümter Ausdruck«.
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Gott
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fremden zur Schranke setzt. Hieraus folgt retischer Philosophie – dezidiert zum freilich, daß ich Niemanden beeinträchti- Atheismus bekennt.76 Daraus ergibt sich gen soll, weil, indem dies Princip als all- natürlich, daß er den Begriff eines Gotgemein angenommen wird, auch ich nicht tes in erster Linie kritisch beleuchtet. Gott beeinträchtigt werde, welches aber der al- stellt für Schopenhauer einen zentralen leinige Grund ist, weshalb ich, ein Moral- Gegenstand der Religion dar. Freilich beprincip noch nicht besitzend, sondern erst tont er, daß Religion die Existenz eines suchend, dieses zum allgemeinen Gesetz göttlichen Wesens keineswegs zwingend wünschen kann. Aber offenbar bleibt, auf beinhaltet. Als prägnantes Beispiel für diese Weise, Wunsch nach Wohlseyn, d. h. eine Religion ohne Gott führt er insbeEgoismus, die Quelle dieses ethischen sondere den Buddhismus an (vgl. G 142 Princips.« (W I 639 f.) u. P I 144). Darüber hinaus fällt auf, daß Angesichts dieser Kritik erstaunt es, Schopenhauer Gott als ein erkennendaß Schopenhauer die Goldene Regel auf des und wollendes, höchst mächtiges und dasjenige moralische Prinzip zurückführt, höchst weises Individuum bzw. eine derdas er selbst für grundlegend hält: »Nemi- artige Person definiert (vgl. G 25 f., P I 131 nem laede, imo omnes, quantum potes, sowie P II 113). Demzufolge lehnt er die juva.« (E 177; vgl. a. E 198 f. u. 203) Drückt Vorstellung eines unpersönlichen Gottes sich in diesem Grundsatz tatsächlich »der ab: »Ein unpersönlicher Gott hingegen ist wahre reine Inhalt aller Moral« (E 199) eine bloße Philosophieprofessorenflause, aus, so ist er im Sinne des Altruismus und eine contradictio in adjecto, ein leeres nicht des Egoismus zu verstehen. Verge- Wort, die Gedankenlosen abzufinden, genwärtigt man sich, daß Schopenhauer in oder die Vigilanten zu beschwichtigen.« der Goldenen Regel eine egoistische Ten- (P I 209) Aber auch die pantheistische denz zutage fördert, so leuchtet nicht ohne Konzeption eines Gottes, der in der Welt weiteres ein, wie diese eine »Umschrei- aufgeht, weist Schopenhauer zurück. Er bung« (E 177, 198 f. u. 203) des genannten begründet seine Auffassung damit, daß Grundsatzes sein soll. Schopenhauer geht Gott ein transzendentes Wesen ist, das sogar noch weiter und erklärt, »daß jedes 76 Dabei betrachtet Schopenhauer den andere Moralprincip als eine UmschreiAtheismus – im Vergleich zum Theismus – als bung, ein indirekter oder verblümter Aus- diejenige Position, die sich bei unvoreingenomdruck, jenes einfachen Satzes anzusehn mener Betrachtung als die angemessenere darist.« (E 177) Man könnte diese Schwie- bietet. Vor diesem Hintergrund hält er es für bedenklich, daß dieser Ausdruck durch eine rigkeit allenfalls dadurch beheben, daß Negation von »Theismus« gebildet wird: »Dieman diese These nicht zu wörtlich nimmt, ser letztere Ausdruck [Atheismus] aber enthält sondern so versteht, daß alle moralischen seinerseits eine Erschleichung, indem er vorPrinzipien, sofern sie e inen wahren Kern weg annimmt, der Theismus verstehe sich von selbst, wodurch er das affirmanti incumbit prohaben, auf den Satz neminem laede, imo batio schlau umgeht; während vielmehr der soomnes, quantum potes, iuva hinauslaufen. genannte Atheismus das jus primi occupantis Gott Schopenhauer ist der erste deutsche Philosoph von Rang, der sich – angeregt von Hume sowie von Kants theo158
hat und erst vom Theismus aus dem Felde geschlagen werden muß. Ich erlaube mir hiezu die Bemerkung, daß die Menschen unbeschnitten, folglich nicht als Juden auf die Welt kommen.« (P I 131)
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Gott
heißt, er argumentiert, daß »der Begriff in einem Punkt von diesem ab. Während eines Gottes eine von ihm verschiedene Kant noch überzeugt war, daß der Begriff Welt, als wesentliches Korrelat desselben, Gottes immerhin »subjektive Notwendigvoraussetzt« (P I 130). Obgleich Schopen- keit« besitze, so daß man von einer »nahauer einräumt, daß Gott oder die Götter türlichen und unvermeidlichen Illusion«77 im Bereich der Religion eine bedeutende sprechen könne, weist Schopenhauer Rolle spielen, zögert er, sie als deren wich- diese Einschätzung zurück. Aus seiner tigstes Anliegen zu betrachten. Vielmehr Sicht ist dieser Begriff keineswegs noterblickt er dieses in der Lehre von der wendig, sondern geschichtlich und kultuFortdauer des Menschen nach dem Tode: rell bedingt (vgl. W I 594 ff. u. 619 ff.). »Dem entsprechend finden wir, daß das Ähnlich wie Kant geht Schopenhauer Interesse, welches philosophische, oder insbesondere auf den ontologischen, den auch religiöse Systeme einflößen, seinen kosmologischen sowie den teleologiallerstärksten Anhaltspunkt durchaus an schen Gottesbeweis ein. Was das ontolodem Dogma irgend einer Fortdauer nach gische Argument anbelangt, so erblickt dem Tode hat: und wenn gleich die letzte- er darin allenfalls ein »spitzfündiges ren das Daseyn ihrer Götter zur Haupt- Spiel mit Begriffen, ohne alle Ueberzeusache zu machen und dieses am eifrigsten gungskraft« (W I 623) bzw. einen »leicht zu vertheidigen scheinen; so ist dies im zu durchschauende[n] TaschenspielerGrunde doch nur, weil sie an dasselbe ihr streich« (P I 125). Um zu erkennen, daß Unsterblichkeitsdogma geknüpft haben sich die Existenz einer Sache nicht aus und es für unzertrennlich von ihm halten: ihrem bloßen Begriff erschließen lasse, nur um dieses ist es ihnen eigentlich zu bedarf es nach Schopenhauer nicht einthun.« (W II 188) mal Kants kritischer Philosophie. VielSchopenhauer erhebt die Forderung, mehr habe bereits Aristoteles darauf hindaß die Behauptung der Existenz eines gewiesen, daß Essenz und Existenz streng göttlichen Wesens zu begründen sei. Da voneinander zu scheiden seien (vgl. G 24, es sich – nach seiner Auffassung – um eine W I 623 f. u. P I 126). – Den kosmologiBehauptung handelt, die sich keineswegs schen Beweis nimmt Schopenhauer hinvon selbst versteht, bürdet er die Beweis- gegen ernster. Das liegt daran, daß er den last demjenigen auf, der sie für wahr hält. Satz vom zureichenden Grunde des WerIn diesem Sinne erklärt Schopenhauer: dens bzw. das Kausalitätsprinzip, auf wel»[A]ffirmanti incumbit probatio.« (G 141; chem das Argument aufbaut, als apriorivgl. a. P I 131 u. 138) Unter dieser Vor- sches Prinzip anerkennt. Dennoch sei der aussetzung kommt den Argumenten, mit Versuch, die Welt auf eine erste Ursache deren Hilfe die Existenz eines göttlichen zurückzuführen, die mit Gott identifiziert Wesens einsichtig gemacht werden sollte, werde, nicht überzeugend. Angesichts der ein besonderes Gewicht zu. Schopenhauer Tatsache, daß der Satz vom zureichenden rechnet es Kant als großes Verdienst an, Grunde des Werdens allgemein gelte, falle diese Gottesbeweise widerlegt bzw. deren auch Gott darunter. Dies aber bedeute, Unmöglichkeit dargetan zu haben, und er daß die Annahme eines ersten Gliedes schließt sich im wesentlichen dessen Ar77 KrV, A 298 / B 354. gumentation an. Allerdings hebt er sich 159
Gott einer Reihe von Ursachen, das Ursache seiner selbst (causa sui) wäre, nicht zulässig sei. Besonders deutlich hebt das Schopenhauer an folgender Stelle hervor: »Das rechte Emblem der causa sui ist Baron Münchhausen, sein im Wasser sinkendes Pferd mit den Beinen umklammernd und an seinem über dem Kopf nach vorn geschlagenen Zopf sich mit sammt dem Pferde in die Höhe ziehend; und darunter gesetzt: Causa sui.« (G 29) – Der teleologische Beweis stellt nach Schopenhauer lediglich eine »Amplifikation« (W I 624 u. P I 123 f.) des kosmologischen dar und setzt diesen voraus. Im günstigsten Falle zeige das Argument, daß die Zweckmäßigkeit der Welt in einem vernünftigen Prinzip gründe, nicht aber, daß dieses auch der Schöpfer der Welt sei. Wolle man darüber hinaus nachweisen, daß die Welt eine erste Ursache oder einen Schöpfer habe, so müsse man auf ein stärkeres Argument – nämlich den kosmologischen Beweis – zurückgreifen. Aber auch als Versuch, die Zweckmäßigkeit der Welt zu begreifen, ist das teleologische Argument nach Schopenhauer letzten Endes nicht geeignet. Zum einen lasse sich Zweckmäßigkeit lediglich durch Erfahrung konstatieren, die »höchstens große Wahrscheinlichkeit, nie Gewißheit geben [könne]« (P I 124), und zum andern sei es keineswegs erforderlich, die Existenz eines intelligenten Wesens anzunehmen, um das Auftreten von Zweckmäßigkeit zu erklären. Diese lasse sich auch auf den blinden, erkenntnislosen Willen zurückführen, dessen Objektivation die empirische Wirklichkeit sei. Natürlich ist Schopenhauer nicht entgangen, daß Kant in der Kritik der praktischen Vernunft eine Überlegung anstellt, um einsichtig zu machen, daß die An160
Lemmata nahme der Existenz eines göttlichen Wesens zwar nicht in theoretischer, wohl aber in praktischer Hinsicht vernünftig ist. Das einschlägige Argument wird gelegentlich als moralischer oder ethikotheologischer Gottesbeweis bezeichnet. Seine entscheidende Voraussetzung ist der Begriff des höchsten Guts, das angeblich den Sinn bzw. den letzten Zweck moralischen Handelns darstellt. Das höchste Gut besteht darin, daß jemand, der mit der Tugend die »Würdigkeit glücklich zu sein« 78 besitzt, in den Genuß der Glückseligkeit kommt. Damit gewährleistet ist, daß die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit tatsächlich eintritt, muß es – nach Kant – ein Wesen geben, das sie bewirkt, und dieses ist ein allwissender, allmächtiger und allgütiger Gott. Abgesehen davon, daß Schopenhauer mit dem »Monstrum einer theoretischen Lehre von bloß praktischer Gültigkeit« (P I 127) wenig anzufangen weiß, lehnt er die Prämisse des Beweises – und damit auch diesen selbst – ab: »Er stützt sich auf der falschen Voraussezung daß Sittlichkeit Glückseligkeit zur Absicht und Folge haben müsse« (HN II 286). Gerade in der Philosophie des spekulativen Idealismus werden noch andere Wege genannt, die angeblich zur Überzeugung von der Existenz Gottes führen. Schopenhauer nennt in diesem Zusammenhang die intellektuelle Anschauung, das Gottesbewußtsein, die Selbstbewegung des Begriffs sowie das unmittelbare Erkennen oder Vernehmen des Göttlichen (vgl. G 128 ff. sowie P I 205 f. u. 208 f.). Mit gutem Grund stuft Schopenhauer die Berufung auf diese Instanzen als einen Rückfall hinter Kants kritische Philosophie ein, ja er betrachtet sie gar als 78
KpV, A 198.
Lemmata eine Art »theoretisches Orakel« (G 139), das keinerlei Anspruch auf Verbindlichkeit erheben könne. Nun könnte man allerdings fragen, ob es überhaupt angemessen ist, nach einem rationalen Zugang zu Gott zu verlangen und ob sich dieser den Menschen nicht vielmehr durch Offenbarung mitteile. Schopenhauer zieht diese Möglichkeit durchaus in Erwägung, doch gelangt er zum Ergebnis, daß dieser Weg allenfalls der Religion, nicht aber der Philosophie offenstehe: »In der Christlichen Religion ist das Daseyn Gottes eine ausgemachte Sache und über alle Untersuchung erhaben. So ist es Recht: denn dahin gehört es und ist daselbst durch Offenbarung begründet. Ich halte es daher für einen Mißgriff der Rationalisten, wenn sie, in ihren Dogmatiken, das Daseyn Gottes anders, als aus der Schrift, zu beweisen versuchen: sie wissen, in ihrer Unschuld, nicht, wie gefährlich diese Kurzweil ist. Die Philosophie hingegen ist eine Wissenschaft und hat als solche keine Glaubensartikel: demzufolge darf in ihr nichts als daseiend angenommen werden, als was entweder empirisch geradezu gegeben, oder aber durch unzweifelhafte Schlüsse nachgewiesen ist.« (P I 121 f.; vgl. a. G 145 f.) Freilich ergibt sich daraus für Schopenhauer weder, daß die Philosophie die Kompetenz in der Frage nach Gott einfach an die Religion abtritt, noch bedeutet es gar, daß beide – Philosophie und Religion – miteinander vereinbar sind. Ganz im Gegenteil, Schopenhauer erkennt der Philosophie eindeutig den Vorrang zu und ist überzeugt, daß ein philosophierender Mensch ebensowenig religiös sein kann, wie das umgekehrt gilt: »Keiner der religiös ist gelangt zur Ph[ilosophie]; er braucht sie nicht. Keiner der wirklich philosophirt ist religiös:
Gott er geht ohne Gängelband, gefährlich aber frey.« (HN II 226) Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Annahme der Existenz e ines göttlichen Wesens für unbegründet hält, drängt sich die Frage auf, warum viele Menschen dennoch an Gott glauben. Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß die Überzeugung, es gebe einen Gott, nicht etwa theoretischen, sondern praktischen Ursprungs ist. Mit anderen Worten: »Der Theismus nämlich ist in der That kein Erzeugniß der Erkenntniß, sondern des Willens.« (P I 133) In diesem Zusammenhang stellt Schopenhauer eine Überlegung an, die er – ironisch – als keraunologischen Gottesbeweis bezeichnet. Es handelt sich darum, daß der Mensch angesichts des Drucks der Realität von einem »Gefühl der Hülfsbedürftigkeit, Ohnmacht und Abhängigkeit« (W I 624) ergriffen wird, das er dadurch überwindet, daß er die Gewalten, denen er ausgeliefert ist, personifiziert, um sie schließlich durch religiöse Handlungen wie Gebete oder Opfer zu beeinflussen.79 Natürlich ist das kein Beweis, sondern lediglich ein Versuch, die Überzeugung von der Existenz eines göttlichen Wesens psychologisch zu erklären. Als keraunologisch stuft Schopenhauer seine Erklärung ein, weil sie auf die Furcht der Menschen vor einer überlegenen Macht rekurriert. Besonders deutlich kommt das in einer Stelle von Petronius zum Ausdruck, die er zitiert: »Primus in orbe Deos fecit timor.« (ebd.) Neben seinen Einwänden gegen die Überzeugung von der Existenz eines göttlichen Wesens äußert Schopenhauer auch Kritik an einer Reihe von Eigenschaften, die insbesondere dem jüdisch-christlichen 79
Vgl. W I 624 sowie P I 123 u. 133 ff.
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Grund Gott zugeschrieben werden. Zunächst ist in diesem Zusammenhang das Theodizee-Problem zu nennen. Dieses läuft darauf hinaus, daß sich die Übel der Welt nicht ohne weiteres mit einem Gott vereinbaren lassen, der sich zugleich durch »Allgüte, Allweisheit und Allmacht« (P I 138) auszeichnet. Zwei der Probleme, die Schopenhauer nennt, haben damit zu tun, daß der jüdisch-christliche Gott den Menschen geschaffen hat. Daraus ergibt sich für Schopenhauer, daß der Mensch nicht frei ist und auch keine Verantwortung für sein Handeln trägt. Sei nämlich der Mensch ein Geschöpf, das Gott hervorgebracht habe, so verdanke er diesem nicht nur sein Dasein, sondern auch seine Beschaffenheit. Diese aber bestimme sein Handeln. Schopenhauer folgert daraus: »Handelt [er] nun schlecht; so kommt dies daher, daß [er] schlecht ist, und dann ist die Schuld nicht seine, sondern Dessen, der [ihn] gemacht hat.« (P I 140) Ferner legt Schopenhauer – unter Berufung auf Aristoteles – dar, daß alles, was in der Zeit beginnt, auch in der Zeit endet, und daß nur etwas, was keinen Anfang in der Zeit hat, auch kein Ende hat. Daraus ergibt sich für ihn, daß sich die Schöpfungslehre nicht mit der Lehre von der Unsterblichkeit der menschlichen Seele vereinbaren läßt (vgl. P I 143). – Ein letzter Einwand, den Schopenhauer übrigens auch im Zusammenhang mit Kants Lehre vom höchsten Gut vorbringt, lautet, daß die Annahme eines Gottes, der den Menschen für sein Tun belohnt oder bestraft, insofern der Moral abträglich sei, als er ihn lediglich dazu verleite, um des eigenen jenseitigen Vorteils willen zu handeln. Schopenhauer stellt dazu fest: »[S]o giebt der Theismus zwar der Moral eine Stütze, jedoch eine von der rohesten Art, ja, eine, 162
Lemmata durch welche die wahre und reine Moralität des Handelns im Grunde aufgehoben wird, indem dadurch jede uneigennützige Handlung sich sofort in eine eigennützige verwandelt, vermittelst eines sehr langsichtigen, aber sichern Wechsels, den man als Zahlung dafür erhält. Der Gott nämlich, welcher Anfangs der Schöpfer war, tritt zuletzt als Rächer und Vergelter auf. Rücksicht auf einen solchen kann allerdings tugendhafte Handlungen hervorrufen: allein diese werden, da Furcht vor Strafe, oder Hoffnung auf Lohn ihr Motiv ist, nicht rein moralisch seyn; vielmehr wird das Innere einer solchen Tugend auf klugen und wohl überlegenden Egoismus zurücklaufen.« (P I 139) Grund Der Begriff des Grundes nimmt eine – wenn nicht die – zentrale Stellung in Schopenhauers Erkenntnistheorie ein. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß sich der Satz vom zureichenden Grunde, den Schopenhauer in seiner mit Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813) betitelten Dissertation aufstellt, als Ausdruck der allgemeinen Form menschlicher Erkenntnis darbietet, der seinerseits sämtliche apriorischen Strukturen derselben in sich begreift. So hebt Schopenhauer hervor, »daß der Satz vom Grunde der gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori bewußten Formen des Objekts ist, und daß daher Alles, was wir rein a priori wissen, nichts ist, als eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm also eigentlich unsere ganze a priori gewisse Erkenntniß ausgesprochen ist.« (W I 32; vgl. a. W I 175, 221 u. 560) Im Zuge einer historischen Erläuterung des Satzes weist er darauf hin, daß dieser erstmals von Leibniz als »Hauptgrundsatz aller Erkenntniß und Wissen-
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Grund
schaft förmlich aufgestellt« (G 31) und den Satz vom Grunde zu verteidigen, sonvon Wolff in einem wesentlichen Punkt, dern es besagt lediglich, daß eine deduknämlich der Unterscheidung zwischen tive Herleitung – also eine Herleitung aus Seins- und Erkenntnisgrund (vgl. G 32 ff.), anderen Sätzen – zum Scheitern verurteilt differenzierter ausgestaltet wurde. Scho- ist. Vielmehr ist Schopenhauer überzeugt, penhauer schließt sich der auf Wolff zu- daß der Satz vom Grunde deshalb wahr rückgehenden Formulierung des Satzes ist, weil er bei jeder Begründung vorausan: »Nihil est sine ratione cur potius sit, gesetzt wird, sogar dann, wenn man die quam non sit.« (G 17) Frage nach der Begründung des Satzes Der Satz vom Grunde zeichnet sich, wie überhaupt erst aufwirft: »Wer nun einen Schopenhauer betont, dadurch vor ande- Beweis, d. i. die Darlegung eines Grundes, ren Prinzipien aus, daß er sich nicht be- für ihn fordert, setzt ihn eben hiedurch weisen oder erklären läßt. Dabei versteht schon als wahr voraus, ja, stützt seine ForSchopenhauer unter einem Beweis oder derung eben auf diese Voraussetzung. Er einer Erklärung ein deduktives Verfah- geräth also in diesen Cirkel, daß er einen ren, mit dessen Hilfe ein Satz oder ein Beweis der Berechtigung, einen Beweis zu Sachverhalt von einem anderen Satz oder fordern, fordert.« (G 38) Sachverhalt hergeleitet wird. Nun aber Schopenhauer vertritt die Auffasbeinhaltet der Satz vom Grunde, daß sung, daß sich der Satz vom zureichensich alle Sätze oder Sachverhalte auf an- den Grund einerseits in vier unterschieddere zurückführen lassen, so daß er das liche Gestalten aufgliedert, anderseits oberste Prinzip allen Beweisens oder Er- aber – der genannten Differenzierung klärens darstellt, das auf einer anderen, zum Trotz – eine und dieselbe apriorihöheren Ebene angesiedelt ist und – als sche Einsicht zum Ausdruck bringt. Geoberstes Prinzip – nicht von Prinzipien, nau diese nennt Schopenhauer die »Wurdie ihm nochmals übergeordnet wären, zel des Satzes vom zureichenden Grunde« abgeleitet werden kann: »Denn jeder Be- (G 41). Sie betrifft sowohl das Verhältnis weis ist die Zurückführung des Zweifel- von Subjekt und Objekt wie auch das Verhaften auf ein Anerkanntes, und wenn wir hältnis der Objekte zueinander: »Unser von diesem, was es auch sei, immer wieder erkennendes Bewußtseyn, als äußere und einen Beweis fordern, so werden wir zu- innere Sinnlichkeit (Receptivität), Verletzt auf gewisse Sätze gerathen, welche stand und Vernunft auftretend, zerfällt die Formen und Gesetze, und daher die in Subjekt und Objekt, und enthält nichts Bedingungen alles Denkens und Erken- außerdem. Objekt für das Subjekt seyn, nens ausdrücken, aus deren Anwendung und unsere Vorstellung seyn, ist das Selbe. mithin alles Denken und Erkennen be- Alle unsere Vorstellungen sind Objekte steht; so daß Gewißheit nichts weiter ist, des Subjekts, und alle Objekte des Subals Uebereinstimmung mit ihnen, folg- jekts sind unsere Vorstellungen. Nun aber lich ihre eigene Gewißheit nicht wieder findet sich, daß alle unsere Vorstellungen aus andern Sätzen erhellen kann.« (G 38; unter einander in einer gesetzmäßigen und vgl. a. G 173 sowie W I 113 f. u. 122) Frei- der Form nach a priori bestimmbaren Verlich bedeutet dies nicht, daß Schopen- bindung stehn, vermöge welcher nichts hauer über keine Argumente verfügt, um für sich Bestehendes und Unabhängiges, 163
Grund auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche der Satz vom zureichenden Grund, in seiner Allgemeinheit ausdrückt.« (ebd.)80 Indem Schopenhauer die einem Subjekt gegebenen Objekte mit Vorstellungen gleichsetzt, plädiert er für den transzendentalen Idealismus mit seiner Distinktion zwischen Erscheinung und Ding an sich und schränkt im gleichen Zug den Geltungsbereich des Satzes vom zureichenden Grunde ein. Handelt es sich bei den Objekten, von deren Verbindung die Rede ist, um Erscheinungen bzw. Vorstellungen, so gilt der Satz vom zureichenden Grunde lediglich für diese, nicht jedoch für das Ding an sich. Deshalb stellt Schopenhauer fest: »Nun ist aber der Satz vom Grunde in allen seinen Gestalten a priori, wurzelt also in unserm Intellekt: daher darf er nicht auf das Ganze aller daseienden Dinge, die Welt, mit Einschluß dieses Intellekts, in welchem sie dasteht, angewandt werden. Denn eine solche, vermöge apriorischer Formen sich darstellende Welt ist eben deshalb bloße Erscheinung: was daher nur in Folge eben dieser Formen von ihr gilt, findet keine Anwendung auf sie selbst, d. h. auf das in ihr sich darstellende Ding an sich.« (G 175; vgl. a. W I 34 f., 59, 63 f., 166 f. u. 517, W II 751 u. 757 sowie P I 92) Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer das Ding an sich mit 80 Bei
anderer Gelegenheit stuft Schopenhauer die apriorische Korrelation von Subjekt und Objekt im Verhältnis zum Satz vom zureichenden Grunde als noch fundamentaler ein: »[S]o gehn Objekt und Subjekt, schon als erste Bedingung, aller Erkenntniß, daher auch dem Satz vom Grunde überhaupt, vorher, da dieser nur die Form alles Objekts, die durchgängige Art und Weise seiner Erscheinung ist; das Objekt aber immer schon das Subjekt voraussetzt« (W I 41; vgl. a. W I 66).
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Lemmata dem Willen identifiziert, gilt auch für diesen, daß er nicht dem Satz vom Grunde unterworfen, also »grundlos« (W I 150, 158 u. 497), ist. Ferner hat der Satz vom Grunde, wie Schopenhauer darlegt, für die Idee als jenseits von Raum und Zeit angesiedelte Objektität des Willens ebenfalls »keine Bedeutung« (W I 221 u. 267 f. sowie W II 441 f.). Vergegenwärtigt man sich, daß sich der Satz vom Grunde auf die Relationen zwischen den Objekten bzw. Vorstellungen bezieht, so kann man nachvollziehen, daß schließlich auch das Subjekt, dem sie gegeben sind, sowie die Beziehung, in der es zu den Objekten steht, nicht unter ihn fallen. Deshalb weist Schopenhauer das Ansinnen zurück, das Subjekt vom Objekt oder das Objekt vom Subjekt her abzuleiten: »Der Realismus setzt das Objekt als Ursache, und deren Wirkung ins Subjekt. Der Fichte’sche Idealismus macht das Objekt zur Wirkung des Subjekts. Weil nun aber, was nicht genug eingeschärft werden kann, zwischen Subjekt und Objekt gar kein Verhältniß nach dem Satz vom Grunde Statt findet; so konnte auch weder die eine, noch die andere der beiden Behauptungen je bewiesen werden, und der Skepticismus machte auf beide siegreiche Angriffe.« (W I 41) Entscheidend am Satz vom zureichenden Grunde ist die Aussage, daß alle Objekte bzw. Vorstellungen mit anderen nach apriorischen Gesetzen in Verbindung stehen und allein dadurch, also nicht durch sich selbst, bestimmt sind. Verweist jedes Objekt auf ein anderes, so läuft dies für Schopenhauer auf die »Dependenz, Relativität, Instabilität und Endlichkeit der Objekte unsers in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, Subjekt und Objekt befangenen Bewußtseyns« (G 175; vgl. a. W I 34, 65 f. u. 221) hinaus, und es bedeutet über-
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Grund
dies, daß es kein Objekt gibt, das als letzSchopenhauer ist der Auffassung, daß ter Grund oder Absolutum in Frage käme die im Satz vom Grunde beschriebene (vgl. G 171 u. P I 92).81 Verbindung zwischen den Objekten bzw. Vorstellungen eine notwendige ist: »Der 81 Daher lehnt Schopenhauer auch die KonSatz vom zureichenden Grund überhaupt zeption einer causa sui ab: »Und wenn die Neospinozisten (Schellingianer, Hegelianer u. s. w.), ist Ausdruck der im Innersten unsers Ergewohnt, Worte für Gedanken zu halten, sich kenntnißvermögens liegenden Grundoft in vornehm andächtiger Bewunderung über form einer nothwendigen Verbindung dieses causa sui ergehn; so sehe ich meinerseits aller unserer Objekte, d. h. Vorstellungen: in causa sui nur eine contradictio in adjecto, ein Vorher was nachher ist, ein freches Machtwort, er ist die gemeinsame Form aller Vorsteldie unendliche Kausalkette abzuschneiden, ja, lungen und der alleinige Ursprung des ein Analogon zu jenem Oesterreicher, der, als Begriffes der Nothwendigkeit, als welcher er, die Agraffe auf seinem festgeschnallten Schacko zu befestigen, nicht hoch genug hinauf- schlechterdings keinen andern wahren reichen konnte, auf den Stuhl stieg. Das rechte Inhalt, noch Beleg, hat, als den des EinEmblem der causa sui ist Baron Münchhausen, tritts der Folge, wenn ihr Grund gesetzt sein im Wasser sinkendes Pferd mit den Beinen ist.« (G 107; vgl. a. W I 114, 158, 361 u. 573, umklammernd und an seinem über den Kopf E 47 sowie P 122) Damit läßt sich der Benach vorn geschlagenen Zopf sich mit sammt dem Pferde in die Höhe ziehend; und darunter griff der Notwendigkeit ebenso durch jegesetzt: Causa sui.« (G 29) – Im mit »Reihen nen des Grundes definieren, wie das auch der Gründe und Folgen« überschriebenen § 50 der Abhandlung über den Satz vom Grunde re- umgekehrt möglich ist: »Nothwendigseyn lativiert Schopenhauer diese Auffassung. Zwar und Aus einem gegebenen Grund folgen seien die Reihen der Seins- und Werdens- sind mithin Wechselbegriffe, welche als gründe unendlich, doch die Reihe der Erkenntsolche überall einer an die Stelle des annisgründe ende »immer irgendwo, nämlich entweder in einer empirischen, oder transscenden- dern gesetzt werden können.« (G 170 f.; talen, oder metalogischen Wahrheit« (G 172). vgl. a. W I 361 u. 567 f. sowie E 47) Unter Da nun die transzendentale und die metalo- Freiheit hingegen versteht Schopenhauer gische Wahrheit die letzten Bedingungen der das Gegenteil der Notwendigkeit, die fehMöglichkeit der Erkenntnis beträfen, ließen lende Abhängigkeit von einem Grund: sich die entsprechenden Urteile nicht mehr weiter begründen: »Beruht hingegen eine Kette »Der Begriff der Freiheit ist also eigentvon Urtheilen zuletzt auf einem Satz von translich ein negativer, indem sein Inhalt bloß scendentaler, oder metalogischer Wahrheit, und man fährt fort zu fragen Warum; so giebt es da- die Verneinung der Nothwendigkeit, d. h. des dem Satz vom Grund gemäßen Verrauf keine Antwort, weil die Frage keinen Sinn hat, nämlich nicht weiß, was für einen Grund hältnisses der Folge zu ihrem Grunde ist.« sie fordert. Denn der Satz vom Grunde ist das (W I 361; vgl. a. W I 497 u. E 47) Anläßlich Princip aller Erklärung: eine Sache erklären heißt ihren gegebenen Bestand, oder Zusam- seiner Erörterung der Notwendigkeit wird menhang, zurückführen auf irgend eine Gestal- Schopenhauer nicht müde zu betonen, tung des Satzes vom Grunde, der gemäß er seyn daß sich zwar die Folge notwendig aus ihmuß, wie er ist. Diesem gemäß ist der Satz vom Grunde selbst, d. h. der Zusammenhang, den er, rem Grund ergibt, nicht aber eine Folge notwendig auf einen bestimmten Grund in irgend einer Gestalt, ausdrückt, nicht weiter erklärbar; weil es kein Princip giebt, das Prin- verweist: »[V]om Daseyn des Grundes auf
cip aller Erklärung zu erklären, – oder wie das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht.« (G 173) Was schließlich die Reihe der Gründe des Wollens anbelangt, so ist Schopenhauer der Auffas-
sung, daß sie stets in einer »Vorstellung aus den zwei ersten Klassen« (ebd.), also in einer anschaulichen oder abstrakten Vorstellung, ende.
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Grund
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das Daseyn der Folge, und vom Nichtseyn Regel durch andere Ereignisse bzw. Verder Folge auf das Nichtseyn des Grundes, änderungen des Zustands von Objekten ist der Schluß richtig: aber vom Nichtseyn hervorgebracht werden: »Wenn ein neuer des Grundes auf das Nichtseyn der Folge, Zustand eines oder mehrerer realer Obund vom Daseyn der Folge auf das Da- jekte eintritt; so muß ihm ein anderer vorseyn des Grundes ist der Schluß unrich- hergegangen seyn, auf welchen der neue tig.« (G 169; vgl. a. N 238, W II 107 u. P I regelmäßig, d. h. allemal, so oft der erstere 123) Dies bedeutet für Schopenhauer, daß daist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein hypothetische Erklärungen von Ereignis- Erfolgen und der erstere Zustand die Ursen, wie sie von den Naturwissenschaften sache, der zweite die Wirkung.« (G 49) Es geliefert werden, prinzipiell die Möglich- liegt auf der Hand, daß die fraglichen Obkeit des Irrtums in sich tragen und oftmals jekte empirische Gegenstände sind. Sind revidiert werden müssen (vgl. W I 117 f.). deren Veränderungen ausnahmslos dem Schopenhauer geht noch einen – aller- »Gesetz der Kausalität« unterworfen, so dings reichlich gewagten – Schritt weiter bedeutet dies, daß Schopenhauer eine deund behauptet, »daß jeder Irrthum ein terministische Position einnimmt. Schluß von der Folge auf den Grund ist« Was hingegen den Satz vom zureichen82 (W I 120; vgl. a. W II 107). den Grunde des Erkennens anbelangt, so Ist im Titel von Schopenhauers Disser- bezieht er sich nicht auf empirische Getation von einer vierfachen Wurzel des genstände, sondern auf Begriffe bzw. auf Satzes vom zureichenden Grunde die Urteile, die eine Verbindung von BegrifRede, so ist damit gemeint, daß es vier fen darstellen: »In Beziehung auf diese Klassen von »Objekten« (G 41) gibt, de- Urtheile nun macht sich hier der Satz vom nen vier Gestalten des Prinzips entspre- Grunde abermals geltend […], nämlich als chen. Wie bereits angedeutet wurde, ist Satz vom Grunde des Erkennens, princidiesen eine und dieselbe »Eigenthümlich- pium rationis sufficientis cognoscendi. keit« oder »Urbeschaffenheit unsers gan- Als solcher besagt er, daß wenn ein Urtzen Erkenntnißvermögens« (G 175 u. 177) heil eine Erkenntniß ausdrücken soll, es gemeinsam, die in der gesetzmäßigen Ab- einen zureichenden Grund haben muß: hängigkeit der Objekte von anderen Ob- wegen dieser Eigenschaft erhält es sodann jekten besteht. So differenziert Schopen- das Prädikat wahr.« (G 121) Demnach hauer zwischen dem Satz vom zureichen- fällt – nach Schopenhauer – die Wahrheit den Grund des Werdens, des Erkennens, eines Urteils damit in eins, daß es begründes Seins sowie des Handelns. det ist: »Die Wahrheit ist also die BezieDen Satz vom zureichenden Grunde hung eines Urtheils auf etwas von ihm des Werdens setzt Schopenhauer mit dem Verschiedenes, das sein Grund genannt »Gesetz der Kausalität« gleich. Es beinhal- wird« (ebd.).83 Schopenhauer unterscheitet, daß alle Ereignisse bzw. Veränderun- det zwischen vier Arten der Wahrheit, degen des Zustands von Objekten nach einer 83 Gegen
82 Gegen
diese Einschätzung spricht allein schon, daß man auch beim Übergang vom Grund zur Folge einen Fehler begehen und dadurch in die Irre gehen kann.
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diese Auffassung könnte man geltend machen, daß ein Urteil auch dann wahr sein kann, wenn es nicht oder nicht richtig begründet ist. Eine Begründung kann zu einem wahren Urteil hinzutreten, muß es aber nicht. Sie
Lemmata nen er vier Arten von Gründen zuordnet (vgl. G 121 ff.). Dies sind die logische, die empirische, die transzendentale sowie die metalogische Wahrheit. Während die logi sche Wahrheit eines Urteils darin besteht, daß es formal korrekt von anderen Urteilen – seinen Prämissen – abgeleitet ist, kommt einem Urteil empirische Wahrheit zu, wenn es durch empirische Anschauung bzw. Erfahrung bestätigt wird. Durch transzendentale Wahrheit zeichnen sich hingegen Urteile aus, die apriorische Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ausdrücken, und durch metalogische Wahrheit diejenigen, welche die formalen Bedingungen des Denkens zum Gegenstand haben. In den beiden letzteren Fällen wird die Begründung, wie Schopenhauer darlegt, durch eine »Reflexion« bzw. eine »Selbstuntersuchung der Vernunft« (G 125) geleistet. Der Satz vom zureichenden Grunde des Seins zielt auf die apriorischen Formen der Anschauung, Raum und Zeit, ab und besagt, daß raum-zeitliche Objekte durch andere bestimmt sind: »Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Theile in einem Verhältniß zu einander stehn, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen andern bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dies Verhältniß Lage, in der Zeit Folge.« (G 148) Da nun der Raum die Grundlage der Geometrie und die Zeit, wie Schopenhauer – Kant folgend – glaubt, die Grundlage der Arithmetik darstellt, könnte man sagen, daß sich der Satz vom zureichenden Grund des Seins auf die anschaulichen Grundlagen der Mathematik bezieht. Ist von einer Bestimmung raum-zeitlicher würde ihm allenfalls zu einer höheren Dignität, nicht jedoch zur Wahrheit verhelfen.
Grund Gegebenheiten die Rede, so besagt dies nichts anderes, als daß deren Position in Raum und Zeit allein in Relation zu anderen räumlichen und zeitlichen Entitäten angegeben werden kann, die gleichsam den Grund dieser Position ausmachen. Im Gegensatz zu den drei ersten Gestalten des Satzes vom zureichenden Grunde hat die vierte, der Satz vom zureichenden Grunde des Handelns, nur ein Objekt, das wollende Subjekt bzw. das Subjekt als wollendes. Gelegentlich spricht Schopenhauer von einem »Subjekt des Wollens«, das er dem »Subjekt des Erkennens« (G 157 ff.) gegenüberstellt. Dabei handelt es sich freilich nicht um zwei unterschiedliche Subjekte, sondern um zwei Aspekte, die an einem und demselben Subjekt anzutreffen sind. Einerseits siedelt Schopenhauer das wollende Subjekt in der empirischen Wirklichkeit an, anderseits stuft er die volitionalen Regungen, die es hat, nicht als äußere, sondern als innere Zustände ein: »Wenn wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend.« (G 160) Genau diese Dualität schlägt sich auch im Status des Satzes vom zureichenden Grunde des Handelns nieder. Als empirische Gegebenheit fällt das wollende Subjekt unter den Satz vom zureichenden Grunde des Werdens bzw. das Gesetz der Kausalität, doch angesichts der Tatsache, daß volitionale Regungen nicht dem äußeren, sondern dem inneren Sinn gegeben sind, hält es Schopenhauer für angemessen, eine besondere Art der Kausalität für sie zu fordern: »Hieraus ergiebt sich der wichtige Satz: die Motivation ist die Kausalität von innen gesehn.« (G 162) Daher bezeichnet Schopenhauer den Satz vom zureichenden Grund des Handelns auch als »Gesetz der Motivation« (ebd.). Es beinhaltet, daß volitionale Regungen 167
gut / böse bzw. Willensakte – zusammen mit den ihnen korrespondierenden Handlungen – mit derselben Notwendigkeit durch Motive hervorgebracht werden wie äußere Ereignisse durch äußere Ursachen: »Wie jede Wirkung in der unbelebten Natur ein nothwendiges Produkt zweier Faktoren ist, nämlich der hier sich äußernden allgemeinen Naturkraft und der diese Aeuße rung hier hervorrufenden einzelnen Ursache; gerade so ist jede That eines Menschen das nothwendige Produkt seines Charakters und des eingetretenen Motivs. Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt sie unausbleiblich.« (E 95) gut / böse Schopenhauer definiert »gut« und »böse« im Ausgang vom Willen. Gut im ursprünglichen Sinne ist etwas genau dann, wenn es einer Regung des Willens förderlich ist. Damit bezeichnet der Begriff des Guten die »Angemessenheit eines Objekts zu irgend einer bestimmten Bestrebung des Willens.« (W I 448) Angesichts der Tatsache, daß höchst unterschiedliche Dinge die entsprechende Beschaffenheit haben können, ist der Bereich dessen, was unter den Begriff »gut« fällt, entsprechend weit: »Darum sagen wir gutes Essen, gute Wege, gutes Wetter, gute Waffen, gute Vorbedeutung u. s. w., kurz, nennen Alles gut, was gerade so ist, wie wir es eben wollen« (ebd.). Da der Begriff des Guten vom Willen abhängt, also dadurch seine konkrete Bestimmung erhält, was ein Individuum jeweils will, betrachtet ihn Schopenhauer als relativ. Dies beinhaltet auch, daß für unterschiedliche Individuen keineswegs dasselbe gut zu sein braucht. So hebt Schopenhauer hervor: »[D]aher auch dem Einen gut seyn kann, was dem Andern gerade das Gegentheil davon ist.« (ebd.) Bei alledem glie168
Lemmata dert sich der Begriff des Guten in zwei Bereiche. Dient etwas der gegenwärtigen Befriedigung des Willens, so ist es angenehm, dient es der zukünftigen Befriedigung, so ist es nützlich. Natürlich kann man auch Menschen als gut bezeichnen, wenn sie die genannte Eigenschaft besitzen. Schopenhauer ist konsequent genug, auch in diesem Zusammenhang die Relativität des Begriffs beizubehalten. Allerdings versucht er darüber hinaus, dem Umstand gerecht zu werden, daß manche Menschen insgesamt als gut betrachtet werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht allein den voluntativen Regungen einzelner Individuen, sondern denen aller förderlich sind: »Diejenigen aber, deren Charakter es mit sich brachte, überhaupt die fremden Willensbestrebungen als solche nicht zu hindern, vielmehr zu befördern, die also durchgängig hülfreich, wohlwollend, freundlich, wohlthätig waren, sind, wegen dieser Relation ihrer Handlungsweise zum Willen Anderer überhaupt, gute Menschen genannt worden.« (ebd.) Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer die Relativität des Guten betont, so erstaunt es nicht weiter, daß er den Begriff eines absoluten oder höchsten Guts bzw. des summum bonum ablehnt. Zugunsten dieser Einschätzung macht er darüber hinaus geltend, daß diese Begriffe eine »finale Befriedigung des Willens, nach welcher kein neues Wollen einträte« (W I 450), beinhalten würden. Solch ein Zustand ist jedoch nach seiner Auffassung in der empirischen Wirklichkeit nicht möglich. Vielmehr trete nach jeder Befriedigung eine neue Willensregung auf, die ihrerseits nach Befriedigung verlange, ohne daß jemals ein Ende abzusehen wäre: »Der Wille kann so wenig durch
Lemmata irgend eine Befriedigung aufhören stets wieder von Neuem zu wollen, als die Zeit enden oder anfangen kann: eine dauernde, sein Streben vollständig und auf immer befriedigende Erfüllung giebt es für ihn nicht.« (ebd.) Obgleich Schopenhauer darauf besteht, den Begriff des Guten im Rekurs auf den Willen bzw. dessen Befriedigung zu bestimmen, hält er einen übertragenen Gebrauch des Ausdrucks summum bonum durchaus für legitim. Was er damit bezeichnet, ist freilich kein Zustand der Befriedigung des Willens, sondern die »gänzliche Selbstaufhebung und Verneinung des Willens, die wahre Willenslosigkeit, als welche allein den Willensdrang für immer stillt und beschwichtigt« (ebd.). Mit diesem Zustand kommt der Wille zwar zur Ruhe, aber gerade nicht dadurch, daß er befriedigt würde, sondern dadurch, daß er erlischt. Hält man sich vor Augen, daß Schopenhauer darin die Erlösung des Menschen – also etwas durch und durch Positives – erblickt, so wird deutlich, daß er mit der Definition des Guten als einer Instanz, die einer Willensregung förderlich ist, weniger seine eigene Auffassung als eine Erläuterung des allgemeinen Sprachgebrauchs von »gut« vorlegt. Schopenhauer bezeichnet das Gegenteil von »gut«, sofern es sich um ein Wesen handelt, das nicht der Erkenntnis fähig ist, als »schlecht« oder, sofern es ein erkennendes Wesen ist, als »böse« (W I 448 u. E 306). Ein böser Mensch ist jemand, der ein Unrecht begeht. Schopenhauer stellt dazu fest: »Nach unserer Erklärung des Unrechts heißt dieses, daß ein solcher nicht allein den Willen zum Leben, wie er in seinem Leibe erscheint, bejaht; sondern in dieser Bejahung so weit geht, daß er den in andern Individuen erscheinenden Wil-
Handlung len verneint; was sich darin zeigt, daß er ihre Kräfte zum Dienste seines Willens verlangt und ihr Daseyn zu vertilgen sucht, wenn sie den Bestrebungen seines Willens entgegenstehn.« (W I 450 f.) Ob ein Mensch gut oder böse ist, bemißt sich nach Schopenhauer nicht zuletzt daran, ob er den Unterschied zwischen sich selbst und dem Anderen aufhebt oder betont: »Dieser empfindet überall eine starke Scheidewand zwischen sich und Allem außer ihm. Die Welt ist ihm ein absolutes Nicht-Ich und sein Verhältniß zu ihr ein ursprünglich feindliches: dadurch wird der Grundton seiner Stimmung Gehässigkeit, Argwohn, Neid, Schadenf reude. – Der gute Charakter hingegen lebt in einer seinem Wesen homogenen Außenwelt: die Andern sind ihm kein Nicht-Ich, sondern ›Ich noch ein Mal‹.« (E 312) Dies wiederum hängt laut Schopenhauer davon ab, ob der betreffende Mensch im principium individuationis befangen ist oder es durchschaut hat. Handlung Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer eine deterministische Position einnimmt, so überrascht es nicht, daß Handlungen nach seiner Auffassung genauso notwendig wie andere Ereignisse geschehen. Genauer gesagt werden sie vom Charakter des Handelnden sowie seinem Motiv bestimmt (vgl. E 97 u. P II 252). Würde man beide kennen, so ließe sich die resultierende Handlung vorhersagen: »Außerdem aber läßt sich was [ein Mensch], beim Eintritt jener Umstände, thun wird, ganz allein, jedoch mit völliger Gewißheit vorherbestimmen aus einer richtigen und genauen Kenntniß seines Charakters und der äußern Umstände, unter deren Einwirkung er alsdann geräth.« (P II 252; vgl. a. E 95) Gibt es einen Un169
Heiligkeit terschied zwischen menschlicher Handlung und tierischem Verhalten, so betrifft er nach Schopenhauer nicht die Determination, sondern die Art des Motivs, das beteiligt ist. Während es beim Tier eine anschauliche Vorstellung sei, könne beim Menschen auch eine abstrakte – das heißt, ein Begriff oder Gedanke – als Motiv wirken (vgl. G 113 f., W I 127 f.). Handlungen, deren Motiv eine abstrakte Vorstellung ist, stuft Schopenhauer als vernünftig ein, und die Art der Vernunft, die zu Handlungen motiviert, nennt er »praktische Vernunft« (W I 125, 127 f., 634 u. 637). Im Gegensatz zu Kant weigert sich Schopenhauer, in der praktischen Vernunft ein Kriterium des moralischen Wertes einer Handlung zu erblicken. Dieses besteht nach seiner Auffassung vielmehr darin, daß eine Handlung altruistisch ist bzw. aus Mitleid erfolgt (vgl. E 242 ff. u. 249). Schopenhauer ist überzeugt, daß ein Entschluß nicht etwa im bloßen Wunsch, sondern erst im Handeln zum Ausdruck kommt (vgl. W I 376). Angesichts der Tatsache, daß der Entschluß einen Akt des Willens darstellt, läßt sich der Charakter eines Menschen bzw. sein Wille an seinen Handlungen ablesen. So erklärt Schopenhauer: »Denn nur unsere Thaten halten uns den Spiegel unsers Willens vor.« (W I 377) – Obgleich die Vernunft die entscheidende Voraussetzung dafür ist, daß der Mensch abstrakte Vorstellungen besitzt und sich daran orientieren kann, ist Schopenhauer davon überzeugt, »daß das Handeln des Menschen, im Ganzen und Wesentlichen, nicht von seiner Vernunft und deren Vorsätzen geleitet wird […]: sondern aus seinem angeborenen und unveränderlichen Charakter [hervorgeht]« (P II 251). 170
Lemmata Heiligkeit Schopenhauer versteht unter Heiligkeit einen Zustand des Menschen, der in ethischer Hinsicht besonders wertvoll, ja sogar das höchste Ziel des Menschen ist. Daß es sich um ein ethisches Phänomen handelt, geht auch daraus hervor, daß er die Heiligkeit häufig in einem Zuge mit der Tugend nennt (vgl. W I 95, 343, 474 f., 502, 508 u. W II 714).84 Beide haben gemeinsam, daß sie aus einer Erkenntnis hervorgehen, die ihrerseits eine Modifikation des Willens mit sich bringt.85 Die fragliche Erkenntnis ist nach Schopenhauer nicht abstrakt oder reflexiv, sondern intuitiv, das heißt, sie gründet nicht in bloßen Begriffen, sondern in der Anschauung (vgl. W I 95, 334 u. 474 f.), und sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie das Wesen der Wirklichkeit, also die Ideen (vgl. W I 347) bzw. den Willen als Ding an sich (vgl. ebd. u. 362 sowie W II 713), zum Gegenstand hat. Genauer gesagt handelt es sich darum, daß der Wille als das allen Erscheinungen zugrunde liegende Ding an sich erfaßt wird. Vergegenwärtigt man sich, daß der Mensch, der zu dieser Erkenntnis gelangt, metaphysisch betrachtet, eine Erscheinung des Willens ist, so leuchtet ein, daß Schopenhauer in diesem 84 Dabei
betrachtet Schopenhauer die Tugend gleichsam als Vorstufe zur Heiligkeit. Vgl. W II 709, 714 u. 749 f. An einer Stelle (vgl. W II 713) schreibt Schopenhauer bereits der Tugend selbst Heiligkeit zu. Dabei kann freilich nur Heiligkeit in einem schwächeren oder übertragenen Sinne gemeint sein. 85 Einen zweiten – häufiger beschrittenen – Weg (δευτερος πλους), der zu solch einer Wendung des Willens bzw. zur Heiligkeit führt, erblickt Schopenhauer im Leiden: »Das Leiden ist in der That der Läuterungsproceß, durch welchen allein in den meisten Fällen, der Mensch geheiligt, d. h. von dem Irrweg des Willens zum Leben zurückgeführt wird.« (W II 745; vgl. a. W II 748)
Lemmata Zusammenhang von einer Selbsterkenntnis des Willens spricht. Infolge der Erkenntnis der Identität des Willens in den Erscheinungen hört der Mensch auf, seinen Willen zu bejahen, und beginnt, ihn zu verneinen. Die Verneinung des Willens zum Leben, in der Schopenhauer die Erlösung erblickt, äußert sich in Resignation und wird nicht zuletzt durch Askese herbeigeführt. So kann Schopenhauer die Heiligkeit folgendermaßen beschreiben: »Vielleicht ist also hier zum ersten Male, abstrakt und rein von allem Mythischen, das innere Wesen der Heiligkeit, Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgesprochen als Verneinung des Willens zum Leben, eintretend, nachdem ihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wollens geworden.« (W I 474; vgl. a. W I 204, 362 u. 504) Mit der Verneinung des Willens gehen nach Schopenhauer eine »Selbstverleugnung« (W I 362 u. 474) bzw. eine »Verneinung und Aufgebung [der] Person« (W I 503) einher, die sich in der Auflösung des Individuums im Nichts vollendet. So erklärt Schopenhauer, »daß nachdem unsere Betrachtung zuletzt dahin gelangt ist, daß wir in der vollkommenen Heiligkeit das Verneinen und Aufgeben alles Wollens und eben dadurch die Erlösung von einer Welt, deren ganzes Daseyn sich uns als Leiden darstellte, vor Augen haben, uns nun eben dieses als ein Uebergang in das leere Nichts erscheint« (W I 504). Dies aber bedeutet, daß er im Eingehen in das Nichts das »letzte Ziel hinter aller Tugend und Heiligkeit« (W I 508) sieht. Ich Schopenhauer gebraucht den Ausdruck »Ich« nur selten, um bestimmte Aspekte menschlicher Subjektivität zu be-
Ich schreiben. Das liegt nicht zuletzt daran, daß er sich einer Gefahr bewußt ist, die mit der Substantivierung des Personalpronomens »ich« droht. So wirft er Fichte vor, daß er das Subjekt durch die genannte Substantivierung zu einem Objekt mache, das es in Wirklichkeit nicht sei: »Eine von Fichte eingeführte und seitdem habilitirte Erschleichung liegt im Ausdruck das Ich. Hier wird nämlich, durch die substantive Redeform und den vorgesetzten Artikel, das wesentlich und schlechthin Subjektive zum Objekt umgewandelt. Denn in Wahrheit bezeichnet Ich das Subjektive als solches, welches daher gar nie Objekt werden kann, nämlich das Erkennende im Gegensatz und als Bedingung alles Erkannten.« (P II 46) Ähnlich wie Schopenhauer zwischen einem Subjekt des Erkennens und einem Subjekt des Wollens unterscheidet, stellt er fest, daß das Ich »nicht schlechthin einfach [ist], sondern […] aus einem Erkennenden, Intellekt, und einem Erkannten, Wille [besteht]« (W II 230; vgl. a. W II 236, 316 u. 586 sowie P II 76 u. 642). Beide zusammen machen – laut Schopenhauer – das »Bewußtseyn Eines Ich« (W II 230) aus, das er auch als das »pro tempore identische Subjekt des Erkennens und Wollens« (W II 236) charakterisiert. Nun behauptet Schopenhauer, das Ich sei sich »nicht durch und durch intim […], sondern [sei] opak und bleib[e] daher sich selber ein Räthsel« (W II 230; vgl. a. W II 162 u. 575 f. sowie E 307). Damit ist zweierlei gemeint: Zum einen befindet sich das erkennende Ich als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis auf einer anderen Ebene als die zu erkennenden Gegenstände und kann nicht auf dieselbe Art und Weise wie diese erkannt werden; zum andern läßt sich der Wille, an welchem das Ich 171
Idealismus als Wollendes teilhat, nicht adäquat erkennen: »Demnach hat in dieser innern Erkenntiß das Ding an sich seine Schleier zwar großen Theils abgeworfen, tritt aber doch noch nicht ganz nackt auf. In Folge der ihm noch anhängenden Form der Zeit erkennt Jeder seinen Willen nur in dessen successiven einzelnen Akten, nicht aber im Ganzen, an und für sich« (W II 230; vgl. a. W I 223, E 307 u. P II 106). Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer immer wieder vom erkennenden Ich bzw. dem Subjekt des Erkennens spricht, kann er nicht ernsthaft meinen, daß es sich jeder Erkenntnis entzieht. So benutzt er, um den Zugang zu ihm zu beschreiben, Ausdrücke wie »finden«, »erfassen« oder »nachweisen« (Vo I 129 u. P I 118). Bei anderer Gelegenheit gebraucht er, um diese Eigentümlichkeit zu beschreiben, das Verb »erkennen« auf paradoxe Weise: »Sich selbst aber kann das erkennende Subjekt aus obigem Grunde nicht erkennen; weil nämlich an ihm nichts zu erkennen ist, als eben nur, daß es das Erkennende sei, eben darum aber nie das Erkannte.« (P II 55) Schopenhauer bezeichnet das erkennende Subjekt gelegentlich auch als das »logische« oder »theoretische Ich« (W II 162 u. 293), das als »centrale[r] Einheitspunkt« (W II 292) oder »Träger des ganzen Bewußtseyns« (W II 293) fungiert. Er setzt es mit Kants »synthetische[r] Einheit der Apperception [gleich], auf welche alle Vorstellungen sich wie auf eine Perlenschnur reihen und vermöge deren das ›Ich denke‹, als Faden der Perlenschnur, ›alle unsere Vorstellungen muß begleiten können‹« (ebd.; vgl. a. W II 162 u. 325). Freilich läßt er es – im Gegensatz zum Königsberger Denker – in einer fundamentaleren Instanz, dem Willen, grün172
Lemmata den, der als »eigentliche[s]« oder »letzte[s] Substrat« (E 307 u. W II 302) der kognitiven und volitionalen Vollzüge fungiert und ihnen Einheit verleiht: »Nun aber ist der Wille allein das Beharrende und Unveränderliche im Bewußtseyn. […] Er also ist der wahre, letzte Einheitspunkt des Bewußtseyns und das Band aller Funktionen und Akte desselben: er gehört aber nicht selbst zum Intellekt, sondern ist nur dessen Wurzel, Ursprung und Beherrscher.« (W II 162 f.) Idealismus Schopenhauer nimmt in seiner Erkenntnistheorie eine von Kant geprägte idealistische Position ein, die er freilich im Ausgang von anthropologischen und willensmetaphysischen Überlegungen relativiert. Als Begründer des Idealismus nennt er zunächst Berkeley (vgl. W I 30 sowie P I 22 u. 91), doch Kant schreibt er das Verdienst zu, eine detailliertere und präzisere Argumentation zu entwickeln: »Bei Allem, was frühere Idealisten, zumal Berkeley, gelehrt haben, erhält man die recht gründliche Ueberzeugung davon doch erst durch Kant; weil er die Sache nicht mit Einem Schlage abthut, sondern ins Einzelne geht, das Apriorische ausscheidet und dem empirischen Element überall Rechnung trägt.« (P II 45; vgl. a. G 35, W I 20 f. sowie W II 15) Dabei geht Schopenhauer noch einen Schritt weiter und erklärt, daß er »Kants größtes Verdienst« (W I 514) gerade in seinem Idealismus erblickt. Genauer gesagt liegt, wie Schopenhauer erläutert, bei Kant ein transzendentaler Idealismus vor, der sich von anderen Spielarten des Idealismus unterscheidet. Inhaltlich läuft der transzendentale Idealismus darauf hinaus, daß sich die Erkenntnis nicht etwa auf vorstellungsunabhängige Dinge
Lemmata
Idealismus
an sich, sondern auf Erscheinungen bzw. selbst nur die Realität einer Erscheinung Vorstellungen bezieht und daß ihre Ge- sei.« (P I 99; vgl. a. W I 42 f. u. W II 15)86 genstände sowie deren apriorische EiSchopenhauer ist in hohem Maße von genschaften (Raum, Zeit, kategoriale Be- der Richtigkeit der idealistischen Posistimmungen) ebenfalls Erscheinungen tion überzeugt, die er – in seiner eigenen bzw. Vorstellungen sowie Eigenschaften Terminologie – mit folgenden Worten bederselben sind (vgl. G 35 u. 47, W II 15 so- schreibt: »Keine Wahrheit ist also gewiswie P I 98). Freilich grenzt Schopenhauer ser, von allen andern unabhängiger und den transzendentalen Idealismus gegen eines Beweises weniger bedürftig, als den – z. B. von Berkeley vertretenen (vgl. diese, daß Alles, was für die Erkenntniß W II 554) – »absoluten Idealismus« ab, daist, also die ganze Welt, nur Objekt in der mit seiner These, die gesamte Wirk- Beziehung auf das Subjekt ist, Anschaulichkeit erschöpfe sich in Vorstellungen, ung des Anschauenden, mit Einem Wort, einem »theoretischen Egoismus« gleich- Vorstellung. […] Alles, was irgend zur komme: »Das angeschaute Objekt aber Welt gehört und gehören kann, ist unausmuß etwas an sich selbst seyn und nicht weichbar mit diesem Bedingtseyn durch bloß etwas für Andere: denn sonst wäre das Subjekt behaftet, und ist nur für das es schlechthin nur Vorstellung, und wir Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.« (W I hätten einen absoluten Idealismus, der 29; vgl. a. W II 11) Was hingegen den Reaam Ende theoretischer Egoismus würde, lismus mit seiner Annahme anbelangt, es bei welchem alle Realität wegfällt und die gebe eine von der Vorstellung unabhänWelt zum bloßen subjektiven Phantasma wird.« (W II 226) Was den transzenden86 Die entgegengesetzte Position ließe sich talen Idealismus vom absoluten Idealis- – mit Kant – als »empirischer Idealismus« bemus unterscheidet, ist die Annahme der zeichnen. Sie beinhaltet, daß sich innerhalb des Existenz eines Dinges an sich. Darüber Bereichs der Erscheinung keine Unterscheidung zwischen bloß Subjektivem einerseits hinaus betont Schopenhauer im Einklang und Objektivem anderseits treffen läßt, so daß mit Kant, daß der transzendentale Idea- alle empirische Realität bloß subjektiv wäre. lismus mit einem empirischen Realismus Vgl. KrV, A 376 f. u. A 491 / B 520. – Versichert einhergehe. Dies bedeutet, daß sich die Schopenhauer bei anderer Gelegenheit, der transzendentale Idealismus beinhalte, daß die Gegenstände der Erkenntnis – trotz ih- empirische Wirklichkeit in gewisser Hinsicht rer Idealität – nicht etwa als »Lüge« oder einem Traum gleiche (vgl. G 36, W I 45 ff. u. 516 »Schein« (W I 43), sondern als empirisch sowie W II 10), so ist darin kein Widerspruch zu seinem empirischen Realismus zu erblicken. real darbieten. Vor dem Hintergrund des Während der empirische Realismus innerhalb transzendentalen Idealismus leuchtet ein, der Erkenntnistheorie angesiedelt ist und dort daß Kant und Schopenhauer die empiri- allein die Unterscheidung zwischen subjektiver sche Realität im Bereich der Erscheinung und objektiver Vorstellung ermöglicht, stellt die Rede von der »traumartigen Beschaffenbzw. Vorstellung ansiedeln: »Der trans heit der ganzen Welt« (W I 516) das Resultat scendentale Idealismus macht inzwischen einer vom Standpunkt der Welt als Wille durchder vorliegenden Welt ihre empirische geführten Reflexion über die Welt als VorstelRealität durchaus nicht streitig, sondern lung dar. Solch eine Deutung des transzendentalen Idealismus geht eindeutig über Kant besagt nur, daß diese keine unbedingte sei hinaus und reiht sich eher in die Tradition des […]; daß mithin diese empirische Realität indischen Denkens ein. 173
Idealismus gige, der Erkenntnis zugängliche Wirklichkeit, so qualifiziert ihn Schopenhauer als »windiges Luftgebäude« (W II 11) ab und erklärt in reichlich apodiktischer Manier, er sei »geradezu undenkbar« (W II 12; vgl. a. W II 16 u. 570 sowie P I 22), scheitere also schon allein daran, daß er sich widerspreche. Manchmal greift Schopenhauer auf eine physiologische Terminologie zurück, um den Idealismus zu charakterisieren. So behauptet er immer wieder, die empirische Wirklichkeit bestehe nicht etwa an sich, sondern sei durch das Gehirn bedingt und stelle daher lediglich ein »Gehirnphänomen« dar: »Da hat nun endlich die Philosophie der neueren Zeit, zumal durch Berkeley und Kant, sich darauf besonnen, daß Jenes alles zunächst doch nur ein Gehirnphänomen und mit so großen, vielen und verschiedenen subjektiven Bedingungen behaftet sei, daß die gewähnte absolute Realität desselben verschwindet und für eine ganz andere Weltordnung Raum läßt, die das jenem Phänomen zum Grunde Liegende wäre, d. h. sich dazu verhielte, wie zur bloßen Erscheinung das Ding an sich selbst.« (W II 9; vgl. a. P I 97 f. u. 101 sowie P II 44 f. u. 51) Nähme man Formulierungen wie diese wörtlich, so wären sie insofern wenig angemessen, als sie die Idealität der Wirklichkeit realistisch zum Ausdruck bringen und auf diese Weise den Idealismus konterkarieren würden. Da sich Schopenhauer jedoch des Gegensatzes zwischen einer objektiven, physiologischen und einer subjektiven, transzendentalphilosophischen Betrachtung des Problems der Erkenntnis durchaus bewußt ist, kann angenommen werden, daß seine Rede von der Wirklichkeit als »Gehirnphänomen« doch eher metaphorisch gemeint ist. 174
Lemmata Obgleich Schopenhauer den Idealismus gelegentlich als unmittelbar gewiß hinstellt (vgl. W I 29), führt er eine Reihe von – im wesentlichen von Berkeley und Kant inspirierten – Argumenten an, um ihn einsichtig zu machen. Diese stellen einen Versuch dar, aus der Abhängigkeit der Erkenntnis von subjektiven Bedingungen auf die Subjektivität des Erkannten zu schließen. Zunächst berichtet er darüber, daß Kant die Apriorität bestimmter Voraussetzungen der Erkenntnis konstatiert und daraus die Idealität ihrer Gegenstände ableitet: »Denn indem er die transscendentalen Principien nachwies als solche, vermöge deren wir über die Objekte und ihre Möglichkeit Einiges a priori, d. h. vor aller Erfahrung, bestimmen können, bewies er daraus, daß diese Dinge nicht unabhängig von unserer Erkenntniß so daseyn können, wie sie sich uns darstellen.« (G 35 f.) Soll dieser Übergang tatsächlich statthaft sein, so ist natürlich zu fordern, daß die Apriorität der fraglichen Bedingungen der Erkenntnis ihre Subjektivität impliziert. Sowohl Kant als auch Schopenhauer betrachten diese Forderung offenbar als erfüllt (vgl. W I 514 f., 524 f. u. 537). Unabhängig davon, ob sie dies zu Recht tun, wäre darüber hinaus noch der Nachweis zu führen, daß die Subjektivität der Bedingungen der Erkenntnis beinhaltet, daß auch die Erkenntnis insofern subjektiv ist, als sie keine Dinge an sich, sondern lediglich Erscheinungen bzw. Vorstellungen zum Gegenstand hat. Auch dies halten beide Philosophen für ausgemacht. Schopenhauer zeichnet Kants Argumentation, die er sich auch selbst zu eigen macht, wie folgt: »Kant zeigte jene Gesetze, und folglich die Welt selbst, als durch die Erkenntnißweise des Subjekts bedingt; woraus folgte,
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daß, soweit man auch am Leitfaden jener ben ist. Daraus zieht Schopenhauer allerweiter forschte und weiter schlösse, man dings eine Konsequenz, die problematisch in der Hauptsache, d. h. in der Erkenntniß erscheint: »Demnach muß die wahre Phides Wesens der Welt an sich und außer der losophie jedenfalls idealistisch seyn: ja, Vorstellung, keinen Schritt vorwärts käme, sie muß es, um nur redlich zu seyn. Denn sondern nur sich so bewegte, wie das Eich- nichts ist gewisser, als daß Keiner jemals hörnchen im Rade.« (W I 517; vgl. a. W I aus sich herauskann, um sich mit den von 137 f., W II 10 f. u. 15 f. sowie P I 95)87 Was ihm verschiedenen Dingen unmittelbar hingegen Schopenhauer betrifft, so be- zu identificiren: sondern Alles, wovon trachtet er die apriorische Korrelation von er sichere, mithin unmittelbare Kunde Subjekt und Objekt als die ursprünglich- hat, liegt innerhalb seines Bewußtseyns. ste und grundlegendste Tatsache des Be- Ueber dieses hinaus kann es daher keine wußtseins und glaubt aus der Beziehung unmittelbare Gewißheit geben: eine soleines jeden Objekts auf ein Subjekt auf che aber müssen die ersten Grundsätze eidie Idealität des Objekts schließen zu dür- ner Wissenschaft haben.« (W II 11) Zwar fen: »Unser erkennendes Bewußtseyn, als könnte man aus der unmittelbaren Gegeäußere und innere Sinnlichkeit (Recepti- benheit des Bewußtseins die Forderung vität), Verstand und Vernunft auftretend, ableiten, dessen Strukturen als apriorizerfällt in Subjekt und Objekt, und ent- sche Bedingungen der Möglichkeit von hält nichts außerdem. Objekt für das Sub- Erkenntnis im Sinne eines kritizistischen jekt seyn, und unsere Vorstellung seyn, ist Ansatzes ernst zu nehmen, doch folgt dardas Selbe. Alle unsere Vorstellungen sind aus keineswegs, daß sich die Erkenntnis Objekte des Subjekts, und alle Objekte lediglich auf Erscheinungen und nicht auf des Subjekts sind unsere Vorstellungen.« vorstellungsunabhängige Dinge erstreckt. (G 41; vgl. a. W I 29, 32 u. 137 f.) Richtig an Eine wesentliche Schwäche des transzendieser Überlegung ist sicherlich, daß der dentalen Idealismus besteht sicherlich Zugang zur äußeren Wirklichkeit durch darin, nicht einmal die Möglichkeit einer eine subjektive Bedingung, nämlich das über die Vorstellung hinausgehenden ErBewußtsein und seine Strukturen, vermit- kenntnis zu konzedieren. telt ist und daß dieses – im Gegensatz zur Ein weiteres, noch weniger überzeugenäußeren Wirklichkeit – unmittelbar gege- des Argument, das Schopenhauer zugunsten des Idealismus anführt, lautet, daß 87 Gegen diese Darstellung könnte man eindie Vertrautheit des Menschen mit der wenden, daß Kant in der transzendentalen ÄsWelt nur dadurch erklärbar ist, daß sich thetik einen komplexeren Nachweis der Idealidiese in einer Vorstellung erschöpft: »Daß tät von Raum und Zeit führt, doch auch dieser läßt sich letzten Endes auf einen Schluß von der wir nämlich so tief eingesenkt sind in Zeit, Subjektivität der Bedingungen der Erkenntnis Raum, Kausalität und den ganzen darauf auf die Subjektivität ihres Gegenstandes zurückführen. An der Argumentation der tran beruhenden gesetzmäßigen Hergang der szendentalen Ästhetik orientiert sich Schopen- Erfahrung, daß wir […] darin so vollkomhauer vor allem in seinen einschlägigen Vorle- men zu Hause sind und uns von Anfang sungen. Vgl. Arthur Schopenhauer. Theorie des an darin zurecht zu finden wissen, – Dies gesammten Vorstellens, Denkens und Erkennens, Philosophische Vorlesungen. Teil I. Hg. v. Volker wäre nicht möglich, wenn unser Intellekt Eines und die Dinge ein Anderes wären; Spierling. München 1986, 132 ff. 175
Idealismus sondern ist nur daraus erklärlich, daß Beide ein Ganzes ausmachen, der Intellekt selbst jene Ordnung schafft und er nur für die Dinge, diese aber auch nur für ihn dasind.« (W II 16) Es liegt auf der Hand, daß die Orientierung des Menschen auch deshalb funktionieren könnte, weil die Erkenntnis – wenigstens zum Teil – mit einer von der Vorstellung unterschiedenen Wirklichkeit kongruiert und daß sie dies aufgrund ihrer evolutionären Entwicklung tut.88 Schopenhauer verbindet in seiner Erkenntnistheorie zwei Ansätze: einen subjektiven, transzendentalen, und einen objektiven, empirischen (vgl. N 268 u. W II 318). Ersteren stuft er als idealistisch, letzteren hingegen als realistisch bzw. materialistisch ein.89 Obgleich er – im Zuge seines Kritizismus – dem subjektiven Ansatz den methodischen Vorrang gewährt, betrachtet er ihn – ebenso wie den objektiven – als einseitig und daher ergänzungsbedürftig. Das gilt natürlich auch für das Verhältnis von Idealismus und Realismus bzw. Materialismus: »Keine, aus einer objektiven, anschauenden Auffassung der Dinge entsprungene und folgerecht durchgeführte Ansicht der Welt kann durchaus falsch seyn; sondern sie ist, im schlimmsten Fall, nur einseitig: so z. B. der vollkommene Materialismus, der absolute Idealismus u. a. m. Sie alle sind wahr; aber 88 Zwar
steht Schopenhauer dem Gedanken einer Evolution ablehnend gegenüber, aber immerhin lehrt er, daß der Erkenntnisapparat eines Lebewesens der Umwelt angepaßt ist, um das Überleben der Spezies zu gewährleisten (vgl. W I 201 ff., N 246 ff. sowie W II 326 f., 333 u. 336). 89 Dabei vertritt er folgende – keineswegs überzeugende – Auffassung: »Der Realismus führt […] nothwendig zum Materialismus.« (W II 21)
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Lemmata sie sind es zugleich: folglich ist ihre Wahrheit eine nur relative. Jede solche Auffassung ist nämlich nur von einem bestimmten Standpunkt aus wahr; wie ein Bild die Gegend nur von einem Gesichtspunkte aus darstellt.« (P II 19; vgl. a. W II 20 ff., 554 u. 570 sowie P II 41 ff.) Angesichts der Tatsache, daß sowohl der Idealismus als auch der Realismus bzw. Materialismus berechtigt ist, greift Schopenhauer sogar zu der Formulierung, es liege eine »Anti nomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I 61) vor. Da aber eine Antinomie die Schwierigkeit beinhaltet, daß sich zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Thesen zugleich als wahr erweisen, stellt sich die Frage, ob und wie sie sich überwinden lasse. In der Tat geht Schopenhauer nicht von einer vollkommenen Gleichberechtigung beider Ansätze aus, sondern löst den Gegensatz, indem er Idealismus und Realismus auf unterschiedlichen Ebenen ansiedelt bzw. die Materie zwar als empirisch real, aber als transzendental ideal betrachtet: »Der wahre Idealismus hingegen ist eben nicht der empirische, sondern der transscendentale. Dieser läßt die empirische Realität der Welt unangetastet, hält aber fest, daß alles Objekt, also das empirisch Reale überhaupt, durch das Subjekt zwiefach bedingt ist: erstlich materiell, oder als Objekt überhaupt, weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art und Weise der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität), vom Subjekt ausgeht, im Subjekt prädisponirt ist.« (W II 15; vgl. a. P II 119 u. 154) Darüber hinaus faßt Schopenhauer beides – Subjekt und Objekt bzw. Intellekt und Materie – unter dem Begriff der Vorstellung zusammen und läßt es im onto-
Lemmata logisch primären Ding an sich gründen: »Bei mir hingegen sind Materie und Intellekt unzertrennliche Korrelata, nur für einander, daher nur relativ, da: die Materie ist die Vorstellung des Intellekts; der Intellekt ist das, in dessen Vorstellung allein die Materie existirt. Beide zusammen machen die Welt als Vorstellung aus, welche eben Kants Erscheinung, mithin ein sekundäres ist. Das Primäre ist das Erscheinende, das Ding an sich selbst, als welches wir nachher den Willen kennen lernen. Dieser ist an sich weder Vorstellendes, noch Vorgestelltes; sondern von seiner Erscheinungsweise völlig verschieden.« (W II 25; vgl. a. W II 27)90 Idee Schopenhauer erblickt in der Idee eine Vorstellung, die nicht dem Satz vom zureichenden Grunde unterworfen ist. Deshalb gehört sie – nach seiner Auffassung – weder einer Reihe von Ursachen und Wirkungen an, ist also nicht kausal bedingt, noch fällt sie unter die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit bzw. das principium individuationis (vgl. W I 181, 216, 221, 224, 239 u. 268, W II 432 f. sowie P II 459 u. 462). Ähnlich wie Platon, dessen Ideenlehre er sich ausdrücklich zu eigen macht (vgl. W II 153 u. 566), kann Schopenhauer die Ideen im Ausgang von dieser Voraussetzung als »bleibend« (W I 237 sowie W II 521 u. 566) oder »ewig« (W I 222, 224 u. 229) einstufen. Er folgt Platon darüber hinaus auch darin, daß er die Ideen nicht in 90 Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer Subjekt und Objekt als Glieder einer apriorischen Korrelation betrachtet, weist er auch die Art von Idealismus bzw. Realismus zurück, die versucht, die gesamte Wirklichkeit einseitig vom Subjekt bzw. vom Objekt her verständlich zu machen (vgl. W I 55 f.).
Idee der – vom Satz vom zureichenden Grunde beherrschten – empirischen Wirklichkeit, sondern in einem metaphysischen Bereich ansiedelt, dem er im Vergleich zu dieser ein höheres Maß an Dignität zuerkennt (vgl. W I 235). Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß Schopenhauer die Ideen – einmal mehr an Platon anknüpfend – als Urbilder und die empirischen Dinge als ihre Nachbilder charakterisiert: »Diese Ideen also insgesammt stellen sich in unzähligen Individuen und Einzelheiten dar, als deren Vorbild sie sich zu diesen ihren Nachbildern verhalten.« (W I 221; vgl. a. W I 224 u. 235) Darüber hinaus ist Schopenhauer davon überzeugt, daß in den Ideen nicht mehr und nicht weniger als das Wesen der empirischen Dinge liegt: »Aber nur das Wesentliche aller jener Stufen seiner Objektivation macht die Idee aus: hingegen die Entfaltung dieser, indem sie in den Gestaltungen des Satzes vom Grunde auseinandergezogen wird zu mannigfaltigen und vielseitigen Erscheinungen; dieses ist der Idee unwesentlich, liegt bloß in der Erkenntnißweise des Individuums und hat auch nur für dieses Realität.« (W I 236; vgl. a. W I 239, 249 f. u. 268, W II 442)91 Angesichts der Tatsache, daß unter dem Wesen einer Sache diejenigen Eigenschaften zu verstehen sind, die entscheidend dafür sind, daß sie einer bestimmten Art bzw. Gattung angehört, ist es nicht weiter erstaunlich, daß Schopenhauer erklärt, die Idee bringe die einer Art bzw. Gattung wesentlichen Eigenschaften zum 91 Daher
kann Schopenhauer die Idee sowohl mit der – platonisch verstandenen – Form (vgl. W I 222, 232 u. 251 f.) bzw. der forma substantialis (vgl. W I 193 u. 270) wie auch dem intelligiblen Charakter (vgl. W I 208 f. u. 211 sowie W II 432) gleichsetzen.
177
Idee
Lemmata
Ausdruck (vgl. W II 341, 432 f., 566, 568 ist gemeint, daß sich der Wille – als das u. 597, P I 520 sowie P II 463).92 »Ansich der Idee« (W I 234) – nicht unAls auf das gemeinsame Wesen meh- mittelbar in der empirischen Wirklichkeit rerer Dinge bezogene Vorstellung ist die manifestiert, sondern daß er zunächst – Idee – ähnlich wie der Begriff – allgemein auf einer metaphysischen Ebene – in den (vgl. W II 557), doch sie unterscheidet sich Ideen erscheint. Damit nehmen die Ideen darin von ihm, daß sie nicht abstrakt, son- eine mittlere Stellung zwischen dem Ding dern anschaulich und nicht unbestimmt, an sich auf der einen und der empirischen sondern bestimmt ist: »Der Begriff ist ab- Wirklichkeit auf der anderen Seite ein. strakt, diskursiv, innerhalb seiner Sphäre Stellt man in Rechnung, daß die Idee dem völlig unbestimmt, nur ihrer Gränze nach Willen damit näher steht als die empiribestimmt […]. Die Idee dagegen, allen- sche Wirklichkeit, so läßt sich ohne weitefalls als adäquater Repräsentant des Be- res nachvollziehen, daß Schopenhauer sie griffs zu definiren, ist durchaus anschau- – im Gegensatz zu letzterer – als »unmitlich und, obwohl eine unendliche Menge telbare Objektität« des Willens charakteeinzelner Dinge vertretend, dennoch risiert: »Das einzelne, in Gemäßheit des durchgängig bestimmt« (W I 296; vgl. a. Satzes vom Grunde erscheinende Ding G 151 Anm.). Da die Idee den Dingen ist also nur eine mittelbare Objektivation ontologisch vorgeordnet ist, der Begriff des Dinges an sich (welches der Wille ist), hingegen im Ausgang von bereits gegebe- zwischen welchem und ihm noch die Idee nen Dingen durch Abstraktion gewonnen steht, als die alleinige unmittelbare Objekwird, also den Dingen ontologisch nachge- tität des Willens, indem sie keine andere ordnet ist, stuft Schopenhauer erstere als dem Erkennen als solchem eigene Form »unitas ante rem« und letzteren als »unitas angenommen hat, als die der Vorstellung post rem« ein (W I 297 u. W II 434). überhaupt, d. i. des Objektseyns für ein Was das Verhältnis der Idee zum Willen Subjekt.« (W I 228; vgl. a. W I 222 u. 227 als Ding an sich betrifft, so beschreibt sie sowie W II 568) Letztere Beobachtung ist Schopenhauer als »Objektivation« (W I es auch, die Schopenhauer veranlaßt, die 178 ff., 207, 212, 222 u. 306) oder »Objek- Idee als »adäquate Objektität« (W I 228, tität« (W I 179 u. 207) desselben. Damit 233 ff., 239, 267 u. 323 sowie W II 432, 568 u. 597) des Willens zu betrachten.93 Ferner 92 Dabei treten insofern terminologische ist Schopenhauer der Auffassung, daß sich Schwankungen auf, als Schopenhauer die Idee der Wille in den Ideen in unterschiedlibald mit der Gattung identifiziert (vgl. W II chen Graden oder Stufen objektiviert, die 566), bald die Gattung als die in der empirischen Wirklichkeit realisierte Idee (vgl. W II 568 u. 597) beschreibt. Uneinheitlich ist ferner der Gebrauch der Ausdrücke »Art«, »Gattung« und »Spezies« (W II 341, 432 f., 566 u. 568, P I 520 sowie P II 463), die manchmal synonym verwendet, manchmal – wie an folgender Stelle – voneinander abgegrenzt werden: »Die Idee ist species, aber nicht genus: darum sind die species das Werk der Natur, die genera das Werk des Menschen: sie sind nämlich bloße Begriffe.« (W II 433)
178
93 Hält
man sich vor Augen, daß sich der Wille streng genommen nicht erkennen läßt, so ist der Ausdruck »adäquate Objektität« allerdings mit Vorsicht zu genießen. Daß dem Willen als Ding an sich bestimmte Eigenschaften (Raum, Zeit, Kausalität etc.) abgesprochen werden, beruht keineswegs darauf, daß es anschaulich gegeben wird, sondern auf einer bloßen Negation von Eigenschaften der empirischen Wirklichkeit.
Lemmata eine hierarchische Ordnung darstellen, die sich von den Naturkräften über die Ideen der Pflanzen und Tiere bis zur Idee des Menschen erstreckt, in der sie kulminiert (vgl. W I 178 ff., 207, 221, 270, 273 ff., 280, 284, 306 u. 308).94 Dabei betont Schopenhauer, daß »in allen Ideen, d. h. in allen Kräften der unorganischen und allen Gestalten der organischen Natur, einer 94 Von
einer Stufe zur anderen nehmen die Ideen – nach Schopenhauer – an Individualität zu, und zwar dergestalt, daß auf der höchsten Stufe, dem Menschen, einer Idee nicht mehr eine Art oder Gattung, sondern ein Individuum mit einem jeweils eigenen Charakter entspricht: »Während nun also jeder Mensch als eine besonders bestimmte und charakterisirte Erscheinung des Willens, sogar gewissermaaßen als eine eigene Idee anzusehn ist, bei den Thieren aber dieser Individualcharakter im Ganzen fehlt, indem nur noch die Species eine eigenthümliche Bedeutung hat, und seine Spur immer mehr verschwindet, je weiter sie vom Menschen abstehn, die Pflanzen endlich gar keine andere Eigenthümlichkeiten des Individuums mehr haben, als solche, die sich aus äußern günstigen oder ungünstigen Einflüssen des Bodens und Klimas und andern Zufälligkeiten vollkommen erklären lassen; so verschwindet endlich im unorganischen Reiche der Natur gänzlich alle Individualität.« (W I 180) – Es fällt auf, daß Schopenhauer – trotz seiner Polemik gegen Hegels in eine ganz ähnliche Richtung weisende Lehre (vgl. G 129 f.) – die Auffassung vertritt, daß sich die Hierarchie der Ideen einer dialektischen Entwicklung verdankt: »Wenn von den Erscheinungen des Willens, auf den niedrigeren Stufen seiner Objektivation, also im Unorganischen, mehrere unter einander in Konflikt gerathen, indem jede, am Leitfaden der Kausalität, sich der vorhandenen Materie bemächtigen will; so geht aus diesem Streit die Erscheinung einer höhern Idee hervor, welche die vorhin dagewesenen unvollkommeneren alle überwältigt, jedoch so, daß sie das Wesen derselben auf eine untergeordnete Weise bestehn läßt, indem sie ein Analogon davon in sich aufnimmt; welcher Vorgang eben nur aus der Identität des erscheinenden Willens in allen Ideen und aus seinem Streben zu immer höherer Objektivation begreiflich ist.« (W I 195)
Idee und der selbe Wille es ist, der sich offenbart, d. h. in die Form der Vorstellung, in die Objektität, eingeht.« (W I 193; vgl. a. W I 194 u. 204 f.) Gelegentlich beschreibt Schopenhauer die Ideen, in denen sich der Wille manifestiert, als »Willensakte« (W I 207 ff. u. 211 f. sowie N 254).95 Das mutet insofern etwas merkwürdig an, als unter einem Akt eine Tätigkeit und damit etwas Zeitliches zu verstehen ist, der Wille als Ding an sich, aber auch die Idee, wie Schopenhauer mit Nachdruck versichert, jedoch außerhalb der Zeit liegt. Es ist allerdings möglich, daß Schopenhauer unter einem Akt keine Tätigkeit, sondern eine Bestimmtheit versteht, die ja die Idee – im Sinne eines Inhalts – mit dem Wesen ganz sicher besitzt.96 – Eine ähnlich gelagerte Schwierigkeit besteht darin, begreiflich zu machen, wie es möglich ist, daß der Wille und die Ideen als nicht-zeitliche Entitäten in zeitlichen Entitäten, wie sie die empirischen Dinge sind, in Erscheinung treten. Wie bereits angedeutet wurde, stellt die Idee in Hinblick auf die einzelnen Dinge, 95 An einer Stelle setzt Schopenhauer die Ideen nicht mit Willensakten gleich, sondern erklärt, in der Idee trete ein Willensakt in Erscheinung: »Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch eigentlicher mit dem ursprünglichen Willensakt, der sich in ihr offenbart, zusammen« (W I 208). 96 Vgl. a. Dietrich Schlüter. »Akt / Potenz.« In: Joachim Ritter (Hg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. I. Darmstadt 1971, 134: »In einem erweiterten Verständnis besagt ›Akt‹ sodann ganz allgemein die Bestimmtheit, ›Potenz‹ die Bestimmbarkeit eines Seienden. Dieser Bedeutung nach fallen die Begriffe von Akt und Potenz weithin (jedoch nicht völlig) mit denen von Form und Materie im scholastischen Sinne zusammen.« Entscheidend für diese Deutung ist, daß Schopenhauer – ähnlich wie die Scholastik – die Idee als einen Akt des Willens in die Nähe der forma substantialis rückt.
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Idee die zu ihr gehören, ebenso eine Einheit dar wie der eine Wille als Ding an sich hinsichtlich der Vielfalt der Ideen. Genau von diesem Befund geht Schopenhauer aus, um die Zweckmäßigkeit in der Natur zu erklären. Nach seiner Auffassung verleiht die Idee jedem Lebewesen eine Einheit, die sich freilich in Raum und Zeit entfaltet. Da nun eine jede Idee wiederum im Willen gründe, hingen die Teile eines Lebewesens voneinander ab und seien auf einen Zweck hin geordnet, den Organismus als einem Ganzen: »Da es der einzige und untheilbare und eben dadurch ganz mit sich selbst übereinstimmende Wille ist, der sich in der ganzen Idee, als wie in einem Akt offenbart; so muß seine Erscheinung, obwohl in eine Verschiedenheit von Theilen und Zuständen auseinandertretend, doch in einer durchgängigen Uebereinstimmung derselben jene Einheit wieder zeigen: dies geschieht durch eine nothwendige Beziehung und Abhängigkeit aller Theile von einander, wodurch auch in der Erscheinung die Einheit der Idee wiederhergestellt wird. Demzufolge erkennen wir nun jene verschiedenen Theile und Funktionen des Organismus wechselseitig als Mittel und Zweck von einander, den Organismus selbst aber als den letzten Zweck aller.« (W I 209 f.; vgl. a. N 253) Freilich begnügt sich Schopenhauer nicht damit, die innere Zweckmäßigkeit auf den Willen als Ding an sich zurückzuführen, sondern er ist darüber hinaus davon überzeugt, daß sich die äußere Zweckmäßigkeit der Natur ebenfalls darauf zurückführen läßt: »[S]o findet dieselbe ihre Erklärung im Allgemeinen ebenfalls in der eben aufgestellten Erörterung, indem ja die ganze Welt, mit allen ihren Erscheinungen, die Objektität des einen und untheilbaren Willens ist, die 180
Lemmata Idee, welche sich zu allen andern Ideen verhält, wie die Harmonie zu den einzelnen Stimmen, daher jene Einheit des Willens sich auch in der Uebereinstimmung aller Erscheinungen desselben zu einander zeigen muß.« (W I 211)97 Da es sich bei der Idee um eine anschauliche Vorstellung handelt, erstaunt es nicht weiter, daß sie Gegenstand einer anschaulichen – und nicht etwa abstrakten – Erkenntnis ist. So erklärt Schopenhauer: »[N]ur anschaulich wird die Idee erkannt« (W I 307; vgl. a. W I 236, 241, 298 u. 300 sowie P II 83 f. Anm. u. 460). Findet die Erkenntnis einer Idee statt, so erhebt sich der Mensch über die Beschränkungen, denen er als empirisches Wesen unterworfen ist, und erfährt sich als »reines Subjekt des Erkennens« bzw. »reines Subjekt der Erkenntniß«: »Der […] Uebergang von der gemeinen Erkenntniß einzelner Dinge zur Erkenntniß der Idee geschieht plötzlich, indem die Erkenntniß sich vom Dienste des Willens losreißt, eben dadurch das Subjekt aufhört ein bloß individuelles zu seyn und jetzt reines, willenloses Subjekt der Erkenntniß ist, welches nicht mehr, dem Satze vom Grunde gemäß, den Relationen nachgeht; sondern in fester Kontemplation des dargebotenen 97 Dabei
betrachtet Schopenhauer die Harmonie in der Natur als Ergebnis einer Anpassung, die allerdings nicht zeitlich zu verstehen sei: »Wir müssen annehmen, daß zwischen allen jenen Erscheinungen des einen Willens ein allgemeines gegenseitiges sich Anpassen und Bequemen zu einander Statt fand, wobei aber, wie wir bald deutlicher sehn werden, alle Zeitbestimmung auszulassen ist, da die Idee außer der Zeit liegt. Demnach mußte jede Erscheinung sich den Umgebungen, in die sie eintrat, anpassen, diese aber wieder auch jener, wenn solche gleich in der Zeit eine viel spätere Stelle einnimmt; und überall sehn wir diesen consensus naturae.« (W I 212)
Lemmata
Imperativ, hypothetischer
Objekts […] ruht und darin aufgeht.« (W I dieser Erkenntniß.« (W I 239; vgl. a. W I 231) Kennzeichnend für diese Kontempla- 295 u. 323, P I 520 sowie P II 460)99 Dabei tion ist, daß sich das Subjekt von Raum erblickt Schopenhauer die Aufgabe der und Zeit – und damit von seiner Indivi- Kunst darin, dem Betrachter die Erkenntdualität – loslöst (vgl. W I 222, 229, 233 f., nis der Ideen zu erleichtern (vgl. W I 251, 239, 250 u. 267 f., W II 438 u. 440 sowie W II 438 u. P II 464). Angesichts des GeP II 458 f.), in der betrachteten Idee auf- wichts, das Schopenhauer der Idee in Hingeht (vgl. W I 232 f., 240), sich von seinem blick auf die Kunst beimißt, überrascht es Willen emanzipiert (vgl. W I 234, 240, 253 nicht weiter, daß er sie als Grund des Schöu. 267 f., W II 341 f., 435 u. 438 ff. sowie nen betrachtet: »Da nun einerseits jedes P II 457 ff.) und daher – solange der Zu- vorhandene Ding rein objektiv und außer stand andauert – kein Leiden und keinen aller Relation betrachtet werden kann; da Schmerz mehr empfindet. ferner auch andererseits in jedem Dinge Zwar konzediert Schopenhauer, daß der Wille, auf irgend einer Stufe seiner im Prinzip jeder Mensch in der Lage ist, Objektität, erscheint, und dasselbe sonach Ideen zu erkennen (vgl. W I 250), doch Ausdruck einer Idee ist; so ist auch jedes schreibt er diese Fähigkeit dem Genie Ding schön.« (W I 268; vgl. a. P II 457 u. in besonderem Maße zu (vgl. W I 240 ff., 466) Trotz der hohen Wertschätzung, die N 273 u. W II 341 f.).98 Dieses begnüge sich Schopenhauer der Kunst entgegenbringt, allerdings nicht damit, die Ideen zu er- betont er freilich, daß sich die Erkenntschauen, sondern stelle sie – nicht zuletzt nis der Idee nicht in der Kunst, sondern in der Kunst – dar: »Sie wiederholt die in der Philosophie vollendet: »[S]ie ist äsdurch reine Kontemplation aufgefaßten thetisch, wird, wenn selbstthätig, genial ewigen Ideen, das Wesentliche und Blei- und erreicht den höchsten Grad, wenn sie bende aller Erscheinungen der Welt […]. philosophisch wird […]. Es ist der höchste Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntniß Grad der Besonnenheit.« (P II 84 Anm.) der Ideen; ihr einziges Ziel Mittheilung Imperativ, hypothetischer Ähnlich wie 98 Schopenhauer ist sogar davon überzeugt, Kant unterscheidet Schopenhauer zwidaß der Mensch über eine antizipative – gleichschen kategorischen und hypothetischen sam apriorische – Erkenntnis der Idee verfügt: »Daß wir Alle die menschliche Schönheit er- Imperativen. Ist eine Handlung kategorisch geboten, so ist sie allgemein – das kennen, wenn wir sie sehn, im ächten Künstler aber dies mit solcher Klarheit geschieht, daß heißt, unabhängig von Bedingungen – geer sie zeigt, wie er sie nie gesehn hat, und die boten, ist sie es dagegen hypothetisch, so Natur in seiner Darstellung übertrifft; dies ist nur dadurch möglich, daß der Wille, dessen ad- ist sie es lediglich unter gewissen Bedinäquate Objektivation, auf ihrer höchsten Stufe, gungen. Dabei nimmt Kants kategorihier beurtheilt und gefunden werden soll, ja scher Imperativ insofern eine besondere wir selbst sind. Dadurch allein haben wir in der Stellung ein, als er nicht etwa konkrete That eine Anticipation Dessen, was die Natur […] darzustellen sich bemüht […]. Diese Anti- Handlungen gebietet, sondern als obercipation ist das Ideal: es ist die Idee, sofern sie, stes Prinzip der Ethik ein formales Kritewenigstens zur Hälfte, a priori erkannt ist und, indem sie als solche dem a posteriori durch die Natur Gegebenen ergänzend entgegenkommt, für die Kunst praktisch wird.« (W I 282 f.)
99 Allein
die Musik stellt nach Schopenhauer keine Ideen, sondern den Willen selbst dar (vgl. W I 321 ff.).
181
Imperativ, hypothetischer
Lemmata
rium für die objektive Gültigkeit von Ma- dern ein hypothetischer Imperativ vor. ximen darstellt. Kant ist der Auffassung, Dabei stützt sich Schopenhauer auf zwei daß eine Maxime nur dann objektiv gültig Überlegungen. Zunächst macht er geltend, – und damit moralisch gut – ist, wenn sie daß dem kategorischen Imperativ letzten diesem Kriterium genügt. Hypothetische Endes ein rationaler Egoismus zugrunde Imperative wie die Regeln der Geschick- liegt. Dieser bestehe darin, daß ein verlichkeit oder die Ratschläge der Klugheit nünftiges Individuum sich lediglich desgelten nach Kant nicht allgemein und sind halb nach generalisierbaren Maximen deswegen nicht moralisch gut. richtet, weil eine allgemeine Befolgung Schopenhauer weist die Annahme, es dieser Maximen in seinem eigenen Intergebe einen kategorischen Imperativ, ent- esse liegt. So erklärt Schopenhauer: »Da schieden zurück. Aufgrund des Deter- ich nun, bei der Feststellung einer allgeminismus, den er vertritt, ist er der Auf- mein zu befolgenden Maxime, nothwendig fassung, daß Gebote nur dann einen Sinn mich nicht bloß als den allemal aktiven, haben, wenn sie mit Sanktionen verbun- sondern auch als den eventualiter und zu den sind: »Jedes Sollen ist also nothwen- Zeiten passiven Theil betrachten muß; so dig durch Strafe, oder Belohnung be- entscheidet, von diesem Standpunkt aus, dingt, mithin, in Kants Sprache zu reden, mein Egoismus sich für Gerechtigkeit und wesentlich und unausweichbar hypothe- Menschenliebe; nicht weil er sie zu üben, tisch und niemals, wie er behauptet, kate sondern weil er sie zu erfahren Lust hat« gorisch. Werden aber jene Bedingungen (E 196). Dies aber würde bedeuten, daß weggedacht, so bleibt der Begriff des Sol- eine bestimmte Handlungsweise nicht lens sinnleer: daher absolutes Sollen al- schlechterdings geboten wäre, sondern lerdings eine Contradictio in adjecto ist.« lediglich unter der Bedingung, daß man (E 163) Dieser Einschätzung liegt der Ge- selbst in den Genuß eines entsprechenden danke zugrunde, daß ein Gebot, mit dem Verhaltens gelangen möchte. Schopenkeine Sanktion einhergeht, nicht als Motiv hauer resümiert: »Aus dieser Erklärung zu wirken vermag. Ist aber eine Handlung ist vollkommen klar, daß jene Kantische dergestalt geboten, daß sie eine Beloh- Grundregel nicht, wie er unablässig benung oder Strafe mit sich bringt, dann ist hauptet, ein kategorischer, sondern in der sie nicht schlechterdings, sondern in Ab- That ein hypothetischer Imperativ ist, inhängigkeit von einer Sanktion geboten. So dem demselben stillschweigend die Bedinwäre es nicht schlechterdings geboten, ein gung zum Grunde liegt, daß das für mein Versprechen zu halten, sondern unter der Handeln aufzustellende Gesetz, indem ich Bedingung, daß man eine Belohnung er- es zum allgemeinen erhebe, auch Gesetz langen oder eine Strafe vermeiden möchte. für mein Leiden wird, und ich unter dieAngesichts der Tatsache, daß Schopen- ser Bedingung, als der eventualiter passive hauer den Begriff eines absoluten Sollens Theil, Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit als widersprüchlich betrachtet, ist es kei- allerdings nicht wollen kann.« (E 197 f.) neswegs überraschend, daß er Kants kaIn seinem zweiten Argument macht tegorischen Imperativ mit dem Argument Schopenhauer geltend, daß Kant in seiablehnt, in Wirklichkeit liege mit diesem ner Moraltheologie einen ZusammenPrinzip nicht etwa ein kategorischer, son- hang zwischen dem kategorischen Im182
Lemmata perativ und einer Sanktion herstellt. Es handelt sich darum, daß mit dem Begriff des höchsten Gutes eine Belohnung der Tugend durch die Glückseligkeit in Aussicht gestellt wird. Auf diese Weise werde deutlich, daß im kategorischen Imperativ kein unbedingtes, sondern ein bedingtes, hypothetisches Gebot zum Ausdruck komme: »So rächt sich die einen Widerspruch verbergende Annahme des unbedingten, absoluten Sollens. Das bedingte Sollen andererseits kann freilich kein ethischer Grundbegriff seyn, weil Alles, was mit Hinsicht auf Lohn oder Strafe geschieht, nothwendig egoistisches Thun und als solches ohne rein moralischen Werth ist.« (E 164) Imperativ, kategorischer Der kategorische Imperativ, den Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral ausführlich kritisiert, stellt das oberste Prinzip von Kants Ethik dar. Dieser unterscheidet zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen. Ist eine Handlung kategorisch geboten, so ist sie allgemein – das heißt, unabhängig von Bedingungen – geboten, ist sie hingegen hypothetisch geboten, so ist sie lediglich unter gewissen Bedingungen geboten. Dabei schreibt der kategorische Imperativ nicht etwa konkrete Handlungen vor, sondern ist ein formales Kriterium für die objektive Gültigkeit von Maximen. Kant ist der Auffassung, daß eine Maxime nur dann objektiv gültig – und damit moralisch gut – ist, wenn sie diesem genügt. Die beiden bekanntesten – und in systematischer Hinsicht ergiebigsten – Fassungen des kategorischen Imperativs lauten: »[H] andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde« bzw. »Handle
Imperativ, kategorischer so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, n iemals bloß als Mittel brauchest.«100 Schopenhauer erblickt im kategorischen Imperativ eine »völlig unbegründete und nichtige Annahme« (G 65). Das liegt zunächst einmal daran, daß er selbst nicht etwa für eine präskriptive, sondern für eine deskriptive Ethik eintritt. Nach seiner Auffassung hat sich die Philosophie insgesamt – und damit auch die Ethik – »stets rein betrachtend zu verhalten und zu forschen, nicht vorzuschreiben.« (W I 343) Deshalb kann Schopenhauer einen präskriptiven Ansatz, wie ihn Kant vertritt, nicht akzeptieren. Er äußert sogar die Vermutung, bei der »imperativen Form der Kantischen Ethik« (E 160 ff., 173, 208 f. u. 234) handle es sich letzten Endes um ein Relikt der theologischen Moral, die Kant, ohne sich darüber im klaren zu sein, voraussetze. Insbesondere weist Schopenhauer mit dem kategorischen Imperativ die Annahme eines absoluten Sollens zurück. Er ist – vor dem Hintergrund seines Determinismus – vielmehr überzeugt, daß Gebote nur dann einen Sinn haben, also in der Lage sind, zu einer Handlung zu motivieren, wenn sie mit Sanktionen verbunden sind: »Jedes Sollen ist also nothwendig durch Strafe, oder Belohnung bedingt, mithin, in Kants Sprache zu reden, wesentlich und unausweichbar hypothetisch und niemals, wie er behauptet, kate gorisch. Werden aber jene Bedingungen weggedacht, so bleibt der Begriff des Sollens sinnleer: daher absolutes Sollen allerdings eine Contradictio in adjecto ist.« (E 163; vgl. a. W I 637 f. u. N 337) In diesem 100
GMS, BA 52 u. BA 66 f.
183
Imperativ, kategorischer Zusammenhang macht Schopenhauer geltend, daß Kant im Rahmen seiner Lehre vom höchsten Gut dem Menschen bei tugendhaftem Handeln die Glückseligkeit in Aussicht stellt und damit den kategorischen Imperativ mit einer Bedingung verbindet: »Nämlich jenes so unbedingte Soll postulirt sich hinterher doch eine Bedingung, und sogar mehr als eine, nämlich eine Belohnung, dazu die Unsterblichkeit des zu Belohnenden und einen Belohner.« (E 163) Dies aber bedeutet für Schopenhauer, daß sich das absolute Sollen durch den Begriff des höchsten Gutes in sein Gegenteil verkehrt. Statt den Egoismus, gegen den es sich ursprünglich richte, zu bannen, fördere es ihn: »So rächt sich die einen Widerspruch verbergende Annahme des unbedingten, absoluten Sollens. Das bedingte Sollen andererseits kann freilich kein ethischer Grundbegriff seyn, weil Alles, was mit Hinsicht auf Lohn oder Strafe geschieht, nothwendig egoistisches Thun und als solches ohne rein moralischen Werth ist.« (E 164) Ein weiterer Einwand, den Schopenhauer gegen den kategorischen Imperativ erhebt, lautet, daß er – als rein formales Prinzip – auf Begriffen a priori beruht, die als solche keinen Inhalt besitzen und deshalb nicht in der Lage sind, Menschen zu einer Handlung zu motivieren. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Schopenhauer moniert, der kategorische Imperativ leide an einem »Mangel an realem Gehalt« (E 183). Für ihn steht hingegen fest, daß es die Moral »mit dem wirklichen Handeln des Menschen und nicht mit apriorischem Kartenhäuserbau zu thun [hat], an dessen Ergebnisse sich im Ernste und Drange des Lebens kein Mensch kehren würde, deren Wirkung daher, dem Sturm der Leidenschaften gegenüber, so viel seyn würde, 184
Lemmata wie die einer Klystierspritze bei einer Feuersbrunst« (E 183; vgl. a. E 170). Um diese Schwierigkeit zu vermeiden, greift Schopenhauer in seinem eigenen Ansatz nicht auf ein apriorisches, sondern auf ein empirisches, in Anschauung gründendes Prinzip, das Gefühl des Mitleids, zurück. Allein ein solches habe genügend Kraft, um »dem Drange der Begierden, dem Sturm der Leidenschaft, der Riesengröße des Egoismus Zaum und Gebiß anzulegen.« (E 170) Demgegenüber fehle es dem Begriff an praktischer Wirksamkeit (vgl. W I 343, 456, 466 u. 642). Besonderes interessant erscheint die Kritik, die Schopenhauer an der Begründung des kategorischen Imperativs übt. Zunächst stellt er fest, daß Kant diesen keineswegs empirisch – etwa als »Thatsache des Bewußtseins« (E 170, 178 ff. u. 208) – nachweise, sondern lediglich als »Resultat einer höchst wunderlichen Begriffskombination« (G 137) präsentiere. Da er es ablehne, der Ethik ein empirisches Fundament zu verleihen, bleibe ihm nichts anderes übrig, als eine aprioristische Ethik zu errichten, deren oberstes Prinzip kein materiales, sondern ein formales sei: »Da Kant, indem er alle empirische Triebfedern des Willens verschmähete, alles Objektive und alles Subjektive, darauf ein Gesetz für denselben zu gründen wäre, als empirisch, zum voraus weggenommen hat; so bleibt ihm zum Stoff dieses Gesetzes nichts übrig, als dessen eigene Form. Diese nun ist eben nur die Gesetzmäßigkeit. Die Gesetzmäßigkeit aber besteht im Gelten für Alle, also in der Allgemeingültigkeit. Diese demnach wird zum Stoff. Folglich ist der Inhalt des Gesetzes nichts Anderes, als seine Allgemeingültigkeit selbst. Demzufolge wird es lauten: ›Handle nur nach der Maxime,
Lemmata von der du zugleich wollen kannst, daß sie allgemeines Gesetz für alle vernünftige Wesen werde.‹« (E 180 f.) Angesichts dieser Formulierung wirft Schopenhauer die Frage auf, was damit gemeint sein könne, daß sich eine Maxime verallgemeinern lasse. Um dies zu präzisieren, bedarf es nach seiner Auffassung eines zusätzlichen, inhaltlichen Regulativs, und dieses laufe de facto auf einen rationalen Egoismus hinaus. Dieser bestehe darin, daß ein vernünftiges Individuum sich lediglich deshalb nach generalisierbaren Maximen richtet, weil eine allgemeine Befolgung dieser Maximen in seinem eigenen Interesse liegt: »Da ich nun, bei der Feststellung einer allgemein zu befolgenden Maxime, nothwendig mich nicht bloß als den allemal aktiven, sondern auch als den eventualiter und zu Zeiten passiven Theil betrachten muß; so entscheidet, von diesem Standpunkt aus, mein Egoismus sich für Gerechtigkeit und Menschenliebe; nicht weil er sie zu üben, sondern weil er sie zu erfahren Lust hat« (E 196). Damit wäre eine bestimmte Handlungsweise nicht schlechterdings geboten, sondern lediglich unter der Bedingung, daß man selbst in den Genuß eines entsprechenden Verhaltens gelangen möchte: »Aus dieser Erklärung ist vollkommen klar, daß jene Kantische Grundregel nicht, wie er unablässig behauptet, ein kategorischer, sondern in der That ein hypothetischer Imperativ ist, indem demselben stillschweigend die Bedingung zum Grunde liegt, daß das für mein Handeln aufzustellende Gesetz, indem ich es zum allgemeinen erhebe, auch Gesetz für mein Leiden wird, und ich unter dieser Bedingung, als der eventualiter passive Theil, Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit allerdings nicht wollen kann.« (E 197 f.) Dem wäre hinzuzufügen,
Imperativ, kategorischer daß sich der kategorische Imperativ unter dieser Voraussetzung nicht als formales, sondern materiales Prinzip erwiesen hätte und daß er das Ziel, die Ethik nicht in den Egoismus abgleiten zu lassen, verfehlt hätte. So ist es nachvollziehbar, daß Schopenhauer im kategorischen Imperativ lediglich eine Rationalisierung der Goldenen Regel erblickt (vgl. W I 641 u. E 198 f.). Was aber den rationalen Egoismus anbelangt, so krankt dieser nach Schopenhauer daran, daß es gerade nicht immer vernünftig ist, auf die Interessen anderer Rücksicht zu nehmen. Das wäre z. B. der Fall, wenn man seine Interessen allein durch seine Macht durchsetzen könnte: »[D]enke [ich] mich, etwan im Vertrauen auf meine überlegenen Geistes- und Leibeskräfte, stets nur als den aktiven und nie als den passiven Theil, bei der zu erwählenden allgemein gültigen Maxime; so kann ich […] sehr wohl Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit als allgemeine Maxime wollen, und demnach die Welt regeln.« (E 198) Im Vergleich zur ersten Fassung des kategorischen Imperativs beurteilt Schopenhauer die zweite günstiger. Sie unterscheidet sich dadurch von der ersten, daß sie den Menschen als Zweck an sich hinstellt und insofern nicht formal, sondern material ist. Zwar bringt Schopenhauer auch gegen diese Fassung eine Reihe von Einwänden101 vor, doch nichtsdestoweniger räumt er ein, daß sie einen »Glanzpunkt« 101 Diese richten sich insbesondere gegen die Begriffe des Zwecks an sich, der Würde und des absoluten Werts (vgl. E 201 ff.). Da Schopenhauers Argumentation offenbar auf Mißverständnissen beruht und deshalb systematisch wenig ergiebig ist, kann sie vernachlässigt werden.
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Induktion (E 205) darstellt. Das liegt daran, daß sie – ähnlich wie seine eigene Ethik – gegen den Egoismus gerichtet ist. Allerdings betont Schopenhauer, daß »diese zweite Formel Kants [nichts] für die Begründung der Moral […] leistet« (E 203). Anscheinend will Schopenhauer darauf hinaus, daß die Argumentation, die Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entfaltet, in der ersten Fassung des kategorischen Imperativs kulminiert, während sich die zweite – und auch die dritte, auf die Autonomie des gesetzgebenden Willens abzielende – lediglich als Explikation der ersten darbietet.102 Nun aber ist die Art und Weise, auf die Kant die zweite Version aufstellt, nach Schopenhauer keineswegs überzeugend. So stellt er fest, daß Kant auf »holperichtem Wege, ja, per fas et nefas« (E 202) zu ihm gelange. Mit anderen Worten, Schopen hauer weiß es durchaus zu würdigen, daß die zweite Fassung des Prinzips eine altruistische Tendenz aufweist, doch er glaubt, sie lasse sich nicht aus der ersten, grundlegenderen ableiten. Induktion Im Ausgang von der Aristotelischen Unterscheidung zwischen »απα γωγη« und »επαγωγη« (W II 126 f.) erblickt Schopenhauer in der Induktion ein der Deduktion entgegengesetztes Verfahren, das sich dadurch auszeichnet, daß es nicht etwa vom Allgemeinen zum Besonderen, sondern – in umgekehrter Richtung – vom letzteren zum ersteren voranschreitet. In diesem Sinne nennt er sie eine »Methode, von besondern Wahrhei102 GMS,
BA 79: »Die angeführten drei Arten, das Prinzip der Sittlichkeit vorzustellen, sind aber im Grunde nur so viele Formeln eben desselben Gesetzes, deren die eine die anderen zwei von selbst in sich vereinigt.«
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Lemmata ten zu allgemeinen zu gelangen« (P I 80). Daneben behauptet Schopenhauer gelegentlich, daß sie von der Folge zum Grund gelangt. Induktion liefe dann auf folgendes hinaus: »[A]us vielen Folgen, die auf einen Grund deuten, wird der Grund als gewiß angenommen« (W I 117; vgl. a. W II 143 u. P I 126 f.). Freilich kann dies kaum für alle Fälle gelten, in denen von der Folge auf den Grund geschlossen wird, sondern lediglich für solche, in denen ein Übergang zu einem allgemeinen Grund – z. B. in Form eines Gesetzes, das seinerseits geeignet ist, einzelne Ereignisse zu erklären – stattfindet. Dabei bezeichnet Schopenhauer sowohl das Verfahren, das zur Aufstellung des Gesetzes führt, als auch jenes, das es bestätigt, als Induktion: »Der Ursprung der ersten astronomischen Grundwahrheiten aber ist eigentlich Induktion, d. h. Zusammenfassung des in vielen Anschauungen Gegebenen in ein richtiges unmittelbar begründetes Urtheil: aus diesem werden nachher Hypothesen gebildet, deren Bestätigung durch die Erfahrung, als der Vollständigkeit sich nähernde Induktion, den Beweis für jenes erste Urtheil giebt.« (W I 105) In diesem Zusammenhang betont Schopenhauer, daß auf dem Weg der Induktion gewonnene Erkenntnis auf empirischer Anschauung bzw. Erfahrung beruht und deshalb keine vollkommene, sondern »immer nur approximative, folglich prekäre, nie unbedingte Gewißheit hat« (G 59; vgl. a. W I 117 f., W II 127 u. P I 124).103 103 An einer Stelle spricht Schopenhauer der induktiven Erkenntnis allerdings »vollkommene Gewißheit« (W I 106) zu. Entweder handelt es sich um ein Versehen, oder es geht Schopenhauer nicht um theoretische Gewißheit, sondern um die Art von praktischer Gewißheit, die er der Induktion durchaus zuerkennt: »Erst vielfache empirische Bestätigung bringt die
Lemmata Schopenhauer unterscheidet sich darin von Kant, daß er nicht etwa glaubt, die logischen Formen des Urteils endgültig und vollständig ermittelt zu haben, sondern zu einer realistischeren Einschätzung gelangt: »Die Vereinigung der Begriffe zu Urtheilen hat aber gewisse bestimmte und gesetzliche Formen, welche, durch Induktion gefunden, die Tafel der Urtheile ausmachen.« (W I 557) Angesichts der Tatsache, daß die Induktion keine vollkommene Gewißheit mit sich bringt, gelingt es Schopenhauer auf diese Weise, die Gefahr einer Dogmatisierung der Lehre von den Urteilsformen zu vermeiden. Instinkt Unter einem Instinkt versteht Schopenhauer einen Antrieb 104, der in bestimmter Hinsicht der – sei es verstandesmäßigen oder vernünftigen – Erkenntnis entgegengesetzt ist (vgl. W I 53). Das zeigt sich zunächst daran, daß der Instinkt bei Lebewesen, die mit Vernunft begabt sind, in den Hintergrund tritt. So kommt ihm bei den Tieren weitaus mehr Gewicht als beim Menschen zu: »Eine vollkommene Kenntniß des Bewußtseyns der Thiere müßte möglich seyn; sofern wir es durch bloße Wegnahme gewisser Eigenschaften des unserigen konstruiren können. Jedoch greift in dasselbe andererseits der Instinkt ein, welcher in allen Thieren entwickelter, als im Menschen ist, und in einigen bis zum Kunsttriebe geht.« (W II 72; vgl. a. W I 203 u. W II 630 ff.)105 Induktion, auf der die Hypothese beruht, der Vollständigkeit so nahe, daß sie für die Praxis die Stelle der Gewißheit einnimmt« (W I 118). 104 Schopenhauer benutzt in diesem Zusammenhang selbst Ausdrücke wie »innerer Zug« und »Trieb« (N 238, E 73, W II 401 u. P I 227). 105 Ein Kunsttrieb ist nach Schopenhauer ein Instinkt, der zur Hervorbringung besonders komplexer Gebilde führt. Solche wären z. B.
Instinkt Allerdings scheint Schopenhauer bei der Einschätzung der Rolle der Erkenntnis bei instinktivem Verhalten zu schwanken. Bald neigt er zur Auffassung, der Instinkt wirke ohne Erkenntnis (vgl. W I 203, N 246 u. P I 510), bald drückt er sich differenzierter aus und erklärt, der Instinkt werde zwar von Erkenntnis begleitet, nicht aber geleitet: »In solchem Thun […] ist doch […] der Wille thätig: aber er ist in blinder Thätigkeit, die zwar von Erkenntniß begleitet, aber nicht von ihr geleitet ist.« (W I 160) Einerseits bedarf der Instinkt der Erkenntnis des spezifischen, ihn auslösenden Sachverhalts (vgl. W II 401 f.) 106, anderseits bleibt sein Ziel oder Zweck in der Regel verborgen.107 Das Verhalten, das aus dem Instinkt resultiert, ist demnach zweckmäßig, ohne daß der Zweck den betroffenen Lebewesen bekannt wäre: »Daß sie Vorstellungen und »das Vogelnest, die Spinnenwebe, die Ameisenlöwengrube, der so künstliche Bienenstock, der wundervolle Termitenbau u. s. w.« (W II 401) Demgegenüber bleibe der menschliche Instinkt im wesentlichen auf den Bereich der Sexualität beschränkt (vgl. W II 630 ff.). 106 Schopenhauer stellt zu Recht fest, daß der Instinkt auf einen besonderen Stimulus anspricht, bezeichnet diesen aber – etwas irreführend – nicht als Reiz, sondern als Motiv. In diesem Zusammenhang legt er dar, daß »das Bestimmtwerden durch Instinkt nur so viel Intellekt erfordert, wie nöthig ist, das ganz speciell bestimmte eine Motiv, welches allein und ausschließlich Anlaß zur Aeußerung des In stinkts wird, wahrzunehmen« (W II 402). Daß Schopenhauer nicht von einem »Reiz«, sondern von einem »Motiv« spricht, dürfte daran liegen, daß er nur letzterem, nicht aber ersterem die Qualität »bewußt« zuordnet. 107 Angesichts der ambivalenten Stellung, welche der Instinkt gegenüber der Erkenntnis einnimmt, betrachtet ihn Schopenhauer als »Mittelglied« zwischen der »[erkenntnislosen] Bewegung auf Reiz und dem Handeln nach einem erkannten Motiv« (W I 161; vgl. a. E 73).
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Erkenntniß haben, kommt hier gar nicht funds bezeichnet Schopenhauer den Inin Betracht, da der Zweck, zu dem sie stinkt im übertragenen Sinn als »über alle gerade so hinwirken, als wäre er ein er- Maaßen einseitigen und streng determinirkanntes Motiv, von ihnen ganz unerkannt ten Charakter.« (ebd.) bleibt; daher ihr Handeln hier ohne Motiv geschieht, nicht von der Vorstellung gelei- Intellekt Ist bei Schopenhauer vom Intet ist und uns zuerst und am deutlichsten tellekt die Rede, so ist damit in aller Rezeigt, wie der Wille auch ohne alle Er- gel das Erkenntnisvermögen im weitekenntniß thätig ist.« (W I 159; vgl. a. W I sten Sinn gemeint. Darunter fällt sowohl 214, N 238 sowie W II 75, 400 f., 407, 600 die anschauliche – Mensch und Tier geu. 632) Auch bei anderer Gelegenheit hebt meinsame – wie auch die abstrakte – dem Schopenhauer hervor, daß die Instanz, die Menschen vorbehaltene – Erkenntnis. Da sich im Instinkt manifestiert, der blinde, nun der Mensch mit beiden Arten der Ererkenntnislose Wille ist (vgl. W I 159 f. u. kenntnis, die Tiere hingegen nur mit der 203 sowie W II 401, 404 u. 407 f.). ersteren ausgestattet sind, stellt SchopenNach Schopenhauer unterscheidet sich hauer fest: »[D]ie Thiere haben bloß einen der Instinkt darin von einem Motiv, daß er einfachen Intellekt, wir einen doppelten; von innen, letzteres hingegen von außen nämlich neben dem anschauenden noch wirkt: »Man könnte sagen: der Wille thie- den denkenden« (W II 75; vgl. a. G 63). rischer Wesen wird auf zwei verschiedene Im Ausgang von den genannten KompoWeisen in Bewegung gesetzt: entweder nenten erfüllt der Intellekt die folgenden durch Motivation, oder durch Instinkt; kognitiven Aufgaben: »1) [D]ie richtige also von außen, oder von innen; durch anschauende Auffassung der in Betracht einen äußern Anlaß, oder durch einen genommenen realen Dinge und aller ihinnern Trieb« (W II 401). Freilich relati- rer wesentlichen Eigenschaften und Verviere sich dieser Gegensatz insofern, als hältnisse, also aller Data. 2) Die Bildung der Instinkt durch ein äußeres Ereignis richtiger Begriffe aus diesen, also die Zuausgelöst werde und das Motiv erst unter sammenfassung jener Eigenschaften unter der Voraussetzung wirke, daß es auf eine richtige Abstrakta, welche jetzt das Maentsprechende innere Disposition, den terial des nachfolgenden Denkens werCharakter, treffe. Schopenhauer fügt dem den. 3) Die Vergleichung dieser Begriffe, hinzu: »Nach diesem Allen ist der Unter- theils mit dem Angeschauten, theils unter schied des Instinkts vom bloßen Charak- sich, theils mit dem übrigen Vorrath von ter so fest zu stellen, daß jener ein Charak- Begriffen; so daß richtige, zur Sache geter ist, der nur durch ein ganz speciell be- hörige und diese vollständig befassende stimmtes Motiv in Bewegung gesetzt wird und erschöpfende Urtheile daraus hervor[…], während der Charakter, wie ihn jede gehn: also richtige Beurtheilung der Sache. Thierspecies und jedes menschliche Indi- 4) Die Zusammenstellung, oder Kombividuum hat, zwar ebenfalls eine bleibende nation dieser Urtheile zu Prämissen von und unveränderliche Willensbeschaffen- Schlüssen: diese kann nach Wahl und heit ist, welche jedoch durch sehr verschie- Anordnung der Urtheile sehr verschiedene Motive in Bewegung gesetzt werden den ausfallen und doch ist das eigentliche kann« (W II 402). Angesichts dieses Be- Resultat der ganzen Operation zunächst 188
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von ihr abhängig.« (W II 140 f.)108 In prak- jektiven ebenso wie den subjektiven – für tischer Hinsicht fungiert der Intellekt als einseitig und betrachtet ihr Verhältnis als »Medium der Motive« (G 63 sowie W II komplementär: »Um nun also die hierin 187, 242, 335 u. 446). Mit anderen Worten, begangene Willkürlichkeit wieder ausder Intellekt erweist sich als Bedingung zugleichen und die Voraussetzungen zu der Möglichkeit dafür, daß das Verhalten rektificiren, muß man nachher den Standeines Lebewesens nicht allein durch un- punkt wechseln, und auf den entgegengemittelbare Einwirkung der empirischen setzten treten, von welchem aus man nun Wirklichkeit, wie sie im Falle einer Ursa- das Anfangs als gegeben Genommene, in che oder eines Reizes vorläge, in Erschei- einem ergänzenden Philosophem, wieder nung tritt, sondern auch mittelbar durch ableitet: sic res accendunt lumina rebus.« eine – sei es anschauliche oder abstrakte – (P II 41; vgl. a. W II 554) Vorstellung der empirischen Wirklichkeit Nimmt man den objektiven Standpunkt – also ein Motiv – ausgelöst wird. ein, so bietet sich der Intellekt im VerSchopenhauers erkenntnistheoretische hältnis zu seinen empirischen GrundlaÜberlegungen zeichnen sich nicht zuletzt gen, die primär wären, als sekundär dar: dadurch aus, daß sie den Intellekt aus »[D] er Intellekt ist das sekundäre Phänozwei unterschiedlichen, einander korri- men, der Organismus das primäre« (W II gierenden und ergänzenden Perspektiven 234; vgl. a. W II 581 u. P II 54). So legt beleuchten. In diesem Zusammenhang Schopenhauer dar, daß der Intellekt aus spricht Schopenhauer von einer subjek- dieser Perspektive nichts anderes ist als tiven und einer objektiven Betrachtungs- ein »Produkt der Natur« (W II 336) oder weise (vgl. W II 318). Während erstere – genauer gesagt – eine »Funktion des Gevom Bewußtsein ausgeht und dessen hirns« (G 72 sowie W II 234, 252, 317, 319, apriorische Strukturen zu bestimmen ver- 335 u. 586) ist, das seinerseits vom übrigen sucht, nimmt sich letztere der empirischen Organismus abhängt, ja ein parasitäres Bedingungen der Erkenntnis an. Daher Verhältnis zu ihm einnimmt (vgl. W II 234 könnte man sagen, daß ein transzendenta- u. 252). Daraus aber ergibt sich für Scholer Ansatz einem empirischen gegenüber- penhauer, daß die Leistungsfähigkeit des steht, der anatomische, physiologische Intellekts durch jene des Gehirns bedingt und zoologische Untersuchungen in sich ist (vgl. W II 165 f.) und daß er mit diesem begreift (vgl. N 268 sowie W II 318 f., 334 letzten Endes auch zugrunde geht: »Der u. 339).109 Letzteren könnte man, sofern er Intellekt wird, als bloße Funktion des Geden Menschen zum Gegenstand hat, als hirns, vom Untergang des Leibes mitgeanthropologisch charakterisieren. Scho- troffen« (W II 317; vgl. a. 581 u. 585 f.). penhauer hält beide Ansätze – den obVergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den Intellekt im Organismus und diesen – als Bestandteil der als Er108 Zu ergänzen wäre natürlich, daß auch das Schließen selbst zu den Aufgaben des In- scheinung gedeuteten empirischen Wirktellekts gehört. lichkeit – im Willen als dem Ding an sich 109 Schopenhauer bezeichnet die transzengründen läßt, so leuchtet ein, daß er den dentale Betrachtung auch – mit einem der französischen Philosophie entlehnten Ausdruck – Intellekt auch im Verhältnis zum Willen als sekundär einschätzt. So betont er, daß als ideologische (vgl. W II 339). 189
Intellekt »der Wille in allen thierischen Wesen das Primäre und Substantiale ist, der Intellekt hingegen ein Sekundäres, Hinzugekommenes, ja, ein bloßes Werkzeug zum Dienste des Ersteren« (W II 238; vgl. a. W II 241, 248, 250, 261, 307 u. 317).110 Um den Vorrang des Willens gegenüber dem Intellekt zu beschreiben, greift Schopenhauer gelegentlich auf Metaphern wie die »Wurzel« und die »Krone« (W II 236) e ines Baumes oder »Herr« und »Diener« (W II 243) zurück. Demnach ist der Intellekt sowohl dem Organismus als auch dem Willen als Ding an sich nachgeordnet: »Der Intellekt ist Funktion des cerebralen Nervensystems: aber dieses, wie der übrige Leib, ist die Objektität des Willens. Daher beruht der Intellekt auf dem somatischen Leben des Organismus: dieser selbst aber beruht auf dem Willen. Der organische Leib kann also, in gewissem Sinne, angesehn werden als Mittelglied zwischen dem Willen und dem Intellekt; wiewohl er eigentlich nur der in der Anschauung des Intellekts sich räumlich darstellende Wille selbst ist.« (W II 586; vgl. a. W II 234, 302, 316 f. u. 324) Angesichts der doppelten – physischen wie metaphysischen – Abhängigkeit des Intellekts könnte man resümieren, daß er sich im Verhältnis zum Organismus als sekundär und im Verhältnis zum im Organismus erscheinenden Willen als Ding an sich gar nur als tertiär erweist. 110 Schopenhauer
geht vor allem im 19. bis 20. Kapitel des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung auf die Abhängigkeit des Intellekts vom Willen ein. Dabei scheint er den Willen bald als empirische Disposition, bald als metaphysisches Ding an sich zu meinen, ohne dies im Einzelfall genauer zu explizieren. Unter dieser Voraussetzung wäre in doppelter – empirischer wie metaphysischer – Hinsicht ein Primat des Willens vor dem Intellekt gegeben.
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Lemmata In diesem Zusammenhang vertritt Schopenhauer die Auffassung, daß der Intellekt im Dienste des Willens steht (vgl. W II 165, 243 u. 333) bzw. als »Apparat« (W II 337) oder »Werkzeug« (W II 238 u. 327 sowie P II 80) desselben fungiert, das auf seine Zwecke abgestimmt ist. Diese sind im wesentlichen die Selbsterhaltung (vgl. W II 170, 327 u. 333) sowie die Erhaltung der Art durch Fortpflanzung (vgl. W II 327 u. 333). Vor diesem Hintergrund beschreibt Schopenhauer den Intellekt in erster Linie als praktisch: »Vielmehr ist der Intellekt, als aus dem Willen stammend, auch nur zum Dienste dieses […] bestimmt: darauf ist er eingerichtet, mithin von durchaus praktischer Tendenz.« (W II 333; vgl. a. W II 335 u. P II 101) Bei der Ausstattung eines Lebewesens mit Intellekt bleibt die Natur, wie Schopenhauer versichert, »ihrem Geist der Sparsamkeit getreu« (W II 327; vgl. a. W II 331), das heißt, sie gewährt ihm genau das Maß an Intellekt, das zur Erreichung der jeweiligen Zwecke erforderlich ist, nicht aber mehr. Damit ist der Bereich dessen, was der Intellekt erkennt, auf die Zwecke des Willens beschränkt: »Der Intellekt ist, seiner Bestimmung nach, bloß das Medium der Motive: demzufolge faßt er ursprünglich an den Dingen nichts weiter auf, als ihre Beziehungen zum Willen« (W II 446). Da nun die entsprechenden Zwecke der Welt als Vorstellung angehören, bleibt der Intellekt auf diese beschränkt, das heißt, er dringt nicht zum Ding an sich vor. So erklärt Schopenhauer, daß der Intellekt »auf bloße Erscheinungen beschränkt seyn muß, und daß was in ihm sich darstellt immer nur ein hauptsächlich subjektiv Bedingtes, also ein mundus phaenomenon seyn kann, nebst der ebenfalls subjektiv bedingten Ordnung des Nexus der
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Theile desselben, nie aber ein Erkennen lekt unter bestimmten Voraussetzungen der Dinge nach dem, was sie an sich seyn gelingt, sich – in unterschiedlichem Ausund wie sie an sich zusammenhängen mö- maß – der Herrschaft des Willens zu entgen« (N 268 f.; vgl. a. W II 165, 206, 333 f., ziehen und dadurch objektive Erkenntnis 336, 339 u. 585). Schopenhauer glaubt, daß zu erlangen, die sich im Genie vollendet: er damit ein empirisches – genauer ge- »Die Objektivität der Erkenntniß […] hat sagt: physiologisches – Argument gefun- unzählige Grade, die auf der Energie des den hat, das geeignet ist, den Idealismus Intellekts und seiner Sonderung vom Wilzu stützen, zu dem Kant im Ausgang von len beruhen und deren höchster das Getranszendentalen Überlegungen gelangt: nie ist, als in welchem die Auffassung der »Durch unsere gegenwärtige realistische Außenwelt so rein und objektiv wird, daß Betrachtungsweise gewinnen wir also hier ihm in den einzelnen Dingen sogar mehr unerwartet den objektiven Gesichtspunkt als diese selbst, nämlich das Wesen ihrer für Kants große Entdeckungen und kom- ganzen Gattung, d. i. die Platonische Idee men auf dem Wege empirisch-physiolo- derselben, sich unmittelbar aufschließt; gischer Betrachtung dahin, von wo seine welches dadurch bedingt ist, daß hiebei transscendental-kritische ausgeht. Diese der Wille gänzlich aus dem Bewußtseyn nämlich nimmt zu ihrem Standpunkt das schwindet.« (W II 341; vgl. a. W II 446 f. u. Subjektive und betrachtet das Bewußtseyn 452 sowie P II 78 f. u. 82) Schopenhauer ist als ein Gegebenes: aber aus diesem selbst überzeugt, daß diese Art von Erkenntnis und seiner a priori gegebenen Gesetz- den »Ursprung der Kunst, der Poesie und lichkeit erlangt sie das Resultat, daß was der Philosophie« (P II 79) darstellt. darin vorkommt nichts weiter, also bloße In der Regel ist der Intellekt jedoch vom Erscheinung, seyn kann.« (N 268; vgl. a. Willen abhängig. Das zeigt sich nicht zuW II 334 u. 339)111 letzt darin, daß er seine Energie von dieWie aber gelingt es Schopenhauer, trotz sem bezieht: »Denn als solches ist [der Inder Beschränkung des Intellekts auf die tellekt], wie alles Physische, der Vis inerWelt als Vorstellung, das Ding an sich zu tiae unterworfen, mithin erst thätig, wenn erkennen? Zum einen begeht Schopen- er getrieben wird von einem Andern, vom hauer nicht den Fehler, zu behaupten, er Willen, der ihn beherrscht, lenkt, zur Ankönne den Willen als Ding an sich direkt strengung aufmuntert, kurz, ihm die Thäerfassen, sondern erhebt diesen Anspruch tigkeit verleiht, die ihm ursprünglich nicht lediglich für die – zur Welt als Vorstellung einwohnt.« (W II 248 f.) Dabei kann der zu rechnenden – Akte des Willens (vgl. Wille den Intellekt sowohl fördern (vgl. W I 145 u. 154, W II 230 u. 585 sowie P II W II 257 ff.) als auch beeinträchtigen (vgl. 55), im Ausgang von denen er das Ding W II 164 f. u. 250 ff.). Aber auch in umgean sich dann indirekt – durch eine »Re- kehrter Richtung liegt insofern eine Abflexion« (W II 339) – erschließt. Zum an- hängigkeit vor, als der Wille selbst über dern macht er geltend, daß es dem Intel- keine Erkenntnis verfügt, sondern in dieser Hinsicht auf den Intellekt angewiesen 111 Freilich versäumt es Schopenhauer, der ist. Schopenhauer faßt das folgendermaFrage nachzugehen, wie sich das Ergebnis seißen zusammen: »In Wahrheit aber ist das ner Argumentation, nämlich der Idealismus, mit deren realistischen Prämissen vereinbaren läßt. treffendeste Gleichniß für das Verhältniß 191
Kategorie Beider der starke Blinde, der den Sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt.« (W II 243) Kategorie Schopenhauer grenzt seine Auffassung dessen, was eine Kategorie ist, energisch gegen die von Kant vertretene ab. Dennoch stimmen beide Philosophen wenigstens darin überein, daß eine Kategorie eine intellektuelle Funktion ist, ohne die keine Erkenntnis eines Gegenstandes möglich ist. Mit anderen Worten stellt eine Kategorie eine Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen dar. Nichtsdestoweniger betrachtet Schopenhauer die Kategorienlehre des Königsberger Denkers als gescheitert. Er stuft sie geradezu als »grundlos« (W I 547, 554, 558 u. 575) oder »nichtig« (G 94) ein. Das liegt zunächst daran, daß er von den zwölf Kategorien, die Kant nennt, elf für überflüssig hält und lediglich jene der Kausalität akzeptiert: »Ich verlange demnach, daß wir von den Kategorien elf zum Fenster hinauswerfen und allein die der Kausalität behalten« (W I 550; vgl. a. P I 108). Ein weiterer Einwand lautet, daß Kant die mit der Tafel der Kategorien vorgegebene Struktur ohne sachliche Grundlage auf die verschiedensten Fragen seiner Philosophie projiziert, so daß sie zu einem Prokrustesbett gerät, »in welches er alle Dinge der Welt und Alles was im Menschen vorgeht gewaltsam hineinzwängt, keine Gewaltthätigkeit scheuend und kein Sophisma verschmähend, um nur die Symmetrie jener Tafel überall wiederholen zu können« (W I 529; vgl. a. W I 575). Der entscheidende Punkt von Schopenhauers Kritik betrifft freilich die Aufgabe, welche die Kategorien bei der Erkenntnis von Gegenständen erfüllen. In diesem Zu192
Lemmata sammenhang fällt auf, daß Schopenhauer der Kategorie der Kausalität einen anderen Status als den Kategorien Kants zuerkennt. Während sich die Kategorien bei Kant als Begriffe – genauer gesagt: als die »allgemeinsten Begriffe« (W I 584) – darbieten, siedelt Schopenhauer die Kategorie der Kausalität nicht in der für die Begriffe zuständigen Vernunft, sondern im Verstand an. Damit gehört sie nicht dem Bereich der abstrakten, sondern jenem der anschaulichen, intuitiven Erkenntnis an. Die Leistung, welche der Verstand mit Hilfe der Kategorie der Kausalität vollbringt, besteht nach Schopenhauer in der Transformation der bloßen, noch keinen Gegenstand präsentierenden Empfindung in die Anschauung eines Gegenstandes. In diesem Sinne führt Schopenhauer aus: »Und zwar vollzieht [der Verstand] dieses Geschäft allein durch seine eigene Form, welche das Kausalitätsgesetz ist, und daher ganz unmittelbar und intuitiv, ohne Beihülfe der Reflexion, d. i. der abstrakten Erkenntniß, mittelst Begriffen und Worten, als welche das Material der sekundären Erkenntniß, d. i. des Denkens, also der Vernunft, sind.« (G 85)112 Was jedoch Kant anbelangt, so moniert Schopenhauer, daß es dieser versäumt habe, die Entstehung der Anschauung aus der Empfindung zu erklären. Statt dessen begnüge er sich mit der Feststellung, die Anschauung – und damit auch der Gegenstand – sei einfach nur »gegeben« (W I 540, 542 u. 546). Vor diesem Hintergrund 112 Daß an dieser Stelle nicht expressis verbis von der Kategorie der Kausalität, sondern von einem »Kausalitätsgesetz« die Rede ist, liegt daran, daß Schopenhauer terminologisch nicht scharf zwischen der Kategorie der Kausalität, kausalen Gesetzen und dem Kausalitätsprinzip unterscheidet.
Lemmata
Kategorie
kann Schopenhauer nicht begreifen, daß doch nicht in Zeit und Raum, weil nicht Kant anderseits behauptet, die Kategorien anschaulich, ist Gegenstand des Denkens, bestimmten die Anschauung bzw. bräch- und doch nicht abstrakter Begriff. Demten Einheit in diese und ermöglichten nach unterscheidet Kant eigentlich dreierauf diese Weise die Erfahrung von Ge- lei: 1) die Vorstellung; 2) den Gegenstand genständen. Schopenhauer ist überzeugt, der Vorstellung; 3) das Ding an sich.« (W I daß sich die Anschauung bereits durch 545) Nimmt man nun – mit Schopenhauer – Einheit auszeichnet und daß sich die Ein- an, daß es keinen Unterschied zwischen heit ihres Gegenstandes der Kategorie der der Anschauung und dem Gegenstand Kausalität verdankt (vgl. W I 548 f.). Un- der Anschauung bzw. der Vorstellung und ter dieser Voraussetzung gebe es für die dem Gegenstand der Vorstellung gibt, so Kantischen Kategorien keine Aufgabe ist es tatsächlich nicht erforderlich, die mehr. Sie wären dann, wie Schopenhauer Existenz eines von der Vorstellung unglaubt, »überflüssig« (P I 108). terschiedenen »Objekts der Erfahrung« Ist nun der Gegenstand – kraft der Ka- anzunehmen. Mit diesem, folgert Schotegorie der Kausalität – in der Anschau- penhauer, »fällt aber auch die Lehre von ung gegeben und wird er durch sie erkannt, den Kategorien als Begriffen a priori daso fällt es Schopenhauer schwer, die These hin; da sie zur Anschauung nichts beitranachzuvollziehen, das »Objekt der Erfah- gen und vom Dinge an sich nicht gelten rung« gehe auf die Anwendung der Kanti- sollen, sondern wir mittelst ihrer nur jene schen – also begrifflichen – Kategorien auf ›Gegenstände der Vorstellungen‹ denken die Anschauung zurück. Auf diese Weise und dadurch die Vorstellung in Erfahrung führe Kant ein äußerst merkwürdiges Ge- u mwandeln.« (W I 545) bilde ein: »Sein ›Objekt der Erfahrung‹, Bei näherer Betrachtung stellt sich aldavon er beständig redet, der eigentliche lerdings heraus, daß Schopenhauers KriGegenstand der Kategorien, ist nicht die tik an Kants Kategorienlehre auf einer anschauliche Vorstellung, ist aber auch fragwürdigen Prämisse beruht. In der nicht der abstrakte Begriff, sondern von Tat nimmt Kant an, daß in der Anschaubeiden verschieden, und doch Beides zu- ung ein Gegenstand gegeben ist, doch mit gleich, und ein völliges Unding.« (W I 537; der bloßen Gegebenheit ist – nach seiner vgl. a. W I 543) Abgesehen davon, daß sich Auffassung – nicht geklärt, wie das erkenKant mit dem »Objekt der Erfahrung« ei- nende Subjekt angesichts einer anschauner »heillosen Vermischung der intuitiven lichen Präsentation eines Gegenstandes und abstrakten Erkenntniß« (W I 539) dazu gelangt, diesen als von der subjekschuldig mache, schiebe er damit – ohne tiven Präsentation verschiedenen, objeksachlichen Grund – eine zusätzliche Enti- tiven Gegenstand zu begreifen. Um dies tät zwischen die Vorstellung und das Ding zu tun, muß das Subjekt im Ausgang von an sich ein: »Dem Gesagten zufolge ist bei der Anschauung den Gegenstand erdeuKant der Gegenstand der Kategorien zwar ten bzw. die Anschauung als Anschauung nicht das Ding an sich, aber doch dessen eines Gegenstandes deuten. Dies aber genächster Anverwandter: es ist das Objekt schieht in einem Urteil, das seinerseits an sich, ist ein Objekt, das keines Sub- apriorische Begriffe, die Kategorien, vorjekts bedarf, ist ein einzelnes Ding, und aussetzt. Mit anderen Worten, um dem 193
Kausalität Unterschied zwischen einem subjektiv in der Anschauung gegebenen Gegenstand zu einem objektiven, die anschauliche Präsentation überbietenden Gegenstand – dem »Gegenstand der Erfahrung« oder »Objekt der Erfahrung« – gerecht zu werden, ist Kant auf die Annahme von Kategorien angewiesen. Setzt nun Schopenhauer die Vorstellung mit dem Gegenstand der Vorstellung gleich, so entgeht ihm genau jene Differenz, auf die es Kant ankommt und zu deren Klärung er auf die Kategorien rekurriert. Dennoch könnte man Schopenhauer – gegen Kant – darin recht geben, daß es neben der begrifflichen auch eine anschauliche, intuitive Erkenntnis gibt, die ihrerseits nicht auf Kategorien angewiesen ist. In dieser Hinsicht erscheint Kants Auffassung von Erkenntnis zwar nicht falsch, aber doch einseitig. Nimmt man freilich an, daß sich Erkenntnis in Urteilen niederschlägt, so läßt sich kaum bestreiten, daß sie logische Funktionen zur Voraussetzung hat. So räumt Schopenhauer trotz seiner Ablehnung der Kategorienlehre ein, daß »aber doch die Tafel der Urtheile, welche Kant seiner Theorie des Denkens […] zum Grunde legt, an sich, im Ganzen ihre Richtigkeit hat« (W I 555). Mit Ausnahme der unendlichen sowie der einzelnen Urteile (vgl. W I 558 f. u. 586) bzw. der logischen Funktionen, die ihnen zugrunde liegen, schätzt Schopenhauer die Tafel der Urteile, die Kant vorschlägt, als im wesentlichen richtig ein. Daß er die Kategorienlehre verwirft, ist nicht auf ihre logische, sondern auf ihre erkenntnistheoretische Seite zurückzuführen. Kausalität Schopenhauer erkennt der Kausalität insofern eine herausragende Stellung zu, als er sie – im Gegensatz zu 194
Lemmata den anderen von Kant aufgestellten Kategorien – als einzige übernimmt.113 Freilich sieht er darin keine begriffliche, sondern eine vorbegriffliche Funktion, die nicht dem Bereich der abstrakten Erkenntnis, sondern demjenigen der intuitiven angehört. Was ihren kategorialen Status ausmacht, ist der Umstand, daß sie im Verstand gründet und damit intellektuell ist und daß sie die Erkenntnis von Gegenständen bzw. deren Konstitution ermöglicht. Damit stellt sie eine apriorische Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis dar. Eine eigentümliche Schwierigkeit besteht darin, daß Schopenhauer, wenn er auf die Kausalität zu sprechen kommt, terminologisch nicht immer genau zwischen der Kategorie der Kausalität, kausalen Gesetzen und dem Kausalitätsprinzip unterscheidet. Schopenhauer erblickt im Kausalitätsprinzip oder, wie er es nennt, im »Gesetz der Kausalität« eine der vier Formen des Satzes vom zureichenden Grunde und bezeichnet es in diesem Zusammenhang auch als »Satz vom zureichenden Grunde des Werdens«. Er lautet: »Wenn ein neuer Zustand eines oder mehrerer realer Objekte eintritt; so muß ihm ein anderer vorhergegangen seyn, auf welchen der neue regelmäßig, d. h. allemal, so oft der erstere daist, folgt. Ein solches Folgen heißt ein Erfolgen und der erstere Zustand die Ursache, der zweite die Wirkung.« (G 49) 114 113
Zwar akzeptiert Schopenhauer auch die meisten der elf anderen Begriffe, die Kant als Kategorien betrachtet, doch er stuft sie nicht als Kategorien, sondern lediglich als logische Funktionen ein. Vgl. W I 555 ff. u. 584 ff. 114 Weniger genau ist folgende Stelle: »Jede Veränderung in der materiellen Welt kann nur eintreten, sofern eine andere ihr unmittelbar vorhergegangen ist: dies ist der wahre und ganze Inhalt des Gesetzes der Kausalität.« (W II 51)
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abei handelt es sich – nach Schopen- – Veränderungen von Zuständen, also D hauer – um ein apriorisches bzw. tran- letztlich Ereignisse, als Ursachen und szendentales Gesetz (vgl. G 56, N 289, Wirkungen in Betracht kommen: »Es hat E 66 f. sowie W II 46 u. 48), das heißt, um aber gar keinen Sinn zu sagen, ein Objekt eines, dessen Geltungsgrund nicht in der sei Ursache eines andern […], weil das Erfahrung liegt, sondern das vielmehr Gesetz der Kausalität sich ausschließlich eine Bedingung der Möglichkeit der Er- auf Veränderungen, d. h. auf den Ein- und fahrung darstellt (vgl. W I 40 u. 553 so- Austritt der Zustände in der Zeit bezieht, wie E 189). Als apriorisches Gesetz gilt als woselbst es dasjenige Verhältniß reguder Satz vom zureichenden Grunde des lirt, in Beziehung auf welches der frühere Werdens ebenso notwendig, wie das Ver- Ursache, der spätere Wirkung heißt und hältnis von Ursache und Wirkung, das er ihre nothwendige Verbindung das Erfolbeinhaltet, ein notwendiges ist. In diesem gen.« (G 51; vgl. a. W I 578, E 66 sowie Sinne erklärt Schopenhauer: »Da […] das W II 54) Ist von Veränderungen, die in Gesetz der Kausalität uns a priori bewußt der Zeit stattfinden, die Rede, so ist klar, und daher ein transscendentales, für alle daß sich das Gesetz der Kausalität auf den irgend mögliche Erfahrung gültiges, mit- Bereich der empirischen Wirklichkeit bzw. hin ausnahmsloses ist; da ferner dasselbe die Welt als Vorstellung bezieht (vgl. G 51, feststellt, daß auf einen bestimmt gege- W I 35 u. 42 sowie E 67). Eine über die benen, relativ ersten Zustand ein zwei- Veränderungen in der empirischen Wirkter, ebenfalls bestimmter, nach einer Re- lichkeit hinausreichende Geltung kommt gel, d. h. jederzeit, folgen muß; so ist das ihm, wie Schopenhauer hervorhebt, nicht Verhältniß der Ursache zur Wirkung ein zu. Damit erstreckt sich das Gesetz der nothwendiges« (G 56; vgl. a. E 66 f.). Daß Kausalität weder auf die Materie noch jede Wirkung notwendig aus einer Ursa- auf die Naturkräfte: »Von der endlosen che hervorgeht, beinhaltet letztlich, daß Kette der Ursachen und Wirkungen, welalle Wirkungen kausal determiniert sind. che alle Veränderungen leitet, aber nimIndem er das Gesetz der Kausalität auf- mer sich über diese hinaus erstreckt, bleistellt, nimmt Schopenhauer eine determi- ben […] zwei Wesen unberührt: einerseits nistische Position ein. So urteilt er über nämlich […] die Materie, und andererseits den Menschen und sein Handeln wie folgt: die ursprünglichen Naturkräfte; jene, weil »Betrachtet man sein Thun objective, also sie der Träger aller Veränderungen, oder von außen; so erkennt man apodiktisch, dasjenige ist, woran solche vorgehn; diese, daß es, wie das Wirken jedes Naturwe- weil sie Das sind, vermöge dessen die Versens, dem Kausalitätsgesetze in seiner änderungen, oder Wirkungen, überhaupt ganzen Strenge unterworfen seyn muß« möglich sind, Das, was den Ursachen die (E 139).115 Kausalität, d. i. die Fähigkeit zu wirken, Schopenhauer vertritt zu Recht die allererst ertheilt, von welchen sie also Auffassung, daß nicht etwa Objekte, son- diese bloß zur Lehn haben.« (G 60; vgl. a. dern allein Zustände oder – noch genauer G 109 f., W I 121 f. u. 563 sowie W II 57) Darüber hinaus sind auch das Ding an sich 115 Offensichtlich gebraucht Schopenhauer »Kausalitätsgesetz« an dieser Stelle als Syno- als metaphysische Entität, der Satz vom zureichenden Grunde sowie die apriorinym von »Gesetz der Kausalität«. 195
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sche Korrelation von Subjekt und Objekt einem anderen, ihm vorausgehenden Erals transzendentale Strukturen nicht dem eignis bewirkt wird. Schopenhauer legt Gesetz der Kausalität unterworfen (vgl. dar: »Jetzt aber wollen wir uns auch daran W I 41 ff. u. 122). erinnern, was überhaupt eine Ursache ist: Das gilt, wie Schopenhauer versichert, die vorhergehende Veränderung, welche schließlich auch für die Welt als ganze: die nachfolgende nothwendig macht. Kei»Ueberhaupt also findet das Gesetz der neswegs bringt irgend eine Ursache in Kausalität auf alle Dinge in der Welt An- der Welt ihre Wirkung ganz und gar herwendung, jedoch nicht auf die Welt selbst: vor, oder macht sie aus nichts. Vielmehr denn es ist der Welt immanent, nicht trans ist allemal etwas da, worauf sie wirkt, und scendent: mit ihr ist es gesetzt und mit ihr sie veranlaßt bloß zu dieser Zeit, an dieaufgehoben.« (W II 56; vgl. a. G 110) Da- sem Ort und an diesem bestimmten Webei geht Schopenhauer von der Prämisse sen eine Veränderung« (E 85). Wenn nun aus, daß sich das Gesetz der Kausalität das Gesetz der Kausalität für alle Ereigauf Ereignisse bezieht, die ihrerseits Ele- nisse gilt und jedes Ereignis durch ein anmente der empirischen Wirklichkeit sind, deres verursacht ist, kann es kein erstes und seine Funktion darin besteht, kau- Ereignis geben, das nicht mehr durch ein sale Verhältnisse zwischen solchen Ereig- anderes, sondern durch sich selbst verurnissen zu erkennen. Unter dieser Voraus- sacht ist. Daher weist Schopenhauer die setzung wäre es wenig sinnvoll, die empi- Annahme, es gebe – mit Gott – eine errische Wirklichkeit als ganze als das eine ste, in sich selbst gründende Ursache, in Glied eines kausalen Nexus zu behandeln, aller Entschiedenheit zurück: »[C]ausa dessen anderes Glied zwangsläufig außer- prima ist, eben so gut wie causa sui, eine halb derselben läge und daher nicht in den contradictio in adjecto […]. Denn jede UrGeltungsbereich des Gesetzes der Kausa- sache ist eine Veränderung, bei der man lität fiele. Es liegt auf der Hand, daß sich nach der ihr vorhergegangenen Verändediese Argumentation nicht zuletzt gegen rung, durch die sie herbeigeführt worden, den kosmologischen Gottesbeweis richtet, nothwendig fragen muß, und so in infiniden Schopenhauer überdies aus einem an- tum, in infinitum!« (G 52 f.; vgl. a. G 56, deren, ebenfalls im Gesetz der Kausalität E 66, W II 55 sowie P I 118 f.) angelegten Grund ablehnt. Im Gegensatz Schopenhauer ist der Auffassung, daß zu Kant, der die Frage nach der Endlich- sich aus dem Gesetz der Kausalität zwei keit bzw. Unendlichkeit der Reihe der weitere Prinzipien ergeben: das Gesetz Ursachen und Wirkungen in seinen Aus- der Trägheit und das Gesetz der Beharrführungen über die Antinomien der rei- lichkeit der Substanz. Ersteres beinhaltet, nen Vernunft116 offenläßt, legt sich Scho- daß sich kein Zustand eines Objekts änpenhauer darauf fest, daß sie keinen An- dert, ohne daß es eine Ursache dafür gibt, fang hat und sich insofern als unendlich letzteres hingegen, daß jeder Wechsel von erweist (vgl. G 49 u. E 66). Dabei geht er Zuständen etwas Bleibendes voraussetzt, von der Voraussetzung aus, daß sich ein das als Träger der Zustände fungiert.117 Ereignis nicht selbst bewirkt, sondern von 117 116
Vgl. KrV, A 405 ff. / B 432 ff.
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G 58: »Das erstere besagt, daß jeder Zustand, mithin sowohl die Ruhe eines Körpers, als auch seine Bewegung jeder Art, unverän-
Lemmata Diesen nennt Schopenhauer »Substanz« oder »Materie« (G 59 f. u. W I 562 f.). Er geht sogar noch einen Schritt weiter und verleiht dem Gesetz der Beharrlichkeit der Substanz eine Wendung, die einigermaßen überraschend anmutet: »Die Substanz beharrt: d. i. sie kann nicht entstehn, noch vergehn, mithin das in der Welt vorhandene Quantum derselben nie vermehrt, noch vermindert werden.« (G 58) Tritt eine Veränderung in der empirischen Wirklichkeit ein, so wirken daran, wie Schopenhauer erläutert, nicht allein die Substanz oder Materie, sondern auch die Naturkräfte als selbst nicht veränderliche Instanzen mit: »Von der endlosen Kette der Ursachen und Wirkungen, welche alle Veränderungen leitet, aber nimmer sich über diese hinaus erstreckt, bleiben […] zwei Wesen unberührt: einerseits nämlich, wie so eben gezeigt, die Materie, und andererseits die ursprünglichen Naturkräfte; jene, weil sie der Träger aller Veränderungen, oder dasjenige ist, woran solche vorgehn; diese, weil sie Das sind, vermöge dessen die Veränderungen, oder Wirkungen, überhaupt möglich sind, Das, was den Ursachen die Kausalität, d. i. die Fähigkeit zu wirken, allererst ertheilt, von welchen sie also diese bloß zur Lehn haben.« (G 60; vgl. a. W II 56 f. u. 206) Dadert, unvermindert, unvermehrt, fortdauern und selbst die endlose Zeit hindurch anhalten müsse, wenn nicht eine Ursache hinzutritt, welche sie verändert oder aufhebt. – Das andere aber, welches die Sempiternität der Materie ausspricht, folgt daraus, daß das Gesetz der Kausalität sich nur auf die Zustände der Körper, also auf ihre Ruhe, Bewegung, Form und Qualität bezieht, indem es dem zeitlichen Entstehn und Vergehn derselben vorsteht; keineswegs aber auf das Daseyn des Trägers dieser Zustände, als welchem man, eben um seine Exemtion von allem Entstehn und Vergehn auszudrücken, den Namen Substanz ertheilt hat.«
Kausalität mit also eine Wirkung erfolgen kann, muß nicht nur eine Ursache, sondern darüber hinaus auch eine Naturkraft gegeben sein. Stellt man in Rechnung, daß an dem Ereignis, das als Ursache in Erscheinung tritt, eine gleichbleibende Substanz bzw. Materie als Träger wechselnder Zustände beteiligt ist und daß man diesen Träger als das, was wirkt, betrachten kann, so läßt sich ohne weiteres nachvollziehen, daß Schopenhauer die Substanz bzw. Materie als wirkend oder kausal charakterisiert: »Wir haben aber gefunden, daß im Wirken, also in der Kausalität, das ganze Wesen der Materie besteht« (W I 37; vgl. a. W II 57 f. u. 357). Schopenhauer unterscheidet drei Arten von Ursachen, die im Rahmen einer kausalen Beziehung eine Wirkung hervorbringen können: »Die Kausalität also, dieser Lenker aller und jeder Veränderung, tritt nun in der Natur unter drei verschiedenen Formen auf: als Ursache im engsten Sinn, als Reiz, und als Motiv.« (G 61) Die erstere ist in der unorganischen Natur anzutreffen, der zweite bei den Pflanzen und das letztere bei Wesen, die mit Erkenntnis begabt sind. Während bei der Ursache im engen Sinne Wirkung und Gegenwirkung gleich sind, trifft das auf den Reiz sowie das Motiv nicht zu. Im letztgenannten Fall ist der bewirkende Zustand ein erkannter, der – im Gegensatz zum Reiz – keines unmittelbaren Kontakts zu jenem Zustand bedarf, auf den er einwirkt (vgl. G 62 f. u. E 71 f.). Was die Veränderung auslöst, ist also nicht der Zustand selbst, sondern der Zustand, wie er sich in der Erkenntnis darbietet. Daher charakterisiert Schopenhauer die Motivation als die »durch das Erkennen hindurchgehende Kausalität« (E 70). Ungeachtet der Distinktion zwischen Ursache, Reiz und Motiv besteht 197
Kausalität Schopenhauer darauf, daß alle drei Arten der Kausalität mit strenger Notwendigkeit wirken: »Alle an den objektiven, in der realen Außenwelt liegenden Gegenständen vorgehende Veränderungen sind also dem Gesetz der Kausalität unterworfen, und treten daher, wann und wo sie eintreten, allemal als nothwendig und unausbleiblich ein.« (E 67) Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer das Gesetz der Kausalität als apriorisches, die empirische Wirklichkeit insgesamt beherrschendes Prinzip betrachtet, erhebt sich natürlich die Frage, auf welche Weise er zu dieser Einschätzung gelangt bzw. es begründet. Zwar legt er im § 21 seiner Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde eine ausführliche Erläuterung der »Apriorität des Kausalitätsbegriffes« vor, doch bereits in dieser Formulierung deutet sich an, daß er dort allenfalls die Apriorität der Kategorie der Kausalität, nicht aber jene des Gesetzes der Kausalität einsichtig macht. Schopenhauer argumentiert, daß die Kategorie der Kausalität, die er nicht als begrifflich, sondern als intuitiv betrachtet (vgl. G 85 u. 93 f.) und die er daher nicht in der Vernunft, sondern im Verstand ansiedelt (vgl. G 66 u. 72, W I 38 f., N 289 sowie E 65 f.), erforderlich ist, um den Übergang von der Empfindung zur empirischen Anschauung bzw. Wahrnehmung zu erklären: »Erst wenn der Verstand […] in Thätigkeit ge räth und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird.« (G 67) Daß die Empfindung subjektiv ist, bedeutet, daß sie keinen Gegenstand präsentiert, also nicht gegenständlich ist, 198
Lemmata daß die Anschauung objektiv ist, hingegen, daß sie einen Gegenstand präsentiert, also gegenständlich ist. Damit wird dem erkennenden Subjekt nicht schon in der Empfindung, sondern erst in der Anschauung ein Gegenstand gegeben. Daß dies der Fall ist, liegt nach Schopenhauer daran, daß das Subjekt mit Hilfe des Verstandes bzw. der Kategorie der Kausalität die Empfindung als Resultat der Einwirkung eines Gegenstandes deutet, den es konstruiert und in den Raum projiziert: »[Der Verstand] nämlich faßt, vermöge seiner selbsteigenen Form, also a priori, d. i. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf […], die als solche nothwendig eine Ursache haben muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellekt, d. i. im Gehirn, prädisponirt liegende Form des äußern Sinnes zu Hülfe, den Raum, um jene Ursache außerhalb des Organismus zu verlegen […]. Bei diesem Proceß nimmt nun der Verstand […] alle, selbst die minutiösesten Data der gegebenen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entsprechend, die Ursache derselben im Raume zu konstruiren.« (G 67 f.) Nun trifft es sicherlich zu, daß man, um eine Wirkung auf eine Ursache zu beziehen, ein – sei es intuitives oder abstraktes – Verständnis von Kausalität benötigt, doch Schopenhauer geht erheblich weiter. Er behauptet: »Hieraus erhellt unwidersprechlich, daß das Gesetz der Kausalität uns a priori, folglich als ein, hinsichtlich der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt, nothwendiges bewußt ist« (E 66; vgl. a. E 189 u. W II 48). Wie bereits ausgeführt wurde, beinhaltet das Kausalitätsprinzip bzw. das Gesetz der Kausalität, daß alle Ereignisse durch andere Ereignisse bewirkt werden. Um aber der
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Empfindung eine Ursache zuzuordnen, transzendentalen Ebene angesiedelt ist, ist es keineswegs erforderlich, alle Ereig- die nicht mit der ersteren vermengt wernisse als kausal abhängig zu betrachten, den darf. Umgekehrt ist aber die Kategosondern es genügt, zu wissen, daß es über- rie der Kausalität, die Aussagen vom Typ haupt so etwas wie kausale Abhängigkeit »Das Ereignis p bewirkt das Ereignis q« gibt, ganz gleich, ob sie alle oder nur ei- ermöglicht, inhaltlich viel zu vage, um die nige Ereignisse betrifft. Demnach setzt genannten Transformationen angemessen Schopenhauer mit dem Kausalitätsprin- zu erklären. zip bzw. dem Gesetz der Kausalität mehr Vergegenwärtigt man sich, daß Schovoraus, als er voraussetzen müßte, so daß penhauer – im Zuge des transzendentaseine Argumentation letztlich scheitert. len Idealismus – empirische Objekte als Insbesondere schreibt Schopenhauer Vorstellungen und damit als empirische dem Verstand bzw. der Kategorie der Anschauungen bzw. Wahrnehmungen beKausalität im Zusammenhang mit dem trachtet und daß er diese auf eine durch Übergang von der Empfindung zur em- die Kategorie der Kausalität ermöglichte pirischen Anschauung bzw. Wahrneh- Leistung des Verstandes zurückführt, so mung folgende Leistungen zu: 1) die Er- gelangt man unweigerlich zum Ergebnis, schließung der Gestalt eines Körpers im daß diese Kategorie nicht allein der UmAusgang von taktilen Empfindungen (vgl. formung der Empfindung in die empiriG 70 ff.); 2) die Umkehrung des ursprüng- sche Anschauung bzw. Wahrnehmung, lich auf dem Kopf stehenden Bildes der sondern damit auch der Konstitution der Retina (vgl. G 73 f. u. W I 40); 3) die Ver- empirischen Wirklichkeit bzw. der Welt schmelzung der Bilder beider Augen zu als Vorstellung dient. Neben ihrer episteeinem einzigen (vgl. G 74 ff. u. W I 40); 4) mologischen Funktion hätte sie mithin die Umwandlung des zweidimensionalen auch eine ontologische. Bildes auf der Retina in eine dreidimensionale Wahrnehmung (vgl. G 78 ff. u. W I Kontemplation Schopenhauer versteht 40); 5) die Schätzung der Entfernung von unter Kontemplation eine besondere Art Gegenständen im Ausgang vom Sehwin- anschaulicher Erkenntnis, die vor allem kel (vgl. G 80 ff.); 6) die Beziehung man- für die Ästhetik bzw. die Metaphysik des nigfaltiger Empfindungen auf einen und Schönen von Bedeutung ist. Gegenstand denselben Gegenstand (vgl. G 86 f. u. W I der Kontemplation sind die Ideen, in de549). So korrekt es sein mag, daß die Emp- nen Schopenhauer einerseits das »Was« findung einer intellektuellen Umarbei- (W I 232) bzw. das Wesen der empirischen tung bedarf, so problematisch erscheint Gegenstände, anderseits die »adäquate es, diese Überlegungen in eine Theorie Objektität« (W I 233) des Willens erblickt. der Kausalität zu integrieren. Das liegt Da nun die Ideen – ebenso wie die empizunächst einmal daran, daß sie der Ebene rischen Gegenstände, in denen sie dargedes Physiologischen – und damit der em- stellt werden – schön sind, bietet sich die pirischen Wirklichkeit – angehören, wäh- Kontemplation nicht zuletzt als Erkenntrend die Kategorie der Kausalität als nis des Schönen dar (vgl. W I 258 f.). Schoapriorische Bedingung der Möglichkeit penhauer ist der Auffassung, daß die Fäder Erfahrung auf einer grundlegenderen, higkeit zur Kontemplation insbesondere 199
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beim Genie anzutreffen ist: »Nur durch sen, daß diese Augenblicke, wo wir, vom die […] reine Kontemplation werden Ideen grimmen Willensdrange erlöst, gleichsam aufgefaßt, und das Wesen des Genius be- aus dem schweren Erdenäther auftauchen, steht eben in der überwiegenden Fähig- die säligsten sind, welche wir kennen.« keit zu solcher Kontemplation« (W I 240). (W I 482 f.; vgl. a. W I 232, 253 u. 276) Im Zuge der Kontemplation erfährt sich Empfindet sich das reine Subjekt des der Mensch – nach Schopenhauer – nicht Erkennens nicht mehr als Individuum, so mehr als Individuum, sondern als »reines heißt dies, daß es im kontemplierten GeSubjekt des Erkennens« (W I 231 ff., 258 f. genstand aufgeht und sich darin verliert. u. 276). Ist dieses Subjekt »rein«, so be- So resümiert Schopenhauer: »Dieser Zudeutet das zweierlei: Es erhebt sich über stand ist aber eben der, welchen ich oben die vom Satz vom zureichenden Grunde beschrieb als erforderlich zur Erkenntniß – und damit auch von Raum und Zeit – der Idee, als reine Kontemplation, Aufbestimmte empirische Wirklichkeit, und gehn in der Anschauung, Verlieren ins es löst sich vom Willen ab, dem es in der Objekt, Vergessen aller Individualität, empirischen Wirklichkeit unterworfen ist. Aufhebung der dem Satz vom Grunde folMit anderen Worten, es tritt eine »Losrei- genden und nur Relationen fassenden Erßung von allem Wollen und dessen Dürf- kenntnißweise, wobei zugleich und unzertigkeit« (W I 261; vgl. a. W I 259, 267 u. trennlich das angeschaute einzelne Ding 276) ein, in deren Folge das Subjekt »wil- zur Idee seiner Gattung, das erkennende lensfrei« oder »willenlos« (W I 231 f., 258 f. Individuum zum reinen Subjekt des wilu. 267) wird. lenlosen Erkennens sich erhebt, und nun Hält man sich vor Augen, daß Schopen- Beide als solche nicht mehr im Strohme hauer den Willen als Ursprung allen Lei- der Zeit und aller andern Relationen des betrachtet, so kann man nachvollzie- stehn.« (W I 253; vgl. a. W I 231 f.) Auf hen, daß mit der Kontemplation ein Zu- diese Weise rückt Schopenhauer die ässtand erreicht wird, der frei von Schmerz thetische Kontemplation in die Nähe der und Leiden ist. Freilich erweist sich dieser Erfahrung der unio mystica. Das geht Zustand – im Gegensatz zu einer Erlösung auch daraus hervor, daß er behauptet, in im strengen Sinne – nicht als dauerhaft. der Kontemplation sei es, »als ob der GeSo erklärt Schopenhauer, »daß die ästhe- genstand allein dawäre, ohne Jemanden, tische Freude am Schönen, einem großen der ihn wahrnimmt, und man also nicht Theile nach, darin besteht, daß wir, in den mehr den Anschauenden von der AnZustand der reinen Kontemplation tre- schauung trennen kann, sondern Beide tend, für den Augenblick allem Wollen, Eines geworden sind« (W I 232). d. h. allen Wünschen und Sorgen, enthoben, gleichsam uns selbst los werden, nicht Kunst Schopenhauer bestimmt den Ort mehr das zum Behuf seines beständigen der Kunst von der Idee bzw. der ErkenntWollens erkennende Individuum, das Kor- nis der Idee her, die nach seiner Auffasrelat des einzelnen Dinges, dem die Ob- sung das wahre Wesen der Dinge ausjekte zu Motiven werden, sondern das wil- macht. So setze die Kunst einerseits die lensreine, ewige Subjekt des Erkennens, Erkenntnis der Idee voraus, und sie laufe das Korrelat der Idee sind: und wir wis- anderseits auf die Darstellung oder Wie200
Lemmata derholung derselben in einem Werk hinaus, mit dessen Hilfe sie mitgeteilt werde. Daher beschreibt Schopenhauer die Kunst wie folgt: »Sie wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt […]. Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntniß der Ideen; ihr einziges Ziel Mittheilung dieser Erkenntniß.« (W I 239; vgl. a. W I 250 f., 295 f. u. 323, W II 479 f. u. 497 sowie P II 10 u. 463) Dabei grenzt sich Schopenhauer insofern von Platon ab, als er darauf besteht, die Kunst ahme nicht etwa empirische Gegenstände, sondern die Idee selbst nach. Deshalb vermag er auch die Geringschätzung, die Platon der Kunst entgegenbringt, nicht zu teilen (vgl. W I 271). Um zur Erkenntnis der Idee zu gelangen, muß sich der Künstler in einen Zustand versetzen, den Schopenhauer mit Ausdrücken wie »reines Subjekt des Erkennens« (W II 479 u. 497) bzw. »klarer« oder »reiner Spiegel der Welt« (W I 204 u. 362) charakterisiert. Da in diesem Zustand der Wille zur Ruhe komme und die Erkenntnis nicht mehr trübe, besitze diese eine – nicht etwa empirische, sondern ideale – Objektivität, die auch in die künstlerische Darstellung eingehe (vgl. W II 479 sowie P II 79 f. u. 84). Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Erkenntnis der Ideen insbesondere dem Genie zutraut, erstaunt es nicht weiter, daß er die Kunst als Werk desselben einstuft: »Die Mutter der nützlichen Künste ist die Noth; die der schönen der Ueberfluß. Zum Vater haben jene den Verstand, diese das Genie, welches selbst eine Art Ueberfluß ist, nämlich der der Erkenntnißkraft über das zum Dienste des Willens erforderliche Maaß.« (W II 484; vgl. a. W I 239) Hält man sich vor Augen, daß Schopenhauer die Idee als sinnlich und ihre Er-
Kunst kenntnis als anschaulich betrachtet, so ist es keineswegs überraschend, daß er fordert, die Kunst habe aus der Anschauung, nicht aber aus dem Begriff hervorzugehen (vgl. W I 94, 98, 297 f. u. 327 sowie W II 482). Insbesondere hält er die Vorstellung für verfehlt, die Befolgung der Regeln der Ästhetik sei dafür entscheidend, daß ein Kunstwerk von Rang entstehe. Er ist vielmehr der Auffassung, »daß noch kein Künstler es durch Studium der Aesthetik geworden ist« (W I 77; vgl. a. W I 457 u. 642).118 So kann der Künstler, wie Schopenhauer darlegt, »von seinem Thun keine Rechenschaft geben: er arbeitet […] aus bloßem Gefühl und unbewußt, ja instinktmäßig.« (W I 298; vgl. a. W I 327) Unter der Voraussetzung, daß sich die Kunst nicht Begriffen, sondern Ideen verdankt, ist es auch verständlich, daß sie nicht etwa erstere, sondern letztere darstellen soll. So lehnt Schopenhauer den Versuch einer allegorischen Darstellung von Begriffen in den bildenden Künsten ab (vgl. W I 299 ff. u. W II 497). Umgekehrt ist er sich darüber im klaren, daß Ideen in der Sprache nur mit Hilfe von Begriffen ausgedrückt werden können. Angesichts dieser Schwierigkeit macht er geltend, daß Ideen unerschöpflich sind und nicht in Begriffen aufgehen (vgl. W II 479 u. 482). Nun könne man diesem Umstand dadurch gerecht werden, daß man den Begriff in einem bildlichen, übertragenen Sinne gebrauche, um die Phantasie »auf das Anschauliche zu leiten« (W I 303; vgl. a. P II 463).119 So 118 Freilich räumt Schopenhauer ein, daß Regeln in Hinblick auf den technischen Aspekt der Kunst von Nutzen sein können. Vgl. W I 94. 119 Mehr noch, Schopenhauer betont, daß jedes Kunstwerk stets hinter dem anschaulichen Gehalt, den es zum Ausdruck bringt, zurückbleibt und deshalb auf die Phantasie des Betrachters angewiesen ist: »In der Kunst aber
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erklärt Schopenhauer: »Solches geschieht daher, also für die Reflexion und in abschon in jedem tropischen Ausdruck, und stracto, eine eben deshalb bleibende und geschieht in jeder Metapher, Gleichniß, auf immer genügende Beantwortung jener Parabel und Allegorie, welche alle nur Frage zu geben, – ist die Aufgabe der Phidurch die Länge und Ausführlichkeit ih- losophie.« (W II 479 f.) rer Darstellung sich unterscheiden. In Was die Wirkung der Kunst anbeden redenden Künsten sind dieserwegen langt, so besteht sie nach Schopenhauer Gleichnisse und Allegorien von trefflicher zunächst darin, den Betrachter zur ErWirkung.« (W I 303 f.) Durch den Vorrang kenntnis der Ideen anzuregen und sie der Anschauung unterscheide sich die ihm zu erleichtern (vgl. W I 251, 299, u. Kunst auch von der Philosophie, die sich 323, W II 438, 482 u. 497 sowie P II 464). in erster Linie des Begriffs bediene und Zwar ist Schopenhauer davon überzeugt, die nicht etwa – in exemplarischer Ab- daß diese sowohl der Natur als auch der sicht – Einzelnes, sondern das Ganze der Kunst zugrunde liegen, so daß beide als Wirklichkeit präsentiere: »Zur Philoso- schön gelten können, doch er legt dar, daß phie verhält sich die Poesie, wie die Erfah- die Kunst darauf angelegt ist, das in der rung sich zur empirischen Wissenschaft Natur anzutreffende Ideale durch ihren verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns gestaltenden Eingriff so zu präsentieren, mit der Erscheinung im Einzelnen und daß es auch einem Betrachter zugänglich beispielsweise bekannt: die Wissenschaft wird, der – im Vergleich zum Künstler – umfaßt das Ganze derselben, mittelst all- »schwächere Empfänglichkeit und keine gemeiner Begriffe.« (W II 503; vgl. a. W II Produktivität hat« (W I 299). Mit anderen 479 f. u. P II 463) Da sich – mit der Idee – Worten, er führt die Erleichterung der Erder Gehalt der Kunst letzten Endes nicht kenntnis darauf zurück, »daß der Künstauf den Begriff bringen lasse, sondern sich ler, der nur die Idee, nicht mehr die Wirkals unerschöpflich erweise, halte sich die lichkeit erkannte, in seinem Werk auch Antwort, die sie auf die Frage nach dem nur die Idee rein wiederholt hat, sie ausWesen der Wirklichkeit gebe, in einer Of- gesondert hat aus der Wirklichkeit, mit fenheit, die allenfalls die Philosophie auf- Auslassung aller störenden Zufälligkeiheben könne: »Ihre Antwort, so richtig ten.« (W I 251) Damit der Betrachter die sie auch seyn mag, wird jedoch immer nur Ideen erfassen kann, muß er allerdings – eine einstweilige, nicht eine gänzliche und ähnlich wie der Künstler, nur in geringefinale Befriedigung gewähren. Denn sie rem Maße – die entsprechende Fähigkeit [gibt] immer nur ein Fragment, ein Bei- besitzen: »Wir müssen daher in allen Menspiel statt der Regel, nicht das Ganze, als schen […] jenes Vermögen, in den Dingen welches nur in der Allgemeinheit des Be- ihre Ideen zu erkennen, und eben damit griffes gegeben werden kann. Für diesen sich ihrer Persönlichkeit augenblicklich zu entäußern, als vorhanden annehmen. ist überdies das Allerbeste zu geistig, um gera- Der Genius hat vor ihnen nur den viel hödezu den Sinnen gegeben zu werden: es muß in hern Grad und die anhaltendere Dauer jeder Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl ner Erkenntnißweise voraus« (W I 250 f.). durch das Kunstwerk erzeugt werden.« (W II Einen weiteren Grund dafür, daß die 481) Freilich treffe dies auf die Dichtung in ganz Kunst der Erkenntnis der Idee förderlich besonderem Maße zu. 202
Lemmata ist, erblickt Schopenhauer darin, daß Gegenstände, die einem nicht in der Wirklichkeit, sondern in der künstlerischen Darstellung begegnen, den Willen weniger ansprechen und daher eine objektivere Betrachtung ermöglichen: »Daß also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen, in welcher der ästhetische Genuß besteht, so sehr erleichtert, beruht nicht bloß darauf, daß die Kunst, durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen, die Dinge deutlicher und charakteristischer darstellt, sondern eben so sehr darauf, daß das zur rein objektiven Auffassung des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am sichersten dadurch erreicht wird, daß das angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig sind, indem es kein Wirkliches, sondern ein bloßes Bild ist.« (W II 438 f.) Wie gerade angedeutet wurde, ruft die Erkenntnis der Ideen beim Betrachter »ästhetischen Genu[ß]« bzw. »ästhetische[s] Wohlgefallen« (W I 250 f. u. 271) hervor. Das liegt – nach Schopenhauer – einerseits an der Idee selbst, die ihm bekanntlich als schön gilt120, anderseits daran, daß der Wille in der Kontemplation zur Ruhe kommt und damit auch das Leiden an der Wirklichkeit aussetzt. Letzteres sei eher der Fall, wenn die Idee einer niedrigeren Stufe der Objektität des Willens, ersteres hingegen, wenn sie einer höheren angehöre (vgl. W I 271). Tritt der Wille beim Genuß des Schönen in den Hintergrund und findet dadurch eine Entlastung des Menschen 120
Daneben nennt Schopenhauer noch eine andere, sekundäre Schönheit, die nicht der Idee, sondern der formalen Struktur des Kunstwerks inhäriert und der Erkenntnis der Idee dient. Vgl. W II 497 u. 503 ff.
Kunst von der Negativität der Wirklichkeit statt, so bietet sich die ästhetische Erfahrung als Vorstufe oder Vorwegnahme der Erlösung dar, die allerdings nicht dauerhaft ist. Schopenhauer stellt dazu fest: »Jene reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt wird [dem Künstler] nun Zweck an sich: er bleibt bei ihr stehn. Daher wird sie ihm nicht, wie wir es […] bei dem zur Resignation gelangten Heiligen sehn werden, Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift.« (W I 335; vgl. a. W I 482 f. u. P II 458) Schopenhauer weist den einzelnen Künsten einen unterschiedlichen Rang zu, der sich nach den Ideen bemißt, die sich darin ausdrücken (vgl. W I 269). Dabei geht er von der – freilich nicht eigens begründeten – Annahme aus, daß jede Idee eine niedrigere oder höhere Stufe der Objektität des Willens darstellt. Während der Baukunst lediglich Naturkräfte wie die Schwere, Kohäsion, Starrheit oder Härte zugrunde lägen und sich darin ästhetische Zwecke mit nützlichen verbänden (vgl. W I 273 u. 276 f.), stelle die Gartenkunst die »höhere Stufe der vegetabilischen Natur« (W I 278) dar. Über der Bau- und Gartenkunst siedelt Schopenhauer die bildenden Künste an. Diese gliedert er in Landschaftsmalerei, Tiermalerei, Historienmalerei und Skulptur. Er ordnet ihnen die Ideen zu, welche den einzelnen Gattungen der Pflanzen und Tiere sowie dem Menschen entsprechen, der sich dadurch auszeichne, daß bei ihm der Charakter der Gattung und der Charakter des Individuums auseinander träten: »Bei der Darstel203
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lung des Menschen sondert sich nun aber nach Schopenhauer – dem Trauerspiel der der Gattungscharakter vom Charakter höchste Rang zu. Es stelle den »Gipfel der des Individuums: jener heißt nun Schön- Dichtkunst, sowohl in Hinsicht auf die heit […], dieser aber behält den Namen Größe der Wirkung, als auf die SchwierigCharakter oder Ausdruck bei« (W I 280; keit der Leistung« (W I 318) dar. Inhaltvgl. a. W I 285). Schopenhauer ist über- lich zeichne es sich dadurch aus, daß es die zeugt, daß die Idee des Menschen – vor Negativität der Wirklichkeit thematisiere, jenen der Tiere, Pflanzen und Natur- die Schopenhauer auf einen Konflikt des kräfte – den höchsten Rang einnimmt und Willens mit sich selbst zurückführt: »Es ist dies auch für die menschliche Schönheit der Widerstreit des Willens mit sich selbst, bzw. die Künste gilt, in denen sie darge- welcher hier, auf der höchsten Stufe seistellt wird: »Darum ist der Mensch vor al- ner Objektität, am vollständigsten entfallem Andern schön und die Offenbarung tet, furchtbar hervortritt.« (ebd.) Damit seines Wesens das höchste Ziel der Kunst. läßt das Trauerspiel eine besondere AfMenschliche Gestalt und menschlicher finität zu Schopenhauers pessimistischer Ausdruck sind das bedeutendeste Objekt Weltsicht erkennen. Die in metaphysischer der bildenden Kunst, so wie menschliches Hinsicht interessanteste Kunst erblickt Handeln das bedeutendeste Objekt der Schopenhauer jedoch in der Musik. Sie Poesie.« (W I 269; vgl. a. W I 281 u. 308) nimmt insofern eine privilegierte Stellung Einerseits ist der bildenden Kunst und der ein, als sich darin – im Gegensatz zu den Poesie gemeinsam, daß sie den Menschen anderen Künsten – keine Idee, sondern darstellen, anderseits ist Schopenhauer der Wille selbst darstellt: »Die Musik ist überzeugt, daß letztere der ersteren über- also keineswegs, gleich den andern Künlegen ist. Er begründet seine Auffassung sten, das Abbild der Ideen, sondern Abdamit, daß allein die Poesie dem Men- bild des Willens selbst, dessen Objektität schen in seiner Komplexität gerecht wird: auch die Ideen sind: deshalb eben ist die »Wenn aber, in der Darstellung der niede- Wirkung der Musik so sehr viel mächtirigeren Stufen der Objektität des Willens, ger und eindringlicher, als die der andern die bildende Kunst sie meistens übertrifft, Künste: denn diese reden nur vom Schatweil die erkenntnißlose und auch die bloß ten, sie aber vom Wesen.« (W I 324) thierische Natur in einem einzigen wohlgefaßten Moment fast ihr ganzes Wesen Künstler Schopenhauer erblickt die offenbart; so ist dagegen der Mensch, so- Aufgabe des Künstlers darin, die Ideen weit er sich nicht durch seine bloße Ge- zu erfassen und im Kunstwerk so darzustalt und Ausdruck der Miene, sondern stellen, daß anderen Menschen der Zudurch eine Kette von Handlungen und sie gang zu ihnen ermöglicht oder erleichtert begleitender Gedanken und Affekte aus- wird.121 Um zur Erkenntnis der Ideen zu spricht, der Hauptgegenstand der Poesie, gelangen, muß der Künstler die vom Satz der es hierin keine andere Kunst gleich vom zureichenden Grunde sowie vom thut, weil ihr dabei die Fortschreitung Willen bestimmte empirische Wirklichzu Statten kommt, welche den bildenden 121 Anders ausgedrückt läßt der Künstler Künsten abgeht.« (W I 308) Unter den »uns durch seine Augen in die Welt blicken.« literarischen Gattungen aber kommt – (W I 251; vgl. a. 276 u. 313) 204
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keit hinter sich zurücklassen, das heißt, ticipation ist das Ideal: es ist die Idee, soer muß zum reinen Subjekt des Erken- fern sie, wenigstens zur Hälfte, a priori nens werden (vgl. W I 252 f., W II 443 erkannt ist und, indem sie als solche dem u. P II 458). Da die Erkenntnis, die sich a posteriori durch die Natur Gegebenen dem Künstler in diesem Zustand darbie- ergänzend entgegenkommt, für die Kunst tet, nicht unter dem Einfluß des Willens praktisch wird.« (W I 283)122 steht, ist sie objektiv. So hebt SchopenSchopenhauer ist der Auffassung, daß hauer hervor: »Nur Objektivität befähigt der Künstler darüber hinaus der Besonzum Künstler: sie ist aber allein dadurch nenheit bedarf, um die erkannte Idee in möglich, daß der Intellekt, von seiner einem Werk zu wiederholen (vgl. W I 240, Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwe- 251, 253 u. 282 sowie W II 452). Unter Bebend, und doch höchst energisch thätig sonnenheit versteht er die in der Vernunft sei.« (W II 443) Genau zu dieser Art von als dem Vermögen der Begriffe bzw. der Erkenntnis ist nach Schopenhauer in er- abstrakten, reflektierten Erkenntnis anster Linie das Genie fähig (vgl. W I 240). gesiedelte Fähigkeit, sich über die GegenDemnach ist Genialität eine wesentliche wart, wie sie anschaulich gegeben ist, zu Voraussetzung dafür, daß jemand ernst- erheben und sich der Vergangenheit sohaft als Künstler gelten kann. wie der Zukunft zuzuwenden (vgl. G 117 In diesem Zusammenhang geht Scho- u. 127, W I 29, 203 u. 631 sowie W II 72 f., penhauer auch der Frage nach, wie es 239 u. 669). Für den Künstler bedeutet dem Künstler gelingt, bei der Betrach- dies, daß er sich an die in der Kontemtung der empirischen Wirklichkeit, die plation erfaßte Idee über den Augenblick ja stets hinter der Idee zurückbleibt, die ihrer anschaulichen Gegebenheit hinaus Idee selbst bzw. die Schönheit, die ihr an- erinnern kann, um sie im Werk zu wiehaftet, zu identifizieren. Er argumentiert, derholen bzw. darzustellen. Allerdings daß man, um das Schöne als solches zu betont Schopenhauer, daß die entscheierkennen, bereits vor der entsprechenden dende Leistung des Künstlers in der ErErfahrung bis zu einem bestimmten Grad kenntnis der Idee besteht und daß es sich wissen müsse, wie es beschaffen sei: »Rein dabei nicht um eine begriffliche, sondern a posteriori und aus bloßer Erfahrung ist um eine anschauliche Erkenntnis handelt. gar keine Erkenntniß des Schönen mög- Es liegt auf dieser Linie, wenn Schopenlich: sie ist immer, wenigstens zum Theil, hauer immer wieder versichert, »für die a priori, wiewohl von ganz anderer Art, Kunst [sei] der Begriff unfruchtbar« (W I als die uns a priori bewußten Gestaltun- 94 u. 327) und zum Künstler werde man gen des Satzes vom Grunde.« (W I 282) nicht dadurch, daß man die Regeln der Mit anderen Worten, der Künstler muß Ästhetik studiere (vgl. W I 77, 94 u. 642). über ein Vorverständnis der Idee bzw. des Schönen verfügen. Freilich ist dieses kei122 Daß solch eine vorgängige Vertrautheit neswegs mit der vollen Erfassung der Idee gegeben ist, führt Schopenhauer darauf zurück, identisch. Deshalb erklärt Schopenhauer, daß Künstler und Idee mit dem Willen als Ding der Künstler sei nicht mit der Idee, son- an sich einem und demselben ontologischen Grund entspringen. Dabei setzt er – mit Empedern allenfalls mit ihrer »Anticipation«, dokles – voraus, daß Gleiches durch Gleiches dem »Ideal«, a priori vertraut: »Diese An- erkannt wird. Vgl. W I 282 f. 205
Langeweile Der echte, geniale Künstler schöpfe vielmehr aus einer Quelle, die als »Inspiration« (W I 327) zu bezeichnen sei. Langeweile Die Langeweile steht nach Schopenhauer in einem komplementären Verhältnis zum Schmerz. Beide zusammen bilden die »letzte[n] Bestandtheile« (W I 390) des menschlichen Lebens, das sich zwischen ihnen hin- und herbewegt. Während der Schmerz daraus resultiert, daß jemand etwas begehrt, das er nicht hat, oder daß jemandem etwas widerfährt, das er nicht will, stellt sich die Langeweile ein, wenn der Schmerz aufgehoben ist und sich nicht gleich eine neue Begierde oder ein neuer Wunsch meldet: »Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile« (W I 392). Ähnlich wie den Schmerz empfindet der Mensch auch die Langeweile als leidvoll. Sie ist »nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel« (ebd.), und der Kampf gegen sie erweist sich als »eben so quälend […] wie gegen die Noth.« (ebd.; vgl. a. E 250 sowie W II 414 u. P I 383) Um den Unterschied zwischen ihnen zu beschreiben, greift er auf die folgenden Metaphern zurück: »Wie die Noth die beständige Geißel des Volkes ist, so die Langeweile die der vornehmen Welt. Im bürgerlichen Leben ist sie durch den Sonntag, wie die Noth durch die sechs Wochentage repräsentirt.« (W I 392) Auf den ersten Blick scheint es, als gelange Schopenhauer in Hinblick auf das Verhältnis von Schmerz und Lange206
Lemmata weile zum Glück zu unterschiedlichen Einschätzungen, die sich widersprechen. Einerseits betrachtet er die ersteren als »die beiden Feinde des menschlichen Glückes« (P I 359), anderseits aber erklärt er, das »Glück und Wohlseyn« des Menschen bestehe darin, daß »jener Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch rasch vorwärts geht, da das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist« (W I 327; vgl. a. W I 391 f.). Nähme man diese Äußerungen wörtlich, so drängte sich der Einwand auf, im einen Falle halte Schopenhauer menschliches Glück für erreichbar, im anderen hingegen nicht. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß sich Schopenhauer keineswegs in einen Widerspruch verstrickt. Vergegenwärtigt man sich, daß der Mensch – nach Schopenhauer – leidet, solange er den Willen bejaht, ist selbst von einer raschen Abfolge von Wunsch und Befriedigung kein dauerhaftes, sondern allenfalls ein zeitweiliges, relatives Glück zu erwarten. Dieses bestünde darin, daß keiner der beiden Zustände, die als leidvoll empfunden werden, über längere Zeit andauert und dadurch an Intensität zunimmt. Das ändert jedoch nichts daran, daß das Leiden erst dann aufhört, wenn der Mensch den Willen zum Leben nicht mehr bejaht, sondern verneint. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer das Glück in der Befriedigung des Willens erblickt (vgl. W I 387 u. W II 743), kann man freilich den Zustand, der mit der Verneinung des Willens zum Leben eintritt, nicht mehr als Glück bezeichnen. Man kann also resümieren, daß sich das menschliche Leben, solange der Wille bejaht wird, zwischen Schmerz und
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Langeweile bewegt und aus diesem Grund zu betätigen, vor allem aber, seine Kreadem Leiden ausgeliefert ist. tivität zu entfalten: »Daher also ist ThäNun könnte man fragen, ob die Befrie- tigkeit, etwas treiben, wo möglich, etwas digung eines Bedürfnisses – im Gegen- machen, wenigstens aber etwas lernen, – satz zu dem, was Schopenhauer lehrt – zum Glücke des Menschen unerläßlich: nicht einfach nur als negativer Zustand seine Kräfte verlangen nach ihrem Geim Sinne der bloßen Aufhebung eines brauch und er möchte den Erfolg desselSchmerzes, sondern als positiver Zustand ben irgendwie wahrnehmen. Die größte eingeschätzt werden könnte, der für sich Befriedigung jedoch, in dieser Hinsicht, selbst genommen wertvoll ist. Zwar er- gewährt es etwas zu machen, zu verfertiwägt Schopenhauer diese Möglichkeit gen, sei es ein Korb, sei es ein Buch; aber durchaus, aber er weist sie entschieden daß man ein Werk unter seinen Händen zurück. Er entscheidet sich vielmehr für täglich wachsen und endlich seine Volldie gegenteilige Annahme und führt sie endung erreichen sehe, beglückt unmitins Feld, um das Phänomen der Lange- telbar. Dies leistet ein Kunstwerk, eine weile einsichtig zu machen: »Daß hinter Schrift, ja selbst eine bloße Handarbeit: der Noth sogleich die Langeweile liegt, freilich, je edlerer Art das Werk, desto […] ist eine Folge davon, daß das Leben höher der G enuß.« (P I 478 f.) keinen wahren ächten Gehalt hat, sondern bloß durch Bedürfniß und Illusion in Be- Leben Das Leben gilt Schopenhauer wegung erhalten wird: sobald aber diese als der organischen Natur eigentümliche, stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und allein in dieser auftretende Erscheinung Leere des Daseyns zu Tage.« (P II 311) des Willens: »[D]as Leben selbst ist ErUnd umgekehrt steht für ihn fest: »Wenn scheinung des Willens.« (N 279) 123 Dabei nämlich das Leben, in dem Verlangen definiert es der Philosoph als »Zustand nach welchem unser Wesen und Daseyn eines Körpers, darin er, unter beständibesteht, einen positiven Werth und realen gem Wechsel der Materie, seine ihm weGehalt in sich selbst hätte; so könnte es sentliche (substanzielle) Form allezeit begar keine Langeweile geben: sondern das hält.« (P II 176; vgl. a. N 279) Nach seiner bloße Daseyn, an sich selbst, müßte uns Auffassung kann das Leben keineswegs erfüllen und befriedigen.« (ebd.) auf die in der unbelebten Natur wirksaSchopenhauer führt aus, daß sich der men physischen oder chemischen Kräfte Mensch, um die Langeweile zu vertreiben, zurückgeführt werden, sondern es bein Gesellschaft begibt und sich auf allerlei ruht auf der ihnen übergeordneten Lefragwürdige Vergnügungen und Zerstreu- benskraft, die ebenfalls eine Objektivaungen, wie z. B. das Kartenspiel, einläßt tion des Willens ist: »Allerdings wirken (vgl. W I 392 sowie P I 360 u. 362). Nach im thierischen Organismus physikalische seiner Auffassung sind geistlose Indivi- und chemische Kräfte: aber was diese zuduen aufgrund ihrer inneren Leere be- sammenhält und lenkt, so daß ein zwecksonders für Langeweile anfällig, so daß mäßiger Organismus daraus wird und sie auch eine größere Neigung zur Gesel123 N 279: »Lebendig und Organisch sind ligkeit haben. Gegen die Langeweile emp- Wechselbegriffe: auch hört mit dem Tod das fiehlt Schopenhauer dem Menschen, sich Organische auf, organisch zu seyn.« 207
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besteht, – das ist die Lebenskraft: sie be- es dann augenscheinlich, daß Wille zum herrscht demnach jene Kräfte und modi- Leben der Grundton ihres Wesens, die ficirt ihre Wirkung, die also hier nur eine einzige unwandelbare und unbedingte untergeordnete ist. Hingegen zu glauben, Eigenschaft desselben ist.« (W II 410) In daß sie für sich allein einen Organismus diesem Zusammenhang ist hervorzuhezu Stande brächten, ist nicht bloß falsch, ben, daß – laut Schopenhauer – der Wille sondern, wie gesagt, dumm.« (P II 176 f.)124 zum Leben nicht etwa über kognitive FäAngesichts der Tatsache, daß Schopen- higkeiten verfügt, sondern ein »blinder hauer im Leben sowie auch in der Le- Drang, ein völlig grundloser, unmotivirbenskraft eine Erscheinung des Willens ter Trieb ist.« (W II 418; vgl. a. W I 347 soals Ding an sich erblickt, erstaunt es nicht wie W II 419 f., 546 u. 678) Umgekehrt beweiter, daß er es – im Verhältnis zum on- deutet dies, daß die Erkenntnis ein »ihm tologisch primären, den »Kern der Reali- ursprünglich fremdes, hinzugekommenes tät« (W II 411), ja das »Erste und Unbe- Princip ist« (W II 546). Dennoch hat die dingte« (W II 421) ausmachenden Willen Erkenntnis, wie Schopenhauer versichert, – als bloßen Traum betrachtet: »[M]an ist das Leben, in dem sie fundiert ist und dem genöthigt, den Dichtern zuzugeben, daß sie letztlich dient, ebenso zur Voraussetdas Leben ein langer Traum sei.« (W I 47; zung wie dieses die Materie: »Die Ervgl. a. P I 240 ff. sowie P II 296 u. 337)125 kenntniß hingegen ist wirklich ein AcciSchopenhauer charakterisiert den Wil- denz des Lebens und dieses der Materie.« len häufig als »Willen zum Leben« (P I (N 279; vgl. a. W II 281) 150), der auch als »Lebensdrang« (W II Gehört das Leben nur der empirischen 410), »Lebenstrieb«, »Lebenslust« oder Wirklichkeit bzw. der Welt als Vorstellung »Lebensmuth« (W II 420) auftritt und an und wird es überdies als »Traum« abgesich darin manifestiert, daß die gesamte wertet, so überrascht es nicht, daß SchoNatur auf das Leben ausgerichtet ist: »Je- penhauer das Ende desselben »nicht als der Blick auf die Welt […] bestätigt und ein Verlust« (P II 291) empfindet und den bezeugt, daß Wille zum Leben, weit ent- Tod – im Vergleich zu diesem Traum – gefernt eine beliebige Hypostase, oder gar radezu als »Erwachen« (P II 296) betrachein leeres Wort zu seyn, der allein wahre tet. Das liegt zum einen daran, daß er das Ausdruck ihres innersten Wesens ist. Al- Leben ausgesprochen negativ bewertet, les drängt und treibt zum Daseyn, wo und zum anderen daran, daß – nach seiner möglich zum organischen, d. i. zum L eben, Überzeugung – der Tod »keine absolute und danach zur möglichsten Steigerung Vernichtung« (W I 406) ist. Was damit desselben: an der thierischen Natur wird ende, sei lediglich das individuelle Leben eines Menschen, doch bleibe die »Ewig124 Bald setzt Schopenhauer die Lebenskeit seines eigenen innern Wesens« (P II kraft anscheinend mit dem Willen gleich (vgl. P II 177), bald stuft er sie, präziser formulierend, 294) davon unberührt. Mit anderen Worals Objektivation (vgl. W I 193) desselben ein. ten, der Wille als Ding an sich fällt nicht Ähnlich schwankt er auch bei der Einschätzung dem Tod anheim: »Dieses [innere Wedes Lebens zwischen beiden Möglichkeiten (vgl. sen] ist der Wille zum Leben, also gerade W I 347 u. 455). Das, was Leben und Fortdauer so drin125 Das gilt für die empirische Wirklichkeit gend verlangt. Dies eben bleibt demnach insgesamt (vgl. W I 141). 208
Lemmata vom Tode verschont und unangefochten.« (W II 656) Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß dem Leben – sowie auch der Welt – eine »moralische[] Bedeutung« (P II 220; vgl. a. P II 225) zukommt. Diese läßt sich im Ausgang von der Negativität der empirischen Wirklichkeit sowie den beiden Möglichkeiten, sich zum Willen zum Leben zu verhalten, am ehesten verstehen. Es fällt auf, daß Schopenhauer das Leben in aller Eindringlichkeit als ein Leiden beschreibt, das ihm geradezu »wesentlich« (W I 357 f., 389, 397 f., 416, 455, 465 sowie 495) ist. So erklärt er, es liege »ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden« (W I 133). Mehr noch, er traut sich sogar eine »a priori geführte Nachweisung des im Wesen des Lebens begründeten unumgänglichen Leidens« (W I 405) zu.126 Angesichts dieses Befundes bleibt Schopenhauer nichts anderes übrig, als festzustellen: »Alles im Leben giebt kund, daß das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden.« (W II 670; vgl. a. W I 404 u. P II 350) Daß das Leben wesentlich Leiden ist, liegt nach Schopenhauer daran, daß es die Erfüllung von Bedürfnissen verlangt, die Schmerz hervorrufen, nach dessen Beseitigung sich – ebenso als leidvoll empfundene – Langeweile einstellt: »Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere 126 An
dieser Stelle dürfte »a priori« allenfalls metaphorisch gemeint sein.
Leben und Langeweile: d. h. sein Wesen und sein Daseyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche Beide in der That dessen letzte Bestand theile sind.« (W I 390) Dazu kommt, daß das Leben ein »steter Kampf um diese Existenz« (W I 391) und ein »steter Kampf gegen die Noth« (W II 665) ist, in welchem die Bedürfnisse des Individuums knappen Ressourcen sowie den Bedürfnissen anderer Individuen gegenüberstehen. Dabei sei die empirische Wirklichkeit allenfalls auf den »Bestand der Species und der allgemeinen Lebensbedingungen, nicht aber auf den der Individuen« (W I 214 f.) ausgerichtet, so daß es zu einem »unaufhörlichen Vertilgungskriege der Individuen jener Species« (W I 215) komme. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß Schopenhauer im Leben ein Geschäft erblickt, »welches die Kosten nicht deckt« (W II 280; vgl. a. W II 414 u. 418). Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er erklärt: »Unser Zustand ist ein so elender, daß gänzliches Nichtseyn ihm entschieden vorzuziehn wäre.« (W I 406; vgl. a. W II 545) Auf dieser Linie liegt Schopenhauer auch mit folgender Einschätzung: »Man kann auch unser Leben auffassen als eine unnützerweise störende Episode in der säligen Ruhe des Nichts. Jedenfalls wird selbst Der, dem es darin erträglich ergangen, je länger er lebt, desto deutlicher inne, daß es im Ganzen a disappointment, nay, a cheat ist, oder, deutsch zu reden, den Charakter einer großen Mystifikation, nicht zu sagen einer Prellerei, trägt.« (P II 325; vgl. a. P II 313 u. 350) Lege der Mensch dennoch eine »Anhänglichkeit an das Leben« (W II 280 u. 545) an den Tag, so lasse sich diese nicht mit 209
Leben den Mitteln des Intellekts rechtfertigen, sondern gehe auf eine ursprünglichere Instanz zurück: »[D]ies Lebenwollen ist etwas, das sich von selbst versteht: es ist ein prius des Intellekts selbst. Wir selbst sind der Wille zum Leben: daher müssen wir leben, gut oder schlecht.« (W II 280) Zugleich mit dem Leiden stellt sich für Schopenhauer die Frage nach der Überwindung desselben. Nach seiner Auffassung resultiert Leiden daraus, daß der Wille zum Leben sein Ziel, die Befriedigung seiner Bedürfnisse, nicht erreicht, sowie auch daraus, daß er – aufgrund des principium individuationis – mit sich selbst entzweit ist, also in einer Vielfalt von Erscheinungen auftritt, die miteinander in Streit liegen und einander bekämpfen (vgl. W I 197 f., 206 u. 416, sowie W II 680). Hält man sich vor Augen, daß sich eine Objektivation des Willens, um zur Befriedigung zu gelangen, gegen andere Objektivationen desselben Willens richtet, so kann man nachvollziehen, daß der »Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts daist und er ein hungriger Wille ist.« (W I 206; vgl. a. P II 351) Angesichts dieses Befundes steht der leidende Mensch vor der Alternative, den Willen zum Leben zu bejahen oder zu verneinen. Während ersteres darauf hinausläuft, daß er sich der »Erhaltung jenes Daseyns« sowie der »Fortpflanzung des Geschlechts« (W I 391; vgl. a. W I 408 ff. u. 416 sowie W II 665) hingibt und damit »auch Leiden und Tod […] aufs Neue mitbejaht« (W I 410), beinhaltet letzteres, daß er – ausgehend vom »Durchschauen des principii individuationis« (W I 469 u. 498 sowie W II 656 u. 704) – in der Kontemplation des Schönen (vgl. W I 335 u. 482 f.), der Askese (vgl. W I 484 f.) oder gar der Resignation (vgl. W I 319) den Willen zum Le210
Lemmata ben hinter sich läßt und zur Ruhe kommt. Letztlich bedeutet dies, daß der Mensch in der Einsicht, daß der Vielfalt der Erscheinungen ein und derselbe Wille zum Leben zugrunde liegt, diesen aufgibt und dadurch einen Zustand erreicht, den Schopenhauer als Heil oder Erlösung beschreibt: »Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden, ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken.« (W I 491) Es wurde bereits angedeutet, daß Schopenhauer von der »moralischen Bedeutung der Welt und des Lebens« (P II 220) überzeugt ist. Damit zielt er letztlich auf die »Verwerflichkeit der Welt« (P II 342) ab sowie auch darauf, daß der »ganze Wille zum Leben selbst ein verwerflicher ist« (ebd.). Mehr noch, Schopenhauer spricht von einer »Schuld« (W II 679 u. 707), welche dem Menschen allein schon aufgrund seiner »essentia et existentia« (W II 707) anhafte. Infolge dieser Schuld sei das menschliche Leben von Leid geprägt, das eine »Strafe und Buße« (W II 679) darstelle. So betrachtet Schopenhauer den Menschen als ein »Wesen, welches nur in Folge seiner Sündhaftigkeit existirt, dessen Leben die Abbüßung der Schuld seiner Geburt ist« (P II 329). Unter den geschilderten Umständen ist verständlich, daß Schopenhauer beides – das Leben wie die Welt – als etwas bewertet, dessen Nichtsein seinem Sein vorzuziehen sei (vgl. W I 406 sowie W II 545, 675 u. 677 f.) bzw. das nicht sein solle. Daher ist es nur konsequent, daß Schopenhauer die Bejahung des Willens zum Leben als moralisch schlecht, seine Verneinung hingegen als moralisch gut einschätzt und daß er die Erlösung des Menschen mit der Überwindung des Willens zum Leben sowie der Welt als Objektivation desselben in eins setzt.
Lemmata Lebenskraft Dem im Denken des ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhunderts auftretenden Begriff kommt – ähnlich wie jenem der Naturkraft – auch in Schopenhauers Metaphysik der Natur eine wichtige Funktion zu. Umso erstaunlicher ist es, daß der Philosoph das Verhältnis beider Begriffe nicht eindeutig klärt. Bald suggeriert er, die Lebenskraft gehöre zu den Naturkräften (vgl. W II 201, 346, 552 u. 554), bald unterscheidet er die erstere von den letzteren, und zwar dergestalt, daß er die Naturkräfte in der unorganischen Natur und die Lebenskraft in der organischen ansiedelt (vgl. W II 366 f. u. E 72). Gelegentlich differenziert er auch zwischen der Naturkraft, der Lebenskraft sowie – bei Mensch und Tier – dem Willen im Sinne des Charakters. Der in diesen Bereichen zum Ausdruck kommende Wille als Ding an sich ist es, »der in der erkenntißlosen Natur sich darstellt als Naturkraft, höher hinauf als Lebenskraft, in Thier und Mensch aber den Namen Willen erhält« (P II 104).127 Die beschriebene Ambiguität ließe sich dadurch aufheben, daß man im ersten Fall dem Begriff der Naturkraft in einem weiteren und im zweiten in einem engeren Sinn versteht. 127 E
87: »Diese speciell und individuell bestimmte Beschaffenheit des Willens, vermöge deren seine Reaktion auf die selben Motive in jedem Menschen eine andere ist, macht Das aus, was man dessen Charakter nennt und zwar, weil er nicht a priori sondern nur durch Erfahrung bekannt wird, empirischen Charakter. Durch ihn ist zunächst die Wirkungsart der verschiedenartigen Motive auf den gegebenen Menschen bestimmt. Denn er liegt allen Wirkungen, welche die Motive hervorrufen, so zum Grunde, wie die allgemeinen Naturkräfte den durch Ursachen im engsten Sinn hervorgerufenen Wirkungen, und die Lebenskraft den Wirkungen der Reize.«
Lebenskraft Während sich die These, jede Naturkraft (im weiteren Sinne) sei eine »Objektivation des Willens« (W I 182), mühelos in Schopenhauers Metaphysik der Natur einfügt, gilt das für die gelegentliche Gleichsetzung der Lebenskraft bzw. Naturkraft mit dem Willen (vgl. W II 346 u. P II 177 f.) nicht ohne weiteres. Das ergibt sich schon daraus, daß Schopenhauer nicht müde wird, die Naturkräfte als Ideen und diese wiederum als Objektivationen des Willens (vgl. W I 182 f. u. 207) einzustufen. Als bloße Objektivation des Willens kann weder die Lebenskraft noch eine Naturkraft mit diesem identisch sein. Die eigentliche Pointe des Begriffs der Lebenskraft liegt darin, daß Schopen hauer das Ansinnen einer materialistischen, allein auf physische und chemische Kräfte rekurrierenden Erklärung des Lebens zurückweist, weil sie die Existenz einer ursprünglichen, irreduziblen Le benskraft leugne: »Das heut zu Tage Mode werdende Polemisiren gegen die Annah me einer Lebenskraft verdient, trotz seiner vornehmen Mienen, nicht sowohl falsch, als geradezu dumm genannt zu werden.« (P II 176; vgl. a. W I 191 f., E 86) Nach seiner Auffassung »benutzt und gebraucht«, ja »beherrsch[t]« (W I 192 u. P II 177) die Lebenskraft die anderen Naturkräfte, ist ihnen also letztlich vorgeordnet. Bei alledem läßt sich Schopenhauer von der Überzeugung leiten, daß »die Erklärungsgründe aus einem Gebiet der Natur nicht in das andere hinübergezogen werden können, sondern uns, sobald wir ein neues Gebiet betreten, verlassen, und statt ihrer neue Grundgesetze auftreten, deren Erklärung aus denen des vorigen gar nicht zu hoffen ist.« (W I 649 f.)
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Leib
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Leib Schopenhauer schreibt dem Leib (welches Eins ist), als erkannte Ursache sowohl in erkenntnistheoretischer als subjektiv gegebener Wirkung und eben auch in willensmetaphysischer Hinsicht dadurch objektiv darstellt; welches nur ein hohes Maß an Bedeutung zu. Im Zuge dadurch geschehn kann, daß seine T heile seiner Ausführungen zum Satz vom zurei- auf seine eigenen Sinne wirken, also das chenden Grunde des Werdens charakteri- Auge den Leib sieht, die Hand ihn betasiert er ihn als »unmittelbare[s] Objekt« stet, u. s. f., als auf welche Data das Ge(G 100 f. sowie W I 39, 48 f., 143 f. u. 258), hirn, oder Verstand, auch ihn, gleich andas als Träger der – mit Hilfe der Katego- dern Objekten, seiner Gestalt und Berie der Kausalität – in Anschauungen zu schaffenheit nach, räumlich konstruirt.« transformierenden Empfindungen fun- (G 101; vgl. a. W I 49 u. W II 13) Demnach giert. Ist von einem unmittelbaren Objekt zeichnet sich der Leib dadurch aus, daß er die Rede, so ist damit gemeint, daß die sowohl unmittelbar als auch mittelbar erEmpfindungen unmittelbar erlebt wer- lebt werden kann (vgl. N 220, E 52 sowie den: »Der Leib ist uns also hier unmittel- W II 13 u. 317). – Angesichts der Tatsache, bares Objekt, d. h. diejenige Vorstellung, daß der Leib im Gegensatz zum Subjekt welche den Ausgangspunkt der Erkennt- des Erkennens, das lediglich eine formale niß des Subjekts macht, indem sie selbst, Bedingung der Möglichkeit der Erkenntmit ihren unmittelbar erkannten Verän- nis ist, ein empirisches Objekt darstellt derungen, der Anwendung des Gesetzes und als solches den Anschauungsformen der Kausalität vorhergeht und so zu dieser des Raumes und der Zeit – d. h. dem prindie ersten Data liefert.« (W I 48; vgl. a. W I cipium individuationis – unterworfen ist, 39) Freilich räumt Schopenhauer ein, daß läßt sich ohne weiteres nachvollziehen, der Ausdruck »unmittelbares Objekt« in- daß Schopenhauer die Auffassung versofern nur bildlich zu verstehen ist, als der tritt, letzteres werde durch den ersteren Leib in seiner Eigenschaft als Träger der individuiert: »Das erkennende Subjekt ist Empfindung selbst nicht als Objekt erfah- eben durch diese besondere Beziehung ren wird: »Denn, obwohl die Wahrneh- auf den einen Leib […] Individuum.« (W I mung seiner Empfindungen eine schlecht- 147; vgl. a. W I 143 u. 228 f.) hin unmittelbare ist; so stellt doch er selbst Vor dem Hintergrund des transzendensich dadurch noch gar nicht als Objekt dar; talen Idealismus, für den er im Rahmen sondern soweit bleibt Alles noch subjektiv, seiner erkenntnistheoretischen Überlenämlich Empfindung.« (G 100; vgl. a. W I gungen plädiert, kann Schopenhauer den 49) In Hinblick auf die anderen Objekte, Leib zunächst als bloße Erscheinung oder die im Ausgang von der Empfindung er- Vorstellung betrachten (vgl. W I 47, 142 u. kannt werden, tritt der Leib hingegen als 548 sowie P I 28 f.). Allerdings konzediert vermittelnde Instanz auf (vgl. G 100 so- er in einem Zuge, daß diese Auffassung wie W I 39 u. 48 f.). Das gilt natürlich auch »einseitig« (W I 48 u. W II 317) ist, und für den Fall, daß er selbst als Objekt im korrigiert sie dahingehend, daß sich der eigentlichen Sinn erlebt wird: »Objektiv, Leib nicht nur als Vorstellung, sondern also als Objekt, wird auch er allein mittel- darüber hinaus als Wille darbietet: »Dem bar erkannt, indem er, gleich allen andern Subjekt des Erkennens […] ist dieser Leib Objekten, sich im Verstande, oder Gehirn auf zwei ganz verschiedene Weisen gege212
Lemmata
Leib
ben: ein Mal als Vorstellung in verständi- Leib erschließen läßt. So hebt er hervor: ger Anschauung, als Objekt unter Objek- »Endlich ist die Erkenntniß, welche ich ten, und den Gesetzen dieser unterwor- von meinem Willen habe, obwohl eine fen; sodann aber auch zugleich auf eine unmittelbare, doch von der meines Leibes ganz andere Weise, nämlich als jenes Je- nicht zu trennen.« (W I 145; vgl. a. W I 147 dem unmittelbar Bekannte, welches das u. 172 f.) Das liegt – nach Schopenhauer – Wort Wille bezeichnet.« (W I 143; vgl. a. daran, daß sich der Leib als das einzige W I 146 f.) Vergegenwärtigt man sich, daß Ding erweist, welches dem erkennenden Schopenhauer im Willen das Ding an sich Subjekt gewissermaßen nicht nur von erblickt, so erscheint es jedoch angemes- außen, sondern auch von innen zugängsener, den Leib nicht mit dem Willen zu lich ist (vgl. W II 289 u. P I 109). Gemeint identifizieren, sondern als seine »Erschei- ist damit, daß sich das Subjekt nicht bloß nung« oder »Objektität« einzustufen.128 der – in der »äußeren Wahrnehmung« bzw. So erklärt Schopenhauer auch tatsäch- im »Bewußtseyn anderer Dinge« gegebelich, daß »der ganze Leib selbst […] nichts nen – Bewegungen seines Leibes, sondern Anderes, als die Erscheinung des Willens, auch der – in der »inneren Wahrnehmung« die Sichtbarwerdung, Objektität des Wil- bzw. im »Selbstbewußtseyn« gegebenen – lens [ist].« (W I 152; vgl. a. W I 151, 160, Akte seines Willens bewußt ist. Dabei ge390, 408 u. 484, N 220 u. 233 sowie P I 90) langt es zur Einsicht, daß eines dem anSpricht Schopenhauer dennoch gelegent- deren entspricht: »Jeder wahre Akt seines lich von einer Identität von Leib und Wille Willens ist sofort und unausbleiblich auch (vgl. W I 144 ff. sowie W II 36 u. 289), so eine Bewegung seines Leibes: er kann den ist dies, wie folgende Stelle belegt, nicht Akt nicht wirklich wollen, ohne zugleich wörtlich zu verstehen: »Den Ausdruck wahrzunehmen, daß er als Bewegung des […] kann man verschiedentlich wenden, Leibes erscheint.« (W I 143; vgl. a. W I und sagen: mein Leib und mein Wille sind 144, 151 f. u. 160, N 233 sowie W II 46)129 Eines; – oder was ich als anschauliche Das gilt, wie Schopenhauer glaubt, auch Vorstellung meinen Leib nenne, nenne für die Aktionen des Leibes, bei denen ich, sofern ich desselben auf eine ganz ver- sich das Subjekt keines korrespondierenschiedene, keiner andern zu vergleichen129 In diesem Zusammenhang betont Schoden Weise mir bewußt bin, meinen Wil- penhauer ausdrücklich, daß Leibesaktion und len; – oder, mein Leib ist die Objektität Willensaktion nicht in einem Verhältnis kausameines Willens; – oder, abgesehn davon, ler Abhängigkeit stehen, sondern parallel angeordnet sind: »[Z]wischen dem Willensakt und daß mein Leib meine Vorstellung ist, ist der Leibesaktion ist gar kein Kausalzusammener nur noch mein Wille; u. s. w.« (W I 146) hang; sondern Beide sind unmittelbar Eins und Darüber hinaus weist Schopenhauer das Selbe, welches doppelt wahrgenommen dem Leib in Hinblick auf die Erkennt- wird: ein Mal im Selbstbewußtseyn, oder innern Sinn, als Willensakt; und zugleich in der nis des Willens insofern eine privilegierte äußern, räumlichen Gehirnanschauung, als LeiStellung zu, als er davon ausgeht, daß sich besaktion.« (G 96; vgl. a. W I 143 sowie W II 47 der Wille nur auf dem Umweg über den u. 289 f.) – Daß beide Phänomene zusammen128 Gelegentlich
stuft Schopenhauer den Willen auch als das »Wesen« (W I 150 u. 154) des Leibes ein.
gehören, ist nach Schopenhauer auch daraus ersichtlich, daß jede Veränderung in einem der Bereiche zugleich im anderen zum Ausdruck kommt (vgl. W I 144 f.).
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Leib den Willensaktes bewußt ist: »Auch in uns wirkt der selbe Wille vielfach blind: in allen den Funktionen unsers Leibes, welche keine Erkenntniß leitet, in allen seinen vitalen und vegetativen Processen, Verdauung, Blutumlauf, Sekretion, Wachsthum, Reproduktion.« (W I 160; vgl. a. N 233) In einem weiteren Schritt behauptet Schopenhauer über die bloße Parallelität von Leibesaktionen und Willensakten hinaus, daß auch die Substrate beider – der Leib und der Wille – eine Einheit bilden und insofern als identisch betrachtet werden können. Er gesteht dieser Erkenntnis eine besondere Dignität zu: »[D]enn sie ist nicht, wie alle jene, die Beziehung einer abstrakten Vorstellung auf eine andere Vorstellung, oder auf die nothwendige Form des intuitiven, oder des abstrakten Vorstellens; sondern sie ist die Beziehung eines Ur theils auf das Verhältniß, welches eine anschauliche Vorstellung, der Leib, zu dem hat, was gar nicht Vorstellung ist, sondern ein von dieser toto genere Verschiedenes: Wille. Ich möchte darum diese Wahrheit vor allen andern auszeichnen und sie κατ’ εξοχην philosophische Wahrheit nennen.« (W I 146) Wird hier der Wille als ein von der Vorstellung »toto genere Verschiedenes« beschrieben, so ist der Wille offenbar nicht als empirische Disposition, sondern als Ding an sich gemeint.130 Damit aber erweist sich der Leib als diejenige Instanz, von der Schopenhauers metaphysische Überlegungen ihren Ausgang nehmen. Was für den Leib gilt, daß er Erscheinung des Willens ist, überträgt Schopenhauer in einer kühnen Analogie auf die Welt als Vorstellung insgesamt: »Diese unmittelbare Erkenntniß, 130 Schopenhauer
hält diese Distinktion nicht immer streng durch.
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Lemmata welche Jeder vom Wesen seiner eigenen, ihm außerdem ebenfalls nur in der objektiven Anschauung, gleich allen andern, gegebenen Erscheinung hat, muß nachher auf die übrigen, in letzterer Weise allein gegebenen Erscheinungen analogisch übertragen werden und wird alsdann der Schlüssel zur Erkenntniß des innern Wesens der Dinge, d. h. der Dinge an sich selbst. Zu dieser also kann man nur gelangen auf einem, von der rein objektiven Erkenntniß, welche bloße Vorstellung bleibt, ganz verschiedenen Wege, indem man nämlich das Selbstbewußtseyn des immer nur als animalisches Individuum auftretenden Subjekts der Erkenntniß zu Hülfe nimmt und es zum Ausleger des Bewußtseyns anderer Dinge, d. i. des anschauenden Intellekts macht.« (P I 109; vgl. a. W I 148 u. W II 317 f.) Schopenhauer begnügt sich nicht damit, den Weg von der Erkenntnis des Leibes zu jener des Willens zu durchmessen, sondern er geht auch in umgekehrter Richtung vor und versucht, den Leib im Ausgang vom Willen zu erklären. In diesem Zusammenhang ist es von besonderem Interesse, daß er den Willen als »Willen zum Leben« (W I 484 u. 497) deutet, der im Leib zum Ausdruck kommt. Dieser bietet sich, wie Schopenhauer versichert, geradezu als Funktion des Willens dar: »[D]er Leib ist seine Funktion: daher ist er diesem ordine rerum vorgängig, als dessen metaphysisches Substrat, als das Ansich der Erscheinung desselben.« (W II 250) Stellt man in Rechnung, daß die Erkenntnis bzw. der Intellekt eine Funktion des Leibes ist, so kann Schopenhauer diese ebenfalls als Funktion des Willens charakterisieren: »Ich setze also erstlich den Willen, als Ding an sich, völlig Ursprüngliches; zweitens seine bloße Sicht-
Lemmata barkeit, Objektivation, den Leib; und drittens die Erkenntniß, als bloße Funktion eines Theils dieses Leibes. Dieser Theil selbst ist das objektivirte […] Erkennenwollen, indem der Wille, zu seinen Zwecken, der Erkenntniß bedarf.« (N 220; vgl. a. W II 250 u. 323 sowie P II 105)131 Darin, daß der Wille zum Leben das Substrat des Leibes bildet, erblickt nun Schopenhauer den Grund für dessen Zweckmäßigkeit: »Hierauf beruht die vollkommene Angemessenheit des menschlichen und thierischen Leibes zum menschlichen und thierischen Willen überhaupt, derjenigen ähnlich, aber sie weit übertreffend, die ein absichtlich verfertigtes Werkzeug zum Willen des Verfertigers hat, und dieserhalb erscheinend als Zweckmäßigkeit, d. i. die teleologische Erklärbarkeit des Leibes.« (W I 152 f.; vgl. a. N 233) Zwar läßt Schopenhauer die Erkenntnis im Leib gründen, doch betrachtet er, wie bereits angedeutet wurde, diesen seinerseits als Bedingung der Möglichkeit derselben. Mit anderen Worten, um den Leib zu erkennen, bedarf es der Vorstellung, wie diese ihrerseits vom Leib abhängt. So resümiert Schopenhauer: »Allerdings setzt, in meiner Erklärung, das Daseyn des Leibes die Welt der Vorstellung voraus; sofern auch er, als Körper oder reales Objekt, nur in ihr ist: und andererseits setzt die Vorstellung selbst eben so sehr den Leib voraus; da sie nur durch die Funktion eines Organs desselben entsteht.« (W II 323) 131 Hängt der Intellekt vom Leib und dieser vom Willen ab, so ergibt sich daraus für Schopenhauer, daß einerseits der Intellekt mit dem Leib zugrunde geht (vgl. W II 317) und daß anderseits die Bejahung bzw. Verneinung des Willens mit der Bejahung bzw. Verneinung des Leibes einhergeht (vgl. W I 408, 450 f., 484 u. 497).
Leiden Leiden Schopenhauer betrachtet das Leiden als ein essentielles Merkmal des Willens bzw. des Lebens, in dem sich dieser manifestiert (vgl. W I 335, 389, 404 u. 438 sowie W II 436). Er charakterisiert das Leiden geradezu als den Zweck, dem es zu dienen scheint: »Wenn nicht der nächste und unmittelbare Zweck unsers Lebens das Leiden ist; so ist unser Daseyn das Zweckwidrigste auf der Welt. Denn es ist absurd, anzunehmen, daß der endlose, aus der dem Leben wesentlichen Noth entspringende Schmerz, davon die Welt überall voll ist, zwecklos und rein zufällig seyn sollte.« (P II 316; vgl. a. W II 684) Der Grund des Leidens besteht nach Schopenhauer in einem Mangel, der – aufgrund eines entsprechenden Wollens – als Bedürfnis erfahren wird.132 So stellt Schopenhauer fest: »Man sah ein, daß die Entbehrung, das Leiden, nicht unmittelbar und nothwendig hervorgieng aus dem Nicht-haben; sondern erst aus dem Haben-wollen und doch nicht haben; daß also dieses Haben-wollen die nothwendige Bedingung ist, unter der allein das Nicht-haben zur Entbehrung wird, und den Schmerz erzeugt.« (W I 129) Während das Leiden demnach einer Hemmung des Willens gleichkommt, bringt ihre Aufhebung den entgegengesetzten, angenehmen Zustand mit sich: »Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück.« (W I 387) Dabei betont Schopen132 Daneben
führt Schopenhauer auch die Langeweile, die er sonst dem Schmerz entgegensetzt, als Form des Leidens an (vgl. P I 366 u. 455). Diese tritt nicht etwa ein, wenn ein Bedürfnis unerfüllt bleibt, sondern wenn es erfüllt ist und sich kein neues einstellt.
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Logik
Lemmata
hauer, daß das Leiden – als der ursprüng- Schopenhauer – in Hinblick auf den Unliche, unmittelbar erlebte Zustand – posi- terschied zwischen Mensch und Tier eine tiv, das Glück hingegen – als bloße Auf- bemerkenswerte Konsequenz: »Dieses hebung desselben – negativ sei (vgl. W II neue, höher potenzirte Bewußtseyn, die673, E 250, P I 455 u. P II 318 f.). Leiden re- ser abstrakte Reflex alles Intuitiven im sultiert – nach Schopenhauer – nicht ein- nichtanschaulichen Begriff der Vernunft, fach nur daraus, daß der Wille sein Ziel ist es allein, der dem Menschen jene Benicht erreicht, sondern auch daraus, daß sonnenheit verleiht, welche sein Bewußter – aufgrund des principium individua- seyn von dem des Thieres so durchaus tionis – mit sich selbst entzweit ist, also in unterscheidet, und wodurch sein ganzer einer Vielfalt von Erscheinungen auftritt, Wandel auf Erden so verschieden ausfällt die sich gegenseitig bekämpfen (vgl. W I von dem seiner unvernünftigen Brüder. 416 u. W II 680). Gleich sehr übertrifft er sie an Macht und Da Leiden darin gründet, daß etwas an Leiden.« (W I 68; vgl. a. W I 375, 388 begehrt bzw. gewollt wird, liegt die Ver- u. P II 321) mutung nahe, daß die Intensität des LeiZwar glaubt Schopenhauer nicht, daß dens in einem entsprechenden Verhältnis es möglich ist, dem Leiden durch eine zu jener des Willens steht. Genau diese dauerhafte Befriedigung des Willens ein Auffassung teilt auch Schopenhauer: »Je Ende zu setzen (vgl. W I 388 u. 451), doch heftiger der Wille, desto greller die Er- er beschreibt zwei – in eine andere Richscheinung seines Widerstreits: desto grö- tung weisende – Wege, es zu überwinden. ßer also das Leiden. Eine Welt, welche Sie laufen nicht etwa auf eine Bejahung, die Erscheinung eines ungleich heftigern sondern auf eine Verneinung des Willens Willens zum Leben wäre, als die gegen- hinaus. Der eine besteht in der ästhetiwärtige, würde um soviel größere Lei- schen Kontemplation (vgl. W I 335 u. W II den aufweisen: sie wäre also eine Hölle.« 436), der andere in der Resignation, an de(W I 489; vgl. a. P I 455) Ein weiterer Fak- ren Anfang ihrerseits die Erfahrung des tor, der sich in der Intensität des Leidens Leidens steht (vgl. W I 489 ff.). niederschlägt, ist die Art der Erkenntnis, über die ein Lebewesen verfügt. Wäh- Logik Schopenhauer betrachtet die Lorend die anschauliche Erkenntnis an die gik als »reine Vernunftwissenschaft« (W I Situation gebunden ist, in der sich dieses 86). Damit ist gemeint, daß sie die forbefindet, zeichnet sich die abstrakte oder malen Regeln enthält, nach welchen die begriffliche – in der Vernunft angelegte – Vernunft bei der Verbindung von BegrifErkenntnis dadurch aus, daß sie über die fen verfährt (vgl. G 131 ff. sowie W I 59 Situation hinaus in die Vergangenheit und u. 78 ff.). Insbesondere handelt es sich um die Zukunft reicht. Es liegt auf der Hand, die Regeln des Schließens, das »mit Recht daß mit der Vernunft auch der Bereich für das eigenthümliche Geschäft der Verdessen, was Leiden verursacht, an Um- nunft erklärt worden [ist].« (G 122) Ähnfang gewinnt.133 Daraus ergibt sich – nach lich wie die Mathematik und die reine Na133 Nichtsdestoweniger
spricht Schopenhauer – im übertragenen Sinn – auch von
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einem Leiden in der »erkenntnißlosen Welt« (W I 387 f.).
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Maja
turwissenschaft liefert die Logik – nach Schopenhauer erkennt der Logik kaum Schopenhauer – apriorische Erkenntnisse praktischen, sondern allenfalls theoreti(vgl. W I 119 u. W II 212), die sich durch schen Nutzen zu (vgl. W I 77 u. 79 f. soapodiktische Gewißheit auszeichnen (vgl. wie W II 123). Nach seiner Überzeugung W I 102 sowie W II 141 u. 212). Dabei un- befolgt der Mensch die Regeln der Logik terscheide sich die Logik darin von den nämlich auch dann, wenn er kein ausbeiden anderen formalen Disziplinen, daß drückliches Wissen dieser Regeln besitzt. sie ohne Anschauung auskomme (vgl. W I So erklärt Schopenhauer: »[Die Logik] ist 103). das allgemeine, durch Selbstbeobachtung Schopenhauer ist der Auffassung, die der Vernunft und Abstraktion von allem Logik baue auf vier Gesetzen auf: dem Inhalt erkannte und in der Form von ReSatz der Identität, dem Satz vom Wider- geln ausgedrückte Wissen von der Verfahspruch, dem Satz vom ausgeschlossenen rungsweise der Vernunft. Dieser aber ist Dritten sowie dem Satz vom zureichen- jene Verfahrungsweise nothwendig und den Grunde des Erkennens. Er formuliert wesentlich: sie wird also in keinem Fall sie folgendermaßen: »1) Ein Subjekt ist davon abweichen, sobald sie sich selbst gleich der Summe seiner Prädikate, oder überlassen ist. Es ist daher leichter und sia = a. 2) Einem Subjekt kann ein Prädi- cherer, sie in jedem besondern Fall ihrem kat nicht zugleich beigelegt und abgespro- Wesen gemäß verfahren zu lassen, als ihr chen werden, oder a = –a = 0. 3) Von jeden das aus diesem Verfahren erst abstrahirte zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Wissen davon, in Gestalt eines fremden Prädikaten muß jedem Subjekt eines zu- von außen gegebenen Gesetzes, vorzuhalkommen. 4) Die Wahrheit ist die Bezie- ten.« (W I 78; vgl. a. W I 108 u. W II 123) hung e ines Urtheils auf etwas außer ihm, Anderseits räumt Schopenhauer ein, daß als seinen zureichenden Grund.« (G 125; die Logik im Rahmen kontroverser Disvgl. a. W I 86 u. W II 123 f.) Diese vier kussionen insofern hilfreich sein könne, Prinzipien lassen sich, wie Schopenhauer als sie die Widerlegung gegnerischer Posi erläutert, durch »Reflexion« bzw. eine tionen erleichtere (vgl. W I 80 ff. u. W II »Selbstbeobachtung« oder »Selbstunter- 123). suchung« (G 125 u. W I 78) der Vernunft ermitteln: »Indem sie nämlich vergebliche Maja Schopenhauer gebraucht den aus Versuche macht, diesen Gesetzen zuwider der indischen Philosophie stammenden zu denken, erkennt sie solche als Bedin- Begriff der Maja, um seine Einschätzung gungen der Möglichkeit alles Denkens: der empirischen Wirklichkeit im Vergleich wir finden alsdann, daß ihnen zuwider zur metaphysischen Wirklichkeit zu erzu denken, so wenig angeht, wie unsere läutern. Dabei begnügt er sich keineswegs Glieder der Richtung ihrer Gelenke ent- damit, die empirische Wirklichkeit als Ergegen zu bewegen.« (G 125) Sätzen, die scheinung oder Vorstellung zu interpretieformal korrekt von anderen Sätzen dedu- ren, sondern er stuft sie – im Verhältnis ziert sind, spricht Schopenhauer »logische zum Ding an sich – geradezu als Schein Wahrheit« (G 122), den vier genannten ein. Genau dieser Konzeption entspricht Prinzipien hingegen »metalogische Wahr- der Begriff der Maja, den Schopenhauer heit« (G 124) zu. einerseits mit »Erscheinung« (W I 34, 318, 217
Materialismus 516 u. 604) oder »Welt als Vorstellung« (W I 35), anderseits jedoch auch mit Ausdrücken wie »Schein«, »Trug«, »Zauber«, »Irrthum« und »Illusion« (W I 34 u. 516, E 310 sowie W II 376 u. 705) umschreibt. Gelegentlich spricht er im Zusammenhang mit der Maja von einem »Traum« (W I 34 u. 45) bzw. der »traumartigen Beschaffenheit der ganzen Welt« (W I 516), oder er vergleicht die Maja mit einem »Schleier« (W I 34, 318, 439, 453, 469), welcher die metaphysische Wirklichkeit bzw. das Ding an sich verhüllt. Daß die metaphysische Wirklichkeit dem erkennenden Subjekt verborgen bleibt, führt Schopenhauer auf das principium individuationis bzw. die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit zurück, die er konsequenterweise ebenfalls mit der Maja gleichsetzt (vgl. W I 469). Dies aber bedeutet, daß der Schleier der Maja die »Illusion der Vielheit« (W II 376) erzeugt und das Subjekt daran hindert, das Ding an sich als das eine Prinzip der gesamten Wirklichkeit zu erkennen. In ethischer Hinsicht läuft dieser Irrtum darauf hinaus, daß angesichts des Unterschieds von Ich und Nicht-Ich die metaphysische Einheit aller Wesen im Ding an sich verkannt wird. So stellt Schopenhauer fest: »Gehört demnach Vielheit und Geschiedenheit allein der bloßen Erscheinung an, und ist es Ein und das selbe Wesen, welches in allem Lebenden sich darstellt; so ist diejenige Auffassung, welche den Unterschied zwischen Ich und NichtIch aufhebt, nicht die irrige: vielmehr muß die ihr entgegengesetzte dies seyn. Auch finden wir diese letztere von den Hindus mit dem Namen Maja, d. h. Schein, Täuschung, Gaukelbild, bezeichnet. Jene erstere Ansicht ist es, welche wir als dem Phänomen des Mitleids zum Grunde lie218
Lemmata gend, ja, dieses als den realen Ausdruck derselben gefunden haben. Sie wäre demnach die metaphysische Basis der Ethik, und bestände darin, daß das eine Individuum im andern unmittelbar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen wieder erkenne.« (E 310 f.) Materialismus Der Materialismus ist ein Ansatz, den Schopenhauer ausgesprochen negativ bewertet. So polemisiert er immer wieder gegen den »platten« (W II 370), »rohe[n]« (W I 169), »krassen und stupiden Materialismus« (N 183), der – in moralischer Hinsicht – geradezu in den »Bestialismus« (G 138 sowie N 183 u. 185) münde. Was den letzteren Punkt anbelangt, so dürfte wohl gemeint sein, daß der Materialismus den ethischen Aspekt der empirischen Wirklichkeit – also ihren Ursprung in einer Schuld sowie das Anliegen, sie im Zuge einer Verneinung des Willens zu überwinden – vernachlässigt. Die Vertreter des Materialismus verhöhnt Schopenhauer als die »Herren vom Tiegel und der Retorte« (N 184). Schopenhauer unterscheidet die philosophischen Positionen nicht zuletzt danach, ob sie ausschließlich vom Subjekt oder ausschließlich vom Objekt ausgehen. Dabei zählt er den Materialismus zu den letzteren, die er – in Anlehnung an die Formen des Satzes vom zureichenden Grunde bzw. die Klassen von Objekten, die ihnen korrespondieren – folgendermaßen aufgliedert: »So kann man sagen, daß von der ersten jener Klassen, oder der realen Welt, ausgegangen sind: Thales und die Jonier, Demokritos, Epikuros, Jordan Bruno und die französischen Materialisten. Von der zweiten, oder dem abstrakten Begriff: Spinoza (nämlich vom bloß abstrakten und allein in seiner Definition
Lemmata existierenden Begriff Substanz) und früher die Eleaten. Von der dritten Klasse, nämlich der Zeit, folglich den Zahlen: die Pythagoreer und die Chinesische Philosophie im Y-king. Endlich von der vierten Klasse, nämlich dem durch Erkenntniß motivirten Willensakt: die Scholastiker, welche eine Schöpfung aus Nichts, durch den Willensakt eines außerweltlichen, persönlichen Wesens lehren.« (W I 56 f.) Unter diesen Positionen betrachtet Schopenhauer die erste, also den Materialismus, als diejenige, die »[a]m konsequentesten und am weitesten durchzuführen ist« (W I 57).134 Damit erweist sich der Materialismus als diejenige unter den vom Objekt ausgehenden Positionen, in der sich das fragliche Objekt als empirisch reales bzw. materielles darbietet. In diesem Zusammenhang hebt Schopenhauer hervor, daß die Materie – nach materialistischer Auffassung – unabhängig vom Subjekt, also schlechthin oder absolut gegeben ist (vgl. W I 57 sowie W II 20, 367 u. 370) und damit letzten Endes mit dem »Ding an sich« (W II 20, 367 u. 370) in eins fällt. Was den Materialismus auszeichne, sei der Versuch, die gesamte Wirklichkeit im Ausgang vom einfachsten Zustand der Materie zu erklären: »Nun sucht [der Materialismus] den ersten, einfachsten Zustand der Materie zu finden, und dann aus ihm alle andern zu entwickeln, aufsteigend vom bloßen Mechanismus zum Chemismus, zur Polarität, Ve134 Stuft man – in Anlehnung an einen von Schopenhauer unterbreiteten Vorschlag (vgl. W I 41) – die vom Objekt ausgehenden Positionen als Realismus ein, so bietet sich der Materialismus als eine Form des Realismus dar. Vor diesem Hintergrund mutet es merkwürdig an, daß Schopenhauer bei anderer Gelegenheit erklärt, der Realismus führe notwendig zum Materialismus (vgl. W II 21).
Materialismus getation, Animalität, und gesetzt, dies gelänge, so wäre das letzte Glied der Kette die thierische Sensibilität, das Erkennen: welches folglich jetzt als eine bloße Modifikation der Materie, ein durch Kausalität herbeigeführter Zustand derselben, aufträte.« (W I 57) Damit aber liefe der Materialismus darauf hinaus, die Materie zum »Erklärungsprincip aller Dinge [zu] machen« (W II 20). Genau dies sei, wie Schopenhauer versichert, auch das »Ideal aller Naturwissenschaft« (W I 58). Freilich wird Schopenhauer nicht müde zu betonen, daß der Materialismus an einer ganzen Reihe von Defiziten leidet. Seine »Grundabsurdität« besteht – laut Schopenhauer – darin, »daß er vom Objektiven ausgeht, ein Objektives zum letzten Erklärungsgrunde nimmt, sei nun dieses die Materie, in abstracto, wie sie nur gedacht wird, oder die schon in die Form eingegangene, empirisch gegebene, also der Stoff« (ebd.). Entscheidend ist bei alledem, daß der Materialismus, wenn er die Materie zum Gegenstand macht, bereits die Erkenntnis bzw. das erkennende Subjekt voraussetzt, ohne sich dieser Voraussetzung bewußt zu sein. Daher stellt Schopenhauer fest: »[D]er Materialismus ist die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts.« (W II 21; vgl. a. W I 57 f. u. 65, W II 23 u. 366 ff. sowie P I 81) Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus, daß Schopenhauer aus der Abhängigkeit der Erkenntnis von ihrem Subjekt die Idealität ihres Gegenstandes ableitet, also einen transzendentalen Idealismus lehrt, so erstaunt es nicht weiter, daß er den Materialismus als »kindlich naive[n] Realismus« (N 184) abtut. Darin aber, daß der Materialismus das Subjekt vernachlässigt und der Materie eine von diesem unabhängige Existenz 219
Materialismus zuerkennt, muß Schopenhauer vor diesem Hintergrund eine petitio principii erblicken: »Das unausweichbar Falsche des Materialismus besteht […] darin, daß er von einer petitio principii ausgeht, welche, näher betrachtet, sich sogar als ein πρωτον ψευδος ausweist, nämlich von der Annahme, daß die Materie ein schlechthin und unbedingt Gegebenes, nämlich unabhängig von der Erkenntniß des Subjekts Vorhandenes, also eigentlich ein Ding an sich sei. Er legt der Materie […] eine absolute, d. h. vom wahrnehmenden Subjekt unabhängige Existenz bei: dies ist sein Grundfehler.« (W II 367; vgl. a. W I 57) Ferner wirft Schopenhauer dem Materialismus vor, daß er – neben dem Subjekt – auch die Naturkräfte sowie die zu diesen zählende Lebenskraft verkenne, die er letztlich auf mechanische Verhältnisse zu reduzieren versuche: »[G]anz dieser Art ist endlich der eben jetzt […] aus Unwissenheit sich original dünkende, rohe Materialismus, welcher zunächst, unter stupider Ableugnung der Lebenskraft, die Erscheinungen des Lebens aus physikalischen und chemischen Kräften erklären, diese aber wieder aus dem mechanischen Wirken der Materie, Lage, Gestalt und Bewegung erträumter Atome entstehn lassen und so alle Kräfte der Natur auf Stoß und Gegenstoß zurückführen möchte, als welche sein ›Ding an sich‹ sind.« (W I 169; vgl. a. W I 170 u. 192, N 184 f. sowie W II 22, 366 f. u. 370) Angesichts der Tatsache, daß – nach Schopenhauer – allen Ereignissen die Naturkräfte zugrunde liegen, sie also »nur vermöge der Grundkräfte der Materie wirken und zusammenkommen konnten« (W II 22), läßt sich sagen, der Materialismus setze diese Kräfte unter der Hand voraus, ohne sie als eigenständig anzuerkennen. Dies 220
Lemmata zeugt, wie Schopenhauer moniert, von einem »unverständliche[n] Unverstand der ersten Principien« (N 183). Ferner hebt Schopenhauer hervor, daß jede naturwissenschaftliche – und damit am Materialismus orientierte – Erklärung daran scheitere, den Naturkräften gerecht zu werden, die sich damit als »qualitates occultae« (W I 172 sowie W II 22 u. 367) erweisen: »[S]tets werden Urkräfte übrig bleiben, stets wird, als unauflösliches Residuum, ein Inhalt der Erscheinung bleiben, der nicht auf ihre Form zurückzuführen, also nicht nach dem Satz vom Grunde aus etwas Anderm zu erklären ist.« (W I 170 f.) Schließlich wendet Schopenhauer gegen den Materialismus ein, daß er nicht in der Lage sei, die Zweckmäßigkeit in der Natur einsichtig zu machen: »So z. B. stimmt zu den materialistischen Systemen […] nicht die durchgängige bewunderungswürdige Zweckmäßigkeit der Natur« (P I 81). Trotz seiner Kritik ist Schopenhauer weit davon entfernt, den Materialismus gänzlich zu verwerfen. Vielmehr stuft er ihn – ebenso wie den Idealismus – lediglich als einseitige Position ein: »Keine, aus einer objektiven, anschauenden Auffassung der Dinge entsprungene und folgerecht durchgeführte Ansicht der Welt kann durchaus falsch seyn; sondern sie ist, im schlimmsten Fall, nur einseitig: so z. B. der vollkommene Materialismus, der absolute Idealismus u. a. m. Sie alle sind wahr; aber sie sind es zugleich: folglich ist ihre Wahrheit eine nur relative.« (P II 19; vgl. a. W II 21 f. u. 554) Während der Materialismus die Materie als Ding an sich betrachtet und sie zum alleinigen Erklärungsprinzip der Wirklichkeit erhebt, führt der Idealismus die gesamte Wirklichkeit auf das erkennende Subjekt zurück und läßt sie in bloßer Erscheinung
Lemmata aufgehen. Schopenhauer betrachtet beide Positionen als berechtigt, sofern sie keinen Anspruch auf absolute Geltung erheben: »Der Behauptung, daß das Erkennen Modifikation der Materie ist, stellt sich also immer mit gleichem Recht die umgekehrte entgegen, daß alle Materie nur Modifikation des Erkennens des Subjekts, als Vorstellung desselben, ist.« (W I 58; vgl. a. W II 21 f. u. 25) Schopenhauer geht noch einen Schritt weiter und erblickt in diesem Gegensatz sogar eine »Antinomie in unserm Erkenntnißvermögen« (W I 61), die er dann freilich im Sinne des transzendentalen Idealismus auflöst. Mit anderen Worten, Schopenhauer interpretiert die Materie trotz des hohen Gewichts, das er ihr beimißt, zwar als empirisch real, doch als transzendental ideal. So erklärt er ausdrücklich, daß der Materialismus dem Idealismus nur »vorläufig mit gleicher Berechtigung gegenüber[steht]« (W II 22), und versichert sodann: »Näher betrachtet aber bleibt dem Ausgehn vom Subjekt ein wirklicher Vorzug: es hat einen völlig berechtigten Schritt voraus. Nämlich das Bewußtseyn allein ist das Unmittelbare: dieses aber überspringen wir, wenn wir gleich zur Materie gehn und sie zum Ausgangspunkt machen.« (ebd.) Es ist nur konsequent, wenn Schopenhauer im Ausgang von dieser Prämisse die Materie nicht etwa als Ding an sich betrachtet, sondern – zusammen mit dem erkennenden Subjekt – in einen größeren Zusammenhang, die Welt als Vorstellung, einordnet: »Dieses Beide umfassende Ganze ist die Welt als Vorstellung, oder die Erscheinung. Nach deren Wegnahme bleibt nur noch das rein Metaphysische, das Ding an sich« (W II 27). Damit ist der Materialismus für Schopenhauer nur unter der Bedingung akzeptabel, daß er sich in den transzendentalen
Materie Idealismus einfügt, also die Materie nicht als Ding an sich, sondern lediglich als Erscheinung deutet. Materie Der Begriff der Materie nimmt sowohl in Schopenhauers erkenntnistheoretischen Überlegungen als auch vor dem Hintergrund seines Versuchs einer wechselseitigen Korrektur eines idealistischen und eines realistischen Ansatzes eine wichtige Stellung ein. Allerdings erweist er sich als überaus vielschichtig, so daß es nicht ganz leicht ist, ihn präzise zu rekonstruieren. Zunächst fällt auf, daß Schopenhauer die Materie häufig mit der Substanz gleichsetzt. So betont er in der Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, daß »Substanz ein bloßes Synonym von Materie sei, weil der Begriff derselben nur an der Materie sich realisiren läßt und daher aus ihr seinen Ursprung hat« (G 59; vgl. a. G 99 sowie W I 37, 578 f. u. 598). Damit will Schopenhauer ausdrücken, daß er die Existenz keiner anderen Substanz als der Materie – und damit keiner immateriellen Substanz – annimmt. Demgegenüber habe die dogmatische Metaphysik den Begriff der Substanz dadurch gebildet, daß sie das Subjekt des Erkennens hypostasiert bzw. als beharrliche, für sich bestehende Entität gedeutet und dann im Zuge einer Abstraktion einen Begriff der Substanz gebildet habe, unter den sich auch diese subsumieren lasse. So gelangt Schopenhauer zu folgender Diagnose: »Von diesem Begriff der Materie ist nun Substanz wieder eine Abstraktion, folglich ein höheres Genus, und ist dadurch entstanden, daß man von dem Begriff der Materie nur das Prädikat der Beharrlichkeit stehn ließ, alle ihre übrigen, wesent221
Materie
Lemmata
lichen Eigenschaften, Ausdehnung, Un- setz der Kausalität bzw. dem Kausalitätsdurchdringlichkeit, Theilbarkeit u. s. w. prinzip ergebe. Dabei argumentiert er folaber wegdachte. Wie jedes höhere Genus gendermaßen: »Ich leite sie davon ab, daß enthält also der Begriff Substanz weni- das Princip alles Werdens und Vergehns, ger in sich als der Begriff Materie: aber er das Gesetz der Kausalität, dessen wir uns enthält nicht dafür, wie sonst immer das a priori bewußt sind, ganz wesentlich nur höhere Genus, mehr unter sich, indem er die Veränderungen, d. h. die successiven nicht mehrere niedere genera, neben der Zustände der Materie betrifft, also auf Materie, umfaßt; sondern diese bleibt die die Form beschränkt ist, die Materie aber einzige wahre Unterart des Begriffes Sub- unangetastet läßt, welche daher in unserm stanz, das einzige Nachweisbare, dadurch Bewußtseyn als die keinem Werden noch sein Inhalt realisirt wird und einen Beleg Vergehn unterworfene, mithin immer geerhält.« (W I 599 f.)135 wesene und immer bleibende Grundlage Angesichts der Tatsache, daß Schopen- aller Dinge dasteht.« (W I 578; vgl. a. G 51 hauer die Materie mit der Substanz iden- u. 58, W I 563 u. 599 sowie W II 57) Freitifiziert, erstaunt es nicht weiter, daß er sie lich erscheint dieser Gedanke recht ammit Eigenschaften ausstattet, die üblicher- bivalent. Einerseits trifft es sicherlich zu, weise der Substanz zukommen. Das sind daß jede Veränderung einen Wechsel von z. B. die Beharrlichkeit oder Unverän- Zuständen darstellt, die ihrerseits einen derlichkeit, die sich darin äußere, daß die bleibenden Träger voraussetzen, dem sie Materie weder entstehen noch vergehen angehören. Gäbe es keinen derartigen könne (vgl. G 58 u. 99, W I 106, 183 u. 578 f., Träger, so gäbe es nichts, was sich ändern E 22, W II 54, 337, 358 u. 361 sowie P II könnte bzw. dessen Zustände wechseln 68).136 Schopenhauer erklärt, dies sei eine könnten. Schopenhauer wird dieser Überapriorische Einsicht, die sich aus dem Ge- legung insofern gerecht, als er die Materie immer wieder als »Träger«, »Substrat« 135 Auf den Einwand, Substanz sei, wenn sie oder »Vehikel« (G 58 u. 60, W II 371 sowie auf diese Weise definiert werde, kein Synonym von Materie, so daß ein Widerspruch zur vorhe- P II 119 f.) von Eigenschaften charakteririgen Definition entstehe, läßt sich entgegnen, siert. Anderseits erhebt sich die Frage, ob daß Schopenhauer von zwei unterschiedlichen es statthaft ist, aus dem formalen VerhältBegriffen der Substanz ausgeht: dem der dognis von Träger und Eigenschaft bzw. von matischen Metaphysik, der in der Tat nicht mit Substanz und Akzidenz auf die Beharrjenem der Materie zusammenfällt, sowie seinem eigenen, der mit jenem der Materie identisch ist. lichkeit bzw. Unvergänglichkeit der Mate136 Daher lehnt Schopenhauer die Vorstelrie zu schließen. Mehr noch, man könnte lung eines ersten Zustands der Materie bzw. bezweifeln, ob sich die Materie überhaupt einer Schöpfung derselben aus dem Nichts ab (vgl. G 53 u. W II 24 f.). – Aus demselben Grund als Gegenstand apriorischer Erkenntnis schlägt Schopenhauer die Materie – in Abgren- eignet. Gehörte sie, wie man durchaus zung gegen den spekulativen Idealismus – als meinen könnte, dem Bereich der empiriKandidaten für die Rolle des »Absolutums« vor: »Versteht man nun unter dem so viel ge- schen Wirklichkeit an, so wäre sie empibrauchten Ausdruck Absolutum Das, was nie risch zu erforschen, und die Erkenntnis, entstanden seyn, noch jemals vergehn kann, woraus hingegen Alles, was existirt, besteht und geworden ist; so hat man dasselbe nicht in imaginären Räumen zu suchen; sondern es ist
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ganz klar, daß jenen Anforderungen die Materie gänzlich entspricht.« (P II 120)
Lemmata die man so gewönne, wäre nicht apriorisch, sondern empirisch bzw. aposteriorisch. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß Schopenhauer zwischen einer reinen und einer empirischen Materie unterscheidet (vgl. W I 58, W II 58 u. 357 f. sowie P II 67 u. 119 f.) und daß er in seinen einschlägigen Ausführungen in erster Linie die reine Materie im Auge hat. In diesem Sinne versichert er: »Eben deshalb ist sie mehr ein metaphysisches, als ein bloß physisches Erklärungsprincip der Dinge« (W II 365). Handelt es sich bei der reinen Materie tatsächlich um eine metaphysische Gegebenheit, so ist zu erwarten, daß sie nicht vermittels der empirischen Anschauung bzw. Wahrnehmung erkannt werden kann. Genau dieser Überlegung folgt Schopenhauer, wenn er geltend macht: »Daher eben läßt die reine Materie sich nicht anschauen, sondern bloß denken: sie ist ein zu jeder Realität als ihre Grundlage Hinzugedachtes.« (G 99; vgl. a. W I 272, N 254, W II 23, 58, 225 u. 357 f. sowie P II 120) Als etwas, was sich nicht wahrnehmen, sondern allenfalls denken läßt, kann Schopenhauer die reine Materie als »Abstraktum« (W II 225 u. 357) oder »ens rationis« (N 254) ansprechen. Sie macht insofern das »Reale überhaupt« (P II 120) aus, als sie darin besteht, daß etwas – unter Absehung von jeglicher Form und Qualität – gegeben ist. Daher könnte man auch sagen, die reine Materie sei die bloße, eigenschaftslose Gegebenheit, die als Substrat aller Erscheinungen bzw. der gesamten empirischen Wirklichkeit fungiere (vgl. W I 183 u. 272, W II 358 u. 361 sowie P II 120).137 Vergegenwärtigt man sich, daß 137 Da
Schopenhauer die reine Materie als eigenschaftslos betrachtet, kann er sich Giordano Bruno darin anschließen, daß sie nicht
Materie einerseits die empirische Wirklichkeit die Gegebenheit von etwas impliziert, daß jedoch anderseits die Materie im Sinne bloßer Gegebenheit nicht der Erfahrung zugänglich ist, so kann man Schopenhauer zustimmen, daß sie »nicht Gegenstand, sondern Bedingung der Erfahrung« (W II 58 u. 357) ist. Freilich begnügt sich Schopenhauer nicht mit der Annahme einer reinen, eigen schaftslosen Materie, sondern er schreibt der Materie durchaus eine ganze Reihe von Merkmalen zu, die erheblich über die bloße Gegebenheit hinausgehen. So war bereits davon die Rede, daß er die Materie – im Sinne einer Substanz – als bleibenden Träger wechselnder Eigenschaften beschreibt. Auf diese Weise stattet er sie allem Anschein nach mit einer zeitlichen Bestimmung aus. Mehr noch, Schopenhauer geht von einem engen Zusammenhang der Materie mit den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit aus. Wenn alles, was anschaulich gegeben ist, diesen Anschauungsformen unterworfen ist, so gilt das, sofern sie nicht nur gedacht wird, sondern anschaulich gegeben ist, selbstverständlich auch für die Materie: »Zeit aber und Raum, jedes für sich, sind auch ohne die Materie anschaulich vorstellbar; die Materie aber nicht ohne jene.« (W I 36) Dabei stellt, wie Schopenhauer erläutert, die Zeit die Bedingung der Möglichkeit der Veränderung, der Raum hingegen die Bedingung der Möglichkeit des Beharrens der Materie dar: »Denn die bloße Möglichkeit entgegengesetzter Bestimmungen an der selben Materie ist die Zeit: die bloße Mögkörperlich ist (vgl. W II 58, 360 u. 362). – Die Eigenschaftslosigkeit der Materie umschreibt Schopenhauer gelegentlich mit der Formulierung »caput mortuum der Natur« (W II 371).
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Materie lichkeit des Beharrens der selben Materie unter allen entgegengesetzten Bestimmungen ist der Raum.« (W I 183; vgl. a. W I 36 f., 579 u. 599) Angesichts der Tatsache, daß die Materie sowohl räumlich als auch zeitlich verfaßt ist, also Raum und Zeit in sich vereint, erklärt Schopenhauer, sie laufe auf eine »Vereinigung« (W I 36 f.; vgl. a. W I 183 u. 579 sowie W II 59 u. 61) beider hinaus, die geradezu ihr Wesen ausmache.138 Darüber hinaus stellt Schopenhauer eine Beziehung zwischen der Materie und der Kausalität her. Nach seiner Auffassung besteht das Wesen der Materie darin, daß sie wirkt bzw. im »Wirken« (G 99, W I 48 u. 547 sowie W II 57 f., 66 u. 357), der »Wirksamkeit« oder der »Kausalität« (W I 272).139 Einerseits bleibt Schopenhauer 138 Weniger harmlos ist die Rede von der Vereinigung von Raum und Zeit allerdings dann, wenn es Schopenhauer um die Auffassung geht, die raum-zeitliche Verfaßtheit der Materie sei Ergebnis eines Konstitutionsprozesses, in dessen Zuge der Verstand Raum und Zeit erst vereine, und zwar dadurch, daß er Empfindungen, die zunächst nur zeitlich seien, in den Raum projiziere. Exemplarisch für diese Lehre ist folgende Stelle: »Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit beharrend: denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d. i. Wirksamkeit.« (W I 39) 139 Daneben verwendet Schopenhauer eine ganze Reihe mißverständlicher Formulierungen, die letztlich auf dasselbe hinauslaufen. So heißt es gelegentlich, das »Seyn« der Materie sei ihr »Wirken« (W I 35, 272 u. 579, W II 225 sowie P I 27) oder sie selbst sei »nichts Anderes als Kausalität« (W I 66) oder »durch und durch lautere Kausalität« (G 99, W I 35, 73, 183, 272 u. 547, W II 66, 225 u. 357 sowie P I 27) oder »Wirksamkeit« (W II 57 u. 357). Ist gar davon die Rede, daß bei der Materie »Existentia und Essentia
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Lemmata eine detaillierte Begründung für diese Einschätzung schuldig, anderseits deutet er die Überlegung, der sie entsprungen sein könnte, immerhin an. Im Zuge seiner Ausführungen zur Kausalität geht er davon aus, daß alle dem erkennenden Subjekt gegebenen empirischen Gegenstände dadurch gegeben sind, daß sie auf dieses einwirken. Damit beruht die Gegebenheit der empirischen Wirklichkeit darauf, daß sie eine Wirkung auf das erkennende Subjekt ausübt, die sich ihrerseits als Empfindung darbietet. Nun aber liegt der empirischen Wirklichkeit die Materie zugrunde, ja sie ist wirklich – und nicht bloß eingebildet – nur dadurch, daß sie an ein Substrat, die Materie, gebunden ist.140 Damit ist es letztlich die Materie, welcher die Wirkung auf das erkennende Subjekt zu verdanken ist oder die sie letztlich ausübt: »Nur als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf das unmittelbare Objekt (das selbst Materie ist) bedingt die Anschauung, in der sie allein existirt: die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das letztere jetzt anders als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin. Ursache und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Seyn ist ihr Wirzusammenfallen« (W II 58), so kann damit allenfalls gemeint sein, daß die Materie, wenn sie gegeben ist, als wirkende gegeben ist und daß sie keine weiteren essentiellen Eigenschaften besitzt. Da es Schopenhauer ablehnt, im Sinne des ontologischen Gottesbeweises die Existenz eines Dinges aus seiner Essenz zu folgern (vgl. G 22 ff., W I 619 f. u. 623 f. sowie P I 85 f. u. 124 f.), dürfte ihm der Gedanke, die Existenz der Materie als zu ihrer Essenz gehörig zu betrachten, abwegig erschienen sein. 140 W I 547: »Materialität aber ist es allein, die das reale Ding vom Phantasiebilde, welches denn doch nur Vorstellung ist, unterscheidet.«
Lemmata ken.« (W I 35; vgl. a. G 99) Freilich unterscheidet Schopenhauer an dieser Stelle nicht explizit zwischen reiner und empirischer Materie. Deutet er das einwirkende Objekt als materiell, so gehört es offenbar dem Bereich der empirischen Materie an. Was hingegen die reine – von allen Formen und Qualitäten losgelöste – Materie betrifft, so hebt Schopenhauer hervor, daß sie keine empirische Wirkung hervorbringt, sondern auf »Kausalität überhaupt« (G 99 u. W II 360) oder »bloße Wirksamkeit überhaupt« (G 99, W II 57 f. u. 357 sowie P II 119) bzw. »reine Kausalität« (G 99 u. W II 58) oder »das reine Wirken als solches« (G 99) hinausläuft.141 – Daß nun Materie vorgestellt bzw. als wirkend vorgestellt werden kann, liegt nach Schopenhauer daran, daß das erkennende Subjekt über die Möglichkeit verfügt, dies zu tun. Diese Möglichkeit aber beruht darauf, daß es mit der Kategorie der Kausalität ausgestattet ist, die als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis kausaler Verhältnisse fungiert. Daher behauptet Schopenhauer auch, die Materie sei »nur unter Voraussetzung der Kausalität« (W I 166) vorstellbar. Da er die Kategorie der Kausalität im Verstand ansiedelt, kann er diesen als »subjektive[s] Korrelat der Materie« (W I 38, 48 u. 183) und die Materie umgekehrt als »objektive[s] Korrelat des reinen Verstandes« (G 99) bzw. als »objektivirte« (W II 357 u. P II 119) oder »objektiv aufgefaßt[e] Kausalität« (G 99, W II 57 u. P I 27) einstufen. Dabei erblickt Schopenhauer die Aufgabe 141 In
diese Richtung weist auch folgende Stelle: »Dieses entspricht auch Dem, daß Kausalität (das ganze Wesen der Materie) für sich nicht anschaulich darstellbar ist, sondern allein eine bestimmte Kausalverknüpfung.« (W I 272; vgl. a. P II 119)
Materie des Verstandes darin, mit Hilfe der Kategorie der Kausalität im Ausgang von einer Empfindung den empirischen – materiell verfaßten oder fundierten – Gegenstand, der sie hervorgerufen hat, zu konstruieren bzw. in den Raum zu projizieren: »Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit beharrend: denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d. i. Wirksamkeit.« (W I 39)142 Es wurde bereits angedeutet, daß Schopenhauer zwischen reiner und empirischer Materie unterscheidet. Sieht man etwas genauer hin, so entdeckt man, daß er bei der Beschreibung der reinen Materie in gewisser Hinsicht schwankt. Bald heißt es, sie habe keinerlei »Form und Qualität« (W II 23), erschöpfe sich also in der Rolle eines »objektiven, aber ganz eigenschaftslosen Trägers aller Eigenschaften« (P II 119), bald ist davon die Rede, daß sie immerhin Raum und Zeit erfülle (vgl. W I 36 f., 183 u. 579, W II 59 u. 61 sowie P I 27) und daß ihr Wesen im Wirken bestehe (vgl. G 99, W I 35, W II 57 f. u. 357 sowie P II 119).143 Damit aber schreibt Schopen142
P II 119: »Jene Materie ist demnach nur die objektivirte, d. h. nach außen projicirte Verstandesfunktion der Kausalität selbst […].« 143 An folgender Stelle hebt Schopenhauer hervor, daß die Materie, beraubte man sie aller Eigenschaften, mit dem Willen als Ding an sich koinzidierte: »Die Form aber ist durch den Raum, und die Qualität, oder Wirksamkeit, durch die Kausalität bedingt: Beide also beruhen auf den Funktionen des Intellekts. Die Materie ohne sie wäre eben das Ding an sich, d. i. der Wille selbst.« (W II 362)
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Materie hauer der reinen Materie durchaus Eigenschaften zu, die allerdings keine empirischen sind. Genau darauf will er wohl hinaus, wenn er die Formulierung gebraucht, sie habe keine »nähern Bestimmungen« (W II 23, 58 u. 357). Diese spricht er umgekehrt der empirischen Materie zu: »Hingegen ist jede empirisch gegebene Materie, also der Stoff (den unsere heutigen unwissenden Materialisten mit der Materie verwechseln) schon in die Hülle der Formen eingegangen und manifestirt sich allein durch deren Qualitäten und Accidenzien; weil in der Erfahrung jedes Wirken ganz bestimmter und besonderer Art ist, nie ein bloß allgemeines.« (W II 58; vgl. a. W II 357 u. 359) Im Gegensatz zur reinen Materie läßt sich die empirische, wie Schopenhauer betont, nicht nur denken, sondern darüber hinaus auch anschauen bzw. wahrnehmen (vgl. W II 23, 58 u. 357 f.). Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß die Materie von zwei Seiten her zu betrachten ist: einer subjektiven bzw. im Ausgang vom Intellekt sowie einer objektiven bzw. im Ausgang vom Ding an sich (vgl. W II 356). Was die erstere anbelangt, so böten sich Materie und Intellekt als »unzertrennliche Korrelata« (W II 25) dar, und deshalb sei die Materie – im Sinne des transzendentalen Idealismus – als Erscheinung zu deuten: »Diese Funktion [der Erkenntnis] nun aber bedingt wieder die ganze Welt als Vorstellung, mithin auch den Leib selbst, sofern er anschauliches Objekt ist, ja, die Materie überhaupt, als welche nur in der Vorstellung vorhanden ist.« (N 220; vgl. a. P II 119) Mehr noch, die Materie und der Intellekt zusammen machen – laut Schopenhauer – »die Welt als Vorstellung aus« (W II 25; vgl. a. W II 27). Wendet man sich hingegen der anderen Seite zu, so entdeckt man, daß Schopen226
Lemmata hauer in der Welt als Vorstellung – und damit auch im Intellekt sowie in der Materie – eine im Verhältnis zu dem, was ihr zugrunde liegt, sekundäre Erscheinung erblickt: »Das Primäre ist das Erscheinende, das Ding an sich selbst, als welches wir nachher den Willen kennen lernen. Dieser ist an sich weder Vorstellendes, noch Vorgestelltes; sondern von seiner Erscheinungsweise völlig verschieden.« (W II 25) Da nun der Wille nicht selbst gegeben ist, sondern in der Welt als Vorstellung erscheint bzw. sich darin objektiviert, der ihrerseits die Materie als Substrat zugrunde liegt, kann man sagen, der Wille lasse sich – in seiner Erscheinung bzw. Objektivation – nur unter der Voraussetzung wahrnehmen, daß es Materie gebe. Deshalb nennt Schopenhauer die Materie – etwas ungenau – die »Sichtbarkeit« oder »Wahrnehmbarkeit« des Willens: »Eben dieses Ding an sich, oder der Wille, tritt, indem es zur Erscheinung wird, d. h. in die Formen unsers Intellekts eingeht, als die Materie auf, d. h. als der selbst unsichtbare, aber nothwendig vorausgesetzte Träger nur durch ihn sichtbarer Eigenschaften: in diesem Sinn also ist die Materie die Sichtbarkeit des Willens.« (W II 360; vgl. a. N 253 u. 279, W II 57, 359 ff., 364, 366 u. 371 sowie P II 119 ff. u. 147) 144 Geht nun Schopenhauer noch einen Schritt weiter und versichert, die Materie sei »identisch mit dem Willen« (W II 57), so ist das allerdings nur unter der Einschränkung zu verstehen, daß sich beide nicht gänzlich decken, sondern daß die Materie lediglich einen Aspekt des Willens – sein Erschei144
Daneben ermöglicht es die Materie, daß überhaupt empirische Gegenstände bzw. Erscheinungen wahrgenommen werden: »Aber die Materie selbst ist bloß die Wahrnehmbarkeit der Erscheinungen des Willens.« (N 279)
Lemmata
Mathematik
nen – ausmacht: »Die Materie ist demzu- In diesem Zusammenhang setzt Schopenfolge der Wille selbst, aber nicht mehr an hauer die Apodiktizität mathematischer sich, sondern sofern er angeschaut wird, Erkenntnis mit »Unfehlbarkeit« (W I 33), d. h. die Form der objektiven Vorstellung »völlige[r] Untrüglichkeit« (W I 117) und annimmt: also was objektiv Materie ist, ist »vollkommene[r] Sicherheit« (W II 107) subjektiv Wille.« (W II 360; vgl. a. W II 57) gleich. Daß sie diese Eigenschaften beWährend Schopenhauer die apriori- sitzt, führt Schopenhauer einerseits auf schen Eigenschaften der Materie auf das ihren rein formalen Charakter (vgl. W II erkennende Subjekt bzw. den Intellekt zu- 212 u. P I 93 f.), anderseits aber auch darrückführt, läßt er die empirischen im Wil- auf zurück, daß sie nicht von den Folgen len gründen: »Hingegen alle bestimmte auf die Gründe, sondern umgekehrt von Eigenschaft, also alles Empirische an der den Gründen auf die Folgen schließe (vgl. Materie, selbst schon die Schwere, beruht W I 117 u. 119 sowie W II 107). auf Dem, was nur mittelst der Materie Ähnlich wie Kant ist Schopenhauer sichtbar wird, auf dem Dinge an sich, dem der Auffassung, die Mathematik sei – im Willen.« (ebd.) Genau in diesen Eigen- Gegensatz zur Logik – nicht etwa analyschaften drücken sich nach Schopenhauer tisch, sondern vielmehr synthetisch, das bestimmte »Kräfte« oder »Naturkräfte« heißt, sie begnüge sich nicht mit einer foraus, als deren Substrat die Materie auf- malen Analyse von Begriffen, sondern tritt: »Weil also die Materie die Sichtbar- habe darüber hinaus einen Inhalt, den keit des Willens, jede Kraft aber an sich sie der reinen Anschauung des Raumes selbst Wille ist, kann keine Kraft ohne und der Zeit verdanke: »[S]o kann die materielles Substrat auftreten, und umge- Logik doch, im Ganzen genommen, für kehrt kein Körper ohne ihm inwohnende reine Vernunftwissenschaft gelten. In alKräfte seyn, die eben seine Qualität aus- len übrigen Wissenschaften hat die Vermachen.« (W II 362; vgl. a. W II 358 u. 371 nunft den Gehalt aus den anschaulichen sowie P II 119 ff.)145 Vorstellungen erhalten: in der Mathematik aus den vor a ller Erfahrung anschauMathematik Schopenhauer stuft die lich bewußten Verhältnissen des Raumes Mathematik – ähnlich wie die Logik und der Zeit« (W I 86; vgl. a. W I 103, 138 und die reine Naturwissenschaft – als u. 238). Schopenhauer folgt Kant ferner formale Wissenschaft ein (vgl. W I 119, darin, daß er die Arithmetik der Zeit und N 282, E 61 u. W II 149). Als solche lie- die Geometrie dem Raum zuordnet. Dafert sie, wie er versichert, apriorische Er- bei seien beide – Raum wie Zeit – dem kenntnis, die »apodiktisch« (G 168, W II Satz vom zureichenden Grunde des Seins 212 u. P I 93 f.) ist, so daß es »uns sogar unterworfen. So stellt er fest: »Beim Satz zu denken unmöglich ist, daß irgend et- vom Grunde des Seyns ist, sofern er in was sich anders verhalten könne« (N 282). der Geometrie gilt, ebenfalls kein Zeitverhältniß, sondern allein ein räumliches, 145 Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenvon dem sich sagen ließe, alles wäre zuhauer die Naturkräfte mit den Ideen gleichsetzt, gleich, wenn nicht das Zugleich hier, soso leuchtet ein, daß er der Materie als derjenigen Instanz, in der sie zum Ausdruck kommen, wohl als das Nacheinander, ohne Bedeutung wäre. In der Arithmetik dagegen ist keine eigene Idee zuordnet (vgl. a. W I 272 f.). 227
Menschenliebe der Seynsgrund nichts anderes, als eben das Zeitverhältniß selbst.« (G 169; vgl. a. W I 59 u. W II 44 f.)146 Schopenhauer betrachtet die Mathematik als eine Wissenschaft, die auf einem sicheren Fundament gegründet ist. Dieses erblickt er in den Axiomen, die sich nicht deduktiv beweisen ließen, sondern unmittelbar gewiß seien (vgl. W I 101 u. 114 f.). Freilich geht Schopenhauer noch einen Schritt weiter und erklärt, alle mathematischen Sachverhalte leuchteten unmittelbar ein, so daß sie keinen deduktiven Beweis erforderten. Während diese Auffassung für die Arithmetik weitgehend anerkannt sei, gelte das für die Geometrie keineswegs (vgl. W I 115 f.). Dort greife man – in Anschluß an Euklid (vgl. W I 114 f.) – nicht auf Anschauung, sondern auf deduktive Beweise zurück. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer die anschauliche Erkenntnis im Vergleich zur abstrakten, begrifflichen entschieden vorzieht, so erstaunt es nicht weiter, daß er wenig Gefallen an dieser Vorgehens146 Die
befremdlich anmutende These, die Arithmetik sei in der Zeit fundiert, begründet Schopenhauer mit einem recht schwachen Argument: »Alles Zählen besteht im wiederholten Setzen der Einheit: bloß um stets zu wissen, wie oft wir schon die Einheit gesetzt haben, markiren wir sie jedesmal mit einem andern Wort: dies sind die Zahlworte. Nun ist Wiederholung nur möglich durch Succession: diese aber, also das Nacheinander, beruht unmittelbar auf der Anschauung der Zeit, ist ein nur mittelst dieser verständlicher Begriff: also ist auch das Zählen nur mittelst der Zeit möglich.« (W II 45) Daraus, daß der empirische Vorgang des Zählens in der Zeit stattfindet, folgt keineswegs, daß sie die Grundlage der Arithmetik bildet. Anscheinend ist Schopenhauer der Unterschied zwischen der Idealität mathematischer Sachverhalte einerseits und der Zeitlichkeit des empirischen Vollzugs der entsprechenden Operationen anderseits entgangen.
228
Lemmata weise findet: »Wenn wir nun mit unserer Ueberzeugung, daß die Anschauung die erste Quelle aller Evidenz, und die unmittelbare oder vermittelte Beziehung auf sie allein absolute Wahrheit ist, daß ferner der nächste Weg zu dieser stets der sicherste ist, da jede Vermittelung durch Begriffe vielen Täuschungen aussetzt; – wenn wir, sage ich, mit dieser Ueberzeugung uns zur Mathematik wenden, wie sie vom Eukleides als Wissenschaft aufgestellt und bis auf den heutigen Tag im Ganzen geblieben ist; so können wir nicht umhin, den Weg, den sie geht, seltsam, ja verkehrt zu finden.« (W I 108; vgl. a. W I 110, 114 f. u. 244 sowie W II 152) 147 Zwar räumt Schopenhauer ein, daß kompliziertere geometrische Aufgaben faktisch »nur durch Rechnung gelöst werden« (G 168; vgl. a. W I 113), doch hält er letztlich an der Überzeugung fest, daß »bei jedem, auch dem verwickeltesten Lehrsatze, [der Grund des Seins] aufzuweisen und die Gewißheit des Satzes auf eine solche einfache Anschauung zurückzuführen seyn muß.« (G 154) Menschenliebe Schopenhauer stuft die Menschenliebe – zusammen mit der Gerechtigkeit – als Kardinaltugend ein. Das liegt daran, daß aus diesen beiden Tugenden »alle übrigen praktisch hervorgehn und theoretisch sich ableiten lassen.« (E 252; vgl. a. E 270) Sie setzen eine »Durchschauung des principii individuationis« (W I 492; vgl. a. W I 461 u. 468) voraus, wie sie insbesondere im Mitleid 147 Schopenhauer
führt diese Tendenz auf das in der Antike aufgekommene rationalisti sche Mißtrauen gegenüber der Anschauung zurück, das lediglich in Hinblick auf die empirische, nicht aber in Hinblick auf die reine Anschauung gerechtfertigt sei (vgl. W I 110 f.).
Lemmata vorliegt. Freilich scheint Schopenhauer bei der Bestimmung des Verhältnisses der Menschenliebe zum Mitleid zu schwanken. Bald stellt er das Mitleid als Bedingung dar, die der Menschenliebe zugrunde liegt (vgl. W I 465 u. 468 sowie E 252, 267 u. 311), bald setzt er beide anscheinend gleich: »Alle Liebe (αγαπη, caritas) ist Mitleid.« (W I 464; vgl. a. W I 466 u. 468) Tatsächlich will Schopenhauer darauf hinaus, daß einer entsprechenden Handlung die Einsicht vorausgeht, daß das handelnde Individuum und das Individuum, das von den Folgen der Handlung betroffen ist, nicht durch eine radikale Kluft voneinander getrennt sind, sondern daß beide Erscheinungen eines und desselben Willens als Ding an sich darstellen. Diese Einsicht motiviert den Handelnden, das Leiden des Anderen als sein eigenes zu identifizieren und sich infolgedessen tugendhaft zu verhalten. Da die im Mitleid enthaltene Einsicht nicht dasselbe ist wie die Handlung, zu der sie motiviert, ist die These der »Identität der reinen Liebe mit dem Mitleid« (W I 468) keineswegs wörtlich zu nehmen. Für diese Interpretation spricht auch, daß Schopenhauer das Mitleid an systematisch entscheidender Stelle ausdrücklich als »Triebfeder« (E 249) moralisch guten Handelns charakterisiert. Während sich die Gerechtigkeit darauf beschränkt, daß dem Anderen kein Leid zugefügt wird und sich in dieser Hinsicht lediglich als negativ erweist, geht die Menschenliebe einen Schritt weiter. Sie besteht darin, daß dem Anderen darüber hinaus Hilfe geleistet wird: »Der zweite Grad, in welchem […] das fremde Leiden an sich selbst und als solches unmittelbar mein Motiv wird, sondert sich von dem ersten deutlich ab, durch den positiven Charakter der daraus hervorgehenden Hand-
Metaphysik lungen; indem alsdann das Mitleid nicht bloß mich abhält, den Andern zu verletzen, sondern sogar mich antreibt, ihm zu helfen.« (E 266) Damit folgt die Menschenliebe dem Grundsatz omnes, quantum potes, juva (vgl. E 267 u. 270). Metaphysik Schopenhauer erblickt – ganz im Sinne der abendländischen Tradition – in der Metaphysik diejenige philosophische Disziplin, die sich mit den obersten, jenseits des Bereichs der Erfahrung liegenden Prinzipien der Wirklichkeit befaßt: »Unter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu er theilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht.« (W II 191; vgl. a. W I 524 u. P II 26) Mit dieser Formulierung zielt Schopenhauer auf das von der empirischen Wirklichkeit bzw. der Welt als Vorstellung zu unterscheidende, ihr zugrunde liegende Ding an sich ab, das er als den Willen deutet (vgl. N 202, W II 202 f., 214 u. 349 sowie P II 103 u. 107). Demnach liefe die Metaphysik letztlich auf die Erkenntnis des Dinges an sich bzw. des Willens als des Dinges an sich hinaus. Auf den ersten Blick scheint es, als teile Schopenhauer die Metaphysik in drei Gebiete ein, die dreien der vier Teile von Die Welt als Wille und Vorstellung entsprechen. Es handelt sich um die Metaphysik der Natur (Naturphilosophie), die Metaphysik des Schönen (Ästhetik) sowie die Metaphysik der Sitten (Ethik), die ihrerseits eng miteinander zusammenhängen: »Metaphysik der Natur, Metaphysik der 229
Metaphysik Sitten und Metaphysik des Schönen setzen sich wechselseitig voraus und vollenden erst in ihrem Zusammenhange die Erklärung des Wesens der Dinge und des Daseyns überhaupt.« (E 149; vgl. a. P II 26) Sieht man ein wenig genauer hin, so entdeckt man freilich, daß Schopenhauer darüber hinaus eine Reihe von Einsichten, die er im Rahmen seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen gewinnt, offenbar als metaphysisch einschätzt. Das sind insbesondere die für die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich fundamentale Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit (vgl. E 308 u. W II 206 ff.) sowie die Auffassung, die empirische Wirklichkeit sei – gemäß dem Satz vom zureichenden Grunde des Werdens – der Notwendigkeit unterworfen (vgl. E 132). In beiden Fällen handelt es sich um Erkenntnisse, die weniger die empirische Wirklichkeit als solche als ihre apriorische Struktur betreffen und die wenigstens in dieser Hinsicht als metaphysisch gelten können. Angesichts dieses Befundes ist festzuhalten, daß auch der erste, der Erkenntnistheorie gewidmete Teil von Die Welt als Wille und Vorstellung in gewisser Hinsicht der Metaphysik zugeordnet werden kann. Freilich grenzt Schopenhauer seinen metaphysischen Ansatz in zweierlei Hinsicht ab. Zum einen lehnt er – unter Berufung auf Kant – die dogmatische Metaphysik ab, da sie den Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich verkannt und eine Erkenntnis des letzteren für möglich gehalten habe (vgl. W I 524 f.). Zum andern aber wirft er Kant vor, er habe zu Unrecht gelehrt, das Ding an sich lasse sich nicht erkennen. Daher liegt es nahe, daß Schopenhauer in seiner Metaphysik einen neuen Weg einschlägt, den 230
Lemmata er wie folgt beschreibt: »[M]ein Weg liegt in der Mitte zwischen der Allwissenheitslehre der frühern Dogmatik und der Verzweiflung der Kantischen Kritik.« (W I 526) Schopenhauer führt Kants – sei es angeblichen oder tatsächlichen – Fehler auf die Annahme zurück, die Metaphysik dürfe sich nicht auf Erfahrung stützen. Genau darin erblickt er aber eine petitio principii (vgl. W I 525 u. W II 211). Mehr noch, Schopenhauer betont ausdrücklich, daß sich die Metaphysik der Erfahrung zu bedienen hat, um Auskunft über das Ding an sich erteilen zu können: »Ich sage daher, daß die Lösung des Räthsels der Welt aus dem Verständniß der Welt selbst hervorgehn muß; daß also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund aus zu verstehn, indem Erfahrung, äußere und innere, allerdings die Hauptquelle aller Erkenntniß ist; daß daher nur durch die gehörige und am rechten Punkt vollzogene Anknüpfung der äußern Erfahrung an die innere, und dadurch zu Stande gebrachte Verbindung dieser zwei so heterogenen Erkenntnißquellen, die Lösung des Räthsels der Welt möglich ist« (W I 526; vgl. a. W II 211 ff. u. 754 sowie P II 25 f.). Aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Erfahrung bezeichnet Schopenhauer seine Metaphysik als »immanent« (W II 214 u. 750), ja er stuft sie sogar als »Erfahrungswissenschaft« (W II 214) ein. Allerdings meint er damit nicht, daß sie sich in Erfahrung erschöpfe oder gar mit ihrer Hilfe das Ding an sich zur anschaulichen Gegebenheit bringe, sondern allenfalls, daß sie ihren Ausgang von der Erfahrung nehme und auch dann, wenn sie über diese hinausgehe, an sie gebunden bleibe: »In diesem Sinne also geht
Lemmata die Metaphysik über die Erscheinung, d. i. die Natur, hinaus, zu dem in oder hinter ihr Verborgenen […], es jedoch immer nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhän g ig von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher immanent und wird nicht transscendent. Denn sie reißt sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die bloße Deutung und Auslegung derselben, da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Beziehung zur Erscheinung redet.« (W II 214) Da nun die Metaphysik von der Erfahrung abhängt, diese aber keine apodiktische Erkenntnis zu liefern vermag, gilt dies, wie Schopenhauer einräumt, auch für sie selbst: »Der hier erörterte, redlicherweise nicht abzuleugnende Ursprung der Metaphysik aus empirischen Erkenntnißquellen benimmt ihr freilich die Art apodiktischer Gewißheit, welche allein durch Erkenntniß a priori möglich ist« (W II 212).148 Schopenhauer erblickt die Aufgabe der Metaphysik weniger in der »Beobachtung einzelner Erfahrungen« als in der »richtige[n] Erklärung der Erfahrung im Ganzen«, so daß er sie auch als »Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt« (W II 211) bezeichnen kann. Dabei ver148 Das
hindert Schopenhauer nicht daran, die Aussichten auf eine Vollendung der Metaphysik überraschend günstig einzuschätzen: »Wann aber ein Mal ein, soweit die Schranken des menschlichen Intellekts es zulassen, richtiges System der Metaphysik gefunden seyn wird; so wird ihm die Unwandelbarkeit einer a priori erkannten Wissenschaft doch zukommen: weil sein Fundament nur die Erfahrung überhaupt seyn kann, nicht aber die einzelnen und besondern Erfahrungen, durch welche hingegen die Naturwissenschaften stets modificirt werden und der Geschichte immer neuer Stoff zuwächst. Denn die Erfahrung im Ganzen und Allgemeinen wird nie ihren Charakter gegen einen neuen vertauschen.« (W II 212 f.)
Metaphysik gleicht er die sich in der Erfahrung darbietende empirische Wirklichkeit mit einer »unbekannten Schrift« (W II 215 u. P II 26) oder »Geheimschrift« (W II 213), die es zu dechiffrieren gelte. Um diesen Vorgang zu charakterisieren, benutzt er Ausdrücke wie »Deutung« und »Auslegung« bzw. »Sinn« und »Bedeutung« (W II 213 ff. u. P II 26), die aus dem Bereich der Hermeneutik entlehnt sind. Als Kriterien für die Richtigkeit einer derartigen Interpretation nennt er zum einen ihre Kohärenz und zum andern ihre Übereinstimmung mit der empirischen Wirklichkeit (vgl. W II 215 f. u. P II 26). Allerdings ist sich Schopenhauer darüber im klaren, daß jede solche Interpretation, auch seine eigene, unter dem Vorbehalt steht, daß sie ihren Gegenstand, das Ding an sich, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar – auf dem Umweg über eine Interpretation der empirischen Wirklichkeit – zu erfassen vermag. Er stellt dazu fest: »So läßt meine Lehre Uebereinstimmung und Zusammenhang in dem kontrastirenden Gewirre der Erscheinungen dieser Welt erblicken und löst die unzähligen Widersprüche, welche dasselbe, von jedem andern Standpunkt aus gesehn, darbietet: sie gleicht daher insofern einem Rechenexempel, welches aufgeht; wiewohl keineswegs in dem Sinne, daß sie kein Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbeantwortet ließe. Dergleichen zu behaupten, wäre eine vermessene Ableugnung der Schranken menschlicher Erkenntnis überhaupt. Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgränzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Räthsels der Welt müßte nothwendig bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden.« (W II 216) 231
Metaphysik Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer die Metaphysik an die Erfahrung der empirischen Wirklichkeit anbindet, so erstaunt es nicht weiter, daß er das Verhältnis zwischen der Metaphysik und den Naturwissenschaften nicht als gegnerisches, sondern als komplementäres einschätzt. So spricht er ausdrücklich davon, daß sich beide an einem »Gränzpunkt« (N 201) oder »Berührungspunkt« (204) treffen, so daß eine »Versöhnung beider Wissenschaften eingeleitet […] ist« (N 204 f.). Für die Metaphysik ist dies, wie Schopenhauer betont, insofern vorteilhaft, als sie keine haltlose Spekulation mehr ist: »Daher schwebt mein System nicht, wie alle bisherigen, in der Luft, hoch über aller Realität und Erfahrung; sondern geht herab bis zu diesem festen Boden der Wirklichkeit, wo die physischen Wissenschaften den Lernenden wieder aufnehmen.« (N 202) Schopenhauer geht noch einen Schritt weiter und versichert, die Naturwissenschaften bestätigten die entscheidende These seines metaphysischen Ansatzes, die Lehre von der Identität des Dinges an sich mit dem Willen (vgl. N 202 u. 205). Umgekehrt hebt Schopenhauer hervor, daß die Naturwissenschaften ihrerseits auf die Metaphysik angewiesen sind: »Die Physik nämlich, also Naturwissenschaft überhaupt, muß, indem sie ihre eigenen Wege verfolgt, in allen ihren Zweigen, zuletzt auf einen Punkt kommen, bei dem ihre Erklärungen zu Ende sind: dieser eben ist das Metaphysische, welches sie nur als ihre Gränze, darüber sie nicht hinaus kann, wahrnimmt, dabei stehn bleibt und nunmehr ihren Gegenstand der Metaphysik überläßt.« (N 204; vgl. a. W II 201, 349 u. 366 sowie P II 153) In diesem Zusammenhang geht es Schopenhauer darum, daß eine naturwissen232
Lemmata schaftliche Erklärung insofern nie vollständig ist, als sie bestimmte Voraussetzungen in Anspruch nimmt, über die sie nicht weiter Aufschluß zu erteilen vermag. Dabei handle es sich um die Naturgesetze, die ihrerseits auf den Naturkräften beruhten (vgl. N 204, W II 201 f., 204, 349 u. 366 sowie P II 104). Diese blieben aus naturwissenschaftlicher Sicht »als das schlechthin Unerklärliche stehn« (W II 206). Genau an dieser Stelle ist nun, wie Schopenhauer erläutert, die Metaphysik gefordert, welche die Naturkräfte als Objektivationen des Dinges an sich bzw. des Willens verständlich zu machen versucht: »Man sieht daraus, daß die Metaphysik den Gang der Physik nie unterbricht, sondern nur den Faden da aufnimmt, wo diese ihn liegen läßt, nämlich bei den ursprünglichen Kräften, an welchen alle Kausalerklärung ihre Gränze hat. Hier erst hebt die metaphysische Erklärung aus dem Willen als Dinge an sich an.« (W II 349) Dies aber bedeutet für Schopenhauer, daß der »letzte und wahre Aufschluß über das innere Wesen des Ganzen der Dinge« (E 149) nicht von der Physik, sondern von der Metaphysik erteilt wird (vgl. E 149 u. 301 sowie W II 366).149 Eine fundierende Rolle nimmt die Metaphysik – nach Schopenhauer – nicht allein für die Naturwissenschaften, sondern darüber hinaus auch für die Ethik ein. In diesem Sinne fordert er: »[S]o muß in der Philosophie das ethische Fundament, welches es auch sei, selbst wieder seinen Anhaltspunkt und seine Stütze ha149
Vor diesem Hintergrund wird auch nachvollziehbar, daß Schopenhauer die »absolute Physik« (W II 205), das heißt, eine Physik ohne Metaphysik, wie sie vom Materialismus bzw. Naturalismus gelehrt wird, als unangemessen zurückweist.
Lemmata
Metaphysik
ben an irgend einer Metaphysik, d. h. an sei: »Nur die Metaphysik ist wirklich und der gegebenen Erklärung der Welt und unmittelbar die Stütze der Ethik, welche des Daseyns überhaupt« (E 148 f.; vgl. a. schon selbst ursprünglich ethisch ist, aus E 248 f., 302 u. 304). Da nun Schopen- dem Stoffe der Ethik, dem Willen, konhauer nicht für eine präskriptive, sondern struirt ist« (N 337). Damit will Schopenfür eine deskriptive Ethik eintritt, deren hauer dem Umstand gerecht werden, daß Aufgabe darin besteht, einsichtig zu ma- »die Bedeutung des Daseyns überhaupt« chen, warum Handlungen als moralisch (E 302) ethisch sei. Gemeint ist damit, daß gut oder schlecht gelten, liegt es nahe, er das Auseinandertreten des einen Wildaß er genau für diese Unterscheidung lens in eine Vielzahl einander widerstreieine metaphysische Grundlage sucht. Er tender Erscheinungen als Resultat einer ist davon überzeugt, daß sie im Gegensatz ursprünglichen Schuld deutet, welche das zwischen der Erscheinung und dem Ding Leiden in der empirischen Wirklichkeit an sich besteht. Während sich die Erschei- zur Folge hat und in der Verneinung des nung – bedingt durch Raum und Zeit als Willens überwunden wird.150 principium individuationis – durch VielSchopenhauer beschreibt den Menheit auszeichne, komme dem Ding an sich schen als »animal metaphysicum« (W II Einheit zu. Dies sei insofern ethisch be- 187), das heißt als ein Lebewesen, das von deutsam, als ein Mensch entweder im An- Natur aus mit einem »metaphysische[n] deren primär den Anderen oder sein eige- Bedürfnis« (W II 186 f. u. P II 153) ausgenes Wesen – den Willen als Ding an sich – stattet ist. Dieses äußere sich darin, daß erkennen und entsprechend egoistisch der Mensch – nicht zuletzt angesichts nebzw. schlecht oder altruistisch bzw. gut gativer Erfahrungen wie jener des Todes, handeln könne: »Gehört demnach Viel- des Scheiterns und des Leidens (vgl. W II heit und Geschiedenheit allein der bloßen 187, 201 u. 543) – in einen Zustand der Erscheinung an, und ist es Ein und das Verwunderung gerate und sich der Frage selbe Wesen, welches in allem Lebenden nach dem letzten Sinn der Wirklichkeit sich darstellt; so ist diejenige Auffassung, zuwende. Um diese Frage zu beantworten, welche den Unterschied zwischen Ich und stelle er metaphysische Überlegungen an. Nicht-Ich aufhebt, nicht die irrige: viel- Insofern kann Schopenhauer in der Vermehr muß die ihr entgegengesetzte dies wunderung die »Mutter der Metaphysik« seyn. […] Jene erstere Ansicht ist es, wel- (W II 187) erblicken. Als weiteren Grund, che wir als dem Phänomen des Mitleids warum der Mensch zur Metaphysik gezum Grunde liegend, ja, dieses als den lange, nennt Schopenhauer den Umstand, realen Ausdruck derselben gefunden ha- daß sich die Naturwissenschaften in ben. Sie wäre demnach die metaphysische zweierlei Hinsicht als defizitär erweisen: Basis der Ethik, und bestände darin, daß »Die Unzulänglichkeit des reinen Natudas eine Individuum im andern unmittel- ralismus tritt, wie gesagt, zuvörderst, auf bar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen dem empirischen Wege selbst, dadurch wiedererkenne.« (E 310 f.) Schopenhauer 150 Da eine Physik ohne Metaphysik der begnügt sich allerdings nicht mit dieser Ethik keine derartige Grundlage zu bieten hat, Erklärung, sondern erwartet überdies muß sie – laut Schopenhauer – »für die Ethik von der Metaphysik, daß sie selbst ethisch zerstörend seyn« (W II 205). 233
Mitleid
Lemmata
hervor, daß jede physikalische Erklä- materiales Prinzip, dem eine metaphysirung das Einzelne aus seiner Ursache er- sche Einsicht zugrunde liegt. Angesichts klärt, die Kette dieser Ursachen aber, wie der Tatsache, daß diese Einsicht intuitiv wir a priori, mithin völlig gewiß wissen, und nicht etwa diskursiv gewonnen wird, ins Unendliche rückwärts läuft, so daß kann Schopenhauer das Mitleid als Geschlechthin keine jemals die erste seyn fühl einstufen. Freilich liegt im Mitleid konnte. Sodann aber wird die Wirksam- keineswegs nur eine affektive oder emokeit jeder Ursache zurückgeführt auf ein tionale Regung vor. Entscheidend ist, daß Naturgesetz, und dieses endlich auf eine es darüber hinaus eine kognitive KompoNaturkraft, welche nun als das schlecht- nente aufweist. Diese besteht im »Durchhin Unerklärliche stehn bleibt.« (W II 206; schauen des principii individuationis« vgl. a. W II 202) (W I 469), mit anderen Worten, im MitSchopenhauer nennt zwei Formen, in leid wird dem Menschen klar, daß er vom denen die Metaphysik auftreten kann: die Anderen nicht durch eine radikale Kluft Philosophie, die sich an die Gebildeten getrennt ist, sondern daß er – ebenso wie wendet, sowie die für die breite Masse be- dieser – Erscheinung eines und desselben stimmte Religion (vgl. W II 191 ff. u. 543). Willens als Ding an sich bzw. metaphyLetztere stuft Schopenhauer daher auch sischen Willens ist. Daher kann sich der als »Volksmetaphysik« (W II 192) ein. Mensch mit dem Anderen identifizieren, Gemeinsam ist beiden, daß sie das meta- und zwar insbesondere, wenn dieser leiphysische Bedürfnis dadurch befriedigen, det. Schopenhauer betont, daß die Idendaß sie dem Menschen die Welt erklären tifikation mit dem Anderen den Unter(vgl. W II 187 f. sowie P II 360 u. 372), ihm schied zwischen beiden Individuen nicht sagen, wie er zu handeln habe (vgl. W II etwa aufhebt, sondern daß er lediglich 188 u. 194 f. sowie P II 360, 366 u. 372), und »auf irgend eine Weise« oder »in einem ihm – angesichts der Negativität der empi- gewissen Grade« (E 248) in den Hinterrischen Wirklichkeit – Trost (vgl. W II 195 grund tritt: »[E]s bleibt uns gerade jeden sowie P II 360, 372 u. 379) spenden. Da- Augenblick klar und gegenwärtig, daß Er bei plädiert Schopenhauer dafür, Philo- der Leidende ist, nicht wir: und geradezu sophie und Religion nicht miteinander zu in seiner Person, nicht in unserer, fühvermengen, sondern voneinander getrennt len wir das Leiden, zu unserer Betrübniß. zu halten: »Beiden Arten der Metaphysik Wir leiden mit ihm, also in ihm: wir fühlen wäre es am zuträglichsten, daß jede von seinen Schmerz als den seinen und haben der andern rein gesondert bliebe und sich nicht die Einbildung, daß es der unserige auf ihrem eigenen Gebiete hielte, um da- sei« (E 251). selbst ihr Wesen vollkommen entwickeln Schopenhauer ist der Auffassung, daß zu können.« (W II 196) die Identifizierung mit dem Anderen als einem Leidenden die einzige Triebfeder Mitleid Das Mitleid bildet nach Scho- moralisch guten Handelns darstellt. Gepenhauer das Fundament bzw. die Grund- nauer gesagt motiviert das Mitleid den lage der Moral. Im Gegensatz zu Kants Handelnden dazu, die Bejahung seines eikategorischem Imperativ handelt es sich genen Willens zurückzunehmen, um entdabei um kein formales, sondern um ein weder dem Anderen kein Unrecht anzu234
Lemmata
Moralität
tun oder ihm sogar Hilfe zuteil werden zu lassen. Damit erweist sich das Mitleid als die »wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe« (E 248), ja als die »alleinige Quelle un eigen nütziger Handlungen und deshalb als die wahre Basis der Moralität« (E 285). Zwar setzt Schopenhauer das Mitleid gelegentlich auch mit der Liebe gleich (vgl. W I 464 u. 466). Da jedoch die im Mitleid enthaltene Einsicht sowie die Identifikation mit dem Anderen als einem Leidenden nicht dasselbe ist wie die Handlung, zu der sie motiviert, ist die These der »Identität der reinen Liebe mit dem Mitleid« (W I 468) wohl kaum wörtlich zu nehmen, sondern allenfalls so zu verstehen, daß nur dann »reine Liebe« oder »ächte Menschenliebe« vorliegt, wenn eine Handlung durch Mitleid und nicht etwa durch eine andere Triebfeder bedingt ist. Das Mitleid bietet sich nach Schopenhauer insofern als das »ethische[] Urphänomen« (E 248, 252 u. 301) dar, als es sich als Fundament bzw. Grundlage der Ethik erweist, das »zwar Alles unter ihm Begriffene und aus ihm Folgende erklärt, selbst aber unerklärt bleibt und als ein Räthsel vorliegt.« (E 301) Eine Aufklärung dieses Urphänomens kann nach Schopenhauer allein die Metaphysik leisten. Es liegt auf der Hand, daß er die entscheidende metaphysische Voraussetzung des Mitleids im Gegensatz zwischen der empirischen Wirklichkeit in ihrer Vielheit und dem Willen als Ding an sich in seiner Einheit erblickt.
subjektiven Aspekt menschlichen Handelns, das heißt, auf die Gesinnung, die ihm zugrunde liegt. So legt Schopenhauer dar, daß Moralität diejenige Instanz ist, die den Menschen in der Praxis zu moralisch gutem Handeln bewegt, während die Aufgabe der Moral darin bestehe, die Prinzipien, an die sich dieser hält, theoretisch zu klären. Insbesondere verlangt Schopenhauer von der Moral, daß sie aufzeigt, was den letzten Grund der Moralität ausmacht. In diesem Sinne stellt er fest: »Nun kann aber die Quelle und Grundlage der Moral schlechterdings keine andere seyn, als die der Moralität selbst: denn was theoretisch und ideal Moral ist, das ist praktisch und real Moralität. Die Quelle dieser aber muß nothwendig der letzte Grund zu allem moralischen Wohlverhalten seyn: eben diesen Grund muß daher auch ihrerseits die Moral aufstellen, um sich, bei Allem was sie dem Menschen vorschreibt, darauf zu stützen und zu berufen; wenn sie nicht etwan ihre Vorschriften entweder ganz aus der Luft greifen, oder aber sie falsch begründen will.« (E 10 f.) Schopenhauer nimmt diese Aufgabe nicht zuletzt in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral in Angriff und kommt zum Ergebnis, das Mitleid stelle das gesuchte Fundament dar. Mit dieser Wendung setzt Schopenhauer die Moral ganz offenbar mit der Ethik gleich. Für diese Deutung spricht zumindest, daß er beide Ausdrücke tatsächlich häufig synonym gebraucht (vgl. E 12 f.). Es fragt sich allerdings, ob dieses Vorgehen von der Sache her angemessen Moralität Schopenhauer grenzt den Be- ist. Schopenhauer führt zwei Aufgaben griff der Moralität in zwei Richtungen ab, der Moral an, die keineswegs derselben die auf unterschiedliche systematische Ebene angehören. So heißt es einerseits, Zusammenhänge verweisen. In beiden daß sie Vorschriften aufstelle, und anderFällen bezieht sich der Begriff auf den seits, daß sie über diese reflektiere und 235
Moralität sie begründe. Was den letzteren Punkt anbelangt, so kann man Schopenhauer ohne weiteres zustimmen, daß sich die Moral als »theoretisch« (E 10) bzw. als »wissenschaftliches Gebäude« (E 11) darbietet. In dieser Hinsicht bereitet es auch keine Schwierigkeiten, sie mit der Ethik zu identifizieren. Anderseits bedarf es nicht unbedingt einer wissenschaftlichen Anstrengung, um dem Menschen ein bestimmtes Verhalten zu gebieten, zu erlauben oder zu verbieten. Normen können ebenso durch Brauch und Gewohnheit oder durch religiöse Überzeugungen fundiert sein. In diesem Fall läge eine Moral vor, die nicht mit der Ethik als theoretischer Reflexion in eins fiele, sondern allenfalls einen möglichen Gegenstand der letzteren bilden würde. Daß es Moral in diesem Sinne gibt, ist Schopenhauer durchaus nicht entgangen. Davon zeugt wenigstens der Umstand, daß er immer wieder auf Moralvorstellungen zu sprechen kommt, die an einem Mangel an Begründung und Reflexion leiden. Ähnlich wie Kant ist auch Schopenhauer davon überzeugt, daß eine Handlung nicht schon allein deshalb moralisch gut ist, weil sie ein entsprechendes objektives Kriterium erfüllt. Eine derartige Handlung subsumiert Kant unter den Begriff der bloßen Legalität, dem er den Begriff der Moralität entgegensetzt. Damit eine Handlung nicht einfach nur als legal, sondern als moralisch eingestuft werden kann, darf sie keiner empirischen Triebfeder – wie z. B. dem Eigeninteresse – entspringen, sondern muß aus Achtung vor dem moralischen Gesetz – also dem kategorischen Imperativ – ausgeführt werden. Genau darin liegt nach Kant die reine Gesinnung, die erst die Moralität ausmacht. Was hingegen Schopenhauer anbelangt, 236
Lemmata so verwirft er einerseits Kants kategorischen Imperativ, ja er lehnt das Ansinnen, eine präskriptive Ethik zu errichten, insgesamt ab, anderseits hält er aber daran fest, daß die Moralität einer Handlung in der lauteren Gesinnung besteht, aus der sie geschieht. Nach seiner Auffassung ist es ganz ausdrücklich »die innere Gesinnung, welcher allein Moralität oder Immoralität zukommt« (W I 430; vgl. a. E 241 u. P II 259). In diesem Zusammenhang beschreibt Schopenhauer die Moralität auch als »Rechthandeln aus moralischen Gründen« (W I 430). Inhaltlich zeichnen sich derartige Handlungen nach Schopenhauer dadurch aus, daß sie nicht durch eigennützige Motive bedingt sind. Demnach bemißt sich Moralität – anders als bei Kant – inhaltlich nicht nach einem formalen, sondern einem materialen Kriterium, und zwar danach, ob eine Handlung egoistisch oder altruistisch ist. Der letzte Grund oder das Prinzip der Ethik, also das Mitleid, ist nach Schopenhauer im Sinne eines »Realgrundes aller Moralität, und deshalb Erkenntnißgrundes der Moral« (E 11) aufzufassen. Gemeint dürfte damit sein, daß eine Handlung, die sich durch Moralität auszeichnet, durch das Mitleid hervorgebracht bzw. motiviert ist und daß am Vorliegen von Mitleid zu erkennen ist, daß eine Handlung der Moral entspricht. Für die letztere Deutung spricht offenbar, daß Schopenhauer in der Tat der Frage nachgeht, was eine Handlung von moralischem Wert ausmacht, und daß er dabei zu der Antwort gelangt, es sei das Mitleid, aus dem sie hervorgehe. Liegt der Wert einer Handlung darin, daß sie dem Mitleid entspringt, so kann man dem Umstand, daß Mitleid vorliegt, tatsächlich entnehmen, daß die Handlung dem Maßstab der Moral genügt
Lemmata bzw. daß Moral herrscht. Man könnte noch einen Schritt weiter gehen und sagen, daß unter der genannten Voraussetzung das, was Moral ausmacht, vom Mitleid her begreiflich zu machen oder zu erkennen ist. Moraltheologie Schopenhauer zielt mit dem Begriff der Moraltheologie auf das moralische bzw. ethikotheologische Argument ab, das Kant in der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt, um die Annahme der Existenz eines göttlichen Wesens vernünftig erscheinen zu lassen. Er ist sich darüber im klaren, daß es sich um keinen Beweis im strengen Sinn handelt. So betont er, daß die Moraltheologie »ohne allen Anspruch auf objektive Gültigkeit für das Wissen, oder die theoretische Vernunft« sei, sondern lediglich »Gültigkeit in Beziehung auf das Handeln, oder für die praktische Vernunft, haben sollte« (P I 127; vgl. a. P II 239). Die entscheidende Voraussetzung des Arguments ist der Begriff des höchsten Guts, in dem Kant den Sinn bzw. den letzten Zweck moralischen Handelns erblickt. Es besteht darin, daß jemand, der mit der Tugend die »Würdigkeit glücklich zu sein«151 besitzt, tatsächlich der Glückseligkeit teilhaftig wird. Damit gewährleistet ist, daß die Verbindung von Tugend und Glück seligkeit eintritt, muß es – nach Kant – ein Wesen geben, das sie bewirkt, und dieses ist ein allwissender, allmächtiger und allgütiger Gott. Schopenhauer wendet gegen diese Lehre ein, daß sie insofern die Moral gefährde, als sie den Menschen dazu einlade, sein Handeln nach der eigenen Glückseligkeit auszurichten. Zwar glaubt er nicht, daß Kant solch ein Verhalten als moralisch 151
KpV, A 198.
Moraltheologie betrachtet, doch er wirft ihm vor, daß er seiner Ethik einen eudämonistischen Einschlag verleiht: »Die Glücksäligkeit im höchsten Gut soll nun zwar nicht eigentlich das Motiv zur Tugend seyn: dennoch steht sie da, wie ein geheimer Artikel, dessen Anwesenheit alles Uebrige zu einem bloßen Scheinvertrage macht: sie ist nicht eigentlich der Lohn der Tugend, aber doch eine freiwillige Gabe, zu der die Tugend, nach ausgestandener Arbeit, verstohlen die Hand offen hält.« (W I 639; vgl. a. E 157 f. u. 163 ff.) – Schwerer wiegt freilich der Einwand, daß Kant bei seinem moralischen Gottesbeweis von einer fragwürdigen Prämisse ausgeht: »Er [der Beweis] stüzt sich auf der falschen Voraussezung daß Sittlichkeit Glückseligkeit zur Absicht und Folge haben müsse« (HN II 286). In der Tat ist die Annahme, daß moralisches Handeln erst durch die Glückseligkeit einen Sinn erhalte, nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Es ist ebensogut denkbar, daß die Tugend ihr eigener Lohn ist. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Moraltheologie in systematischer Hinsicht als gescheitert betrachtet, liegt es nahe, daß er den Versuch unternimmt, sie wenigstens genetisch zu verstehen. Dabei gelangt er zu folgendem Ergebnis: »Nachdem nun aber Kant diese imperative Form der Ethik, stillschweigend und unbesehns, von der theologischen Moral entlehnt hatte, deren Voraussetzungen, also die Theologie, derselben eigentlich zum Grunde liegen und in der That als Das, wodurch allein sie Bedeutung und Sinn hat, unzertrennlich von ihr, ja, implicite darin enthalten sind; da hatte er nachher leichtes Spiel, am Ende seiner Darstellung, aus seiner Moral wieder eine Theologie zu entwickeln, die bekannte Moraltheologie.« (E 165; vgl. a. E 209) 237
Moral, theologische Freilich liefert Schopenhauer keinen Beleg für seine Erklärung, so daß man ihr günstigstenfalls den Rang einer interpretativen Hypothese zugestehen könnte.
Lemmata geschieht, nothwendig egoistisches Thun und als solches ohne rein moralischen Werth ist.« (ebd.) Träfe dies tatsächlich zu, so wäre die theologische Moral letzten Endes kontraproduktiv. Ferner läßt sich die theologische Moral weder mit Schopenhauers Atheismus noch mit seinem Determinismus vereinbaren.
Moral, theologische Schopenhauer versteht unter theologischer Moral nicht etwa die von der wissenschaftlichen Theologie begründeten ethischen Normen oder die Theorie, die über diese reflektiert, son- Motiv Schopenhauer betrachtet das dern die Moral, die im Rahmen einer re- Motiv – neben der »Ursache im engsten ligiösen Weltanschauung auftritt. Mit ei- Sinne« und dem Reiz – als eine von drei nem treffenderen Ausdruck könnte man Arten von Ursachen, zwischen denen er auch von »religiöser Moral« oder, sofern unterscheidet. Es zeichnet sich dadurch die entsprechende Religion ihre ethischen aus, daß es im Bereich der animalischen Normen auf ein göttliches Wesen bzw. Natur, also bei Mensch und Tier und dadessen Willen zurückführt, von »theono- mit bei mit Bewußtsein ausgestatteten mer Moral« sprechen. Die theologische Lebewesen in Erscheinung tritt: »Die UrMoral läuft nach Schopenhauer darauf sache im engsten Sinne ist die, nach welhinaus, daß ein Gott den Menschen be- cher ausschließlich die Veränderungen im stimmte Gebote oder Gesetze auferlegt unorganischen Reiche erfolgen […]. Die und ihnen – je nachdem, ob sie diese befol- zweite Form der Kausalität ist der Reiz: gen oder nicht – Belohnung oder Strafe in sie beherrscht das organische Leben als Aussicht stellt. Sie »beruht […] wesentlich solches, also das der Pflanzen, und den auf der Voraussetzung der Abhängigkeit vegetativen, daher bewußtlosen Theil des des Menschen von einem andern, ihm ge- thierischen Lebens […]. Die dritte Form bietenden und Belohnung oder Strafe an- der Kausalität ist das Motiv: unter dieser kündigenden Willen, und ist davon nicht leitet sie das eigentlich animalische Leben, zu trennen.« (E 164) Schopenhauer ist also das Thun, d. h. die äußern, mit Beder Auffassung, daß sich die präskriptive wußtseyn geschehenden Aktionen, aller Ethik bzw. die imperative Form der Ethik thierischen Wesen.« (G 62; vgl. a. N 221 f. insofern an der theologischen Moral ori- u. E 68 ff.) Angesichts der Tatsache, daß entiert, als auch sie Normen erläßt, die der ein Motiv der Erkenntnis bedarf, um zu Mensch befolgen solle. wirken, beschreibt es Schopenhauer geAngesichts der Tatsache, daß die theo- legentlich als »durch das Erkennen hinlogische Moral das Verhalten des Men- durchgehende Kausalität« (E 70; vgl. a. schen mit Sanktionen belegt, fördert sie E 161), so wie er umgekehrt in der Ernach Schopenhauer eine Gesinnung, die kenntnis bzw. im Intellekt das »Medium gerade nicht vom eigentlich moralischen der Motive« (G 63; vgl. a. N 267, E 139 Wert der Handlung bestimmt ist: »Das sowie W II 205 f., 335 u. 446) erblickt.152 bedingte Sollen […] kann freilich kein ethischer Grundbegriff seyn, weil Alles, 152 In diesem Zusammenhang betont Schowas mit Hinsicht auf Lohn oder Strafe penhauer immer wieder, daß der Intellekt 238
Lemmata Genauer gesagt ist ein Motiv ein als Ziel oder Zweck vorgestellter Zustand, der einen Menschen oder ein Tier zu einem bestimmten Verhalten bewegt oder veranlaßt.153 Dabei wirkt es – ungeachtet seiner Abhängigkeit vom Intellekt – mit derselben Notwendigkeit wie jede andere Ursache. So erklärt Schopenhauer: »Allein hiedurch verliert das Gesetz der Kausalität schlechterdings nichts an seiner Sicherheit und Strenge. Das Motiv ist eine Ursache und wirkt mit der Nothwendigkeit, die alle Ursachen herbeiführen.« (ebd.; vgl. a. W I 373, N 222 u. 274, E 74 f. u. 261 sowie W II 388) Dabei vertritt Schopenhauer die Auffassung, eine Handlung bzw. ein Verhalten werde nicht durch das bloße Motiv determiniert, sondern dadurch, daß es mit der Disposition des entsprechenden Lebewesens – seinem empirischen Charakter – zusammenwirke. Wäre beides – Motiv sowie empirischer Charakter – bekannt, so ließe sich genau prognostizieren, was das Lebewesen tun würde. Schopenhauer formuliert das wie folgt: »Sind diese Beiden gegeben, so erfolgt [die That] unausbleiblich. Damit eine andere entstände, müßte entweder ein anderes Motiv oder ein anderer Charakter gesetzt werden. Auch würde jede That sich mit Sicherheit vorzu »praktischen Zwecken« (W II 335), also »bloß zum Dienste des Willens bestimmt [ist].« (N 267) 153 Schopenhauer greift zu kurz, wenn er das Motiv einfach mit einem »Objekt« (E 53) gleichsetzt. Entscheidend ist, daß es darüber hin aus erkannt wird. In diesem Sinne stellt Schopenhauer fest: »Zur Wirksamkeit der Motive ist nicht bloß ihr Vorhandenseyn, sondern auch ihr Erkanntwerden erfordert« (W I 371; vgl. a. W II 334 f.). Freilich ist auch diese Formulierung insofern nicht präzise genug, als die Erkenntnis bzw. Vorstellung nicht etwa zum Motiv hinzutreten muß, sondern ihm gleichsam als konstitutives Merkmal angehört.
Motiv hersagen, ja, berechnen lassen« (E 95; vgl. a. W I 367 u. N 274).154 Was nun das Motiv erklärt, ist – nach Schopenhauer – nicht etwa, daß es einen Willen gibt und welche Beschaffenheit dieser hat, sondern daß er in einer konkreten Situation diese oder jene Richtung einschlägt: »Diese Akte des Willens haben aber immer noch einen Grund außer sich, in den Motiven. Jedoch bestimmen diese nie mehr, als das was ich zu dieser Zeit, an diesem Ort, unter diesen Umständen will; nicht aber daß ich überhaupt will, noch was ich überhaupt will, d. h. die Maxime, welche mein gesammtes Wollen charakterisirt.« (W I 150; vgl. a. W I 171 u. 367 u. W II 418) Damit stuft Schopenhauer den empirischen Charakter – ähnlich wie die Naturkräfte – als eine qualitas occulta ein, für die sich kein Grund angeben läßt. Mehr noch, er betrachtet ihn darüber hinaus als unveränderlich. Dies aber bedeutet, daß ihn kein Motiv zu modifizieren vermag. Schopenhauer bringt diesen Befund mit den Worten »velle non discitur« (W I 370 u. 457) zum Ausdruck. Obgleich das Motiv eine Art von Ursache darstellt und daher unter den Satz vom zureichenden Grunde des Werdens fallen müßte, behält ihm Schopenhauer – mit dem Satz vom zureichenden Grunde des Wollens bzw. dem Gesetz der Motivation – eine eigene Form des Satzes vom zureichenden Grunde vor, dem angeblich eine eigene Klasse von Objekten, das Subjekt des Wollens, entspricht. Inhaltlich besagt der genannte Satz, der als apriorisches Naturgesetz streng allgemeingültig ist, 154
Vergegenwärtigt man sich, daß ein Motiv durch die Erkenntnis vermittelt ist, so leuchtet ein, daß Schopenhauer dieser bei der Erklärung einer Handlung ein beträchtliches Gewicht beimißt (vgl. W I 164 u. 370).
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Motiv
Lemmata
daß »jede Handlung nur in Folge eines zu- vom Motiv zu begreifen, ja es könne soreichenden Motivs eintreten kann« (E 161; gar die trügerische Auffassung entstehen, vgl. a. E 205, 245 u. 261). Schopenhauer der Willensakt gehe aus Freiheit hervor rechtfertigt die privilegierte Stellung des (vgl. N 273 f. u. E 79 f.). In diesem ZusamGesetzes der Motivation damit, daß ein menhang hebt Schopenhauer hervor, daß Verhalten, das sich einem Motiv verdankt, Motive beim Tier stets in Gestalt anschaunicht einfach nur von außen, d. h. als Be- licher Vorstellungen, beim Menschen wegung des Leibes, sondern darüber hin- hingegen auch in Gestalt abstrakter, beaus auch von innen, d. h. als Willensakt, grifflicher Vorstellungen auftreten. Wähzugänglich ist. Daher kann er feststellen: rend ein anschauliches Motiv an die jewei»[D]ie Motivation ist die Kausalität von lige Situation gebunden sei, könne sich ein innen gesehn.« (G 162) Mit anderen Wor- abstraktes, begriffliches auf Gegebenheiten, das Motiv bewirkt ein Ereignis, das ten beziehen, die nicht unmittelbar gegensowohl den Willen als auch den Leib be- wärtig seien. Dies aber bedeute, daß sich trifft, und zwar dergestalt, daß nicht etwa der Mensch einer größeren Anzahl mögder Willensakt die Bewegung des Leibes licher Handlungsalternativen bewußt sei: verursachen würde, sondern daß beide zu- »Der Mensch hingegen hat, vermöge seigleich stattfinden (vgl. G 161 f., W I 145, ner Fähigkeit nicht-anschaulicher Vor150 u. 172 f. sowie W II 289 f.). Mit dieser stellungen, vermittelst deren er denkt und Beobachtung bahnt sich Schopenhauer reflektirt, einen unendlich weiteren Geden Weg zur Erkenntnis des Dinges an sichtskreis, welcher das Abwesende, das sich, das er mit dem Willen gleichsetzt.155 Vergangene, das Zukünftige begreift: daDas Verhältnis zwischen dem Motiv und durch hat er eine sehr viel größere Sphäre dem Willensakt, den es hervorruft, zeich- der Einwirkung von Motiven und folglich net sich – im Gegensatz zur »Ursache im auch der Wahl, als das auf die enge Geengsten Sinne« und zum Reiz – durch eine genwart beschränkte Thier.« (E 73; vgl. a. Distanz aus, die auf der Vermittlung des W I 373 ff. u. N 221) Ist von einer Wahl Motivs durch den Intellekt beruht und mit die Rede, so heißt das freilich nicht, der diesem zunimmt. So stellt Schopenhauer Mensch könne sich im Sinne eines liberum fest, daß »das als Vorstellung sich darstel- arbitrium indifferentiae beliebig entscheilende Motiv und der darauf erfolgende den. Vielmehr geht es Schopenhauer nur Willensakt deutlich von einander geson- darum, daß der Mensch – im Vergleich dert bleiben, und zwar um so deutlicher, zum Tier – eine »komparative« oder »reje vollkommener der Intellekt ist« (N 266; lative« Freiheit (E 74 f. u. 188) genießt, vgl. a. N 270 ff. u. 282, E 76 ff. sowie W II die sich darin erschöpft, daß er nicht an 340 ff.). Damit werde es auch schwieri- die anschaulich gegebene Gegenwart geger, die Abhängigkeit des Willensa ktes bunden ist. Daß sich mit der Abstraktheit des Motivs eine größere Auswahl an 155 G 162: »[W]ie das Gesetz der Motivation Handlungsalternativen darbietet, tut der sich zu dem […] Gesetz der Kausalität verhält; Notwendigkeit, mit der sich das stärkste so diese vierte Klasse von Objekten für das Motiv durchsetzt, letztlich keinen AbSubjekt, also der in uns selbst wahrgenommene bruch. Schopenhauer resümiert das wie Wille, zur ersten Klasse. Diese Einsicht ist der folgt: »Obgleich nun Thier und Mensch Grundstein meiner ganzen Metaphysik.« 240
Lemmata mit gleicher Nothwendigkeit durch die Motive bestimmt werden, so hat doch der Mensch eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Thiere voraus, welche auch oft für eine Freiheit des Willens in den einzelnen Thaten angesehn worden, obwohl sie nichts Anderes ist, als die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann mit Nothwendigkeit bestimmt.« (W I 373; vgl. a. E 75 u. 80 ff.) Musik Schopenhauer weist der Musik insofern eine Sonderstellung innerhalb der Künste zu, als er ihre Aufgabe nicht etwa in der Darstellung von Ideen, sondern des Willens selbst erblickt. Diesen drückt sie nach seiner Auffassung unmittelbar – das heißt, ohne Vermittlung durch Ideen – und im Gegensatz zu den Ideen, die als Stufen der Objektivation desselben partikular sind, in seiner Totalität aus: »Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind« (W I 324; vgl. a. W I 322 f. u. 330 sowie W II 527). Damit kommt der Musik ein höherer Grad an Allgemeinheit zu als den anderen Künsten, die auf einzelne Ideen beschränkt sind. Sie ist, wie Schopenhauer erklärt, die »ausgedehnteste[]« (W II 534) unter den Künsten. Da die Musik mit dem Willen diejenige Instanz zum Ausdruck bringt, welche das Wesen des Menschen ausmacht und ihn letztlich bestimmt, spricht sie ihn mit einer besonderen Intensität an. Ihre Wirkung ist des-
Musik halb »sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der andern Künste« (W I 324; vgl. a. W II 527 u. 534 sowie P II 475). Freilich ist sich Schopenhauer darüber im klaren, daß der Wille als Ding an sich nicht unmittelbar zugänglich ist und daß er seine Konzeption der Musik nicht im Sinne eines strengen Beweises einsichtig machen kann. So stellt er fest: »[W]elchen Aufschluß jedoch zu beweisen, ich als wesentlich unmöglich erkenne; da er ein Verhältniß der Musik, als einer Vorstellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn kann, annimmt und festsetzt, und die Musik als Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar vorgestellt werden kann, angesehn haben will.« (W I 323) Vergegenwärtigt man sich, daß auch die Philosophie das Ding an sich als das Wesen der Welt zum Gegenstand hat, so kann man nachvollziehen, daß Schopenhauer der Musik geradezu einen philosophischen Rang zuerkennt: »Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi.« (W I 332)156 Schopenhauer beschreibt das Verhältnis der Musik zur empirischen Wirklichkeit sowie zu den Ideen, die ihr zugrunde liegen, als »Analogie« (W I 323 f., 328 f. u. 331) bzw. »Parallelismus« (W I 324 u. W II 526).157 So legt er dar, daß die ein156
Den Unterschied zwischen beiden Bereichen erblickt Schopenhauer darin, daß die Philosophie – anders als die Musik – mit Begriffen arbeitet. 157 Genauer gesagt stehen die empirische Wirklichkeit und die Musik insofern auf einer Stufe, als sie beide Erscheinungen des Willens sind. Besteht eine Analogie zwischen ihnen, so beruht sie auf dem metaphysischen Ursprung im Willen, den sie teilen: »Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache ansehn, welche selbst
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Musik
Lemmata
zelnen Stimmen des vierstimmigen Sat- den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, zes der Stufenfolge der Ideen entsprechen die Lustigkeit, die Gemüthsruhe selbst, (vgl. W I 324 ff. u. W II 526), und ordnet gewissermaaßen in abstracto, das Wesentder obersten, die Melodie artikulieren- liche derselben« (W I 328). Damit erweist den Stimme die Idee des Menschen zu sich die Musik als eine »ganz allgemeine (vgl. W I 326 u. W II 526). Darüber hinaus Sprache« (W I 322; vgl. a. W I 329 ff. u. erblickt Schopenhauer in der Entwick- P II 472), deren Denotat weniger die emlung von Melodie, Harmonie und Rhyth- pirische Wirklichkeit als deren metaphysimus einen Ausdruck der Bewegung des scher Grund ist bzw. die »zu allem PhysiWillens zwischen Wunsch und Befriedi- schen der Welt das Metaphysische, zu aller gung bzw. Entzweiung und Versöhnung Erscheinung das Ding an sich darstellt.« (vgl. W I 326 f. sowie W II 530, 532 u. 534). (W I 330) In diesem Zusammenhang beÄhnlich interpretiert er den Gegensatz tont Schopenhauer, daß die Sprache der von Dur und Moll: »Aber wie wundervoll Musik mit der Sprache der Vernunft zwar ist die Wirkung von Moll und Dur! Wie die Allgemeinheit teile, sich aber darin erstaunlich, daß der Wechsel eines halben von ihr unterscheide, daß sie die AllgeTones, der Eintritt der kleinen Terz, statt meinheit nicht etwa begrifflich, sondern der großen, uns sogleich und unausbleib- anschaulich präsentiere (vgl. W I 329). Im lich ein banges, peinliches Gefühl auf- Gegensatz zu den Begriffen, die aus der dringt, von welchem uns das Dur wieder Anschauung abstrahiert seien und sich eben so augenblicklich erlöst.« (W I 328) deshalb als universalia post rem darböten, Trotz der genannten Analogien warnt seien mit der Musik universalia ante rem Schopenhauer davor, die Musik als di- gegeben (vgl. W I 331). rekte, unmittelbare Abbildung der emAngesichts der Tatsache, daß sich die pirischen Wirklichkeit oder der Ideen zu Musik primär auf den Willen und erst sebetrachten. Was sie zum Ausdruck bringe, kundär auf die empirische Wirklichkeit sei vielmehr auf einer allgemeineren bezieht, hält es Schopenhauer für ästheEbene angesiedelt: »Man darf jedoch bei tisch unangemessen, sie einzusetzen, um der Nachweisung aller dieser vorgeführ- empirische Begebenheiten darzustellen, ten Analogien nie vergessen, daß die Mu- oder in den Dienst entsprechender Texte sik zu ihnen kein direktes, sondern nur ein zu stellen (vgl. W I 328 ff., W II 527 f. u. mittelbares Verhältniß hat; da sie nie die P II 473 f.). Zwar räumt er ein, daß es – Erscheinung, sondern allein das innere aufgrund des gemeinsamen Ursprungs Wesen, das Ansich aller Erscheinung, den im Willen – durchaus möglich ist, Musik Willen selbst, ausspricht. Sie drückt da- durch empirische Begebenheiten zu illuher nicht diese oder jene einzelne und be- strieren, aber dabei habe erstere stets den stimmte Freude, diese oder jene Betrüb- Vorrang gegenüber den letzteren zu wahniß, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder ren. So scheint es ihm passender, »daß der Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemüthsruhe Text zur Musik gedichtet würde, als daß aus; sondern die Freude, die Betrübniß, man die Musik zum Texte komponirt.« (W II 528; vgl. a. W I 329) Mehr noch, letzdaher das allein Vermittelnde der Analogie Beider ist, dessen Erkenntniß erfordert wird, ten Endes genüge sich die Musik selbst, sie bedürfe »nicht der Worte des Gesanum jene Analogie einzusehn.« (W I 329) 242
Lemmata ges, oder der Handlung einer Oper« (W II 527).158 Ebenfalls auf dieser Linie bewegt sich Schopenhauer, wenn er sich kritisch dazu äußert, die Musik zu Zwecken zu nutzen, die ihr heterogen sind. Dies sei der Fall bei der »Kirchen-, Opern-, Militair-, Tanz-Musik u. dgl. m.« (P II 474). Hält man sich vor Augen, daß die Musik auf eine Darstellung des Willens hinausläuft, so ist es nicht weiter erstaunlich, daß sich ihre Wirkung insbesondere auf die emotionale und voluntative Seite des Menschen erstreckt. So erklärt Schopenhauer: »Weil die Musik nicht, gleich allen andern Künsten, die Ideen, oder Stufen der Objektivation des Willens, sondern unmittelbar den Willen selbst darstellt; so ist hieraus auch erklärlich, daß sie auf den Willen, d. i. die Gefühle, Leidenschaften und Affekte des Hörers, unmittelbar einwirkt, so daß sie dieselben schnell erhöht, oder auch umstimmt.« (W II 527) Freilich erblickt Schopenhauer in der Musik kein Stimulans, das sich damit begnügte, den Willen zu erregen, sondern er stellt sie insofern mit den anderen Künsten auf eine Stufe, als auch sie eine Haltung des reinen Erkennens hervorrufe. Diese habe zwar die Affektionen des Willens zum Gegenstand, doch sie würden nicht unmittelbar als solche, sondern mittelbar erlebt: »Wir sehn also hier die Willensbewegungen auf das Gebiet der bloßen Vorstellung hinübergespielt, als welche der ausschließliche Schauplatz der Leistungen aller schönen Künste ist; da diese durchaus verlangen, daß der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhalten. Daher dürfen die Affektionen des Willens selbst, 158 Daraus
ergibt sich, daß Schopenhauer die Instrumentalmusik der Vokalmusik tendenziell vorzieht (vgl. a. P II 473 ff. u. 478).
Mystik also wirklicher Schmerz und wirkliches Behagen, nicht erregt werden, sondern nur ihre Substitute, das dem Intellekt Angemessene, als Bild der Befriedigung des Willens, und das jenem mehr oder weniger Widerstrebende, als Bild des größern oder geringern Schmerzes.« (W II 531) Mystik Schopenhauer weist der Mystik im Zusammenhang mit seiner Lehre von der Verneinung des Willens eine wichtige Rolle zu. Zunächst einmal schätzt er die Mystiker, weil sie den Willen zum Leben durch Askese verneinen (vgl. W I 478 u. W II 717). Entscheidend ist jedoch, daß die Mystiker einen Zustand erreichen, in welchem der Wille tatsächlich überwunden ist. Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß sich dieser Zustand bloß negativ, nicht aber positiv beschreiben läßt. Insbesondere hebt er hervor, daß in der mystischen Erfahrung die Formen der Erkenntnis außer Kraft treten. Das zeige sich nicht zuletzt darin, daß sich der Mystiker dergestalt in den Grund der Wirklichkeit versenke, daß der Unterschied zwischen ihm selbst und diesem Grund bzw. zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben sei. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die Korrelation von Subjekt und Objekt als apriorisches Merkmal der Erkenntnis betrachtet, ist es nicht weiter erstaunlich, daß er die Mystik scharf von der Erkenntnis abgrenzt: »Mystik, im weitesten Sinne, ist jede Anleitung zum unmittelbaren Innewerden Dessen, wohin weder Anschauung noch Begriff, also überhaupt keine Erkenntniß reicht.« (W II 715) Daraus ergeben sich für Schopenhauer zwei Konsequenzen: Zum einen läßt sich die mystische Erfahrung, da sie nicht kognitiv ist, nicht mitteilen (vgl. W I 506, W II 715 u. P II 16), und zum andern tritt mit der Er243
Mystik kenntnis zudem die Wirklichkeit zurück, die sie zugänglich macht. Schopenhauer formuliert das wie folgt: »Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.« (W I 507) Damit erweist sich die Mystik letztlich als ein Weg der Weltüberwindung.159 Zwar beschrieben die Mystiker selbst den Zustand, den sie erreichten, durchaus mit – positiv gemeinten – Ausdrücken wie »Wiedergeburt in Gott, gänzliches Vergessen der eigenen Person und Versenken in die Anschauung Gottes« (W I 478), »Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u. s. w.« (W I 506), doch Schopenhauer besteht zu Recht darauf, daß »derselbe für das Denken nur durch Negationen ausgedrückt werden kann, für die sinnliche Anschauung aber durch symbolische Zeichen, in den Tempeln durch Dunkelheit und Schweigen bezeichnet wird« (W II 715). Er begründet seine Einschätzung damit, daß der mystische Zustand nur demjenigen, der ihn selbst erlebt, vertraut und daher nicht mitteilbar ist. Er stelle allenfalls eine »innere Wahrnehmung« dar, bei der es »kein Kriterium der Identität des Objekts verschiedener Subjekte giebt« (P II 16). Vergegenwärtigt man sich überdies, daß die mystische Erfahrung keine Erkenntnis darstellt, so wird deutlich, daß in diesem Zusammenhang auch nur im übertragenen Sinn von »Wahrnehmung« die Rede sein kann. Dennoch verwirft Schopenhauer die Mystik nicht, sondern bringt, sofern sie nicht den Anspruch erhebt, Erkenntnis zu liefern oder gar Philosophie zu sein, beträchtliches Wohlwollen für sie auf. Das 159 Schopenhauer
geht noch einen Schritt weiter und behauptet sogar, daß die Natur auf diese Weise vom Menschen erlöst wird. Dabei kann er sich auf Angelus Silesius und Meister Eckhart berufen (vgl. W I 471 f.).
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Lemmata liegt in erster Linie daran, daß sie dem zentralen Anliegen seines eigenen Denkens, der Verneinung des Willens, entgegenkommt. So ist es durchaus als Lob zu verstehen, wenn Schopenhauer erklärt, der Geist des Christentums komme in der deutschen Mystik am vollkommensten zum Ausdruck (vgl. W I 478), ja die Mystik bilde überhaupt den »Gipfelpunkt« (W II 715) aller Religionen. Was das Verhältnis der Mystik zur Philosophie anbelangt, so bietet sich dieses um einiges ambivalenter dar. Einerseits lehnt es Schopenhauer ab, die Mystik als bloßen Obskurantismus abzutun. So erklärt er in aller Entschiedenheit, »daß jede Philosophie, welche konsequenterweise jene ganze Denkungsart verwerfen muß, was nur geschehn kann, indem sie die Repräsentanten derselben für Betrüger oder Verrückte erklärt, schon dieserhalb nothwendig falsch seyn muß.« (W II 720) Anderseits betont er, daß sich die Philosophie – im Gegensatz zur Mystik – nicht auf individuelle, sondern auf allen Menschen zur Verfügung stehende, intersubjektive Erfahrung stütze und die Aufgabe habe, diese zu deuten. Im Ausgang von der »objektiven, Allen vorliegenden Erscheinung, und von den Thatsachen des Selbstbewußtseyns, wie sie sich in Jedem vorfinden« (W II 715), könne sie zu überprüfbaren Ergebnissen gelangen. Angesichts der Tatsache, daß der Philosoph einen Anspruch auf Objektivität erhebt und auch in der Lage ist, ihn einzulösen, warnt ihn Schopenhauer, »in die Weise der Mystiker zu gerathen und etwan, mittelst Behauptung intellektualer Anschauungen, oder vorgeblicher unmittelbarer Vernunftvernehmungen, positive Erkenntniß von Dem vorspiegeln zu wollen, was, aller Erkenntniß ewig unzugänglich, höchstens
Lemmata durch eine Negation bezeichnet werden kann.« (W II 716) Als eine Weise des Zugangs zur Wirklichkeit, deren Grundlage bloße Introspektion sei, ordnet Schopenhauer die Mystik dem Illuminismus zu. Im Gegensatz zum Rationalismus, der es auf objektive Erkenntnis bzw. deren Voraussetzungen abgesehen habe, sei der Illuminismus »nach innen gerichtet« (P II 16), mit anderen Worten, die Einsichten, die er liefere, seien lediglich subjektiv.160 So berufe er sich auf Instanzen wie »innere Erleuchtung, intellektuelle Anschauung, höheres Bewußtseyn, unmittelbar erkennende Vernunft, Gottesbewußtseyn, Unifikation u. dgl.« (ebd.) Den Unterschied zwischen der Mystik und anderen Formen des Illuminismus erblickt Schopenhauer darin, daß sie dem Bereich der Religion angehöre. Zwar lehnt er weder die Religion noch die mystische Ausprägung, in der sie auftreten kann, grundsätzlich ab, doch in seiner Eigenschaft als Philosoph stellt er fest: »Allein die Philosophie soll mittheilbare Erkenntniß, muß daher Ra160 Allerdings fragt sich, ob das entscheidende Defizit des Illuminismus schon darin besteht, daß er auf innere Zustände rekurriert, oder nicht vielmehr darin, daß er auf solche inneren Zustände rekurriert, die nur bestimmte Individuen erleben. Einer ähnlichen Präzisierung bedarf sicher auch Schopenhauers These, die menschliche Sprache sei lediglich zur Beschreibung äußerer, nicht aber innerer Wirklichkeit geeignet (vgl. P II 16). Bei genauerer Betrachtung stößt man freilich darauf, daß Schopenhauer den entscheidenden Punkt durchaus trifft. So beläßt er es keineswegs bei einer bloßen Dichotomie von Innen und Außen, sondern spricht – in Hinblick auf den Mystiker – ausdrücklich von einer »innern, positiven, individuellen Erfahrung« (W II 715) bzw. »einer Erfahrung, die zwar nicht Jedem zugänglich ist, sondern nur wenigen Begünstigten zu Theil wird« (W II 719).
Natur tionalismus seyn. Demgemäß habe ich, in der meinigen, zwar, am Schluß, auf das Gebiet des Illuminismus, als ein Vorhandenes, hingedeutet, aber mich gehütet, es auch nur mit Einem Schritte zu betreten« (P II 17). Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß Schopenhauer das Vorgehen bestimmter Philosophen, die sich als Rationalisten ausgeben, in Wirklichkeit aber dem Illuminismus nahestehen, in aller Schärfe kritisiert: »Hingegen das laute Berufen auf intellektuelle Anschauung und die dreiste Erzählung ihres Inhalts, mit dem Anspruch auf objektive Gültigkeit desselben, wie bei Fichte und Schelling, ist unverschämt und verwerflich.« (ebd.) Natur Schopenhauer mißt dem Begriff der Natur schon rein äußerlich ein hohes Maß an Bedeutung zu, indem er ihm das zweite, mit »Die Objektivation des Willens« überschriebene Buch von Die Welt als Wille und Vorstellung widmet. Inhaltlich geht es Schopenhauer darum, im Ausgang von einer empirischen Betrachtung der Welt als Vorstellung eine Metaphysik der Natur zu entwickeln, in deren Mittelpunkt der Gedanke steht, daß die Natur eine Erscheinung des als Wille zum Leben interpretierten Dinges an sich ist.161 In 161
An einer Stelle weicht Schopenhauer von dieser Konzeption ab und definiert die Natur nicht als Erscheinung des Willens, sondern als den Willen selbst: »Ueberhaupt bedeutet Natur das ohne Vermittelung des Intellekts Wirkende, Treibende, Schaffende. Daß nun eben dieses identisch sei mit Dem, was wir in uns als Willen finden, ist das alleinige Thema dieses zweiten Buchs, wie auch der Abhandlung ›Ueber den Willen in der Natur‹.« (W II 315) Freilich relativiert Schopenhauer diese Formulierung noch im gleichen Absatz, indem er nun zwischen der Natur und ihrem Inneren, dem Willen, unter-
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diesem Sinne erklärt Schopenhauer, daß auf welche die Dinge wirken: »[S] o bleibt »die ganze Natur die Erscheinung und dennoch immer Etwas, daran sich keine auch die Erfüllung des Willens zum Le- Erklärung wagen darf, sondern das sie imben ist.« (W I 349; vgl. a. W I 61, W II 708 mer voraussetzt, nämlich die Kräfte der u. P I 290 f.) Dieser gilt Schopenhauer um- Natur, die bestimmte Wirkungsart der gekehrt als der Kern oder das Wesen der Dinge, die Qualität, der Charakter jeder Natur (vgl. W I 412, N 286 f. sowie W II Erscheinung, das Grundlose, was nicht 208 f. u. 372 f.). Vergegenwärtigt man sich, von der Form der Erscheinung, dem Satz daß Schopenhauer die empirische Wirk- vom Grunde, abhängt, dem diese Form an lichkeit als Erscheinung deutet, die ihrer- sich fremd ist, das aber in sie eingegangen seits dem Satz vom Grunde unterworfen ist, und nun nach ihrem Gesetz hervortritt, ist, so leuchtet auch ein, daß er die Auf- welches Gesetz aber eben auch nur das fassung vertritt, die Natur sei der Notwen- Hervortreten bestimmt, nicht Das, was digkeit unterworfen: »Der ganze Inhalt hervortritt, nur das Wie, nicht das Was der der Natur, ihre gesammten Erscheinun- Erscheinung, nur die Form, nicht den Ingen, sind also durchaus nothwendig, und halt.« (W I 168; vgl. a. W I 172 u. 178) Als die Nothwendigkeit jedes Theils, jeder Er- Beispiele nennt Schopenhauer »die Kräfte scheinung, jeder Begebenheit, läßt sich je- der Undurchdringlichkeit, Schwere, Starrdesmal nachweisen, indem der Grund zu heit, Flüssigkeit, Kohäsion, Elasticität, finden seyn muß, von dem sie als Folge Wärme, Licht, Wahlverwandtschaften, abhängt.« (W I 361; vgl. a. W I 499 u. 569 Magnetismus, Elektricität u. s. w.« (ebd.; sowie W II 373 ff.) vgl. a. W I 178) 162 Stuft er diese als »grundEinerseits ist Schopenhauer davon los« (ebd.; vgl. a. W I 172 u. 178 f.) ein, so überzeugt, daß die Metaphysik – und da- tut er dies, weil sie nicht dem Satz vom mit auch jene der Natur – eine »wenn auch Grunde – also auch nicht der Kausalität – nur allgemeine, doch gründliche, klare unterworfen sind, sondern, wie er glaubt, und zusammenhängende Kenntniß aller Voraussetzung für das Auftreten von KauZweige der Naturwissenschaft« (W II 209) salität sind. Aus naturwissenschaftlicher voraussetzt, anderseits wird er nicht müde Sicht bieten sich die Naturkräfte insofern zu betonen, daß die Naturwissenschaft an als »qualitates occultae« (ebd.; vgl. a. W I eine Grenze stößt, die es im Ausgang von 172 u. 179 sowie W II 22 u. 371) dar, als metaphysischen Überlegungen zu über- sie nicht Gegenstand, sondern Bedingung winden gilt. Es handelt sich darum, daß in der Möglichkeit einer kausalen Erklärung der Natur bestimmte Kräfte wirken, die sind. Während nun die Naturwissenschafvon den Naturwissenschaften vorausge- ten die Existenz der Naturkräfte leugnesetzt werden, ohne von ihnen erklärt wer- ten bzw. allenfalls im Sinne einer petitio den zu können. Schopenhauer setzt diese principii unter der Hand voraussetzten Naturkräfte mit der Art und Weise gleich, (vgl. W I 169 f. u. 192, N 184 f. sowie W II 22, 366 f. u. 370), erblicke die Metaphyscheidet: »Die Beihülfe des Intellekts haben wir sik ihr »inneres Wesen« im Willen, der wegzudenken, wenn wir das Wesen des Willens an sich selbst erfassen und dadurch, so weit es möglich ist, ins Innere der Natur dringen wollen.« (ebd.)
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162 Ferner
zählt Schopenhauer auch die Lebenskraft zu den Naturkräften (vgl. W II 346).
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in ihnen erscheine. So erklärt Schopen- sche Eigenschaften und Qualitäten jeder hauer: »Denn Das eben, was einer Ursa- Art.« (W I 178; vgl. a. W II 349) Dabei beche, so unzählige Male sie eintreten mag, steht Schopenhauer auf der Eigenständigimmer die Wirksamkeit verleiht, ist eine keit der einzelnen Objektivationsstufen Naturkraft, ist als solche grundlos, d. h. und hält es – nicht zuletzt in Hinblick auf liegt ganz außerhalb der Kette der Ur- die materialistisch ausgerichteten Natursachen und überhaupt des Gebietes des wissenschaften – für unzulässig, die höheSatzes vom Grunde, und wird philoso- ren Stufen auf niedrigere zurückzuführen: phisch erkannt als unmittelbare Objek- »Es ist […], allem Gesagtem zufolge, eine tität des Willens, der das Ansich der ge- Verirrung der Naturwissenschaft, wenn sammten Natur ist; in der Aetiologie, hier sie die höheren Stufen der Objektität des Physik, aber nachgewiesen, als ursprüng- Willens zurückführen will auf niedere« liche Kraft, d. i. qualitas occulta.« (W I (W I 192; vgl. a. W I 57 u. 169 f. sowie W II 179; vgl. a. W I 172, W II 412 u. P II 154 ff.) 367 f. u. 370). Schopenhauer verleiht den NaturkräfWie bereits angedeutet wurde, ist Schoten, indem er sie als »Objektivation[en]« penhauer davon überzeugt, daß ein und oder »Objektitäten« (W I 178 ff., 207 u. dasselbe Prinzip, der Wille bzw. der Wille 273 ff.) des Willens einstuft, den Rang zum Leben, der gesamten Natur in all ihvon Ideen, wie er sie im dritten Buch von ren Erscheinungen zugrunde liegt (vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung syste- W II 372 u. 377 ff.). Zugunsten dieser Aufmatisch einführt. Obgleich er alle Na- fassung führt er an, daß sich überall in der turkräfte als Ideen betrachtet, setzt er Natur ähnliche Strukturen antreffen laskeineswegs alle Ideen mit Naturkräften sen: »Andererseits nun aber ist nicht zu gleich. In diesem Zusammenhang hebt übersehn, daß in allen Ideen, d. h. in alSchopenhauer hervor, daß sich die Natur- len Kräften der unorganischen und allen kräfte sowie die Ideen überhaupt in eine Gestalten der organischen Natur, einer hierarchische Ordnung einfügen, die sich und der selbe Wille es ist, der sich offenvon der unbelebten Natur über die Pflan- bart, d. h. in die Form der Vorstellung, zen und Tiere bis hin zum Menschen er- in die Objektität, eingeht. Seine Einheit streckt (vgl. N 272 f.). Innerhalb dieser muß sich daher auch durch eine innere Ordnung siedelt Schopenhauer die Na- Verwandtschaft zwischen allen seinen Erturkräfte auf der untersten Stufe an: »Als scheinungen zu erkennen geben.« (W I die niedrigste Stufe der Objektivation 193; vgl. a. W I 194 u. 206) Diese erblickt des Willens stellen sich die allgemeinsten Schopenhauer darin, daß es in der Natur Kräfte der Natur dar, welche theils in je- zu Konflikten zwischen den Objektivatioder Materie ohne Ausnahme erscheinen, nen des Willens kommt, die so beschaffen wie Schwere, Undurchdringlichkeit, theils sind, daß niedrigere Objektivationen in sich unter einander in die überhaupt vor- einen Gegensatz zueinander treten, deshandene Materie getheilt haben, so daß sen Aufhebung die »Erscheinung einer einige über diese, andere über jene, eben höhern Idee« (W I 195) beinhaltet. Freidadurch specifisch verschiedene Materie lich bleibt der Gegensatz, wie Schopenherrschen, wie Starrheit, Flüssigkeit, Ela- hauer erläutert, in seiner Aufhebung ersticität, Elektricität, Magnetismus, chemi- halten: »Kein Sieg ohne Kampf: indem 247
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die höhere Idee, oder Willensobjektiva- erhaltung angelegt sind (vgl. W I 412 u. tion, nur durch Ueberwältigung der nied- 494 f. sowie W II 703).163 Dabei gehe es der rigeren hervortreten kann, erleidet sie den Natur weniger um die Erhaltung des InWiderstand dieser, welche, wenn gleich dividuums als um jene der Gattung: »Die zur Dienstbarkeit gebracht, doch immer Natur freilich thut Alles nur für die Gatnoch streben, zur unabhängigen und voll- tung und nichts bloß für das Individuum; ständigen Aeußerung ihres Wesens zu weil ihr Jene Alles, Dieses nichts ist.« (P I gelangen.« (W I 196) Freilich stehen die 228; vgl. a. W I 349 u. 412) Obgleich SchoKonflikte zwischen den Objektivationen penhauer von der Zweckmäßigkeit der orkeineswegs unter dem Zeichen eines an- ganischen Natur überzeugt ist, konzediert haltenden Fortschritts, der schließlich zu er, daß nicht die gesamte organische Natur einer Aufhebung aller Gegensätze in ei- zweckmäßig ist (vgl. N 248 u. W II 386 f.). nem letzten Ziel führte, sondern Scho- Auch vertritt er keineswegs die Auffaspenhauer rechnet mit der Möglichkeit, sung, die Natur sei auf ein über die Erhaldaß sich die niedrigeren Objektivatio- tung der einzelnen Gattungen hinausgenen in ihrem Widerstand gegen die hö- hendes Telos hin geordnet: »Jene Harmoheren durchsetzen. Schopenhauer merkt nie geht nur so weit, daß sie den Bestand dazu an: »Daher also überhaupt die Last der Welt und ihrer Wesen möglich macht, des physischen Lebens, die Nothwendig- welche daher ohne sie längst untergegankeit des Schlafes und zuletzt des Todes, gen wären. Daher erstreckt sie sich nur indem endlich, durch Umstände begün- auf den Bestand der Species und der allstigt, jene unterjochten Naturkräfte dem, gemeinen Lebensbedingungen, nicht aber selbst durch den steten Sieg ermüdeten, auf den der Individuen. Wenn demnach, Organismus die ihnen entrissene Materie vermöge jener Harmonie und Akkomowieder abgewinnen, und zur ungehinder- dation, die Species im Organischen und ten Darstellung ihres Wesens gelangen.« die allgemeinen Naturkräfte im Unorgani(W I 197) Die beschriebenen Konflikte schen neben einander bestehn, sogar sich deutet Schopenhauer als Ausdruck eines wechselseitig unterstützen; so zeigt sich Willens, der mit sich selbst im Widerstreit dagegen der innere Widerstreit des durch liegt: »So sehn wir in der Natur überall alle jene Ideen objektivirten Willens im Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, unaufhörlichen Vertilgungskriege der Inund werden eben darin weiterhin die dem dividuen jener Species und im beständiWillen wesentliche Entzweiung mit sich gen Ringen der Erscheinungen jener Naselbst deutlicher erkennen.« (ebd.; vgl. a. turkräfte mit einander« (W I 214 f.). D aher W I 198 u. 414) kann Schopenhauer nicht umhin, den Daß sich in der Natur der Wille zum Le- »Mangel irgend eines haltbaren Endzwecben objektiviert, zeigt sich nach Schopen163 Schopenhauer ist davon überzeugt, daß hauer auch in der »unleugbaren Zweckmä- sich die Natur bei der Verfolgung ihrer Zwecke ßigkeit aller organischen Naturprodukte« von der lex parsimoniae (vgl. N 248 u. W II 569) (W I 206; vgl. a. W II 382 f. u. 385). Ge- leiten läßt, also in aller Regel nur das hervormeint sind damit die Pflanzen, die Tiere bringt, was gerade einmal genügt, um sie zu erreichen. In eine ähnliche Richtung weist auch sowie der Mensch, die, wie Schopenhauer der Grundsatz natura nihil agit frustra (vgl. P I versichert, auf Fortpflanzung und Selbst- 283 u. W II 489). 248
Lemmata kes« (W II 414) zu konstatieren.164 Einer weiteren Einschränkung unterliegen seine teleologischen Betrachtungen schließlich insofern, als sie sich lediglich auf die organische, nicht aber die unorganische Natur erstrecken, die keinen End-, sondern Wirkursachen unterworfen ist: »[So] sind die Endursachen (causae finales) der Leitfaden zum Verständniß der organischen Natur, wie die wirkenden Ursachen (causae efficientes) zu dem der unorganischen.« (W II 385; vgl. a. W II 394)165 Naturkraft Der Begriff der Naturkraft nimmt in der Metaphysik der Natur, wie sie Schopenhauer vor allem im zweiten Buch von Die Welt als Wille und Vorstel164 An einer anderen Stelle des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung ist jedoch davon die Rede, daß der Wille bereits in den Naturkräften »auf seinen Endzweck hinarbeitet« (W II 379). Darin braucht man keinen Widerspruch zu erblicken, sofern damit lediglich gemeint ist, daß der Wille auf die Selbsterhaltung des Lebens in der Gattung ausgerichtet ist. 165 Diese These relativiert Schopenhauer allerdings dadurch, daß er den Naturkräften eine Ausrichtung auf den Zweck des Lebens unterstellt (vgl. W II 379). Ist in diesem Zusammenhang gar davon die Rede, daß der »Weltgeist seine sinnvollen Melodien abspielt« (W II 380), so liegt sicherlich keine sachliche Annäherung an den wenig geschätzten Hegel, sondern allenfalls eine Metapher vor. Schopenhauer läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der Wille blind ist und damit kein geistiges Prinzip darstellt. So betont er wenige Zeilen weiter oben: »Statt nun, nach Weise des Anaxagoras, das uns bloß aus der animalischen Natur bekannte und auf ihre Zwecke allein berechnete Hülfsmittel einer Intelligenz herbei zu ziehn, welche von außen hinzukommend, die ein Mal vorhandenen und gegebenen Naturkräfte und deren Gesetze schlau benutzt hätte, um ihre, diesen eigentlich fremden Zwecke durchzusetzen, – erkennen wir, in jenen untersten Naturkräften selbst, schon jenen selben und Einen Willen« (W II 379).
Naturkraft lung sowie in der Abhandlung Ueber den Willen in der Natur entwickelt, eine zentrale Stellung ein. Genauer gesagt ist sie zwischen der empirischen Wirklichkeit auf der einen und dem Willen als Ding an sich auf der anderen Seite angesiedelt, zu denen sie in einem spezifischen, näher zu beschreibenden Verhältnis steht. Wichtig am Begriff der Naturkraft ist zunächst, daß er geeignet ist, die Grenzen der empirischen, vom Satz des zureichenden Grundes des Werdens bzw. dem Kausalitätsprinzip geleiteten Erkenntnis aufzuzeigen. Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß sich die Naturwissenschaften im wesentlichen auf morphologische Beschreibung und ätiologische Erklärung ihres Gegenstandes beschränken. Letztere bestehe darin, daß Ereignisse nach kausalen Gesetzen als Wirkungen anderer Ereignisse, die als ihre Ursachen fungieren, gedeutet werden: »Die Aetiologie […] lehrt uns, daß, nach dem Gesetze von Ursache und Wirkung, dieser bestimmte Zustand der Materie jenen andern herbeiführt, und damit hat sie ihn erklärt und das Ihrige gethan.« (W I 139) Freilich bleibe dabei im dunkeln, warum eine Ursache auf bestimmte Art und Weise wirke, und genau dies könne nicht im Zuge einer ätiologischen Erklärung einsichtig gemacht werden. So stellt Schopenhauer fest: »Denn in jedem Ding der Natur ist etwas, davon kein Grund je angegeben werden kann, keine Erklärung möglich, keine Ursache weiter zu suchen ist: es ist die specifische Art seines Wirkens, d. h. eben die Art seines Daseyns, sein Wesen. Zwar von jeder einzelnen Wirkung des Dinges ist eine Ursache nachzuweisen, aus welcher folgt, daß es gerade jetzt, gerade hier wirken mußte: aber davon daß es überhaupt und gerade so wirkt, nie.« (W I 249
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171) Daß nun tatsächlich eine bestimmte G 61, W I 168, 172, 179 u. 189 sowie W II Wirkung eintritt, führt Schopenhauer auf 22 u. 371) die jeweilige Naturkraft zurück, die sich Freilich bleibt Schopenhauer nicht bei in der Verbindung einer Ursache mit ih- der Naturkraft als qualitas occulta stehen, rer Wirkung äußert und ihr als »Bedin- sondern er plädiert dafür, dem empirigung« (W II 158 f.) bzw. »Voraussetzung« schen Zugang zur Natur einen metaphy(W I 140, 152 u. 156) zugrunde liegt. Dar- sischen zur Seite zu stellen: »Die Aetio aus folgert Schopenhauer: »Mithin ent- logie der Natur und die Philosophie der springt jede Wirkung aus zwei Faktoren, Natur thun einander nie Abbruch; soneinem innern und einem äußern: nämlich dern gehn neben einander, den selben aus der ursprünglichen Kraft dessen, wor- Gegenstand aus verschiedenem Gesichtsauf gewirkt wird, und der bestimmenden punkte betrachtend. Die Aetiologie giebt Ursache, welche jene nöthigt sich jetzt Rechenschaft von den Ursachen, welche hier zu äußern.« (E 85) Als Beispiele für die einzelne zu erklärende Erscheinung solche Naturkräfte führt Schopenhauer nothwendig herbeiführten, und zeigt, als etwa »Undurchdringlichkeit, Schwere, die Grundlage aller ihrer Erklärungen, Starrheit, Flüssigkeit, Kohäsion, Elastici- die allgemeinen Kräfte auf, welche in altät, Wärme, Licht, Wahlverwandtschaften, len diesen Ursachen und Wirkungen thäMagnetismus, Elektricität u. s. w.« (W I tig sind […]. Die Philosophie hingegen 168; vgl. a. W I 172 u. 178 sowie W II 202) betrachtet überall, also auch in der Natur, an. Er nennt sie auch »Kräfte der Natur, nur das Allgemeine: die ursprünglichen die bestimmte Wirkungsart der Dinge, Kräfte selbst sind ihr Gegenstand, und die Qualität, [den] Charakter jeder Er- sie erkennt in ihnen die verschiedenen scheinung« (ebd.).166 Angesichts der Tat- Stufen der Objektivation des Willens, der sache, daß sich diese Kräfte nicht ätiolo- das innere Wesen, das Ansich dieser Welt gisch erklären lassen, sondern – aus der ist« (W I 190 f.; vgl. a. G 61, N 204 sowie Perspektive der Ätiologie – im dunkeln P II 104 u. 155). Mehr noch, nach seiner bleiben, wählt Schopenhauer den Aus- Auffassung verlangt die Physik geradezu druck qualitas occulta, um sie zu bezeich- nach einer Metaphysik, will sie nicht einnen: »Jede Erklärung, die auf ein solches seitig bleiben: »Die Physik vermag nicht Verhältniß, davon weiter kein Warum ge- auf eigenen Füßen zu stehn, sondern befordert werden kann, zurückführt, bleibt darf einer Metaphysik, sich darauf zu stütbei einer angenommenen qualitas occulta zen; so vornehm sie auch gegen diese thun stehn: dieser Art ist aber auch jede ur- mag.« (W II 201; vgl. a. W II 23) sprüngliche Naturkraft.« (W I 121; vgl. a. Angesichts dieser Einschätzung erstaunt es nicht weiter, daß Schopenhauer reduktionistische Positionen wie den Ma166 Vgl. a. P II 104. Auf derselben Ebene wie die Naturkräfte siedelt Schopenhauer in der be- terialismus und den Naturalismus ablehnt. Während der Materialismus davon lebten Natur die Lebenskraft sowie bei Mensch und Tier den Willen qua Charakter an. Freilich ausgehe, »daß die Materie ein schlechthin verwendet der Philosoph den Ausdruck »Chaund unbedingt Gegebenes, nämlich unabrakter« in einem umfassenderen Sinne, wenn er hängig von der Erkenntniß des Subjekts vom »Charakter jeder [Hervorhebung d. Verf.] Vorhandenes […] sei« (W II 367), biete Erscheinung« (W I 168) spricht. 250
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sich der Naturalismus als »absolute Phy- sches aus Unorganischem (vgl. W I 649 u. sik« (W II 205 u. 371) bzw. »Physik ohne P II 178) noch physiologische Funktionen Metaphysik« (W II 204 u. 205) dar, die aus chemischen und physikalischen (vgl. prätendiere, eine erschöpfende Erklä- W I 195) ableiten. Vielmehr geht es Schorung der Wirklichkeit zu liefern. Kenn- penhauer darum, daß »alle ursprünglizeichnend für den Materialismus ist nach chen Kräfte der Natur als solche erkannt Schopenhauer das Ansinnen, die Lebens- und aufgestellt [werden]« (W I 170). Für kraft sowie die Naturkräfte auf mechani- ihn ist das »Verkennen und Leugnen ursche Vorgänge zu reduzieren und dadurch sprünglicher und für sich bestehender Naletztlich zu leugnen: »[E]r leugnet näm- turkräfte eben so fehlerhaft […] wie die lich alle jene ursprünglichen Kräfte weg, grundlose Annahme eigenthümlicher indem er sie alle, und am Ende auch die Kräfte, wo bloß eine besondere ErscheiLebenskraft, vorgeblich und scheinbar zu- nungsart schon bekannter Statt findet.« rückführt auf die bloß mechanische Wirk- (W I 192 f.; vgl. a. W I 188 f.) samkeit der Materie« (W II 367; vgl. a. W I Vergegenwärtigt man sich, daß Scho169 f. u. 191 f. sowie P II 126 f.). Dem Natu- penhauer die Naturkräfte als Voraussetralismus hingegen als einer »rein physika- zung kausaler Vorgänge betrachtet, so lischen Betrachtungsart« (W II 207) wirft läßt sich nachvollziehen, daß sie nach seiSchopenhauer vor, er baue zwar auf der ner Auffassung nicht dem Satz vom zureiVoraussetzung der Naturkräfte auf, könne chenden Grunde unterworfen sind bzw. aber diese nicht weiter einsichtig machen in Rekurs darauf erklärt werden können. (vgl. W II 206, 366 u. 371). Da dies allein Vielmehr seien sie etwas, »davon kein der Metaphysik vorbehalten bleibe, kon- Grund je angegeben werden kann, keine statiert Schopenhauer, daß »niemals die Erklärung möglich, keine Ursache weiter Physik auf den Thron der Metaphysik ge- zu suchen ist« (W I 171; vgl. a. W I 178 setzt werden kann« (W II 366).167 u. 216). Das bedeutet insbesondere, daß Anders als der Materialismus und der die Naturkräfte – als »metaphysisches Naturalismus lehrt Schopenhauer, daß Substrat« (W II 291) bzw. »metaphysische die Naturkräfte – ebenso wie die Lebens- Grundlage« (W II 352) empirischer Ereigkraft (vgl. P II 176)168 – als »unauflösliches nisse – nicht selbst räumlich, zeitlich und Residuum« (W I 170) nicht auf andere kausal verfaßt sind (vgl. W I 178 sowie Naturkräfte oder gar die bloße Materie W II 352 u. 377). Vor diesem Hintergrund reduziert werden können, sondern eigen- spricht ihnen Schopenhauer gar »Aeterniständig sind. So könne man weder Organi- tät und Ubiquität« (W II 552) zu. In ihrem Verhältnis zu den empirischen 167 Ferner kritisiert Schopenhauer am MaGegenständen bestimmt Schopenhauer terialismus sowie am Naturalismus, daß sie die die Naturkräfte als das »innere Wesen Bedingtheit der Erkenntnis durch das Subjekt der […] Erscheinungen« (W I 140; vgl. a. leugnen (vgl. W II 207 u. 367). 168 Den Unterschied zwischen den NaturW I 152), aber auch als ihre »ursprünglikräften und der Lebenskraft erblickt Schopen- chen Eigenschaften« (W II 22) oder den hauer darin, daß erstere der unorganischen und »Charakter jeder Erscheinung« (W I 168). damit einer niedrigeren Stufe der ObjektivaGemeint ist damit etwas, was dem Gegention des Willens angehören, letztere hingegen stand essentiell ist, und zwar insofern, als der organischen Natur (vgl. P II 104 u. 176). 251
Naturkraft es ausmacht, wie dieser wirkt: »[E]s ist die specifische Art seines Wirkens, d. h. eben die Art seines Daseyns, sein Wesen.« (W I 171; vgl. a. W I 188) Dabei sei die Naturkraft nicht selbst gegeben, sondern »offenbar[e]« (W I 216) sich in den Erscheinungen und werde durch eine Abstraktion »aus der anschaulichen Vorstellung« (W I 156) erfaßt. Was hingegen das Verhältnis der Naturkraft zum Willen anbelangt, so äußert sich Schopenhauer nicht immer ganz klar. Einerseits scheint er die Naturkraft – ähnlich wie die Lebenskraft (vgl. P II 104 u. 178) – mit dem Willen gleichzusetzen, ja er spricht geradezu von einer »Identität unseres Willens mit jenem uns bis dahin unbekannten x, das in aller Kausalerklärung übrig bleibt.« (N 288; vgl. a. W II 315 u. 362 sowie P II 178) Anderseits stuft Schopenhauer den Willen als das »innere Wesen« (N 279) der Naturkraft ein, als das, was »in jeder blindwirkenden Naturkraft [erscheint]« (W I 155) bzw. »allen Kräften der unorganischen Natur zum Grunde lieg[t]« (W II 343). Freilich könnte man diese Diskrepanz so auflösen, daß man den Willen lediglich im zweiten Fall als Ding an sich, im ersten hingegen als eine Art empirischer Disposition auffaßt, der ihrerseits der Wille als Ding an sich zugrunde läge. Dafür daß die zweite These, nach welcher sich der Wille in der Naturkraft offenbart, die maßgebliche ist, spricht vor allem, daß Schopenhauer nicht müde wird, die Naturkraft als »Objektivation des Willens« (W I 178, 181 ff., 191 u. 195) oder »Erscheinung des Willens« (W I 185 u. W I 195) zu charakterisieren. Man könnte also sagen, daß der Wille als Ding an sich in den Naturkräften und diese in den empirischen Dingen in Erscheinung treten. Schopenhauer erläutert das an252
Lemmata hand des folgenden Beispiels: »In der unorganischen Natur objektivirt der Wille sich zunächst in den allgemeinen Kräften, und erst mittelst dieser in den durch Ursachen hervorgerufenen Phänomenen der einzelnen Dinge.« (W II 349) 169 Bei alledem geht der Philosoph davon aus, daß es verschiedene, hierarchisch gegliederte »Stufe[n] der Objektivation des Willens« (W I 178 f., 182 f., 185, 191 u. 195) gibt, die von den niederen der unorganischen Natur über jene der organischen Natur bis hin zu den höheren, sich zunehmend individuell ausgestaltenden reichen (vgl. W I 178 f.). Während er in Hinblick auf die organische Natur nicht mehr von Natur-, sondern von Lebenskraft spricht, gebraucht er bei Mensch und Tier Ausdrücke wie »Charakter« (W I 179) oder »Wille« (P II 104), letzteren wohl, um den Willen als eine – sei es empirische, sei es intelligible – Disposition zu bezeichnen. So erscheine das Ding an sich »in der erkenntnißlosen Natur […] als Naturkraft, höher hinauf als Lebenskraft, in Thier und Mensch aber [erhalte es] den Namen Willen« (P II 104). Sofern nun Schopenhauer die Naturkraft, die Lebenskraft sowie den Charakter als intelligible Disposition in Anschlag bringt, setzt er sie mit den Ideen gleich (vgl. W I 182 f. u. 207 f.), in denen er ihrerseits Akte des Willens erblickt: »Wir können, zu leichterer Faßlichkeit, diese verschiedenen Ideen als einzelne und an sich einfache Willensakte betrachten, in denen sein Wesen sich mehr oder weniger ausdrückt: die Indivi169 Genau darauf zielt Schopenhauer auch ab, wenn er die Naturkräfte als »unmittelbare Erscheinungen des Willlens« (W I 178) beschreibt, und zwar im Gegensatz zu den mittelbaren Erscheinungen, welche die weiter vom Ding an sich entfernten Gegenstände der empirischen Wirklichkeit sind.
Lemmata duen aber sind wieder Erscheinungen der Ideen, also jener Akte, in Zeit und Raum und Vielheit.« (W I 207) Wie freilich eine Disposition wie eine Kraft als Akt, der seinerseits ein Agens voraussetzt, auftreten kann, und wie solch ein zeitloses Agens einen Akt, der etwas Zeitliches ist, vollziehen soll, all das läßt Schopenhauer offen. Nichts Der Begriff des Nichts steht bei Schopenhauer in engem Zusammenhang mit der Verneinung des Willens zum Leben, die zur Erlösung des Menschen führt. Dabei besteht Schopenhauer darauf, daß das Nichts kein nihil negativum, sondern ein nihil privativum, also kein absolutes, sondern ein relatives Nichts ist. Dies bedeutet, daß nur in Beziehung auf ein bestimmtes Etwas sinnvoll von nichts bzw. einem Nichts die Rede sein kann (vgl. W I 504 f. u. W II 716). Schopenhauer gebraucht den Begriff des Nichts gewöhnlich in Bezug auf die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt der Vorstellung: »Das allgemein als positiv Angenommene, welches wir das Seiende nennen und dessen Negation der Begriff Nichts in seiner allgemeinsten Bedeutung ausspricht, ist eben die Welt der Vorstellung, welche ich als die Objektität des Willens, als seinen Spiegel, nachgewiesen habe.« (W I 505) Gelingt es dem Menschen, die Verneinung des Willens zu vollenden, so tritt nicht allein dieser, sondern auch das, als was er sich objektiviert, nämlich die Vorstellung bzw. empirische Wirklichkeit, zurück und löst sich in nichts auf: »Verneinung, Aufhebung, Wendung des Willens ist auch Aufhebung und Verschwinden der Welt, seines Spiegels. Erblicken wir ihn in diesem Spiegel nicht mehr, so fragen wir vergeblich, wohin er sich gewen-
Nichts det, und klagen dann, da er kein Wo und Wann mehr hat, er sei ins Nichts verloren gegangen.« (W I 506) Schopenhauer faßt das in der folgenden prägnanten Formel zusammen: »Kein Wille: keine Vorstellung, keine Welt.« (W I 507) Hält man sich vor Augen, daß das Nichts kein absolutes, sondern ein relatives ist, so bedeutet dies lediglich, daß sich der Erkenntnis nichts darbietet, nicht aber, daß es gar nichts mehr gäbe. Allerdings betont Schopenhauer, daß er – ohne Erkenntnis – nicht in der Lage ist, eine positive Bestimmung dessen, was nach der Verneinung des Willens übrig bleibt, zu geben. Zwar behaupteten die Mystiker, sie hätten eine Erfahrung dieses Zustands, doch diese sei keine Erkenntnis und lasse sich, da sie nicht allgemein zugänglich sei, auch nicht mitteilen: »Würde dennoch schlechterdings darauf bestanden, von Dem, was die Philosophie nur negativ, als Verneinung des Willens, ausdrücken kann, irgendwie eine positive Erkenntniß zu erlangen; so bliebe uns nichts übrig, als auf den Zustand zu verweisen, den alle Die, welche zur vollkommenen Verneinung des Willens gelangt sind, erfahren haben, und den man mit den Namen Ekstase, Entrückung, Erleuchtung, Vereinigung mit Gott u. s. w. bezeichnet hat; welcher Zustand aber nicht eigentlich Erkenntniß zu nennen ist, weil er nicht mehr die Form von Subjekt und Objekt hat, und auch übrigens nur der eigenen, nicht weiter mittheilbaren Erfahrung zugänglich ist.« (W I 506) Mehr noch, Schopenhauer warnt die Philosophie eindringlich davor, ihre Grenzen zu überschreiten, das heißt, »in die Weise der Mystiker zu gerathen, und etwan, mittelst Behauptung intellektualer Anschauungen, oder vorgeblicher unmittelbarer Vernunftvernehmungen, posi 253
Notwendigkeit
Lemmata
tive Erkenntniß von Dem vorspiegeln zu (G 107) Gemeint ist damit, daß jedes Obwollen, was, aller Erkenntniß ewig un- jekt bzw. jede Vorstellung von einem anzugänglich, höchstens durch eine Nega- deren Objekt bzw. einer anderen Vorsteltion bezeichnet werden kann.« (W II 716) lung abhängt und daß diese Abhängigkeit Deshalb hält er sich einiges darauf zugute, eine notwendige ist. Ebenso wie der Satz daß seine eigene Philosophie »auf ihrem vom zureichenden Grunde ist damit auch Gipfelpunkte angelangt, einen negativen die Annahme einer notwendigen AbhänCharakter annimmt, also mit einer Nega- gigkeit der Objekte bzw. Vorstellungen tion endigt.« (ebd.) a priori gültig (vgl. G 107). Angesichts der Tatsache, daß die emDas trifft – nach Schopenhauer – sopirische Wirklichkeit aufgehoben wird, wohl auf das Verhältnis von Ursache und wenn sich die Verneinung des Willens Wirkung (vgl. G 56 u. 107) als auch auf das vollendet, überrascht es keineswegs, daß Verhältnis von Grund und Folge im allgesie – nach Schopenhauer – für diejenigen, meinen (vgl. W I 114 u. E 67) zu. Dabei die den entsprechenden Zustand erreicht fallen nach Schopenhauer neben der Urhaben, ebenfalls nichts ist. So beendet sache im engeren Sinne auch der Reiz und Schopenhauer den vierten Teil des ersten das Motiv unter den Begriff der kausalen Bandes von Die Welt als Wille und Vorstel- Abhängigkeit (vgl. E 68), das heißt, nach lung mit folgenden Worten: »[W]as nach seiner Auffassung erfolgen Handlungen gänzlicher Aufhebung des Willens übrig mit derselben Notwendigkeit wie sämtlibleibt, ist für alle Die, welche noch des che anderen Ereignisse in der empirischen Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber Wirklichkeit. In diesem Sinne stellt er fest, auch umgekehrt ist Denen, in welchen daß »jede einzelne Handlung aus der Wirder Wille sich gewendet und verneint hat, kung des Motivs auf den Charakter mit diese unsere so sehr reale Welt mit allen strenger Nothwendigkeit folgt.« (W I 158; ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts.« vgl. a. W I 497 u. W II 374) In Anlehnung (W I 508) an die vier Klassen von Objekten und die ihnen entsprechenden Gestaltungen des Notwendigkeit Schopenhauer klärt den Satzes vom zureichenden Grunde unterBegriff der Notwendigkeit im Ausgang scheidet Schopenhauer zwischen vier Arvom Satz vom zureichenden Grunde, den ten der Notwendigkeit: der physischen, er in der Formulierung von Wolff über- der logischen, der mathematischen sowie nimmt: »Nihil est sine ratione cur potius der moralischen bzw. praktischen (vgl. sit, quam non sit. Nichts ist ohne Grund G 171, W I 568 u. 574 sowie E 47). Wähwarum es sei.« (G 17) Dieser Satz ist nach rend die physische Notwendigkeit die kauSchopenhauer insofern der »Ursprung« sale Abhängigkeit von Ursache und Wir(G 107 u. W I 114) oder das »Princip kung betrifft, besteht die logische darin, und der alleinige Träger aller und jeder daß sich eine Konklusion notwendig aus Nothwendigkeit« (G 170), als er »Aus- ihren Prämissen ergibt. Mathematische druck der im Innersten unsers Erkennt- Notwendigkeit liegt im Bereich der Zahnißvermögens liegenden Grundform len und geometrischen Figuren vor, moeiner nothwendigen Verbindung aller un- ralische bzw. praktische hingegen im Beserer Objekte, d. h. Vorstellungen [ist].« reich des Handelns. In allen vier Berei254
Lemmata chen gilt, daß die Folge zwingend aus dem Grund hervorgeht. Das entspricht genau der Definition der Notwendigkeit, die Schopenhauer vorschlägt: »Nothwendig-seyn kann nie etwas Anderes besagen, als aus einem gegebenen Grunde folgen.« (G 170; vgl. a. W I 75, 567 f. u. 574, E 47 sowie P I 122 f.) Beides – Notwendigkeit und Abhängigkeit von einem Grund – betrachtet Schopenhauer als »Wechselbegriffe« (G 170 f., W I 65 u. 567 sowie E 47, 49 u. 67). Die alternative Definition, nach der Notwendigkeit darauf hinausläuft, daß etwas nicht anders sein kann oder das Gegenteil von etwas nicht möglich ist, weist Schopenhauer als »bloße Worterklärung« (G 170, W I 570, E 47) zurück. Angesichts der Tatsache, daß alles, was notwendig ist, von einem Grund abhängt, betont Schopenhauer, daß es keine absolute, sondern nur eine bedingte Notwendigkeit gibt: »Demnach ist jede Nothwendigkeit bedingt; absolute, d. h. unbedingte, Nothwendigkeit also eine contradictio in adjecto.« (ebd.; vgl. a. W I 568 u. 570 sowie E 48) Der Notwendigkeit setzt Schopenhauer den Zufall entgegen. Vergegenwärtigt man sich, daß jede Folge notwendig aus einem Grund hervorgeht, so ist nachvollziehbar, daß er die Annahme eines absolut Zufälligen, von keinem Grund Abgeleiteten zurückweist und statt dessen konstatiert: »Folglich ist auch das Zufällige immer nur relativ: nämlich in Beziehung auf etwas, das nicht sein Grund ist, ist es ein solches.« (W I 568; vgl. a. E 48) Ähnlich wie der Satz vom Grunde, der ihr »Ursprung« ist, erstreckt sich auch die Notwendigkeit allein auf den Bereich der Erscheinungen, nicht aber auf jenen des Dinges an sich. So erklärt Schopenhauer, daß »jedes Wesen auf der Welt, wie
Notwendigkeit es einerseits Erscheinung und durch die Gesetze der Erscheinung nothwendig bestimmt ist, andererseits an sich selbst Wille sei, und zwar schlechthin freier Wille, da alle Nothwendigkeit allein durch die Formen entsteht, welche gänzlich der Erscheinung angehören, nämlich durch den Satz vom Grunde in seinen verschiedenen Gestalten« (W II 374; vgl. a. W I 158 f. u. 497 sowie W II 376, 620 u. 757). In diesem Zusammenhang gebraucht Schopenhauer auch die Formulierung, daß – hinsichtlich des Willens als Ding an sich – »transscendentale Freiheit« und – hinsichtlich der Erscheinung – »empirische[] Nothwendigkeit« (W II 374 f.) herrscht.170 Schopenhauer ist davon überzeugt, daß das Dasein eines jeden Menschen kein zufälliges ist, sondern auf einer »ursprünglichen Nothwendigkeit« (W II 573) beruht. 170 Allerdings nimmt Schopenhauer an, daß die Notwendigkeit, welche in der empirischen Wirklichkeit vorliegt, im Zuge der Verneinung des Willens insofern aufgehoben wird, als bestimmte Motive keine Wirkung mehr ausüben: »In solchem Fall sind z. B. die Genitalien, als Sichtbarkeit des Geschlechtstriebes, da und gesund; es wird aber dennoch, auch im Innersten, keine Geschlechtsbefriedigung gewollt: und der ganze Leib ist nur sichtbarer Ausdruck des Willens zum Leben, und dennoch wirken die diesem Willen entsprechenden Motive nicht mehr: ja, die Auflösung des Leibes, das Ende des Individuums und dadurch die größte Hemmung des natürlichen Willens, ist vollkommen und erwünscht.« (W I 497 f.) Daß in diesem Fall die Freiheit »in der Erscheinung eintreten kann« (W I 363), führt Schopenhauer darauf zurück, daß infolge einer Durchschauung des principium individuationis der Charakter des betreffenden Individuums außer Kraft gesetzt wird: »[A]ber eben dieses Ganze, der Charakter selbst, kann völlig aufgehoben werden, durch die oben angegebene Veränderung der Erkenntniß.« (W I 498) Freilich widerspricht Schopenhauer damit seiner Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters, denn auch eine Aufhebung läuft auf eine Veränderung hinaus.
255
Objekt Er begründet seine Auffassung mit dem merkwürdigen Argument, aus der bloßen Möglichkeit, nicht zu existieren, ergäbe sich für den Menschen, daß er tatsächlich nicht existierte: »Könnte er jemals nicht seyn; so wäre er schon jetzt nicht. Denn die Unendlichkeit der bereits abgelaufenen Zeit, mit der darin erschöpften Möglichkeit ihrer Vorgänge, verbürgt, daß was existirt nothwendig existirt.« (ebd.) Objekt Der Begriff des Objekts, der eine zentrale Stellung in Schopenhauers erkenntnistheoretischen Überlegungen inne hat, steht in einer apriorischen Korrelation zum Begriff des Subjekts und ist daher, wie Schopenhauer betont, im Sinne des transzendentalen Idealismus zu interpretieren: »Unser erkennendes Bewußtseyn […] zerfällt in Subjekt und Objekt, und enthält nichts außerdem. Objekt für das Subjekt seyn, und unsere Vorstellung seyn, ist das Selbe. Alle unsere Vorstellungen sind Objekte des Subjekts, und alle Objekte des Subjekts sind unsere Vorstellungen.« (G 41) Damit meint Schopenhauer, daß ein Objekt nur für ein Subjekt gegeben sein kann und daß umgekehrt ein Subjekt nur zusammen mit einem Objekt auftreten kann. Beide – Subjekt und Objekt – sind also nach seiner Auffassung »unzertrennlich« (W I 32). Mehr noch, er geht von einer Abhängigkeit des Objekts vom Subjekt aus, und zwar dergestalt, daß ein Objekt ohne ein Subjekt nicht nur nicht erkannt werden, sondern darüber hinaus nicht einmal existieren kann: »Die andere Hälfte aber, das Subjekt, liegt nicht in Raum und Zeit: denn sie ist ganz und ungetheilt in jedem vorstellenden Wesen; daher ein einziges von diesen, eben so vollständig, als die vorhandenen Millionen, mit dem Objekt die Welt als Vorstellung ergänzt: 256
Lemmata verschwände aber auch jenes einzige; so wäre die Welt als Vorstellung nicht mehr.« (W I 32; vgl. a. G 48, W I 38 u. W II 12) In diesem Zusammenhang fällt auf, daß Schopenhauer daraus, daß das Objekt ein Subjekt »voraussetzt« (W I 41 u. 137 f.) oder durch es »bedingt« (W I 141, W II 15, 19 u. 207 sowie P II 23 f.) ist, darauf schließt, daß es nicht mehr und nicht weniger als eine bloße »Erscheinung« (W I 154 f. sowie W II 207 u. 228) oder »Vorstellung« (G 41, W I 47, 137 f. u. 154 f. sowie W II 14, 19 u. 228) ist.171 Dies entspricht der Lehre des transzendentalen Idealismus, den Schopenhauer folgendermaßen beschreibt: »Der wahre Idealismus hingegen ist eben nicht der empirische, sondern der transscendentale. Dieser läßt die empirische Realität der Welt unangetastet, hält aber fest, daß alles Objekt, also das empirisch Reale überhaupt, durch das Subjekt zwiefach bedingt ist: erstlich materiell, oder als Objekt überhaupt, weil ein 171 Es
liegt auf dieser Linie, daß Schopenhauer den Begriff eines »absoluten Objekts« (W II 370), das nicht von einem Subjekt abhinge, energisch zurückweist. Ferner hebt Schopenhauer hervor, daß das Subjekt als Voraus setzung des Objekts nicht selbst den Rang eines solchen innehat: »Denn das vorstellende Ich, das Subjekt des Erkennens, kann, da es, als nothwendiges Korrelat aller Vorstellungen, Bedingung derselben ist, nie selbst Vorstellung oder Objekt werden« (G 157; vgl. a. P II 46). Daraus folgert er, daß das Subjekt nicht erkannt werden könne bzw. es »kein Erkennen des Erkennens« (G 158) gebe. Gemeint ist damit allerdings nicht, daß sich das Subjekt jeglichem kognitiven Zugang entzieht, sondern lediglich, daß es nicht wie ein Objekt erkannt werden könne, da es als Voraussetzung der Erkenntnis eines Objekts nicht auf die Seite desselben rücken könne. Um diese Eigentümlichkeit des Subjekts zu beschreiben, greift er, wenn er auf den kognitiven Zugang zum Subjekt eingeht, vorsichtshalber auf Verben wie »erfassen« und »nachweisen« (P I 118) zurück.
Lemmata objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art und Weise der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität), vom Subjekt ausgeht, im Subjekt prädisponirt ist.« (W II 15) Freilich setzt Schopenhauer nicht einfach nur die Objekte mit Vorstellungen gleich, sondern er gebraucht diesen Ausdruck darüber hinaus, um die gesamte, Subjekt und Objekt umfassende Struktur des Bewußtseins zu bezeichnen: »Wir sind […] weder vom Objekt noch vom Subjekt ausgegangen; sondern von der Vorstellung, welche jene Beiden schon enthält und voraussetzt; da das Zerfallen in Objekt und Subjekt ihre erste, allgemeinste und wesentlichste Form ist.« (W I 55; vgl. a. W I 32, 65 f. u. 138 sowie W II 27) Obgleich Schopenhauer auf die apriorische Korrelation von Subjekt und Objekt gleich am Anfang des mit »Die Wurzel des Satzes vom zureichenden Grund« überschriebenen § 16 seiner Dissertation eingeht (G 41), hütet er sich, sie mit diesem Prinzip zu identifizieren. Er stellt vielmehr fest, daß Subjekt und Objekt in ihrer apriorischen Korrelation fundamentaler sind als dieses: »[S]o gehn Objekt und Subjekt, schon als erste Bedingung, aller Erkenntniß, daher auch dem Satz vom Grunde überhaupt, vorher« (W I 41). Was hingegen das genannte Prinzip betreffe, so bringe es nichts anderes zum Ausdruck als die Relation, in welcher die Objekte bzw. Vorstellungen zueinander stünden: »Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen unter einander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehn, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes
Objekt und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann.« (G 41; vgl. a. G 107 u. 177 sowie W I 32 u. 141 f.) Mit anderen Worten, jedes Objekt bzw. jede Vorstellung hängt nach apriorischen Gesetzen von anderen Objekten bzw. Vorstellungen ab, so daß keine von ihnen isoliert betrachtet werden kann. Genau dies meint Schopenhauer, wenn er von der »Dependenz, Relativität, Instabilität und Endlichkeit der Objekte unsers in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, Subjekt und Objekt befangenen Bewußtseyns« (G 175) spricht. Auf welche Weise die Objekte voneinander abhängen, variiert mit der Klasse, der sie angehören. Bereits in seiner Abhandlung Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (1813) unterscheidet Schopenhauer zwischen vier Klassen von Objekten, mit denen vier Formen des Satzes vom zureichenden Grunde korrelieren: den anschaulichen, empirischen Vorstellungen, den abstrakten, begrifflichen Vorstellungen, den reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit sowie dem Subjekt des Wollens, denen er den Satz vom zureichenden Grunde des Werdens, des Erkennens, des Seins sowie des Handelns zuordnet (vgl. G 41, 43 ff., 113 ff., 147 ff. u. 157 ff. sowie W I 56 f.). Der Vollständigkeit halber ist festzuhalten, daß Schopenhauer auch die Ideen als Objekte – genauer gesagt als »reine Objekt[e]« (P II 459) – betrachtet, die dem »reinen Subjekt des Erkennens« (ebd.) gegeben seien, aber nicht dem Satz vom zureichenden Grunde gehorchten. Obgleich sich Schopenhauer hütet, das Ding an sich mit einem Objekt zu verwechseln (vgl. W II 14), betont er immer wieder, daß sich die Wirklichkeit nicht in den Objekten erschöpft, sondern ihr etwas zugrunde liegt, das selbst nicht Ob257
Objektivation / Objektität jekt ist: »Dieses der Ergründung sich Entziehende aber ist eben das Ding an sich, ist dasjenige, was wesentlich nicht Vorstellung, nicht Objekt der Erkenntniß ist; sondern erst indem es in jene Formen eingieng, erkennbar geworden ist.« (W I 167; vgl. a. W II 226 f.) Da Schopenhauer das Ding an sich im Willen erblickt, läßt sich nachvollziehen, daß für ihn »alles Objekt der Wille [ist], sofern er Vorstellung geworden« (W I 352). Vergegenwärtigt man sich, daß sich das Kausalitätsprinzip bzw. der Satz vom zureichenden Grunde des Werdens nicht auf das Subjekt, sondern auf eine bestimmte Klasse von Objekten, nämlich die anschaulichen, empirischen erstreckt, ist es nicht weiter erstaunlich, daß sich Schopenhauer gegen den Versuch wendet, die Wirklichkeit allein vom Subjekt oder vom Objekt her verständlich zu machen. So warnt er: »Man hüte sich aber vor dem großen Mißverständniß, daß, weil die Anschauung durch die Erkenntniß der Kausalität vermittelt ist, deswegen zwischen Objekt und Subjekt das Verhältniß von Ursache und Wirkung bestehe; da vielmehr dasselbe immer nur zwischen unmittelbarem und vermitteltem Objekt, also immer nur zwischen Objekten Statt findet. Eben auf jener falschen Voraussetzung beruht der thörichte Streit über die Realität der Außenwelt, in welchem sich Dogmatismus und Skepticismus gegenüberstehn und jener bald als Realismus, bald als Idealismus auftritt. Der Realismus setzt das Objekt als Ursache, und deren Wirkung ins Subjekt. Der Fichte’sche Idealismus macht das Objekt zur Wirkung des Subjekts.« (W I 41) 172 Dennoch 172 Unter
dem »unmittelbaren Objekt« versteht Schopenhauer den Leib, sofern er nicht als Objekt thematisch ist, sondern unthema-
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Lemmata hält Schopenhauer beide Positionen nicht etwa für gänzlich abwegig, sondern lediglich für einseitig. Deshalb tritt er – gerade in Hinblick auf die Klärung des Problems der Erkenntnis – für eine wechselseitige Korrektur des subjektiven, idealistischen und des objektiven, realistischen Ansatzes ein: »Geht man z. B. vom Subjektiven aus, wie Berkeley, Locke und Kant, in welchem diese Betrachtungsweise ihren Gipfel erreichte, gethan haben; so wird man, obwohl, wegen der wirklichen Unmittelbarkeit des Subjektiven, dieser Weg die größten Vorzüge hat, dennoch eine theils sehr einseitige, theils nicht ganz gerechtfertigte Philosophie erhalten, wenn man sie nicht dadurch ergänzt, daß man das in ihr Abgeleitete ein ander Mal wieder als das Gegebene zum Ausgangspunkte nimmt und also, vom entgegengesetzten Standpunkt aus, das Subjektive aus dem Objektiven ableitet, wie vorhin das Objektive aus dem Subjektiven.« (P II 41 f.; vgl. a. N 268 ff. u. W II 318 ff.) Objektivation / Objektität Ist bei Schopenhauer von einer Objektivation bzw. Objektität des Willens die Rede, so ist damit gemeint, daß sich der Wille als Ding an sich in einem anderen, radikal von ihm geschiedenen Bereich – jenem der Vorstellung – darstellt. Unter einer Objektivation bzw. Objektität des Willens ist demnach eine »Anschauung«, »Erscheinung« oder »Vorstellung« (W I 143 ff., 221, 234, 438 u. 617 sowie W II 286) des Willens als tisch an der Konstitution von Objekten beteiligt ist, die ihrerseits durch ihn vermittelt sind. Dabei zeichnet sich der Leib dadurch aus, daß er – vermittelt durch sich selbst als einem unmittelbaren Objekt – auch die Position eines vermittelten Objekts einnehmen kann (vgl. G 100 f. sowie W I 31, 39 u. 48 f.).
Lemmata
Objektivation / Objektität
Ding an sich zu verstehen. In diesem Zu- daß der Satz vom zureichenden Grunde sammenhang spricht Schopenhauer gele- nicht etwa die Idee, sondern die empirigentlich auch – etwas weniger genau – von sche Wirklichkeit vom Willen als Ding einer »Sichtbarkeit« oder »Sichtbarwer- an sich durch eine kognitive Schranke dung« (W I 152, 155 u. 175) des Willens. trennt, so läßt sich auch nachvollziehen, Vor diesem Hintergrund nennt Schopen- daß Schopenhauer die Ideen als adäquate, hauer die »Welt als Vorstellung, sowohl im vollkommene Objektivationen des WilGanzen als in ihren Theilen, die Objekti- lens, die empirischen Dinge hingegen als tät des Willens« (W I 221), das heißt, sie inadäquate, unvollkommene hinstellt: ist für ihn »der Objekt, d. i. Vorstellung, »Der Wille ist das Ansich der Idee, die ihn gewordene Wille« (ebd.). vollkommen objektivirt; er auch ist das Schopenhauer differenziert zwischen Ansich des einzelnen Dinges und des daszwei Arten von Objektivationen bzw. Ob- selbe erkennenden Individuums, die ihn jektitäten des Willens, denen zwei Arten unvollkommen objektiviren.« (W I 234; von Vorstellungen entsprechen. Während vgl. a. W I 228, 235, 267 f., 323 u. 349)173 er die Ideen als unmittelbare ObjektivaEine besondere Art von Objektivation tionen bzw. Objektitäten desselben be- stellt die Musik dar. So vertritt Schopentrachtet, stuft er die – im Sinne des tran- hauer die Auffassung, daß sie – im Geszendentalen Idealismus ebenfalls als gensatz zu den anderen Künsten – nicht Vorstellungen geltenden – empirischen etwa die Ideen, sondern den Willen selbst Dinge lediglich als mittelbare ein: »Das ohne Rekurs auf dieselben zur Darsteleinzelne, in Gemäßheit des Satzes vom lung bringt: »Die Musik ist nämlich eine Grunde erscheinende Ding ist also nur so unmittelbare Objektivation und Abbild eine mittelbare Objektivation des Dinges des ganzen Willens, wie die Welt selbst es an sich (welches der Wille ist), zwischen ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielwelchem und ihm noch die Idee steht, als fältigte Erscheinung die Welt der einzeldie alleinige unmittelbare Objektität des nen Dinge ausmacht. Die Musik ist also Willens, indem sie keine andere dem Er- keineswegs, gleich den andern Künsten, kennen als solchem eigene Form ange- das Abbild der Ideen, sondern Abbild des nommen hat, als die der Vorstellung über- Willens selbst, dessen Objektität auch die haupt, d. i. des Objektseyns für ein Sub- Ideen sind« (W I 324; vgl. a. W II 527). jekt.« (W I 228; vgl. a. W I 222 u. 323) Daß Angesichts der Tatsache, daß Schopendie empirischen Dinge bloß mittelbare hauer von einer hierarchischen Ordnung Objektivationen des Willens sind, ist so der Ideen ausgeht, die von den Naturkräfzu verstehen, daß sie – im Gegensatz zu ten über die Arten der Pflanzen und Tiere den Ideen – dem Satz vom zureichenden bis hin zum Menschen reicht, erstaunt es Grunde unterworfen bzw. durch ihn ver- nicht weiter, daß er in Hinblick auf die mittelt sind. Schopenhauer siedelt diesen Objektivationen des Willens von »Abgewissermaßen zwischen dem metaphysischen Bereich, dem Wille als Ding an sich 173 Die Rede von »adäquaten« und »vollund Idee angehören, auf der einen Seite kommenen« Objektivationen des Willens ist und dem empirischen Bereich auf der an- natürlich insofern prekär, als sich dieser jeder deren Seite an. Vergegenwärtigt man sich, direkten, anschaulichen Erkenntnis entzieht. 259
Objektivität stufungen« und »Graden« bzw. von »Stufen der Objektivation des Willens« (W I 176 ff., 192 f., 197 f., 221, 274 u. 278 f., W II 527 sowie P II 156 f.) spricht, die letztlich in der Idee des Menschen kulminieren: »Die letzte Stufe nun aber ist die [Idee] der Menschheit; sie muß, meines Erachtens, die letzte seyn; weil auf ihr bereits die Möglichkeit der Verneinung des Willens, also der Umkehr von dem ganzen Treiben, eingetreten ist; wodurch alsdann diese divina commedia ihr Ende erreicht.« (P II 158; vgl. a. W I 236, 269 u. 280 f.) Objektivität Schopenhauer gebraucht den Begriff der Objektivität vor allem im Zusammenhang mit seiner Ästhetik bzw. seiner Lehre von der Erkenntnis der Ideen. Insbesondere zeichnet sich nach seiner Auffassung das Genie durch Objektivität aus, so daß Objektivität und Genialität für ihn gewissermaßen in eins fallen: »[S]o ist Genialität nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Richtung des Geistes« (W I 240; vgl. a. W I 254, W II 342 u. 450 sowie P II 110).174 Von der Sache her bedeutet Objektivität, daß sich das Subjekt vom die Erkenntnis beeinträchtigenden Willen ablöst, sich nicht mehr als Individuum, sondern als »reines Subjekt der Erkenntnis« erlebt und dabei die Ideen erfaßt, welche den Dingen zugrunde liegen. So legt Schopenhauer einerseits dar, daß »wir in der Betrachtung [derselben] nicht mehr unserer als Individuen, sondern als reinen willenlosen Subjekts des Erkennens uns 174 Bei
anderer Gelegenheit erklärt Schopenhauer, die Objektivität erreiche im Genie ihren »höchsten Grad« (W II 342). Dies bedeutet, daß Objektivität zwar nicht zwingend Genialität beinhaltet, Genialität aber stets auf Objektivität hinausläuft.
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Lemmata bewußt sind; und andererseits, daß wir im Gegenstande nicht das einzelne Ding, sondern eine Idee erkennen, welches nur geschehn kann, sofern unsere Betrachtung des Gegenstandes nicht dem Satz vom Grunde hingegeben ist, nicht seiner Beziehung zu irgend etwas außer ihm (welche zuletzt immer mit Beziehung auf unser Wollen zusammenhängt) nachgeht, sondern auf dem Objekte selbst ruhet.« (W I 267 f.; vgl. a. W II 342 u. 436 ff. sowie P II 459) Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer im Willen den Ursprung des Leidens erblickt, so erstaunt es nicht, daß er davon überzeugt ist, daß mit dem Zurücktreten des Willens »zugleich alle Möglichkeit des Leidens aufgehoben [ist], wodurch der Zustand der reinen Objektivität der Anschauung ein durchaus beglückender wird« (W II 436). Darüber hinaus spricht Schopenhauer auch bestimmten literarischen Gattungen geringere oder größere Objektivität zu, je nachdem, in welchem Maße sie die Idee der Menschheit darstellen: »In der Romanze drückt der Darstellende seinen eigenen Zustand noch durch Ton und Haltung des Ganzen in etwas aus: viel objektiver als das Lied, hat sie daher noch etwas Subjektives, dieses verschwindet schon mehr im Idyll, noch viel mehr im Roman, fast ganz im eigentlichen Epos, und bis auf die letzte Spur endlich im Drama, welches die objektiveste und in mehr als einer Hinsicht vollkommenste, auch schwierigste Gattung der Poesie ist.« (W I 313) Optimismus Schopenhauer erblickt im Optimismus in erster Linie eine Weltanschauung, nach welcher »das Daseyn dieser Welt als durch sich selbst gerechtfertigt« (W II 198; vgl. a. W II 678) und
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damit als intrinsisch gut erscheint. Unter Welt und die Unhaltbarkeit alles Optimisdieser Voraussetzung sei das menschli- mus« (W II 681) geliefert habe. che Leben ein Geschenk, das sich einem Der »Fundamentalunterschied aller gütigen, mit Erkenntnis begabten Wesen Religionen« besteht nach Schopenhauer verdanke (vgl. W II 667 u. 678 f.). Als be- darin, »ob sie optimistisch oder pessimisonders prägnante Form des Optimismus stisch sind, d. h. ob sie das Daseyn dieser nennt Schopenhauer die von Leibniz in Welt als durch sich selbst gerechtfertigt den Essais de Théodicée vertretene Auf- darstellen, mithin es loben und preisen, fassung, die Welt sei die beste aller mögli- oder aber es betrachten als etwas, das nur chen (vgl. W II 680 ff.). als Folge unserer Schuld begriffen werSchopenhauer weist den Optimismus den kann und daher eigentlich nicht seyn nicht einfach nur als »absurd« (W I 407 sollte« (W II 198; vgl. a. P II 427). Als u. W II 680) oder »falsch« (W II 684), son- optimistisch stuft er das Judentum, den dern als eine »wahrhaft ruchlose Den- Islam und das griechische sowie das römikungsart« (W I 408) zurück. Angesichts sche Heidentum, als pessimistisch hingeder vielfältigen Übel, welche die Wirk- gen den Brahmanismus, den Buddhismus lichkeit kennzeichneten, bedürfe es »nur sowie das Christentum ein. der Aufrichtigkeit […], um das Gegentheil des Optimismus zu erkennen« (W II 682). Organismus Schopenhauer führt den Angesichts dieses Befundes hat Schopen- Organismus als Teil der – aus Pflanze, hauer für Leibniz nicht mehr als bitteren Tier und Mensch bestehenden – organiSpott übrig: »Auf diesen [Leibniz] also zu- schen Natur ein, die er der unorganischen rückzukommen, kann ich der Theodicee, gegenüberstellt. In diesem Zusammendieser methodischen und breiten Entfal- hang weist er das Ansinnen der Naturwistung des Optimismus, in solcher Eigen- senschaften, die organische Natur auf die schaft, kein anderes Verdienst zugestehn, unorganische und damit eine höhere Stufe als dieses, daß sie später Anlaß gegeben derselben auf eine niedrigere zu reduziehat zum unsterblichen Candide des gro- ren, insofern als unangemessen zurück, ßen Voltaire; wodurch freilich Leibnitzens als es der Eigenständigkeit der in der orso oft wiederholte, lahme Exküse für die ganischen Natur wirkenden Kräfte nicht Uebel der Welt, daß nämlich das Schlechte gerecht werde: »Es ist […] eine Verirrung bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm der Naturwissenschaft, wenn sie die höheunerwarteten Beleg erhalten hat.« (ebd.) ren Stufen der Objektität des Willens zuZwar entfaltet Schopenhauer einigen rhe- rückführen will auf niedere; da das Vertorischen Aufwand, um die Übel der Welt kennen und Leugnen ursprünglicher und zu beklagen, doch bleibt er letztlich eine für sich bestehender Naturkräfte eben so argumentative Abwägung zwischen den fehlerhaft ist, wie die grundlose Annahme Alternativen des Optimismus und des Pes- eigenthümlicher Kräfte, wo bloß eine besimismus schuldig. Das mag nicht zuletzt sondere Erscheinungsart schon bekannter an seiner Überzeugung liegen, daß be- Statt findet.« (W I 192 f.) Die besondere, reits Hume in seinen Dialogues Concer- irreduzible Kraft, die im Organismus zum ning Natural Religion triftige Argumente Ausdruck kommt, ist nach Schopenhauer für die »trübsälige Beschaffenheit dieser die Lebenskraft, die – wie alle anderen 261
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Naturkräfte – eine Idee darstellt (vgl. W I durchgehenden »Zweckmäßigkeit aller or192 u. 196). Vor diesem Hintergrund wird ganischen Naturprodukte« (W I 206) aus verständlich, warum Schopenhauer in und führt sie, wie nicht anders zu erwarten der organischen Natur bzw. im Organis- ist, darauf zurück, daß »hier nicht zufällig mus die »Darstellung einer eigenen Idee« und planlos wirkende Naturkräfte, son(W I 192) erblickt.175 Nichtsdestoweniger dern ein Wille thätig gewesen sei« (N 235). ist es nach seiner Auffassung durchaus In diesem Zusammenhang unterscheilegitim, dem Wirken der niedrigeren Na- det Schopenhauer zwischen zwei Arten turkräfte in einem Organismus nachzuge- der Zweckmäßigkeit, der inneren sowie hen, sofern man sich im klaren ist, daß er der äußeren. Während die erstere darin nicht darin aufgeht: »Allerdings wirken besteht, daß die Teile eines Organismus im thierischen Organismus physikalische so aufeinander abgestimmt sind, daß »die und chemische Kräfte: aber was diese zu- Erhaltung desselben und seiner Gattung sammenhält und lenkt […] – das ist die daraus hervorgeht« (W I 206), betrifft die Lebenskraft: sie beherrscht demnach jene letztere das »Verhältniß der unorganiKräfte und modificirt ihre Wirkung, die schen Natur zu der organischen überhaupt, also hier nur eine untergeordnete ist. Hin- oder auch einzelner Theile der organigegen zu glauben, daß sie für sich allein schen Natur zu einander, welches die Ereinen Organismus zu Stande brächten, haltung der gesammten organischen Naist nicht bloß falsch, sondern, wie gesagt, tur, oder auch einzelner Thiergattungen, dumm.« (P II 176 f.; vgl. a. W I 192) möglich macht und daher als Mittel zu Angesichts der Tatsache, daß Schopen- diesem Zweck unserer Berurtheilung enthauer die Ideen als Objektivationen des gegentritt.« (W I 206 f.) Mit anderen WorWillens betrachtet, ist es keineswegs er- ten, es geht Schopenhauer darum, daß die staunlich, daß er den Organismus, in dem interne Struktur eines Organismus sowie zunächst eine Idee zum Ausdruck kommt, sein externes Verhältnis zu anderen Orgadarüber hinaus als Erscheinung des Wil- nismen und zur unorganischen Natur dem lens bzw. des Willens zum Leben interpre- Zweck der Selbsterhaltung der einzelnen tiert: »Aber eben der Organismus ist nur Spezies und der organischen Natur insgeder sichtbar gewordene Wille, auf welchen, samt dient. Schopenhauer präzisiert sein als das absolut Erste, stets Alles zurück- Verständnis von Zweckmäßigkeit in zweiweist: seine Bedürfnisse und Zwecke, in erlei Hinsicht: Zum einen betont er, daß jeder Erscheinung, geben das Maaß für die Zwecke in der organischen Natur zwar die Mittel, und diese müssen unter einan- äußerlich den vom Menschen gesetzten der übereinstimmen.« (N 249; vgl. a. W II Zwecken ähneln, nicht aber aus bewuß301 ff., 382, 385 u. 404 f. sowie P II 177) ter Überlegung hervorgegangen sind (vgl. Mehr noch, Schopenhauer geht von einer W I 648 u. W II 582 f.), und zum andern stellt er – im Sinne des transzendentalen 175 Darüber hinaus sieht Schopenhauer in Idealismus – fest, daß »sowohl die Zweckden einzelnen Spezies der organischen Natur mäßigkeit des Organischen, als auch die sowie in den menschlichen Individuen die Idee Gesetzmäßigkeit des Unorganischen, alder jeweiligen Spezies bzw. des jeweiligen Inlererst von unserm Verstande in die Nadividuums am Werk, die sich in der Sukzession tur hineingebracht wird, daher Beide nur ihrer Erscheinungen darstellt (vgl. W I 208 ff.). 262
Lemmata der Erscheinung, nicht dem Dinge an sich zukommen.« (W I 210; vgl. a. N 255) Angesichts der Angemessenheit der organischen Ausstattung eines Lebewesens in Hinblick darauf, wie es lebt, wirft Schopenhauer die Frage auf, »ob die Lebensweise sich nach der Organisation gerichtet habe, oder diese nach jener« (N 238). Richtig ist nach seiner Auffassung die zweite Antwort, denn allein sie mache verständlich, warum »jeder Theil des Thieres sowohl jedem andern, als seiner Lebensweise auf das genaueste entspricht« (N 239). Die Lebensweise aber ist, wie Schopenhauer glaubt, im Willen angelegt: »[D] er Wille ist das Erste, das Wesen an sich: seine Erscheinung […] ist das Thier, ausgerüstet mit allen Organen, die den Willen, unter diesen speciellen Umständen zu leben, darstellen.« (N 243) Vergegenwärtigt man sich, daß Organismen eine zweckmäßige Struktur aufweisen, so liegt es nahe, sie teleologisch – d. h. von ihrem Zweck her – zu erklären: »Der ausgesprochenen Beschaffenheit organischer Wesen zufolge ist die Teleologie, als Voraussetzung der Zweckmäßigkeit jedes Theils, ein vollkommen sicherer Leitfaden bei Betrachtung der gesammten organischen Natur« (W II 385). Dennoch ist Schopenhauer nicht der Auffassung, es gebe in diesem Bereich keine wirkenden Ursachen, so daß kausale Erklärungen ausgeschlossen wären, sondern es geht ihm lediglich darum, daß er den Endursachen bzw. den teleologischen Erklärungen den Vorrang gegenüber jenen zuerkennt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß kausale Erklärungen – anders als teleologische – angesichts eines Unerklärlichen zum Stillstand kommen: »Zu den Vorzügen der Endursachen gehört auch, daß jede wirkende Ursache zuletzt immer
Organismus auf einem Unerforschlichen, nämlich einer Naturkraft, d. i. einer qualitas occulta, beruht, daher sie nur eine relative Erklärung geben kann; während die Endursache, in ihrem Bereich, eine genügende und vollständige Erklärung liefert.« (W II 391) Zwar hält es Schopenhauer für wünschenswert, beide Arten der Erklärung zugleich vorzulegen, doch er gibt sich hinsichtlich der Realisierbarkeit dieses Ziels keinen Illusionen hin: »Eine solche zwiefache Erkenntniß ist jedoch selten erreichbar: in der organischen Natur, weil die wirkende Ursache uns selten bekannt ist; in der unorganischen, weil die Endursache problematisch bleibt.« (ebd.) Gelegentlich rückt Schopenhauer seinen philosophischen Ansatz in die Nähe eines Organismus, weil jeder einzelne Teil ebenso auf das Ganze hin geordnet ist, wie das Ganze jedem Teil seinen Sinn verleiht: »Hingegen ein einziger Gedanke muß, so umfassend er auch seyn mag, die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum Behuf seiner Mittheilung, sich in Theile zerlegen; so muß doch wieder der Zusammenhang dieser Theile ein organischer, d. h. ein solcher seyn, wo jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Theil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Theil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher verstanden sei.« (W I 7 f.) Dies bedeutet zugleich, daß jeder einzelne Teil zugleich auf alle anderen verweist und nur von ihnen her verstanden werden kann: »Da, wie gesagt, diese ganze Schrift nur die Entfaltung eines einzigen Gedankens ist; so folgt hieraus, daß alle ihre Theile die innigste Verbindung unter einander haben und nicht bloß ein jeder 263
Pantheismus zum nächstvorhergehenden in nothwendiger Beziehung steht und daher zunächst nur ihn als dem Leser erinnerlich voraussetzt, wie es der Fall ist bei allen Philosophien, die bloß aus einer Reihe von Folgerungen bestehn; sondern daß jeder Theil des ganzen Werks jedem andern verwandt ist und ihn voraussetzt« (W I 360). Im Gegensatz zu einem organischen Zusammenhang besteht ein systematischer darin, daß sich ein Gedanke jeweils von einem anderen bzw. in letzter Instanz von einem obersten Prinzip herleiten läßt, ohne daß eine Abhängigkeit in beide Richtungen vorläge oder alle Gedanken des Ansatzes vom Ganzen her ihren Sinn erhielten. So stellt Schopenhauer fest: »Ein System von Gedanken muß allemal einen architektonischen Zusammenhang haben, d. h. einen solchen, in welchem immer ein Theil den andern trägt, nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel getragen wird, ohne zu tragen.« (W I 7) Pantheismus Schopenhauer nimmt dem Pantheismus gegenüber eine vorwiegend negative Haltung ein. Er beschreibt ihn als eine Auffassung, die sich dadurch auszeichnet, daß die Welt als göttlich hingestellt bzw. mit Gott gleichgesetzt wird. Dies bedeutet für Schopenhauer, daß der Pantheismus die Welt gleichsam als »Theophanie« (W II 409, 691 f. u. 753 sowie N 328) betrachtet. Als historische Beispiele für eine derartige Auffassung nennt Schopenhauer das indische Denken (vgl. P I 13 f. u. 67), die Eleaten (vgl. W II 753), die Stoa (vgl. W II 186 u. P I 67), Scotus Eriugena (vgl. W II 753 u. P I 14), Bruno (vgl. W II 753 u. P I 14), Malebranche (vgl. P I 13 f.), Spinoza (vgl. G 25, W II 691, 753 u. 755 f. sowie P I 13 f.), Hegel (vgl. W II 264
Lemmata 691 f.) und Schelling (vgl. W II 753), dem er bescheinigt, sie in einer »eklektischen und konfusen […] Auffrischung« (P I 14) zu präsentieren. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den wichtigsten Unterschied zwischen den Religionen nicht etwa darin erblickt, ob sie theistisch, atheistisch oder pantheistisch sind, sondern darin, ob sie optimistisch oder pessimistisch sind (vgl. W II 198 u. P II 427), so leuchtet ein, daß er den Pantheismus in erster Linie nach diesem Kriterium bewertet. Setzt dieser die Welt mit Gott – und damit einem moralisch guten, verehrungswürdigen Wesen – gleich, so ist er, wie Schopenhauer zu Recht betont, als optimistische Weltanschauung einzuschätzen (vgl. W II 675 u. 755 f., P I 76 u. 87 sowie P II 113). Nun aber läßt sich der Optimismus – nach Schopenhauer – nicht mit den Übeln der Welt vereinbaren, und das gilt natürlich ebenso für den Pantheismus (vgl. W II 409, 675, 691 f. u. 754 sowie P II 112 f.). Da nach pantheistischer Auffassung Gott mit der Welt in eins fällt, kritisiert Schopenhauer den Pantheismus unter dem Aspekt des Übels noch schärfer als den Theismus: »Denn daß ein allmächtiges und dabei allweises Wesen eine gequälte Welt schaffe, läßt sich immer noch denken, wenn gleich wir das Warum dazu nicht kennen […]. Aber bei der Annahme des Pantheismus ist der schaffende Gott selbst der endlos Gequälte und, auf dieser kleinen Erde allein, in jeder Sekunde ein Mal Sterbende, und solches ist er aus freien Stücken: das ist absurd.« (P II 113; vgl. a. W II 692) Ferner macht Schopenhauer geltend, daß allein schon der Begriff des Pantheismus in sich widersprüchlich ist, »weil der Begriff eines Gottes eine von ihm verschiedene Welt, als wesentliches Korre-
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Pessimismus
lat desselben, voraussetzt.« (P I 130; vgl. a. Ding an sich voranschreitet (vgl. W II N 328) Gehe man davon aus, daß Gott mit 753 ff.). der Welt identisch sei, so existiere keine göttliche Instanz jenseits der Welt, und Pessimismus Schopenhauer beschreibt dies bedeute, daß der Pantheismus letzten den Pessimismus als eine WeltanschauEndes in den Atheismus münde (vgl. P I ung, welche die negativen Aspekte der 130 f. u. P II 112). Deshalb findet es Scho- Wirklichkeit in den Vordergrund stellt. penhauer nicht weiter erstaunlich, daß es Aus pessimistischer Sicht »läßt die Welt »den geistreichen und scharfsinnigen Phi- sich nicht aus sich selbst rechtfertigen« losophen des vorigen Jahrhunderts nie (W II 678). Sie bietet sich vielmehr als eingefallen ist, den Spinoza, deswegen, etwas dar, was nicht sein sollte (vgl. W II weil der die Welt Deus nennt, für keinen 198 u. 677 f.) bzw. dessen Nichtsein seinem Atheisten zu halten« (N 328). Ein weiterer Dasein vorzuziehen wäre (vgl. W II 675). Einwand, den Schopenhauer gegen den Vor diesem Hintergrund vertritt SchoPantheismus erhebt, lautet, daß er kei- penhauer die Auffassung, die Welt – und nen Erklärungswert besitze. Führe man damit auch das menschliche Dasein – redie Welt auf Gott zurück, so erkläre man sultiere aus einer Schuld (vgl. W II 198) etwas Unbekanntes durch etwas noch Un- und biete sich selbst als schuldhaft dar bekannteres, identifiziere man sie hinge- (vgl. W II 679 u. P II 342). Schopenhauer gen mit ihm, so erkläre man sie durch sich argumentiert, daß die Wirklichkeit unter selbst, also eigentlich gar nicht. So stellt dieser Voraussetzung das Werk eines WilSchopenhauer fest: »Die Welt Gott nen- lens sein müsse, der nicht mit Erkenntnis nen heißt nicht sie erklären, sondern nur begabt sei: »[D]enn nur ein blinder, kein die Sprache mit einem überflüssigen Syn- sehender Wille konnte sich selbst in die onym des Wortes Welt bereichern. Ob ihr Lage versetzen, in der wir uns erblicken. sagt ›die Welt ist Gott‹, oder ›die Welt ist Ein sehender Wille würde vielmehr bald die Welt‹ läuft auf Eins hinaus.« (P II 112; den Ueberschlag gemacht haben, daß das vgl. a. W II 756) Geschäft die Kosten nicht deckt« (W II Trotz seiner Ablehnung des Pantheis 678; vgl. a. W II 667). Um den Pessimismus gesteht Schopenhauer diesem zu, mus zu begründen, ist es – nach Schopenerkannt zu haben, daß – dem Motto »ἑν hauer – nicht erforderlich, die positiven και παν« (W II 753 u. 756) gemäß – der und die negativen Aspekte der Wirklichgesamten Wirklichkeit ein und dasselbe keit gegeneinander abzuwägen. Allein Wesen zugrunde liege. Freilich ist die Al- schon der Umstand, daß es überhaupt leinheitslehre, die Schopenhauer vertritt, Übel gebe, lasse den Pessimismus als anim Gegensatz zur pantheistischen nicht gemessen erscheinen: »Im Grunde aber ist optimistisch, sondern pessimistisch, und es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Gusie bietet sich – im Vergleich zu Spinoza ten oder des U ebeln mehr auf der Welt sei: und zum Deutschen Idealismus – insofern denn schon das bloße Daseyn des Uebels weniger spekulativ dar, als sie die empi- entscheidet die Sache; da dasselbe nie rische Wirklichkeit nicht von Gott oder durch das daneben oder danach vorhanvom Absoluten ableitet, sondern im Aus- dene Gute getilgt, mithin auch nicht ausgang von der Erfahrung zum Willen als geglichen werden kann« (W II 674). 265
Pflicht Um den Gegensatz dieser Position zum Optimismus, für den Leibniz eintritt, zu verdeutlichen, stuft Schopenhauer die Welt geradezu als die »schlechteste unter den möglichen« (W II 683) ein. Allerdings ist das nicht im Sinne eines Superlativs, sondern eines Elativs zu verstehen. Schopenhauer meint nicht etwa, daß sich die Übel in der Welt nicht mehr steigern ließen, sondern will lediglich darauf hinaus, daß geringe Änderungen in der Natur ausreichen würden, um das Leben gänzlich zu vernichten. Der Gegensatz zwischen Optimismus und Pessimismus macht nach Schopenhauer den »Fundamentalunterschied aller Religionen« (W II 198; vgl. a. P II 427) aus. Während der Pessimismus im Brahmanismus, im Buddhismus sowie im Christentum anzutreffen sei (vgl. P I 48 sowie P II 417 u. 427 f.), liege der ihm entgegengesetzte Optimismus im Judentum, im Islam sowie im griechischen und römischen Heidentum vor (vgl. W II 198, 709 u. 731, P I 75 sowie P II 417). Pflicht Schopenhauer steht dem Begriff der Pflicht, der in Kants Ethik eine zentrale Stellung innehat, im wesentlichen kritisch gegenüber. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Pflicht beinhaltet, daß bestimmte Handlungen geboten sind. Deshalb stellt Schopenhauer den Begriff der Pflicht in eine Reihe mit den Begriffen des Gebots, des Gesetzes sowie des Sollens, die für eine präskriptive Ethik kennzeichnend sind.176 Solch einen Ansatz aber lehnt Schopenhauer als Determinist ab. Obgleich er die Begriffe der Pflicht und des Sollens als »sehr nahe verwandt und beinahe identisch« (E 164) betrachtet, ist 176
Vgl. E 162.
266
Lemmata er überzeugt, daß ein Unterschied zwischen ihnen besteht. Während ein Sollen »auf bloßem Zwange beruhen [könne]« (ebd.), setze eine Pflicht voraus, daß man sie ausdrücklich übernehme. Darüber hinaus bringe sie ein Recht mit sich: »Dem nach beruhen alle Pflichten auf eingegangener Verpflichtung. Diese ist in der Regel eine ausdrückliche, gegenseitige Uebereinkunft, wie z. B. zwischen Fürst und Volk, Regierung und Beamten, Herrn und Diener, Advokat und Klienten, Arzt und Kranken, überhaupt zwischen einem Jeden, der eine Leistung irgend einer Art übernommen hat, und seinem Besteller, im weitesten Sinne des Worts. Darum giebt jede Pflicht ein Recht: weil Keiner sich ohne ein Motiv, d. h. hier, ohne irgend einen Vortheil für sich, verpflichten kann.« (E 260; vgl. a. E 164) Auf diese Weise gelingt es Schopenhauer auch, den Begriff der Pflicht aus der präskriptiven Ethik herauszulösen und in seinen eigenen Ansatz einer deskriptiven Ethik einzugliedern. Statt zu fordern, Pflichten seien zu erfüllen, begnügt er sich damit, zu beschreiben, was eine Verpflichtung beinhaltet. Darüber hinaus erblickt Schopenhauer in der präskriptiven Ethik ein Relikt der theologischen Moral, d. h. er glaubt, daß sie auf die Konzeption eines Gottes zurückgeht, der Gesetze erläßt und die Menschen für ihr Handeln belohnt oder bestraft. Angesichts der Tatsache, daß Gebote und Verbote nach Schopenhauer grundsätzlich an Sanktionen gebunden sind, erstaunt es nicht weiter, daß er Kants Vorstellung einer unbedingten, nicht mit Belohnung oder Strafe einhergehenden Pflicht geradezu als contradictio in adiecto betrachtet (vgl. E 162 u. 165). Ein weiterer Punkt, in dem Schopenhauer sich gegen Kant abgrenzt, ist des-
Lemmata sen Auffassung, eine Handlung besitze erst dann echten moralischen Wert, wenn sie lediglich aus Pflicht und nicht aus Neigung geschehe. Schopenhauer hingegen legt Wert darauf, daß sich der Handelnde darüber hinaus von einer altruistischen Gesinnung leiten läßt: »[N]icht die That, sondern das Gernthun derselben, die Liebe, aus der sie hervorgeht und ohne welche sie ein todtes Werk ist, macht das Verdienstliche derselben aus.« (W I 641) Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, daß er Kant vorwirft, seine Konzeption laufe auf eine »Apotheose der Lieblosigkeit« (E 173) hinaus. Schopenhauer weist ausdrücklich darauf hin, daß Schiller ähnlich gegen Kant argumentiert (vgl. W I 641 u. E 173 f.). Während der Königsberger Denker zwischen Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere unterscheidet, weist Schopenhauer diese Distinktion zurück. Um seine Ablehnung zu begründen, differenziert er mit Kant zwischen Rechtsund Liebespflichten bzw. zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten.177 Können erstere vollständig erfüllt werden, so ist dies bei letzteren nicht möglich, so daß der Handelnde einen gewissen Spielraum bei ihrer Erfüllung hat. Das bedeutet zum Beispiel, daß es zwar geboten ist, notleidenden Menschen zu helfen, daß es aber nicht möglich ist, alle entsprechenden Handlungen tatsächlich auszuführen. Schopenhauer macht nun geltend, daß es keine vollkommenen Pflichten gegen sich 177 Schopenhauer wendet sich dagegen, die unvollkommenen Pflichten bzw. Liebespflichten als Tugendpflichten zu bezeichnen, da alle Pflichten – und nicht nur diese – ein tugendhaftes Handeln fordern (vgl. E 199 u. 252). In seinem eigenen Ansatz entspricht den unvollkommenen Pflichten die Menschenliebe und den vollkommenen die Gerechtigkeit.
Pflicht selbst geben kann, weil sich keiner selbst ein Unrecht antun kann: »Rechtspflichten gegen uns selbst sind unmöglich, wegen des selbst-evidenten Grundsatzes volenti non fit injuria.« (E 166) Was aber die unvollkommenen Pflichten anbelangt, so ist Schopenhauer der Auffassung, daß sie Handlungen beinhalten, die nicht geboten zu werden brauchen, weil sie ohnedies getan werden. Er erläutert seine Einschätzung wie folgt: »Die Unmöglichkeit der Verletzung der Pflicht der Selbstliebe wird schon vom obersten Gebot der Christlichen Moral vorausgesetzt: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹; wonach die Liebe, die Jeder zu sich selbst hegt, als das Maximum und die Bedingung jeder andern Liebe vorweg angenommen, keineswegs aber hinzugesetzt wird: ›Liebe dich selbst wie deinen Nächsten‹; als wobei Jeder fühlen würde, daß es zu wenig gefordert sei: auch würde dieses die einzige Pflicht seyn, bei der ein Opus supererogationis an der Tagesordnung wäre.« (ebd.) Schopenhauer faßt den Begriff der Pflicht noch in anderer Hinsicht enger als Kant, und zwar insofern, als er keineswegs jede moralisch gute Handlung als Pflicht betrachtet. Vielmehr betont er, lediglich eine Handlung, deren Unterlassung ein Unrecht ist, also die Interessen des Anderen verletzen würde, komme als Pflicht in Betracht: »Pflicht […] ist also eine Handlung, durch deren bloße Unterlassung man einen Andern verletzt, d. h. Unrecht begeht.« (E 260) Pflicht bestünde demnach nicht darin, Handlungen zu unterlassen, die ein Unrecht mit sich bringen würden, sondern darin, Handlungen durchzuführen, deren Unterlassung ein Unrecht wäre. Dies aber bedeutet, daß nur Handlungen, die aus Gerechtigkeit ge267
Phantasie schehen, Pflicht wären, nicht aber solche, die sich der Menschenliebe verdanken, die sich ihrerseits nicht auf eine Vermeidung von Unrecht beschränkt, sondern überdies beinhaltet, daß jemandem aktiv geholfen wird. Anderseits aber würde sich der Begriff der Pflicht lediglich auf einen Teilbereich der Gerechtigkeit erstrecken. Nun fragt sich, ob die unter den Begriff der Pflicht fallenden Handlungen tatsächlich nur solche sind, zu denen sich – wie Schopenhauer behauptet – jemand ausdrücklich verpflichtet hat. So erklärt dieser, ein Unrecht könne nur dadurch zustande kommen, »daß der Unterlasser sich zu einer solchen Handlung anheischig gemacht, d. h. eben verpflichtet hat.« (ebd.) Es erscheint keineswegs selbstverständlich, daß eine derartige Selbstverpflichtung erforderlich ist, um jemandem durch die Unterlassung einer Handlung ein Unrecht anzutun. Phantasie Schopenhauer verbindet den Ausdruck »Phantasie« mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen. Zum einen betrachtet er die Phantasie als ein Vermögen, das faktisch mit der Einbildungskraft in eins fällt (vgl. P I 252 u. P II 657) und dessen Leistung darin besteht, eine bestimmte Art von Vorstellungen zu erzeugen (vgl. G 117 u. 119, W I 255, W II 87 u. 448 f. sowie P I 474), und zum anderen versteht er darunter ebendiese Vorstellungen, die er auch mit Termen wie »Phantasma« (G 105 u. 118, W I 33 u. 44), »Bild der Phantasie« (W II 32 u. P I 252) oder »Phantasiebild« (G 119, W II 82 u. 669 sowie P I 252 u. 273) zu bezeichnen pflegt. Was die Phantasie im letzteren Sinne anbelangt, so ist sie nicht objektiv, sondern subjektiv, das heißt, sie präsentiert keinen unmittelbar – durch einen sinnli268
Lemmata chen Eindruck – gegebenen Gegenstand (vgl. G 118), sondern beschränkt sich – wie der Traum – darauf, die unmittelbare Gegenwart eines solchen zu reproduzieren: »Daß […] Phantasie und Traum die unmittelbare Gegenwart der Vorstellungen reproduciren, ist eine bekannte Thatsache« (G 46; vgl. a. W I 33 u. W II 448 f.). Entspricht aber der Phantasie kein real gegebener Gegenstand, so bietet sie sich als »Luftschloß« (W I 241 f.) dar.178 Damit erhebt sich für Schopenhauer die folgende Frage: »[G]iebt es ein sicheres Kriterium zwischen Traum und Wirklichkeit? zwischen Phantasmen und realen Objekten?« (W I 44) Im Gegensatz zu Kant glaubt er nicht, daß es die kausale Verbindung zwischen den realen Objekten ist, die sie von geträumten oder phantasierten unterscheidet, und ebensowenig vermag er in der Lebhaftigkeit der Vorstellungen das gesuchte Kriterium zu erblicken (vgl. G 105 u. W I 44 f.). Vielmehr lautet sein eigener Vorschlag: »Das allein sichere Kriterium zur Unterscheidung des Traumes von der Wirklichkeit ist in der That kein anderes, als das ganz empirische des Erwachens, durch welches allerdings der Kausalzusammenhang zwischen den geträumten Begebenheiten und denen des wachen Lebens ausdrücklich und fühlbar abgebrochen wird.« (W I 45) Obgleich Traum und Phantasie hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit übereinstimmen, hütet sich Schopenhauer, die Grenze zwischen ihnen zu verwischen. 178 Nichtsdestoweniger ist Schopenhauer davon überzeugt, daß die Phantasie ihren Inhalt letztlich der Erfahrung realer Gegenstände verdankt. Nach seiner Auffassung muß die Einbildungskraft »vielen Stoff von der Außenwelt empfangen haben: denn diese allein füllt ihre Vorrathskammer« (P II 657).
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Phantasie
Die entscheidende Differenz, die beide welches eine anschauliche und vollstänvoneinander trennt, besteht nach seiner dige, also einzelne, jedoch nicht unmitAuffassung in der größeren Lebhaftig- telbar durch Eindruck auf die Sinne herkeit des Traums: »Phantasiebilder sind vorgerufene, daher auch nicht zum Komschwach, matt, unvollständig, einseitig plex der Erfahrung gehörige Vorstellung und so flüchtig, daß man das Bild eines ist.« (G 118; vgl. a. P II 660) Zwar räumt Abwesenden kaum einige Sekunden ge- Schopenhauer ein, daß ein Phantasma als genwärtig zu erhalten vermag, und sogar Repräsentant eines Begriffs fungieren das lebhafteste Spiel der Phantasie hält kann, doch adäquat repräsentieren könne keinen Vergleich aus mit jener handgreif- es ihn – aufgrund der genannten Diffelichen Wirklichkeit, die der Traum uns renz – grundsätzlich nicht: »[D]enn z. B. vorführt.« (P I 252)179 von Hund überhaupt, Farbe überhaupt, Auch in Hinblick auf das Verhältnis von Triangel überhaupt, Zahl überhaupt giebt Phantasie und Begriff lassen sich sowohl es keine Vorstellung, kein diesen BegrifGemeinsamkeiten als auch Unterschiede fen entsprechendes Phantasma. Alsdann feststellen. Beide Arten von Vorstellung ruft man das Phantasma z. B. irgend eisind nicht an unmittelbar Gegenwärtiges nes Hundes hervor, der, als Vorstellung, gebunden, das heißt, sie weisen über die- durchweg bestimmt, d. h. von irgend einer ses in die Vergangenheit sowie die Zu- Größe, bestimmter Form, Farbe u. s. w. kunft hinaus: »Hier sehn wir […], daß seyn muß, da doch der Begriff, dessen Reüberhaupt die Form des Lebens, oder der präsentant er ist, alle solche BestimmunErscheinung des Willens im Bewußtseyn, gen nicht hat.« (G 118; vgl. a. W I 551 f.) zunächst und unmittelbar bloß die GeSchopenhauer mißt der Phantasie als genwart ist: Vergangenheit und Zukunft einer spezifischen Art der anschaulichen kommen allein beim Menschen und zwar Vorstellung bzw. dem entsprechenden bloß im Begriff hinzu, werden in abstracto Vermögen erhebliche Bedeutung zu: »Der erkannt und allenfalls durch Bilder der innerste Kern jeder ächten und wirklichen Phantasie erläutert.« (W II 669) Freilich Erkenntniß ist eine Anschauung; auch ist ist der Begriff eine abstrakte, die Phan- jede neue Wahrheit die Ausbeute aus eitasie hingegen eine anschauliche Vorstel- ner solchen. Alles Urdenken geschieht in lung: »Mit dem Begriff ist […] das Phan- Bildern: darum ist die Phantasie ein so tasma überhaupt nicht zu verwechseln, als nothwendiges Werkzeug desselben, und werden phantasielose Köpfe nie etwas 179 Schopenhauer versucht diesen UnterGroßes leisten, – es sei denn in der Matheschied auch physiologisch zu erklären: »Das matik.« (W II 87) Damit ist gemeint, daß Phantasiebild (im Wachen) ist immer bloß im Gehirn: denn es ist nur die, wenn auch modi- die unmittelbare Anschauung bzw. Wahrficirte Reminiscenz einer frühern, materiellen, nehmung zwar den Stoff der Erkenntnis durch die Sinne geschehenen Erregung der anschauenden Gehirnthätigkeit. Das Traumge- liefert, aber an die Gegenwart gebunden ist und daß es deshalb einer Instanz besicht hingegen ist nicht bloß im Gehirn, sondern auch in den Sinnesnerven, und ist entstanden darf, die ihn über die Gegenwart hinaus in Folge einer materiellen, gegenwärtig wirkverfügbar macht, also reproduziert. Genau samen, aus dem Innern kommenden und das darin besteht die Aufgabe, die SchopenGehirn durchdringenden Erregung derselben.« hauer der Phantasie zuweist: »Wäre nun (P I 273 f.) 269
Philosophie aber unsere Anschauung stets an die reale Gegenwart der Dinge gebunden; so würde ihr Stoff gänzlich unter der Herrschaft des Zufalls stehn, welcher die Dinge selten zur rechten Zeit herbeibringt, selten zweckmäßig ordnet und meistens sie in sehr mangelhaften Exemplaren uns vorführt. Deshalb bedarf es der Phantasie, um alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten und beliebig zu wiederholen, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringenden Erkenntniß und des bedeutungsvollen Werkes, dadurch sie mitge theilt werden soll, erfordern.« (W II 448 f.) Hält man sich vor Augen, daß die für die Kunst einschlägige Erkenntnis der Ideen in besonderem Maße auf die Anschauung empirischer Gegenstände angewiesen ist, diese sich aber als flüchtig und mangelhaft erweist, so leuchtet ein, daß die Phantasie zu den wesentlichen Voraussetzungen der Kunst bzw. der ihr zugrunde liegenden Genialität zählt: »Die Phantasie also erweitert den Gesichtskreis des Genius über die seiner Person sich in der Wirklichkeit darbietenden Objekte, sowohl der Qualität, als der Quantität nach. Dieserwegen nun ist ungewöhnliche Stärke der Phantasie Begleiterin, ja Bedingung der Genialität.« (W I 241; vgl. a. W II 449) Philosophie Schopenhauer fügt sich insofern in die Tradition des abendländischen Denkens ein, als er den Ursprung der Philosophie in der Verwunderung erblickt. Sie erhebt sich angesichts der Tatsache, daß es eine Welt gibt und nicht vielmehr nicht gibt und daß letzteres ersterem vorzuziehen ist: »In der That ist die Unruhe, welche die nie ablaufende Uhr der Metaphysik in Bewegung erhält, das Bewußtseyn, daß das Nichtseyn dieser Welt 270
Lemmata eben so möglich sei, wie ihr Daseyn. […] Ja, was mehr ist, wir fassen sehr bald die Welt auf als Etwas, dessen Nichtseyn nicht nur denkbar, sondern sogar ihrem Daseyn vorzuziehn wäre« (W II 200). Dies aber liegt nach Schopenhauer an der Negativität der Welt, das heißt daran, daß sie im wesentlichen einen »Anblick des Uebels und des Bösen« (ebd.) darbietet. Unter diese Kategorie fällt nicht zuletzt der Tod (vgl. W I 69 sowie W II 186 f., 201 u. 542 f.). Daher könnte man sagen, daß neben dem Dasein der Welt ihre Negativität das Erstaunen auslöst, das in die Philosophie mündet: »[D]as Böse, das Uebel und der Tod sind es, welche das philosophische Erstaunen qualificiren und erhöhen: nicht bloß, daß die Welt vorhanden, sondern noch mehr, daß sie eine so trübsälige sei, ist das punctum pruriens der Metaphysik« (W II 201). Dabei bestehe die Aufgabe der Philosophie darin, das mit dem Erstaunen bzw. der Verwunderung geweckte metaphysische Bedürfnis zu befriedigen: »Ihr hohes Ziel ist die Befriedigung jenes edelen Bedürfnisses, von mir das metaphysische genannt, welches der Menschheit, zu allen Zeiten, sich innig und lebhaft fühlbar macht« (P I 166). In diesem Zusammenhang grenzt Schopenhauer die Philosophie gegen zwei Richtungen ab: die Religion zum einen sowie die Wissenschaft zum anderen. Religion und Philosophie decken sich – nach seiner Auffassung – darin, daß sie beide Spielarten der Metaphysik darstellen, die ihrerseits »über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Na-
Lemmata tur steckt und sie möglich macht.« (W II 191) Während die Religion auf Autorität und Offenbarung, ja sogar auf Zeichen und Wundern beruhe (vgl. W II 192 sowie P II 371 u. 383) und auf der Stufe bloßen Glaubens stehen bleibe (vgl. P I 161 sowie P II 383 u. 398), stütze sich die Philosophie auf Gründe (vgl. P II 371) und könne Anspruch auf Wissen erheben. Im Gegensatz zu religiösen Aussagen, die allenfalls sensu allegorico (vgl. W II 194 ff. u. 737 sowie P II 360, 366, 369 f., 378 f. u. 403) wahr seien, treffe dies auf philosophische Aussagen sensu proprio bzw. stricto (vgl. W II 194 ff. u. 737 sowie P II 369 u. 401 ff.) zu. Dabei tritt Schopenhauer für eine konsequente Trennung von Philosophie und Religion ein. Religionsphilosophie im Sinne einer Synthese beider (vgl. P I 161) lehnt er mit derselben Entschiedenheit ab, mit der er sich eine Einmischung der Religion in die Philosophie verbittet: »Uebrigens ist die Philosophie wesentlich Weltweisheit: ihr Problem ist die Welt: mit dieser allein hat sie es zu thun und läßt die Götter in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe gelassen zu werden.« (W II 219; vgl. a. P I 208 u. P II 20) Zwischen der Philosophie und der Wissenschaft besteht nach Schopenhauer in zweierlei Hinsicht eine wesentlich engere Verbindung: Zum einen habe jede Wissenschaft ihre »specielle Philosophie« (W II 150), die ihre wichtigsten Ergebnisse auf möglichst allgemeine Weise zusammenfasse, und zum andern bedürfe die Philosophie wenigstens eines Überblicks über die einzelnen Wissenschaften (vgl. W II 151). Den Unterschied zwischen beiden erblickt Schopenhauer darin, daß die Philosophie über die Wissenschaft hinausgeht, indem sie deren Voraussetzungen zu klären versucht: »Denn […] eben Jenes, was
Philosophie die Wissenschaften voraussetzen und ihren Erklärungen zum Grunde legen und zur Gränze setzen, ist gerade das eigentliche Problem der Philosophie, die folglich insofern da anfängt, wo die Wissenschaften aufhören.« (W I 123; vgl. a. W II 149 u. 201 f.) Gemeint sind – neben den erkenntnistheoretischen – vor allem die metaphysischen Grundlagen, auf welchen die Wissenschaften aufbauen. Während die Wissenschaften der Frage nachgehen, warum bestimmte Ereignisse oder Zustände geschehen oder vorliegen, nimmt sich die Philosophie der Frage an, was die Welt sei. Sie »sucht keineswegs, woher oder wozu die Welt dasei; sondern bloß, was die Welt ist.« (W I 123; vgl. a. W I 231 f. u. 346) Man könnte auch sagen, die Philosophie betrachte die Welt nicht nach dem Satz vom zureichenden Grunde, sondern diesen selbst als Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis sowie das, was der Welt als Vorstellung, die ihm unterworfen ist, als »Wesen« (W I 124, 332 u. 347 sowie W II 479) zugrunde liegt. Angesichts der Tatsache, daß sich die Philosophie einem jenseits des Satzes vom Grunde angesiedelten Bereich zuwendet, erstaunt es nicht weiter, daß Schopenhauer erklärt, die Philosophie lasse sich nicht aus einem ihr übergeordneten Prinzip ableiten und könne auch »nicht darauf ausgehn, eine causa efficiens oder eine causa finalis der ganzen Welt zu suchen.« (W I 123) Schopenhauer betont immer wieder, daß philosophische Erkenntnis – wie jede andere – letztlich der Anschauung bedarf, sich also nicht damit begnügen kann, sich allein auf Begriffe zu stützen: »Nur so viel läßt sich behaupten, daß jede wahre und ursprüngliche Erkenntniß, auch jedes ächte Philosophem, zu ihrem innersten Kern, oder ihrer Wurzel, irgend eine 271
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anschauliche Auffassung haben muß. […] 343 f. sowie W II 479) Um dies auszudrücHat die Auseinandersetzung einen sol- ken, greift Schopenhauer gelegentlich zur chen Kern; so gleicht sie der Note einer Formulierung, die Philosophie sei nicht Bank, die Kontanten in Kasse hat: jede »eine Wissenschaft aus Begriffen, sonandere, aus bloßen Begriffskombinatio- dern in Begriffen« (W II 53; vgl. a. W II nen entsprungene hingegen ist wie die 100 u. P II 15). Note einer Bank, die zur Sicherheit wieder Schopenhauer stellt die Philosophie innur andere, verpflichtende Papiere hinter- sofern auf eine Stufe mit der Kunst, als legt hat.« (G 120 f.; vgl. a. W II 99 ff., P I er beiden die Aufgabe zuweist, das We148, 179, 181 u. 183 sowie P II 15 u. 25) Phi- sen der Dinge zu erfassen und darzustellosophie, die sich hingegen in Begriffen len (vgl. W I 232 u. 347 sowie W II 149 f. ohne anschauliche Grundlage erschöpfe, u. 479). Allerdings unterscheide sich die laufe auf hohlen »Wortkram« (W II 78 Kunst darin von der Philosophie, daß sie – u. 101) hinaus.180 Dennoch ist die Philo- im Gegensatz zu dieser – an die Anschausophie – nach Schopenhauer – insofern ung gebunden bleibe: »Allein die Künste auf Begriffe angewiesen, als ihre Auf- reden sämmtlich nur die naive und kindgabe darin bestehe, das – anschaulich er- liche Sprache der Anschauung, nicht die kannte – Wesen der Welt auf den Begriff abstrakte und ernste der Reflexion: ihre zu bringen: »Intuitiv nämlich, oder in con- Antwort ist daher ein flüchtiges Bild; nicht creto, ist sich eigentlich jeder Mensch al- eine bleibende allgemeine Erkenntniß.« ler philosophischen Wahrheiten bewußt: (W II 479) Vergegenwärtigt man sich, daß sie aber in sein abstraktes Wissen, in die Schopenhauer das Wesen – sei es in GeReflexion zu bringen, ist das Geschäft des stalt der Idee oder des Willens als eines Philosophen, der weiter nichts soll, noch Dinges an sich – als unveränderlich bekann.« (W I 474; vgl. a. W I 123 f., 332 u. trachtet, so liegt es durchaus nahe, daß er die Kunst sowie die Philosophie gegen die Geschichte abgrenzt und auch das Ansin180 Freilich räumt Schopenhauer ein, daß Philosophie bisweilen von Sachverhalten han- nen, das Wesen in seiner geschichtlichen delt, die keiner Anschauung zugänglich sind Entwicklung darzustellen, als unangeund daher nur begrifflich ausgedrückt werden messen zurückweist (vgl. W I 345 ff. u. können: »Wenn nun, allem hier Gesagten zu181 folge, weite, abstrakte, zumal aber durch keine W II 419 ff.). Anschauung zu realisirende Begriffe nie die Erkenntnißquelle, der Ausgangspunkt, oder der eigentliche Stoff des Philosophirens seyn dürfen; so können doch bisweilen einzelne Resultate desselben so ausfallen, daß sie sich bloß in abstracto denken, nicht aber durch irgend eine Anschauung belegen lassen. Erkenntnisse dieser Art werden freilich auch nur halbe Erkenntnisse seyn: sie zeigen gleichsam nur den Ort an, wo das zu Erkennende liegt; aber es bleibt verhüllt. […] Ein Beispiel der Art wäre etwan der Begriff eines Seyns außer der Zeit; desgleichen der Satz: die Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod ist keine Fortdauer desselben.« (W II 102; vgl. a. W II 716)
272
181 In
dieser Hinsicht nimmt Schopenhauer eine Position ein, die jener Hegels diametral entgegengesetzt ist. Davon zeugen eine Reihe polemischer Äußerungen wie z. B. die folgende: »Was endlich das, besonders durch die überall so geistesverderbliche und verdummende Hegelsche Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder, wie sie es nennen, ›sie organisch zu konstruiren‹, betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und platter Realismus zum Grunde, der die Erscheinung für das Wesen an sich der Welt hält und vermeint,
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Schopenhauer tritt dafür ein, daß die Erkenntniß a priori möglich ist« (W II Philosophie, obgleich sie die Erfahrung 212). Hält man sich ferner vor Augen, daß übersteigt, eng an sie gebunden bleibt. So Schopenhauer die Aufgabe der Philosobeschreibt er seinen eigenen Ansatz als phie darin erblickt, die Erfahrung gleich»immanent« (W I 345, W II 212, 214 u. sam wie eine »unbekannte Schrift« (W II 750 sowie P II 99), ja er zögert nicht ein- 215 u. P II 26) oder eine »Geheimschrift« mal, in diesem Zusammenhang den Aus- (W II 213) zu dechiffrieren und daß er druck »Erfahrungswissenschaft« (W II dabei Ausdrücke wie »auslegen«, »deu214) zu verwenden. Das erscheint inso- ten« und »verstehen« (W I 344 sowie W II fern erstaunlich, als weder die Ideen noch 213 ff. u. 750) bzw. »Sinn« und »Bedeuder Wille als Ding an sich Gegenstände tung« (W II 213 ff. u. P II 26) gebraucht, der Erfahrung sind. Sieht man etwas ge- so rückt er die Philosophie in die Nähe nauer hin, so bemerkt man freilich, daß es einer hermeneutischen Disziplin, die auf Schopenhauer lediglich darum geht, daß bestimmte Fragen keine – und schon gar die Philosophie bei der Erschließung des keine endgültigen – Antworten zu geben Wesens der Dinge die Erfahrung nicht vermag. So bekennt Schopenhauer: »Welüberspringt, sondern sich eng an sie an- che Fackel wir auch anzünden und wellehnt. So erklärt er: »Sie macht demnach chen Raum sie auch erleuchten mag; stets keine Schlüsse auf das jenseit aller mögli- wird unser Horizont von tiefer Nacht umchen Erfahrung Vorhandene, sondern lie- gränzt bleiben. Denn die letzte Lösung fert bloß die Auslegung des in der Außen- des Räthsels der Welt müßte nothwendig welt und dem Selbstbewußtseyn Gegebe- bloß von den Dingen an sich, nicht mehr nen, begnügt sich also damit, das Wesen von den Erscheinungen reden.« (W II 216; der Welt, seinem innern Zusammenhange vgl. a. W II 716 u. 750) mit sich selbst nach, zu begreifen.« (W II Bei anderer Gelegenheit erklärt Scho750; vgl. a. W I 343 f., W II 211 ff. u. P II penhauer, die Philosophie gehe vom em25) In diesem Zusammenhang hebt Scho- pirischen Bewußtsein aus, denn allein diepenhauer auch hervor, daß es die Philoso- ses sei unmittelbar gegeben: »Der gegephie nicht auf einzelne Erfahrungen, son- bene Stoff jeder Philosophie ist demnach dern auf die »Erfahrung überhaupt« (W II kein anderer, als das empirische Bewußt211 ff. u. P II 25) abgesehen habe. Aus der seyn, welches in das Bewußtseyn des eigeAbhängigkeit der Philosophie oder, ge- nen Selbst (Selbstbewußtseyn) und in das nauer gesagt, ihrer metaphysischen Kom- Bewußtseyn anderer Dinge (äußere Anponente von der Erfahrung leitet Scho- schauung) zerfällt. Denn dies allein ist das penhauer folgende Konsequenz für ihre Unmittelbare, das wirkliche Gegebene.« Geltung ab: »Der hier erörterte, redlicher- (W II 99; vgl. a. W II 212 u. 750 sowie weise nicht abzuleugnende Ursprung der P II 12 f.) Auf diese Weise grenzt SchoMetaphysik aus empirischen Erkenntniß- penhauer seine eigene Philosophie gegen quellen benimmt ihr freilich die Art apo- Ansätze ab, die versuchen, die empirische diktischer Gewißheit, welche allein durch Wirklichkeit im Ausgang von einer intellektuellen Anschauung oder vernehmenden Vernunft hinter sich zurückzulassen, auf sie, auf ihre Gestalten und Vorgänge käme um in den transzendenten Bereich einer es an« (W II 520). 273
Philosophie übersinnlichen Wirklichkeit vorzudringen und ihn unmittelbar zu erfassen (vgl. W II 212 u. 715 f. sowie P II 13 u. 16 f.). Aus der unmittelbaren Gegebenheit des empirischen Bewußtseins leitet Schopenhauer – in Anlehnung an Kant – ferner die Forderung ab, die Philosophie habe zuerst und zunächst die Strukturen desselben sowie auch seine Grenzen zu eruieren: »Dieserhalb hat jede Philosophie anzuheben mit Untersuchung des Erkenntnißvermögens, seiner Formen und Gesetze, wie auch der Gültigkeit und der Schranken derselben. Eine solche Untersuchung wird demnach philosophia prima seyn.« (P II 25) Schopenhauer erfüllt diese Forderung dadurch, daß er seine Erkenntnistheorie im ersten der vier Bücher von Die Welt als Wille und Vorstellung entwickelt. Die drei übrigen Bücher hingegen enthalten die – auf einer Interpretation des Selbstbewußtseins sowie des Bewußtseins der äußeren Dinge beruhenden – Ausführungen zur Metaphysik der Natur, des Schönen sowie der Sitten bzw. zur Naturphilosophie, Ästhetik und Ethik. In diesem Zusammenhang betont Schopenhauer, daß sich die vier Teile seiner Philosophie zur »Einheit eines Gedankens« (W I 125; vgl. a. W I 7, 323 u. 344 sowie N 337) zusammenfügen, den er wie folgt ausdrückt: »[D]ie Welt ist die Selbsterkenntniß des Willens.« (W I 506)182 182
Daraus, daß seine Philosophie einen einzigen Gedanken darstellt, ergibt sich für Schopenhauer, daß sie kein System, sondern einen Organismus bildet: »Ein System von Gedanken muß allemal einen architektonischen Zusammenhang haben, d. h. einen solchen, in welchem immer ein Theil den andern trägt, nicht aber dieser auch jenen, der Grundstein endlich alle, ohne von ihnen getragen zu werden, der Gipfel getragen wird, ohne zu tragen. Hingegen ein einziger Gedanke muß, so umfassend
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Lemmata In seiner in den Parerga und Paralipomena veröffentlichten Abhandlung » Ueber die Universitäts-Philosophie«183 , aber auch bei manch anderer Gelegenheit setzt sich Schopenhauer mit dem philosophischen Betrieb seiner Zeit kritisch auseinander. Vor allem moniert er, daß sich viele an Universitäten tätige Philosophen in erster Linie von Interessen, zumal materiellen, bestimmen lassen (vgl. G 10 u. W I 15) und in erster Linie das lehren, was dem Staat und der herrschenden Religion genehm ist (vgl. W I 16 sowie P I 32 u. 158 u. 216).184 Dies läuft auf den Vorwurf des Opportunismus hinaus, den Schopenhauer nicht zuletzt den Vertretern des spekulativen Idealismus gegenüber erhebt, die eine »Periode der Unredlichkeit« (E 187) in der Philosophie eingeleitet hätten: »Ich habe sie aber deswegen nicht mit aufzählen können, weil, meines Erachtens, Fichte, Schelling und Hegel keine Philosophen sind, indem ihnen das erste Erforderniß hiezu, Ernst und Redlichkeit des Forschens, abgeht. Sie sind bloße Sophisten: sie wollten scheinen, nicht seyn, und haben nicht die Wahrheit, sondern ihr eigenes Wohl und Fortkommen in der Welt gesucht. Anstellung von den Regieruner auch seyn mag, die vollkommenste Einheit bewahren. Läßt er dennoch, zum Behuf seiner Mittheilung, sich in Theile zerlegen; so muß doch wieder der Zusammenhang dieser Theile ein organischer, d. h. ein solcher seyn, wo jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist, der ganze Gedanke durch jeden Theil an Deutlichkeit gewinnt und auch der kleinste Theil nicht völlig verstanden werden kann, ohne daß schon das Ganze vorher verstanden sei.« (W I 7 f.; vgl. a. E 149) 183 Vgl. P I 155–218. 184 Besonders suspekt erscheint Schopenhauer die bei Hegel anzutreffende »Apotheose des Staats« (P I 164).
Lemmata gen, Honorar von Studenten und Buchhändlern und, als Mittel zu diesem Zweck, möglichst viel Aufsehn und Spektakel mit ihrer Scheinphilosophie, – Das waren die Leitsterne und begeisternden Genien dieser Schüler der Weisheit.« (P I 30; vgl. a. P I 128, 175 f. u. 214 sowie P II 10 f.) Demgegenüber macht Schopenhauer geltend, es komme nicht darauf an, von der Philosophie zu leben, sondern für sie (vgl. G 64, W I 23 f., W II 189 f. u. P I 168). Angesichts dieser Diagnose erstaunt es nicht weiter, daß Schopenhauer für die Abschaffung der Philosophie als universitäres Fach eintritt: »Ja, ich neige mich mehr und mehr zu der Meinung, daß es für die Philosophie heilsamer wäre, wenn sie aufhörte, ein Gewerbe zu seyn, und nicht mehr im bürgerlichen Leben, durch Professoren repräsentirt, aufträte.« (P I 175) Primat des Willens Spricht Schopenhauer vom Primat des Willens, so ist zu unterscheiden, in welcher Hinsicht er das tut. Bekanntlich bildet sein Denken kein geschlossenes, in einem obersten Prinzip kulminierendes System, sondern einen Organismus, in dem sich verschiedene Perspektiven wechselseitig korrigieren und relativieren. So ist der Wille aus der erkenntnistheoretischen Perspektive des transzendentalen Idealismus das Ding an sich, das erst allmählich im Ausgang von der empirischen Welt bzw. der Welt als Vorstellung zu erschließen und insofern nicht primär ist, während er sich aus der metaphysischen Perspektive der Naturphilosophie im Vergleich zur Erkenntnis tatsächlich als das »Primäre« (N 264 f.) oder »Prius« (N 248 u. W II 162) darbietet. Das könnte man darüber hinaus auch für das Ganze von Schopenhauers Philosophie behaupten, die letztlich
Primat des Willens auf den Willen und dessen soteriologische Überwindung in der Ästhetik und Ethik ausgerichtet ist. Ferner gilt es zu berücksichtigen, daß Schopenhauer den Willen bald als eine empirische, bald als eine metaphysische Gegebenheit thematisiert, wobei seine empirischen Betrachtungen nicht selten anthropologisch bzw. psychologisch gemeint sind. Das gilt insbesondere für das – mit »Vom Primat des Willens im Selbstbewußtseyn« überschriebene – 19. Kapitel des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung (1844). Schopenhauer wird nicht müde zu versichern, daß der Wille – im Verhältnis zur Erscheinung oder Vorstellung – »als das alleinige Ding an sich, das allein wahrhaft Reale, allein Ursprüngliche und Metaphysische, in einer Welt, wo alles Uebrige nur Erscheinung, d. h. bloße Vorstellung, ist, jedem Dinge, was immer es auch seyn mag, die Kraft verleiht, vermöge deren es daseyn und wirken kann« (N 202; vgl. a. P II 107). Damit kommt dem Willen gegenüber der empirischen Wirklichkeit der ontologische Vorrang zu. Als das »metaphysische Substrat der gesammten Erscheinung« (W II 317) sei er überdies »als das Ursprüngliche und daher Metaphysische« grundlegend für die Erkenntnis bzw. den Intellekt, der seinerseits ein »Sekundäres und Physisches« (W II 248; vgl. a. W II 277) sei. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich gar, daß Schopenhauer die Erkenntnis insofern nur als tertiär betrachtet, als sie physiologisch im Leib und dieser metaphysisch im Willen als Ding an sich fundiert sei. So stellt er fest: »Ich setze also erstlich den Willen, als Ding an sich, völlig Ursprüngliches; zweitens seine bloße Sichtbarkeit, Objektivation, den Leib; und drittens die Erkenntniß, als bloße Funktion eines Theils dieses Leibes.« (N 220; 275
Primat des Willens vgl. a. N 243, W II 233 f., 272, 302, 325 u. 586, P I 332 sowie P II 54 f. u. 296) Mit der These vom Primat des Willens stellt sich natürlich die Frage, in welcher Hinsicht sich dieser als vorrangig erweise. Schopenhauer vertritt die Auffassung, der Primat zeige sich darin, daß die – im Bereich der Welt als Vorstellung stattfindende – Erkenntnis eine Objektivation des Willens sei und daß sie ferner als Mittel der Selbsterhaltung in dessen Dienst stehe: »Die Erkenntniß […] geht also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation, als eine bloße μηχανη, ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes.« (W I 204; vgl. a. N 246, W II 162 f., 269 u. 327 sowie P II 79 f.) Mit anderen Worten, der Wille ist insofern grundlegender als die Erkenntnis, als diese lediglich als Mittel zum Zweck der Selbsterhaltung desselben fungiert. Daher erstaunt es nicht weiter, daß Schopenhauer, um die »subordinirte[] Stellung des Intellekts« (W I 365) zu betonen, letzteren als »Diener« (W II 158 u. 243), als »bloße[n] Sklave[n] und Leibeigene[n]« (W II 247) sowie, etwas weniger drastisch, als »Werkzeug« (W II 249 u. 268 f. sowie P II 75) charakterisiert. Unter dem Aspekt der Zweck-Mittel-Relation ist es stimmig, wenn Schopenhauer den Bereich der Erkenntnis in der Regel auf das beschränkt sieht, was dem Willen nützlich ist: »Der gewöhnliche Mensch faßt an den Dingen doch nur Das recht deutlich auf, was, direkt oder indirekt, irgend eine Beziehung auf ihn selbst (Interesse für ihn) hat: beim Uebrigen wird sein Intellekt unüberwindlich träge: es bleibt daher im Hintergrund, tritt nicht mit voller strahlender Deutlichkeit ins Bewußtseyn.« (N 271; vgl. a. W II 242) 276
Lemmata Freilich räumt Schopenhauer ein, daß es eine Ausnahme von dieser Regel gibt. Es handelt sich darum, daß sich das Subjekt – in der Kontemplation – vom Willen emanzipiert und so einen Zustand der willensfreien Erkenntnis erreicht. Trete der Wille in den Hintergrund, so erfahre sich der Mensch – insbesondere das Genie (vgl. N 271 u. 274 sowie W II 240 u. 451 ff.) – als »reines […] Subjekt der Erkenntnis« (W I 231, N 273 u. W II 443), das als »bloßer klarer Spiegel der Welt« (W I 204 u. W II 240) fungiere und zu einer objektiven Erkenntnis der Ideen gelange. In diesem Sinne erklärt Schopenhauer, daß »die vollkommenste Erkenntniß, also die rein objektive, d. h. die geniale Auffassung der Welt, bedingt ist durch ein so tiefes Schweigen des Willens, daß, so lange sie anhält, sogar die Individualität aus dem Bewußtseyn verschwindet und der Mensch als reines Subjekt des Erkennens, welches das Korrelat der Idee ist, übrig bleibt« (W II 255). Vergegenwärtigt man sich, daß der Wille im Verhältnis zur Erkenntnis bzw. zum Intellekt den Vorrang innehat, so liegt es durchaus nahe, darin auch die Instanz zu erblicken, welche dem Bewußtsein seine Einheit verleiht: »Das, was dem Bewußtseyn Einheit und Zusammenhang giebt, indem es, durchgehend durch dessen sämmtliche Vorstellungen, seine Unterlage, sein bleibender Träger ist, kann nicht selbst durch das Bewußtseyn bedingt, mithin keine Vorstellung seyn: vielmehr muß es das Prius des Bewußtseyns und die Wurzel des Baumes seyn, davon jenes die Frucht ist. Dieses, sage ich, ist der Wille: er allein ist unwandelbar und schlechthin identisch, und hat, zu seinen Zwecken, das Bewußtseyn hervorgebracht.« (W II 162; vgl. a. W II 280
Lemmata
Primat des Willens
u. 597) 185 Die transzendentale Apperzep- hauer immer wieder geltend, daß affektive tion oder das Ich, wie sie bei Kant oder und emotionale Regungen die Erkenntnis Fichte auftreten, bedürfen nach Schopen- beeinträchtigen: »Zu den Verunreinigunhauer einer metaphysischen »Basis«, die gen der Erkenntniß durch die ein für alle er im Willen erblickt: »Weit entfernt, das Mal gegebene Beschaffenheit des Subschlechthin Erste zu seyn (wie z. B. Fichte jekts […] kommen nun noch die direkt aus lehrte), ist es im Grunde tertiär, indem es dem Willen und seiner einstweiligen Stimden Organismus voraussetzt, dieser aber mung, also aus dem Interesse, den Leidenden Willen.« (W II 325) Dabei versteht schaften, den Affekten des Erkennenden Schopenhauer – im Gegensatz zu Fichte – hervorgehenden.« (P II 75; vgl. a. W II unter dem Ich das Subjekt, das sich seiner 442) In diesem Zusammenhang nennt er selbst sowohl als erkennendes wie auch als Wunsch und Hoffnung, aber auch Furcht, wollendes bewußt ist (vgl. W II 236, 325 Schreck, Begierde, Zorn sowie natürlich u. 586 sowie P II 105 f.). Den Zustand, in Liebe und Haß: »Liebe und Haß verfäldem es dies ist, nennt Schopenhauer das schen unser Urtheil gänzlich: an unsern »Selbstbewußtseyn« (P II 106). Feinden sehn wir nichts, als Fehler, an unEs wurde bereits angedeutet, daß die sern Lieblingen lauter Vorzüge, und selbst Überlegungen, die Schopenhauer im ihre Fehler scheinen uns liebenswürdig.« 19. Kapitel (»Vom Primat des Willens im (W II 253; vgl. a. W II 164 u. 250 ff. sowie Selbstbewußtseyn«) des zweiten Bandes P II 75 f. u. 651) Darüber hinaus äußert seines Hauptwerks anstellt, in erster Linie sich die Macht des Willens auch darin, anthropologischer bzw. psychologischer daß sich der Mensch oftmals nicht durch Art sind.186 Im wesentlichen geht es Scho- Argumente überzeugen lasse: »Nichts ist penhauer darum, daß der Wille als empi- verdrießlicher, als wenn man, mit Grünrische Disposition – sei es positiven oder den und Auseinandersetzungen gegen negativen – Einfluß auf den Intellekt aus- einen Menschen streitend, sich alle Mühe üben kann, während das umgekehrt nicht giebt, ihn zu überzeugen, in der Meinung, gilt: »Eine der dargelegten Störung und es bloß mit seinem Verstande zu thun zu Trübung der Erkenntniß durch den Wil- haben, – und nun endlich entdeckt, daß er len entsprechende, unmittelbare Störung nicht verstehn will; daß man also es mit dieses durch jene giebt es nicht« (W II 256; seinem Willen zu thun hatte, welcher sich vgl. a. W II 251 u. 260). So macht Schopen- der Wahrheit verschließt und muthwillig Mißverständnisse, Schikanen und Sophis185 Auch an folgender Stelle vergleicht men ins Feld stellt […]. Da ist ihm freilich Schopenhauer den Willen und den Intellekt mit der Wurzel und der Krone eines Baumes: so nicht beizukommen: denn Gründe und »Die Wurzel stellt den Willen, die Krone den Beweise, gegen den Willen angewandt, Intellekt vor, und der Indifferenzpunkt Beider, sind wie die Stöße eines Hohlspiegelphander Wurzelstock, wäre das Ich, welches, als getoms gegen einen festen Körper.« (W II meinschaftlicher Endpunkt, Beiden angehört.« 263) Allerdings ist der Wille – nach Scho(W II 236) 186 Schopenhauer will in diesem Kapitel bepenhauer – auch in der Lage, den Intellekt stimmte »dem innern Leben des Menschen anzu fördern: »Schwierige Umstände, welgehörende Thatsachen« (W II 234) erläutern und dabei mehr leisten als die »vielen systema- che uns die Nothwendigkeit gewisser Leistungen auflegen, entwickeln ganz neue tischen Psychologien« (ebd.). 277
Principium individuationis Talente in uns, deren Keime uns verborgen geblieben waren und zu denen wir uns keine Fähigkeit zutrauten.« (W II 257) In diesem Zusammenhang nennt Schopenhauer nicht zuletzt die »Schlauheit der Dummen« (ebd.). Unabhängig davon, ob der Einfluß des Willens auf die Erkenntnis ein positiver oder negativer ist, kommt es darauf an, daß der Intellekt als Mittel gebraucht wird, um bestimmte – auf Selbsterhaltung oder Erhaltung der Art hinauslaufende – Ziele zu erreichen. Principium individuationis Schopenhauer bezeichnet die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit gelegentlich als principium individuationis, da sie die Bedingung der Möglichkeit dafür sind, daß Individuelles in seiner Vielheit und Verschiedenheit gegeben ist. In diesem Sinne stellt er fest: »Weil nun das gleichartige Viele die Individuen sind; so nenne ich Raum und Zeit, in der Hinsicht, daß sie die Vielheit möglich machen, das principium individuationis« (E 307 f.; vgl. a. W I 157 f., 175, 201, 348 u. 454 sowie N 299). Dabei ermögliche es die Zeit, daß Dinge nacheinander, und der Raum, daß sie nebeneinander gegeben sind: »Die Vorstellung des Zugleichseyns aber ist in der bloßen Zeit nicht möglich; sondern, zur andern Hälfte, bedingt durch die Vorstellung vom Raum; weil in der bloßen Zeit alles nach einander, im Raum aber neben einander ist: dieselbe entsteht also erst durch den Verein von Zeit und Raum.« (G 44) Aufgrund seines – von Kant übernommenen – transzendentalen Idealismus lehrt Schopenhauer, daß lediglich die Erscheinungen, nicht aber das Ding an sich dem principium individuationis unterworfen sind. Allein im Bereich der Erscheinungen – und damit des Satzes vom zureichen278
Lemmata den Grunde – ist nach seiner Auffassung so etwas wie Vielheit und Verschiedenheit anzutreffen.187 Deshalb erstaunt es nicht, daß Schopenhauer das principium individuationis auch als »Form der Erscheinung« (W I 318 u. 415, E 308, W II 713 sowie P I 47) oder als eine »Form des Satzes vom Grund« (W I 272) anspricht. Die Idee hingegen, die er zwischen dem Ding an sich und den Erscheinungen ansiedelt, ist zeitlos und fällt weder unter diesen Satz noch unter das principium individuationis. Schopenhauer erläutert das anhand des folgenden Beispiels: »Denn in gewissem Sinne ist es allerdings wahr, daß wir im Individuo stets ein anderes Wesen vor uns haben, nämlich in dem Sinne, der auf dem Satz vom Grunde beruht, unter welchem auch Zeit und Raum begriffen sind, welche das principium individuationis ausmachen. In einem andern Sinne aber ist es nicht wahr, nämlich in dem, in welchem die Realität allein den bleibenden Formen der Dinge, den Ideen zukommt« (W II 566; vgl. a. W I 272 f., 323 f. u. 438 sowie W II 581 f.). Das principium individuationis nimmt in Schopenhauers Ethik insofern eine zentrale Stellung ein, als diese auf dem Gegensatz zwischen der Vielheit von Individuen in der empirischen Wirklichkeit und der Einheit des ihr zugrunde liegenden Willens als des Dinges an sich aufbaut. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die empirische Wirklichkeit 187 Demgegenüber betont Schopenhauer in Hinblick auf die Welt als Wille: »Dieses innere Wesen aber gerade ist es, was unserm eigenen Bewußtseyn, als dessen Kern, zum Grunde liegt, daher sogar unmittelbarer, als dieses selbst ist und, als Ding an sich, frei vom principio individuationis, eigentlich das Selbe und Identische ist in allen Individuen, sie mögen neben, oder nach einander daseyn.« (W II 656)
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Principium individuationis
nicht nur als Erscheinung, sondern – im also sich selbst in jener wiederfindet, bis Verhältnis zum Willen als Ding an sich – auf einen gewissen Grad, nämlich den als Schein oder Täuschung im Sinne der des Nicht-Unrechtthuns, d. h. des Nichtindischen Maja betrachtet, kann er den verletzens. In eben diesem Grade nun Egoismus, der von der Verschiedenheit durchschaut er das principium individuader Individuen ausgeht, als Resultat einer tionis, den Schleier der Maja: er setzt inIllusion deuten. So legt er dar, daß beim sofern das Wesen außer sich dem eigenen Egoisten die »Erkenntniß, ganz dem Satz gleich: er verletzt es nicht.« (W I 459 f.) vom Grunde hingegeben und im prin- In diesem Zusammenhang unterscheidet cipio individuationis befangen, bei dem Schopenhauer zwischen verschiedenen durch dieses letztere gesetzten gänzlichen Graden der Verneinung des Willens zum Unter schiede zwischen seiner eigenen Leben, die sich aus einer DurchschauPerson und allen andern fest stehn bleibt; ung des principium individuationis ergedaher er allein sein eigenes Wohlseyn ben: der Gerechtigkeit (vgl. W I 460, 465 sucht, vollkommen gleichgültig gegen das u. 468), die sich darauf beschränkt, dem aller Andern, deren Wesen ihm vielmehr Anderen nicht zu schaden, der Menschenvöllig fremd ist, durch eine weite Kluft von liebe (vgl. W I 461, 465 u. 468 f.), die dardem seinigen geschieden, ja, die er eigent- auf hinausläuft, ihm aktiv zur Seite zu stelich nur als Larven, ohne alle Realität, an- hen, sowie der Resignation (vgl. W I 319, sieht.« (W I 451; vgl. a. W I 439, 453 f., 463, 378, 461, 491 u. 498), in der sich der Wille 468 u. 491 f.) Umgekehrt führt die Durch- zum Leben völlig zurücknimmt. Schoschauung des principium individuationis penhauer beschreibt das wie folgt: »Jener zur Einsicht, daß alle Individuen in einem aber, der, das principium individuationis und demselben metaphysischen Prinzip, durchschauend, das Wesen der Dinge an dem Willen als Ding an sich, gründen und sich und dadurch das Ganze erkennt, […] daß egoistisches Verhalten daher nicht sieht sich an allen Stellen zugleich, und den Anderen, sondern letztlich den Han- tritt heraus. – Sein Wille wendet sich, bedelnden selbst trifft. Schopenhauer ist jaht nicht mehr sein eigenes, sich in der überzeugt, daß diese Einsicht dem Egois- Erscheinung spiegelndes Wesen, sondern mus ein Ende setzt: »Wir sehn nun, daß verneint es. Das Phänomen, wodurch dieeinem solchen Gerechten, schon nicht ses sich kund giebt, ist der Uebergang von mehr, wie dem Bösen, das principium in- der Tugend zur Askesis. Nämlich es gedividuationis eine absolute Scheidewand nügt ihm nicht mehr, Andere sich selbst ist, daß er nicht, wie jener, nur seine ei- gleich zu lieben und für sie soviel zu thun, gene Willenserscheinung bejaht und alle wie für sich; sondern es entsteht in ihm andern verneint, daß ihm Andere nicht ein Abscheu vor dem Wesen, dessen Ausbloße Larven sind, deren Wesen von dem druck seine eigene Erscheinung ist, dem seinigen ganz verschieden ist; sondern Willen zum Leben, dem Kern und Wesen durch seine Handlungsweise zeigt er an, jener als jammervoll erkannten Welt. Er daß er sein eigenes Wesen, nämlich den verleugnet daher eben dieses in ihm erWillen zum Leben als Ding an sich, auch scheinende und schon durch seinen Leib in der fremden, ihm bloß als Vorstellung ausgedrückte Wesen, und sein Thun straft gegebenen Erscheinung wiedererkennt, jetzt seine Erscheinung Lügen, tritt in of279
Quietiv fenen Widerspruch mit derselben.« (W I 470 f.)
Lemmata Wirksamkeit. Es tritt eine »Selbstaufhebung des Willens« (W I 499) ein, in der Schopenhauer einen »Freiheitsakt« (W I 500) desselben erblickt.
Quietiv Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß sich die Verneinung des Willens bzw. die Resignation nicht von selbst Raum / Zeit Bei seinen Überlegungen zu einstellt, sondern daß sie durch eine be- Raum und Zeit lehnt sich Schopenhauer stimmte Erkenntnis herbeigeführt wird. in mehrfacher Hinsicht an Kant an. Das Da sie den Willen zur Ruhe kommen läßt, zeigt sich zunächst daran, daß er beide bezeichnet sie Schopenhauer als Quietiv dem Bereich der Sinnlichkeit – den Raum des Willens. Gelangt der Mensch zu dieser dem äußeren, die Zeit dem inneren Sinn Erkenntnis, so gehen daraus »die vollkom- (vgl. G 44, 46 u. 147, W II 37 u. 46, P I mene Resignation […], das Aufgeben alles 115 sowie P II 50 u. 52) – zuordnet und sie Wollens, die Zurückwendung, Aufhebung als apriorische Formen der Anschauung des Willens und mit ihm des ganzen We- (vgl. G 124 u. 147, W I 33, 167 u. 549 sosens dieser Welt, also die Erlösung« (W I wie W II 14, 18 f., 43, 46, u. 377) deutet. 295) hervor. In inhaltlicher Hinsicht han- Als apriorische Formen gründen sie nicht delt es sich beim Quietiv des Willens um in der Erfahrung, sondern fungieren als eine Erkenntnis, welche das Wesen der Bedingungen der Möglichkeit der ErfahWelt erfaßt. Dieses besteht nach Scho- rung von Gegenständen (vgl. W I 29, 33 penhauer darin, daß sich ein und derselbe u. 225) und damit auch, wie Schopenhauer Wille in der Welt als Vorstellung objekti- meint, als »Bedingungen der Möglichkeit viert, daß er sich darin im Widerstreit mit ihres objektiven Daseyns, d. h. ihres Dasich selbst befindet und daß sich dies im seyns als Objekte für uns« (E 49). Aus der Leiden ausdrückt, das in der empirischen Apriorität des Raumes und der Zeit ergibt Wirklichkeit anzutreffen ist. Letztlich ist sich für ihn – wie bereits für Kant – ihre es der eine Wille selbst, der sich in der Subjektivität, das heißt, Raum und Zeit Vielfalt seiner Erscheinungen dieses Lei- gelten beiden Philosophen als »subjektive den zufügt: »Ein und der selbe Wille ist Form[en] des Intellekts« (G 98; vgl. a. W I es, der in ihnen allen lebt und erscheint, 524 f. u. 537, W II 211 f., P I 97 sowie P II 48 dessen Erscheinungen aber sich selbst u. 51), die es ermöglichen, daß einem Subbekämpfen und sich selbst zerfleischen.« jekt räumliche und zeitliche Gegenstände (W I 318; vgl. a. W I 469 u. 491) Schopen- gegeben sind.188 hauer nennt mehrere Wege, auf denen der Mensch diese Einsicht gewinnen kann. 188 Gelegentlich deutet Schopenhauer Dies sind die Erkenntnis der Ideen (vgl. Raum und Zeit als »Gehirnfunktionen« (W II W I 295, 359 u. 483), das Durchschauen 15, 19 u. 28 f. sowie P I 97 ff. u. 108). Es liegt auf der Hand, daß er damit den Rahmen seiner des principii individuationis (vgl. W I 469, transzendentalphilosophischen Überlegungen 491 u. 498) sowie die Erfahrung eigenen sprengt und sich auf das Gebiet der Physiound fremden Leidens (vgl. W I 491). Liegt logie begibt. Unterstellt er Kant, er habe eine diese Einsicht einmal vor, so verlieren »Kritik der Gehirnfunktionen geliefert« (W II 19), so ist dies allerdings, wie folgende Stelle die Motive, die vorher eine Bejahung des belegt, nicht ganz wörtlich zu nehmen: »[D]ies Willens zum Leben ausgelöst haben, ihre [die Fundierung von Raum und Zeit im Ge280
Lemmata Freilich begnügt sich weder Kant noch Schopenhauer mit der bloßen These, das Subjekt müsse, damit ihm Gegenstände gegeben sein könnten, mit den Anschauungsformen des Raumes und der Zeit ausgestattet sein, sondern beide Philosophen behaupten darüber hinaus auch die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit, das heißt, sie vertreten die Auffassung, Raum und Zeit seien keine Eigenschaften vorstellungsunabhängiger Dinge, sondern hafteten lediglich Erscheinungen bzw. Vorstellungen an, die letztlich die empirische Wirklichkeit ausmachten: »Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig, als diese, daß Alles, was für die Erkenntnis daist, also die ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit Einem Wort, Vorstellung. Natürlich gilt Dieses, wie von der Gegenwart, so auch von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft, vom Fernsten, wie vom Nahen: denn es gilt von Zeit und Raum selbst, in welchen allein sich dieses alles unterscheidet.« (W I 29; vgl. a. W I 165, 182 u. 223, N 190 f., E 308, W II 15 f. u. 28 f., P I 95, 99 f. u. 287 sowie P II 293) Als Vorläufer für seine idealistische Deutung des Raumes und der Zeit führt Schopenhauer neben Kant auch Berkeley an. hirn] hat Kant ausführlich und gründlich dargethan; nur daß er nicht das Gehirn nennt, sondern sagt: ›das Erkenntnißvermögen‹.« (W II 16; vgl. a. W II 318 f.) Einerseits hebt Schopenhauer hervor, daß sich beide Betrachtungsweisen – die transzendentalphilosophische, idealistische, und die physiologische, realistische – ergänzen, anderseits ist er sich darüber im klaren, daß sich nicht beide in gleicher Weise aufrecht erhalten lassen, und vertritt die Auffassung, daß die idealistische »in letzter Instanz Recht behält« (W II 59).
Raum / Zeit Diese unterschieden sich darin, daß ersterer von der Art und Weise, in der ein Objekt gegeben sei, also von Raum und Zeit, letzterer hingegen vom Objekt als solchem zu dieser Position gelange (vgl. W II 15). Dabei scheint Schopenhauer den von Berkeley vorgeschlagenen Weg zu favorisieren: »Nun aber ist diesem Allen noch das Berkeley’sche, von mir erneuerte Resultat unterzubreiten, daß nämlich alles Objekt, welchen Ursprung es auch haben möge, schon als Objekt durch das Subjekt bedingt, nämlich wesentlich bloß dessen Vorstellung ist.« (W II 19; vgl. a. W I 29 f. u. 533 f.) Obgleich die transzendentale Idealität des Raumes und der Zeit für Schopenhauer bereits dadurch als ausgemacht gilt, daß ein Objekt stets für ein Subjekt gegeben ist und sich dadurch als bloße Erscheinung bzw. Vorstellung erweist, trägt er gelegentlich ein spezielleres, auf Raum und Zeit zugeschnittenes Argument vor, um deren Idealität einsichtig zu machen. Es handelt sich darum, daß es – nach seiner Auffassung – nicht möglich ist, »Zeit und Raum hinwegzudenken, während man Alles, was in ihnen sich darstellt, sehr leicht hinwegdenkt.« (W II 43; vgl. a. W II 199 u. 358) Daraus ergibt sich, wie Schopenhauer versichert, die Idealität des Raums bzw. der Zeit. An folgender Stelle gewinnt man den Eindruck, als stehe sie damit bereits fest: »Der einleuchtendeste und zugleich einfachste Beweis der Idealität des Raumes ist, daß wir den Raum nicht, wie alles Andere, in Gedanken aufheben können.« (P II 52) Bei anderer Gelegenheit ist Schopenhauer vorsichtiger und schließt daraus, daß sich Bestimmungen wie Raum und Zeit angeblich nicht wegdenken lassen, lediglich auf ihren »subjektiven Ursprung« (W II 27), den er in einem weiteren Schritt mit ihrer tran281
Raum / Zeit szendentalen Idealität gleichsetzt: »Weil nun also der eine Bestandtheil der Erfahrung, nämlich der allgemeine, formelle und gesetzmäßige, a priori erkennbar ist, eben deshalb aber auf den wesentlichen und gesetzmäßigen Funktionen unsers eigenen Intellekts beruht; der andere hingegen, nämlich der besondere, materielle und zufällige, aus der Sinnesempfindung entspringt; so sind ja beide subjektiven Ursprungs. Hieraus folgt, daß die gesammte Erfahrung, nebst der in ihr sich darstellenden Welt, eine bloße Erscheinung, d. h. ein zunächst und unmittelbar nur für das es erkennende Subjekt Vorhandenes, ist« (P I 95; vgl. a. P I 108).189 Mit anderen Worten, Schopenhauer nimmt mit der Subjektivität der Bedingungen der Erkenntnis von Gegenständen zugleich die Subjektivität der Gegenstände der Erkenntnis bzw. der entsprechenden Eigenschaften derselben an. Sind nun Raum und Zeit dem Bereich der Erscheinung bzw. Vorstellung eigentümlich, so bedeutet dies für Schopenhauer, daß sie allein diesem Bereich, nicht aber jenem des Willens als eines Dinges an sich angehören: »Der Wille als Ding an sich ist von seiner Erscheinung gänzlich verschieden und völlig frei von allen Formen derselben, in welche er eben erst eingeht, indem er erscheint, die daher nur seine Objektität betreffen, ihm selbst fremd sind. Schon die allgemeinste Form aller Vorstellung, die des Objekts für ein Subjekt, trifft ihn nicht; noch weniger die dieser untergeordneten, welche insgesammt ihren gemeinschaftlichen Aus189
Einen ähnlichen Übergang vom subjektiven Ursprung zur bloßen Subjektivität vollzieht Schopenhauer auch in Hinblick auf das Kausalitätsprinzip (vgl. W II 18) sowie die empirische Realität (vgl. W II 28).
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Lemmata druck im Satz vom Grunde haben, wohin bekanntlich auch Zeit und Raum gehören« (W I 157; vgl. a. W I 166 f., 175, 181 f., 223, 225 u. 348, E 308, W II 321, P I 99 f. u. 287 sowie P II 47 f. u. 292 f.). Ähnlich wie das Ding an sich fällt – nach Schopenhauer – auch das Subjekt nicht unter die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit: »[D]as Subjekt […] liegt nicht in Raum und Zeit« (W I 32). Gemeint ist damit nicht, daß Menschen keine raumzeitlichen Wesen sind, sondern daß das Subjekt im Sinne eines Trägers der Vorstellungen, also eines transzendentalen Subjekts, die formale Voraussetzung dafür ist, daß überhaupt Vorstellungen – und damit auch raum-zeitliche – gegeben sind, und sich als solche nicht selbst in Raum und Zeit einfügt.190 Schopenhauer folgt Kant auch darin, daß er im Raum und der Zeit die Grundlage zweier apriorischer Wissenschaften – der Geometrie sowie der Arithmetik (vgl. G 150 ff., W I 35 sowie W II 43 f. u. 59) – erblickt, von denen er meint, daß sie synthetische Erkenntnisse lieferten (vgl. G 152 u. W II 42 ff.). In diesem Zusammenhang erklärt er, die Zeit sei insofern die Basis der Arithmetik, als diese von den Zahlen handle, die ihrerseits mit dem Zählen zu tun hätten: »Alles Zählen besteht im wiederholten Setzen der Einheit: bloß um stets zu wissen, wie oft wir schon die Einheit gesetzt haben, markiren wir sie jedesmal mit einem andern Wort: dies sind 190 In
diesem Sinne betont Schopenhauer: »[S]o ist dagegen das Zerfallen in Objekt und Subjekt die gemeinsame Form aller jener Klassen, ist diejenige Form, unter welcher allein irgend eine Vorstellung, welcher Art sie auch sei, abstrakt oder intuitiv, rein oder empirisch, nur überhaupt möglich und denkbar ist.« (W I 29; vgl. a. W I 55)
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die Zahlworte. Nun ist Wiederholung nur a priori gewissen, allgemeinsten Naturgemöglich durch Succession: diese aber, also setzen.« (W I 603) das Nacheinander, beruht unmittelbar auf Als reine Formen der Anschauung bilder Anschauung der Zeit, ist ein nur mit- den Raum und Zeit – nach Schopenhauer – telst dieser verständlicher Begriff: also eine eigene Klasse von Vorstellungen, die ist auch das Zählen nur mittelst der Zeit einer besonderen Gestalt des Satzes vom möglich.« (W II 45) zureichenden Grunde, nämlich dem Satz Ferner vertritt Schopenhauer die Auf- vom zureichenden Grunde des Seins, unfassung, daß Raum und Zeit in zweifacher terworfen ist. Dieser läuft darauf hinaus, Hinsicht unendlich sind, zum einen, was daß alle räumlichen und zeitlichen Obihre Ausdehnung, und zum anderen, was jekte durch andere bestimmt sind: »Raum ihre Teile anbelangt: »Endlich und Unend- und Zeit haben die Beschaffenheit, daß lich sind Begriffe, die bloß in Beziehung alle ihre Theile in einem Verhältniß zu auf Raum und Zeit Bedeutung haben; in- einander stehn, in Hinsicht auf welches dem diese Beiden unendlich, d. h. endlos, jeder derselben durch einen andern bewie auch in’s Unendliche theilbar sind.« stimmt und bedingt ist. Im Raum heißt (P II 24 Anm.; vgl. a. G 44 u. 172 sowie dies Verhältniß Lage, in der Zeit Folge.« W I 36, 62, 183 u. 200) Schopenhauer über- (G 148; vgl. a. W I 34 f., 66 u. 73) Ist aber trägt diese Einschätzung von Raum und die Position eines räumlichen oder zeitZeit als Formen der Anschauung auf das, lichen Objekts prinzipiell durch ihr Verwas raum-zeitlich gegeben ist, nämlich hältnis zu anderen definiert, so ist sie nicht auf die empirische Wirklichkeit als den absolut, sondern – in Bezug darauf, was Inhalt, der in den genannten Formen zur sie definiert – relativ. Dies entspricht, wie Erscheinung gelangt. Dies aber bedeutet, Schopenhauer darlegt, der »Urbeschafdaß sich Schopenhauer – im Gegensatz zu fenheit unsers ganzen ErkenntnißvermöKant – auf die unendliche raum-zeitliche gens […], welche demnach anzusehn wäre Ausdehnung der Welt und die unendliche als der innerste Keim aller Dependenz, Teilbarkeit der Materie festlegt. Während Relativität, Instabilität und Endlichkeit Kant in seinen Ausführungen zu den An- der Objekte unsers […] Bewußtseyns« tinomien der reinen Vernunft die Fragen (G 175). nach der raum-zeitlichen Ausdehnung der Schopenhauer betrachtet Raum und Welt sowie nach der Teilbarkeit der Ma- Zeit insofern als Bedingung der Vielheit, terie als nicht entscheidbar offen hält, ge- als die Zeit ein Nacheinander und der langt Schopenhauer zum Ergebnis, daß sie Raum ein Nebeneinander verschiedener im Sinne dessen, was Kant in seinen An- Objekte ermöglicht (vgl. W I 31 f. u. 166, tithesen formuliert, zu beantworten seien: W II 321, 377 u. 591 sowie P I 99). Verge»Ueber alles dieses aber finde und be- genwärtigt man sich, daß Schopenhauer haupte ich, daß die ganze Antinomie eine die transzendentale Idealität des Raumes bloße Spiegelfechterei, ein Scheinkampf und der Zeit annimmt, so läßt sich nachist. Nur die Behauptungen der Antithesen vollziehen, daß er dem Ding an sich jede beruhen wirklich auf den Formen unsers Vielheit abspricht: »Ist aber dem Dinge Erkenntnißvermögens, d. h. wenn man es an sich, d. h. dem wahren Wesen der Welt, objektiv ausdrückt, auf den nothwendigen, Zeit und Raum fremd; so ist es nothwendig 283
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auch die Vielheit: folglich kann dasselbe u. 579 sowie W II 59) die Voraussetzung in den zahllosen Erscheinungen dieser dafür, daß es ein Beharrliches gibt, desSinnenwelt doch nur Eines seyn, und nur sen Zustände wechseln. Solch ein Beharrdas Eine und identische Wesen sich in die- liches aber bezeichnet man gewöhnlich sen allen manifestiren.« (E 308) Da nun als Substanz, seine Zustände hingegen als Raum und Zeit als Bedingung der Mög- Akzidenzien. Dabei identifiziert Schopenlichkeit der Vielheit zugleich die Voraus- hauer die Substanz mit der Materie und setzung dafür sind, daß sich Individuelles kann daher konstatieren, daß »die Subgleicher Art voneinander unterscheidet, stanz, d. i. die Materie, beharrt, und ungebraucht Schopenhauer gern den Aus- geachtet der starren Unbeweglichkeit des druck principium individuationis, um die Raums ihre Zustände wechseln« (G 45). beiden Anschauungsformen zu beschrei- Raum und Zeit sind nicht allein reine Anben: »Weil nun das gleichartige Viele die schauungsformen, sondern stellen auch Individuen sind; so nenne ich Raum und Bestimmungen der Materie – also der emZeit, in der Hinsicht, daß sie die Vielheit pirischen Wirklichkeit – dar: »Sie [die Mamöglich machen, das principium indivi- terie] beurkundet ihren Ursprung aus dem duationis« (E 307 f.; vgl. a. W I 157 f., 175, Raum, theils durch die Form, die von ihr 201, 348 u. 454 sowie N 299). unzertrennlich ist, besonders aber (weil Schopenhauer ist darüber hinaus der der Wechsel allein der Zeit angehört, in Auffassung, daß Raum und Zeit gemein- dieser allein und für sich aber nichts Bleisam die Voraussetzung dafür sind, daß es bendes ist) durch ihr Beharren (Substanz), so etwas wie Beharren und Wechsel gibt. dessen Gewißheit a priori daher ganz und Während in der Zeit nur Veränderung gar von der des Raumes abzuleiten ist: ihstattfinde, bleibe im bloßen Raum alles ren Ursprung aus der Zeit aber offenbart gleich: »Wäre die Zeit die alleinige Form sie an der Qualität (Accidenz), ohne die dieser Vorstellungen; so gäbe es kein Zu- sie nie erscheint, und welche schlechthin gleichseyn und deshalb nichts Beharrli- immer Kausalität, Wirken auf andere Maches und keine Dauer. […] Wäre anderer- terie, also Veränderung (ein Zeitbegriff) seits der Raum die alleinige Form der Vor- ist.« (W I 38) stellungen dieser Klasse; so gäbe es keinen Wie sich gezeigt hat, treten Raum und Wechsel: denn Wechsel, oder Verände- Zeit sowohl als reine Formen der Anrung, ist Succession der Zustände, und schauung wie auch als Eigenschaften der Succession ist nur in der Zeit möglich.« empirischen Wirklichkeit auf, die ihnen (G 44; vgl. a. W I 36 u. P I 115) Ähnliches unterworfen ist. Im letzteren Fall wären gilt für Schopenhauer auch für die Wahr- sie, wie Schopenhauer erklärt, »erfüllt« nehmung von Beharren und Wechsel. Das bzw. »wahrnehmbar«, das heißt, sie gineine bedarf, wie er darlegt, des Gegensat- gen mit – durch Empfindung angezeigzes zum anderen, um wahrgenommen zu ter – Materie einher. Diese wäre die Bewerden: »Raum und Zeit müssen immer dingung dafür, daß Raum und Zeit wahrdienen, einander wechselseitig zu erläu- genommen werden könnten: »Aber nur tern« (P I 114). Demnach bilden nun Raum als erfüllt sind diese wahrnehmbar. Ihre und Zeit im »Verein« (G 44 u. W I 37) bzw. Wahrnehmbarkeit ist die Materie« (G 44). in ihrer »Vereinigung« (G 44 f., 36 ff., 183 In diesem Zusammenhang hebt Schopen284
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Raum / Zeit
hauer hervor: »Zeit aber und Raum, je- den sie zurückgeht, als sie verursachendes für sich, sind auch ohne die Materie den in den Raum projiziert: »Erst indem anschaulich vorstellbar; die Materie aber der Verstand von der Wirkung auf die nicht ohne jene. Schon die Form, wel- Ursache übergeht, steht die Welt da, als che von ihr unzertrennlich ist, setzt den Anschauung im Raume ausgebreitet, der Raum voraus, und ihr Wirken, in welchem Gestalt nach wechselnd, der Materie nach ihr ganzes Daseyn besteht, betrifft immer durch alle Zeit beharrend: denn er vereine Veränderung, also eine Bestimmung einigt Raum und Zeit in der Vorstellung der Zeit.« (W I 36) Da nun die Materie Materie, d. i. Wirksamkeit.« (W I 39; vgl. a. stets in raum-zeitlicher Form in Erschei- G 68, 73 u. 98, W II 31 f. u. 48 f. sowie P I nung tritt, spricht Schopenhauer immer 107 f. u. 327) Demnach wird die Vereiniwieder davon, daß sie eine »Vereinigung« gung von Raum und Zeit dadurch vollzo(W I 36 f., 183 u. 579 sowie W II 59 u. 61) gen, daß ein räumlicher Gegenstand, der von Raum und Zeit darstelle bzw. darin zunächst nicht als solcher gegeben ist, »im gründe. Raume […] konstruir[t]« (G 68) wird und Freilich haftet der Rede von der »Ver erst auf diese Weise die Eigenschaft der einigung« von Raum und Zeit insofern Räumlichkeit erhält.191 Vereinigt wären eine gewisse Ambiguität an, als sie bald dann Raum und Zeit aufgrund des beauf einen Zustand, bald auf einen Vor- schriebenen Vorgangs, der seinerseits, wie gang zu verweisen scheint. Daß es sich um Schopenhauer darlegt, Raum, Zeit und einen Zustand handelt, bringt Schopen- Kausalität als apriorische Bedingungen hauer dadurch zum Ausdruck, daß er von auf seiten des Subjekts voraussetzt: »Aleinem »Verein von Zeit und Raum« (G 44 lerdings setzt der Uebergang zu diesem u. W I 37) spricht und in diesem Sinne er- Objekt als Ursache schon die Erkenntklärt, beide müßten »vereinigt seyn« (W I niß des Kausalverhältnisses, wie auch der 37). Anderseits geht es Schopenhauer je- Gesetze des Raums voraus: diese Beiden doch auch darum, diesen Zustand als aber sind eben die Ausstattung des IntelResultat eines Vorgangs zu begreifen. lekts, der auch hier wieder aus der bloßen So legt er dar, daß eine Vereinigung »zu Empfindung die Anschauung zu schaffen Stande kommt« (G 45), und zwar durch hat.« (G 73; vgl. a. W II 48 f. u. P I 107 f.)192 die »Funktion des Verstandes« (ebd. u. W I 39) bzw. die »Kausalität« (W I 37), die 191 Auf den Einwand, bereits der Leib als er im Vermögen des Verstandes ansiedelt. Träger der Empfindung partizipiere am Raum, Schopenhauer geht davon aus, daß eine könnte Schopenhauer entgegnen, der Leib in bloße Empfindung noch keine Wahrneh- dieser Funktion sei lediglich ein unmittelbares mung des räumlichen Gegenstandes ist, Objekt, also nicht als Objekt – und damit auch der sie, indem er den Leib affiziert hat, nicht als räumliche Gegebenheit – thematisch. 192 G 98: »Ja, die Zeit, diese erste Bedingung dort verursacht hat. Dabei erklärt Scho- der Möglichkeit jeder Veränderung, also auch penhauer den Übergang von der Emp- der, auf deren Anlaß die Anwendung des Kaufindung zur Wahrnehmung dadurch, daß salitätsbegriffs erst eintreten kann; nicht wenidas Subjekt vermittels der Kategorie der ger der Raum, welcher das Nach-Außen-verlegen einer Ursache, die sich darauf als Objekt Kausalität im Ausgang von der Empfin- darstellt, allererst möglich macht, ist […] eine dung den affizierenden Gegenstand, auf subjektive Form des Intellekts.« 285
Realismus
Lemmata
Realismus Zwar gilt Schopenhauer ge- sich die empirische Wirklichkeit aus von meinhin als Vertreter einer idealistischen der Vorstellung unabhängigen Dingen Position, aber das hindert ihn keineswegs bzw. aus Dingen an sich zusammensetzt. daran, die – ihr entgegengesetzte – reali- Aus der Tatsache, daß empirische Dinge, stische Position erstaunlich differenziert wenn sie gegeben sind, stets einem Subjekt einzuschätzen. In diesem Zusammenhang gegeben sind bzw. von diesem vorgestellt setzt er den Realismus zunächst mit der werden, glaubt Schopenhauer folgern zu Auffassung gleich, die »Körper wären als dürfen, daß sie bloße Vorstellungen sind. solche nicht bloß in unserer Vorstellung, In diesem Sinne stellt er fest: »Der Reasondern auch wirklich und wahrhaft vor- lismus übersieht aber, daß das sogenannte handen« (P II 45; vgl. a. G 47 u. W I 42). Seyn dieser realen Dinge doch durchaus Um nun Vorstellungen, denen etwas nichts Anderes ist, als ein VorgestelltwerWirkliches entspricht, also objektive Vor- den […]: er übersieht, daß das Objekt austellungen, von solchen, denen nichts ßerhalb seiner Beziehung auf das Subjekt Wirkliches entspricht, also subjektiven nicht mehr Objekt bleibt, und daß, wenn Vorstellungen wie Träumen oder Phan- man ihm diese nimmt oder davon abstratasmen, zu unterscheiden, hebt Schopen- hirt, sofort auch alle objektive Existenz hauer hervor, erstere seien »nicht Lüge, aufgehoben ist.« (G 47 f.; vgl. a. W I 42 noch Schein« (W I 43). Vielmehr besteht u. W II 11) Angesichts der Tatsache, daß er darauf, daß sie nicht bloße Vorstellun- Schopenhauer in der Einsicht, die empigen seien, sondern auf reale Dinge verwie- rische Wirklichkeit sei eine Vorstellung, sen: »Bloß dem durch Vernünfteln ver- die »gewisseste und einfachste Wahrheit« schrobenen Geist kann es einfallen, über (W II 11) erblickt, überrascht es nicht weiihre Realität zu streiten« (W I 43). Dabei ter, daß er die realistische Position für »etbezeichnet Schopenhauer die Spielart des was völlig Undenkbares« (W I 42, W II 12 Realismus, die auf der Objektivität der u. 16 sowie P II 45) hält.193 Vorstellungen der äußeren Wirklichkeit Die entgegengesetzte, angeblich richtige im Vergleich zur Subjektivität bloßer Vor- Auffassung bezeichnet Schopenhauer – in stellungen besteht, in Anlehnung an Kant 193 Historisch führt Schopenhauer die Überals empirischen Realismus. windung des Realismus auf Descartes (vgl. P I Daß sich Schopenhauer diese Position 325) und Berkeley (vgl. P II 45), vor allem jezu eigen macht, hindert ihn allerdings doch auf Kant zurück: »Dieses Verdienst Kants nicht daran, einen »absoluten Realismus« hängt damit zusammen, daß das besinnungslose Nachgehn den Gesetzen der Erscheinung, das (W II 16), also einen in jeder Hinsicht gülErheben derselben zu ewigen Wahrheiten und tigen Realismus, zurückzuweisen. Wendet dadurch der flüchtigen Erscheinung zum eier sich gegen den Realismus und lehnt er gentlichen Wesen der Welt, kurz, der in seinem ihn als »willkürliche[] Annahme«, »win- Wahn durch keine Besinnung gestörte Rea lismus in aller vorhergegangenen Philosophie diges Luftgebäude« oder gar als »Wahn« der alten, der mittleren und der neueren Zeit (W I 521 u. W II 11) ab, so bezieht sich durchaus herrschend gewesen war. […] Kandieses Verdikt keineswegs auf den Rea- ten also war es vorbehalten, der idealistischen lismus insgesamt. Was Schopenhauer ab- Grundansicht […] wenigstens in der Philosophie zur Herrschaft zu verhelfen. Vor Kant also lehnt, ist lediglich der transzendentale waren wir in der Zeit; jetzt ist die Zeit in uns, Realismus, der darauf hinausläuft, daß u. s. f.« (W I 521 f.) 286
Lemmata Anlehnung an Kant – als transzendentalen Idealismus, den er mit dem empirischen Realismus verbindet: »Der wahre Idealismus hingegen ist eben nicht der empirische, sondern der transscendentale. Dieser läßt die empirische Realität der Welt unangetastet, hält aber fest, daß alles Objekt, also das empirisch Reale überhaupt, durch das Subjekt zwiefach bedingt ist: erstlich materiell, oder als Objekt überhaupt, weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art und Weise der Existenz des Objekts, d. h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität), vom Subjekt ausgeht, im Subjekt prädisponirt ist.« (W II 15; vgl. a. G 47, W I 42 f., W II 10 u. 375, P I 99 sowie P II 119) Geht die transzendentale Idealität der Wirklichkeit mit ihrer empirischen Realität einher, so bedeutet dies natürlich, daß der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Vorstellungen nicht etwa darin liegt, daß sich letztere auf Dinge jenseits des Bereichs der Vorstellung beziehen, sondern daß er innerhalb dieses Bereichs angesiedelt ist, und zwar dergestalt, daß die realen Objekte aus besonderen, »zum Komplex der an sich selbst stets ideal bleibenden empirischen Realität verknüpften Vorstellungen« (G 49 Anm.) bestehen.194 Freilich bleibt Schopenhauer nicht beim transzendentalen Idealismus stehen, der, sofern er nicht korrigiert werde, die Gestalt eines »absoluten Idealismus« annehme. Gerade diesen akzeptiert Schopenhauer nicht: »Das angeschaute Objekt aber muß etwas an sich selbst seyn und
Realität nicht bloß etwas für Andere: denn sonst wäre es schlechthin nur Vorstellung, und wir hätten einen absoluten Idealismus, der am Ende theoretischer Egoismus würde, bei welchem alle Realität wegfällt und die Welt zum bloßen subjektiven Phantasma wird.« (W II 226; vgl. a. W I 148) Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer die empirische Wirklichkeit im Bereich der Vorstellung ansiedelt, muß er dem Realen, das er dem transzendentalen Idealismus als Korrektiv entgegenstellt, einen Ort jenseits der empirischen Wirklichkeit zuweisen: »Die reale Seite muß etwas von der Welt als Vorstellung toto genere Verschiedenes seyn, nämlich Das, was die Dinge an sich selbst sind« (W II 226). Da es sich bei diesem Ort um einen jenseits der empirischen Wirklichkeit liegenden, metaphysischen Ort handelt, könnte man – von der Sache her – sagen, Schopenhauer stelle dem transzendentalen Idealismus einen metaphysischen Realismus zur Seite.195 Realität Schopenhauer gebraucht den Ausdruck »Realität« zumeist, um die empirische Wirklichkeit zu bezeichnen. Als transzendentaler Idealist vertritt er die Auffassung, diese bestehe nicht aus von der Vorstellung unabhängigen Dingen, sondern aus Vorstellungen, liege also allein im Bewußtsein vor: »Die ganze Welt der Objekte ist und bleibt Vorstellung, und eben deswegen durchaus und in alle Ewigkeit durch das Subjekt bedingt: d. h. sie hat transscendentale Idealität.« (W I 42 f.; vgl. a. G 47 f., W II 10 f. u. 570 sowie P II 646)
194
Die präzise Angabe eines Kriteriums, das es gestattet, diesen Komplex von bloß subjektiven Vorstellungen zu unterscheiden, bleibt Schopenhauer freilich schuldig.
195 Schopenhauer
selbst gebraucht diesen Ausdruck freilich nicht.
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Realität
Lemmata
Genauer gesagt identifiziert Schopen- gemeint, daß Vergangenheit und Zukunft hauer die empirische Realität mit an- irreal wären, sondern lediglich, daß sie schaulichen, mit Empfindung einherge- nicht unmittelbar gegeben sind. Dies geht henden Vorstellungen. Dabei falle der daraus hervor, daß Schopenhauer die Empfindung die Aufgabe der »Beglaubi- Realität der Dinge weniger darin erblickt, gung ihrer Realität« (G 43) zu, das heißt, daß sie aktuell gegeben sind, als vielmehr sie zeige an, ob es sich um bloße Vorstel- darin, daß sie potentiell – z. B. in der Verlungen oder um Vorstellungen von Wirk- gangenheit oder Zukunft – gegeben sind lichem handle. Schopenhauer besteht also bzw. sein könnten. So differenziert er, daß trotz des transzendentalen Idealismus, »das sogenannte Seyn dieser realen Dinge den er vertritt, auf dem Unterschied zwi- doch durchaus nichts Anderes ist, als ein schen Vorstellungen, die auf Wirkliches Vorgestelltwerden, oder, wenn man darauf verweisen, und solchen, die es – wie etwa besteht, nur die unmittelbare Gegenwart Phantasmen und Träume – nicht tun.196 im Bewußtseyn des Subjekts ein VorgeDeshalb kommt es für ihn nicht ernsthaft stelltwerden κατ᾽ εντελεχειαν zu nennen, in Betracht, die Wirklichkeit der Welt zu gar nur ein Vorgestelltwerdenkönnen bezweifeln: »Bloß dem durch Vernünf- κατα δυναμιν« (G 47 f.). teln verschrobenem Geist kann es einfalUm deutlich zu machen, daß sich die len, über ihre Realität zu streiten« (W I empirische Realität nicht in der Gegen43). Vor diesem Hintergrund kann man wart erschöpft, beschreibt Schopenhauer resümieren, daß Schopenhauer ein »Zu- diese als »Gesammtvorstellung« (G 44 f.) sammenbestehn der empirischen Reali- bzw. als »end- und anfangslosen Komtät der Dinge mit der transscendentalen plex« (G 43 ff.) von Vorstellungen, der von Idealität derselben« (G 47; vgl. a. G 43, den »Formen des Satzes vom Grunde« W I 43, W II 10, 15 u. 375, E 137 u. P I 99) (G 45) zusammengehalten wird. Dies sind annimmt. insbesondere die Anschauungsformen des Gelegentlich setzt Schopenhauer die Raumes und der Zeit sowie die Kategorie Realität mit der aktuellen Gegebenheit der Kausalität. Was die beiden ersteren der Dinge gleich. So erklärt er: »Vor Al- anbelangt, so behauptet Schopenhauer, lem müssen wir deutlich erkennen, daß die empirische Realität sei ein »Produkt« die Form der Erscheinung des Willens, oder eine »Vereinigung« (G 44 f. u. W I also die Form des Lebens oder der Reali- 36 f.) beider, welche auf der Kategorie der tät, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Kausalität bzw. dem ihr entsprechenden Zukunft, noch Vergangenheit: diese sind Vermögen des Verstandes beruhe. Genur im Begriff, sind nur im Zusammen- meint ist damit, daß Kausalität sowohl hange der Erkenntniß da, sofern sie dem Wechsel in der Zeit als auch Beharren im Satz vom Grunde folgt.« (W I 351; vgl. a. Raum voraussetzt, wobei das eine nicht W I 352 u. P I 99) Freilich ist damit nicht ohne den Gegensatz des anderen erkannt werden könne: »Die Veränderung, d. h. 196 Freilich räumt Schopenhauer ein, daß er der nach dem Kausalgesetz eintretende über kein sicheres Kriterium verfügt, welches Wechsel, betrifft also jedesmal einen bees ihm gestatten würde, in jedem einzelnen Fall stimmten Theil des Raumes und einen zwischen beiden Arten von Vorstellungen zu bestimmten Theil der Zeit zugleich und unterscheiden (vgl. a. W I 44 f.). 288
Lemmata im Verein. Demzufolge vereinigt die Kausalität den Raum mit der Zeit.« (W I 37)197 Zwar weiß Schopenhauer zwischen subjektiven und objektiven Vorstellungen bzw. solchen ohne und solchen mit Wirklichkeitsgehalt zu unterscheiden und kann deshalb auf der Realität der empirischen Wirklichkeit bestehen, aber das hindert ihn keineswegs daran, letztere in die Nähe eines Traumes zu rücken (vgl. W I 45, 47 u. 523 sowie W II 10). Darin liegt insofern kein Widerspruch, als diese Einschätzung aus einer anderen Perspektive als die Distinktion zwischen den subjektiven und objektiven Vorstellungen getroffen wird. Schopenhauer verläßt nun die empirische Ebene und wendet sich der metaphysischen zu. Unter dieser Voraussetzung kann er versichern, daß »die gewähnte absolute Realität [der empirischen Wirklichkeit] verschwindet und für eine ganz andere Weltordnung Raum läßt, die das jenem Phänomen zum Grunde Liegende wäre, d. h. sich dazu verhielte, wie zur bloßen Erscheinung das Ding an sich selbst« (W II 9; vgl. a. P I 99). Bekanntlich deutet Schopenhauer dieses als Willen, und er zögert nicht, ihm Eigenschaften wie »Daseyn« und »Realität« (W I 149, W II 226 u. 521 sowie P I 100 u. 102) zuzuschrei197 Es
mag dahingestellt bleiben, ob, wenn von einem »Produkt« die Rede ist, »Vereinigung« weniger als Resultat, sondern als Prozeß, der zu diesem führt, zu verstehen sei. Für solch eine Deutung spräche zumindest, daß Schopenhauer im Rahmen seiner Theorie der Konstitution des empirischen Objekts die Auffassung vertritt, dieses entstehe durch eine mit Hilfe der Kategorie der Kausalität durchgeführte Projektion der Empfindung in den Raum: »Bei diesem Proceß nimmt nun der Verstand […] alle, selbst die minutiösesten Data der gegebenen Empfindung zu Hülfe, um, ihnen entsprechend, die Ursache derselben im Raume zu konstruiren.« (G 68; vgl. a. G 85 f. u. W I 53)
Recht / Unrecht ben. Genau darauf will er letztlich hinaus, wenn er konstatiert: »[A]lso kann das Seyn der Dinge an sich kein objektives mehr seyn, sondern nur ein ganz anderartiges, ein metaphysisches.« (W II 14) Mit anderen Worten, Schopenhauer überbietet die empirische Realität, indem er die Exi stenz einer metaphysischen annimmt.198 Recht / Unrecht Schopenhauer bestimmt die Begriffe des Rechts und des Unrechts im Ausgang vom Phänomen der Bejahung des Willens. Dabei geht er von der Beobachtung aus, daß das menschliche Individuum zunächst sein Dasein bzw. seinen Willen zum Leben bejaht. Das zeige sich daran, daß es für die Erhaltung des Leibes sorge und sich dem Geschlechtstrieb hingebe. Nun könne die Bejahung des eigenen Willens soweit gehen, daß der Wille anderer Individuen beeinträchtigt oder verletzt werde. Genau darin erblickt Schopenhauer das Unrecht: »Dieser Einbruch in die Gränze fremder Willensbejahung ist von jeher deutlich erkannt und der Begriff desselben durch das Wort Unrecht bezeichnet worden.« (W I 417) In diesem Zusammenhang hebt Schopenhauer hervor, daß er lediglich einen aktiven Eingriff in den Bereich des fremden Willens als Unrecht betrachtet, nicht aber die Unterlassung von Handlungen, die eine Beförderung fremder Interessen beinhalten. Zwar hält er es für verwerflich, einem Menschen, der in Not geraten ist, Hilfe zu verweigern, doch er lehnt es ab, in einem derartigen Fall von Unrecht zu sprechen. 198 Darüber
hinaus zeichnen sich – nach Schopenhauer – auch die Ideen durch Realität aus. So stellt er fest, daß »nur die Ideen, nicht die Individuen eigentliche Realität haben, d. h. vollkommene Objektität des Willens sind« (W I 349; vgl. a. P I 79).
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Reflexion
Lemmata
Was das Verhältnis des Unrechts zum turrecht nachgeordnet sei. Schopenhauer Recht betrifft, so stuft Schopenhauer das bezeichnet das Naturrecht auch als »ethierstere als positiv und das letzte als nega- sches« oder »moralisches Recht«, weil es tiv ein. Damit meint er, daß das Unrecht mit der Bejahung und der Verneinung ursprünglicher als das Recht ist. Nach des Willens die moralische Bedeutung seiner Auffassung tritt zunächst das Un- des menschlichen Handelns zum Gegenrecht in Erscheinung, während das Recht stand hat. Demgegenüber entspringe das lediglich die Abwesenheit von Unrecht positive Recht lediglich dem Anliegen, sei: »Die Ungerechtigkeit, oder das Un- das Erleiden von Unrecht zu verhindern. recht, besteht demnach allemal in der Ver- Die in moralischer Hinsicht entscheiletzung eines Andern. Daher ist der Be- dende innere Einstellung des Menschen griff des Unrechts ein positiver und dem spiele im positiven Recht keine entscheides Rechts vorhergängig, als welcher der dende Rolle: »Hingegen den Staat kümnegative ist und bloß die Handlungen be- mern Wille und Gesinnung, bloß als solzeichnet, welche man ausüben kann, ohne che, ganz und gar nicht; sondern allein die Andere zu verletzen, d. h. ohne Unrecht That (sie sei nun bloß versucht oder ausgezu thun.« (E 256) Insbesondere stelle das führt) wegen ihres Korrelats, des Leidens Recht eine Maßnahme gegen das Unrecht von der andern Seite.« (W I 429) Schodar, deren Zweck darin bestehe, es zu ver- penhauer geht noch einen Schritt weiter hindern. Um dies zu erreichen, dürfe man und behauptet sogar, das positive Recht sogar Gewalt anwenden: »Der Begriff des gründe letzten Endes in einem »methoRechts, als der Negation des Unrechts, hat disch verfahrenden« (W I 427) bzw. einem aber seine hauptsächliche Anwendung, »mit Vernunft ausgerüstete[n] Egoismus« und ohne Zweifel auch seine erste Ent- (W I 435). Es liegt auf der Hand, daß sich stehung, gefunden in den Fällen, wo ver- der Gegensatz zwischen Naturrecht und suchtes Unrecht durch Gewalt abgewehrt positivem Recht angesichts dieses Verwird, welche Abwehrung nicht selbst wie- dikts erheblich verschärft. der Unrecht seyn kann, folglich Recht ist; obgleich die dabei ausgeübte Gewaltthä- Reflexion Schopenhauer gebraucht den tigkeit, bloß an sich und abgerissen be- Ausdruck »Reflexion«, um die abstrakte trachtet, Unrecht wäre, und hier nur durch – der intuitiven entgegengesetzte – Erihr Motiv gerechtfertigt, d. h. zum Recht kenntnis zu bezeichnen, welche sich im wird.« (W I 423) Medium der Begriffe und Worte vollRecht und Unrecht sind nach Schopen- zieht. In diesem Sinne identifiziert er sie hauer in erster Linie naturrechtliche Be- geradezu mit der »abstrakten Erkenntniß, griffe, d. h. sie betreffen das menschliche mittelst Begriffen und Worten, als welHandeln als solches bzw. den Menschen che das Material […] des Denkens, also im Naturzustand. In diesem Bereich gehe der Vernunft, sind« (G 85; vgl. a. W I 66 es darum, »nicht Unrecht zu thun, kei- u. 203 sowie P I 121).199 Betrachtet man neswegs aber in jedem Fall nicht Unrecht den an dieser Stelle angedeuteten Zusamzu leiden« (W I 425). Letzteres zu verhin199 Bei anderer Gelegenheit erklärt Schodern sei vielmehr Aufgabe des positiven, penhauer freilich, die Aufgabe der Reflexion vom Staat gesetzten Rechts, das dem Na- liege in der »Bildung der Begriffe« (W I 550). 290
Lemmata
Reflexion
menhang zwischen der Reflexion und der den nämlichen Umriß darstellt« (W I 557; Vernunft etwas genauer, so entdeckt man vgl. a. W I 73). allerdings, daß letztere eher das »VermöIm Gegensatz zur Kunst, welcher die gen des Menschen, zu denken, zu überle- »Sprache der Anschauung, nicht die abgen, zu reflektiren« (G 145; vgl. a. G 127 u. strakte und ernste der Reflexion« (W II N 249) als das Denken oder die Reflexion 479) angemessen sei, habe sich die Phiselbst darstellt. losophie des Begriffs zu bedienen: »Für Was aber den Gegensatz zwischen der diesen daher, also für die Reflexion und intuitiven und der abstrakten Erkennt- in abstracto, eine eben deshalb bleibende nis anbelangt, so besteht er, wie Scho- und auf immer genügende Beantwortung penhauer versichert, darin, daß allein jener Frage [nach dem Leben] zu geben, die erstere einen Inhalt zur Verfügung – ist die Aufgabe der Philosophie.« (W II stellt, letztere hingegen diesen nachträg- 479 f.) Es fällt auf, daß Schopenhauer vor lich im Medium der Begriffe zum Aus- allem bei der Diskussion zweier wichtiger druck bringt. Was die Reflexion liefert, philosophischer Probleme auf die Refleist lediglich »Abspiegelung«, »Nachbil- xion setzt: bei der Ermittlung der formadung«, »Wiederholung« oder »Wieder- len Voraussetzungen der Erkenntnis soschein [sic!]« (W I 68, 73 u. 127).200 In die- wie bei der Ergründung des Wesens der ser Hinsicht erweist sich die Reflexion Welt. So erklärt er, die »formalen Bedinals ein »Abgeleitete[s] und Sekundäre[s]« gungen alles Denkens« ließen sich »durch (G 117). Schopenhauer spricht auch von eine Reflexion [erkennen], die ich eine einer »zweiten Potenz der Vorstellung« Selbstuntersuchung der Vernunft nennen (N 264 u. W II 118) oder »höhere[n] Po- möchte« (G 125; vgl. a. Vo I 285 u. HN I tenz der anschaulichen Erkenntniß« (W I 60). Was aber die Frage nach dem Wesen 203). Nach seiner Auffassung erfährt der der Welt anbelangt, so ist Schopenhauer Inhalt durch die Darstellung im Medium davon überzeugt, daß es im Willen als der Begriffe insofern eine Veränderung, dem Ding an sich bestehe. Da sich dieser als er an Konkretion verliert und abstrakt nicht unmittelbar erkennen lasse, könne wird. Um diesem Umstand gerecht zu man nicht umhin, sich auf den »Umweg[] werden, modifiziert Schopenhauer seine der Reflexion« (P II 44) zu begeben, die optischen Metaphern und erklärt, daß sich zunächst auf das Innere des Subjekts »die Reflexion sich zur anschaulichen Er- richte (vgl. W II 325 u. P II 44), um sodann kenntniß keineswegs verhält, wie der Spie- die auf diese Weise erlangte Einsicht auf gel im Wasser zu den abgespiegelten Ge- das Gesamt der Welt als Vorstellung zu genständen, sondern kaum nur noch so, übertragen: »Diese Anwendung der Rewie der Schatten dieser Gegenstände zu flexion ist es allein, welche uns nicht mehr ihnen selbst, welcher Schatten nur einige bei der Erscheinung stehn bleiben läßt, äußere Umrisse wiedergiebt, aber auch sondern hinüberführt zum Ding an sich.« das Mannigfaltigste in die selbe Gestalt (W I 154; vgl. a. W II 338) vereinigt und das Verschiedenste durch Schließlich gebraucht Schopenhauer den Ausdruck »Reflexion«, um seine ei200 Daher klassifiziert Schopenhauer den gene philosophische Methode gegen im Ausdruck »Reflexion« als »optische[n] Tropus« spekulativen Idealismus auftretende In(G 117). 291
reines Subjekt des Erkennens
Lemmata
stanzen wie die »intellektuelle Anschau zur Erkenntniß der Idee, als reine Konung«, »absolutes Denken« oder die »Selbst templation, Aufgehn in der Anschauung, bewegung der Begriffe« (P I 31) abzugren- Verlieren ins Objekt, Vergessen aller Indizen. Dabei spricht er von der Reflexion als vidualität, Aufhebung der dem Satz vom der »vernünftigen Besinnung, unbefange- Grunde folgenden und nur Relationen fasnen Ueberlegung und redlichen Darstel senden Erkenntnißweise, wobei zugleich lung[]« (ebd.). Er setzt sie mit dem »eigent und unzertrennlich das angeschaute einlichen, normalen Gebrauch der Vernunft« zelne Ding zur Idee seiner Gattung, das (ebd.) gleich. erkennende Individuum zum reinen Subjekt des willenlosen Erkennens sich erreines Subjekt des Erkennens Unter hebt« (W I 253; vgl. a. W I 232 u. 482 sowie dem reinen Subjekt des Erkennens ver- W II 436 u. 440). Ist davon die Rede, daß steht Schopenhauer nicht etwa eine geson- sich der Mensch in dem, was er anschaut, derte Entität, sondern einen Zustand, in verliert oder daß er darin aufgeht, so ist den sich der Mensch bei der Kontempla- damit gemeint, »daß es ist, als ob der Getion der Ideen bzw. des Schönen versetzt. genstand allein dawäre, ohne Jemanden, So kann er feststellen, daß eine »Verän- der ihn wahrnimmt, und man also nicht derung in uns« (W II 435) stattfindet, die mehr den Anschauenden von der Aner als erlebnismäßigen Übergang vom In- schauung trennen kann, sondern Beide dividuum zum reinen Subjekt des Erken- Eines geworden sind, indem das ganze Benens beschreibt: »In solcher Kontempla- wußtseyn von einem einzigen anschaulition nun wird mit Einem Schlage das ein- chen Bilde gänzlich gefüllt und eingenomzelne Ding zur Idee seiner Gattung und men ist« (W I 232; vgl. a. W I 255). Ferner das anschauende Individuum zum reinen ist festzuhalten, daß mit dem ZurücktreSubjekt des Erkennens.« (W I 232 f.; vgl. a. ten des Individuums die Erkenntnis nicht W I 250, 252 ff., 256 u. 267 f.)201 mehr durch seine Interessen beeinträchIn diesem Übergang erblickt nun Scho- tigt wird, also ein höheres Maß an Objekpenhauer eine »Erhebung« bzw. »Erhö- tivität erreicht.202 Genau darauf will Schohung« (W I 253, 256, 258 u. 260) des Men- penhauer hinaus, wenn er das reine Subschen, die sowohl die kognitive als auch jekt des Erkennens als »klare[n] Spiegel« die volitionale Seite desselben betrifft. (W I 232, 240 sowie W II 240 u. 435) bzw. Was den ersten Gesichtspunkt anbelangt, »klares« oder »ewige[s] Weltauge« (W I so wende sich der Mensch von den ein- 240, 254 u. 356 sowie W II 440) charakzelnen Dingen ab, um die Ideen zu erfas- terisiert. sen (vgl. W I 233, 268 u. 483, W II 255 u. Was hingegen die volitionale Seite an438 sowie P II 9 f.), mehr noch, er verliere belangt, so geht Schopenhauer davon aus, sich geradezu darin oder gehe darin auf: daß die Erkenntnis des Menschen als »Dieser Zustand ist aber eben der, wel202 W II 436: »Hier findet wirklich ein Ant chen ich oben beschrieb als erforderlich 201
Die Fähigkeit zu dieser Art von Kontemplation spricht Schopenhauer im Prinzip allen Menschen, insbesondere aber dem Genie zu (vgl. W I 250).
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agonismus Statt. Je mehr wir des Objekts uns bewußt sind, desto weniger des Subjekts: je mehr hingegen dieses das Bewußtseyn einnimmt, desto schwächer und unvollkommener ist unsere Anschauung der Außenwelt.«
Lemmata e ines Individuums ein Werkzeug des Willens ist und dessen Interessen dient, ja sogar von ihnen getrübt und verfälscht wird. Erhebt sich der Mensch über seine Individualität und erfährt sich als reines Subjekt des Erkennens, so emanzipiert er sich auch vom Einfluß des Willens und wird dadurch zu einer objektiven Erkenntnis – der Ideen – befähigt. Dies bedeutet, daß die »vollkommenste Erkenntniß, also die rein objektive, d. h. die geniale Auffassung der Welt, bedingt ist durch ein so tiefes Schweigen des Willens, daß, so lange sie anhält, sogar die Individualität aus dem Bewußtseyn verschwindet und der Mensch als reines Subjekt des Erkennens, welches das Korrelat der Idee ist, übrig bleibt.« (W II 255; vgl. a. W I 232 u. 254 sowie W II 342, 435, 438, 440 f. u. 531) Vergegenwärtigt man sich überdies, daß Schopenhauer den Ursprung allen Leids im Willen ansiedelt, so erstaunt es nicht weiter, daß er das reine Subjekt des Erkennens als einen Zustand des Menschen betrachtet, in welchem dieser nicht zu leiden hat: »Da nun alles Leiden aus dem Willen, der das eigentliche Selbst ausmacht, hervorgeht; so ist, mit dem Zurücktreten dieser Seite des Bewußtseyns, zugleich alle Möglichkeit des Leidens aufgehoben, wodurch der Zustand der reinen Objektivität der Anschauung ein durchaus beglückender wird« (W II 436; vgl. a. W II 440). Vor diesem Hintergrund wird vollends deutlich, warum Schopenhauer das reine Subjekt des Erkennens zugleich als »willenlos« und »schmerzlos« (W I 232, 253 ff., 260, 263 u. 483 sowie W II 342 u. 445) beschreibt. Religion Schopenhauer beschreibt den Menschen als ein animal metaphysicum (vgl. W II 187 u. P II 380), d. h. als ein We-
Religion sen, das mit einem »metaphysische[n] Bedürfniß« (W II 186 ff. sowie P II 371, 377 u. 380) ausgestattet ist. Dieses äußere sich darin, daß der Mensch angesichts seines Daseins – insbesondere der negativen Aspekte, die es kennzeichnen – in Erstaunen gerate und nach einer entsprechenden »metaphysischen Auslegung[] der Welt« (W II 187) verlange. Dabei versteht Schopenhauer unter Metaphysik »jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu er theilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht.« (W II 191) Das metaphysische Bedürfnis kann, wie Schopenhauer darlegt, von der Philosophie oder der Religion befriedigt werden. Freilich grenzt er beide Formen der Weltdeutung entschieden gegeneinander ab. Während sich die Philosophie auf »Gründe« (P II 371) im Sinn von Argumenten stützen und Anspruch auf Wissen erheben könne (vgl. P I 161 u. P II 398), sei die Religion auf Autorität und Offenbarung, ja sogar auf Zeichen und Wunder angewiesen (vgl. W II 192 sowie P II 371 u. 383) und bleibe auf der Stufe des bloßen Glaubens stehen (vgl. P I 161 sowie P II 383 u. 398). So erklärt Schopenhauer auch, daß »die [Philosophie] ihre Beglaubigung in sich, die [Religion] sie außer sich hat.« (W II 191) Dennoch lehnt er die Religion nicht grundsätzlich ab. Er rechnet durchaus mit der Möglichkeit, daß sie zu gewichtigen Einsichten gelangt und diese zum Ausdruck bringt. Allerdings seien die Sätze, in denen sie dies tue, nicht im wörtlichen, sondern ledig293
Religion
Lemmata
lich im übertragenen Sinne zu verstehen. wahren und eigentlichen Wortverstande Um diesen Unterschied zu charakterisie- und nicht bloß so durch die Blume, oder ren, gebraucht Schopenhauer gelegentlich Allegorie […], in welchem Sinne vielmehr die Termini sensu proprio bzw. stricto (vgl. jede wahr seyn wird, nur in verschiedenen W II 194 ff. u. 737 sowie P II 369 u. 401 ff.) Graden.« (P II 372) Angesichts dieses Beeinerseits und sensu allegorico (vgl. W II fundes liegt es nahe, daß Schopenhauer, 194 ff. u. 737 sowie P II 360, 366, 369 f., wenn er auf einzelne Religionen zu spre378 f. u. 403) anderseits. In dieser Hin- chen kommt, den Maßstab der Philososicht sei die Religion einer Fabel oder ei- phie – und das heißt in der Regel den seinem Mythos ähnlich (vgl. W I 442 ff., W II ner eigenen – an sie anlegt. 731 u. 737 sowie N 336).203 Schopenhauer Angesichts des Vorrangs der Philosohebt in diesem Zusammenhang hervor, phie gegenüber der Religion überrascht daß sich die Religion anthropomorpher es auch nicht, daß Schopenhauer auf einer Vorstellungen bedient: »Dämonen, Göt- Trennung beider Arten der Metaphysik ter und Heilige schafft sich der Mensch besteht (vgl. W II 196 u. 219, P I 161 sowie nach seinem eigenen Bilde« (W I 404). P II 398, 430 u. 432). Für jemanden, der Freilich gelinge es der Religion auf diese zur Philosophie fähig ist und dem auf dieWeise, im Gegensatz zur Philosophie, die sem Weg die Wahrheit im strengen Sinne sich an die Gebildeten richte, eine große offensteht, mag es kaum verlockend erAnzahl von Menschen zu erreichen (vgl. scheinen, sich auf die Religion einzulasW II 192 u. 196, E 242 sowie P II 360, sen. Darüber hinaus macht Schopenhauer 369, 374 u. 380). So biete sich die Reli- geltend, daß jeder Versuch, der Religion gion geradezu als »Metaphysik des Vol- die Wahrheit zu entnehmen, um sie auf kes« (E 242 u. P II 360) bzw. »Volksme- den Begriff zu bringen, die Kenntnis dertaphysik« (W II 192 sowie P II 360, 374 u. selben voraussetzt: »Am unverholensten 380) dar. Angesichts dieser Eigentümlich- ist dies in unsern Tagen geschehn in jenem keit bewertet Schopenhauer die Religion seltsamen Zwitter oder Kentauren, der sozwiespältig: Einerseits komme ihr das genannten Religionsphilosophie, welche, Verdienst zu, der breiten Masse metaphy- als eine Art Gnosis, bemüht ist, die gesische Einsichten zu vermitteln, die ihr gebene Religion zu deuten und das sensu sonst nicht zugänglich wären, anderseits allegorico Wahre durch ein sensu proprio bringe dies – ganz erhebliche – Mängel in Wahres auszulegen. Allein dazu müßte deren Darstellung mit sich. So laufe die man die Wahrheit sensu proprio schon Religion letzten Endes auf die »Wahrheit kennen und besitzen: alsdann aber wäre im Gewande der Lüge« (P II 369) hin- jene Deutung überflüssig.« (W II 196) Ein aus. Deshalb bleibe sie auch der Philoso- weiterer Grund für die Trennung beider phie unterlegen: »Eine wahre Philosophie Bereiche liegt sicherlich darin, daß Schokann es danach allenfalls geben; aber gar penhauer die Philosophie als autonomes keine wahre Religion: ich meine wahr im Denken, die Religion hingegen als durch Autorität geleitete, gehorsame Annahme 203 Gelegentlich spricht Schopenhauer davon Dogmen auffaßt. So heißt es in einem von, daß sich die Religion eines »Vehikels« bzw. frühen Manuskript: »Keiner der religiös »mythischen Vehikels« (W II 737 sowie P II 368 ist gelangt zur Ph[ilosophie]; er braucht u. 401) bedient. 294
Lemmata sie nicht. Keiner der wirklich philosophirt ist religiös: er geht ohne Gängelband, gefährlich aber frey.« (HN II 226) Angesichts der Tatsache, daß Menschen in jungen Jahren, in denen sie noch kaum über die Fähigkeit zu kritischem Denken verfügen, eher für Dogmen empfänglich sind als später (vgl. W II 189 u. P II 656), erstaunt es nicht, daß Schopenhauer gegen die gängige Praxis einer »Glaubens impfung im zarten Kindesalter« (P II 363) polemisiert. Auf diese Weise komme es dazu, daß religiöse Überzeugungen »fast zu angeborenen Ideen werden« (W II 193) und eine »Art partieller Gehirnlähmung« (P II 363) eintrete. Schopenhauer schreibt der Religion eine Reihe von Funktionen zu, die auch in modernen Theorien der menschlichen Weltanschauung genannt werden.204 Es handelt sich darum, daß die Religion eine Auslegung des menschlichen Daseins liefert (vgl. W II 188 sowie P II 360 u. 372), das Handeln des Menschen in moralischer Hinsicht leitet (vgl. W II 188 u. 194 f., E 231, P I 138 f. sowie P II 360, 366 u. 372) und – angesichts der Negativität der Wirklichkeit – Trost spendet (vgl. W II 194 f. sowie P II 360, 372 u. 379). Darüber hinaus schreibt Schopenhauer der Religion die Aufgabe zu, »der doppelten Bedürftigkeit des Menschen, theils nach Hülfe und Beistand, und theils nach Beschäftigung und Kurzweil« (W I 404) Rechnung zu tragen. Was die Religion als »Stütze[] seiner Moralität« (W II 188) anbelangt, so krankt sie nach Schopenhauer daran, daß sie den Menschen durch die Verheißung künftiger Belohnung oder Strafe zum Handeln motiviert und auf diese Weise egoistisches 204
Vgl. Ernst Topitsch. Erkenntnis und Illusion. Tübingen 21988, 40.
Religion Verhalten begünstigt (vgl. P I 139). Ferner hält Schopenhauer die Religion keineswegs für notwendig, um die moralische Ordnung aufrechtzuerhalten. Nach seiner Auffassung reichen die Gesetze sowie die Sanktionen, mit denen sie verbunden sind, zu diesem Zweck vollkommen aus (vgl. P II 391). In manchen Fällen sei die Religion sogar für moralisch fragwürdiges Verhalten verantwortlich, ja sie übe einen »entschieden demoralisirenden Einfluß« (ebd.) aus. Schopenhauer nennt in diesem Zusammenhang unterschiedliche Praktiken wie die Inquisition, Ketzerverfolgungen, Kreuzzüge, Religionskriege sowie die – vor allem innerhalb des Monotheismus auftretende – Intoleranz (vgl. P II 380, 386 f., 393 u. 395 f.). Die genannten Einwände hindern Schopenhauer nicht, den ethisch-moralischen Aspekt der Religion als – im Vergleich zum theoretischen – entscheidenden und wichtigeren zu betrachten. Freilich geht es ihm weniger um die Orientierung des menschlichen Handelns als darum, daß »die Welt, außer ihrer physischen Bedeutung, auch noch eine moralische hat.« (N 336; vgl. a. W II 730 u. P I 138) Diese liegt – nach seiner Auffassung – darin, daß die empirische Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung eine Erscheinung des Willens als des Dinges an sich ist. Erst wenn dies erkannt sei, sei von der Metaphysik ein moralisch günstiger Einfluß auf den Menschen zu erwarten: »Nur die Metaphysik ist wirklich und unmittelbar eine Stütze der Ethik, welche schon selbst ursprünglich ethisch ist, aus dem Stoffe der Ethik, dem Willen, konstruirt ist.« (N 337) Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer die empirische Wirklichkeit negativ bewertet und ihre Überwindung durch eine Verneinung des Willens zum Leben 295
Resignation
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als ethisch gut betrachtet, so erstaunt es die er mit der Erlösung gleichsetzt. So nicht, daß er den »Fundamentalunter- definiert er die Resignation als »das Aufschied aller Religionen« (W II 198) darin geben alles Wollens, die Zurückwendung, erblickt, ob sie optimistisch oder pessi- Aufhebung des Willens und mit ihm des mistisch sind, und sie desto höher schätzt, ganzen Wesens dieser Welt, also die Erje mehr sie die Verneinung des Willens lösung« (W I 295). Angesichts der Tatsadurch Askese und Resignation lehren che, daß Schopenhauer die Verneinung (vgl. W II 198 f. u. 731 ff.). des Willens zum Leben als moralisch gut Gegenüber der Dichotomie von Opti- betrachtet und die Vollendung derselben mismus und Pessimismus tritt die Frage, in der Resignation erblickt, ist es nicht ob eine Religion atheistisch, monothe- weiter erstaunlich, daß für ihn die Resiistisch, polytheistisch oder pantheistisch gnation »das letzte Ziel, ja, das innerste ist, bei Schopenhauer in den Hintergrund Wesen aller Tugend und Heiligkeit« (W I (vgl. W II 198). Nach seiner Auffassung 204) ist. kommt es den Menschen weniger auf die Schopenhauer beschreibt die ResignaExistenz göttlicher Wesen als auf die ei- tion als einen Zustand »voll innerer Freugene Unsterblichkeit an: »Dem entspre- digkeit und wahrer Himmelsruhe« (W I chend finden wir, daß das Interesse, wel- 482). Während der Wille zum Leben in ches philosophische, oder auch religiöse der Kontemplation des Schönen nur kurzSysteme einflößen, seinen allerstärksten zeitig zur Ruhe gelangt, stellt die ResignaAnhaltspunkt durchaus an dem Dogma tion nach seiner Auffassung einen dauerirgend einer Fortdauer nach dem Tode hafteren Zustand dar. Freilich ist es nicht hat: und wenn gleich die letzteren das zu wörtlich zu nehmen, wenn SchopenDaseyn ihrer Götter zur Hauptsache zu hauer behauptet, daß mit der Resignation machen und dieses am eifrigsten zu ver der Wille »auf immer beschwichtigt […], theidigen scheinen; so ist dies im Grunde ja gänzlich erloschen« (W I 483) sei. Bei doch nur, weil sie an dasselbe ihr Un- anderer Gelegenheit warnt er nämlich: sterblichkeitsdogma geknüpft haben und »Indessen dürfen wir doch nicht meinen, es für unzertrennlich von ihm halten: nur daß, nachdem […] die Verneinung des um dieses ist es ihnen eigentlich zu thun.« Willens zum Leben ein Mal eingetreten (W II 188; vgl. a. P I 138 u. 145) Betrachtet ist, sie nun nicht mehr wanke, und man auf Schopenhauer die Unsterblichkeit als das ihr rasten könne, wie auf einem erworbeEntscheidende, so liegt das natürlich auf nen Eigenthum. Vielmehr muß sie durch einer Linie mit seiner Überzeugung, daß steten Kampf immer aufs Neue errungen eine wesentliche Funktion der Religion werden.« (W I 484) darin besteht, den Menschen angesichts Die Resignation stellt sich nach Schoder Negativität der empirischen Wirklich- penhauer infolge einer Erkenntnis ein, die keit durch die Hoffnung auf ein besseres als Quietiv des Willens wirkt (vgl. W I 295, Jenseits zu trösten. 470, 490 f. u. 495). Genauer gesagt handelt es sich um die Erkenntnis, daß die empiResignation Schopenhauer gebraucht rische Realität, die sich als Vielzahl inden Ausdruck »Resignation«, um jene dividueller, voneinander getrennter GeVerneinung des Willens zu bezeichnen, genstände darbietet, in Wirklichkeit die 296
Lemmata Erscheinung eines und desselben Dinges an sich bzw. Willens ist. Erscheinen in der empirischen Realität individuelle Dinge, so setzt das – nach Schopenhauer – die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit voraus. Diese seien die Bedingung der Möglichkeit der Gegebenheit individueller Dinge, machten also das principium individuationis aus. Mit der »Durchschauung des principii individuationis« (W I 492) gelange der Mensch zur Einsicht, daß das Leid, das ein Mensch einem anderen durch die Bejahung des Willens antue, stets auf den Willen zurückfalle, an dem er auch selbst teilhabe. Das bedeutet für Schopenhauer, daß der Wille mit sich selbst im Widerstreit liegt. Man kann diese Erkenntnis, wie er darlegt, auf zweierlei Weise gewinnen: »Der Unterschied, den wir als zwei Wege dargestellt haben, ist, ob das bloß und rein erkannte Leiden, durch freie Aneignung desselben, mittelst Durchschauung des principii individuationis, oder ob das unmittelbar selbst empfundene Leiden jene Erkenntniß hervorruft.« (W I 491) Dabei hält Schopenhauer die zweite Möglichkeit für die häufigere: »Denn nur bei Wenigen reicht die bloße Erkenntniß hin, welche, das principium individuationis durchschauend, erstlich die vollkommenste Güte der Gesinnung und allgemeine Menschenliebe hervorbringt, und endlich alle Leiden der Welt sie als ihre eigenen erkennen läßt, um die Verneinung des Willens herbeizuführen.« (W I 485) Schein Schopenhauer gebraucht den Begriff des Scheins in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen, einem metaphysischen sowie einem erkenntnistheoretischen. Was den ersteren anbelangt, so handelt es sich darum, daß er die empiri-
Schein sche Wirklichkeit bzw. die Welt als Vorstellung im Vergleich zur metaphysischen Wirklichkeit bzw. der Welt als Wille nicht einfach nur als Erscheinung, sondern geradezu als »Schein« (W I 34 u. 45 sowie E 310) einstuft. Um dies auszudrücken, greift er gern auf den Ausdruck »Maja« (W I 34, 318, 439, 453 u. 469) zurück, den er dem indischen Denken entlehnt. In erkenntnistheoretischer Hinsicht versteht Schopenhauer unter dem Schein eine empirische Anschauung bzw. Wahrnehmung, die einen Sachverhalt anders präsentiert, als er wirklich ist. Daher spricht er auch von einer »Täuschung der Sinne«, um sogleich zu präzisieren, es handle sich eigentlich um einen »Trug des Verstandes« (W I 110, 118 u. 120). Um dies nachzuvollziehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß Schopenhauer die empirische Anschauung bzw. Wahrnehmung darauf zurückführt, daß ein Subjekt im Ausgang von einer Empfindung mit Hilfe der im Verstand angesiedelten Kategorie der Kausalität den Gegenstand rekonstruiert, der seinen Leib affiziert und auf diese Weise die Empfindung verursacht. Unterlaufe dem Subjekt dabei ein Fehler und werde der verursachende Gegenstand nicht richtig dargestellt, so liege Schein vor: »Schein tritt alsdann ein, wann eine und die selbe Wirkung durch zwei gänzlich verschiedene Ursachen herbeigeführt werden kann, deren eine sehr häufig, die andere selten wirkt: der Verstand, der kein Datum hat zu unterscheiden, welche Ursache hier wirkt, da die Wirkung ganz die selbe ist, setzt dann allemal die gewöhnliche Ursache voraus, und weil seine Thätigkeit nicht reflektiv und diskursiv ist, sondern direkt und unmittelbar, so steht solche falsche Ursache als angeschautes Objekt vor uns da, wel297
Schmerz
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ches eben der falsche Schein ist.« (W I 54; den. Schopenhauer wird diesem Umstand vgl. a. G 85)205 In diesem Zusammenhang dadurch gerecht, daß er den Schein als vertritt Schopenhauer die Auffassung, der Anlaß eines falschen Urteils beschreibt: Schein könne zwar durch eine Anstren- »Der Sinnenschein (Trug des Verstandes) gung der Vernunft bzw. durch abstraktes veranlaßt Irrthum (Trug der Vernunft)« Denken durchschaut, nicht aber als sol- (W I 120; vgl. a. P II 21). Daneben konzecher behoben werden: »Diese Unabhän- diert Schopenhauer auch die Möglichkeit gigkeit der Verstandeserkenntniß von der wahrer Urteile, die im Schein gründen Vernunft und ihrer Beihülfe erhellt auch und ihn korrekt zum Ausdruck bringen: daraus, daß, wenn ein Mal der Verstand »Der Irrthum läßt sich tilgen, eben durch zu gegebenen Wirkungen eine unrichtige ein Urtheil, welches wahr ist und den Ursache setzt, und mithin diese geradezu Schein zum Grunde hat, d. h. durch eine anschaut, wodurch der falsche Schein ent- Aussage des Scheins als solchen.« (F 16)206 steht; die Vernunft immerhin den wahren Thatbestand in abstracto richtig erken- Schmerz Schopenhauer erblickt im nen mag, ihm damit jedoch nicht zu Hülfe Schmerz eine »Affektion[] des Willens« kommen kann; sondern, ihrer bessern Er- (W I 144), die daraus resultiert, daß jekenntniß ungeachtet, der falsche Schein mand etwas begehrt, das er nicht hat, oder unverrückt stehn bleibt.« (G 85 f.; vgl. a. daß jemandem etwas widerfährt, das er W I 54 f. u. 110 f.) nicht will. Schmerz stellt sich allerdings Vor dem Hintergrund seiner Unter- nicht schon dann ein, wenn jemandem scheidung zwischen anschaulicher, intuiti- etwas fehlt, sondern erst dann, wenn das, ver und begrifflicher, abstrakter Erkennt- was ihm fehlt, auch gewollt wird. Dabei unnis grenzt Schopenhauer den – im Ver- terscheidet Schopenhauer zwischen physistand gründenden – Schein vom – in der schem und psychischem Schmerz, und er Vernunft gründenden – Irrtum ab und er- betont, daß beide Bereiche eng miteinanklärt, der Verstand ziele auf die Realität, der zusammenhängen. Abgesehen davon, die Vernunft hingegen auf die Wahrheit daß ein physischer Zustand, der nicht geab: »Das vom Verstande richtig Erkannte wollt werde, psychisch als Schmerz erlebt ist die Realität; das von der Vernunft rich- werde, könne auch psychischer Schmerz tig Erkannte die Wahrheit, d. i. ein Urtheil, das physische Befinden beeinträchtigen: welches Grund hat: jener ist der Schein »Imgleichen reiben die Sorge und Leiden(das fälschlich Angeschaute), dieser der schaft, also das Gedankenspiel, den Leib Irrthum (das fälschlich Gedachte) entge- öfter und mehr auf, als die physischen Begengesetzt.« (G 86; vgl. a. W I 53 u. 67) schwerden.« (W I 376) Schopenhauer ist Damit befindet sich der Schein auf einer der Auffassung, daß der Schmerz mit dem anderen, grundlegenderen Ebene als das Grad der Erkenntnis des betroffenen LeUrteil und kann nicht in demselben Sinne bewesens zunimmt: »In gleichem Maaße wie ein solches als falsch klassifiziert wer- also, wie die Erkenntniß zur Deutlich205 Dies
ist – nach Schopenhauer – ein Beleg für die These, daß ein Schluß von der Folge auf den Grund stets unsicher ist (vgl. W I 117 u. 120).
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206 Damit
begibt sich Schopenhauer in die Nähe von Kants – zugegebenermaßen nicht ganz einfacher – Konzeption des Wahrnehmungsurteils.
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Schmerz
keit gelangt, das Bewußtseyn sich steigert, len zum Leben bejaht, ein dauerhaftes wächst auch die Quaal, welche folglich ih- Glück versagt. ren höchsten Grad im Menschen erreicht, Schopenhauer hebt immer wieder herund dort wieder um so mehr, je deutlicher vor, daß der Schmerz positiv und unmiterkennend, je intelligenter der Mensch ist: telbar, der Genuß oder das Glück hinder, in welchem der Genius lebt, leidet am gegen negativ und mittelbar ist (vgl. W I meisten.« (W I 388) Das komme nicht zu- 399). Dies bedeutet, daß ursprünglich der letzt daher, daß der Mensch sich vermit- Schmerz gegeben ist und daß »jede Betels seiner Vernunft über die Gegenwart friedigung nur ein hinweggenommener erhebe und sich Gedanken über die Ver- Schmerz, kein gebrachtes positives Glück gangenheit sowie die Zukunft mache, die ist, daß die Freuden zwar dem Wunsche zusätzlichen Schmerz mit sich brächten. lügen, sie wären ein positives Gut, in Das Tier hingegen verfüge lediglich über Wahrheit aber nur negativer Natur sind anschauliche, an die Gegenwart gebun- und nur das Ende eines Uebels« (W I 465). dene Erkenntnis und leide entsprechend Die Möglichkeit eines Glücks, das mehr weniger. als eine bloße Aufhebung des Schmerzes Schopenhauer ist überzeugt, daß der wäre, erwägt Schopenhauer nicht weiter. Schmerz dem Menschen insofern wesent- Im zweiten Band des Hauptwerks weist er lich ist, als dieser einen Willen besitzt, darauf hin, daß er bei seiner Einschätzung der etwas begehre, was ihm abgehe. Ge- des menschlichen Leidens »den meisten nau dies rufe Schmerz hervor. So erklärt Widerspruch erfahren habe« (W II 672), er: »Die Basis alles Wollens aber ist Be- und versucht sie noch einmal zu begründürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem den. Dabei macht er insbesondere gel[der Mensch] folglich schon ursprünglich tend, daß der Schmerz im menschlichen und durch sein Wesen anheimfällt.« (W I Erleben auffälliger als seine Abwesenheit 390) Nun sei es zwar durchaus möglich, erscheint: »Wir fühlen den Schmerz, aber den Schmerz durch die Befriedigung des nicht die Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Bedürfnisses, das ihm zugrunde liegt, zu Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit; die überwinden, aber der Zustand, der auf Furcht, aber nicht die Sicherheit.« (W II diese Weise erreicht werde, sei nicht dau- 673) Dieser Befund ist durchaus nicht von erhaft. Entweder stell