Eifriger als Zwingli: Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz [2 ed.] 9783428585847, 9783428185849

In der Frühphase der Schweizer Reformation entstand das Täufertum als eine radikalreformerische religiöse Bewegung. Andr

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Eifriger als Zwingli: Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz [2 ed.]
 9783428585847, 9783428185849

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ANDREA STRÜBIND

Eifriger als Zwingli Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz

Duncker & Humblot

ANDREA STRÜBIND

Eifriger als Zwingli

Andrea Strübind

Eifriger als Zwingli Die frühe Täuferbewegung in der Schweiz

2., unveränderte, um ein Vorwort erweiterte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der der Fritz Thyssen Stiftung

Das Wissenschaftlich-Theologische Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Habilitation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 2003 Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Books on Demand Printed in Germany ISBN 978-3-428-18584-9 (Print) ISBN 978-3-428-58584-7 (E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Kim meinen „Bashert"

Vorwort zur zweiten Auflage Als ich im Jahr 2003 meine Habilitationsschrift zur frühen Täuferbewegung in der Schweiz veröffentlichte, konnte ich nicht voraussehen, welche heftigen Debatten dieses Buch im Kreis der internationalen Täuferforschung auslösen würde. Ich hatte die Genese der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung im Kontext der Zürcher Reformation noch einmal anhand der reichlich vorhandenen Quellen einer genauen Relecture unterzogen, weil ich den Verdacht hegte, dass die in weiten Teilen mantraartig repristinierte Deutung einer sozialgeschichtlich fokussierten Betrachtung diesen Bewegungen nicht gerecht würde. Im Zentrum standen dabei vor allem die theologischen Zeugnisse und die Verflechtung mit den Protagonisten der magistralen Reformation. So geriet diese Studie auch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der sogenannten „revisionistischen“ Täuferforschung, die die Täufer als eine genuin religiös-sozialrevolutionäre Bewegung interpretierte, deren theologische Anliegen einen untergeordneten Charakter gehabt hätten oder marginalisiert wurden. Deren Akteure und ihre Schülerkreise fühlten sich offensichtlich durch meine Forschungsergebnisse und -thesen herausgefordert, was sich in einer Flut von Rezensionen und Rezeptionen in verschiedenen Veröffent­ lichungen zeigte. Dort fanden sich neben einer breiten positiven Rezeption auch erwartbar polemische Reaktionen, die von einer „Re-Konfessionalisierung“ der Täuferforschung sprachen und eine unkritische Anknüpfung an das normative Täuferbild der Bender School in meinen Ausführungen zu entdecken glaubten. Erfreut war ich über die vielen begeisterten Reaktionen, speziell im Kontext der in Zürich lokalisierten Täuferforschung, die die Infragestellung bzw. die Überwindung des revisionistischen Ansatzes durch die Wiedergewinnung einer theologisch verorteten Perspektive begrüßten. Durch meine Studie wurde der Diskurs über die kirchenhistorische Methodologie im Bereich der Täuferforschung jedenfalls nachhaltig angeregt und wirkte sich bei neueren Studien auch dahingehend aus, dass sie zu methodologischen und inhaltlichen Reflexionen einlud und mittlerweile ihren festen Platz in der Täuferforschung hat. Was kann einer Kirchenhistorikerin Besseres passieren? Zu meiner Freude erschien in der Folgezeit eine Reihe von relevanten Beiträgen zur Täuferbewegung, die einen breit angelegten kulturwissenschaftlich konturierten Ansatz verfolgten, der den heterogenen theologischen

4

Vorwort zur zweiten Auflage

Anliegen des Täufertums neuen Raum verschaffte. Bei aller Rezeption der Ergebnisse der neueren sozialhistorischen Forschung zeigen sich gegenwärtig innovative Zugänge, die einer differenzierten theologischen und kulturgeschichtliche Deutung den Weg bereitet haben. Das Täufertum in der Schweiz – und dies ist nach wie vor meine Einschätzung – war eine genuin religiöse Erneuerungsbewegung, die sich aus dem Frühzwinglianismus entwickelte und sukzessiv von ihm löste, um eine eigene Gemeinschaft zu bilden, die die Reform der Kirche mit der Bibel in der Hand eben „eifriger als Zwingli“ vorantreiben wollte. Grundlegende theologische Dissensfaktoren für diesen konfessionellen Entstehungs- und Entwicklungsprozess waren ein radikal verstandenes Schriftprinzip und seine Implikationen für eine konkrete Sakraments- und Kirchenreform sowie die ekklesiologische Konzeption einer „sichtbaren Gemeinde der Glaubenden“, die sich durch Glaubenstaufe öffentlich konstituiert und durch Kirchenzucht reguliert. Die Schweizer Täuferbewegung propagierte und praktizierte die Gleichberechtigung der Glaubenden, einen an der Bibel gewonnenen rituellen Reduktionismus und eine spirituelle Erfahrungsfrömmigkeit. Gleichzeitig führten die zunehmend dualistische Weltdeutung der frühen Täufer und ein exklusives Gemeindeverständnis, das mit einer rigiden Sozialkontrolle einherging, zur gesellschaftlichen Stigmatisierung und Isolation. Die anfänglich befreiende Botschaft des Evangeliums geriet in Gefahr, nur einer Elite der Rechtgläubigen vorbehalten zu sein. Dennoch revolutionierte das täuferische Verständnis von christlicher Gemeinschaft die traditionelle Rolle der Kirche und die bis dahin so geläufige Form des religiösen Lebens. Die Kirche „ereignete sich“ durch die Täufer und Täuferinnen in den Wohnstuben der einfachen Leute, im gemeinsamen Bibelstudium, in der gemeinschaftlichen Teilhabe an Brot und Wein sowie in der auf die Lebenspraxis ausgerichteten gegenseitigen Seelsorge und Fürsorge. Diese täuferische Vision einer kirchlichen Gemeinschaft gleichberechtigter Brüder und Schwestern, die im Gehorsam gegen die Heilige Schrift ihre Angelegenheiten frei von obrigkeitlicher oder kirchlich-hierarchischer Bevormundung, also autonom regelte, fand durch die Zeiten hindurch in dissentierenden und non-konformistischen Bewegungen immer wieder einen Resonanzboden. Nach den ökumenisch oft desillusionierenden Erfahrungen des 500-jährigen Reformationsgedenkens von 2017, in dem die täuferischen Stimmen oft marginalisiert oder ignoriert wurden, stimmt es hoffnungsvoll, dass sich im Vorfeld des 500. Jubiläum der ersten Gläubigentaufe in Zürich 2025 ein ­ökumenisch zusammengesetzter Verein gegründet hat, der unter dem Motto „Gewagt! 500 Jahre Täuferbewegung 1525–2025“ dieses Gedenken durch Veröffentlichungen, Symposien und Begegnungen auf allen Ebenen in Wis-



Vorwort zur zweiten Auflage5

senschaft, Kirchen und Kultur vorbereitet und flankiert. Die täuferischen Traditionen bieten ein reiches Reservoir an alternativen Sichtweisen sowie an Glaubens- und Lebensformen, mit denen sie als Außenseiter und Minderheiten die Gesellschaften, in die sie eingebettet waren, herausforderten – und bereicherten. Das soll in den nächsten fünf Jahren weiter bedacht, beforscht und in ökumenischer Gemeinschaft diskutiert werden. Es stimmt mich daher froh, dass meine Studie zum frühen Täufertum in der Schweiz aufgrund anhaltender Nachfrage gerade in dieser Phase erneut aufgelegt wird. Mein herzlicher Dank gilt den Verantwortlichen des Verlags Dunker & Humblot, besonders Herrn Verlagsdirektor Andreas Reckwerth, der die Neuauflage wohlwollend angeregt und umgesetzt hat. Oldenburg, im Dezember 2021

Andrea Strübind

Vorwort „Die Christen fragend iren gesalbten pfaffen nüts mee nach. Und sind kü- und gänshirten iez geleerter denn ire theologie. Und ist eins ieden buren hus ein schul, darin man nüaws und alts testament, die höchsten kunst, lesen kann." Huldrych Zwingli „Dese is tot Zwingle gekomen, ende heeft van den gelove met hem ghesproken, maer niet uytgerecht. Doen heeft men hem geseyt, datter andere waren, die yveriger waren als Zwinglius" Carel van Ghendt

Das Erstaunen des Zürcher Hauptreformators über die Dynamik der Reformbewegung, im Zuge derer jedes Bauernhaus zu einer Bibelschule umfunktioniert werden konnte, hat auch mich während der Arbeit an der vorliegenden Studie ergriffen. Daß einfache Männer und Frauen sich quer durch alle Gesellschaftsschichten in freien Kreisen um die Heilige Schrift versammelten und danach strebten, ihr Leben, ihren Alltag, ihren Gottesdienst und ihre sozialen Beziehungen konsequent an der Bibel auszurichten, beeindruckte und begeisterte mich in allen Phasen meiner Forschungen. I n unserer Zeit, in der eine wachsende Indifferenz in religiösen Fragen und die Entkirchlichung weiter Teile der Gesellschaft um sich greifen, bleibt das leidenschaftliche Ringen der Täufer um die von ihnen erkannte Wahrheit und ihre Bereitschaft, dafür Verfolgung bis hin zum Martyrium auf sich zu nehmen, ein herausforderndes Zeugnis. Auf dem Wege dieser Arbeit sind mir viele Menschen hilfreich begegnet, ohne deren ideelle und finanzielle Hilfe dieses Buch wohl nicht zustande gekommen wäre. Zunächst danke ich der Fritz Thyssen Stiftung, die durch ein dreijähriges Habilitationsstipendium im Rahmen des „Sonderprogramms Hochschullehrernachwuchs" meine Forschungsarbeit großzügig förderte und ermöglichte. Darüber hinaus hat sie durch die Gewährung eines gewichtigen Druckkostenzuschusses die vorliegende Veröffentlichung unterstützt. Ich danke den Verantwortlichen des Verlags Duncker & Humblot für die Aufnahme meiner Studie in ihr Verlagsprogramm sowie für die engagierte und qualifizierte Betreuung während des Publikationsprozesses. Der bayerischen Vereinigung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland sowie meiner Münchner Baptistengemeinde danke ich ebenfalls für alle mir zuteil gewordene Unterstützung. Olaf Lange, den wertvollen Freund und Geschäftsführer von OLD-Satz digital, schätze ich nicht nur aufgrund der wie

8

Vorwort

immer ausgezeichneten Satzarbeit. Für alle Sorgfalt und Geduld beim Lesen der Korrekturen möchte ich besonders meinen Eltern Ingeborg und Günter Hitzemann und meinem Schwager Wolfgang Pfeiffer Dank sagen. Die anregenden und ermutigenden Gespräche mit Professor Dr. Dr. Gerhard Besier und seine treue Begleitung meiner Habilitation werden mir immer in Erinnerung bleiben. Guten Rat erhielt ich von den verdienten Pionieren der deutschen Täuferforschung Professor Dr. Gottfried Seebass und Heinold Fast. Ich danke ferner der Theologischen Fakultät der RuprechtKarls-Universität in Heidelberg für die Annahme meiner Untersuchung als Habilitationsschrift und die Ernennung zur Privatdozentin für „Historische Theologie". Zuletzt - und im Grunde zuallererst - danke ich meinem Mann und Kollegen Dr. K i m Strübind. Durch seine aktive Hilfe, sein unermüdliches Mittragen und seine Liebe ist meine Forschungsarbeit erst möglich geworden. Ihm widme ich dieses Werk. München, März 2002

Andrea Strübind

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

1 Der Stand der Täuferforschung

19

1.1 Kurze Geschichte der älteren Täuferforschung

19

1.2 Die normativ-typologische Sicht des Täufertums

22

1.3 Revisionistisch-sozialgeschichtliche Täuferforschung

26

1.4 Marxistische Täuferforschung

31

1.4.1 Die Reformation in der marxistischen Historiographie

32

1.4.2 Das Täufertum im Rahmen der frühbürgerlichen Revolution

35

1.5 Psychohistorie im Bereich der Täuferforschung

36

1.6 Gibt es eine Neuorientierung in der Täuferforschung?

41

2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie dargestellt am Beispiel der Täuferforschung

49

2.1 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

51

2.2 Sozialgeschichte und Kirchengeschichte

53

2.2.1 Die gegenwärtige Situation

53

2.2.2 Die historiographische Debatte am Beispiel der Täuferforschung ..

57

2.3 Entwicklungen in der neueren Religionssoziologie

63

2.3.1 Die klassische Religionssoziologie und ihre Bedeutung für die heutige Forschung 2.3.2 Neuere Entwicklungen in der Religionssoziologie 2.4 Kirchengeschichtsschreibung als historische Theologie 3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

64 66 70 79

3.1 Forschungsgeschichtliche Situation und Darstellung der These

79

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

83

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation" ..

96

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums 4.1 Die Fastenbrüche des Jahres 1522

121 125

10

Inhaltsverzeichnis

4.2 Der Castelberger Lesekreis

129

Exkurs: Die humanistischen Sodalitäten als Vorbild

der „Lesekreise"

131

1. Der Schweizer Humanismus

131

2. Die Konzeption der Sodalitäten nach Celtis

133

3. Die Zürcher Sodalität

135

4. Das Verhältnis von „Sodalität" und „Lesekreis"

138

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung (Sommer 1522)

147

4.3.1 Zur Zehntfrage in der Reformationszeit

153

4.3.2 Die radikalen Kreise und die Zehntfrage

157

4.4 Der Plan einer neuen Kirche

166

4.5 Bilderstürme und die Agitation gegen die Messe bis zur Zweiten Disputation

175

4.6 Die Spaltung im reformatorischen Lager (Ende 1523)

193

5 Die Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

203

5.1 Das Verhältnis zu Andreas Bodenstein von Karlstadt und Thomas Müntzer

204

5.1.1 Andreas Bodenstein von Karlstadt

206

5.1.2 Thomas Müntzer

212

5.2 Konrad Grebel und Genossen an Thomas Müntzer

213

5.2.1 Der Müntzerbrief als kollektives Schreiben

213

5.2.2 Formale Charakteristika und Briefeingang

215

5.2.3 Kirchengesang und Liturgiereform

222

5.2.4 Abendmahlslehre

223

5.2.5 Zu Zehntfrage, der Aufstellung von Tafeln und dem Verhältnis zu Jakob Strauß

232

5.2.6 Ekklesiologie

236

5.2.7 Gewaltlosigkeit

253

5.2.8 Tauflehre.

:

255

5.2.8.1 Ein Vergleich mit der Tauflehre Müntzers

255

5.2.8.2 Die tauftheologischen Aussagen des Müntzerbriefs und die These ihres lutherischen Ursprungs 5.2.8.3 Die tauftheologischen Aussagen des Müntzerbriefs im Vergleich mit der Tauflehre Zwingiis

256 263

5.2.8.4 Biblische Begründimg der ablehnenden Haltung zur Kindertaufe

268

5.2.9 Briefschluß und Nachschreiben

279

Inhaltsverzeichnis

5.2.10 Abschließende Auswertung des Müntzerbriefs Exkurs: „Freikirchliche"

oder „ volkskirchliche"

282 Konzeption?

6 Die Auseinandersetzung um die Tauffrage im Herbst und Winter 1524

287

293

6.1 Die Dienstagsgespräche

293

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

296

6.2.1 Einleitungsfragen

296

6.2.2 Der „Dialogus" als literarische Vorlage

299

6.2.3 Anlaß, Motivation und Argumentationsgrundlage der Protestation

305

6.2.4 Argumentation gegen die Kindertaufe

314

6.2.5 Zusammenfassung

331

7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums 7.1 Die Disputation vom Januar 1525

337 337

7.1.1 Im Vorfeld der Disputation

337

7.1.2 Ausschreibung und Verlauf der Disputation

346

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe 8 Die Entwicklung in ZoIIikon (Januar bis März 1525) 8.1 Die Ereignisse in Zollikon

351 363 363

Exkurs: Die Briefe Johannes Brötlis an die Schwestern und Brüder in Zollikon 382

8.2 Interpretation der Entwicklung in Zollikon

384

8.2.1 Erweckungsbewegung

385

8.2.2 Sozialer Protest

393

8.2.3 Religiöse Bewegung

395

8.2.4 Charismatische Bewegung

402

8.2.5 Zusammenfassende Wertung

403

9 Die zweite Täuferdisputation (März 1525) 9.1 Zwingiis Taufbuch

407 408

9.1.1 Das buchstäbliche Schriftprinzip

411

9.1.2 Sakramentales Taufverständnis

412

9.1.3 Die „Rotterei" der Täufer - der Vorwurf des Schismas

418

9.2 Zusammenfassung 10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebimg (1525-1527) 10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher Herrschaftsgebiet

424 427 427

12

Inhaltsverzeichnis

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

440

10.2.1 Analogien zur theologischen Lehrentwicklung der Täufer

440

10.2.2 Der Vorwurf der Absonderung und Sektiererei

448

10.2.3 Die Verweigerung des Kirchgangs und die Versammlung in Häusern

450

10.2.4 Das Verhältnis zur Obrigkeit

456

10.2.5 Das Selbstverständnis der Täufer

463

10.2.6 Die Einstellung der Landbevölkerung zu den Täufern

465

11 Diefrühe Täuferbewegung in St Gallen und Appenzell

471

11.1 Forschungssituation

471

11.2 St. Gallen und Abtei St. Gallen

473

11.3 Wolfgang Uliman

475

11.4 Hans Krüsi

484

11.4.1 Hans Krüsis Taufbuch

485

11.4.2 Die Ereignisse in Tablat

509

Exkurs: „Ainer gant zen gmaind"

515

11.4.3 Voruntersuchung im Fall Krüsi

521

11.4.4 Krüsis Prozeß in Luzern

527

11.5 Eberli Bolt

535

11.6 Weitere Entwicklung der St. Galler Täuferbewegung

543

12 Das Schleitheimer Bekenntnis

547

12.1 Zur Forschungssituation

547

12.2 Interpretation der sieben Artikel

552

13 Ertrag

569

13.1 Thesen

569

13.2 Auswertung

581

13.3 „Antiklerikalismus" als Deutekategorie

582

13.4 Schlußbemerkung

585

Quellen- und Literaturverzeichnis

589

Personen- und Ortsregister

611

Einleitung „Die Reformation war eine mächtige religiös-soziale Bewegung, die aus einem weitverbreiteten Haß auf den Klerus der römischen Kirche erwachsen war." 1 J. M. Stayer „Die Reformationsbewegung hat aus ihrer Beziehung zum Gotteswort sowohl Zeitbezogenheit wie überzeitliche Kraft empfangen, denn das ewige Wort ist immer neu. Wer das Erbe der Glaubenserneuerung verstehen und weitergeben will, wird darum Menschen und Verhältnisse unserer, aber auch jener Tage befragen." 2 G. W. Locher

Diese Zitate zweier Forscher, die sich jeweils intensiv um die Darstellung der reformatorischen Bewegungen in der Schweiz bemüht haben, markieren das ideologische und methodologische Spannungsfeld der heutigen Reformationsgeschichtsschreibung. Sozialhistorische, psychohistorische und theologiegeschichtlich orientierte Historiographie stehen sich besonders im Blick auf das Reformationszeitalter in ihrem Grundansatz, in der Bewertung der geschichtsmächtigen Faktoren und der Einschätzung der Bedeutung des Religiösen scheinbar unversöhnlich gegenüber. Der Paradigmenwechsel innerhalb der Historiographie, der durch eine zunehmende Relevanz sozialwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnishorizonte gekennzeichnet ist, läßt sich am frühen Täufertum geradezu exemplarisch veranschaulichen. Die vermehrte Einflußnahme sozialhistorischer Studien führte seit den 70er Jahren von einem monogenetischen, normativen zu einem polygenetischen, puriformen Bild dieser radikalreformatorischen Bewegung. Überblickt man die neuere Literatur zum frühen Täufertum, dominieren gegenwärtig eindeutig sozialhistorische Beiträge. Die sozialgeschichtliche Deutung und Beschreibung des Täufertums, die sich selbst gern als wissenschaftliche Revision3 des früheren konfessionalistisch geprägten „normativen" Täuferbildes versteht, ist zweifellos zur beherrschenden Forschungsrichtung geworden. „Zum 450jährigen Täuferjubiläum war diese Revision noch umstritten [...], inzwi1 / M. Stayer , Neue Modelle eines gemeinsamen Lebens, in: H.-J. Goertz (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, München 1989,21. 2 G.W. Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979, V. 3 Vgl. W. O. Packull, Between Paradigms: Anabaptist Studies at the Crossroads, in: The Conrad Grebel Review 8, Η. 1,1990,1-22.

14

Einleitung

sehen hat sich diese Sicht aber weitgehend durchgesetzt." 4 Die revisionistische Täuferforschung stellt immer wieder heraus, daß durch sie ein Wechsel von einer idealistischen und apologetischen hin zu einer objektiven „akademischen" Geschichtsschreibung erfolgte. 5 Innerhalb dieser Forschungsrichtung werden die religiösen Bewegungen der frühen Neuzeit, und somit auch die Täufer, als prima causa soziale Bewegungen definiert. Dagegen unterbleibt in gegenwärtigen Darstellungen des Schweizer Täufertums, die den heutigen Forschungsstand repräsentieren, eine primär religiöse Deutung sowie die kritische Analyse seiner theologischen Lehrbildung fast völlig. Das sozialhistorische Deutungsmuster von Geschichte kann jedoch zur generalisierenden Annahme führen, daß die Täufer erst durch die Solidarität mit den Forderungen des „gemeinen Mannes" zu ihrer theologischen Position gelangten.6 Obwohl die sozialhistorische Forschung entgegen ihrer früheren Protagonisten, die sehr wohl auf die theologisch-kirchenhistorische Fundierung ihrer Ergebnisse Wert legten - zunehmend auf hermeneutische Auslegungen der theologischen Schriften verzichtet, formuliert sie weitreichende Folgerungen hinsichtlich der theologischen Konzeption der frühen Täufer, die sich aufgrund der Nachwirkungen des Bauernkriegs von einer zunächst analog zu Zwingli angestrebten kommunalen „volkskirchlichen" nach und nach zur „freikirchlichen" Reformation entwickelt habe. Das Schleitheimer Bekenntnis von 1527 markiert demnach den Wechsel von einer Sozialrevolutionären Massenbewegung, die sich die kommunalen Ziele des „gemeinen Mannes" zu eigen gemacht hatte, hin zu einer separatistischen Gemeinschaft am Rande der Gesellschaft. „Jetzt waren sie sich einig geworden, den ursprünglich eingeschlagenen Weg einer kommunalen Reformation, in der die politische und kirchliche Gemeinde miteinander identifiziert wurden, zu verlassen und den Weg in die Absonderung zu wählen." 7 Dieses Bild eines „zweiphasigen" Täufertums in der Schweiz hat sich in der gegenwärtigen Forschung durchgesetzt, so daß neuere Arbeiten stets von diesem Konsens ausgehen und ihn unkritisch als Grundlage weitergehender Untersuchungen rezipieren. Die vorliegende Studie bemüht sich um eine kritische Revision dieses „revisionistischen" Täuferbildes der neueren Forschung. Anhand der Entstehung des Täufertums in der Frühphase der Zwinglischen Reformation sollen unter Aufnahme sozialhistorischer Ergebnisse die theologischen Leitlinien der täuferischen Bewegung aus den Quellen rekonstruiert werden. Die Leitfrage 4

H.-J. Goertz, Religiöse Bewegungen in der frühen Neuzeit, München 1993,82. Vgl. Packull, Between Paradigms, 9 f. „The confessional-idealist orientation of reformation history was reinforced by the natural co-operation between the disciplines of theology and church history for the purpose of confessional-denominational apologetics" (ebd., 3). 5

6

Vgl. Goertz , Bewegungen, 25. 7 Ebd.

Einleitung

war, ob sich für die prototäuferischen Kreise innerhalb der frühen, hauptreformatorischen Bewegung der Schweiz spezielle theologische Konturen nachweisen lassen, die sich durch die Wirren des Bauernkrieges hindurch bis hin zur „Schleitheimer Synode" verfestigten, ohne dabei ihre theologischen Grundanliegen zu verlieren. Dieses theologische Kontinuum wäre ein bedeutender Einwand gegen ein zweiphasiges Täuferbild, das u. a. von einem fundamentalen Wechsel zwischen „volkskirchlicher" und „freikirchlicher" Ekklesiologie ausgeht. Grundlegend ist ferner die Frage, ob es sich beim frühen Täufertum wirklich um eine primär soziale Bewegung handelt, die „in, mit und unter" (H.-J. Goertz) dem Bauernkrieg entstanden ist, oder um eine primär religiöse Bewegung mit gleichwohl erheblichen sozialen Implikationen. Im Blick auf die zeitgenössische Diskussion innerhalb der Täuferforschung ist ein integrativer Forschungsansatz, der die Bedeutung theologischer Motivationen mit den Ergebnissen der sozialgeschichtlichen Forschung sachgemäß verbindet, durchaus wünschenswert. Selbst Goertz, der die ältere, „normative" Täuferforschung wiederholt einer radikalen Kritik unterzog, plädiert in einer seiner neueren Veröffentlichungen für theologische Analysen auf der Basis der von ihm maßgeblich beeinflußten revisionistischen Forschung. Bei aller Polemik gegen die kirchengeschichtliche Forschung hält er im Blick auf den gegenwärtigen Forschungsstand systematisch-theologische Untersuchungen durchaus für relevant und wünschenswert.8 Die vorliegende Studie soll nicht das ideale Bild der normativen Forschung restaurieren, sondern vielmehr die Ergebnisse der sozialgeschichtlichen Forschung für die eigene Fragestellung nutzbar machen. Das erkenntnisleitende Interesse der vorliegenden Untersuchung besteht nicht in einer naiven Anknüpfung an die Deutung der älteren Forschung, sondern in einem kritischen Diskurs mit den neueren Forschungserträgen der unterschiedlichen historiographischen Ansätze unter einer theologischen Leitfrage. Dabei soll das Proprium kirchengeschichtlicher Betrachtungsweise als historischer Theologie zum tragen kommen. Die Verfasserin bekennt sich durchaus zur hermeneutischen Methode, die sich intensiv um die historisch-kritische Auswertung schriftlicher Quellen einzelner Persönlichkeiten und Gruppierungen der Täuferbewegung sowie der Untersuchung nicht-intentionaler Zeugnisse bemüht. Die Analyse des umfangreichen Aktenmaterials stellt neben der detaillierten Untersuchung der Hauptschriften der Täufer einen weiteren Schwerpunkt dar. Diese Methodik ist schon aufgrund der rationalen Überprüfbarkeit eher zu befürworten als die sogenannten „geschichtswissenschaftlichen Mittel" der Konjektion, der Kombination und der Mutmaßung9, die in neueren Studien zur Täuferge8

Vgl. ebd., 88. Vgl. H.-J. Goertz, C. Arnold Snyder: The Life and Thought of Michael Sattler, MGB 49,1992,103. 9

16

Einleitung

schichte vermehrt zur Anwendung kommen. Es ist verwunderlich, daß selbst dezidiert sozialgeschichtlich konzipierte Untersuchungen zur Täuferbewegung bis auf wenige Ausnahmen fast völlig auf die quantifizierenden und statistischen Methoden der Sozialwissenschaften verzichten. Die Untersuchung gliedert sich in 12 Hauptabschnitte. In einem ersten Teil wird die Entwicklung der Täuferforschung ausgehend von den Urteilen der konfessionellen Geschichtsschreibung bis hin zum gegenwärtigen Forschungsstand analysiert. Dabei wird die Gegenüberstellung von „normativer" und „revisionistischer" Täuferforschung besonders ausführlich kommentiert. Ausgehend von dem beobachteten Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtsschreibung, wird anschließend die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie am Beispiel der Täuferforschung dargestellt. Aus den methodologischen Vorüberlegungen soll der Standpunkt und die erkenntnistheoretische Basis der Verfasserin deutlich erkennbar werden, um einen kritischen Dialog mit den Ergebnissen der Untersuchung zu ermöglichen. Da den meisten neueren Studien zur Täuferforschung das von P. Blickle entwickelte Konzept der „Gemeindereformation" 10 als Erklärungsmodell zugrunde liegt, soll eine differenzierte und kritische Würdigung seines Ansatzes der folgenden Bestandsaufnahme zur frühen Täuferbewegung vorangehen. Der Hauptteil der Untersuchung widmet sich der Entstehung der prototäuferischen Gruppierung und des frühen Täufertums innerhalb des reformatorischen Aufbruchs in Zürich und den umliegenden Gebieten. Dabei werden die Unterschiede zwischen der land- und stadtzürcher Bewegung, die von der sozialhistorischen Forschung besonders prononciert wurden, einer kritischen Sichtung unterzogen. Damit die intendierte Überprüfung des revisionistischen Täuferbildes nicht regional einseitig auf Zürich und Umgebung beschränkt bleibt und das umfangreiche edierte Quellenmaterial zur Ostschweiz zumindest ansatzweise gewürdigt werden kann, wird in einem weiteren Teil die Entwicklung in St. Gallen und Appenzell untersucht. Diese Region gilt als Paradigma für das Postulat eines primär „Sozialrevolutionären" Profils der frühen Täuferbewegung. Deshalb soll nach den Analogien bzw. Unterschieden zum Täufertum des Zürcher Umlandes gefragt werden. Die Frage ist, ob sich in bezug auf die theologische Lehrbildung und deren praktische Umsetzung vergleichbare Entwicklungen nachweisen lassen oder ob gravierende Unterschiede zutage treten. Dazu wird die sachlich-theologische und personelle Verflechtung mit der Zürcher Bewegung nachgezeichnet. Das Bekenntnis von Schieitheim, das sowohl von der „normativen" als auch von der „revisionistischen 4 Forschung als entscheidende Wendemarke innerhalb des sich formierenden Täufertums gewertet wurde, soll die historische Betrachtung beschließen. Hierbei wird zu fragen sein, ob sich in den Artikeln 10 Vgl. P. Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1987.

Einleitung

von Schieitheim theologische Grundsätze finden, die dem bis dahin erarbeiteten theologischen Profil der frühen Täuferbewegungen entsprechen oder diesem widersprechen. Der Nachweis fundamentaler theologischer Analogien würde eine scharfe Kontrastierung der revolutionären und postrevolutionären Phase in Frage stellen. Die Darstellung beschränkt sich vorwiegend auf den Zeitraum von 1522 bis zum Frühjahr 1525. Davon ausgenommen sind die weitere Entwicklung in Zürich, die bis 1527 nachgezeichnet wird, sowie die Schleitheimer Synode, die über den gesteckten chronologischen Rahmen hinaus als sachgemäße Kontrollüberprüfung berücksichtigt wurde. Auf diese frühen Jahre, die in der neueren Forschung wiederholt analysiert wurden, bezieht sich die These des „zweiphasigen Täufertums", weshalb dieser Zeitraum auch in der vorliegenden Untersuchung primär in den Blick genommen wird. Um dem Vorwurf zu entgehen, eine spätere historische Entwicklung in die Frühphase der Bewegung zu projizieren, hält sich die Studie fast ausschließlich an die Zeugnisse des gewählten Zeitraums. So war es möglich, neben den täuferischen Hauptschriften auch das umfangreiche Aktenmaterial in die Deutung einzubeziehen. Die genuin theologischen Texte der Täufer werden im Dialog mit den Schriften der Hauptreformatoren und mit den theologischen Referenztexten anderer „radikaler Reformatoren" ausgewertet. Durch die regionalen und chronologischen Einschränkungen muß die eigenständige Prägung Balthasar Hubmaiers und des von ihm beeinflußten Täufertums ausgespart werden. Die vorliegende Untersuchung stützt sich bis auf wenige Ausnahmen auf bereits ediertes Quellenmaterial. Die Schreibweise der jeweiligen Quellenausgaben wird wörtlich übernommen und nicht vereinheitlicht. Zur Vereinfachung des Schriftbildes werden jedoch die verschiedenen Umlaute im Manuskript mit demselben Zeichen ( A ) versehen. Die Anhänger Zwingiis, die sich im Lauf der Zeit zur täuferischen Bewegung formierten, werden nachstehend als „Prototäufer" und „Radikale" bezeichnet. Der Verfasserin sind die Aporien dieser Titulierung bewußt. Der zunächst von G. Williams aufgebrachte Begriff „radikal" 11 wird im Kontext der Erarbeitung sowohl in bezug auf das Denken als auch auf das Handeln der Prototäufer angewandt. Dabei soll im Gegensatz zur sozialhistorischen Forschung, die an diesem Prädikat ebenfalls festhält, nicht der revolutionäre und „tumultarische" Charakter der Bewegung unterstrichen werden, sondern das energische Drängen auf eine konkrete Kirchen- und Sakramentsreform im Sinne des reformations-theologischen Programms (u. a. Schriftprinzip, Priestertum aller Gläubigen, Antisakramentalismus). Durch den Begriff „radikal" sollen zum einen die Analogien zur Zwinglischen Reformation, aber auch die früh ausgebildete Distanzierung von dem Zürcher Reformator zum Ausdruck gebracht werden. Die Anhänger des Täufertums werden in der Un11

Vgl. Goertz, Bewegungen, 63.

18

Einleitung

tersuchung ihrem Selbstverständnis entsprechend nicht als „Wiedertäufer" oder „Anabaptisten", sondern als Täufer bezeichnet. Gleiches gilt für die von ihnen praktizierte Taufe, die nicht als „Wiedertaufe" oder „Erwachsenentaufe", sondern als „Glaubens- oder Gläubigentaufe" im Text erscheint. Diese Bezeichnungen wurden bewußt vom theologischen Selbstverständnis der Täufer aus und nicht von dem ihrer Gegner gewählt. Sicher ist mit der Wahl dieser Semantik auch eine Wertung verbunden, die - wie der Verfasserin bewußt ist - durchaus Aporien enthält. Zweifellos wird auch von den Befürwortern der „Kindertaufe" die konstitutive Verbindung von Taufe und Glaube festgehalten, so daß im Sinne ihrer theologischen Konzeption ebenfalls von einer „Glaubenstaufe" gesprochen werden müßte. Dennoch bringt gerade dieser Terminus die für die Täufer unumkehrbare Reihenfolge von Glaube und Taufe besonders deutlich zum Ausdruck, während es ihnen niemals um eine „Wiederholung" der Taufe ging, und auch die Taufe Erwachsener nicht das eigentliche theologische Proprium ihrer Tauflehre darstellte. Die Täuferforschung steht nach Packull an einem Scheideweg.12 Sie befindet sich s. E. nicht länger in der „heroischen", sondern in der akademischen Phase. Auch Stayer vermag über den Ertrag der eigenen Forschungsrichtung durchaus selbstbewußt zu urteilen: „Ich spreche jedoch als Historiker, der das verbesserte Verständnis der Reformation feiert, von dem ich mir einbilde, daß es dadurch gewonnen wurde, daß wir die systematischen Theologen aus ihrer beherrschenden Rolle verdrängt haben, die sie bis 1960 in der Reformationsforschung spielten." 13 Diese selbstbewußten Einschätzungen der revisionistischen Forschung gilt es zu überprüfen. Die vorliegende Studie geht dabei zunächst von der These aus, daß mit der revisionistischen Täuferforschung mitnichten eine Phase höherer Wissenschaftlichkeit begonnen, sondern lediglich die Vorstellung der „Helden" gewechselt hat. Suchte man in früheren Zeiten in den Täufern die friedfertigen, frommen, zum Martyrium bereiten Vorkämpfer des Glaubens, so entstehen heute aus den Quellen die prügelnden Bauern und ihre Frauen, angefüllt mit ohnmächtigem Zorn auf die „Pfaffen", in der einen Hand die Axt, in der anderen eine Flugschrift, durch die sie verbal ausgerüstet wurden mit Sprechblasen voller ethisierter Reformationsphrasen.

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Vgl. Packull, Between Paradigms, 1-22. Vgl. /. Λί. Stayer ; Arnold Snyder: Beyond Polygenesis: Recovering the Unity and Diversity of Anabaptist Theology, in: MGB 52,1995,156. Stayer reagiert geradezu „allergisch" auf Snyders Beitrag. Er wirft ihm konfessionelle Geschichtsschreibung und Entstellung der Geschichte vor. Als Motiv macht er die Suche nach einer theologischen Kontinuität zum heutigen Mennonitentum aus. 13

1 D e r Stand der Täuferforschung 1.1 Kurze Geschichte der älteren Täuferforschung „Während das Täufertum früher als Verirrung des christlichen Glaubens schlechthin betrachtet wurde [...], sieht man es jetzt gerne als folgerichtige Vollendung der Reformation im Gegensatz zu den inkonsequent gebliebenen Reformatoren". 1 Diese Beobachtung H. J. Hillerbrands zum Täufertum in der Geschichtsforschung Ende der 50er Jahre verdeutlicht den folgenreichen Paradigmenwechsel, der in der Erforschung des Täufertums stattgefunden hat. 2 Jahrhundertelang waren die Täufer aufgrund des generalisierenden Urteils der Hauptreformatoren weitgehend aus der reformationsgeschichtlichen Forschung ausgeschlossen worden. Das lutherische Verdikt über die „Schwärmer", das alle täuferischen, spiritualistischen sowie enthusiastischen Strömungen traf, wurde in der von konfessionellen Präjudizien geprägten Forschungsarbeit unkritisch rezipiert und tradiert. Erst im Kontext der Französischen Revolution als geistes- und sozialgeschichtlicher Wendemarke entwickelte sich ein neues Interesse für die „radikalen" Kräfte der Reformationszeit. 3 Die Neuinterpretation des Bauernkrieges und seines Protagonisten Thomas Müntzer bewirkte gleichzeitig eine Revision des traditionellen Täuferbildes. Die Täufer, nunmehr sogenannte „Agenten" Thomas Müntzers, avancierten zu den treibenden revolutionären Kräften des 16. Jahrhunderts und zu den Trägern der bäuerlichen Erhebung. 4 Aus diesen frühsozialistischen Interpretationen resultierte zum einen der spätere ideologische Rahmen der marxistischen Reformationsgeschichtsschreibung 5 , zum anderen traten die reformatorischen Randströmungen erstmalig aus dem Schatten der konfessionalistischen Diffamierung.

1 H. J. Hillerbrand, Die politische Ethik des oberdeutschen Täufertums. Eine Untersuchung zur Religionsgeschichte des Reformationszeitalters, Leiden/Köln 1962,1. 2 Eine zusammenfasende Darstellung der Täuferforschung: Vgl. Goertz, Bewegungen, 75 ff. 3 Vgl. Λ. Friesen, Social Revolution or Religious Reform? Some Salient Aspects of Anabaptist Historiography, in: H.-J. Goertz (Hg.), Umstrittenes Täufertum. 1525-1575. Neue Forschungen, Göttingen, 21977, 227; R. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982,145. 4 Vgl. Friesen, Social Revolution, 229. 5 Vgl. ebd., 230; F. W Kantzenbach, Christentum in der Gesellschaft. Kleine Sozialgeschichte des Christentums, Band II: Reformation und Neuzeit, Saarbrücken 21988, 105.

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1 Der Stand der Täuferforschung

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen vermehrt biographische Publikationen zu einzelnen führenden Täuferpersönlichkeiten. 6 Dem erwachten Forschungsinteresse Rechnung tragend wurde mit der Veröffentlichung täuferischer Quellen begonnen. Als Wegbereiter in dieser frühen Forschungsphase sind u. a. die Namen von C. A. Cornelius, E. Egli, J. Beck, J. Loserth, P. Burckhardt und L. Keller zu nennen. Einen entscheidenden Neuansatz in der Täuferforschung bewirkten die religionssoziologischen Studien Ernst Troeltschs. 7 In seinem monumentalen Werk über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen analysierte er die Geschichte des Christentums aus soziologischer Perspektive, ausgehend von der urchristlichen Gemeinde bis zur Gegenwart. Er beurteilte seine Darstellung selbst als „soziologisch-realistisch-ethische(s)" Pendant zu A. v. Harnacks dogmatischem Entwurf. 8 Aus seiner sozial-empirischen Analyse ergaben sich für Troeltsch drei Typen der „soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee", die er mit den Begriffen: Kirche, Sekte und Mystik beschrieb. 9 Die beiden ersten Gemeinschaftsbildungen repräsentierten für ihn zwei legitime soziologische Typen, die in der „Konsequenz des Evangeliums" liegen. 10 Troeltsch sah im Urchristentum selbst die Begründung für die Ausbildung jener doppelten ekklesiologischen Struktur angelegt, die er mit „Kirche" und „Sekte" identifizierte. Im Gegensatz zum „Kirchentypus" beruhe die Sekte nicht auf dem soziologischen Gedanken der Heilsanstalt, sondern auf der freiwilligen Vereinigung ihrer Mitglieder. Weitere Kennzeichen für die Sekte seien ihre grundsätzliche Kritik am Sakramentalismus, die Separation von der „Welt", die Praxis einer rigorosen Liebesethik sowie die vehement geforderte Freiheit vom Staat. 11 „Der Typus der Kirche ist die überwiegend konservative, relativ weltbejahende, massenbeherrschende und darum ihrem Prinzip nach universale d. h. alles umfassen wollende Organisation. Die Sekten sind demgegenüber verhältnismäßig kleine Gruppen, erstreben eine persönlich-innerliche Durchbildung und eine persönlich-unmittelbare Verknüpfung der Glieder des Kreises, sind eben damit von Hause aus auf kleinere Gruppenbildung und auf den Verzicht der Weltgewinnung angewiesen; sie verhalten sich gegen Welt, Staat, Gesellschaft indifferent, duldend oder feindlich [...]." 12 6

Vgl. E Heyer, Der Kirchenbegriff der Schwärmer, Leipzig 1939,1. Vgl. E . Troeltsch , Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. Dazu vgl. S. Riddoch , Stepchildren of the Reformation or heralds of modernity: Ernst Troeltsch on sixteenth-century Anabaptists, sectarians and spiritualists, in: W. O. Packull / G. L. Dipple (Hg.), Radical Reformation Studies. Essays presented to James M. Stayer, Aldershot 1999,143-156. 7

8 Vgl. W. Köhler, Ernst Troeltsch, Tübingen 1941,269; E Mildenberger , Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1981,150. 9 Vgl. Troeltsch , Soziallehren, 967. 10 Vgl. ebd., 375.

» Vgl. ebd., 372 ff. 12 Ebd., 362.

1.1 Kurze Geschichte der älteren Täuferforschung

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Nach Troeltsch sind der Kirchen- und Sektentyp wiederum deutlich von der Mystik als religiöse Erscheinungsform ohne Tendenz zur Gemeinschaftsbildung zu unterscheiden. 13 Obwohl bereits das Neue Testament sowohl kirchenals auch sektenbildend wirkte, datierte Troeltsch die erste Phase der Sektenbildung auf das Hoch- bzw. Spätmittelalter. 14 Als Komplementärbewegung zum Hauptstrom der Reformation, der nach Troeltsch am „Kirchentypus" festhält, beschreibt er das Täufertum, die sogenannte Sektenbildung auf protestantischem Boden. Köhler nennt diesen Entwurf nicht zu Unrecht einen „genial hingeworfene(n) Aufriß" 15 der Geschichte des Täufertums. Als historisch a n weisbare Kennzeichen des von ihm zuvor systematisierten Sektentyps, der im reformatorischen Täufertum ausgehend von Zürich verwirklicht wurde, nennt Troeltsch die Freiheit von staatlichem und hierarchischem Zwang, die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, die Bildung von Gemeinden „wiedergeborener Christen", die rigorose Anwendung der Gemeindezucht, die Praxis der „Spättaufe", das antisakramentale Abendmahlsverständnis und die Separation von der Welt. 16 Bei der Charakterisierung der täuferischen Bewegung hob er die spezifische Ekklesiologie als ihr Proprium hervor. „Ihr wirkliches und eigentliches Wesen aber war die Heiligkeitsgemeinde [.. .]." 1 7 Bahnbrechend für die Täuferforschung erwies sich die von Troeltsch geforderte Unterscheidung zwischen Täufern und Spiritualisten, die er als „zwei getrennte Ströme, die nur gelegentlich sich mischen und die einen sehr verschiedenen Quellpunkt und Verlauf haben" bezeichnete.18 Diese Trennung von Täufertum und Mystik büdete den Ansatzpunkt der umfassenden Arbeit Karl Holls, dem Inaugurator der „Lutherrenaissance", die sich an den Ergebnissen Troeltschs zur Täuferbewegung orientierte. In der „scharf und umfassend" 19 geführten Auseinandersetzung zwischen Holl und Troeltsch über die Wertung der Reformation vor allem konzentriert auf die Deutung der Person Martin Luthers - bildete die Kontroverse über das Täufertum jedoch nur einen Nebenschauplatz. Holl polemisierte gegen eine Geschichtsschreibung, die s. E. zu Unrecht in den „Schwärmern" die eigentlichen Träger des geschichtlichen Fortschritts entdeckte.20 Dem Ansatz Troeltschs folgend, Mystik und Täufertum zu unterscheiden, würden „alle geschichtlichen Zusammenhänge zerrissen." 21 „Es gibt kein Täufertum, das 13 Vgl. ebd., 382 f. 14 Vgl. ebd., 377. 15 Köhler y Troeltsch, 285. 16 Vgl. Troeltsch , Soziallehren, 803. 1 7 Ebd., 803. ι 8 Ebd., 848. 19 H. Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Göttingen 21970,15. 20 Vgl. K. Holl, Luther und die Schwärmer (1922), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Band 1: Luther, Tübingen 61933,424. 21 Ebd., Anm. 1

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1 Der Stand der Täuferforschung

sich nicht auf eine, wenn auch noch so einfache Mystik stützte." 22 Gemäß den Einschätzungen Luthers sieht Holl in Thomas Müntzer den Begründer des Täufertums, an dessen mystischer Theologie alle folgenden Ausbildungen der Täuferbewegung partizipiert hätten. 23 Daher kann man K. Holls Ausführungen m. E. zurecht als Repristinierung der Urteüe der Reformatoren über die „Wiedertäufer" bezeichnen.24 Während diese „klassische" Position in der neueren Täuferforschung wenig Relevanz besitzt, ist die innovative Kraft der Thesen Troeltschs kaum zu überschätzen. Anhand der Diskussion der Troeltschen Typologisierungen entfaltete sich eine lebhafte Forschung zum Täufertum. W. O. Packull faßt ihre Bedeutung prägnant zusammen: „Anabaptism became de facto separatist and sectarian in the minds of a generation of church historians." 25 Die von Troeltsch dargestellte diachrone Relation zwischen reformatorischer Täuferbewegung und dem Nonkonformismus des 17. Jahrhunderts bis hin zur Entwicklung des Freikirchentums im angloamerikanischen Raum inspirierte darüber hinaus vor allem die Geschichtsschreibung, die sich der freikirchlichen Tradition verpflichtet wußte.

1.2 Die normativ-typologische Sicht des Täufertums Troeltschs historiographische Aufwertung der Täufer löste eine bewegte und produktive Forschungsdiskussion aus, die sich in zahlreichen Untersuchungen zur Täuferbewegung, in Quellenveröffentlichungen und in der Etablierung spezieller Publikationsorgane der Täuferforschung niederschlug. 26 Maßgebliche Impulse erhielt die neuere Täuferforschung aus dem angloamerikanischen Raum. Dem Täufertum nahestehende Freikirchen erbrachten dort eine Vielzahl grundlegender Arbeiten zur Geschichte der Täufer. 27 Ohne Zweifel eignet 22 Ebd. 23 Vgl. ebd., 434.450. 24 Vgl. Friesen, Social Revolution, 233. 25 W O. Packull, Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement 1525-1531, Scottdale 1977,18. 26 Vgl. W Köhler, Das Täufertum in der neueren kirchengeschichtlichen Forschung, in: A R G 37,1940,93-106 (zum Stand der Forschung 1940). 27 Vgl. H. S. Bender, Conrad Grebel, 1498-1526. The Founder of the Swiss Brethren, Sometimes Called Anabaptists, Goshen 1950; J. C. Wenger, Even Unto Death, Richmond 1961; F. H. Litteil, Das Selbstverständnis der Täufer, Kassel 1966; R. Friedmann, Theology of Anabaptism, Scottdale 1973; G. H. Williams, The Radical Reformation, Philadelphia 1962; J. H. Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz. Die Gespräche zwischen Täufern und Reformatoren 1523-1538, Karlsruhe 1962; ders. y Täufertum und Reformation im Gespräch. Dogmengeschichtliche Untersuchung der frühen Gespräche zwischen schweizerischen Täufern und Reformatoren, Zürich 1968; zur Geschichte der normativen Täuferforschung vgl. L. Miller, A Reconstruction of Evangelical Anabaptism, in: MennQR 69, 1995, 295-306; / M. Stayer , Anabaptists and the Sword, Lawrence 2 1976,8 f. (Hinweise zu weiteren Arbeiten).

1.2 Die normativ-typologische Sicht des Täufertums

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diesen Beiträgen ein latentes denominationell-apologetisches Interesse, aufgrund dessen die täuferische Bewegung innerhalb dieser historiographischen Richtung zum Inbegriff und Zentrum der Reformation aufstieg. Orientiert am Entwurf Troeltschs, konzentrierte sich das Interesse der Forscher zunächst auf die Schweizer Täufer. 28 Das pazifistische und tendenziell separatistische Schweizer Täufertum, wie es in seiner sogenannten „Gründungsurkunde", den Schleitheimer Artikeln von 1527, zutage trat, wurde zur Norm erhoben, an der alle anderen Ausprägungen der täuferischen Bewegung zu messen waren. Für diese Entwicklung kann beispielhaft das zusammenfassende Urteil von B. S. Bender, dem „Nestor" der mennonitischen Täuferforschung herangezogen werden: „It will be remembered that Anabaptism arose in Switzerland, precisely in Zürich, early in 1525; [...] and that it was essentially a peaceful, evangelical, and creative religious movement of great power, conceiving of itself as reproducing New Testament Christianity and as completing the arrested Reformation begun by Luther and Zwingli." 29 Chiliastische bzw. Sozialrevolutionäre Tendenzen, etwa bei H. Hut, M. Hoffmann oder den Münsteraner Täufern sowie die Interdependenz von Bauernerhebung, der Theologie Thomas Müntzers und der Täuferbewegung konnten nicht in das Konstrukt eines Täufertums integriert werden, das von Beginn an auf einer freikirchlichen Ekklesiologie und einer gewaltfreien Grundeinstellung basierte. 30 Der Ansatz dieser normativen Sicht vermittelte trotz vieler neuer Ergebnisse, unermüdlicher Erforschung und Erschließung von Originalquellen ein ideales Bild des frühen Täufertums, das auch als Identifikationsmodell aktueller freikirchlicher Konzeptionen fungierte. 31 Eine Folge der normativen Sicht des Täufertums war zunächst eine Fülle von Typologisierungsversuchen, die sich alle mehr oder weniger konsequent aus der kategorialen Unterscheidung Troeltschs von „Sekte" und „Mystik" ergaben. 32 Die normative Sicht des Täufertums dominierte trotz vieler erkenntnisreicher Differenzierungen und wertvoller Einzelergebnisse auch die Arbeiten europäischer Forscher, unter denen vor allem Fritz Blanke, Torsten

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Goertz, Bewegungen, 77: „Hier wird deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die religionssoziologische, wertneutral komplementär verstandene Deutung des Täufertums in ein theologisch normatives Täuferverständnis umgewandelt wurde." 29 H. S. Bender, The Anabaptists and Religious Liberty in the 16th. Century, in: ARG 44,1953,36; Vgl. dazu Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 171 f. 30 Vgl. J. Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 171. 31 Zur Wirkungsgeschichte der normativen Forschung vgl. S. Nolt, Anabaptist Visions of Church and Society, in: MennQR 69,1995,283-294 32 Vgl. G. A. Benrath, HDThG 2,1980, 560 ff.

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1 Der Stand der Täuferforschung

Bergsten und Heinold Fast wegen ihrer fundamentalen Forschungserträge hervorzuheben sind.33 Ende der 50er Jahre begann sich jedoch das festgefügte Bild eines normativen Täufertums durch neuere Untersuchungen zu wandeln. Forschungen zum oberdeutschen Täufertum, etwa von Grete Mecenseffy, trugen zur ansatzweisen Revision bei. 34 Der Einfluß von T. Müntzer auf die Theologie H. Huts und H. Dencks sowie die Eigenständigkeit des oberdeutschen Täufertums gegenüber den Schweizer Brüdern wurden schärfer herausgearbeitet. Als besonderen, zeitgleich erfolgten Einschnitt muß man die Entdeckung des „Kunstbuches", der Schriftensammlung des Marpeckkreises, durch H. Fast und J. F. G. Goeters ansehen, durch die die Differenzen und offenen Konflikte dieser täuferischen Gruppierung mit dem Schweizer Täufertum deutlich zutage traten. 35 Im Zuge dieser Entwicklung profilierten auch niederländische Forscher die eigene Prägung des niederdeutschen Täufertums. 36 Selbstkritisch wurde in diesen Untersuchungen die „Dogmatisierung" des Täufertums und der Nutzen einer Kategorie des „wahren" bzw. „normativen" Täufertums in Frage gestellt. Diese evolutionäre Bewegung zur Revision des normativen Täufertums gilt es gegenüber einem vereinfachenden Urteil festzuhalten, das die Korrektur am idealen Bild der Täufer allein den neueren sozialgeschichtlichen Forschungen zuschreibt. Zur Differenzierung innerhalb der Täuferforschung haben ebenso theologiegeschichtlich arbeitende Forscher beigetragen. Den Vorwurf einer „ahistorischen Abstraktion" auf den gesamten kirchen- bzw. theologiegeschichtlichen Ansatz auszudehnen, resultiert eher aus der aktuellen Historiographiedebatte als aus der realen Bestandsaufnahme historischer Arbeiten. Der Ideologievorwurf, der ζ. T. sogar zur Ausgrenzung der mennonitischen Forschung führte und gleichzeitig die Legitimität kirchengeschichtlicher Arbeit in Frage stellt, soll im folgenden Kapitel auf dem Hintergrund der Methodologiediskussion erörtert werden. Erste Resultate einer sich fortschreitend differenzierenden Sicht des Täufertums sind bereits bei G. H. Williams systematisierter Gesamtschau der 33

Vgl. F. Blanke, Brüder in Christo. Die Geschichte der ältesten Täufergemeinde. Zollikon 1525, Zürich 1955; T. Bergsten, Balthasar Hubmaier. Seine Stellung zu Reformation und Täufertum 1521-1528, Kassel 1961; H. Fast, Heinrich Bullinger und die Täufer. Ein Beitrag zur Historiographie und Theologie im 16. Jahrhundert, Weierhof 1959. 34 Vgl. G. Mecenseffy, Die Herkunft des oberösterreichischen Täufertums, in: ARG 47,1956, 252-259; W. Fellmann (Hg.), Hans Denck, Schriften, Teil 2, Quellen zur Geschichte der Täufer VI, Gütersloh 1956; ders., Hans Denck, Schriften, Teil 3, Quellen zur Geschichte der Täufer VI, Gütersloh 1960. 35 Vgl. H. Fast, Pilgram Marpeck und das oberdeutsche Täufertum, in: ARG 47, 1956,212-242; J. J. Kiwiet, Pilgram Marbeck. Ein Führer in der Täuferbewegung in der Reformationszeit, Kassel 21958 (Der Autor kam zu ähnlichen Interpretationen des Marpeckkreises, ohne das Kunstbuch auswerten zu können.) 36 V g l A. F. Mellink, De Wederdopers in de Noordelijke Nederlanden, 1531-1544, Groningen 1954; J. M. Stayer , Anabaptists and the Sword, Lawrence 31979,12 ff. 16.

1.2 Die normativ-typologische Sicht des Täufertums

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Täuferbewegung festzustellen. 37 Williams lehnt den Begriff „normativ" für das Schweizer Täufertum ab, das in seiner kategorialen Unterscheidung der Täuferbewegung als eine der drei Ströme des Täufertums begegnet. Allerdings weist die von Williams als „Evangelical Anabaptists" bezeichnete Richtung die bekannten Merkmale des normativen Täufertums auf. 38 Nur das evangelische Täufertum, das von Beginn an pazifistisch eingestellt war, hat nach Williams überlebt und seine Kontinuität in Mennonitentum und Hutterern gewahrt. Die normative Täuferforschung ist in den vergangenen Jahren wiederholt kritisch analysiert worden. 39 Eine weitere Destruktion dieser Forschungsrichtung scheint nach den detaillierten und umfassenden Auslassungen an dieser Stelle nicht zweckdienlich zu sein. „Nevertheless, it has not been said often enough and clearly enough that Evangelical Anabaptism is no longer a serviceable historical term for its demise to be a recognized event."40 Dieses apodiktische Urteil Stayers ist in der heutigen Täuferforschung konsensfähig. Daher überrascht es, daß nach der von Stayer konstatierten „Beerdigung"41 der normativen Sicht der Täuferforschung, innerhalb einer „Sozialgeschichte" des Christentums jene viel geschmähte, auf Troeltsch basierende Typologisierung scheinbar ungebrochen repristiniert wird. 42 Kantzenbach plädiert für die klare Trennung des „ursprünglichen" Täufertums in Zürich von den späteren revolutionären Strömungen, die in Münster ihren Höhepunkt erreichten. Er wiederholt sogar die weite Zeiträume überspannende These Troeltschs zur Entwicklung des Freikirchentums: „Neben den Kirchen landeskirchlicher bzw. staatskirchlicher Prägung hebt sich die reformatorische Bewegung ab, die allmählich in langsamen und vielfach gebrochener Entwicklung zur Ausbildung verschiedener Formen des Freikirchentums geführt hat. Die in Deutschland und in der Schweiz gleicherweise Unterdrückten konnten sich erst in den Niederlanden, in England und vor allem auf amerikanischem Boden entfalten." 43 Der bleibende Ertrag der normativen Forschung kann bei aller sachbezogenen Kritik nicht bestritten werden. 37 Vgl. G. H. Williams, The Radical Reformation, Philadelphia 1962. Eine umfangreiche, überarbeitete Fassung dieses Standardwerks liegt aus dem Jahr 1992 vor. 38 Vgl. Williams, Radical Reformation, 853; Stayer , Sword, 11. 39 Vgl. J. M. Stayer/ W O. Packull/K. Deppermann, From Monogenesis to Polygenesis: The Historical Discussion of Anabaptist Origins, in: MennQR 49, 1975, 83-121; Goertz y Täufer, 137 ft; Κ. Deppermann, Melchior Hoffmann. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979,12 iL 40 Stayer, Sword, 20. 41 Vgl. J. M. Stayer , Reflections and Retractions on Anabaptists and the Sword, in: MennQR 51,1977,197. 42 Vgl. F. W Kantzenbach , Christentum in der Gesellschaft. Kleine Sozialgeschichte des Christentums, Band 2: Reformation und Neuzeit, Saarbrücken 21988,102. 43 Kantzenbach, Christentum, 114.

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1 Der Stand der Täuferforschung

1.3 Revisionistisch-sozialgeschichtliche Täuferforschung Die sich abzeichnende Wandlung des traditionellen Täuferbildes wurde durch den Aufschwung sozialgeschichtlicher Interpretationen beschleunigt. Der mit den Namen J. M. Stayer, C. P. Clasen, W. O. Packull, K. Deppermann u. a. verbundene sogenannte „contextualist approach" begründete den Ursprung und die Ausprägung der verschiedenen täuferischen Gruppierungen im sozialen und wirtschaftlichen Milieu der Reformationszeit. 44 Die Konzentration auf Typologisierungsversuche wurde zugunsten einer breit angelegten empirischen Forschung unter Verwendung sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Methoden aufgegeben. Vor allem Stayers noch ideengeschichtlich konzipierte Abhandlung 45 zum Verhältnis der verschiedenen Täufergruppierungen zur Schwertgewalt sowie zur Obrigkeit unterzog die normative Sicht einer radikalen Kritik. Die bereits 1958 von G. Zschäbitz im Rahmen seiner marxistisch orientierten Geschichtsschreibung verworfene These einer monogenetischen Entstehung des Täufertums wurde von Stayer überzeugend widerlegt. In seiner komparativen Studie wies er die Vielfalt der täuferischen Bewegungen, deren selbständigen Ursprung sowie ihre genuine Morphologie nach. 46 Von einer Identität zwischen dem frühen Täufertum und den später verfestigten Gruppierungen könne s. E. nicht gesprochen werden. Auch die Annahme eines frühen Separatismus der Schweizer Täufer wurde von Stayer durch die These in Frage gestellt, daß die Ausbildung einer sektiererischen Identität erst eine Reaktion auf die Zeitumstände sei. Separatismus habe als Frucht einer historischen Entwicklung, nicht jedoch als Ausdruck eines genuinen theologischen Konzeptes des Täufertums zu gelten. Im Blick auf die Stellung zur Schwertgewalt und zur Obrigkeit ergaben sich bei den täuferischen Gruppierungen keine theologischen Kohärenzen, sondern im Gegenteil unterschiedliche, sogar einander ausschließende Positionen. Die Diversität der theologischen Lehrbildung in dieser Kernfrage beweist nach Stayer, daß man nicht von einem einheitlichen Täufertum ausgehen kann. Sowohl vom dezidiert quantifizierenden, sozialgeschichtlichen Ansatz, wie ihn C. P. Clasen für das oberdeutsche Täufertum durchgeführt hat (s. o.), als auch vom stärker ideen- und sozialgeschichtlichen Ansatz her ergeben sich grundsätz44 Vgl. J. M. Stayer , Anabaptists and the Sword, Lawrence 1972; C. P. Clasen , Anabaptism. A Social History, 1525-1618, Ithaca/London 1972; K. Deppermann, Melchior Hoffmann. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979; H.-J. Goertz, Die Täufer. Geschichte und Deutung, München 2 1988; W. O. Packull, Mysticism in the Early South German-Austrian Anabaptist Movement 1525-1530, Scottdale 1977. 45 Heute distanziert er sich von der damals angewandten Methode: vgl. J. M. Stayer , Noch einmal besichtigt. Anabaptists and the Sword. Von der Radikalität zum Quietismus, in: MGB 47/48,1990/91,24. 46 Vgl. Deppermann y Melchior Hoffmann, 16; Goertz, Täufer, 141 f.

1.3 Revisionistisch-sozialgeschichtliche Täuferforschung

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lieh voneinander geschiedene Richtungen des Täufertums. 47 Dabei ist festzuhalten, daß einige „revisionistische" Autoren 48 um einen synthetischen Ansatz aus sozialgeschichtücher und theologisch-kirchengeschichtlicher Perspektive bemüht waren. Durch eine umfangreiche Studie über Hans Hut gelang es G. Seebaß, die Eigenständigkeit und apokalyptisch-mystische Prägung dieses täuferischen Zweiges nachzuweisen.49 In einem ausführlichen Forschungsbericht stellten Stayer, Packull und Deppermann im Jahre 1975 die neuen Entwicklungen dar, die zu einer umfassenden Revision der Ergebnisse der normativen Forschung geführt hatten. Der Titel des gemeinsam veröffentlichten Aufsatzes „From Monogenesis to Polygenesis" - faßt prägnant den Paradigmen Wechsel zusammen, der zwischenzeitlich stattgefunden hatte. Die Entwicklung führte von einem monogenetischen, normativen zu einem polygenetischen, pluriformen Bild einer religiösen Bewegung. Der Stand der Forschung wird von den Autoren an den drei als eigenständig erkannten Zentren täuferischer Bewegungen reflektiert: schweizerisches, süddeutsches und niederdeutsches Täufertum. Die Auseinandersetzung um die frühen Täufer in der Schweiz zeigt besonders deutlich die Korrektur an der typologisierend vorgehenden traditionellen Forschung. Durch neue Ergebnisse in der Zwingliforschung (B. Moeller, M. Haas, F. Büsser, R. Walton), die Entdeckung der Relevanz des Streits um den Zehnten (J. F. G. Goeters) sowie die Verflechtung der frühen Täufer mit sozialrevolutionären Bestrebungen entwickelte sich eine gänzlich neue Sicht.50 Das frühe Täufertum erwies sich nicht länger als separatistische und pazifistische Reformbewegung. Weitere Beiträge von Stayer, Haas aber auch H. Fast betonten den historischen Formungsprozeß des Täufertums, bei dem die Ausbildung einer separatistischen und kongregationalistischen Gemeinde erst am Endpunkt einer Entwicklung stehe.51 Eine Trennung der Täufer von der zeitgleichen Sozialrevolutionären Bewegung sei nicht länger möglich. Die überragende Bedeutung des Einflusses der Schweizer Täufer auf das süddeutsche Täufertum wurde durch neuere Forschungen widerlegt. Während Bender und Friedmann die Prägung der täuferischen Bewegung durch Thomas Müntzer zu minimalisieren versuchten und auch die süddeutschen Täufer in Kontinuität zum normativen Täufertum in der Schweiz begriffen, profilierten G. Rupp, G. Mecenseffy u. a. die Eigenständigkeit dieser Bewegung.52 Arbei47 Vgl. Stayer / Packull / Deppermann, Monogenesis, 86. Im folgenden wird der Aufsatz referriert. Alle Quellenverweise sind ihm zu entnehmen. 48 Vor allem Goeters, Deppermann, Seebaß, aber z. T. auch Goertz, der sich als Theologe den Sozialwissenschaften zuwandte. 49 Vgl. G. Seebaß, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut (gest. 1527), Habilitationsschrift (unveröffentl.), Erlangen 1972. 50

Vgl. Stayer / Packull/Deppermann,

Monogenesis, 95 f., 99.

Vgl. ebd., 98 f. 52 Vgl. ebd., 103; R. Friedmann (Hg.), Glaubenszeugnisse oberdeutscher Taufgesinnter, Bd. 2, Gütersloh 1967; ders., Die Schriften der hutterischen Täufergemeinschaften. Gesamtkatalog ihrer Manuskriptbücher, ihrer Schriften und ihrer Literatur 1529-1667, Wien 1967.

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1 Der Stand der Täuferforschung

ten zu H. Hut und zu H. Denck zeigen ebenfalls deren Abhängigkeit von der Müntzerschen Theologie auf. 53 Sie führten Seebaß zu dem prononcierten Urteil, daß das Hutsche Täufertum nicht nur eine Variante des Schweizer Täufertums sei, sondern ein vollkommen eigenständiges Täufertum darstelle. In den Forschungen zur niederländischen Täuferbewegung wurde der theologische Zusammenhang von Melchioriten und Mennoniten, der lange Zeit von der freikirchlichen Seite als Pudendum empfunden wurde, offengelegt. 54 Kritisch analysierte man die verschiedenen Traditionsströme, die im Täufertum konvergierten. Der Zusammenhang von wirtschaftlicher Depression und der Ausbildung chiliastischer Ideen wurde in neueren Untersuchungen aufgezeigt (R. v. Dülmen, K. Deppermann). 55 Radikale religiöse Ideen, die sich im niederdeutschen Täufertum kumulierten, wurden stärker im Kontext sozio-ökonomischer Faktoren untersucht. Die wichtigsten Ergebnisse der neueren Täuferforschung, die gegenwärtig den Forschungskonsens beschreiben, sind u. a.: 1. der A b weis eines monogenetischen Ursprungs der Täuferbewegung in der Schweiz; 2. die polygenetische Entstehung des Täufertums in mindestens drei chronologisch und geographisch differenzierten Zentren (schweizer, süddeutsches und niederdeutsches Täufertum); 3. der Aufweis sozialrevolutionärer Tendenzen im frühen Täufertum; 4. dogmatische Pluriformität der täuferischen Richtungen. Die sozialgeschichtliche Forschung hat vor allem zur Differenzierung der einzelnen täuferischen Gruppierungen beigetragen. Alle Untersuchungen erwiesen die Heterogenität und Vielfalt der Bewegung. Dabei wurde kritisch aufgedeckt, daß die traditionelle Forschung in der Gefahr stand, die Endformen des Täufertums in seine Ursprünge zurückzuprojizieren. „Und so scheint es, daß die genannten Forschungen wieder rückgängig machen, was die kirchenhistorische Täuferforschung erkämpft hat: den nichtrevolutionären Charakter des Täufertums, die freikirchliche Ekklesiologie, die Einheit des Täufertums, die Bedeutung des Täufertums für die Heraufkunft der modernen Welt." 56

Als vorläufiges Resümee der neueren revisionistischen Täuferforschung kann neben den von H.-J. Goertz herausgegebenen Aufsatzband „Umstrittenes Täufertum" (s. o.) seine komparative Arbeit zur gesamten Täuferbewe-

53

Vgl. Seebaß, Müntzers Erbe (s. o.); G. Goldbach, Hans Denck und Thomas Müntzer - ein Vergleich ihrer wesentlichen theologischen Auffassungen. Eine Untersuchung zur Morphologie der Randströmung der Reformation, Diss. Theol., Hamburg 1969; Stayer / Packull / Deppermann, Monogenesis, 104. 54 Vgl. Stayer / Packull / Deppermann, Monogenesis, 111. 55 Vgl. K. Deppermann, Melchior Hoffmann, Göttingen 1979; R. v. Dülmen, Reformation als Revolution. Soziale Bewegung und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation, München 1977. 56 Goertz, Täufer, 144.

1.3 Revisionistisch-sozialgeschichtliche Täuferforschung

29

gung bezeichnet werden. 57 Goertz selbst sieht in ihr eine Art „sozialgeschichtlicher Zwischenbilanz der revisionistischen Täuferforschung". 58 Ausgehend von den Ergebnissen der sozialgeschichtlichen Forschung analysiert Goertz zunächst die Variationsbreite täuferischer Gruppierungen, deren Morphologie sich aus den unterschiedlichen Entstehungsgebieten, kirchenpolitischen Situationen und gesellschaftlichen Kontexten ergibt. Vergleichbar mit einer theologischen Abhandlung werden danach anhand von dogmatischen „Loci" die divergierenden täuferischen Lehrbildungen dargestellt. Ob diese Untersuchung, die den revisionistischen Forschungsstand reflektiert, das theologische Proprium des Täufertums hinreichend erfaßt hat, soll die vorliegende Studie zeigen. Die elementare „Trendwende" innerhalb der Täuferforschung, die durch die stärkere Einflußnahme sozialhistorischer Methoden und Deutungsmuster hervorgebracht wurde, ist den Protagonisten dieses Ansatzes durchaus bewußt. In einem Aufsatz zum historiographischen Paradigmenwechsel innerhalb der Reformationsgeschichte und damit auch in der Täuferforschung zieht Packull eine scharfe Grenzlinie zur vorangegangenen Forschung.59 „Anabaptist studies have shifted from a preoccupation with prescriptive ideals, or the Anabaptist vision, to a descriptive study of Anabaptism in its historical, social-political setting."60 Die gesamte Reformationsgeschichtsschreibung gerät in seinen Ausführungen unter das Verdikt einer idealistischen Interpretation und konfessionellen Apologetik im Sinne einer ahistorischen Selbstvergewisserung der Kirchen. Sein „feuilletonistischer" Forschungsrückblick stellt ein Generalurteil über den idealistischen, konfessionellen und religiösen Zugang zur Geschichte dar, den er überraschenderweise selbst bei Max Webei 61 , dem „Vater" der Sozialgeschichte, entdeckt.62 Über seine persönliche erkenntnistheoretische Grundlage erfährt man jedoch sehr wenig. Packull möchte nur - wie das einfache Kind im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern - nach der „nackten Wahrheit" fragen. Dieser „naiven" Wahrheitssuche ist eine gewisse Nähe zum Positivismus nicht fern. Packulls Enthaltsamkeit gegenüber kritischer Reflexion der eigenen Erkenntnistheorie entspricht den meisten sogenannten revisionistischen Untersuchungen, die sich vor allem durch die polemische Destruktion der „normativen", theologisch-orientierten Sicht auszeichnen. Der Ideologievorwurf gegen die theologische bzw. ideengeschichtliche Geschichtsschreibung wird vollmundig erhoben, ohne daß die ideologischen Prämissen des eigenen Forschungsansatzes deutlich formuliert oder bewertet werden. So zitiert Packull das „martialische" 57

Die erste Auflage seines Buches über die Täufer erschien 1980 in München. Im folgenden wird nach der zweiten Auflage zitiert. 58 Goertz, Bewegungen, 86. 59 Vgl. W. O. Packull , Between Paradigms: Anabaptist Studies at the Crossroads, in: The Conrad Grebel Review 8,1990,1-22. 60 Packull , Paradigms, 1. « Vgl. ebd., 5. « Vgl. ebd., 2 ff.

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1 Der Stand der Täuferforschung

Urteil Bradys, wonach die normative Sicht des Täufertums durch die Forschung der 70-80er Jahre zu Staub pulverisiert worden sei.63 Den heuristischen Wechsel innerhalb der Historiographie setzt er jedoch als bekannt voraus und resümiert lediglich, daß die Mehrzahl der aktiven Forscher darin zu einem Konsens gefunden habe. Als ebenso gängigen Forschungsstand bezeichnet er die Einordnung des Täufertums in Blickles Konzeption der „Gemeindereformation". 64 Die Täufer waren demnach zunächst ein integraler Bestandteil der bäuerlichen Reform „von unten", die sich auf die Durchsetzung kommunaler Selbstverwaltung konzentrierte. Goertz' Interpretation, wonach die täuferische Bewegung nach 1525 als religiöse Metamorphose des bäuerlichen Reformprogramms zu verstehen sei, akzeptiert Packull mit Einschränkung. In seinem Fazit stellt er befriedigt fest, daß ein Wechsel von einer rein religiösen, ideengeschichtlichen Geschichtsdeutung zur kontextuellen Sozialgeschichte stattgefunden habe.65 Diese Revision bringt s. E. die Revaluierung der historischen Bedeutung des Täufertums hervor. Die „heroische" Phase der Täuferforschung sei durch die „akademische" abgelöst worden. Auffallend ist, daß Packull auf einen weitreichenden Forschungskonsens verweisen kann. Die neueren Veröffentlichungen geben seiner These Recht. Die sozialgeschichtliche Deutung und Beschreibung des Täufertums ist zur beherrschenden Forschungsrichtung geworden. Das geringe Interesse der soziohistorischen Täuferforschung an der Darlegung ihres eigenen erkenntnistheoretischen Paradigmas erschwerte jedoch lange Zeit eine offene Auseinandersetzung. Dies hat sich erst durch neuere Veröffentlichungen in den letzen Jahren verändert. 66 Unter dem Stichwort „Reformation als soziale Bewegung" legten Forscher sozialhistorischer Provenienz ihre Interpretations- und Deutungsmuster vor allem für die Frühphase der Reformationszeit, speziell bezogen auf die Bauernaufstände, dar. 67 Interpretationskategorien für die Vielschichtigkeit reformatorischer Aufbrüche werden in neueren Veröffentlichungen kritisch hinterfragt und ausgewertet. In diesem Zusammenhang wird auch die Tragweite von Blickles Konzeption zur Gemeindereformation erstmalig kritisch rezipiert. 68 Durch die Profilierung der Reformation als „soziale Bewegung" versucht man die Interdependenz von Motivation und Aktion, reformatorischer Predigt und ihrer Träger63

Vgl. ebd., 12. Vgl. Punkt 3 dieser Untersuchung. 65 Vgl. Packull, Paradigms, 20. 66 Vgl. H.-J. Goertz, Umgang mit der Geschichte: Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Hamburg 1995; ders., Eine „bewegte" Epoche. Zur Heterogenität reformatorischer Bewegungen, in: G. Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Weimar 1994,23-56. Vgl. Punkt 8.2.3 dieser Untersuchung. 67 Vgl. R. W. Scribner, The Reformation as a Social Movement, in: Ders., Popular Culture and Popular Movements in Reformation Germany, London 1987; vgl. Goertz, Epoche, 33 ff. 68 Vgl. Goertz , Epoche, 30 f. 64

1.4 Marxistische Täuferforschung

31

schaft stärker als bisher in den Blick zu nehmen. Selbst der Übergang zur Institutionalisierung gewinnt in neueren Untersuchungen an Gewicht. Da diese Phase sozialgeschichtlicher Historiographie noch keine greifbaren Resultate in der Täuferforschung zeigt, ist die vorliegende Untersuchung vor allen an der Auseinandersetzung mit den von Blickles Konzeption der „Gemeindereformation" geprägten Erträgen beschäftigt. Es bleibt dennoch zu fragen, ob nunmehr tatsächlich eine „akademische" Phase der Forschung begonnen hat, oder nicht doch ein zunächst weniger theoriebewußter, positivistischer Ansatz fortgesetzt wird. Die neueren Erkenntnisse in der Religionssoziologie zum Stellenwert des „religiösen Faktors", die von der neueren Täuferforschung bisher nur ungenügend zur Kenntnis genommen wurde, könnte den wissenschaftlichen Diskurs zur historiographischen Methodologie entscheidend beleben (s. u.). Auf eine ausführliche und detaillierte Beschreibung der sozialgeschichtlichen Forschung wurde in diesem Forschungsüberblick verzichtet, da dieser Ansatz ohne Zweifel der „Hauptgesprächspartner" für die gesamte Untersuchung ist. Alle Konklusionen werden im Dialog mit den Ergebnissen der bereits erbrachten sozialgeschichtlichen Forschung verifiziert werden müssen.

1.4 Marxistische Täuferforschung Bevor der forschungsgeschichtliche Wandel im Täuferbild unter methodischem Aspekt eingehend untersucht wird, soll kurz die marxistische Interpretation dargestellt werden. Dabei ergibt sich die Frage, inwiefern die marxistische Historiographie für die Forschungssituation nach dem Scheitern der kommunistischen Systeme in Osteuropa überhaupt noch relevant ist. Die Untersuchung verzichtet nicht auf die Analyse des marxistischen Ansatzes, da er zum einen wichtige direkte sowie indirekte Impulse für die sozialgeschichtliche Forschung hervorbrachte. Zum anderen wurde die normative Täuferforschung über die Arbeiten von G. Brendler und G. Zschäbitz zum ersten Mal mit einer radikalen Kritik konfrontiert. 69 Darüber hinaus ist für den Methodenstreit in der Historiographie besonders relevant, daß die marxistische Forschung, analog zum kirchenhistorischen Ansatz, ihre ideologischen Prämissen offen darlegt. Der historische Materialismus bildet dezidiert den Bezugsrahmen sowie die Kategorien zur historischen Deutung des Täufertums. Die Geschlossenheit 69

Vgl. G. Zschäbitz y Zur mitteldeutschen Wiedertäuferbewegung nach dem großen Bauernkrieg, Berlin 1958; G. Brendler, Das Täuferreich zu Münster 1534/35, Berlin 1966; Deppermann, Melchior Hoffmann, 11 (Anm. 13a). Deppermann hält die Arbeiten von Zschäbitz und Brendler für die bedeutendsten marxistischen Beiträge zur Täuferforschung; R. Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982,164. Wohlfeil vertritt darin die Ansicht, daß außer den bereits erwähnten keine weiteren marxistischen Studien zur Täuferforschung von Belang vorlägen.

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1 Der Stand der Täuferforschung

der marxistischen Konzeption ermöglicht einen - so paradox es klingt - fruchtbaren Diskurs mit ihren Ergebnissen, da ihr ideologischer Rahmen erkennbar sowie rational nachvollziehbar und insofern prinzipiell falsifizierbar ist. Mit scharfer Polemik begegnet G. Zschäbitz in seinen Veröffentlichungen zur mitteldeutschen Täuferbewegung, die hier als Beispiel herangezogen werden sollen, der „konfessionellen" Kirchengeschichtsschreibung, vornehmlich mennonitischer Provenienz. 70 Sie favorisiere aus dogmatischen Gründen die gemäßigte Täuferbewegung aus der alle radikalen, Sozialrevolutionären Tendenzen eliminiert würden. Nach einer Analyse der normativen Sicht resümiert Zschäbitz: „Das heißt nichts anderes, als die große Breite und Fülle der religiösen und sozialen Opponenten gegen Wittenberg und Zürich zugunsten einer Sektendoktrin zurechtzustutzen, um unliebsame historische Vorgänge und Persönlichkeiten abzuweisen."71 Aus Gründen konfessioneller Apologetik „überwuchere" die theologische Interpretation die Geschichtsschreibung zur Täuferbewegung. 72 In seine negative Wertung bezieht er sowohl die interessengeleiteten Typologisierungsversuche als auch das Postulat einer Prävalenz des schweizerischen Ursprungs ein. Die Ansatzpunkte seiner Kritik an der normativen Sicht des Täufertums wurden von der sozialgeschichtlichen Forschung aufgenommen und durch neuere Ergebnisse bestätigt, ohne daß deren ideologischer Rahmen unmittelbar rezipiert wurde. Zschäbitz, Brendler u. a. integrieren die Täuferbewegung in die Tliese der deutschen frühbürgerlichen Revolution, die die Übergangsepoche von der Gesellschaftsformation „Feudalismus" zum „Kapitalismus" und damit die Epoche der bürgerlichen Revolutionen einleitete.73

1.4.1 Die Reformation in der marxistischen Historiographie Die Einschätzung der Reformation als frühbürgerliche Revolution geht auf die „Klassiker" des Marxismus, vornehmlich auf die Schrift F. Engels zum deutschen Bauernkrieg zurück. 74 Der innere Zusammenhang von Reformation und Bauernkrieg sind im Rahmen seiner Analyse konstitutiv. Die Refor70

Vgl. Zschäbitz, Wiedertäuferbewegung, 13 f. Zschäbitz bezeichnet Kirchenhistoriker als christliche „Front" gegenüber der „siegreichen wissenschaftlichen Weltanschauung des Proletariats [...]". 71 Zschäbitz, Wiedertäuferbewegung, 15. 72 Vgl. G. Zschäbitz, Die Stellung der Täuferbewegung im Spannungsbogen der deutschen frühbürgerlichen Revolution, in: M. Steinmetz (Hg.), Die frühbürgerliche Revolution in Deutschland, Berlin 1985,52. 73 Vgl. Wohlfeil, 174 f.; T. Nipperdey, Die Reformation als Problem der marxistischen Geschichtswissenschaft, in: R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution, München 1972,221; Goertz, Täufer, 138 ff. 74 Vgl. R. Wohlfeil, Einleitung: Reformation oder frühbürgerliche Revolution, in: ders.(Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution, München 1972,8 ff.

1.4 Marxistische Täuferforschung

33

mation erscheint in dieser vom historischen Materialismus geprägten Darstellung nicht als kirchliche, theologisch motivierte Erneuerung, sondern als „sozioökonomisch bedingte Massenbewegung" 75 , wobei der Bauernkrieg zum Schlüsselereignis avancierte. In der marxistischen Forschung wurden die Ergebnisse Engels bis in die Gegenwart hinein übernommen und fortgeschrieben. 76 Ausgehend von einer gesamtgesellschaftlichen Krise zu Beginn des 16. Jahrhunderts ereignete sich demnach die Begegnung von bürgerlichreformatorischer Opposition und bäuerlich-antifeudaler Massenbewegung. Kurzgefaßt beruht die These der frühen bürgerlichen Revolution auf der Synthese von ökonomischer Krise, Reformation und Bauernkrieg. 77 Die Ursache der gesellschaftlichen Krise lag nach dem Urteil marxistischer Historiker in den spannungsreichen ökonomischen Verhältnissen des frühen 16. Jahrhunderts, in denen die alte feudalistische Produktionsweise durch die neue bürgerlich-kapitalistische abgelöst wurde. Eine postulierte Krise der Gesellschaft ist in der marxistischen Geschichtstheorie konstitutiv für alle geschichtlichen Prozesse und Bewegungen sowie auch für alle „politischen, geistigen, kirchlichen Phänomene." 78 Die Reformation wird in direktem Kausalzusammenhang mit den sozioökonomischen Veränderungen begriffen, wobei sogar von einer historischen „Notwendigkeit" der Reformation als antifeudaler Bewegung, die vom Bürgertum getragen worden sei, gesprochen werden kann. „Die letzten und tiefsten Ursachen der Reformation sind zu suchen in der Herausbildung kapitalistischer Produktions- und Austauschbedingungen, in einer neuen, das feudale Gefüge sprengenden Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in Ansätzen zur Herausbildung eines inneren Marktes und einer bürgerlichen Nation, zugleich aber auch in dem Streben der unterdrückten und ausgebeuteten Schichten nach sozialer Emanzipation."79

Für die Forschungsgeschichte ist der prägnante Wechsel in der Einschätzung der Reformation von einer religiösen zu einer Sozialrevolutionären Bewegung von bleibender Bedeutung. Der ideologische bzw. theologische Aspekt der Reformation mutiert zur Tarnung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen des sich emanzipierenden Bürgertums. Die vorgestellte Konzeption der frühbürgerlichen Revolution hat in der internen marxistischen Diskussion aufgrund kontroverser Forschungsergebnisse vielfältige Korrekturen und Präzisierungen erfahren, die hier nicht näher erläutert werden sollen. Entscheidend für den Fortgang der historiographischen Debatte ist, daß für die marxistische Forschung religiöse Lehrbildungen als Produkt und Ausdruck sozial-ökonomischer Wandlungen begriffen werden. Dies setzt

75

Wohlfeil, Einleitung 12. Vgl. ebd., 14. 77 Vgl. Nipperdey, Reformation, 215. ™ Ebd., 210. 79 Max Steinmetz, zit. nach: Wohlfeil, Einleitung, 15. 76

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1 Der Stand der Täuferforschung

eine Dependenz religiöser Phänomene von ökonomischen Strukturveränderungen voraus. D i e Folgen der sozialökonomischen Prozesse, die - bezogen auf die Ausbildung von Kultur, Politik und Religion - als wirkmächtigste Faktoren in der Geschichte gelten, faßte bereits M a r x in der Konzeption von „Basis" und „Überbau" zusammen: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt."80 Dabei wird von marxistischen Forschern zwar Kritik an einem primitiven Ökonomismus geübt 8 1 , denn die Produktionsverhältnisse brächten den Überbau nicht hervor. Andererseits ist festzuhalten, daß an „die Stelle der Korrelation zwischen politischen und religiösen Phänomenen einerseits, sozialen Phänomenen andererseits [...] ,in letzter Instanz 4 die Reduktion aller komplexen Phänomene auf die sozial-ökonomische Wirklichkeit" 8 2 tritt. I n diesem vom sozialökonomischen Faktor dominierten Ansatz gerät die „Autonomie des Religiösen" zur „Fiktion". 8 3 I n logischer Konsequenz wurde die Theologie Luthers als Ausdruck bourgeoiser Interessen aufgefaßt. 84 „Luther entwickelte im Grunde eine Theologie, die auf die Bedürfnisse des zeitgenössischen Besitzbürgertums zugeschnitten war und mit ihrem gesellschaftlichen Inhalt die Volksmasse zu beflügeln verstand [...] Luthers Bindung des Menschen an Gottes Liebe durch den Glauben war theologischer Ausdruck des politischen und ökonomischen Ringens des Bürgertums und der Volksmassen um die ,wohlfeile Kirche'." 85 D i e von der marxistischen Forschung postulierte Bedingtheit aller Phänomene, auch des religiösen Elements, bleibt eine Herausforderung für die Kirchenhistorik. 86

80 Karl Marx, zit. nach: M. Rhein, Geschichte und Geschichtswissenschaft in der methodologischen Diskussion der Gegenwart, Diss. Frankfurt a. M. 1983, 155; vgl. dazu Nipperdey, Reformation, 211. 81

Vgl. Zschäbitz y Wiedertäuferbewegung, 320; Nipperdey, Reformation, 224 f. Nipperdey, Reformation, 225. 83 G. Brendler, zit. nach: Nipperdey, Reformation, 229 (Anm. 16). 84 Vgl. Wohlfeily Einleitung, 22; Nipperdeyy Reformation, 214. 85 G. Zschäbitz y Über den Charakter und die historischen Aufgaben von Reformation und Bauernkrieg, in: R. Wohlfeil (Hg.), Reformation oder frühbürgerliche Revolution, München 1972,133. 86 Vgl. dazu Κ. V Selge, Einführung in das Studium der Kirchengeschichte, Darmstadt 1982, 150: „Es ist eben nicht alles damit gesagt, daß ,alles geschichtlich4, ,alles gesellschaftlich bedingt4 sei. Dieser theologische Vorbehalt trifft nicht nur den Totalitätsanspruch etwa der marxistischen Geschichtsforschung, die von der Prämisse ausgeht, die materielle Lebensproduktion sei die »Basis*, die den gesamten Geschichtsprozeß letztlich bedinge, die geistigen, politischen, rechtlichen, religiösen und künstlerischen Erscheinungen seien nur in Abhängigkeit von dieser Basis richtig und wesensgemäß zu verstehen." 82

1.4 Marxistische Täuferforschung

35

1.4.2 Das Täufertum im Rahmen derfrühbürgerlichen Revolution Für Zschäbitz stand das mitteldeutsche Täufertum, das er als eigenständige Wurzel der Täuferbewegung ansieht, im direkten Zusammenhang mit der Theologie und Wirkung Thomas Müntzers sowie mit den revolutionären Bauernerhebungen. 87 Nach dem Scheitern des Bauernkrieges fand s. E. das Täufertum für kurze Zeit Akzeptanz in den unteren Bevölkerungsschichten. „Das frühe Täufertum wurde zum Sammelbecken der vielgestaltigen, oppositionellen, radikalen und revolutionären Antworten auf die gescheiterte Revolution, die ineinanderflossen und um endgültige Gestaltung rangen." 88

In der Täuferbewegung konzentrierte sich nach Zschäbitz die geschlagene, antifeudale Opposition. Für ihn war der Sozialrevolutionäre Charakter des mitteldeutschen Täufertums in Kontinuität zu den Idealen des Bauernkrieges eindeutig aus den Quellen zu erheben. Sowohl der von den Täufern proklamierte Pazifismus als auch ihr chiliastisches Gedankengut interpretiert Zschäbitz im Kontext revolutionärer Tendenzen als latente Obrigkeitsfeindlichkeit. Das Täufertum als sukzessiv sozial-politische Opposition sei ein Echo auf den Höhepunkt der frühbürgerlichen Revolution, den Bauernkrieg, gewesen. Der Niedergang des Täuferreichs zu Münster 1535/36 setzte nicht nur der frühbürgerlichen Revolution ein Ende, sondern leitete zugleich die Entwicklung der Täufer zur Sekte ein. Das Täufertum verlor seine Massenbasis und habe sich auf den Weg in die Separation als Sekte am Rande der Gesellschaft begeben. Die Endformen der Täuferbewegung im Mennonitenund Hussitentum wurden von Zschäbitz nur noch als Degeneration des ursprünglichen Täufertums verstanden. 89 „Unter dem Einfluß Menno Simons und anderer Prediger wandelte sich das Täufertum zur echten Sekte, wurde reaktionär, verlor seine gesellschaftliche Sprengkraft und ordnete sich in der Folgezeit Zug um Zug dem staatlichen Kommando unter. Es blieben rituelle Traditionen erhalten, deren ursprüngliche situationsbedingte Bedeutung als Ausfluß revolutionären Strebens von den Anhängern nicht mehr verstanden wurde." 90

A n dieser Stelle wird deutlich, wie diametral entgegengesetzt die Bewertung der Täuferbewegung zwischen der marxistischen Forschung und der konfessionellen Kirchengeschichtsschreibung ist. Der dogmatischen Verengung durch die normative Forschung tritt eine sozioökonomische Reduktion marxistischer Provenienz an die Seite. G. Brendler kommt in seiner Untersuchung zum Täuferreich in Münster zu ähnlichen Ergebnissen wie Zschäbitz. 91 87 88 89 90 91

Vgl. Zschäbitz, Wiedertäuferbewegung, 23 f.; Goertz, Täufer, 139 f. Zschäbitz, Stellung, 59. Vgl. ders. y Wiedertäuferbewegung, 169; ders., Stellung, 60. Zschäbitz, Stellung, 60. Vgl. G. Brendler, Das Täuferreich zu Münster 1534/35, Berlin 1966.

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1 Der Stand der Täuferforschung

Auch für ihn repräsentieren die Münsteraner Täufer das letzte Aufflammen der frühbürgerlichen Revolution, die von den unteren Schichten der Gesellschaft getragen wurde. Prägnant bezeichnet er das Täufertum als „die Resignations- und Trotzgestalt" 92 der frühbürgerlichen Revolution. Unbestreitbar bleibt es ein Verdienst der marxistischen Forschung, den polygenetischen Ursprung des Täufertums zur Sprache gebracht zu haben. Die Interdependenz von Bauernkrieg, der Theologie Müntzers und der Lehrbildung der frühen Täufer, die überzeugend aufgezeigt wurde, erwiesen sich als ertragreiche Impulse für die weitere Forschungsarbeit. Nicht zuletzt sind die berechtigten Anliegen, die Täuferbewegung in Korrelation zu ihren konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen zu erfassen und die Annahme prozessualer Entwicklungen in Reaktion auf die sich verändernden gesellschaftlichen Konstellationen zu unverzichtbaren Bestandteilen der Täuferforschung geworden, die viele sozialgeschichtliche orientierte Historiker rezipiert haben.

1.5 Psychohistorie im Bereich der Täuferforschung In seiner pathographischen Studie über Conrad Grebel und die Vorgeschichte des Täufertums in der Schweiz skizziert P. I. Kaufman den derzeitigen Stand der Täuferforschung. 93 Kritisch beurteilt er sowohl die normative als auch die sozialgeschichtlich-revisionistische Forschung. Bei beiden Ansätzen sieht er die Gefahr der Reduktion auf einen Interpretationsfaktor, der die gesamte Deutung des Täufertums dominiere. Zur sozialgeschichtlichen Forschung hält er im Blick auf seinen eigenen Ansatz fest: „The greater problem with contextualist revision is that individuals along with individual choices tend to get lost in the crowds, masses, and currents that social historians have either discovered or invented."94

Kaufman plädiert dafür, den Dissens der frühen Täufer nicht nur in sozioökonomischen Kategorien zu begreifen, sondern die individuelle Entwicklung und charakteristische Prägung der einzelnen Täuferführer zu analysieren, um so ein komplexeres Bild des täuferischen Radikalismus zu erhalten. Grebels kindlicher Trotz („filial defiance") gegenüber seinem Vater und seine Projektion auf andere Vaterfiguren wird als wichtiges Moment für die Trennung der radikalen Täufer von Zwingli gedeutet. 95 „ I n 1523, if not before, Grebel's family fends and filial defiance became influential parts of the Swiss reformation's history." 96 « Ebd., 75. Vgl. P. /. Kaufman , Socialhistory, Psychohistory and the Prehistory of Swiss Anabaptism, in: JR 68,1988,527-544. 94 Ebd., 532. 9 * Vgl. ebd., 539. 96 Ebd., 544. 93

1.5 Psychohistorie im Bereich der Täuferforschung

37

Ohne Zweifel gehört Kaufmans Untersuchung damit in den Bereich einer neueren Forschungsrichtung, der sogenannten „Psychohistorie", die eine Synthese von Psychoanalyse und Geschichtsschreibung anstrebt. 97 Ähnlich wie in der sozialgeschichtlichen Forschung Methoden und Ergebnisse der Soziologie in die Geschichtsschreibung integriert werden, sollen in diesem Ansatz Kategorien der Psychoanalyse zur Revision der Historik beitragen. Durchaus selbstbewußt schätzen Psychohistoriker die Relevanz ihrer Schulrichtung ein: „I believe psychohistory to be the most powerful of interpretive approaches to history because (1) it is the only model of research that includes in its method the countertransference phenomenon - the emotional and subjective sensibility of the observe and (2) it enriches the historical account of political, social, and cultural-intellectual events with a perception of latent or unconscious themes, of style, contact, and conflict, that integrate apparently discordent data from a specific historical locus."98

Loewenberg nennt in obigem Zitat zwei relevante Charakteristika der Psychohistorie, wobei die kritische Selbstreflexion des Historikers, dem an anderer Stelle sogar eine „Selbstanalyse" empfohlen wird, zur sachgemäßen Erfassung der Standortbindung in der Geschichtsschreibung m. E. positiv beitragen könnte. Zum anderen konzentriert sich das Interesse der Psychohistorie auf die Funktion des Unterbewußten im menschlichen Verhalten, das sich in Aktionen, Lebensstilen, Kreativität aber auch in Neurosen und Charakterformungen zeige. Diese Schulrichtung vertritt einen genetischen Ansatz, bei dem Kindheitserfahrungen und Familienstrukturen besonders relevant sind, denn „the present reality interacts at all the times with and is related to the personal and social role of the personal and social past of the person in the unconscious." 99 Psychohistoriker suchen nach Spuren des Unterbewußten, nach psychologischen Mustern sowie nach emotionalen Triebkräften wie Aggression und Sexualität, die sich in den historischen Zeugnissen niederschlagen. Diese seit den 60-70er Jahren sich vorwiegend im angloamerikanischen Raum entwickelnde Forschungsrichtung 100 führt die reziproke Beziehung von Geschichtsschreibung und Psychoanalyse auf S. Freud zurück. 101 „Dem Eklektiker Freud bot die Geschichte des Christentums und seiner Kirchen, v. a. die des Katholizismus, eine Fundgrube an empirischen Materialien für seine psychoanalytischen Theorien, wenngleich christliche Glaubensvorstellungen ihn lange nicht in dem Maß faszinierten wie die ägyptische Mythologie." 102

97

Vgl. Ρ Loewenberg, Decoding the Past. The Psychohistorical Approach, New York 1983,3 f. 98 Ebd., 3. 99 Ebd., 15. 100 Vgl. ebd., 17 f. ιοί Vgl ebd., 19; H. Röckelein, Psychohistorie(n) zur Religions- und Kirchengeschichte, in: K Z G 7,1994,11 ff. 102

Röckelein, Psychohistorie, 11.

38

1 Der Stand der Täuferforschung

Heutige Forscher kritisieren die Dominanz biologischer Determiniertheit in den Interpretationen Freuds und seiner Epigonen, wodurch dem kulturellen Hintergrund und historischen Wandlungsprozessen zu wenig Gewicht beigemessen werde. 103 Kritisch wird ebenfalls die Kategorisierung von Verhaltensweisen als „krank" und „gesund" hinterfragt, die als quasi zeitlose Beurteilungsmaßstäbe für historische Kontexte übernommen werden. Eine erste, in weiten Kreisen der Kirchengeschichtsschreibung und der Allgemeinhistorie bekanntgewordene, psychohistorische Arbeit war E. Eriksons Studie über den jungen Luther. 1 0 4 In dieser psychohistorischen Pionierarbeit 1 0 5 deutet Erikson Luthers Bruch mit Rom als Ausdruck einer jugendlichen Identitätskrise. Das daraus resultierende neue „Lutherbild", das sich aus einer psychohistorischen Analyse seiner Theologie, seiner Schriften und Verhaltensweisen ergab, löste heftige Kontroversen aus. Eriksons „ego-psychological" Ansatz fand viele Anhänger, die seine Methodik auf andere historische Persönlichkeiten anwandten. Loewenberg kann eine stattliche Zahl psychohistorischer Arbeiten, vornehmlich biographische Skizzen, aufführen. 1 0 6 Biographien dominieren auch gegenwärtig die Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Psychohistorie. 107 Heute bietet das relativ neue Feld der Psychohistorie aufgrund der unterschiedlichen psychologischen und psychoanalytischen Schulen, aus denen die jeweiligen Forscher kommen, ein diffuses und heterogenes Spektrum. 108 Die Übertragung psychoanalytischer Methoden auf den Bereich der Historik wird sowohl von traditionell ideengeschichtlich orientierten Forschern als auch von Sozialhistorikern mit Skepsis betrachtet. Die Sozialgeschichte kritisiert den im Methodischen angelegten Reduktionismus auf die Individualität des historischen Subjekts, während von der ideengeschichtlichen Forschung die Konzentration auf Strömungen des Unterbewußten zuungunsten der bewußten Motivationen und Handlungen moniert wird. 1 0 9 Selbst innerhalb der neuen Forschungsrichtung ist die angemessene Integration psychoanalytischer Methoden strittig, wobei sich der Pluralismus der psychoanalytischen Schulrichtungen zusätzlich erschwerend auswirkt. 110 Diese interne Diskussi103 Vgl. ebd., 14. 104

Vgl. E. Erickson, Der junge Mann Luther, Hamburg 1970; zur Diskussion vgl. R. A. Johnson (Hg.), Psychohistory and Religion: The Case of Young Man Luther, Philadelphia 1977; H. Bornkamm, Luther und sein Vater. Bemerkungen zu Erik Erikson, Young Man Luther, ZThK 66,1969,38-61; Röckelein, Psychohistorie, 16. 105 T. A. Kohut, Psychohistory as History, in: American Historical Review 91, No. 2, 1986,338; Loewenberg, Decoding the Past, 25 f. 106 Vgl. Loewenberg, Decoding the Past, 25 f., 31 f. 107 Vgl. Röckelein, Psychohistorie, 23. io» Vgl. ebd., 14. 109 Vgl. Kohut, Psychohistory, 336 f. no Vgl. ebd., 337; Kaufman , Socialhistory, 539 f.

1.5 Psychohistorie im Bereich der Täuferforschung

39

on kann jedoch auch zur sachgemäßen Differenzierung des psychohistorischen Ansatzes beitragen. Während Loewenberg von einer neuen historischen Subdisziplin spricht, die von sogenannten „hybrid scholars", die in beiden Disziplinen qualifiziert sein müssen, getragen wird, hält Kohut, selbst Historiker und Psychologe, die Übertragung psychoanalytischer Methoden auf die Geschichtsschreibung für schwierig, wenn nicht gar für unmöglich.111 Kohut wirft den s. E. inflationär erscheinenden Untersuchungen Oberflächlichkeit vor, da sie den historischen Ansatz unreflektiert durch die Anwendung psychoanalytischer Methoden ersetzten. Er kritisiert, daß dadurch psychoanalytische Ergebnisse als zeitlose, allgemeingültige Gesetze auf die Geschichte übertragen werden, ohne den jeweiligen historischen Kontext zu beachten. Beispielhaft verdeutlicht er dieses „ahistorische" Vorgehen an Eriksons Lutherstudie. Erikson wendet demnach Ergebnisse, die sich aus seinen klinischen Untersuchungen mit Jugendlichen ergaben, direkt auf Luther an. 112 Es wird nicht aus den Quellen nachgewiesen, ob Luther eine Lebenskrise zu bewältigen hatte, vielmehr geht Erikson, aufgrund seiner therapeutischen Feststellung, a priori bereits von einer Identitätskrise Luthers aus. Bei der historischen Beweisführung benutzt er selbst dubiose und in ihrem historischen Wert umstrittene Quellen. Kohut stellt darüber hinaus fest: „More important, Young Man Luther is a vehicle that Erikson used to popularize his view on identity and on the crisis on identity that often accompanies the transition from adolescence to adulthood."113

Die divergierenden Analysen gegenwärtiger Psychohistorie zu einem ihrer „Lieblingsstudiensobjekte", dem Reformator Martin Luther, illustrieren die problematische Seite psychohistorischer Arbeit. 114 Die psychohistorische Forschung steht nach Kohut, der selbst klinischer Psychologe ist, in Gefahr, Ergebnisse gegenwärtiger psychoanalytischer Praxis ohne differenzierten Gebrauch von historischen Zeugnissen und ohne Reflexion des zeitgebundenen Kontextes u. a. zur eigenen Legitimation zu übertragen. Kohut, der die psychische Dimension in der Historiographie für äußerst relevant hält, warnt vor einem gefährlichen Reduktionismus in dieser

111

Vgl. Loewenberg, Decoding the Past, 17; Kohut, Psychohistory, 337; dennoch sind beide Forscher durch die Zeitschrift „The Psychohistory Review" verbunden, vgl. Röckelein, Psychohistorie, 16 f. 112 Vgl. Kohut, Psychohistory, 339. 113 Ebd. 114 Vgl. Röckelein, Psychohistorie, 24: „Die Autoren der Luther-Biographien lassen sich im Hinblick auf ihre Methodik in drei Gruppen unterteilen: diejenigen, die in Luther die ödipale Struktur im Sinne der orthodoxen Psychoanalyse idealtypisch erfüllt sehen, diejenigen, die zur Pathologisierung des Reformators neigen, und diejenigen, die in seinem Lebensweg die Theoreme der Ich-Entwicklung wiederfinden."

40

1 Der Stand der Täuferforschung

Schulrichtung. 115 Für die Kirchengeschichtsschreibung, speziell im Bereich der Reformation, hat sich der Einfluß der Psychohistorie als besonderes methodisches Problem erwiesen. In einer psychohistorischen Untersuchung zu Karlstadt behauptet z. B. U. Bubenheimer, daß die Stimmungsschwankungen des Reformators Karlstadt, die er als depressiv und zugleich aggressiv bezeichnet, direkten Einfluß auf sein Verhalten und seine theologischen Äußerungen hatten. 116 Sein Streit mit Luther erkläre sich nicht aus theologischen Differenzen oder verschiedenen kirchenpolitischen Entscheidungen, sondern sei durch eine „ausagierte Kollegenrivalität" 117 hervorgerufen. Luthers Invokavit-Predigten interpretiert Bubenheimer als Konsequenz einer narzißtischen Kränkung Luthers durch den Rivalen Karlstadt. Der direkte Einfluß psychischer Befindlichkeiten auf die Ausbildung theologischer Lehre wird auch im Bereich der Täuferforschung vertreten. In seiner Studie über das frühe Täufertum in der Schweiz erklärt Kaufman, wie oben bereits ausgeführt, nicht nur die Trennung Grebels von Zwingli mit einem Autoritätskonflikt gegenüber seinem Vater, der zu einer „pathological separation" führte, sondern sieht auch seine Märtyrertheologie im Kontext seiner schwierigen Persönlichkeitsbildung begründet. 118 Obwohl er für eine komplexe Antwort auf die Frage nach der Separation der Schweizer Täufer plädiert, die auch theologische Motivationen und sozioökonomische Faktoren berücksichtigt, sieht er in Grebels „kindlicher Trotzhaltung" ein, wenn nicht das entscheidende Moment der Reformationsgeschichtsschreibung in diesem Bereich. 119 H. Oberman ist zuzustimmen, daß die Geschichtswissenschaft vor der „unausweichlichen Aufgabe" steht, „die Weisheit der psychischen Erfahrung in die historische Wissenschaft kontrollierbar einzubringen." 120 Bedeutung und Grenze des psychohistorischen Ansatzes müssen jedoch m. E. exakt definiert werden. Ein besonderes Problem ergibt sich, wenn für eine Diagnose zureichende Quellen wie Kindheitserinnerungen, Reminiszenzen über die Jugendzeit, das Elternhaus bzw. familiäre Strukturen fehlen. Selbst wenn Erinnerungen an die Kindheit in historischen Zeugnissen auftreten, müssen ihr Aussagewert, die 115

„Even when diagnostic description has been transcended and historical interpretation attempted, the reliance on theory in the psychohistorical approach has often led to explanations that are little, superficial, and unconvincing. An extensive use of psychoanalytic jargon may mask an author's confusion, contradiction, and lack of pychological sophistication, although the reader may be impressed and intimidated" (Kohut, Psychohistory, 341). 116 Vgl. U. Bubenheimer , Gelassenheit und Ablösung. Eine psychohistorische Studie über Andreas Bodenstein von Karlstadt und seinen Konflikt mit Martin Luther, Z K G 92,1981,251. Ebd., 261. 118 Vgl. Kaufman , Socialhistory, 542 f. Vgl. ebd., 544. 120 H. Oberman, zit. nach: Bubenheimer, Gelassenheit, 250.

1.6 Gibt es eine Neuorientierung in der Täuferforschung?

41

zeitliche Distanz, der Einfluß von Nostalgie etc. beachtet werden. Wenn quellenmäßig nachprüfbare Indizien für ein Kindheitstrauma fehlen, kann dieses, sofern die Analyse den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, nicht durch Rückprojektion aus dem Verhalten des erwachsenen Subjektes ermittelt werden. Die Übertragung gegenwärtiger psychologischer Kategorien auf vergangene Epochen erscheint problematisch. „Certainly in the case of human psychology, which is greatly influenced by changing familial and social environments, we cannot assume that people today and people of the past are in all respects the same psychologically.121

Für den Kirchenhistoriker stellt sich ferner die Frage, ob das vorausgesetzte Menschenbild der Psychoanalyse, in dem die Trieb- und Affektschicht zur dominierenden Größe ernannt und dem rationalen Bewußtsein instrumentalisierte Triebgebundenheit unterstellt wird, unreflektiert übernommen werden kann. Auch die funktionale Bedeutung der Gottesvorstellung der Psychoanalyse bedarf m. E. einer kritischen Würdigung, bevor psychohistorische Ergebnisse in die Kirchengeschichtsschreibung integriert werden können. Neben dieser notwendigen theologischen Auseinandersetzung sollte im Bemühen um den psychischen Bereich in der Geschichte jede eindimensionale, auf die psychischen Kräfte reduzierte Deutung vermieden werden. Es wird dem differenzierten Geschehen der Reformation in keiner Weise gerecht, wenn Luthers angeblicher Vaterkomplex als derart entscheidend angesehen wird, „daß die Reformation sich aus einem Akt der Notwehr erkennen lasse, aus Protest gegen gnadenlose Väter, sein sie nun Hans, Papst oder Gott genannt."122 Trotz dieser kritischen Würdigung der Psychohistorie, bildet diese relativ neue Methode ein interessantes Element innerhalb einer multiperspektivisch verstandenen Geschichtsforschung. Mit ihren Beiträgen kann sie auf Methodenmonismus der Sozial- und Ideengeschichte, sowie deren Erstarrung in ideologischen Grabenkämpfen hinweisen.

1.6 Gibt es eine Neuorientierung in der Täuferforschung? In einem bemerkenswerten Überblick über Desiderate der Täuferforschung deutet Goertz an, daß auch das revisionistische Täuferbild nicht der letztgültige hermeneutische Schlüssel zum Verständnis des Täufertums bleiben wird. 123 Er prognostiziert vielmehr eine neue synthetische Betrachtungsweise, die nach der Einheitlichkeit des durch die revisionistische Forschung in verschiedene Bewegungen ausdifferenzierten Täufertums fragt. Ein erster Ansatz für diese Neuorientierung zeigt sich bereits in einem neueren Beitrag 121 122 123

Kohut, Psychohistory, 340. H. A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1981,92. Vgl. Goertz, Bewegungen, 87.

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1 Der Stand der Täuferforschung

A . Snyders und daran anknüpfend in seiner 1995 erschienenen umfassenden Darstellung der Täuferbewegung. 124 Der Autor, der stets bemüht ist, den Forschungskonsens herauszufordern, plädiert für eine theologische Neubesinnung innerhalb der Täuferforschung. Bezüglich seiner Veröffentlichungen, die sich vor allem im Blick auf seine Biographie über Michael Sattler noch völlig im sozialhistorischen Rahmen bewegen, muß dieses plötzliche Eintreten für eine „Renaissance" der theologischen Fragestellung überraschen. So sehr die Neuentdeckung theologischer Fragehorizonte zu begrüßen ist, drängt sich doch der Verdacht auf, daß hier eine Revision um der Revision willen gefordert wird. Bei der durchaus wünschenswerten Frage nach theologischer Kohärenz hinsichtlich übergreifender theologischer Positionen aller täuferischen Bewegungen läßt Snyder dann auch eine sachgemäße Differenzierung vermissen. Die Zeit für eine synthetische Zusammenschau aller Täufergruppen bzw. die Suche nach einer potentiellen theologischen „Mitte" des Täufertums in all seinen Ausprägungen scheint jedoch m. E. noch verfrüht. Vielmehr sind zunächst intensive regionale Studien, die sich kritisch mit den Ergebnissen der revisionistischen Forschung auseinandersetzen, vonnöten, bevor eine gruppenübergreifende Identität der Täuferbewegungen sachgemäß beschrieben werden kann. Unter dieser „bescheideneren", wohl aber sachgemäßeren Perspektive steht auch die vorliegende Untersuchung. Stayer antwortete in einer Rezension auf die neue These Synders und bekennt sich darin erneut zur „Rehistorisierung" der Reformationsgeschichte durch die Forschung der letzten Jahrzehnte, die die Dominanz der theologiegeschichtlich und dogmatisch orientierten Forschung beendete. 125 Letzterer wirft er vor, sie habe sich nur für die Gedanken der Reformation interessiert, aber nicht für die Bedingungs- und Entstehungsgeflechte der Ideen, weshalb sich diese Forschungsrichtung letztlich „von der Geschichte verabschiedet" hätte. Ausdrücklich warnt er im Blick auf Snyders Versuch einer theologischen Synthese vor einer „Intellektualisierung" des Täufertums, die die Täuferforschung von der Reformationsforschung isolieren würde. 126 Das Täufertums als „volkstümlich religiöse Bewegung" entziehe sich einer lediglich theologischen Erklärung. In Anknüpfung an Friedmann geht Stayer davon aus, daß das Täufertum 124 Vgl. A. Snyder , Beyond Polygenesis: Recovering the Unity and Diversity of Anabaptist Theology, in: H. W. Pipkin (Hg.), Essays in Anabaptist Theology, Elkhart, 1994, 1-34. In seiner Darstellung, deren provisorischen Charakter er durchaus erkennt, geht er von der normativen Bedeutung von Hubmaiers Katechismus aus dem Jahr 1527 aus. Eine Folgerung seines typisierenden Versuchs anhand von zwei herausgearbeiteten kontinuierlichen Themen („Letter/Spirit-Continuum"; „inner/outer Continuum") ist, daß alle Täufer glaubten, daß der Heilige Geist in ihnen wirkte und sie zur richtigen Auslegung der Schrift anleitete. Vgl. dazu auch A. Snyder ; Anabaptist History and Theology, Kitchener 1995. 125 Vgl. J. M. Stayer, Arnold Snyder, Beyond Polygenesis: Recovering the Unity and Diversity of Anabaptist Theology, in: MGB 52,1995,151. im Vgl. ebd., 153.

1.6 Gibt es eine Neuorientierung in der Täuferforschung?

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über keine explizite Theologie verfügt oder eine solche generiert habe. 127 Auch Goertz befaßt sich eingehend mit Snyders Einführung in die Geschichte der Täufer. 128 Lobend hält er fest, daß der Autor in dieser ersten englisch sprachigen Synthese die polygenetische Sicht und kontextuelle Perspektive der Revisionisten aufnimmt. Für Snyders überraschenden Neuansatz, nach der theologischen Einheit aller Täuferbewegungen zu fragen, macht Goertz dessen Lehrtätigkeit am durch Mennoniten finanzierten Conrad Grebel College verantwortlich. 129 Die Präsentation des theologischen „Kerns" im sechsten Kapitel seiner Einführung überzeugt Goertz, der Snyder insgesamt ein ungeklärtes Verhältnis zwischen Theologie und Geschichte, historischer Forschung und theologischer Deutung vorwirft, jedoch in keiner Weise. „Was sich am Ende des täuferischen Aufbruchs oder mit dem Beginn einer täuferischen Tradition zeigt, auf die sich alle Täufer verständigen konnten, die stark genug waren, die Zeit der Verfolgung zu überdauern, war doch nicht der Kern, der in Verweigerung, Aufsässigkeit, Bereitschaft zum Bruch mit der politisch-rechtlichen Grundordnung und zum Martyrium sichtbar wurde. Der Übergang von täuferischer Aggression zu Quietismus hat nicht den ursprünglichen Kern bewahrt oder gar sichtbar werden lassen, nein dieser Übergang ist durch und durch historisch." 130

Nach Goertz habe Snyder die historische Forschung theologischem Wunschdenken geopfert. In seinem Beitrag regiere folglich die Theologie die Geschichte und nicht umgekehrt. Obwohl mit dieser Untersuchung für Goertz die Ergebnisse der polygenetischen Sicht, die jede Normativität und Einheit der Täufer als Illusion erwiesen habe, nicht desavouiert würden, hält er die neue Suche nach einer Synthese im Täufertum für forschungsrelevant und weiterführend. Die potentielle Einheit des Täufertums sei jedoch eher in den alltäglichen Lebensvollzügen zu finden als in der Theologie. Diese These führt Goertz in seinem Aufsatz über die „gemeinen" Täufer breiter aus, der seinerseits neue Forschungsperspektiven eröffnet. 131 Ausgehend von neueren Studien über die Kommunikationswege der Täufer und das Milieu der einfachen Täufer und Täuferinnen kommt Goertz zu interessanten 127

In seiner Reaktion auf Snyders Monographie zum Täufertum „Anabaptist History and Theology" (1995) würdigt er jedoch dessen synthetischen Ansatz und äußert sich durchaus anerkennend über die dort enthaltenen Ausführungen zur Theologie der Täufer. Vgl. J. A. Stayer , Review Essay: Anabaptist History and Theology, in: MennQR 70,1996,473-482. 128 Vgl. H.-J. Goertz, C. Arnold Snyder, Anabaptist History and Theology. A n Introduction, in: MGB 56,1999,161-165. 129 Vgl. ebd., 161.

1 30 Ebd., 164. 131 Vgl. H.-J. Goertz, Die „gemeinen" Täufer. Einfache Brüder und selbstbewusste Schwestern, in: M. Erbe (Hg.), Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte, Mannheim 1996,289-303; vgl. auch A. Snyder , Biblical Text and Social Context: Anabaptist Anticlericalism in Reformation Zurich, in: MennQR 65,1991, No 2,169-191; Orality, Literacy, and the Study of Anabaptism, in: MennQR 65,1991,371-392.

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1 Der Stand der Täuferforschung

Folgerungen für die weitere Forschung. Er setzt dem Bild der Täufer, das vornehmlich aus den Schriften ihrer Protagonisten entstand, die Lebenswirklichkeit und Umsetzung der täufrischen Lehre durch ihre einfachen Gefolgsleute entgegen. Die bisher aus den Schriften extrapolierte Theologie der Täufer entsprach demnach nur dem Reflexionsniveau einer geistlichen Elite, nicht aber den Massen von Anhängern der täuferischen Bewegungen. 132 Statistiken, die Goertz heranzieht, legen die Vermutung nahe, daß die Täuferbewegung vorwiegend im handwerklichen und bäuerlichen Raum Fuß faßte. In der Mehrheit waren die Täufer wahrscheinlich Analphabeten und somit auf die mündliche Kommunikation reformatorischer Inhalte angewiesen. Daraus folgert Goertz, daß die Geschichte der Täufer noch einmal aus dem Blickwinkel der einfachen Täufer geschrieben werden müßte. In einer ersten Reflexion dieser These kommt er auch auf die Bedeutung täuferischer Religiosität zu sprechen, die seinen sonstigen eher reduktionistischen Themenkatalog von Antiklerikalismus und kommunaler Emanzipation um die religiöse Dimension entscheidend erweitert. „Die täuferische Religiosität befriedigte also nicht nur das Bedürfnis nach Abgrenzung und Solidarität, sie leuchtete den Menschen in ihrem Alltag unmittelbar ein. Sie erweckte schon bei ihrer ersten flüchtigen Begegnung das Gefühl, hier werde die eigene Sache zur Sprache gebracht und hier könne man sich denjenigen anvertrauen, die einen geraden Weg zum Heil wiesen und ihn bereits auf vorbildliche Weise beschritten." 133

Goertz geht sogar soweit die Differenzierungen der polygenetischen Sicht des Täufertums, aus der Perspektive der einfachen Täufer zu hinterfragen, wobei er seine eigene Monographie zur den Täufern von der Kritik nicht ausnimmt. 1 3 4 Allerdings relativiert er diese Einsicht sofort wieder. „Das Problem der Heterogenität und Homogenität im Täufertum ist verwickelt. Betrachtet man das Täufertum aus der Perspektive seiner Wortführer, stellt es sich in einem heterogenen Bewegungsreichtum dar. Betrachtet man es aus der Perspektive der,einfachen' Täufer, treten die Differenzierungen in den Hintergrund, und ein homogeneres Erscheinungsbild drängt sich in den Vordergrund. Nicht zu übersehen ist, dass diese Homogenität allerdings nur die Rezeptionsgestalt des Täufertums ist, nicht ihre von den Wortführern propagierte und teilweise auch gelebte Gestalt." 135

Der Blick auf die einfachen Täufer allein, stellt für ihn ein defizitäres Täufertum dar, dem die Beschäftigung mit den Wortführern der Täufer und ihren Äußerungen zur Seite treten muß, um ein vollständiges Bild zu erhalten. Dabei dürfe man so Goertz, hinter die Ergebnisse der revisionistischen Forschung nicht zurück. Die Erschließung der Rezeptionsgeschichte der täu-

132 Vgl. ebd., 292. ι 3 3 Ebd., 294. 134 Vgl. ebd., 296 f. 135

Ebd. 297.

1.6 Gibt es eine Neuorientierung in der Täuferforschung?

45

ferischen Theologie ist m. E. eine vielversprechende Tendenz in der neueren Täuferforschung. Aufschlußreich ist, daß Goertz ähnlich wie andere Autoren, neu nach einer synthetischen Zusammenschau der Täufer sucht. Die Täuferforschung stand nach einer Einschätzung Packulls zu Beginn der 90er Jahre an einem Scheideweg, der durch den historiographischen Paradigmenwechsel geprägt ist. 1 3 6 J. Oyer lobte in einer Replik zwar den genannten forschungsgeschichtlichen Beitrag Packulls, dem er sich durch seine eigene Forschung verbunden weiß. 137 Er moniert jedoch, daß die Reformation dadurch immer weniger als religiöse Bewegung betrachtet werde. 138 Wenn die religiösen bzw. theologischen Unterschiede nicht angemessen gewürdigt würden, fiele eine Differenzierung der verschiedenen reformatorischen Ströme zunehmend schwer. Gegen die von Packull geforderte Entscheidung zwischen sozialhistorischer und religiös orientierter Forschung, plädiert er für einen integrativen Forschungsansatz. Oyer bezweifelt, daß sich die unterschiedlichen methodischen Zugänge zur Reformationsgeschichte durch eine größere historische Genauigkeit voneinander unterscheiden. Im Blick auf die derzeitige Entwicklung gibt er zu bedenken: „Will the social theorists working in history be any less rigid than the theologians have been? Perhaps they will. One rejoices that the bubble of the theological/confessionalist historiographical pride has been properly pricked. Still, like the theologians before them, the social historians may well draw their theories from empirical study, then apply their mental constructs as rigorously, even imperiously, to their historical subjects and forthwith to pull and twist ever so slightly to make the facts fit the theory - as much as the theologians ever did. To make history fit one's theories about it is a temptation endemic to the exercise of the discipline. The only difference, perhaps, is that social historians have had less time than the theologians to get their theories in proper intellectual order." 139

Oyer betont die Dependenz der jeweiligen Forschung vom Zeitgeist („prevalent mood of it's own time"). Während der normativen Forschung demnach aufgrund ihrer Zeitsituation zurecht Idealismus und Konfessionalismus unterstellt werden konnte, fragt Oyer selbstkritisch an, ob die heutige Forschung nicht durch mangelnden Idealismus, wenn nicht gar Zynismus oder Negativismus geprägt sei. In dieser Reaktion deuteten sich bereits berechtigte kritische Einwände gegen den revisionistischen Forschungskonsens an. Die vielfach ausgezeichnete komparative Studie zum christlichen Märtyrertum in der frühen Neuzeit von B. S. Gregory nimmt ebenfalls dezidiert zur Methodologie-

136

Vgl. W. O. Packull, Between Paradigms, 1-22. Vgl. J. Oyer, A Response to Between Paradigms: Anabaptist Studies at the Crossroads, in: The Conrad Grebel Review 8 (1990), 325-327. 138 „My most serious reservation has to do with the relative demise of the Reformation as religious movement." Ebd., 326. 139 Ebd., 327. 137

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1 Der Stand der Täuferforschung

diskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft Stellung. 140 Z u Beginn des neuen Jahrtausends und damit dreißig Jahre nach der Formierung der revisionistischen Forschung bleiben die kontroversen Positionen nach wie vor spannend und spannungsreich. Abschließend sei noch auf ein weiteres Werk verwiesen, das ebenfalls eine mögliche Neuorientierung innerhalb der Täuferforschung nahelegt. Die Untersuchung H.-G. Tannebergers, der die gesamte Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts unter der theologischen Frage nach ihrem Verständnis der Rechtfertigungslehre in den Blick nimmt, sticht aus den derzeitigen Veröffentlichungen zur Täuferbewegung in mehrfacher Hinsicht heraus. 141 Ebenso wie Snyder vertritt auch Tanneberger eine neue synthetische Betrachtungsweise, die unter systematisch-theologischer Perspektive nach der Einheitlichkeit des durch die Forschung in verschiedene Bewegungen ausdifferenzierten Täufertums fragt. Tannebergers Analyse der Quellen umfaßt dabei die Repräsentanten der frühen Täuferbewegung in der Schweiz (Konrad Grebel, Felix Mantz, Michael Sattler) sowie Balthasar Hubmaier, Hans Denck, Hans Hut, Pilgram Marpeck, Melchior Hoffmann, Menno Simons und deren Schüler bzw. Weggefährten. Leider verzichtet der Autor auf einen m. E. notwendigen integrativen Forschungsansatz, der die Bedeutung theologischer Motivationen mit den Ergebnissen der sozialgeschichtlichen Forschung sachgemäß zu verbinden weiß. So werden die Ergebnisse der sozialhistorischen Forschung in der gesamten Erarbeitung nicht hinreichend gewürdigt. Die Quellen werden durch den Verfasser darüber hinaus methodisch höchst problematisch i. S. von dicta probantia benutzt, wobei er den jeweiligen situativen Hintergrund, die biographische Komponente der Personen und die qualitativen Unterschiede bzw. die Relevanz für die Lehrentwicklung der einzelnen Täufergruppierungen nicht reflektiert oder gewichtet. Im Blick auf die frühe Täuferbewegung in der Schweiz ignoriert Tanneberger gänzlich die Auswirkungen der Verfolgungssituation, der sozialen Schichtung der Bewegung, ihr Kohäsionsbewußtsein sowie die prägende Bedeutung des gemeinsamen Bibelstudiums. So ist es m. E. nicht sinnvoll, den „Müntzerbrief" gegen die „Protestation" auszuspielen. Einer solchen Einschätzung kann nur unterliegen, wer die frühe Täuferbewegung in Zürich nicht als soziale Gruppe betrachtet, sondern von gleichsam isolierten Verfasserpersönlichkeiten ausgeht. Diese vermeintlich individuellen Aussagen überträgt Tanneberger dann jedoch durchaus konsequent - und pars pro toto - auf das gesamte Täufertum.

140 Vgl. B. S. Gregory, Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe, Cambridge (Massachusetts)/London 1999,8 ff. 141 Vgl. H.-G. Tanneberger, Die Vorstellung der Täufer von der Rechtfertigung des Menschen, Stuttgart 1999; vgl. dazu auch A. Strübind, Rezension: H.-G. Tanneberger, Die Vorstellung der Täufer von der Rechtfertigung des Menschen, Stuttgart 1999, in: ZThG 7 (2002), 355-360.

1.6 Gibt es eine Neuorientierung in der Täuferforschung?

47

Bei aller Freude über diesen theologiegeschichtlichen Beitrag zur Täuferbewegung, dessen Anliegen sich die Verfasserin dieser Untersuchung prinzipiell verbunden weiß, überwiegt doch die Kritik, die sich vor allem an der von außen herangetragenen Grundproblematik der systematisch-theologischen Schlüsselfrage nach der Rechtfertigungslehre festmacht. Ist es für eine kirchenhistorische Arbeit legitim, ein nach beinahe 500 Jahren dogmatischer Arbeit geläutertes Verständnis der lutherischen Rechtfertigungslehre - noch dazu in der durch den Verfasser propagierten bürgerlich-liberalen Variante des ausgehenden 20. Jahrhunderts - zum Maßstab reformatorischer Bewegungen des 16. Jahrhunderts zu machen? Darf eine historische Arbeit darauf verzichten, sich mit der jeweiligen historischen Situation, der Biographie der Verfasser und ihren sozialen und religiösen Kontexten zu befassen? Besonders gravierend ist, daß das methodische Vorgehen des Verfassers letztendlich dazu führt, das gesamte und aus den reformatorischen Aufbrüchen hervorgehende Täufertum pauschal als „nichtreformatorisch" zu prädizieren. Auf diese Weise wird dem Urteil Luthers über die „Schwärmer" insgeheim Recht gegeben. Für einen reformatorischen Nonkonformismus als möglichen Interpretationsrahmen bleibt in dieser von der Dogmatik festgelegten und bedauerlicherweise sehr einseitigen Perspektive kein Raum. Es bleibt zu hoffen, daß die Untersuchung Tannebergers nicht einer Renaissance konfessioneller Kirchengeschichtsschreibung Vorschub leistet, sondern die m. E. lohnenswerte theologiegeschichtliche Forschung anregt und beflügelt.

2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie - dargestellt am Beispiel der Täuferforschung Im Blick auf den derzeitigen Forschungsstand hat das Urteil R. Wohlfeils aus dem Jahre 1982 nach wie vor Bestand, daß es gegenwärtig keine konsensfähige Darstellung des Täufertums gibt: „Theologisch-religiöse und sozialgeschichtlich-gesellschaftliche Betrachtungsweisen klaffen in ihren theologischen und historischen Ergebnissen und Wertungen auseinander." 1 Auch die Resultate der neueren psychohistorischen Täuferforschung sind umstritten und werfen die Frage nach einer sinnvollen Integration von Methoden anderer Humanwissenschaften in den Bereich der Historiographie auf. Dieser Befund weist auf mehrere grundsätzliche Probleme der gegenwärtigen Geschichtsschreibung, in Sonderheit der Kirchengeschichtsschreibung hin. Durch den Aufstieg der Soziologie als zunächst konkurrierendes heuristisches Erkenntnismodell ist die Geschichtswissenschaft in eine Grundlagenkrise geraten. In Auseinandersetzung mit den Sozialwissenschaften mußten Methodik, Standortbindung und erkenntnistheoretische Basis kritisch reflektiert werden. Auch in der Kirchengeschichte gewinnen empirische, sozial- und strukturgeschichtliche Analysen zunehmend an Einfluß. Die Erarbeitung übergreifender Zusammenhänge und am „Out-come" orientierte Untersuchungen drängen die Frage nach Intentionen, ethischen Wertmaßstäben und Motiven des einzelnen Menschen in den Hintergrund. Bevor in dieser Untersuchung die historische Arbeit an den Quellen vorgenommen werden kann, scheint es m. E. notwendig zu sein, methodologische Fragen zu klären, die zum einen den Methodenstreit innerhalb der Geschichtswissenschaft, zum anderen das Proprium der Kirchengeschichtsschreibung verdeutlichen sollen. Eine eindeutige Standortbestimmung ist gefragt, die dem ambivalenten Charakter der Kirchengeschichte als Bestandteil der allgemeinen Geschichtswissenschaft und als eigenständige theologische Disziplin Rechnung trägt. Die methodologischen Vorüberlegungen gewinnen vor allem für den Bereich der Täuferforschung höchste Brisanz und sind deshalb keineswegs nur obligatorische „Fingerübungen". Die Verständigung über das „Erklärungsmodell", das im Prozeß der historischen Bestandsaufnahme zur Anwendung gebracht wird, ist auch für den Kirchenhistoriker von unabweisbarer Notwendigkeit. 2 1

Wohlfeil, Einführung, 168. Vgl. Ch. Uhligy Funktion und Situation der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin, Frankfurt a. M./Bern/New York 1985,180 f. 2

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

Anhand der Täuferforschung läßt sich der fundamentale Umbruch innerhalb der Geschichtswissenschaft, der durch den zunehmenden Einfluß der Sozialwissenschaften gekennzeichnet ist, nahezu paradigmatisch veranschaulichen. Die historiographische Debatte zwischen „Intentionalisten" und „Funktionär e n " spiegelt sich prägnant im Bruch zwischen der „normativen" und der kontextuellen, sozialgeschichtlichen Erforschung des Täufertums seit Beginn der 70er Jahre. Die kirchengeschichtliche Täuferforschung wurde mit Untersuchungen von Historikern konfrontiert, die bewußt auf theologische Motivationsforschung als Erkenntnismittel für die sachgerechte Analyse des Täufertums verzichteten. Zum anderen wird die funktional-sozialgeschichtliche Methode von Kirchenhistorikern ζ. T. unkritisch rezipiert. Diese Tendenz trifft nicht nur auf die Täuferforschung zu, sondern gilt übergreifend für den gesamten Bereich der Reformationsgeschichtsschreibung. H. Oberman konstatiert eine Verlagerung des Interessenschwerpunktes innerhalb der historischen Wissenschaft der letzten drei Jahrhunderte, von dem theologischen, über den politischen zu den sozialen Geschichtskräften. 3 „Um die Anerkennung der politischen und der sozialen Faktoren brauchen wir uns heute am wenigsten zu sorgen; bedroht ist heute eindeutig die theologische Dimension, die Berücksichtigung des Glaubens als geschichtsmächtige Kraft." 4

Durch die Dominanz des sozialgeschichtlichen Ansatzes in der Reformationsgeschichte sieht er die Kirchengeschichtsschreibung zur Reaktion herausgefordert. Vor der gleichen, notwendigen Auseinandersetzung mit der Methodik der modernen Sozialwissenschaften sieht C. Uhlig die gesamte Kirchengeschichtsschreibung. 5 Die Kooperation zwischen Kirchengeschichte und Sozialwissenschaften muß einer kritischen Reflexion unterzogen werden, ob sie dem Gegenstand der Kirchengeschichte angemessen sei. Die Verlagerung des Forschungsinteresses auf überpersonale Faktoren sowie wirtschaftliche und soziale Verhältnisse sollte auf ihre Sachgemäßheit für die Kirchengeschichtsschreibung überprüft werden, ohne das die zweifellos wichtigen Impulse der Sozialgeschichte von vornherein einem „dogmatischen" Verdikt unterliegen. Ende der 70er Jahre fand eine Diskussion, über das Verhältnis von Kirchengeschichtsschreibung zur Allgemeinhistorie in der Täuferforschung statt, der die skizzierte methodologische Problematik zugrunde lag. Ausgelöst wurde die literarische Kontroverse durch einen Aufsatz von H. J. 3

Vgl. H. A. Oberman, Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986,19. 4 Ebd., 20. Die hier vorgebrachte Befürchtung steht im Gegensatz zu der 1965 von B. Moeller geäußerten Kritik an der Reformationsgeschichtsschreibung in ihrer einseitigen Konzentration auf die Theologie der Reformatoren. Moeller forderte seinerzeit eine stärkere Mitarbeit von Allgemeinhistorikern, da andernfalls der Kirchengeschichte die historische Dimension zugunsten einer systematisch-theologischen verloren ginge. Vgl. dazu: B. Moeller, Probleme der Reformationsgeschichtsforschung, in: Z K G 76, 1965,250 f., 253. 5 Vgl. Uhlig, Funktion, 242 f.

2.1 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

51

Goertz zur Relation von Theologie und Geschichte in der gegenwärtigen Täuferforschung 6, den mehrere Fachkollegen zum Anlaß für eigene Positionsbestimmungen nahmen. 7 Bevor diese speziell für die Täuferforschung wichtige Diskussion erörtert wird, soll der methodologische Umbruch innerhalb der Geschichtswissenschaft und sein Einfluß im Bereich der Kirchengeschichtsschreibung kurz verdeutlicht werden, um den Standort der Verfasserin darzulegen.

2.1 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie „Nachdem die Historie sich generationenlang als geisteswissenschaftliche Disziplin verstanden hat, ist sie nunmehr im Begriff, sich als Sozialwissenschaft zu repräsentieren." 8 Diese Einschätzung erfaßt die derzeitige Situation der Geschichtswissenschaft, die als wissenschaftliche Disziplin durch die konkurrierenden Sozialwissenschaften unter „Legitimationsdruck" geraten ist, so daß Mitte der 80er Jahre zurecht von einer „Krise der Historie" gesprochen werden konnte. 9 Seit dem Zweiten Weltkrieg avancierten die systematischen Sozialwissenschaften, deren Interessen auf gesellschaftliche Strukturen und Prozesse zur Deutung kollektiver Phänomene gerichtet sind, auf Kosten der Geschichtswissenschaft in den Mittelpunkt historiographischer Interessen. 10 Als Gegenbewegung zum traditionellen Historismus, der zusätzlich durch die politischen Krisen des Jahrhunderts desavouiert war, 11 entwickelte sich eine Kooperation von Geschichtswissenschaft und Soziologie. Die daraus resultierende sogenannte „Sozialgeschichte" ist bemüht, die Methodik, Begrifflichkeit und Theorie der Soziologie für die historische Forschung nutzbar zu machen. 12 Gegenwärtig ist ein „grenzenloses Vertrauen in die methodologische Vortrefflichkeit der Sozialwissenschaften, in ihre Forschungstechniken, ihre Hypothesen- und Modellbildung" 1 3 zu konstatieren. Dabei ist unübersehbar, 6 Vgl. H.-J. Goertz y History and Theology: A Major Problem of Anabaptist Research Today, in: MennQR 53,1979,177-218; deutsche überarbeitete Fassung in: Goertz, Täufer, 137-151. 7

Vgl. Goertz, History, 189-218. R. v. Thadden, Wahrheit und institutionelle Wirklichkeit, in: Ders., Weltliche Kirche ngeschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1989,30. 9 Vgl. Rhein, Geschichte, 4 f., 49. 10 Vgl. J. Kocka, Sozialgeschichte, Göttingen 2 1986,68 ff. 11 Vgl. Rhein, Geschichte, 51. 12 Vgl. H. Mommsen, Sozialgeschichte, in: H.-U. Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln/Berlin 1966,27. 13 H. Seiffert zit. nach: G. Besier; Religion, Nation, Kultur. Die Geschichte der christlichen Kirchen in den gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, Neukirchen 1992,206. 8

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

daß die Sozialgeschichte keineswegs nur eine Teildisziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft repräsentiert, sondern den Anspruch erhebt, eine spezielle Form bzw. legitime Betrachtungsweise der Historiographie, bezogen auf den gesamten Geschichtsverlauf, zu sein. Die Sozialgeschichte versucht die Gesamtgeschichte unter Betonung des Gesellschaftlichen zu erfassen. Dementsprechend soll die Geschichtswissenschaft durchgehend sozialhistorisch fundiert werden, wodurch die universale Geltung der Sozialgeschichte zum Ausdruck gebracht werde. 14 Weite Teile der Geschichtswissenschaft verstehen sich heute in bewußten Gegensatz zum viel geschmähten Historismus als historische Sozialwissenschaft. 15 In der sozialgeschichtlichen Forschung, ebenso wie in der sog. „Strukturgeschichte" 16 , tritt das Interesse an Intentionen und Handlungen einzelner in den Hintergrund, während die Analysen übergreifender Zusammenhänge und Bedingungsgeflechte, struktureller gesellschaftlicher Prozesse sowie der Aufweis dauerhafter Phänomene fokussiert werden. Die Abkehr vom Historismus, damit von der traditionellen Personen-, Ereignis- und Ideengeschichte, bewirkte einen markanten Wechsel von einer „Situationsdeterminiertheit" der historischen Subjekte zu einer „ökonomisch-gesellschaftlichen Determiniertheit." 1 7 I m Kontext dieses Paradigmenwechsels innerhalb der Historiographie etablierten sich die Methoden der Sozialwissenschaften (Statistik, Demographie etc.) in der Geschichtswissenschaft, die vorher primär hermeneutisch orientiert war. 18 Die historisch-kritische Interpretation schriftlicher Quellen einzel14

Vgl. Mommsen, Sozialgeschichte, 34. Vgl. H. Hempelmann, „Erkenntnis aus Glauben". Notwendigkeit und Wissenschaftlichkeit von Kirchengeschichte und Kirchlicher Zeitgeschichte als theologische Disziplinen, in: K Z G 2, 1997, 265. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Weg vom Historismus zur Sozialwissenschaft bietet H. Seiffert, Kann die Kirchengeschichte zur Sozialgeschichte werden?, in: K Z G 2,1997,348-358. 16 Strukturgeschichte ist ein eher diffuser Begriff. Die Unterscheidung von der Sozialgeschichte wird oft nicht präzise genug vorgenommen. Eine Identifizierung mit der Sozialgeschichte ist unangemessen, da sich die Strukturgeschichte auch auf andere Bereiche als nur auf „Soziales" anwenden „läßt". Vgl. dazu: Kocka, Sozialgeschichte, 133. 17 Mommsen, Sozialgeschichte, 27. 18 Vgl. Rhein, Geschichte, 56; Kocka, Sozialgeschichte, 53; H. Seiffert plädiert im Methodenstreit gegenwärtig für den bleibenden Wert der historisch-hermeneutischen Methode. Dabei gehe es darum den historischen Gegenstand so weit wie möglich aus den eigenen Voraussetzungen zu verstehen, wozu ein intensives Studium der Quellen und der Sekundärliteratur zwingend ist. „Hermeneutische Methode: das bedeutet Sachlichkeit und Vorurteilslosigkeit. Beides bedeutet, sich auf alle Zeugnisse, Gedankengänge, Bewegungen, Tendenzen, auf deren »Selbstverständnis4, das heißt also auf das, als was sie sich selbst jeweils verstehen, ernsthaft einzulassen - ohne Rücksicht darauf, welche vorwissenschaftlichen Vorstellungen man gleichsam als Privatmann zu dem Thema hat." H. Seiffert, Kann die Kirchengeschichte zur Sozialgeschichte werden?, in: K Z G 2,1997,357. 15

2.2 Sozialgeschichte und Kirchengeschichte

53

ner Persönlichkeiten und Institutionen wurde durch statistische Erhebungen und Sammlungen nicht-intentionaler Zeugnisse ergänzt. Die bemerkenswerte Expansion der sozialgeschichtlichen Forschung provozierte eine Vielzahl geschichtstheoretischer Bemühungen innerhalb der Geschichtswissenschaft, die zur „methodologischen Selbstverständigung"19 führen sollten. Als fundamentale Beiträge zu einer Erneuerung der Historik sind vor allem die Arbeiten von R. Koselleck und J. Rüsen zu nennen.20 In jüngster Zeit entwickelten sich innerhalb der sozial- und strukturgeschichtlichen Forschung neue Arbeitsbereiche, die stärker an den subjektiven Erfahrungen und Prägungen, die sinnleitend und handlungsmotivierend fungieren, interessiert sind.21 Die Alltags- und Mentalitätsgeschichte ist im Begriff, sich zu einem innovativem Forschungszweig auszubilden, in dem u. a. konfessionelle Unterscheidung sowie alters- und geschlechtliche Differenzierung zu Kategorien der Geschichtsdeutung werden. Ohne Zweifel wird durch die Alltagshistorie die subjektive Dimension des Geschichts verlauf s in der sozialgeschichtlichen Forschung wieder stärker berücksichtigt. Gleichwohl entwickelt sich die Flut „mikrohistorischer" Untersuchungen zu einem methodischen Problem, da eine übergreifende Geschichtsdarstellung sowie eine verantwortliche Quellenkritik erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. 22 Der Streit um die Mikrohistorie als legitime Erkenntnisquelle der Makrohistorie verdeutlicht die gegenwärtigen methodischen Aporien innerhalb der Geschichtswissenschaft. 23 Eine Auseinandersetzung mit den Prämissen der Sozialgeschichte, besonders im Blick auf das implizite anthropologische Leitbild sowie die daraus resultierenden Methoden, ist für den Kirchenhistoriker von unabweisbarer Dringlichkeit.

2.2 Sozialgeschichte und Kirchengeschichte 2.2.1 Die gegenwärtige Situation Das Verhältnis von Sozialgeschichte und Kirchengeschichte wird durch zwei parallele Forschungsentwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven charakterisiert. Zum einen wurden sozialgeschichtliche Fragestellungen und Methoden, das Element des gesellschaftlichen Kontextes, von Kirchenhistori19

Rhein, Geschichte, 54 f. Hier ist nicht der Ort für eine angemessene Würdigung der neueren geschichtstheoretischen Ansätze. Eine eingehende Untersuchung bietet M. Rhein. 21 Vgl. Kocküy Sozialgeschichte, 134. 22 Vgl. Selge, Einführung, 139. 23 Vgl. W. Schulze, Mikrohistorie versus Makrohistorie. Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: C. Meier / J. Rüsen (Hg.) Historische Methode, München 1988, 319-341. 20

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

kern rezipiert. Zum anderen entdeckten Allgemeinhistoriker mehr und mehr die Kirchengeschichte, die lange Zeit eine Domäne der Theologen war, als wichtigen Bereich der allgemeinen Geschichte. Das Interesse der Kirchenhistoriker richtete sich - verkürzt gesagt - auf die Gewinnung des gesellschaftlichen Faktors in der Kirchengeschichte; den Allgemeinhistorikern ist vermehrt an der Analyse des gesellschaftlichen Einflusses von „Kirche" als Sozialgestalt gelegen, ohne die „die Komplexität der Wirklichkeit" 2 4 nicht hinreichend erfaßt würde. Die traditionelle Kirchengeschichtsschreibung wird von diesen Historikern einer radikalen, oft die Grenze der Polemik überschreitenden Kritik unterzogen. „Kirchengeschichte der Neuzeit ist entweder über weite Strecken zur Theologiegeschichte verkümmert oder aber zu einer Art unpolitischer Homeland-Kunde geworden, die liebevolles Interesse für geistige und soziale Rückzugsgebiete in der modernen Welt entwickelt."25

Thaddens Kritik geht soweit, zu behaupten, daß Kirchengeschichte kaum an der allgemeinen Geschichte partizipiert, was nach seiner Prognose zweifellos zu einer „Schrumpfung des allgemeinen Interesses an ihrer Existenz" 26 führen werde. Nicht nur diese „Unheilsprophetie" profangeschichtlicher Provenienz zwingt zu einer fundamentalen Methodendiskussion innerhalb der Kirchengeschichtsschreibung. Obwohl Thadden im Blick auf die protestantische Kirchengeschichte es als „längst ausgemacht" empfindet, „daß Kirchengeschichte nicht nur als ,innerkirchliche Legitimationswissenschaft 4 betrieben werden" und sie nur als Teilbereich der allgemeinen Geschichte betrachtet werden könne, auf den dieselben Methoden angewendet werden müßten wie in allen anderen Bereichen, scheint gerade dieser befriedigende „Konsens" nicht zu bestehen.27 Das Proprium der Kirchengeschichte als einer theologischen Disziplin, die gleichzeitig Teil der historischen Wissenschaft ist, sowie das Verhältnis von Theologie und Geschichte sind heftig umstritten. Zur Verständigung über die weltanschaulichen und theologischen Voraussetzungen in der Geschichtsschreibung wurde 1991 ein Symposion unter Schirmherrschaft des Herausgeberkreises der Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte" in Erfurt durchgeführt. 28 Methodologische Paradigmen der allgemeinen Geschichtsschreibung und der Kirchenhistorik wurden von Allgemein-und Kirchenhistorikern eingehend diskutiert. Die Skizzierung einzelner

24

Thadden, Kirchengeschichte, 8. Ebd., 12. 2 « Ebd., 7. 27 Vgl. ebd., 15; zum Methodenstreit in der Kirchengeschichtsschreibung vgl. G. Bester, Widerstand im Dritten Reich - ein kompatibler Forschungsgegenstand für gegenseitige Verständigung heute?, in: K Z G 1,1988, 50-68. 28 Vgl. Zur Historik Kirchlicher Zeitgeschichte, K Z G 5,1992. 25

2.2 Sozialgeschichte und Kirchengeschichte

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Beiträge dieses Symposions sollen die bis in die Gegenwart reichende Diskussion um die Kirchenhistoriographie illustrieren. 29 In seinem Überblick über die neuere historiographische Entwicklung in Frankreich kam E. François zu dem Resultat, daß die Kirchengeschichte von sozial- und kulturhistorischen Fragestellungen und Methoden profitieren könne. Einschränkend fügte er jedoch hinzu: „Der sozial- und kulturhistorische Zugang ist nur ein Zugang unter anderen und nichts wäre gefährlicher, als ihn absolutieren zu wollen." 3 0 Er warnte in diesem Zusammenhang die sozialhistorische Forschung davor, die „intellectual history" des Christentums zu vernachlässigen. Andere Allgemeinhistoriker wie H. Hürten verteidigen vehement den sozialhistorischen Methodenkatalog, auf den auch die Kirchengeschichtsschreibung nicht verzichten könne. 31 Eine rein theologiegeschichtlich argumentierende Kirchenhistoriographie kann s. E. die Motivation in der Geschichte handelnder Subjekte nicht hinreichend erfassen. Dem gegenüber erläuterte der systematische Theologe M. Beintker die unverrückbare Prämisse kirchengeschichtlicher Arbeit im Disziplinenkanon der Theologie: „Wer theologisch konsequent denkt, kann keinen gott-losen Begriff von Geschichte [...] bilden. Er darf davon ausgehen, daß die Geschichte mit ihren Geschichten ohne das Handeln Gottes als unseres Schöpfers und Erhalters, Versöhners und Erlösers nur als ein auf Innerweltlichkeit reduziertes Fragment sichtbar ist." 32

Dabei hob er hervor, daß dies nicht zu einer „Absage an das wissenschaftliche Methodenbewußtsein der Historik"(ebd.) führen dürfe. Zwar wurde in der anschließenden Diskussion wiederholt festgestellt, daß auf der Ebene der Methodologie zwischen Forschern aus allgemein- bzw. kirchengeschichtlichem Hintergrund keine Differenzen bestünden, dennoch ergaben sich in der Frage nach dem Vorverständnis, nach reflektierten oder unreflektierten Deutungshorizonten sowie bewußten Axiomen in der Historiographie antagonistische Positionen zwischen Allgemein- und Kirchenhistorikern. 33 Es wurde für die Kirchengeschichtsschreibung eine „wissenschaftstheoretische reflek-

29 Auch wenn es auf dieser Tagung um die Zeitgeschichtsforschung ging, haben die Beiträge m. E. paradigmatischen Chararkter für die gesamte Historiographiedebatte und können deshalb auf die Reformationsgeschichte übertragen werden. 30 E. François, Kirchengeschichte als Thema der Kultur- und Sozialgeschichte, in: K Z G 5,1992,27. 31 Vgl. H. Hürten, Alltagsgeschichte und Mentalitätsgeschichte als Methoden der Kirchlichen Zeitgeschichte, in: K Z G 5,1992,28 f. 32 M. Beintker; Kirchliche Zeitgeschichte und systematisch-theologische Urteilsfindung, in: K Z G 5,1992,43. 33 Vgl. G. Ringshausen / H. G. Ulrich, Zur Verständigung über Zeitgeschichte, in: K Z G 5,1992,94 ff.

Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

tierte Forschungslogik" angemahnt, die für einen Diskurs mit der allgemeinen Geschichtswissenschaft notwendig sei. 34 Dieser Befund ist im Blick auf die zurückliegenden Phasen der innerkirchengeschichtlichen Diskussion zu differenzieren. Dem Methodenstreit der Geschichtswissenschaft wurde bisher nur vereinzelt in kirchengeschichtlichen Darstellungen Rechnung getragen. Im Vordergrund stand dagegen die Legitimität der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin. Dabei sei nur an den breiten Traditionsstrom der folgenreichen Aussagen Karl Barths zu erinnern, der die Kirchengeschichte als „unentbehrliche Hilfswissenschaft" bezeichnete. 35 Das Spektrum der Reaktionen auf den sozialgeschichtlichen Ansatz innerhalb der Kirchengeschichte reicht von enger Kooperation bis hin zur „indignierten" Zurückweisung. Die Interdependenz von kirchlich-theologischen und sozialen Gegebenheiten ist ζ. B. für F. W. Kantzenbach in seiner „Sozialgeschichte des Christentums" die grundlegende Voraussetzung jeder kirchenhistorischen Arbeit. 3 6 Er sieht es als wichtige Aufgabe an, Religion als „zentrale Dimension" der Gesellschaft zu begreifen. Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die sozial- und strukturgeschichtlichen Methoden an Bedeutung in der Kirchengeschichtsschreibung gewonnen haben, wenn ihnen nicht bereits eine dominierende Rolle attestiert werden kann. Die unreflektierte Rezeption sozialwissenschaftlicher Methoden und die Konfrontation mit dem universalen Anspruch der Sozialwissenschaften müssen m. E. einer theologischen Kritik unterworfen werden. Es bleibt eine unumgängliche Aufgabe der Kirchenhistorik, ihren Standpunkt innerhalb der Methodologiediskussion und dem Ringen um geschichtstheoretische Klärungen zu beziehen. Die Frage, ob dem sozial- und strukturgeschichtlichen Ansatz ein „Erklärungsmodell" zugrunde liegt, das sich mit dem Standort des Kirchenhistorikers, der zugleich Theologe und Christ ist, vereinbaren läßt, muß eindeutig entschieden werden. Der Forderung von G. Besier und H. G. Ulrich an die Kirchenhistorie, darüber Rechenschaft abzulegen, was eigentlich „die Mitte evangelischer Kirchengeschichtsschreibung ist" 3 7 , muß entsprochen werden, nicht zuletzt zugunsten eines berechenbaren, offenen wissenschaftlichen Dialogs. 34 Einen erneuten Höhepunkt fand die historiographische Debatte im Blick auf die Kirchengeschichte bzw. die Kirchliche Zeitgeschichte im Jahr 1996. Vgl. dazu die Auseinandersetzung zwischen G. Besier und A. Doering-Manteuffel dargestellt bei H. Hempelmann, „Erkenntnis aus Glauben". Notwendigkeit und Wissenschaftlichkeit von Kirchengeschichte und Kirchlicher Zeitgeschichte als theologische Disziplinen, in: K Z G 2,1997,263 ff. 35 Vgl. Uhlig, Funktion, 24 ff. Die Untersuchung Uhligs ist für den gesamten Themenkomplex sehr ertragreich. 36 Vgl. F. W. Kantzenbach, Christentum in der Gesellschaft. Kleine Sozialgeschichte des Christentums. Band 1: Alte Kirche und Mittelalter, 27 ff. 37 G. Besier/ H. G. Ulrich, Von der Aufgabe kirchlicher Zeitgeschichte - ein diskursiver Versuch, in: EvTh 2,1991,171.

2.2 Sozialgeschichte und Kirchengeschichte

57

2.2.2 Die historiographische Debatte am Beispiel der Täuferforschung Im Schlußkapitel seiner Darstellung der Täuferbewegung reflektiert der Sozialhistoriker H.-J. Goertz den Stand der Täuferforschung, bevor er grundsätzlich zur Relation von Theologie und Geschichte, Kirchen- und Allgemeingeschichte, Stellung nimmt. 3 8 Den Anlaß für diese Auseinandersetzung sieht er in der Konfrontation der sog. „konfessionellen Geschichtsschreibung" mit den Arbeiten von Allgemeinhistorikern zur Täuferbewegung, die bewußt auf die theologische Einsicht als Erkenntnismittel 39 verzichten. Goertz nennt in diesem Zusammenhang die Namen von J. M. Stayer und C. P. Clasen. Beide Autoren distanzierten sich von einer theologisch orientierten Geschichtsschreibung, wie Goertz anhand von Zitaten aus den Einleitungen ihrer Studien nachweisen kann. Diesem abschließenden Kapitel seiner übergreifenden Untersuchung liegt ein Aufsatz zugrunde, der 1979 eine Kontroverse zum Verhältnis von Kirchen- und Allgemeingeschichte innerhalb der Täuferforschung auslöste. Goertz' Aufsatz und die Reaktionen einiger Historiker wurden gemeinsam in einer Ausgabe der Mennonite Quarterly Review veröffentlicht. 40 Der Autor wirft in seinen methodischen Überlegungen der Kirchengeschichtsschreibung eine Bevormundung durch die Theologie vor. 4 1 „Ein guter Historiker mußte im Grunde ein Theologe sein, der sich im komplizierten Werk des Wittenberger Reformators auskannte [...] Doch wer sich der Mühe nicht unterziehen wollte, in dieses komplizierte Werkgeflecht einzudringen, mußte sich den tonangebenden Kirchenhistorikern anvertrauen und auf jeden eigenen Ausdruck der Interpretation verzichten." 42

Diese scharfe Kritik an der theologischen Kirchengeschichtsschreibung hält Goertz auch gegenwärtig aufrecht, obwohl in seinen neueren Veröffentlichungen eine kritische Selbstbesinnung über den Methodenmonismus und die ideologisch motivierten Einseitigkeiten innerhalb der sozialgeschichtlichen Forschung spürbar ist. Als Beispiel für die einseitig theologisch orientierte Kirchengeschichtsschreibung wählt Goertz wiederholt das gemalte, ideale Täuferbild der normativen Forschung, dessen „erfolgreiche" Destruktion er in allen seinen Veröffentlichungen geradezu credoartig repristiniert. Die Geschichte habe sich demnach in der Kirchengeschichtsschreibung nach den „Bedürfnissen" der Theologie richten müssen, zum einen aus Legitimationsgründen, zum anderen als präventive Maßnahmen zum Schutz vor gegenwärtiger Kritik. Provo38 39

Vgl. Goertz, Täufer, 137-151. Vgl. ebd., 138; vgl. dazu auch Punkt 1.3 dieser Untersuchung.

« Vgl. Goertz, History, 177-218. 41 Vgl. Goertz , Täufer, 144; analog dazu J. M. Stayer ; Arnold Snyder, Beyond Polygenesis: Recovering the Unity and Diversity of Anabaptist Theology, in: MGB 52,1995, 151. 42 Goertz , Epoche, 24.

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

ziert durch die Arbeiten der genannten Allgemeinhistoriker, sieht Goertz die „Rehistorisierung" des Täufertums auch im Bereich der Kirchengeschichte für notwendig an. Dabei geht er nicht von der naiven Annahme einer wertfreien Arbeit der Allgemeinhistorie im Gegensatz zur weltanschaulich gebundenen Kirchengeschichte aus, sondern fordert dazu auf, endlich den Primat der Theologie auf „höheres Erkenntnisrecht" aufzugeben. Daß diese scheinbar differenzierte Sicht in seinem Schülerkreis bereits zugunsten einer dünkelhaften Selbsteinschätzung sowie einem pauschalem Verdikt über die gesamte genuin kirchengeschichtliche Arbeit aufgegeben wird, verdeutlicht das folgende Zitat von M. Hui. „Die Forschungslage ist in den letzten fünfzehn Jahren gänzlich aufgebrochen worden. Sie ist heute insbesondere durch sozialgeschichtliche Fragestellungen bereichert und von unartikulierten theologischen oder anderen ideologischen Interessenverbindungen ein gutes Stück entlastet."43

In Anlehnung an den Religionssoziologen P. Berger plädiert Goertz für einen „methodologischen Atheismus" bei der soziologischen und historischen Untersuchung religiöser Phänomene.44 Goertz bekennt sich zu der erkenntnistheoretischen Grundannahme, daß es keine Idee an sich, sondern nur in ihrer Bindung an die menschliche Erfahrung gibt. „Gegenstand der historischen Untersuchung sind daher nicht die Ideen an sich, sondern die Ideen in ihrem gebundenen Zustand. Mit Ideen an sich mag der Theologe und Philosoph umgehen, der Historiker und Soziologe darf es nicht."45

Aus diesen erkenntnistheoretischen Entscheidungen entwickelte Goertz zu Beginn der 80er Jahre mehrere Folgerungen für die Täuferforschung. Demnach sei die Theologie der Täufer in ihrem „historischen Geflecht" aufzusuchen. Der Separatismus und Pazifismus der Schweizer Täuferbewegung stellt sich nach diesem Ansatz nicht in erster Linie als Konsequenz exegetischer Bibelstudien, sondern als Auswirkung einer gesellschaftlichen Ohnmachtserfahrung dar, die im Nachhinein mit der Heiligen Schrift legitimiert wurde. Dieser Interpretation liegt die Annahme zugrunde, daß die Intention des Menschen aus dem überintentionalen historischen Kontext abzuleiten sei, „denn vieles, was den Menschen bewegt und zu zielgerichtetem Handeln treibt, geschieht hinter seinem Rücken." 4 6 Bei der historischen Analyse religiöser Bewegungen muß nach Goertz auch der Kirchenhistoriker von seinen eigenen Glaubensüberzeugungen absehen. Als besonders folgenschwer im Blick auf seine Untersuchungen erweist sich die These, daß qualifizierte hi43 M. Hui, Vom Bauernaufstand zur Täuferbewegung. Entwicklungen in der ländlichen Reformation am Beispiel des zürcherischen Grüninger Amtes, in: MGB 46,1989, 114. 44 Vgl. Goertz, Täufer, 145. 45 Ebd., 146. 4 * Ebd., 147.

2.2 Sozialgeschichte und Kirchengeschichte

59

storische Arbeit nicht nach Intentionen fragen sollte, sondern nach deren historischen Bedingungen und gesellschaftlichen Implikationen. 47 „Nicht was die Täufer wollten, macht ihr Wesen als historische Erscheinung aus, sondern was sie waren." 48 Die Reaktionen der unterschiedlich qualifizierten Kollegen - teils Kirchenhistoriker, teils Allgemeinhistoriker - auf diesen methodologischen Neuansatz stellten Ende der 70er Jahre ebenso wie Goertz' Einlassungen eher kurze Essays als abgeschlossene Überlegungen bzw. theoretische Konzeptionen zur Historiographie dar. Die Beiträge von kirchenhistorischer Seite sind, bei aller grundsätzlichen Zustimmung zur Kritik an der normativen Täuferforschung, vor allem darum bemüht, eine angemessene Würdigung der „Bender-School" zu erreichen. 49 Interessant für die vorliegende sind in erster Linie nicht die Hinweise auf frühere Ergebnisse, die den Anspruch der Revision des Täuferbildes durch die Forschung der 70er Jahre, den Goertz vertritt, korrigieren, sondern die Anfragen an den geschichtstheoretischen Ansatz. C. Lindberg fordert von Goertz, dem er einen erneuerten Positivismus vorwirft, die Offenlegung der ideologischen Prämissen bzw. der Standortbindung sog. Profanhistoriker. 50 In gleicher Weise kritisiert J. S. Oyer die s. E. von Goertz der Allgemeinhistorie attestierte Unvoreingenommenheit. 51 Oyer warnt vor einem wachsenden Einfluß des Säkularismus auf die historiographische Methodik. „There is a grave danger that secularism might soon erode and distort the religious core of Anabaptism as much as theologians of a previous generation have distorted historical reality. Berger's methodological atheism already has a subtle influence on the perspectives, choices of material and categories, and evaluation of the historical data."52

Die gleiche Gefährdung der Kirchenhistorie führt Κ . R. Davis an. Das religiös-theologische Moment im historischen Kontext werde von Goertz zwar nicht geleugnet, aber von den Ergebnissen, die aus dem methodischen Atheismus resultieren, abhängig gemacht. 53 Dabei sei in der historischen Be47 Vgl. dazu die Ausführungen von Selge, Einführung, 54 f. „Aber auch wo man die Bedingungen der geschichtlichen Gegenstände sucht und zu finden glaubt, ja findet, bleibt Gegenstand der Darstellung immer noch der geschichtliche Inhalt selbst und nicht der rekonstruierte historische und gesellschaftliche Ursachenzusammenhang, in dem er entstanden ist." 48

Goertz, Täufer, 148. Vgl. J. 5. Oyer , Goertz's „History and Theology" - A Response, in: MennQR 53, 1979,193; W. Klassen , History and Theology: Some Reflections on the Present Status of Anabaptist Studies, in: MennQR 53, 1979, 199; Κ R. Davis , Vision and Revision in Anabaptist Historiography: Perceptional Tensions in Broadening Synthesis of Alien Idealization?, in: MennQR 53,1979,202 f. 49

50 Vgl. C. Lindberg, Fides et Intellectus ex Auditu. A Response to Hans-Jürgen Goertz on „History and Theology", in: MennQR 53,1979,189 f. 51 Vgl. Oyer , Response, 194. 52 Ebd. 53 Vgl. Davis, Vision, 201.

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

standsaufnahme die Relevanz religiöser Überzeugungen und Motivationen nachrangig zu bewerten. Das Grundproblem der Auseinandersetzung besteht nach Davis in der zwischen Kirchen- und Allgemeinhistorie umstrittenen Phänomenologie der historischen Existenz bzw. Basisstruktur des Menschen. Davis stellt die von der sozialgeschichtlichen Forschung behauptete Dependenz theologischer Überzeugungen vom sozialen Kontext in Frage, in dem er seinerseits ihre Geschichtsmächtigkeit und Potenz, selbst Einfluß auf die gesellschaftliche Situation auszuüben, festhält. „ A secular, presuppositional determinism is as invalid as a theological one." 5 4 Klassen thematisiert in seinen Ausführungen die Legitimität funktionaler Fragestellungen, wobei er sich vor allem auf das Werk von Clasen bezieht. Daß die Täufer in dieser sozialgeschichtlichen Studie unter funktionalem Aspekt als „Störfaktor" der mittelalterlichen Gesellschaft bezeichnet werden, hält er für historisch unangebracht. 55 Kritisch fragt er nach dem Modell von Gesellschaft, das sich hinter diesem Urteil verbirgt. A n der funktionalen Betrachtungsweise, die er bei Clasen aber auch bei Stayer beobachtet, verankert er seine Kritik: „The inherent importance for me of a man or a movement [...] comes from sources other the immediate attention they were able to muster, or their long-range survival ability." 56 Ohne es explizit auszuführen, werden von Klassen somit die Kategorien der Sozialgeschichte auf ihre Sachgemäßheit im Raum der Kirchengeschichte kritisch hinterfragt. W. O. Packull und J. M. Stayer, die aufgrund ihrer eigenen Orientierung über jegliche kirchengeschichtliche oder konfessionelle Voreingenommenheit erhaben sind, äußerten sich ebenfalls zu Goertz' Aufsatz. Packull kritisiert trotz eines weitgehenden Konsenses mit Goertz seine dargelegte Methodologie, die für ihn normative Züge annimmt. 57 Ebenso fürchtet Stayer, daß die Sozialgeschichte zu einer einseitigen Norm der Täuferforschung werden könnte, die das Anrecht der historischen Theologie und des ideengeschichtlichen Ansatzes eliminieren könnte. 58 „That seems to be call for a unconditional surrender of church historians who believe that their distinctive religious viewpoints have a place in the methodology of church history as well as theology proper. I doubt if such a surrender will take place and, in fact, hope it does not." 59

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Ebd., 202. Vgl. Klassen, Reflections, 199 f. 5 * Ebd., 199. 57 Vgl. W. O. Packull , A Response to „History and Theology: A Major Problem of Anabaptist Research Today", in: MennQR 53,1979,208. 58 Vgl. J. M. Stayer , Let a Hundred Rowers Bloom and Let a Hundred Schools of Thought Contend, in: MennQR 53,1979,217. 59 Ebd., 212. 55

2.2 Sozialgeschichte und Kirchengeschichte

61

In seiner Studie zur Korrelation von Bauernkrieg und Täufertum aus dem Jahr 1991 sichert Stayer allerdings der Theologie ihr bleibendes Recht in der Reformationshistoriographie zu und wehrt sich vehement gegen den Vorwurf, die Theologie zu marginalisieren. 60 Diese Auffassung würden alle Reformationshistoriker gleich welcher Provenienz teilen. U m seinen Standpunkt erneut darzulegen, beruft sich Stayer auf eine ihm bekannte Forscherin, die sowohl vor einem „Soziologismus" warne, der die spirituellen und religiösen Elemente der Reformation ignoriere, als auch vor einem romantischen Idealismus, der die Hegemonie der Religion in der Geschichte voraussetze. 61 Auch Snyder votiert in seiner umfassenden Darstellung des Täufertums für einen synthetischen Forschungsansatz, der soziale, ökonomische und politische Kräfte ebenso in die Deutung einbezieht wie die genuin religiösen Überzeugungen. 62 Das facettenreiche Echo auf den Beitrag von Goertz Ende der 70er Jahrekönnte der Grund dafür sein, daß er in seinen neueren Veröffentlichungen zur Gesamtreformation und weiteren Veröffentlichungen zur Geschichtsschreibung seine erkenntnistheoretische Position weiter zu differenzieren sucht. In der Einleitung zu seiner Studie „Pfaffenhaß und groß Geschrei" grenzt er sich vorsichtig gegen eine einseitig funktional orientierte Sozialgeschichte ab, da gewisse Kategorien wie die „Dichotomie von Staat und Gesellschaft" s. E. nicht auf die Reformationszeit zuträfen. 63 Erneut legt er seinen geschichtstheoretischen Ansatz in Anlehnung an P. L. Berger und unter Aufnahme seiner Terminologie - von Externalisierung und Internalisierung dar. Goertz ist darum bemüht, den „Entstehungsprozeß" reformatorischer Bewegungen einsichtig zu machen. Dabei geht er von der Voraussetzung aus, daß reformatorische „Ideen" durch gesellschaftliche Erfahrungen geprägt, mehr noch hervorgebracht werden. „Die Ideen enthüllen ihren Sinn nur, wenn wir uns ihnen über ihre gesellschaftliche Verwurzelung, über die Kräfte, die ihnen Form geben, nähern." 64 Als richtungs- und formgebende Kraft der Reformation diagnostiziert Goertz vor allem den „Antiklerikalismus". 65 Die antiklerikale Agitation reüssiert in seinen Veröffentlichungen sukzessiv zum auffälligsten gemeinsamen Kennzeichen aller reformatorischen Bewegungen, unabhängig von Trägerschaft, geographischem „Setting" und spezieller Ausprägung der reformatorischen Botschaft. 66 60 Vgl. Stayer ; Peasants' War, 14: „Theology will always hold a place of significance in Reformation studies." « Vgl. ebd., 16. 62

Vgl. C. A. Snyder, Anabaptist History and Theology, Kitchener 1995,4. Vgl. H.-J. Goertz , Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen 1517-1529, München 1987,25; ders., Umgang mit der Geschichte, Hamburg 1995. 64 Goertz, Pfaffenhaß, 28 f. 65 Vgl. die Ausführungen zum Antiklerikalismus im „Ertrag" der vorliegenden Untersuchung. 66 Vgl. Goertz, Epoche, 50. 63

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

In seinem Ansatz erhält die Religion den Rang eines „Mediums der Legitimierung", einerseits zur Stabilisierung gesellschaftlicher Ordnung, als andererseits auch zum sozialen Wandel. Die Arbeit von Kirchenhistorikern kann er daher nur positiv werten, wenn sie seinen dargelegten geschichtstheoretischen Grundansatz teilen und bereit sind „die historisch-gesellschaftliche Gebundenheit theologischer Ideen aufklären zu helfen." 67 Die Konsequenzen dieses Programms lassen sich in allen seinen Arbeiten aufweisen, wobei in diesem Zusammenhang besonders der Bereich der Täuferforschung interessiert. Bereits im Aufbau seiner Darstellung der Täuferbewegung (in erster Auflage von 1982) zeigen sich die Folgen dieses theoretischen Ansatzes. Goertz beginnt mit den kirchenpolitischen Erfahrungen der einzelnen Gruppierungen und erläutert erst in einem zweiten Schritt die Grundzüge täuferischer Theologie. Ihre Situationsgebundenheit und Dependenz von historischen Erfahrungen versucht Goertz anhand verschiedener dogmatischer Topoi nachzuweisen. Demnach sei die je spezifische Rechtfertigungslehre von Hans Denck, Balthasar Hubmaier und Menno Simons durch die antiklerikale Situation geformt worden. 68 Das divergierende Taufverständnis entspricht s. E. den unterschiedlichen kirchenpolitischen und gesellschaftlichen Erfahrungen der täuferischen Theologen. 69 Gleiches gilt für die rigide Anwendung der Kirchenzucht, die nach Goertz als ein nach innen gerichteter Antiklerikalismus interpretiert werden könnte 70 , wodurch die legitimierende Kraft religiöser Ideen zum Tragen käme. „Die Aggressionen gegen den alten und neuen Klerus, aus denen sich das kirchliche Selbstverständnis der Täufer herausbildete, wurden jetzt gegen die vermeintlichen Feinde im Inneren gewendet, um die stets angefochtene Identität der Gruppe sichern zu helfen." 71

Die Ausbildung täuferischer Ekklesiologie resultierte folgerichtig aus kirchenpolitischer Erfahrung und wird durch die sozialen Verhältnisse bzw. Lebensführung der einzelnen Theologen geprägt. Obwohl Goertz im Nachhinein die grundsätzliche Aussagekraft seiner Interpretation selbst in Zweifel zieht, führt seine sozialgeschichtliche Prämisse immer wieder zu vereinfachenden Schlußfolgerungen, wenn er etwa zur Begründung für die unterschiedlichen Ekklesiologien Hans Huts und Pilgram Marpecks schreibt: „Der eine zog umher und führte ein unstetes, umgetriebenes Leben: daher das spiritualisierende individualistisch aufgelöste Kirchenverständnis. Der andere war Bürger in zwei wichtigen Reichsstädten und stand sogar in ihren Diensten: daher das Konzept einer aufgeschlossenen Freikirche." 72 67

Goertz, Pfaffenhaß, 29. Vgl. Goertz, Täufer, 75.72. 69 Vgl. ebd., 92. ™ Vgl. ebd., 108. 72

Ebd., 101. Ebd., 104.

2.3 Entwicklungen in der neueren Religionssoziologie

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Goertz relativiert diese reduktionistische Deutung wesentlich komplexerer Sachverhalte anschließend selbst. Der Duktus des Gedankenganges sowie das Interpretationsschema ist bei allen theologischen „Loci" seiner Studie „Die Täufer" weitgehend identisch. Gesellschaftliche Erfahrungen in einem antiklerikalen Milieu verdichten sich zu theologischen Einsichten. Goertz hält es für eine besondere Eigenart der Täufer, politisch-soziale Erfahrungen „in die theologischen Aussagen so hineinzuziehen, daß beide nicht mehr voneinander getrennt werden können". 73 Der Antiklerikalismus, dem nahezu ubiquitäre Qualität zugesprochen wird, fungiert als Wurzelgrund aller theologischer Lehrbildung. 74 Es ist ohne Zweifel ein Verdienst von H.-J. Goertz, daß er seine methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen offenlegt. Dadurch sind die mit diesen Prämissen korrespondierenden Ergebnisse auch für jene Historiker einsichtig, die seinen Ansatz nicht teilen. Allerdings liegt in dieser Grundkonzeption auch der Ansatzpunkt zur Kritik. Goertz' Behauptung, daß eine gewinnbringende Kooperation mit der Kirchengeschichte nur erfolgen könne, wenn der Theologe seine Standortbindung aufgebe und sich mit der sozialgeschichtlich definierten Prämisse identifiziere, die Goertz an anderer Stelle als methodischen Atheismus bezeichnet, muß m. E. mit einer eindeutigen Offenlegung der Methode und des Gegenstandes der Kirchengeschichte als historischer Theologie begegnet werden. Zuvor sollen jedoch neue Tendenzen innerhalb der Religionssoziologie dargestellt werden. 75

2.3 Entwicklungen in der neueren Religionssoziologie U m die reduktionistische Tendenz der sozialgeschichtlichen Deutung des frühen Täufertums zu verdeutlichen, sollen im folgenden verschiedene Ansätze der Religionssoziologie kurz skizziert und auf ihre Bedeutung für unsere Fragestellung untersucht werden. Während in den historiographischen Veröffentlichungen, u. a. von H.-U. Wehler 76 , religiösen Phänomenen kaum Rechnung getragen wird, kommen den Faktoren der Kontingenzerfahrung und des religiösen Erlebnisses in neueren Arbeiten zur Religionssoziologie größere Aufmerksamkeit zu. Auch in der an Idealtypen orientierten soziologischen Forschung lassen sich Ergebnisse aufweisen, die dem monokausalen Interpretationsschema der Sozialgeschichte widersprechen. Selbst in rein 73

Ebd., 155. Vgl. zum Phänomen des „Antiklerikalismus" die kritischen Einwände von Ä Moeller, Reichsstadt und Reformation, Berlin 21987,75. 75 Vgl. zur Auseinandersetzung um einen methodischen bzw. systematischen Atheismus: Hempehnann, Erkenntnis, 292 f. 76 Vgl. Besier, Religion, 183 f. 74

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

funktionalistischen Zugängen zur Religionssoziologie finden sich Kriterien für religiöse Bewegungen, die aufgrund ihrer Komplexität eher in die Lage versetzen, die Frühzeit des täuferischen Aufbruchs zu deuten, als die auf den ökonomischen Interessenskonflikt bzw. den Kampf gegen den Klerus festgelegte sozialgeschichtliche Forschung. Seit Mitte der 60er Jahre ist ein verstärktes Interesse an der sozio-strukturellen Bedeutung von Religion und religiösen Institutionen in der Soziologie wahrzunehmen. 77 Religion als anthropologische Konstante gehört in neueren Studien zum zentralen Bereich einer Theorie der Gesellschaft. Dabei erhält die Religion unter funktionalistischer Betrachtungsweise ihren Wert vor allem durch ihre stabilisierende Wirkung zur Aufrechterhaltung des Wertesystems einer Gesellschaft. Interesse weckt auch die Interdependenz religiöser Ideen und des gesellschaftlichen Wandels.

2.3.1 Die klassische Religionssoziologie und ihre Bedeutung für die heutige Forschung Ausgangspunkt der soziologischen Erforschung der Religion ist die Religionskritik des 19. Jahrhunderts. Feuerbachs Projektions these und Marx' „BasisÜberbau"-Erklärungsmodell wirken bis heute vulgarisiert und popularisiert in vielfältiger Form in soziologischer und sozialgeschichtlicher Forschung fort. 78 Religion erscheint als menschliche Setzung, wobei der Bezug zu einer möglichen Transzendenz völlig ausgeblendet wird. Im Rahmen dieser Interpretation sind die Produktionskräfte und -Verhältnisse Grundlage und Wurzel des gesellschaftlichen Überbaus der Ideen und Institutionen. Gleichzeitig werden auch die negative Wertung der Religion und ihrer Institutionen als retardierende Elemente für den gesellschaftlichen Wandel prolongiert. Religiöse Ideen geraten im Zuge dieser Kritik zu Epiphänomenen von Klasseninteressen. Seit M. Weber hat die Selbstreflexion des Erkenntnissubjekts auf sein Vorverständnis in der Sozialwissenschaft kaum noch Raum. Weber analysierte nicht länger das „Wesen" der Religion, sondern ihre äußeren Erscheinungsformen, ihre gesellschaftlichen Bedingungen und Wirkungen. 79 Er ließ dabei die Frage nach der transzendenten Konstitution der Religion und nach den Entstehungsbedingungen religiöser Ideen aufgrund einer s. E. sachgemäßen methodologischen Beschränkung der Soziologie unbeantwortet. Die Katego77

Vgl. I. Mörth y Vor einer Renaissance der Religionssoziologie?, in: Herder Korrespondenz 34, 1980, 33; K.-F. Daiber, Sinngebung für die Gesellschaft, in: Lutherische Monatshefte 19 (1980), 464; K. W. Dahmy Religion - falsches Bewußtsein einer verkehrten Welt: Karl Marx, in: Ders. / V. Drehsen / G. Kehrer (Hg.), Das Jenseits der Gesellschaft, München 1975,19. 78 Vgl. Dahm, Bewußtsein, 27. 79 Vgl. R. Neu, Religionssoziologie als kritische Theorie, Frankfurt a. M. 1982,75.

2.3 Entwicklungen in der neueren Religionssoziologie

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rie des religiösen Erlebnisses hat in diesem reduktionistischen Methodenkanon keine Bedeutung mehr. Während Marx davon ausging, daß sich religiöses Denken in Abhängigkeit von seinen materiellen Entstehungsbedingungen ausbildete und damit zur Konstitution von Religion Stellung nahm, untersuchte Weber vornehmlich die Einwirkung religiöser Bewußtseinsinhalte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. 80 Die Konzentration auf die deskriptive Untersuchung religiöser Ideen im Beziehungsgeflecht der Gesellschaft wird dadurch zum eigentlichen Ziel religionssoziologischer Arbeit. Das irrationale Element des Religiösen sowie der Transzendenzbezug sind heute im Gefolge Webers weitgehend aus der soziologischen Erforschung verschwunden. Religion hatte jedoch für Weber eine konstitutive Bedeutung bei der Entstehung und Ausgestaltung des neuzeitlichen Kulturzusammenhangs. 81 E. Durkheim begründete die positive empirische Soziologie, in der nur objektive, wertfreie und distanzierte Forschungsmethoden zur Anwendung kommen sollten. In seinen Untersuchungen avancierte die Religion zum gemeinschaftsstiftenden Element jeder Gesellschaft. 82 Letztlich bringe die Gesellschaft zu ihrer eigenen Hypostasierung die Religion aus sich hervor. Somit hat die Religion ihren Ursprung in kollektiven Anschauungen, die zum Erhalt der jeweiligen Gesellschaft sakral überhöht werden. Die religionssoziologische Untersuchung konzentriert sich in Folge dieses Ansatzes auf die Funktion religiöser Tatbestände für die jeweüige Gesellschaft. 83 Dürkheims funktionalistischer Ansatz markiert den Übergang von der Gesellschaftstheorie zur Systemtheorie. Stärker als bei Durkheim ist G. Simmel an der Funktionalität der Religion im Blick auf das Individuum orientiert. Religion dient zur Erfüllung sublimer Bedürfnisse des Menschen, der durch sie seine fragmentarische Existenz zu transzendieren vermag. Ebenso wie bei Durkheim ist für Simmel die Religion ein konstitutives Strukturmerkmal jeder Gesellschaft. Sie wirkt als integrative Kraft, die zur gesellschaftlichen Systemerhaltung entscheidend beiträgt. 84 Religion wird dementsprechend nicht länger nach ihrer Ursache befragt, sondern ausschließlich nach ihrer Bedeutung zur Stabilisierung der Gesellschaft. Als Urheber der vor allem in den USA sehr einflußreichen funktionalistischen Betrachtungsweise der Religion sind ferner B. Malinovski und T. Parsons zu nennen. 85 Ausschlaggebend für die Religion ist die menschliche Erfah80

Vgl. ebd., 80. Vgl. V Drehsen, Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber, in: Dahm / Drehsen / Kehrer (Hg.), Jenseits, 112 f. 82 Vgl. V Drehsen, Religion - der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft: Emile Dürkheim und Georg Simmel, in: Dahm / Drehsen / Kehrer (Hg.), Jenseits, 64 ff.; Neu, Religionssoziologie, 121 ff. 83 Vgl. Neu, Religionssoziologie, 122. 84 Vgl. Drehsen, Zusammenhalt, 85 f. 85 Vgl. V. Drehsen / G. Kehrer, Religion- die logische Notwendigkeit der Gesellschaft: Bronslaw Malinovski und Talcott Parsons, in: Dahm / Drehsen / Kehrer (Hg.), Jenseits, 155-172. 81

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rung der Kontingenz des eigenen Lebens, die durch religiöse Handlungen und Vorstellungen bewältigt werden kann. Religion antwortet so auf die Krisenhaftigkeit menschlichen Daseins (ζ. B. anläßlich von Geburt, Ehe, Tod) und vermag gesellschaftszerstörende Impulse der Unsicherheit und Desorientierung zu transzendieren. Als „integrierendes Krisenmanagement" 86 trägt die Religion entscheidend zur Bestandssicherung der jeweiligen Gesellschaft bei. Im Gegensatz zur Religionssoziologie im direkten Gefolge marxistischer Interpretation wird die Religion durch den funktionalistischen Ansatz zu einem notwendigen Element jeder Gesellschaft. Auch Parsons begreift die Religion als notwendiges Erfordernis jeder Gesellschaft, um das kulturelle Wertesystem, das ständig durch destabilisierende Faktoren gefährdet ist, zu erhalten. Die Religion vermag nach Parsons nicht nur das herrschende Wertesystem mit dem Hinweis auf seine göttliche Genese zu legitimieren, sondern auch die individuellen und kollektiven Erfahrungen von Leiden und Frustrationen positiv zu deuten. Der bewahrende und systemstabilisierende Charakter der Religion tritt in der funktionalistischen Religionssoziologie deutlich in den Vordergrund, während die Auswirkung religiöser Bewegungen auf den gesellschaftlichen Wandel fast vollständig unberücksichtigt bleiben. I m kritischen Rationalismus, dessen Wissenschaftsbegriff in Analogie zu den Naturwissenschaften sich ausschließlich auf die objektivierbare empirische Methode stützt, gerät die religionsphänomenologische und theologische Religionsforschung unter einen grundsätzlichen Ideologievorwurf. 87 Durch die implizite Absage an jede Metaphysik und Erkenntnistheorie erfolgte gleichzeitig eine scharfe Unterscheidung von „wissenschaftlicher" und „unwissenschaftlicher" Theoriebildung, die sich auch in heutigen Werturteilen über kirchengeschichtliche Forschungen niederschlägt. 88 2.3.2 Neuere Entwicklungen in der Religionssoziologie Ohne Zweifel wirkt die zunächst durch E. Durkheim und G. Simmel initiierte funktionalistisch-strukturelle Untersuchung der Religion in der heutigen empirisch-analytischen Religionssoziologie weiter. 89 Alle neueren religi86

Ebd., 161. Vgl. Neu, Religionssoziologie, 109 ff., 112. 88 Vgl. H. Hempelmann, „Erkenntnis aus Glauben". Notwendigkeit und Wissenschaftlichkeit von Kirchengeschichte und Kirchlicher Zeitgeschichte als theologische Disziplinen, in: K Z G 2,1997,272 f. 89 Vgl. zu E. Durkheim: J. Barnhart, The Study of Religion and its meaning. New explorations in light of Karl Popper and Emile Durkheim, The Hague 1977; H. Coenen, Diesseits von subjektivem Sinn und kollektivem Zwang, München 1985; vgl. zu G. R. Simmel: H.-J. Helle, Soziologie und Erkenntnistheorie bei Georg Simmel, Darmstadt 1988; P.O. Ullrich, Immanente Transzendenz. Georg Simmeis Entwurf einer nachchristlichen Religionsphilosophie, Frankfurt a. M. 1981; N. Ebers, „Individualisierung". Georg Simmel, Norbert Elias, Ulrich Beck, Würzburg 1995. 87

2.3 Entwicklungen in der neueren Religionssoziologie

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onssoziologischen Studien beruhen auf der funktionalistischen Methode. Die einseitige Interpretation der Religion als logische Notwendigkeit der Gesellschaft wird jedoch selbst von funktionalistischen Forschern kritisiert (ζ. B. Yinger, O'Dea). 9 0 So werden der Religion in neueren Untersuchungen auch dysfunktionale Elemente zuerkannt. Religionssoziologen wie Th. Luckmann und N. Luhmann 91 bestätigen die These, wonach die Religion als logische Notwendigkeit und anthropologische Konstante sozialer Systeme zu begreifen ist. Nach Luhmann vermag die Religion durch Reduktion von Weltkomplexität entscheidend zur sinnhaften Orientierung des Individuums beizutragen. Die Gesellschaft wird als „flexibles Beziehungsgeflecht" gesehen, in dem die Religion eine systemwahrende Funktion übernimmt. Die Kontingenz gesellschaftlicher Phänomene (ζ. B. verlorener Krieg, unterprivilegierte Gesellschaftsschicht) können mittels der religiösen Normen und Institutionen bewältigt werden. Religion fungiert demnach als darstellende und vermittelnde Instanz grundlegender Sinnsysteme, als Begleitung in existentiellen Krisensituationen und als Mittel der gesellschaftlichen und individuellen Stabilisierungssicherung. Yinger, der in der Religion ebenfalls in erster Linie eine „integrierende Ordnungsmacht" der Gesellschaft sieht, richtet die Aufmerksamkeit auf sog. „funktionale Äquivalente", die als Pseudoreligion in der neuzeitlichen Gesellschaft die Funktion der Religion übernehmen. 92 Auch bei Yinger ist die der Systemtheorie eigentümliche Fixierung auf die Gegenwart zu kritisieren, dem keine entsprechende Theorie über den gesellschaftlichen Wandel korrespondiert. O'Dea bemängelt den ausschließlich konservativen Deutungshorizont religiöser Ideen und Institutionen im funktionalistischen Ansatz, dem er sich dennoch verbunden weiß. Er stellt fest, daß Religion durchaus dazu in der Lage ist, Konventionen zu brechen, Momente des gesellschaftlichen Protestes zu enthalten und zum gesellschaftlichen Wandel beizutragen. Krisensituationen, auf die die Religion zu antworten sucht, führen daher s. E. nicht automatisch zur Akkommodation an traditionelle gesellschaftliche Werte, sondern können ein neues Wertebewußtsein initiieren. Krisen werden dadurch zu Chancen neuer Identitätsfindung des Einzelnen, die wiederum Rückwirkung auf die herkömmliche Identität der Gesellschaft habe. Religion transzendiert für O'Dea die Alltagserfahrungen 93 und überwindet die Unsicherheit der individuellen Kontingenzerfahrung. Religiöse Rituale und Normen tragen dazu bei, Leiden und Frustration zu kompensieren, eine Bezie90 Vgl. Neu, Religionssoziologie, 129; V Drehsen / G. Kehrer, Religion - ein gesellschaftlicher Agent für Stabilität oder Wandel?, in: Dahm / Drehsen / Kehrer (Hg.), Jenseits, 175. 91 Vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984. 92 Vgl. Neu, Religionssoziologie, 185. 93 Vgl. Th. OfDea y The Society of Religion, New Jersey 1966,4.

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hung zur Transzendenz zu vermitteln und zur Individuation beizutragen. O'Dea bietet ein breites funktionales Bedeutungsspektrum der Religion, in das auch Elemente des Trostes, der emotionalen Hilfestellung, der Schuldbefreiung und der Werteorientierung integriert sind. 94 Die konservative Funktion der Religion sei im Gegensatz zu ihrem kreativen und innovativen Charakter zu stark betont worden. Die neueren Studien zur Religionssoziologie zeigen einen bedeutsamen Wandel innerhalb dieser relativ jungen Forschungsrichtung an. Ausgehend von der Religionskritik des 19. Jahrhunderts, in der die Religion in starrer Diastase zur Gesellschaft und letztlich als ein zu überwindendes Relikt einer früheren Entwicklungsstufe der Menschheit interpretiert wurde, avancierte die Religion zu einem sozial konstitutiven Faktor jeder Gesellschaft. Eine Gesellschaft ohne Religion als „Grunddisposition" 95 des Menschen ist nicht länger vorstellbar. Dieser Bedeutungsgewinn der Religion innerhalb der Soziologie ist zunächst zu begrüßen. Sie erscheint nicht länger ausschließlich als Ideologie der herrschenden Klassen, die durch religiöse Normen und Institutionen ihre wirtschaftlichen Interessen camouflieren. Religion wird nicht mehr als reine „Verdeckung und Hypostasierung der Widersprüche der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft" 96 verstanden, sondern bekommt eine weitaus komplexere Funktionalität zugeordnet. Sie ergänzt die als fragmentarisch erlebte Wirklichkeit und läßt Handlungen und Situationen sinnvoll erscheinen (kognitive Bedeutungsinvestition). 97 Religion legitimiert und verdeutlicht zugleich die Wertebasis einer Gesellschaft (moralische Werteintegration). 98 Schließlich kompensiert sie die gesellschaftlichen und individuellen Erfahrungen von Kontingenz, Abhängigkeit und persönlicher Insuffizienz, wodurch Menschen zum sinnvollen und sozial verantwortlichen Handeln fähig werden. Der Stellenwert von Religion bemißt sich daher nicht mehr nur aufgrund ihrer „Paßfähigkeit" zu ökonomisch motivierten Interessenskonflikten innerhalb einer Gesellschaft. Dieser einseitigen Wertung des religiösen Faktors, der im Grunde die Positionen der Religionskritik prolongiert, wird eine eindeutige Absage erteilt. In der sozialgeschichtlichen Forschung, speziell im Bereich der Täufergeschichte, dominierte lange Zeit eine reduktionistische Interpretation der Religion. Das belegt die ständig repetierte Korrelation zwischen politischem Autonomiestreben, das auf ökonomischer Depravation beruhe, und der frühreformatorischen bzw. täuferischen Theologie als Deutungsmuster für 94

Vgl. ebd., 14. V Drehsen, Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion, in: Dahm / Drehsen / Kehrer (Hg.), Jenseits, 300. 96 /. Mörth, Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion, Stuttgart u. a. 1978,15. 97 Vgl. Drehsen, Interesse, 301. 98 Vgl. ebd., 303. 95

2.3 Entwicklungen in der neueren Religionssoziologie

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die Ausbreitung der täuferischen Bewegung. Z u der ökonomisch begründeten Motivation tritt in den neueren Studien vor allem der Haß auf den Klerus als treibende Kraft der reformatorischen Bewegungen. Ein anderer Sinngehalt der Religion, wie Bewältigung von Kontingenzerfahrung, Trost- und Sinnvermittlung, Bezug zur Transzendenz etc. wird nicht hinreichend berücksichtigt. Dennoch ist auch diese positive Erweiterung der soziologischen Interpretation des Phänomens Religion aporetisch. Die Verneinung der metaphysischen Wirklichkeit und des Bezuges zur Transzendenz verbindet die Sozialgeschichte mit der marxistischen Tradition der Religionskritik. Die Ausblendung jeglichen Transzendenzbezuges beeinflußt jedoch die wissenschaftliche Erforschung der Religion fundamental." Auf die berechtigte Kritik der religionsphänomenologischen Forschung an der Religionssoziologie, die sich im Gefolge R. Ottos, P. D. Chantepie de la Saissaye und G. van der Leeuw dem religiösen Erleben als Zeichen der Autonomie des religiös Irrationalem zuwendet, soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. 100 Festzuhalten bleibt jedoch, daß diese Forschungsrichtung davon ausgeht, daß die religiöse Erfahrung „Typen des kognitiven, aktiven und sozialen menschlichen Verhaltens" 101 impliziert, die in ihrem jeweiligen Kontext zu analysieren sind. Yinger, der selbst der funktionalistischen Religionssoziologie zuzurechnen ist, plädiert dafür, die Religion bzw. die religiöse Ideenwelt nicht nur als wertkonservativ, sondern auch als innovativ zu bewerten. 102 Existentiale Ideen hätten ein Maß an Autonomie und initiativer Kraft, das nicht mit den gesellschaftlichen Umständen hinreichend erklärt werden könnte. Selbst Weber habe, so Yinger, den charismatischen Ursprung von Ideen berücksichtigt, die auf dem Weg der Routinisierung und Funktionalisierung ihre Bedeutung für die Sozialität gewannen. Der Einfluß religiöser Ideen muß, wie Yinger feststellt, kontextuell betrachtet werden, wobei er von einer Interaktion zwischen Religion und Gesellschaft ausgeht. Demnach können Glaubensvorstellungen den wirtschaftlichen Prozeß hindern (ζ. B. die hinduistische Lehre vom „Karma") oder befördern (z. B. die Erwählungslehre des Calvinismus). Yinger behauptet, daß die Religion einen initiatorischen und kausativen Einfluß auf den Wandel der Gesellschaft haben kann. „Religious beliefs and group patterns may contribute to a slow down of effort, to ,absentism from this world 4 , or to vigorous activity and intensive efforts to change the world." 1 0 3 Yinger betont, daß die Weltsicht des einzelnen durch Glaubensvorstellungen und 99

Vgl. Mörth, Wirklichkeit, 19. Vgl. G. Lanckowski, Einführung in die Religionsphänomenologie, Darmstadt 1978,31 f.; Neu, Religionssoziologie, 101 ff. ιοί N e U y Religionssoziologie, 102. 100

ι 0 2 Vgl. / M. Yinger; The Scientific Study of Religion, London 1970,508. i°3 Ebd., 527.

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

Gruppenidentitäten entscheidend geprägt werde. Hier deutet sich eine neue Wertschätzung der unabhängigen Rolle des religiösen Faktors an, die der reduktionistischen Sicht im Gefolge der Religionskritik vorzuziehen ist. Umstritten ist auch in der neueren Religionssoziologie, was als ihr Gegenstands- und Forschungsbereich anzusetzen ist. I m Blick auf die Diskussion um einen allgemeinen Religionsbegriff faßt Mörth die verschiedenen Ergebnisse als konkurrierende inklusive oder exklusive Definition zusammen. 104 „Inklusiv sind Auffassungen, die allen sozialen Phänomenen, denen bestimmte Funktionen, wesentlich ζ. B. die Funktion der Kontingenzbewältigung, zuschreibbar sind, als Bereich der Religionssoziologie zu betrachten; exklusiv solche, die den ausdrücklichen Bezug zum Transzendenten, Heiligen betonen und nur solche Phänomene, die diesen Bezug explizit erkennen lassen, als Religion gelten lassen."105

Mörth formuliert damit Fragen, die eine religionssoziologische Theorie der Religion, die einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, beantworten muß. Diese „Ansprüche" stellen die Ergebnisse der systemtheoretischen und funktionalistischen Ansätze in der Religionssoziologie in Frage und verdeutlichen zugleich ihre Aporien. Eine solche Theorie müßte die Genese religiöser Vorstellungen eruieren und den Wandel religiöser Erscheinungsformen plausibel machen können. Das Problem der Institutionalisierung von Religion gilt es zu beachten, wobei geklärt werden müßte, in welchen Sozialformen sich Religion gesellschaftlich konkretisiert. 106 Eine wichtige Frage ist dabei, wie Religion als Sinngebung für die individuelle wie die kollektive Existenz fungiert. Eine allgemeine Religionstheorie müßte den Wandel religiöser Phänomene berücksichtigen und erklären können. Als wohl schwierigste Anfrage bleibt, warum in unterschiedlichen Kontexten je verschiedene Religionsformen entstehen. Auch in der Historiographie wird im Gegensatz zu den 70er Jahren die Bedeutung der Religion - wohl auch in Analogie zu den neueren religionssoziologischen Studien - wiederentdeckt. Dabei ist vor allem auf die Werke Th. Nipperdeys zu verweisen. 107

2.4 Kirchengeschichtsschreibung als historische Theologie Die Kirchengeschichte gehört zum Kanon der theologischen Disziplinen und partizipiert durch ihre Fragestellung gleichzeitig an der allgemeinen Ge104

Vgl. Mörth, Renaissance, 36. Ebd. «* Vgl. Mörth, Wirklichkeit, 22. 107 Vgl. G. Bester, Religion, Nation, Kultur. Die Geschichte der christlichen Kirchen in den gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts, Neukirchen-Vluyn 1992, 182 f. 105

2.4 Kirchengeschichtsschreibung als historische Theologie

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schichtswissenschaft. Ihr ist daher die Verhältnisbestimmung zur historischen Wissenschaft als ihrem „natürlichen Ort" und der Theologie als ihrem unverzichtbaren „gegebenen Ort" auf getragen. 108 Für den Historiker wie den Theologen gilt, daß er den Bezugsrahmen seiner Forschungsarbeit darlegen muß, um eine intersubjektive Kommunikation zu ermöglichen. 109 Dabei ist die klare Unterscheidung zwischen Entdeckungszusammenhang und Begründungszusammenhang unverzichtbar. „Ist die Rationalität für den Begründungszusammenhang gewährleistet, kann ein weltanschauliches, religiöses, metaphysisches Interesse eines Wissenschaftlers im Sinne einer wissenschaftsgenerativen Funktion dieses Entdeckungszusammenhangs nicht nur geduldet, sondern geradezu begrüßt werden." 110 Eine offenbare Standortbindung wirkt sich keineswegs als Belastung des wissenschaftlichen Diskurses aus, sondern fördert vielmehr die objektive Nachprüfbarkeit der Forschungsergebnisse, die in Korrelation zu dem gesetzten metahistorischen Interpretationsrahmen verifiziert oder widerlegt werden können. Obwohl die Theologie in ihrer Wissenschaftlichkeit umstritten ist 1 1 1 , empfängt die Kirchengeschichte als theologische Disziplin aus Sicht des Kirchenhistorikers „ihre wissenschaftliche Legitimation aus ihrer Beziehung zur Theologie." 112 Die Relation der Kirchengeschichte zu den übrigen theologischen Disziplinen und nicht ihre Integration in die allgemeine Geschichtswissenschaft gewährleistet ihre Sachgemäßheit und Wissenschaftlichkeit. In seinen grundlegenden Ausführungen zum Fächerkanon der Theologie formuliert E. Jüngel die umgreifende Konstante aller theologischer Arbeit, die ihre Einheit und damit ihre Wissenschaftlichkeit garantiert: „Die Theologie ist eine in allen ihren Teilen auf das Ereignis des Wortes Gottes bezogene und allein in diesem Bezug sich konstituierende Wissenschaft." 113 Die Kongruenz der einzelnen theologischen Disziplinen mit den Methoden, Fragestellungen und Erkenntniswegen sonstiger wissenschaftlicher Arbeit ist nicht zu leugnen. Ihre Einheit und Legitimität als Wissenschaft wahrt die Theologie im Kreise der anderen Wissenschaften jedoch nur, wenn sie sich stetig auf den einheitsstiftenden Grund und den Gegenstand ihrer Erkenntnis, d. h. das Ereignis des Wortes Gottes, bezieht. Die fundamentale Voraussetzung für die Einheit der theologischen Disziplinen ist, los Vgl £ Jüngel, Das Verhältnis der theologischen Disziplinen untereinander, in: Ders., Unterwegs zur Sache, München 1972, 37,43. 109 Vgl. Besier, Religion, 119 ff. Besier stellt hier die Voraussetzungen und Probleme der gegenwärtigen Kirchengeschichtsschreibung dar; vgl. auch Uhlig, Funktion, 94, 201 f.; G. B. Winkler, Kirchengeschichte. Kirchengeschichte als historische Theologie, in: Theologisch-Praktische Quartalsschrift, Jg. 137,1989,151. 110 Hempelmann, Erkenntnis, 299. 111 Vgl. Jüngel, Verhältnis, 36 ff.; F. Mildenberger, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1981,13 f. 112 W Λ. Bienert, Kirchengeschichte Teil I, in: Ders. / G. Koch, Kirchengeschichte I Christliche Archäologie, Stuttgart/B erlin/Köln 1989,16. 113 Jüngel, Verhältnis, 54.

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Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

„daß es dasselbe Ereignis des Wortes Gottes ist, das in seinem GeschehenSein historisch erklärt und erneut Geschehendes geschichtlich verantwortet werden will." 1 1 4 Ausgehend von diesem Axiom, definiert sich die Kirchengeschichte nicht über die Geschichtswissenschaft, als Spezialfall der allgemeinen Geschichte, sondern von der Theologie her, als Geschichte der Kirche Jesu Christi bzw. als „Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift" (G. Ebeling). 115 Das Proprium der Kirchengeschichte ist demnach ihre „Platzanweisung" innerhalb der Theologie, die ihr „gegebener Ort" ist, den sie nur unter Verlust ihrer Legitimität aufgeben kann. Die konsequente Einbindung der Kirchengeschichte in die Theologie, die scheinbar den wissenschaftlichen Dialog erschwert, wenn nicht gar desavouiert, kann sich m. E. als klärende Prämisse erweisen, die ein intensives Gespräch über den Horizont der eigenen Wissenschaft hinaus eröffnet. Die Offenlegung des metahistorischen Vorverständnisses ist auch für den Allgemeinhistoriker unverzichtbar. Die erkenntnisleitenden Interessen, die implizite Gesamtschau der Geschichte sowie der intendierte Gegenwartsbezug historischer Arbeit sollten kritisch reflektiert und zum Nutzen des gegenseitigen Verstehens in den Forschungsprozeß eingebracht werden. Dabei ist die Einschätzung der geschichtsmächtigen Faktoren bzw. des einen Faktors - sei es das Kollektiv, die Ökonomie oder das selbstbewußte Humanum ohne Bezug zur Transzendenz - ebenso als ideologische Prämisse anzusehen, wie der oben skizzierte theologische Interpretationsrahmen. 116 Ihnen gegenüber erhebt die theologische Kirchengeschichtsschreibung den Anspruch, daß religiös-weltanschauliche Motive öffentlichkeitsrelevant und geschichtlich gestaltungskräftig sind. In welchem Maße das weltanschauliche Vorverständnis auch innerhalb der sozialgeschichtlichen Forschung am Täufertum den Erkenntnisprozeß beeinflußt, läßt sich an den verschiedenen Studien aufzeigen. Die gesellschaftliche Determiniertheit formte ihr Bild der Täuferbewegung. Nicht die Eindeutigkeit dieses Bezugsrahmens behindert einen fruchtbaren Dialog, sondern die erhobene Forderung, daß die Kirchengeschichte ihren „dogmatischen" Standort aufgeben und eine Akkommodation an die uneingestandenen ideologischen Prämissen der Sozialgeschichte vornehmen sollte. SozialgeschichtEbd. Vgl. G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfession, 1969,9-27. 116 Vgl. dazu Hempelmann, Erkenntnis, 273: „Grundsätzlich ist ja gegenüber einem dogmatisch, naturalistisch in sich geschlossenen Wirklichkeits- und Geschichtsverständnis und seiner Kritik an einer theologischen Fragestellung die Rück- und Gegenfrage angebracht, ,ob die Meinung, daß die Geschichte und Kirchengeschichte rein von Menschen gewirkte Erscheinungen seien ohne jeden transzendenten Bezug, etwa keine weltanschauliche Voraussetzung4 darstellt, mithin eine metaphysische Vorgabe bedeutet, die sich erkenntnistheoretisch auswirken kann." 115

2.4 Kirchengeschichtsschreibung als historische Theologie

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lieh orientierte Forscher begrüßen in diesem Sinne nachhaltig die gelungene Befreiung der Kirchengeschichtsforschung vom Ballast konfessioneller Dogmatik, kirchlichen Bindungen und theologischen Deutekategorien. Eine sich theologisch verstehende Kirchenhistoriographie wird von ihnen daher verständlicherweise als methodologischer Rückschritt auf dem Weg der „Emanzipation von theologisch-klerikaler Rückbindung" 1 1 7 verstanden. Es bleibt jedoch zu bezweifeln, ob die Kirchengeschichte die in einer sozialgeschichtlichen Gesamtschau der Geschichte implizierten Prämissen übernehmen kann. H. Oberman warnt m. E. zurecht vor einer „Hypostasierung" politischer oder sozialer Sachzwänge, mit der ein „Verlust des Gespürs für Kontingenz als Grundstruktur der Geschichte" 118 verbunden ist. Hempelmann weist auf die Gefahr hin, daß das Postulat eines methodischen Atheismus zur weltanschaulichen Position mutieren kann, die den Gottesgedanken a priori ausschließt. Dann würde aus einem „methodisch-reduzierten Anspruch auf Beschreibung der Welt" 1 1 9 letztlich ein Anspruch auf Welterklärung. Dies bedeutet keineswegs, daß die Kirchengeschichte nicht von den Methoden der Sozial-, Mentalitäts- und Alltagsgeschichte profitieren kann. I m Gegenteil, die Kirchengeschichte partizipiert an allen fachspezifischen wissenschaftlichen Methoden, wetteifert in der historisch-kritischen Arbeit an den Quellen und vermag so „kompatible" Forschungsergebnisse zu erbringen, ohne jedoch auf ihren eigenen theologischen Bezugsrahmen zur Geschichtsdeutung zu verzichten. Gerade diese Vorgehensweise macht die Ergebnisse der Kirchengeschichte für jeden Historiker, auch für den dezidiert atheistischen Forscher, nachvollziehbar. In bezug auf die Qualität ihrer quellenkritischen Bemühung und ihrer argumentativen Stringenz ordnet sich die Kirchengeschichte in ihren „natürlichen Ort" der Geschichtswissenschaft ein, während sie in der Wertung und Deutung der Geschichte in keiner Weise ihren „gegebenen Ort" in der Theologie aufgeben darf. Die Darlegung der Voraussetzungen und Methoden kirchenhistorischer Forschung sind ein unumgänglicher Beitrag für einen Diskurs mit der Allgemeinhistoriographie. Nach der a priori vorgenommenen Definition der Kirchengeschichte im Anschluß an G. Ebeling als „Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift", soll nun der Gegenstand der Kirchengeschichte etwas näher bestimmt werden. In positiver Anknüpfung an Ebeling, der sich intensiv um die theologische Grundlegung der Kirchengeschichte bemüht hat, interpretierten viele Kirchenhistoriker die Kirchengeschichte als Auslegungsgeschichte des biblischen Kanons bzw. als Rezeptionsgeschichte der christlichen Verkündi117

Hempelmann, Erkenntnis, 286. Vgl. dazu auch die Auseinandersetzung Stayer/ Snyder zur Theologie der Täufer: J. M. Stayer, Arnold Snyder, Beyond Polygenesis: Recovering the Unity and Diversity of Anabaptist Theology, in: MGB 52,1995,151-160. 118 Oberman , Reformation, 24. 119 Hempelmann , Erkennntis, 295.

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2 Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

gung. 120 Grundlegend für diese Charakterisierung bleibt, daß der Gegenstand der Kirchengeschichte die christliche Kirche ist, die nach evangelischer Lehre als Creatura verbi und damit als „die durch das Wort Gottes gezeugte Gemeinschaft der Glaubenden" 121 verstanden wird. Das Wort, durch das die Kirche entsteht und immer weiter besteht, ist die Selbstzusage Gottes in seinem Sohn Jesus Christus, wie sie die Schriften des Alten und Neuen Testamentes bezeugen. Kirchengeschichte meint in der Konzentration auf diesen, ihren eigenen Gegenstand nicht allein die historisch-soziale Gestalt der Kirche (bzw. der Kirchen), sondern auch ihre „Soll-Gestalt", ihre eschatologische Dimension, sofern sie je und je auf den Ursprung ihrer Existenz, das eine Wort Gottes, bezogen ist und bleibt. „Wirklichkeit" und „Wesen" der Kirche Jesu Christi sind zwei keineswegs kongruente Aspekte der kirchengeschichtlichen Arbeit. Die Geschichte zeigt vielmehr einen latenten Antagonismus zwischen „Ist-" und „Soll-Gestalt" der Kirche. „Die Kirche ist ,zugleich' Gegenstand des Glaubens und der Empirie. Sie ist ,zugleich4 eine eschatologische und eine geschichtliche Größe. Mit diesem paradoxen »Zugleich4 nimmt sie an der Paradoxie der Verkündigung Christi teil, die das historische Kreuz Christi zugleich als eschatologisches Heilsereignis predigt." 122

Aus diesem ekklesiologischen Grundverständnis ergeben sich mehrere Konsequenzen. Zum einen kann sich die Kirchengeschichte als historische Theologie nicht auf die Analyse der empirischen Gestalt der Kirche beschränken, ohne ihren Gegenstand zu verfehlen. Darüber hinaus darf es keinen konfessionalistischen Zugang zur Kirchengeschichte geben, bei dem die Kirche Jesu Christi mit einem der realen „Kirchentümer" identifiziert wird, 1 2 3 wodurch ihre eschatologische Dimension mißachtet würde. Sie muß vielmehr die „paradoxe Identität" der Kirche Jesu Christi, anders formuliert, das „dialektische(s) Verhältnis von Reich Gottes und Kirche" in ihren Erkenntnisweg mit einbeziehen. 124 Aufgrund dieser ekklesiologischen Prämisse fragt die Kirchengeschichte, wie sich die Kirche Jesu Christi zu ihrem Grundereignis, dem Offenbarwerden des Wortes Gottes, verhalten hat. Dieser Rückbezug auf das Wort Gottes kann unterschiedlich bezeichnet werden. Es geht um die „Bewahrung" und „Bewährung" der christlichen Botschaft im 120

Vgl. Uhlig, Funktion, 42 ff. W. Joest, Dogmatik II. Der Weg Gottes mit den Menschen, Göttingen 1986, 527; vgl. dazu ebd., 528; G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, in: Ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfession, 1969, 9-27; K. Bornkamm, Kirchenbegriff und Kirchengeschichtsverständnis, in: ZThK 75,1978,458. 121

122

J. Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes, München 1975,35 f. Vgl. Bornkamm, Kirchenbegriff, 457, 459: „Die eine heilige Kirche des dritten Glaubensartikels schließt Glaubende aller Kirchen in sich, ihre Grenzen sind uns verborgen." 124 Vgl. dazu die Konzeption von H. Karpp, in: Besier / Ulrich, Aufgabe, 174; Uhlig, Funktion, 57 ff. 123

2.4 Kirchengeschichtsschreibung als historische Theologie

75

Wandel der Zeiten. 1 2 5 Im Anschluß an E. Wolf hat es die Kirchengeschichte „mit der Geschichte des gehorsamen wie des widerstreitenden Hörens auf das Evangelium, mit der Geschichte der Auseinandersetzung mit ihm zu tun." 1 2 6 Ähnlich präzisiert Selge den Gegenstand der Kirchengeschichte „als eine Geschichte des tatsächlichen, angestrebten, verfehlten, auch grausam verfehlten Christuszeugnisses." 127 In ihrem grundlegenden Aufsatz zur Aufgabe kirchlicher Zeitgeschichte definieren G. Besier und H. G. Ulrich die Frage nach der Verkündigung und „ihrer Geschichte in den Zeiten" als Basis der Kirchengeschichte. „Die Verkündigung ist [...] als das ,explanans' zu verstehen, die Perspektive, auf die hin überhaupt die Zeiten wahrgenommen werden können und auf die hin ein Urteil gewonnen werden kann." 1 2 8 Wenn die Verkündigung des Evangeliums sowie ihre positive wie negative Rezeption im geschichtlichen Prozeß als Gegenstand der Kirchengeschichte festgelegt werden, dann entscheidet sich an dieser Stelle der Gegenwartsbezug und die kritische Potenz der Kirchengeschichte im Rahmen der Theologie. 129 Eine Distanz zum Gegenstand der Kirchengeschichte ist nach der vorausgegangenen Grundlegung für den Kirchenhistoriker unmöglich, da er selbst zur Kirche Jesu Christi gehört. 130 Zugehörig zur Gemeinschaft der Glaubenden und als Theologe, der die kirchliche Rede von Gott auf ihre Wahrheit überprüft, hat er selber Teil an der Auslegungsgeschichte des Christuszeugnisses, wie es in der Heiligen Schrift überliefert ist. Dieser „Binnenstandpunkt" muß kritisch reflektiert in den Forschungsprozeß eingebracht werden. Die Existenz des Theologen impliziert eine gewisse Distanz zum „modernen Menschsein", da „die Theologie innerhalb dieses Menschseins eine Bindung vertritt, die dieses moderne Menschsein übergreift [...] die Bindung des christlichen Glaubens an seinen Ursprung, Gottes Offenbarung in Jesus Christus." 131 Es genügt daher nicht, die theologische Qualität der Kirchengeschichte auf die ekklesiologische Gegenstandsbestimmung zu beschränken. Die Kirchengeschichte weist vielmehr auch das apriorische und reduktionistische Urteil zurück, wonach alle Geschichte profan und gottlos sei und sich nur so wahrnehmen und denken ließe. 132 Deshalb begleitet und prägt ebenso die theologische Anthropologie, das biblische Menschenbild, das vom Menschen als Geschöpf, Sünder und aus Gnade Gerechtfertigtem spricht, bei aller methodischen Stringenz, den kirchenhistorischen Forschungsweg. 125

H. Karpp, zit nach Uhlig, Funktion, 60. E. Wolf, zit. nach: Uhlig, Funktion, 74. 127 Selge, Einführung, 49. 128 Besier/ Ulrich, Aufgabe, 177. 129 Vgl. Bornkamm, Kirchenbegriff, 462 f. 130 Vgl Bienert, Kirchengeschichte, 19. 126

131 132

Mildenberger, Geschichte, 14. Vgl. Hempelmann, Erkenntnis, 279.

76

Die Methodologiediskussion in der gegenwärtigen Historiographie

Ohne Zweifel eröffnet diese dezidiert theologische Ausrichtung der Kirchengeschichte, die auch den Standort der Verfasserin widerspiegelt, nicht nur eine Chance für einen intensiven Dialog zwischen Allgemein- und Kirchengeschichte, sondern wird auch erneut Anlaß zur Kontroverse über die Wissenschaftlichkeit der Kirchengeschichte und ihrer Kompatibilität im Raum der Geschichtswissenschaft geben. E. Herms, der einen neuen systematischen Ansatz zur theologischen Geschichtsschreibung veröffentlich hat, hält diese Kontroverse jedoch für unvermeidlich. „Trotzdem ist diese Herausforderung nicht nur spannend, sondern auch notwendig - wenigstens um zu verhindern, daß Bildungskonventionen - wie etwa die, daß die Position des sich auf Offenbarung (unverfügbare Erschließungsereignisse) berufenden Glaubens und seines Wirklichkeitsverständnisses für jeden aufgeklärten und gebildeten Menschen »erledigt4 sei - zu bequemen Selbstverständlichkeiten absinken." 133 Der produktive Streit, der in der Ambivalenz des kirchenhistorischen Ansatzes begründet ist, gehört auch nach der tröstlichen Auskunft Jüngels zum Wesen der Theologie insgesamt: „Die Theologie muß in der Universität zu Hause sein und darf dennoch mitten im unerläßlichen Gespräch mit den Wissenschaften zur Linken und zur Rechten ihre (durch das Geheimnis der Offenbarung bedingte) Einsamkeit nicht verleugnen. Der Streit der Fakultäten ist unvermeidlich, und zwar um der Theologie willen." 134

Theologisch betriebene Kirchengeschichte gerät leicht unter das Verdikt einer konfessionell bestimmten Perspektive. So unterstellte man der „normativen" Täuferforschung konsequent eine legitimatorische Ausrichtung für die Praxis und Gestalt der heutigen, aus dem Täufertum stammenden Freikirchen. 135 Ist daher die oben dargelegte Definition der Kirchenhistoriographie hinreichend oder gehört ein nicht zu verleugnendes konfessorisches Moment zur Offenlegung des Vorverständnisses notwendigerweise hinzu? Die Kirchengeschichte umfaßt sowohl die auf die biblische Überlieferung gegründete Auslegungs- und Traditionsgemeinschaft, als auch die Pluralität der institutionellen Kirchen und Bewegungen, ferner die davon zu unterscheidenden säkularen Wirkungs- und Transformationsgestalten der christlichen Religion. 1 3 6 Der faktischen Konkurrenz verschiedener Kirchenauffassungen muß die zeitgenössische Kirchengeschichtsforschung m. E. durch eine dezidiert ökumenische Perspektive Rechnung tragen. Dennoch gehört es zur Erhel133 E. Herms, Theologische Geschichtsschreibung, in: K Z G 2,1997, 327. Zu seinem Verständnis von Kirchengeschichtsschreibung führt er aus: „Theologische Geschichtsschreibung im hier entwickelten Sinne ist Erkenntnis von Geschichte im Horizont eines - und zwar just des christlich-theologischen - kategorialen Vorgriffs auf die transzendentalen Bedingungen möglicher Geschichte." Ebd., 329. 134 Jüngel, Verhältnis, 38. 135 Vgl. Punkt 1.2 dieser Untersuchung. 136 Vgl. A. Beutel, Vom Nutzen und Nachteil der Kirchengeschichte, in: Z T H K 94, 1997,89.

2.4 Kirchengeschichtsschreibung als historische Theologie

77

lung des Entdeckungszusammenhangs der Verfasserin hinzu, daß sie sich durch ihre Identität als baptistische Theologin der täuferischen Tradition verbunden weiß. Inwieweit diese denominationeile Zugehörigkeit die theologische Urteilsfindung beeinflußt, muß anhand der Argumentationen und der Relevanz ihrer Ergebnisse jeweils kritisch hinterfragt werden. Die vorliegende Untersuchung favorisiert jedenfalls einen integrativen bzw. synthetischen Forschungsansatz, der die Bedeutung theologischer Motivationen mit den Ergebnissen der gesellschaftsgeschichtlichen Forschung sachgemäß zu verbinden sucht. Angesichts dieser Multiperspektivität von Forschungsansätzen und -richtungen ist zugleich das Proprium kirchengeschichtlicher Betrachtungsweise als „historischer Theologie" herauszustellen. Die Thematik der vorliegenden Untersuchung sowie ihr Aufbau und die Quellenauswahl resultieren aus dem dargelegten Verständnis von Kirchengeschichte als historischer Theologie. Trotz dieser Prämisse, vielmehr wegen dieser Prämisse, sollen ihre Ergebnisse der historischen Bestandsaufnahme in Korrelation und Distanz zu denen anderer Vorverständnisse geprüft werden. K. Barth, der viel zur Diskreditierung der Kirchengeschichte im Kanon der theologischen Disziplinen und gleichzeitig - durch seine theologischen „Epigonen" - indirekt zu ihrer Rehabilitierung beitrug, brachte in seiner letzten Vorlesung die Ambiguität der Kirchengeschichte anschaulich zum Ausdruck. In der Kirchengeschichte gehe es „[...] um den Weg, den die christliche Erkenntnis als Grundelement des Lebens der Gemeinde seit den Tagen der Propheten und Apostel bisher zurückgelegt hat. Unverkennbar ist diese Geschichte auf der ganzen Linie auch Profangeschichte, Weltgeschichte und also in derselben Weise wie diese zu erforschen. Eben so unverkennbar ist sie aber auch ein durch ein besonderes Thema, nämlich durch die biblische Botschaft, von der sie herkommt, geformtes Stück Weltgeschichte: Geschichte des Glaubens, Unglaubens, Irrglaubens und Aberglaubens, Geschichte der Verkündigung und der Verleugnung Jesu Christi, der Entstellungen und der Erneuerungen des Evangeliums, des Gehorsams, den ihm die Christenheit leistet und offen oder heimlich verweigert hat." 137

137

K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Gütersloh 31980,139.

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation 44 3.1 Forschungsgeschichtliche Situation und Darstellung der These Für die sozialhistorische Täuferforschung ist die von Blickle in die Diskussion gebrachte komplexe These von der „Gemeindereformation" 1 so bedeutsam geworden, daß sie für die Deutung des frühen Täufertums in der Schweiz eine dominierende Stellung einnimmt. Daher erscheint es sinnvoll, eine kurze Darstellung und Kritik dieser einflußreichen Studie vorzunehmen. Das Interesse liegt dabei nicht auf einer kritischen Analyse der gesamten Untersuchung, sondern orientiert sich an den Aussagen zur Schweizer Reformation, wobei jedoch nachstehend auch grundsätzliche Anfragen zur Konzeption Blickles formuliert werden sollen. Blickles Monographie, die zuerst 1984 unter dem Titel „Gemeindereformation" erschien, faßt die Ergebnisse seiner früheren Arbeiten und historischen Essays zusammen.2 Seine These, welche die bäuerliche Reformation ins Zentrum des Forschungsinteresses rückte, wird verschiedentlich als originellster Beitrag zur Sozialgeschichte der Reformation der letzten 25 Jahre und wichtigster Forschungsimpuls seit 1960 gewertet. 3 Seit den 60er Jahren rückte die Erforschung der Stadtgeschichte, angeregt durch den grundlegenden Beitrag B. Moellers 4 , in das Zentrum des Interesses der Reformationshistoriographie. Blickles Ansatz kann aufgrund seiner Konzentration auf die Rezeptionsgeschichte der Reformation im ländlichen Bereich als Gegenthese5 zur Dominanz der „Stadtforschung" interpretiert werden. Auch von ihren Kritikern wird die zusammenfassende Untersu-

1 Vgl. P. Blickle, Die Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1987. 2 Vgl. P. Blickle, Die Revolution von 1525, München/Wien 21981; ders., Die Reformation im Reich, Stuttgart 1982; ders., Deutsche Untertanen: Ein Widerspruch, München 1981; ders., Die soziale Dialektik der reformatorischen Bewegung, in: Ders. / A. Lindt / A. Schindler (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985,71-89; ders., Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: H Z 242,1986,529-556. 3 Vgl. Th. A. Brady , People's Religion in Reformation Europe, in: The Historical Journal 34,1991,179. 4 Vgl. B. Moeller, Reichsstadt und Reformation, Gütersloh 1962. 5 Vgl. T. Scott, The Common People in the German Reformation, in: The Historical Journal 34,1991,183.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

chung als „Grundwerk" 6 einer neuen Forschungsrichtung angesehen, das von der Forschung nicht ignoriert werden könne 7 und ein unverzichtbares Element im wissenschaftlichen Diskurs zur Reformation darstelle. Aufgrund einer eingehenden Analyse der deutschen Forschungsgeschichte zur Reformation kommt Brady darüber hinaus zu dem weitgefaßten Urteil, daß erst Blickles Konzeption den national verengten Horizont der deutschen Rezeption der Reformation aufgesprengt habe.8 „The Reformation is no longer a major battleground in the struggle for the definition of modernity or of what it means to be a German in the modern age. The vision of the Reformation on which we are converging, however, bears vital relevance to the civic lives of both German states, for, gradually, the outlines are comming into view of the deepest and oldest tradition of self-government in all of Europe. Its visibility, ironically enough, has become possible only through the ignominious death of, the German conception of history."9

Blickles Werk wurde weitgehend positiv rezipiert und fand nicht zuletzt dadurch ein breites Interesse, daß es als neue Gesamtdeutung der Reformation hervortrat. Gleichzeitig wird seine Konzeption, die soziopolitische und theologische Ergebnisse zu verbinden sucht, als Beitrag zur Überwindung eines sozialgeschichtlichen Methodenmonismus begrüßt. 10 In seiner Einleitung bekennt sich Blickle zu dieser methodischen Verknüpfung von Sozial- und Geistesgeschichte.11 Als gesellschaftliches und theologisches „Gravitationszentrum" 1 2 der Reformation fungiert für ihn die „Gemeinde", die er später als politische Gemeinde definiert. 13 Bereits auf den ersten Seiten seiner Studie nimmt Blickle eine eindeutige Wertung vor, nach der die Gemeindereformation das Signum des unverfälschten Charakters der Reformation trägt. Die Sichtung begrifflicher Fassungen der Frühphase der Reformation führt ihn zur entschiedenen Ablehnung der pejorativen Bezeichnung „Wildwuchs" bzw. „Sturmjahre". 14 Demgegenüber bezeichnet er die erste Phase der Refor6 Vgl. W. Ziegler, Reformation als Gemeindereformation?, in: Archiv für Kulturgeschichte, 72,1990,441. 7 Vgl. R. Po Chia Hsia , The Myth of the Commune: Recent Historiography on City and Reformation in Germany, in: Central European History 20,1987,212; Ch. R. Friedrichs, Rez. über P. Blickle: Gemeindereformation, in: A R G 78,1987,362. 8 Vgl. Th. A. Brady , From the Sacral Community to the Common Man: Reflections on German Reformation Studies, in: Central European History, Bd. 20,1987,243.245. 9 Ebd., 245. Der - heute anachronistische - Rekurs auf die „beiden deutschen Staaten" darf nicht über den bedeutsamen Hinweis auf das ideologische und politische Potential der Blickleschen These hinwegtäuschen. 10 Vgl. Po Chia Hsia, Myth, 211. 11 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 8. 12 Vgl. ebd., 9. 13 Im Unterschied zur Parochialgemeinde bzw. Versammlung der Gläubigen, vgl. ebd., 113. " Vgl. ebd., 14.

3.1 Forschungsgeschichtliche Situation und Darstellung der These

81

mation als eine soziale Bewegung, die er mit dem Begriff „Gemeindereformation" zusammenfaßt, die sowohl die ländliche als auch die städtische Rezeption der reformatorischen Botschaft einschließt. Den historischen Wendepunkt der Reformation bildet für Blickle das Jahr 1525, in dem die Gemeindereformation durch die politischen Konsequenzen des Bauernkriegs von der obrigkeitlich gelenkten „Fürstenreformation" abgelöst worden sei. Neben dieser definitorischen und chronologischen Prämisse tritt der sog. „Gemeine Mann" als profilierter Träger der Gemeindereformation hervor. Nicht ohne Pathos verteidigt Blickle die eigenständige Rezeptionsgeschichte der Reformation durch die ländliche Bevölkerung, die durchaus intellektuell in der Lage gewesen sei, die reformatorische Theologie zu begreifen und auf ihren gesellschaftlichen Kontext zu applizieren. Gemäß seinem eindeutig fixierten Forschungsinteresse an der Reformation als einer primär sozialen Bewegung schließt er bereits in der methodischen Einleitung die Berücksichtigung religiöser Praktiken und Äußerungsformen der Frömmigkeit für die Untersuchung aus, indem er den Modus der Interpretation auf die „realen Lebensbezüge" von Bauern und Bürgern beschränkt. Das Werk ist in drei Teile gegliedert, von denen der erste (und gleichzeitig ausführlichste) nach dem spezifischen Reformationsverständnis von Bauern und Bürgern fragt. In einem zweiten Teil wird anhand ausgewählter Schriften der Hauptreformatoren der Rezeptions- und Transformationsprozeß reformatorischer Theologie in der ländlichen und bürgerlichen Gesellschaft untersucht. Die sich wandelnden gesellschaftlichen Strukturen im Spätmittelalter werden im Schlußteil als Voraussetzung für den reformatorischen Rezeptionsprozeß dargestellt. Entgegen der konventionellen Konzentration der Forschung auf das Bürgertum als der einflußreichsten Trägerschicht der Reformation versucht Blickle im ersten Abschnitt die Konstitutiva des bäuerlichen Reformationsverständnisses zu rekonstruieren. Seine Hauptquelle bilden dabei die Artikelbriefe der bäuerlichen Zusammenschlüsse von 1525 sowie Bittschriften einzelner Kommunen. Die ausführlichen Beispiele konzentrieren sich auf die Schweiz und Oberdeutschland. Als elementare Grundzüge der von ihm erarbeiteten Gemeindereformation sind festzuhalten: 1. Forderung nach freier Pfarrerwahl durch die Gemeinde, verbunden mit der Rekommunalisierung des Zehnten; 2. Kompetenz der Gemeinde in theologischen Lehrfragen; 3. Residenzpflicht des Pfarrers; 4. „wohlfeile Kirche" und 5. Abschaffung des geistlichen Gerichts. Diese Forderungen dienten der Neufundierung der Kirche auf der Basis der Dorfgemeinde. 15 Das Zentrum des bäuerlichen Reformationsverständnisses sei die Pfarrerwahl durch die Gemeinde gewesen, der die Besoldungsfrage nachgeordnet sei. 16 15

Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 35. " Vgl. ebd., 48.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation" „Wo immer Bauern sich zur reformatorischen Bewegung bekennen, bestehen sie auf der Pfarrerwahl durch die Gemeinde, die ihrerseits den Unterhalt des Pfarrers übernimmt, sei es freiwillig, sei es durch Kommunalisierung des Zehnten." 17

Als Prädisposition für die spezifische Rezeption der reformatorischen Bewegung im ländlichen Bereich konstatiert Blickle die Beschwerden über kirchliche Mißstände, die keine angemessene seelsorgerliche und pastorale Betreuung gewährleisteten. Die exklusive Begründung für die Kommunalisierung der Kirche sieht Blickle in der normativen Bindung an die Verkündigung des reinen Evangeliums. 18 Das Evangelium sowie die Kategorie „göttliches Recht" werden in Gefolge dieser Auffassung zu legitimierenden Größen der sozialpolitischen Umgestaltung. Blickle formuliert zur bäuerlichen Reformation folgendes Teilergebnis: „Die Reformation in der ländlichen Gesellschaft läßt sich als Gemeindereformation am besten auf den Begriff bringen. 1523, ausgehend von der Zürcher Landschaft, weitete sie sich rasch nach Norden an den Hochrhein, ergriff 1525 den gesamten oberdeutschen Raum und kam spätestens 1530 zum Erliegen, von den Fürsten zerschlagen oder von den Städten integriert." 19

Der ausführlichen Fundierung seiner These im Blick auf die ländliche Bevölkerung folgt eine referierende Darstellung der Stadtreformation. Dabei kommt Blickle zu dem Ergebnis, daß es strukturelle Analogien zur bäuerlichen Reformation gab. Beide beabsichtigten die konsequente Realisierung der Reformation in der politischen Gemeinde. Auch in der bürgerlichen Reformation begegnen nach Blickle Konstitutiva der „Gemeindereformation", etwa die Forderung nach schriftgemäßer Wortverkündigung und freier Pfarrerwahl durch die Gemeinde. Allerdings habe ein Schwerpunkt des bäuerlichen Reformationsverständnisses auf der Ethisierung des Evangeliums gelegen, während die städtische Bewegung vorrangig die Sakramentsreform betrieben habe. 20 Das verbindende Glied von städtischer und ländlicher Reformation liege in dem beiderseitigen Versuch, die Kirche zu kommunalisieren. Im zweiten Teil seiner Studie untersucht Blickle die theologischen Grundlagen, vorrangig die Ekklesiologie der Hauptreformatoren und den Rezeptionsund Übermittlungsprozeß in der ländlichen sowie städtischen Bevölkerung. Dabei geht es ihm nicht um eine umfassende Darstellung der theologischen Konzeptionen, sondern um deren Aufnahme als „veröffentlichte Theologie" und Ethik. 2 1 Nach einer kurzen Darstellung grundlegender Topoi reformatorischer Theologie, analysiert Blickle den Kommunikationsprozeß, wobei er zu dem Ergebnis kommt, daß der Modus der Vermittlung durch die große Zahl 17

Ebd., 50. is Vgl. ebd., 60 ff. 19 Ebd., 75 f. 20 Vgl. ebd., 111. 21 Vgl. ebd., 121.

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

83

von Flugschriften bestimmt wurde, hinter die die Predigt und das persönliche Gespräch als Kommunikationsträger zurückträten. Im dritten Abschnitt integriert Blickle die „Gemeindereformation" in die soziale Umstrukturierung der spätmittelalterlichen Gesellschaft, die er mit dem Terminus „Kommunalisierung" zusammenfaßt. Dem Streben des Dorfes nach Auflösung der Villikation entspräche demnach der Versuch der Städte, sich der feudalen Herrschaft zu entledigen. Die reformatorische Predigt habe die Auflehnung gegen die Prinzipien der grundherrschaftlich bestimmten Agrarverfassung ideologisch legitimiert. Das gesellschaftsstrukturierende Prinzip „Herrschaft" sollte durch das Prinzip „Genossenschaft" abgelöst werden. 22 Die Kommunalisierung der Kirche in der Gemeindereformation erscheint als konsequenter Abschluß der spätmittelalterlichen Gesellschaftsentwicklung. Die „innovatorische Leistung" des „Gemeinen Mannes" besteht für Blickle darin, daß er in der Lage war, die Theologie der Reformatoren in die bäuerlich-bürgerliche Lebensform zu übersetzen. 23 „Der Verarbeitungsmodus des Reformatorischen setzt voraus, daß dieser Appell [= reformatorische Theologie, Anm. d. Verf.] im hohen Maße dem Kommunalismus kongenial war." 2 4

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland Blickle versteht, wie bereits erwähnt, die freie Pfarrerwahl als das zentrale Kennzeichen der „Gemeindereformation". Die quellenmäßige Bestätigung seiner These, die selbst von Kritikern als fundiert und überzeugend betrachtet wird, 2 5 eröffnet er mit dem Hinweis auf einen Konflikt zwischen der Gemeinde Kloten und dem A b t von Wettingen, den er als frühes Beispiel für die Forderung nach freier Pfarrerwahl anführt 2 6 Der A b t von Wettingen beschwerte sich im April 1523 beim Zürcher Rat über die Forderung der Gemeinde Kloten, „ihr einen Priester zu setzen, der nach dem ,Imbiß' das Evangèlium verkünde." 2 7 Daraufhin beschloß der Rat, daß die klösterlichen Kompetenzen nicht geschmälert werden dürften und der Leutpriester weiterhin das Seelsorge- und Verkündigungsamt zu versehen habe. Es wurde der Gemeinde jedoch gestattet, einen weiteren, „erwünschten" Priester anzustellen und aus eigenen 22 Vgl. Goertz, Pfaffenhaß, 240. 23

Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 203. Ebd., 203 f. 25 Vgl. u. a. Ziegler, Reformation, 442; Ch. Friedrichs, dereformation, in: A R G 78,1987,362. 26 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 26 f. 27 EAk Nr. 354,128. 24

Rez. über P. Blickle: Gemein-

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

Mitteln zu besolden. Blickle übergeht in seiner Darstellung den Ratsbeschluß, wonach der Leutpriester weiterhin im A m t blieb. Die Gemeinde Kloten appellierte wiederholt an den Rat, da sie weder durch den amtierenden Leutpriester noch durch dessen (Pfarr-)Helfer versorgt werde. 28 Deshalb forderte man von dem Patronatsherren, daß er ihnen einen „geschickten Priester" stellen möge, der durch die Zehnteinkünfte des Abtes zu besolden sei. Die einzige Auflage für den erwünschten Priester war seitens der Gemeinde, daß er ihnen das Evangelium und die göttliche Schrift verkünde. Bei der Verhandlung am 9. Mai 1523, an der die Anwälte der Gemeinde Kloten, der amtierende Leutpriester U. Kern und die Vertreter des Abtes teilnahmen, beschuldigten die Delegierten der Gemeinde den Leutpriester, es an Seelsorge und am Predigen fehlen zu lassen.29 Obwohl Kern sich zunächst verteidigte, erklärten der A b t und er sich bereit, zur Verbesserung der Situation beizutragen. Der Rat beschloß, daß der Leutpriester einen Helfer erhalten solle, der „nach Mandat der Gemeinde das Evangelium verkünde." 3 0 Bei der Besetzung der Stelle sollte der A b t beteiligt werden. Ansonsten werde der Rat selbst einen „geschickten Helfer" einsetzen. Weiter forderte der Rat unter Strafandrohung, daß der angeklagte Leutpriester sich an das Ratsmandat zur evangelischen Predigt vom 29. Januar 1523 halten sollte. Blickle resümiert: „Kloten hatte damit unter dem Schutz Zürichs zweierlei durchgesetzt: die Seelsorge den religiösen Bedürfnissen der Bauern anzupassen - in Mandatsform umschreibt die Gemeinde die Aufgaben des Helfers des Leutpriesters - und den Lebensunterhalt des Pfarrhelfers dem Patronatsherren aufzubürden." 31

Dabei übersieht Blickle, daß es nicht nur oder in erster Linie um die Besoldung des neuen Pfarrhelfers ging, sondern um dessen Einsetzung durch den Abt. Blickle konzediert, daß Eglis regestartig verfaßte Quellenangabe in dieser Frage nicht eindeutig sei. Aber durch die Drohung des Rates, bei Unterlassung selbst einen geeigneten Helfer einzusetzen, wird m. E. die eigentliche Beauftragung des Abtes unübersehbar deutlich. Von einer „Wahl" des Pfarrers durch die Gemeinde Kloten ist dagegen nicht die Rede. Die Beschwerdeführer beriefen sich nicht auf eine Rechtsposition, wonach ihnen die freie Besetzung der Pfarrstelle zustünde. Sie appellierten vielmehr aufgrund kirchlicher MißStände in ihrer Pfarre an ihren Patronatsherren, wobei sie sich nach dessen Verweigerung an die i. E. zuständige Instanz wandten, um den Notstand zu beheben. Der Kompromiß wurde nach Ausweis der Quellen von allen akzeptiert. Die berechtigte Forderung der Gemeinde, die ihre Kritik am Leutpriester unter Hinweis auf das Ratsmandat formulierte, wurde vom Rat anerkannt und zu 28 29 30 31

Vgl. EAk, Nr. 359,129. Vgl. EAk, Nr. 360,129. Ebd. Blickle, Gemeindereformation, 27.

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

85

ihren Gunsten entschieden. Die wörtliche Übereinstimmung der Forderung nach Verkündigung des Evangeliums mit dem Text des Ratsmandats macht m. E. die Argumentationstaktik der Gemeinde transparent. Blickle interpretiert die Ratsbestimmung, nach der der Helfer gemäß dem „Mandat" der Gemeinde das Evangelium verkünden sollte, unter Verweis auf eine schriftliche Anweisung des fränkischen Dorfes Wendelstein von 1524 an ihren neuen Pfarrer, in der dessen Pflichten und Rechte gegenüber der Gemeinde fixiert werden. 32 Auch bei dieser Pfarrbesetzung handelt es sich jedoch nicht um eine freie Pfarrerwahl. Vielmehr teilte der Markgraf Kasimir von Brandenburg, wie Blickle selbst ausführt, der Gemeinde den Pfarrer zu. Die weitgehenden Forderungen an den Pfarrer, der der Autorität der Gemeinde unterstellt wurde, sind ohne Zweifel beeindruckend. Es stellt sich jedoch die Frage, ob ein derartiger Pflichtenkatalog mit der Bezeichnung „Mandat" auch im Fall der Gemeinde Kloten vorausgesetzt werden kann. Der von Egli paraphrasierte Beschluß des Rates enthält außer dem Terminus „Mandat" keinen Hinweis darauf, daß die Gemeinde Kloten berechtigt war, ihrem vom A b t eingesetzten Pfarrhelfer einen Leistungskatalog vorzulegen. Allerdings hatte die Gemeinde aufgrund des Ratsmandats vom Januar 1523, das ihre Appellationsgrundlage darstellte, die Möglichkeit und die Pflicht sich beim Rat zu beschweren, falls der neu eingesetzte Helfer nicht dem „Evangelium" entsprechend, m. a. W. reformatorisch predigte. Das Ratsmandat übergab den reformgesinnten Gemeinden den Schlüssel zur Kontrolle der kirchlichen Amtsträger. Eine darüber hinausgehende Erweiterung gemeindlicher Kompetenzen läßt sich m. E. für den Fall Kloten aus den Quellen nicht nachweisen. In Blickles Beweisführung erhält dieser Konflikt durch die Verbindung mit der Situation in Wendelstein exemplarischen Charakter. Der Verdacht liegt nahe, daß der Quellenbefund von ihm im Sinne der o. g. These ausgelegt wird. Diese Annahme wird durch das überraschende Fazit Blickles bestätigt, der behauptet: „Drei oder vier Jahre früher, um 1520, hätte weder der Abt von Wettingen den Klotenern die Wahl eines eigenen Pfarrers gestattet noch der Pfarrer von Wendelstein sich in dieser Weise in die Pflicht der Bauern nehmen lassen [...]." 33

Diesen Schritt hat der A b t von Wettingen aber nach den Quellen auch 1523 nicht vollzogen! Vielmehr wurde dieser anläßlich der Verhandlung vor dem Rat dazu verpflichtet, aufgrund der reformatorischen Entwicklung in Zürich 32 33

Vgl. ebd.

Ebd., 28. Zwar wurde beim ersten Ratsbeschluß, anläßlich der Klage des Abtes, der Klotener Gemeinde zugestanden, zusätzlich einen eigenen Pfarrhelfer auf eigene Kosten anzustellen. Aber von diesem weitgehenden Angebot wurde anscheinend kein Gebrauch gemacht. Vielmehr forderte die Gemeinde die Einsetzung durch ihren Patronatsherren. Offensichtlich dominierte die Sorge vor zusätzlichen finanziellen Belastungen den Drang nach gemeindlicher Autonomie.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

der Forderung nach Gewährleistung evangelischer Predigt und geregelter Seelsorge durch die Einsetzung eines zusätzlichen Pfarrhelfers nachzukommen. Die Möglichkeit einer Pfarrerwahl durch die Gemeinde wurde überhaupt nicht erwogen. Denn selbst wenn der A b t die Besetzung nicht durchgeführt hätte, wäre nach dem Ratsbeschluß keineswegs der Gemeinde das Recht zur Einsetzung zugefallen, sondern wäre dem Rat vorbehalten geblieben. Im Fall Kloten taucht das Recht der Gemeinde auf freie Pfarrerwahl nicht auf, zumal die Kompetenzen dafür beim Patronatsherren und - in dessen Vertretung - beim Rat verbleiben. U m die komplexe These der „Gemeindereformation" mit ihren stereotypen Konstitutiva nachzuweisen, untersucht Blickle anschließend Quellen aus der Zürcher Landschaft, dann aus Oberschwaben und schließlich aus den Gebieten Tirol und Salzburg. I m Blick auf unsere Themenstellung liegt es nahe, die Ergebnisse zur Zürcher Landschaft zu erörtern. Zur Charakterisierung der gespannten Situation in den ländlichen Gebieten um Zürich, zitiert Blickle den Brief J. Widmers an Göldli in Rom, der in unserer Untersuchung später gewürdigt werden wird. 3 4 Anschließend wendet er sich dem „Bewußtseinszustand" der Bauern in religiösen und theologischen Fragen zu, den er anhand der prominenten Konfrontation zwischen Pfarrer Lorenz und den Brüdern Hottinger in Zollikon verdeutlicht. 35 Bemerkenswert ist, daß Blickle die Polemik der Hottingers als Beispiel für die „Betroffenheit der einfachen Leute durch die evangelische Predigt" 36 wertet, ohne deren Verflechtung in die reformatorische Bewegung und später führende Rolle innerhalb des frühen Täufertums in Zollikon zu erwähnen. 37 Gerade bei diesen beiden bekannten Personen der radikalen Reformation muß m. E. nicht über eine wie auch immer geartete Betroffenheit durch Zwingiis Predigten spekuliert werden. C. Hottinger gehörte zum Castelberger Lesekreis. Er initiierte die Beseitigung des Stadelhofener Kruzifixes und gehörte zu den entschlossenen Anhängern des Reformators. J. Hottinger war durch seinen Bruder eng mit den Lesekreisen verbunden und ohne Zweifel mit dem theologischen Programm Zwingiis vertraut, wie die Abendmahlskontroverse mit Lorenz beweist. 38 Gerade am Brüderpaar Hottinger ließe sich die von Blickle via „Gemeindereformation" behauptete enge Verbindung zwischen städtischer und ländlicher Reformation in Zürich überzeugend nachweisen. Allerdings wäre als Trägerkreis der Reformation in personaler Verschränkung von städtischer und ländlicher Bevölkerung die freie 34

Vgl. Punkt 4.5 dieser Untersuchung. Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 29. 36 Blickle, Gemeindereformation, 30. 37 Vgl. Punkt 8.1 dieser Untersuchung 38 Zu seiner Bedeutung in der ersten Phase der Täuferbewegung vgl. Punkt 4.5 dieser Untersuchung. 35

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

87

Organisationsform der Lesekreise und nicht die strukturelle Analogie verfaßter Gemeinden zu benennen. Blickle hält in bezug auf Hottingers Disput mit Lorenz fest, daß das Interesse der Bauern - im Gegensatz zu der durch die Forschung prolongierten Kritik der Reformatoren an der eigennützigen Instrumentalisierung der reformatorischen Predigt - zumindest 1523 ein primär theologisches war. Zur Stützung der These einer freien Pfarrerwahl stellt Blickle darauf folgend den Fall der Gemeinde Witikon dar. Die Gemeinde hatte nach den Ratsprotokollen einen eigenen Priester angestellt, wobei sie ihrem Patronatsherrn, dem Großmünster in Zürich, die Zehntabgaben verweigerte, um diesen damit zu besolden. 39 Der Rat beschloß, daß die Gemeinde den eigenmächtig angestellten Priester behalten dürfe, jedoch weiterhin den Zehnten nach Zürich zu zahlen hätte. Dazu erklärten sich die Witikoner unter dem Vorbehalt bereit, daß die Zehntpflicht künftig auch von allen anderen Gemeinden respektiert würde. Analog zum ersten Ratsbeschluß im Fall Kloten wurde seitens des Rates die Anstellung eines Priesters aus eigenen, vom Zehnt unabhängigen Mitteln des Dorfes toleriert. Das Zehntrecht sollte davon nicht beeinträchtigt werden. Dennoch legitimierte die reformatorische Predigt über die ursprüngliche Bedeutung des Zehnten die Zehntverweigerung bzw. die Kritik am Mißbrauch des Zehnten, wie die Eingabe von sechs Gemeinden unter Einschluß von Witikon im Sommer 152340 an den Rat beweist. Witikon wurde schließlich im November 1523 zugestanden, den von ihnen angestellten und versorgten Seelsorger für ein weiteres Jahr zu behalten. Eine gütliche Einigung mit den Chorherren bezüglich der Beteiligung an der Besoldung des Priesters würde vom Rat genehmigt werden. Daraus wird erneut die Absicht des Rates deutlich, die Versorgung der Gemeinde mit einem reformatorisch geprägten Seelsorger, bei gleichzeitiger Wahrung der Patronatsrechte sicherzustellen. Die Einstellung eines Pfarrers sollte demnach am grundsätzlichen Abhängigkeitsverhältnis der eingepfarrten Gemeinden nichts ändern. Dennoch kann das eigenmächtige Vorgehen der Gemeinde Witikon, die sich selbst mit einem Seelsorger versorgte, im Gegensatz zu Kloten als eigenverantwortete Amtseinsetzung bezeichnet werden. Ob damit das bewußte Streben der Gemeinde nach Autonomie impliziert war, muß offenbleiben. Ohne dieser weitreichenden Interpretation zuzustimmen, erscheint Blickles Deutung der Motivation Witikons in einer Hinsicht plausibel, wenn er hinter der eigenmächtigen Pfarrbesetzung den Wunsch nach Erhalt eines reformatorischen Predigers vermutet. 41 Zur Stützung seiner These, daß auch andere Gemeinden aufgrund kirchlicher Mißstände dazu übergingen, eigene Pfarrer anzustellen und die Zehnt39 Vgl. EAk Nr. 351,125 (19.3.1523). 40 41

Vgl. EAk Nr. 368,132 f.; vgl. ferner Punkt 4.3.1 dieser Untersuchung. Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 31.

88

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

abgaben zu deren Versorgung einzubehalten, verweist Blickle auf weitere Fälle, die in den Zürcher Ratsprotokollen festgehalten sind. A n erster Stelle erscheint der bereits untersuchte Fall der Gemeinde Kloten, dessen beschränkte Aussagekraft hinsichtlich des Postulats nach freier „Pfarrerwahl" bereits festgestellt wurde. 42 Als weiteren Beleg zieht er den Fall der Gemeinde Hausen heran, der unter dem Titel „Schmähung des Rates" verhandelt wurde. 43 Der Untervogt von Hausen, U. Bruoder, berichtete, daß der für das Dorf zuständige Leutpriester verpflichtet war, ihnen einen Helfer zu schikken. Seine Wahl hatte zur Folge, daß Hausen zeitweise einen Helfer erhielt „der si versehe mit predigen nach irem gefallen", aber auch solche, die predigten „wie dann vorhar man geprediget hett." 4 4 Bereits hier wird die Identifizierung der Pfarrhelfer als „reformatorisch" bzw. „altgläubig" durch die Gemeinde deutlich. Der Leutpriester zu Β aar ging nach Aussagen des Zeugen sogar gegen Helfer vor, die der evangelischen Lehre anhingen, so daß sie ihr A m t nicht länger ausüben konnten. Aufgrund dieser repressiven Maßnahmen setzte die Gemeinde einen Helfer auf eigene Kosten ein. Daraufhin äußerte der düpierte Leutpriester von Baar in Gegenwart des Zeugen Bruoder, daß im Rat Aktionen gegen den ketzerischen Glauben geplant würden. Der Fall Hausen bezeugt indirekt den Vorgang einer eigenmächtigen Pfarrereinsetzung als Folge eines sich zuspitzenden Konflikts zwischen Alt- und Neugläubigen. Hausen war demnach eine mehrheitlich reformatorisch gesinnte Gemeinde, deren Patronatsherr der alten Tradition treu geblieben war. Aufgrund des kirchlichen Abhängigkeitsverhältnisses konnte dieser den reformatorischen Aufbruch durch das Steuerungselement der Pfarrbesetzung behindern. In dieser Situation bot sich der Gemeinde als einzige Alternative die Anstellung eines reformatorischen Predigers auf eigene Kosten an. Von einer gleichzeitigen Zehntverweigerung wird nichts berichtet. Die Gemeinde achtete demnach trotz der negativen Erfahrungen die Patronatsrechte und suchte durch die Anstellung eines reformatorisch gesinnten Geistlichen, die als wahr erkannte Lehre und Seelsorge für das Dorf zu gewährleisten, ohne eine direkte Konfrontation mit den kirchlichen und weltlichen Instanzen zu riskieren. Die Frage muß offen bleiben, ob diese zweifellos bedeutsame Episode ein Beweis für die von Blickle behauptete bewußte Ausweitung der kommunalen Selbstbestimmung in kirchlichen Angelegenheiten darstellte, d. h. dem Ideal einer freien Pfarrerwahl verpflichtet war. M i t gleichem Recht kann aus den Quellen gefolgert werden, daß der Fall Hausen nur eine logische Reaktion auf die durch die reformatorische Predigt erkannten kirchlichen Mißstände darstellte. Wäre es zur autonomen Anstellung eines Pfarrers gekommen, wenn der Patronatsherr der Seelsorgepflicht nachgekommen 42

Vgl. EAk Nr. 354,128.

« Ebd., Nr. 383,140 f. 44 Ebd., 140.

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

89

wäre und die reformatorische Predigt gestattet hätte? Locher interpretiert die Vorgänge in Witikon und andernorts als planmäßigen Ausbau der Kirchenhoheit des Rates, der im Konfliktfall die evangelische Predigt schützte und förderte. 45 Als ein weiteres Beispiel für die freie Pfarrerwahl führt Blickle den Konflikt der Stadt Stein am Rhein mit dem Abt von St. Georgen an. 46 Aus den Ratsprotokollen wird deutlich, daß die Stadt Beschwerde gegen ihren Patronatsherren geführt hatte. Einzelne Klagen betrafen demnach „Leutpriester, Seelsorger, Helfer, Prädikanten, Sigrist, Kirchenbau, Behausung." 47 Diese Aufzählung kirchlicher Mißstände weist auf den schwelenden Konflikt zwischen der reformgesinnten Stadt und ihrem altgläubigen Patronatsherren hin, der im ersten Ratsbeschluß zur Sprache kommt. Der Stadt wird zugestanden, einen „Seelsorger und Prediger des Gotteswortes" anzustellen. Einmal mehr erweist sich damit die Bezeichnung „Prediger des Gotteswortes" ebenso wie „Prediger des Evangeliums" oder „Prediger der göttlichen Schrift" als Chiffre für die reformatorische Einstellung des Benannten. Nach den Verhandlungen mit dem Rat erklärte sich der Abt bereit, für die Besoldung des Pfarrers aufzukommen und damit alle berechtigten Forderungen der Stadt zu erfüllen. Für die ausstehende Finanzierung anderer Vorhaben müsse die Gemeinde selbst aufkommen. Über die Vorgeschichte dieser vom Rat legitimierten Pfarrereinsetzung durch die Stadt ist nichts bekannt. Sie lag jedoch im Interesse des Rates, der die Einhaltung des Mandats zur evangelischen Predigt und damit die Verbreitung reformatorischer Verkündigung zu fördern trachtete. Locher hält auch diesen Fall für eine direkte reformerische Maßnahme des Rates. 48 Das taktische Vorgehen des Rates läßt sich anhand der Besetzungen von Leutpriesterstellen durch den Rat nachweisen, der den Bewerbern eine Verpflichtung auf die reformatorische Predigt auferlegte. 49 Als letztes Beispiel für eine mit der Forderung nach Rekommunalisierung des Zehnten verbundene Pfarrerwahl nennt Blickle die Zehntverweigerungen der Gemeinden Marthalen, Truttikon, Wildisbül und Benken im Sommer 1524.50 Die Zehntverweigerung wurde laut Beschwerde des Abtes von Rheinau damit begründet, daß die Gemeinden ihn dadurch zur Anstellung eigener Priester zwingen wollten. Nachdem ein gütlicher Einigungsversuch gescheitert war, wies der Rat die renitenten Gemeinden an, weiterhin den Zehnten zu entrichten. Der Abt solle ihnen jedoch bei den finanziellen Belastungen

45 46 47 48 49 50

Vgl. Locher, Reformation, 141. Vgl. EAk Nr. 443 und Nr. 444,178. Ebd., Nr. 444,178. Vgl. Locher, Reformation, 151. Vgl. EAk Nr. 404,146. Vgl. ebd., Nr. 568 und Nr. 569,246 f.

90

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

entgegenkommen und darüber hinaus verpflichtet sein „die armen lüt je zuo zyten mit einem priester und dem gottswort" 51 zu versehen. Von einer eigenständigen Pfarrerwahl durch die Gemeinden ist nicht die Rede. Vielmehr sollte der Patronatsherr weiterhin die Seelsorge in den Dörfern gewährleisten. Die Zehntverweigerung wurde also nicht zur Durchsetzung der selbständigen Wahl von Geistlichen durchgeführt, sondern mit der pastoralen Unterversorgung begründet. Angesichts der zunehmenden Zehntverweigerungen beschloß der Rat, eine Verhandlung mit den Äbten von St. Gallen, Kreuzlingen und anderen Klöstern abzuhalten, „damit sie die Gemeinden durch Gewährung von Priestern ,unklagbar 4 machen". 52 Die Gemeinden nutzten demnach die Zehntverweigerungen, um die seelsorgerliche Unterversorgung ihrer Pfarre zu beheben. Als Intention stand daher nicht die freie Pfarrerwahl im Zentrum, sondern die Besetzung der vakanten Stellen und die Verbesserung der pastoralen Versorgung. Der Rat unterstützte dieses berechtigte Anliegen der Gemeinden sogar. Blickle kommt zu dem Ergebnis, daß bereits zur Jahresmitte 1524 die Forderungen nach Pfarrerwahl durch die Gemeinden eingestellt wurden, 53 wobei er den raschen Fortgang der Reformation, der auch in der Zürcher Landschaft durch die Mandatspolitik realisiert wurde, für diesen Abbruch der gemeindlichen Initiativen verantwortlich machte. Die Ergebnisse der zweiten Disputation, die zur Verpflichtung auf die evangelische Predigt für alle Pfarrer hinausliefen und durch flankierende Maßnahmen, wie theologische Unterrichtung durch reformatorische Prädikanten und ihre Reisetätigkeit unterstützt wurden, beendeten demnach die eigenständige Entwicklung der bäuerlichen Reformation. Diese These Blickles unterschätzt m. E. die Bedeutung des Predigtmandats vom Januar 1523 und verlegt die Wirksamkeit der Entscheidung für das reformatorische Schriftprinzip auf den Spätherbst. Mit dieser Gewichtung der Disputationsergebnisse versucht Blickle, eine eigenständige Entwicklung der „Gemeindereformation" anhand der untersuchten Beispielen zu profilieren. Er muß jedoch selber konzedieren, daß die Fälle von freier Pfarrerwahl in der kurzen Zeitspanne „nicht eben zahlreich" 5 4 sind. Seine Interpretation des Predigtmandats vom Januar 1523, die er im Sinne seiner These festhält, übersieht, daß die Gemeinden sich im Konfliktfall mit ihren Patronatsherren bereits im Frühjahr d. J. auf den Mandatsinhalt beriefen. Der Fall Kloten erwies das Mandat der ersten Disputation als brauchbare Appellationsgrundlage für die Gemeinden. Die sich an die zweite Disputati-

« Ebd., Nr. 568,246. 52 Ebd., 569,247. 53 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 31. 54 Ebd.

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

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on anschließende Folgezeit beschreibt Blickle - seiner übergreifenden These folgend - in düsteren Farben: „Die disziplinierte, obrigkeitlich gelenkte Einführung der Reformation entsprach der umsichtigen, von politischen Erwägungen diktierten Politik des Zürcher Rates gegenüber reformatorischen Begehren der Gemeinden."55

Die einseitige Parteinahme des Rates für die Rechte der Patronatsherren, allen voran die Bestätigung ihres Zehntrechts, wird als Ausweis dieser konservativen obrigkeitlichen Reformation gewertet. Die deutlich hervortretende gleichzeitige Bestätigung gemeindlicher Forderungen nach angemessener seelsorgerlicher Betreuung, reformatorischer Predigt und Überprüfung der kirchlichen Mißstände, die in allen genannten Fällen erkennbar ist, werden von Blickle dagegen außer acht gelassen. Der Rat setzte sich nach Ausweis der Quellen jedoch für die Verbesserung kirchlicher Mißstände ein und unterstützte durch das Ratsmandat die Einführung evangelischer Predigt in den Gemeinden, die danach verlangten. Ein genereller Kampf für die Autonomie der einzelnen Gemeinden läßt sich aus den angeführten Quellen nicht rekonstruieren. Bis auf Witikon liegt kein Fall einer freien Pfarrerwahl vor, der in einen Zusammenhang mit der Zehntverweigerung gebracht werden kann. Selbst Witikon erklärt sich später, wie gesehen, zur Zahlung des Zehnten und eigener Besoldung des Pfarrers bereit, wodurch indirekt die Patronatsrechte des Abtes anerkannt wurden. Die Mehrzahl der angeführten Gemeinden forderte die Einsetzung von zusätzlichen Pfarrern und Seelsorgern aufgrund der pastoralen Unterversorgung. Eine weiteres bedeutsames Motiv der Beschwerdeführung bzw. für weitere Aktionen war der Wunsch der Gemeinden nach reformatorischer Predigt, die von den altgläubigen Patronatsherren verweigert wurde. Die Entscheidung des Rates für das reformatorische Schriftprinzip, die im Mandat vom Januar 1523 festgelegt worden war, und die reformatorische Predigt über den wahren Gebrauch des Zehnten ermöglichten es den Gemeinden, kirchliche Mißstände aktiv anzugreifen. Bereits in dieser frühen Phase wird das Zusammenarbeiten von Rat und Gemeinden im Sinne der Reformation erkennbar. Abgesehen von dieser Interpretation erbrachte die differenzierte Untersuchung der von Blickle aufgeführten acht Beispiele (darunter eine Stadt), daß eine generelle Forderung nach eigenständiger Pfarrerwahl mit dem Ziel einer Stärkung der kommunalen Autonomie für die Zürcher Landschaft 1523/24 nicht nachzuweisen ist (s. Tabelle).

55

Ebd., 32.

Pfarrerwahl

ϊ

Benk

£

Wild

Forderung nach freier

β Ξ

Mart

Gemeinde:3

Stein

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

Haus

92

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

χ

Μ

vollzogene Einsetzung durch Gemeinde

Χ

Zehntverweigerung

χ

χ

Forderung nach zusätzlichen Priestern / Helfern Χ Forderung nach Einsetzung durch Patronatsherren Rats-Erlaubnis zur Versorgung auf eigene Kosten

Χ

(*) χ

Rats-Erlaubnis der Einsetzung durch Gemeinde

χ

Zehntverpflichtung

χ

Besoldung durch Patronatsherren Einsetzung durch Patronatsherren a

χ χ

χ Χ

χ

Legende: Klot = Kloten; Wit = Witikon; Haus = Hausen; Stein = Stein a. Rhein; Mart = Marthalen;

Trut = Truttikon; Wild = Wildisbül; Benk = Benken; (x) = unsicher.

Aufgrund der kritischen Analyse erscheint die Anfrage Zieglers an das Gesamtwerk Blickles berechtigt, ob die Pfarrerwahl bzw. die Forderung nach Einsetzung zusätzlicher Pfarrer nicht lediglich der Beseitigung kirchlicher Mißständen diente, auf die die reformatorische Predigt aufmerksam gemacht hatte, und keineswegs ein „überzeugender Beweis für die Kommunalisierung des Christentums" 56 sei. Blickle dokumentiert die Phase der obrigkeitlichen Reformation, in der sich aufgrund der Ratspolitik städtische und ländliche Reformation in einem Konsens bewegten, durch die Befragung der Zürcher Landgemeinden zur Innen· und Außenpolitik des Rates im November 1524. Bis auf einzelne Bitten an den Rat findet er darin keine eigenständige Stellungnahmen der Gemeinden. M i t diesem Konsensvotum sieht Blickle die bäuerliche Reformation als zunächst beendet an. Erst im Zuge des Bauernkrieges erhob s. E. der „größere Teil der Zürcher Landschaft" 57 noch einmal die Forderung nach freier Pfarrerwahl. 58 Eine direkte Beeinflussung durch die Zwölf Artikel der Bauern in Oberschwaben hält Blickle für unabweisbar. Als Beleg verweist er auf 56 57 58

Ziegler, Reformation, 448. Blickle, Gemeindereformation, 33. Vgl. Punkt 10.1 dieser Untersuchung.

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

93

die im Frühjahr 1525 an den Rat gerichteten Beschwerdeartikel der Herrschaften und Ämter Greifensee, Kyburg, Eglisau, Adelfingen, Neuamt, Rümlang und Grüningen, in denen die freie Pfarrerwahl gefordert werde. 59 Eine genaue Untersuchung der Artikelbriefe und ihr Vergleich mit den Zwölf Artikeln der oberschwäbischen Bauernschaft zeigt jedoch ein erstaunliches Ergebnis. Der erste Artikel der Bauernschaft in Oberschwaben formuliert die theologisch legitimierte Forderung nach der freien Pfarrerwahl durch die Gemeinde. „Erstens ist unsere demütige Bitte und Begehren, auch unser aller Wille und Meinung, daß wir von nun an Gewalt und Macht haben wollen, daß eine ganze Gemeinde ihren Pfarrer selbst erwählt und prüft." 60

Danach folgen Artikel zu Zehntrecht, Leibeigenschaft, freier Nutzung von Wald, Wasser, Holz, Frondiensten, Zinsnehmen und Gerichtsbarkeit. Die 29 Artikel der Herrschaft Greifensee beginnen dagegen mit einem Bekenntnis zur reformatorischen Bewegung, zusammengefaßt in der Formel gemäß dem Ratsmandat beim heiligen Evangelium bleiben zu wollen. 61 Der anschließenden Willenskundgebung zu brüderlicher Liebe folgt die „reformatorische Klausel", daß sich die Verfasser nur durch die Schrift vom Irrtum ihrer Artikel überzeugen lassen würden. Dieser feierlichen Präambel schließen sich sozialpolitische Forderungen analog zu denen der Zwölf Artikel an. Erst im 20. Artikel wird die Ein- bzw. Absetzung von Pfarrern erwähnt. „Zum 20. ist unser, der amptlüten, vermeinen, dass wir einen pfarrer in irem kilchsperg zuo setzen und zuo entsetzen habent, wo er nüt das Wort Gotts verkündet oder ungepürlichen handien ist." 62

Die Bedeutung der Pfarrerwahl ist durch die Vorordnung von 19 Artikeln relativiert. Auch wird nicht etwa - analog zu den Zwölf Artikeln - die Forderung nach einem allgemeinen Recht der Gemeinde auf freie Pfarrerwahl erhoben. Vielmehr wird die Ein- und Absetzung eines Amtsträgers unter besonderen Vorbedingungen beansprucht. Nur wenn dieser nicht reformatorisch predigen sollte oder sein Wandel Anlaß zur Klage böte, soll die Gemeinde das Substitutionsrecht erhalten. Die Formulierung der Prämissen für die Amtsentsetzung erinnert zum einen an das Ratsmandat vom Januar 1523, zum anderen an den Text der Zwölf Artikel. Die Investitur eines Pfarrers durch die Gemeinde wurde mithin nur für eine „Notsituation" angedacht und bildete somit keineswegs die Hauptforderung der Bauernschaft in Greifensee. Ähnlich verhält es sich mit dem Artikelbrief der Grafschaften Kyburg, Eglisow, Adelfingen, Neuamt und Rümlang. 63 Unter den 17 Beschwerdearti59

Vgl. EAk Nr. 710,323-326; Nr. 703,319-321; Nr. 7Ö2,318 ff. Zit. nach H. A. Oberman, Die Kirche im Zeitalter der Reformation, NeukirchenVluyn 21985,128. öi Vgl. EAk Nr. 710,323-326. 62 Ebd, 325. 63 Vgl. EAk Nr. 703,319-321. 60

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

kein findet sich ein Hinweis auf die „Pfarrerwahl" erst an zwölfter Stelle. In der Einleitung sowie in der Formulierung der Artikel lassen sich vielfältige Parallelen zum späteren Greifenseer Entwurf feststellen. Auch hier ist eine „Notsituation" der Gemeinde die conditio sine qua non für die autonome Besetzung der Pfarrstelle: „Wo ein gmeind mit einem pfarherr beschwert wäre, der inen nit das wort Gotts verkündte, wie sich gepürt, dass si den mügent absetzen und einen anderen nemen, so dick die notdurft das erfordert." 64

Aus diesen Zeilen spricht m. E. nicht eine frohgemute Berufung auf autonome Rechte der Gemeinde, sondern der Versuch, ein Ausnahmerecht in einer Krisensituation festzuschreiben. Auch die Beschwerdeartikel der Herrschaft Grüningen übernehmen nicht die Forderung nach freier Pfarrerwahl durch die Gemeinde. 65 Im vorletzten von 27 Artikeln wird dort ausgeführt: „wenn sich die Pfaffen bi inen nit haltind nach inhalt des gottsworts und der Billigkeit, dass si dann macht und gewalt habind, die selben ze setzen und zuo entsetzen, je nach gstalt der sachen und irem guoten bedenken."66

Obwohl die Kompetenz der Gemeinde stärker in den Vordergrund tritt als bei den vorangehenden Beispielen, ist auch hier eine lehrmäßige oder moralische Verfehlung des Pfarrers als Voraussetzung für die Amtsenthebung und Neubesetzung festgehalten. Dennoch wurde auch in Grüningen keineswegs die Pfarrerwahl als natürliches Recht der Gemeinde gefordert, sondern ein Ausnahmerecht in einer speziell beschriebenen Situation formuliert. Die Antwort des Rates auf die Forderung nach autonomer Amtsenthebung durch die Gemeinde bestimmte, daß die eingesetzten Pfarrer prinzipiell in ihren Pfründen belassen werden sollten, 67 wobei die Gemeinden und die angeklagten Amtsinhaber in Konfliktfällen vor dem Rat verhört werden sollten. Allerdings sollte dem Pfarrer durch den Rat gemäß dem Ratsmandat der Verlust seiner Pfründe angedroht werden, sofern er nicht reformatorisch predigte. Der Rat behielt sich jedoch weiterhin das Recht der Investitur von Pfarrern vor. Blickle resümiert zurecht, daß damit die Kompetenz auf den Rat überging. 68 Die von Blickle angeführten Beispiele führen m. E. unweigerlich zu einer Differenzierung zwischen der Forderung nach freier Pfarrerwahl, wie sie in den Zwölf Artikeln begegnet, und der Forderung nach einem „Notrecht" in der Schweizer Landschaft. Auch wenn man diese Interpretation nicht teilt, muß angesichts der gewichtigen Schlußfolgerungen Blickles die Verdrängung des „Pfarrerwahlartikels" an das untere Ende der Rangfolge der Forderungen verwundern. Offensichtlich lag hier nicht das Zentrum der Forderungen, 64

Ebd., 320. « Vgl. ebd., Nr. 702,318 f. 66 Ebd., 319. 67 Vgl. EAk Nr. 725,335; Nr. 726,336-339. 68 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 33.

3.2 Kritische Analyse der „Gemeindereformation" im Zürcher Umland

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sondern ein den sozialen Forderungen untergeordneter Nebenaspekt im Katalog der Beschwerden. Dieses Ergebnis wird durch zwei weitere Artikelbriefe des Frühjahres 1525 belegt, die Blickle unerwähnt läßt. Es handelt sich um die Beschwerdeartikel der Bauernschaft in Hausen, Heisch, Ebenschwyl und Rifferschwyl 69 sowie der Herrschaft Regensberg. 70 Im ersten Fall werden die 14 durchweg sozialpolitischen Forderungen sehr konzentriert formuliert und oft nur mit ein oder zwei Worten angedeutet. Ein „Pfarrerwahlartikel" fehlt ebenso wie jegliche Einlassung auf reformatorische Themen bzw. eine religiöse Legitimierung der Beschwerden. In ganz anderer inhaltlicher und formaler Ausgestaltung erscheinen die acht Forderungen von Regensberg. Einer sehr ausführlichen theologischen Einführung, die die reformatorische Wende als Gottes Eingreifen in die Geschichte deutet, folgen acht sozialpolitische Forderungen, die immer wieder mit Hinweisen auf das Evangelium, den Willen Gottes und die Bibel versehen werden. Bei dieser Liste fehlt ebenfalls ein „Pfarrerwahlartikel". I m Briefschluß erwähnen die Verfasser, daß es noch weitere Beschwerden gäbe, die jedoch von anderen Bauernschaften bereits vorgebracht worden seien. Die acht Artikel waren demnach für Regensberg unzweifelhaft die Hauptbeschwerdepunkte, die sie sorgfältig formuliert und theologisch fundiert dem Rat vorlegten. Angesichts der hohen Bedeutung, die Blickle dem Postulat nach freier Pfarrerwahl als zentraler Säule der „Gemeindereformation" beimißt, muß dieser Befund befremden. Die Pfarrerwahl erscheint bei den untersuchten Artikelbriefen im Zürcher Umland gerade nicht als die zentrale Forderung, sondern entweder als untergeordnet geäußertes Begehren nach einem Ausnahmerecht oder fehlt ganz. In einem Antwortschreiben der Gemeinde Männedorf auf die Instruktion des Rates an die aufständischen Gemeinden wird erneut deutlich, daß die Landgemeinden bereits im Juni 1525 das Recht zur Investitur des Pfarrers wie selbstverständlich beim Rat suchten. Auf eine umfassende Solidaritätserklärung mit der Ratspolitik folgt die „demütige Bitte" an den Rat: „wer der sy(g), prädikanten, aid puren, die von Gott erlücht(et) sygind, das heilig Evangelium ze verkünden, und (die) dasselbig mit der göttlichen gschrift bewisen wend, ir wellind dieselbigen das gottswort für und für lassen verkünden [ ..] " 7 1

Diese Bitte, die aus der Erfahrung resultiert, daß der Rat etliche Prädikanten verbannt hatte, bestätigt eindeutig die Anerkennung der Kompetenzen des Rates in Fragen der Pfarrereinsetzung. Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß es sich bei den von Blickle angeführten Fällen von „Pfarrerwahl" in der Zürcher Landschaft keineswegs eindeu69 Vgl. EAk Nr. 708,323. 70 7

Vgl. EAk Nr. 729,340-343. * Ebd., Nr. 744,350.

96

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

tig um die Einforderung kommunaler Rechte handelt. Nicht ein einziges Mal wird die umfassende Forderung nach freier Pfarrerwahl, wie sie die Zwölf Artikel formulierten, von den Gemeinden als Begründung der Zehntverweigerung in den Akten vermerkt. Breit belegt ist dagegen die Forderung einzelner Gemeinden an ihre Patronatsherren, zusätzliche Priester, Seelsorger und Pfarrhelfer einzusetzen, die die pastorale Versorgung der Dörfer und die reformatorische Verkündigung sichern sollten. Die Zehntverweigerung erwies sich als ein probates Druckmittel, um die kirchliche Herrschaft und auch den Rat zu zwingen, kirchliche Mißstände zu beseitigen. Wiederholt wurde vom Rat entschieden, daß die Patronatsherren den Forderungen der eingepfarrten Gemeinden nachkommen sollten. Die Aktionen der Gemeinden wurden ohne Zweifel durch die reformatorische Predigt ausgelöst, die kirchliche MißStände und den falschen Gebrauch des Zehnten öffentlich anprangerte. Auch die Analyse der Artikelbriefe aus dem Zürcher Umland belegen nicht die zentrale Stellung der Forderung nach Pfarrerwahl als Zeichen kommunalem Autonomiestrebens. Hier ist eine differenziertere Darstellung der Forderungskataloge angezeigt. Blickles Interpretation wird m. E. zu stark durch die oberschwäbischen Verhältnisse geprägt, die sich nicht ungebrochen auf die Zürcher Situation übertragen lassen. Der Autor muß zugestehen, daß die Pfarrerwahl selbst in der kurzen Zeitspanne von 1523-1525 nicht breit belegt ist. Aufgrund der Quellenuntersuchung ist die These Blickles bezüglich des Zürcher Raumes zu korrigieren und mit Einschränkungen zu versehen, die bei der Übertragbarkeit der Kategorien auf die frühe Täuferbewegung berücksichtigt werden müssen.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation" Gegen Blickles These wurden vor allem von Allgemeinhistorikern methodische, historische und theologische Kritikpunkte vorgebracht. Demgegenüber hielten sich Kirchenhistoriker bisher mit Urteilen über Blickle zurück bzw. übten nur vereinzelt Kritik, wobei sie aufs Ganze gesehen die Konzeption positiv rezipierten. Für einen besonders schwerwiegenden Irrtum hält eine Reihe von Forschern die perspektivische Verkürzung der deutschen Reformationsgeschichte durch die vorgenommene geographische Konzentration auf den oberdeutsch-schweizerischen Raum sowie durch die zeitliche Fixierung auf den Zeitraum von 1520-1525.72 M. E. wird zurecht nach der Über72 Vgl. H Schilling, Die deutsche Gemeindereformation. Ein oberdeutsch-zwinglianisches Ereignis vor der „reformatorischen Wende" des Jahres 1525?, in: ZHF14,1987, 328 ff.; H. Junghans, Blickle, Gemeindereformation, in: Luther Jahrbuch 54,1987,125; Po Chia Hsia, Myth, 212; T. Scott, The Common People in the German Reformation, in: The Historical Journal 34,1991,185; E. Koch, Peter Blickle, Gemeindereformation, in: Zwing 17,1986-88,340.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

97

tragbarkeit der These auf den mittel- und norddeutschen Raum gefragt. Blickle läßt alle anderen Territorien wie Sachsen, Thüringen, Hessen, Norddeutschland sowie die „altgläubigen" Gebiete aufgrund seiner Fokussierung auf die oberdeutsche Region außer acht. 73 Veranlaßt durch seine spezielle Forschungsbiographie, die ihn über die Beschäftigung mit dem Bauernkrieg zur Reformationsgeschichte führte, 74 bestimmt Blickle das Jahr 1525 als das „Wendejahr", das zwischen Gemeinde- und Fürstenreformation entschieden habe. Schilling protestierte gegen diese zeitliche Fixierung, da die Bewegung des Kommunalismus sich u. a. im norddeutschen Bereich auch nach 1525 fortsetzte.75 Die vermeintliche „Glanzzeit" der Reformation sehen andere Historiker in den Jahren 1530-1550. Im Blick auf die gesamte Reförmationsgeschichte erscheine dagegen der Zeitraum 1520-25 nur als Episode. 76 Die Relativierung des für Blickles These entscheidenden Jahres 1525 vollzieht sich ebenfalls als Kritik an seiner dualistischen Konzeption von Gemeinde- und Fürstenreformation, die er unter engagierter Parteinahme für die Gemeindereformation entfaltet. Der Wechsel von der Gemeinde- zur Fürstenreformation als „punktualistisches, chronologisches Nacheinander", wie Blickle die Entwicklung darstellt, scheitert an den historischen Fakten, die eine frühe Parteinahme des Adels für Luther ebenso belegen, wie die Fortsetzung der Gemeindereformation nach 1525, die entscheidend zur territorialen Ausbreitung der Reformation beitrug. 77 Blickle untersucht und umfaßt mit seiner These einen eng begrenzten geographischen Bereich und einen, hinsichtlich der zeitlichen Erstreckung der gesamten Reformation, minimalen Zeitraum. Ziegler unterstellt Blickle, daß er mit seiner These letztlich nur die Bauernkriegsgebiete, nicht jedoch das gesamte Reichsgebiet berücksichtigt habe. Daher liege es nahe, seine Konzeption der „Gemeindereformation" als Darstellung einer regionalen Sonderentwicklung und damit als ein letztlich marginales Phänomen zu werten. Diese Einwände erhalten durch die Tatsache besonderes Gewicht, daß Blickle selbst eine Gesamtschau der Reformationsgeschichte intendiert, wie nicht zuletzt der anspruchsvolle Untertitel seiner Studie belegt. 78 Die Verallgemeinerung seiner These auf das Reichsgebiet und den gesamten Verlauf der Reformationsgeschichte wird daher auch entschieden zurückgewiesen. 79

73

Vgl. Ziegler, Reformation, 450 ff. Vgl. Goertz, Pfaffenhaß, 240. 75 Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 330. 76 Vgl. Ziegler, Reformation, 447. 77 Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 330. 78 Vgl. Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil. 79 Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 328; Ziegler, Reformation, 452. 74

98

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation" „Es ist fatal, wenn aus der intimen Kenntnis der einen Zone weitreichende Interpretationsthesen entwickelt werden, ohne gegenläufige Strukturen und Ereignisse der anderen Zone ernstzunehmen."80

Darüber hinaus hat unsere Einzeluntersuchung der Beispiele aus dem schweizerischen Raum ergeben, daß der Zeitraum, in dem konstitutive Elemente der Gemeindereformation auftreten, einzuschränken ist, und daß sich die Anzahl der Belege bei höherer Differenzierung entscheidend reduziert, so daß, zumindest für die Schweiz, mit gutem Recht nach dem bleibenden historischen Deutungspotential von Blickles Modell gefragt werden muß. Z u der von verschiedenen Forschern angemahnten geographischen und chronologischen Differenzierung tritt die Kritik, die sich auf soziologische Strukturanalysen stützt. Vielfach wird die totale Ausblendung bzw. Perhorreszierung des Adels kritisch hinterfragt. 81 In gleicher Intensität erfährt Blickles überbetonte Kohärenz von städtischer und ländlicher Reformation kritische Rückfragen innerhalb der Fachwissenschaft, die die unterschiedliche Stellung von Bürgern und Bauern zu ihrer Obrigkeit, aber auch weitergehende soziale Differenzierungen innerhalb einer vermeintlich homogenen Trägerschaft der Gemeindereformation durch den „Gemeinen Mann" vernachlässigt.82 Die inklusive Rede vom „Gemeinen Mann" als einer übergreifenden soziologischen Kategorie spart innerhalb der Landbevölkerung die Unterscheidung zwischen Kleinbauern, freien Bauern, Winzern, Händlern sowie dem Dorfrat und der Dorfpopulation aus.83 Scott moniert m. E. zurecht, daß bei Blickle der Kampf der Dorfältesten und -honoratioren, die nicht einmal die Hälfte der Dorfbevölkerung ausmachten, mit dem Kampf des „Gemeinen Mannes" identifiziert wird. 8 4 Dorfbewohner und Städter entwickelten unterschiedliche Konzeptionen in der Herrschaftsfrage. Während die Dörfer als genossenschaftliche Organisationen gegen die Herrschaft aufbegehrten, gelang es den städtischen Räten, Herrschaft und Genossenschaft zu vereinigen. 85 Auch im Blick auf die städtische Gesellschaft wird für eine soziale Differenzierung u. a. zwischen den Interessen der Zunftangehörigen und der Bürger plädiert. 86 Historikerinnen fordern in diesem Zusammenhang

so Schilling, ebd., 328. Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 329; Goertz, Pfaffenhaß, 243; M. U. Edwards, Die Gemeindereformation als Bindeglied zwischen der mittelalterlichen und der neuzeitlichen Welt, in: H Z 249,1989,97; Ziegler, Reformation, 447; Junghans, Gemeindereformation, 126; M. Brecht, P. Blickle, Gemeindereformation, in: Z W L G 1987,454. 81

82

Vgl. u. a. Edwards, Gemeindereformation, 97. Vgl. R. L. Vice, The Leadership and the structure of the Tauber Band during the Peasants' War in Franconia, in: Central European History, Bd. 21,1988,179,195. 84 Vgl. Scott, Common People, 189. 85 Vgl. Goertz, Pfaffenhaß, 242 f. 86 Vgl. Po Chia Hsia, Myth, 215. 83

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

99

eine „gender analysis" der Reformation, die die Rolle der weiblichen Bevölkerung zu integrieren vermag. 87 Letztlich kreiert die begriffliche Fassung der Trägerschaft der Gemeindereformation als Reformation des „Gemeinen Mannes" und die Rede von der „Gemeinde" m. E. ein Idealbild einer demokratischen, obrigkeitskritischen und von egalitären Tendenzen geprägten Gemeinschaft, das die sozialen Hierarchien innerhalb der städtischen und ländlichen Bevölkerung nicht hinreichend berücksichtigt. Die Gemeindereformation wird für Blickle durch die politische Konsensbildung und Aktion ganzer Dorf- bzw. Stadtgemeinschaften, im Grunde genommen jedoch durch deren Eliten realisiert. Neue soziale Organisationsformen, wie u. a. die Lesekreise, die bestehende soziale Gemeinschaften aufgrund der umgesetzten reformatorischen Predigt transzendierten, bleiben von ihm unberücksichtigt. Die demonstrativen Handlungen einzelner Bauern zur Forcierung der Sakramentsreform, die überregionalen Zusammenkünfte reformatorisch Gesinnter und die uneinheitliche soziale Zusammensetzung der Predigthörerschaft der Reformatoren treten völlig hinter das statische Bild einer aus Gruppeninteressen motivierten kollektiven Bewegung einzelner Dörfer und Städte zurück. Die Fixierung der bäuerlichen Reformation auf die politisch-soziale Einheit des Dorfes, zusammengefaßt in Artikelbriefen und Beschwerden, verhindert die Wahrnehmung einzelner Zeugnisse des bäuerlichen Reformationsverständnisses. Einer von Blickle mit großer Emphase verfolgte „Ehrenrettung" der Bauernschaft entspräche jedoch m. E. gerade die Würdigung der Aktionen und Äußerungen einzelner Bauern, deren Ansichten nicht den kollektiven Forderungen entsprachen. Blickle orientiert sich aufgrund seiner Definition von Gemeinde als der „politischen Gemeinde" zu sehr an den protodemokratischen Gremien, die die lokalen Interessen des Dorfes wahrten und behaupteten. 88 Andere Gruppierungen, wie die Versammlungen zum gemeinsamen Schriftstudium in selbstorganisierten Lesekreisen, deren Teilnehmer aus unterschiedlichen Dörfern und Ständen kamen, werden deshalb von ihm nicht berücksichtigt. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die reformatorische Predigt vom Priestertum aller Gläubigen nicht gerade erst solche freien, überregionalen und egalitären Gemeinschaftsbildungen provozierte. Das stereotype Grundmuster der Gemeindereformation erklärt sich zum einen aus der methodischen Prämisse Blickles, die nur die realen Lebensbezüge der Bauern und Bürger, nicht jedoch ihre Frömmigkeit und ihre religiöse Praxis untersucht. 89 Eine weitere Ursache dafür ist in seiner einseitigen Quellenbenutzung begründet. In Blickles Werk vermissen selbst wohlwollen-

87 88 89

Vgl. ebd. Vgl. Exkurs: „Ainer gantzen gmaind" Punkt 11.4.2 dieser Untersuchung. Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 21.

100

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

de Kritiker die Verarbeitung der neueren „Popular-Religion^Forschung. 90 Obwohl Blickle einleitend eine Untersuchung der religiösen Praxis aus seinem methodischen Ansatz ausschließt, formuliert er weitreichende Thesen zu einer scheinbar einheitlichen Religiosität des „Gemeinen Mannes". Für Schilling ist die monistische Vorstellung eines einheitlichen „bäuerlich-bürgerlichen Gottes- und Weltverständnisses", wie von Blickle behauptet, historisch nicht verifizierbar. 91 „Prosopographische Studien, auf die sich Blickle übrigens nicht bezieht, belegen den führenden Anteil von gut bis hochgebildeten Schichten an den stadtreformatorischen Bürgerbewegungen. Ist es sinnvoll, deren religiöse, ja theologische Vorstellungen zusammenzuschmelzen mit denjenigen der Landbevölkerung zu einer - wie ich meine - fiktiven, Religion des ,gemeinen Mannes'? Spricht nicht im Gegenteil nicht zuletzt auch die Forschungen zur ,Volksreligion' - dafür, daß die Bauern ganz andere religiöse Bedürfnisse hatten als der überwiegende Teil der Städter [,..]?" 92

Scott bezeichnet die Religiosität der Bauern als vorwiegend apotropäisch, gebunden an rituelle und magische Vorstellungen. 93 Er vermag zu zeigen, daß Formen und Inhalte katholischer Tradition mit den reformatorischen Neuerungen im bäuerlichen Reformationsverständnis verbunden werden konnten. Daher bestreitet er, daß die Reformation einen mentalen Bruch mit dem Ritual und der Magie im ländlichen Bereich darstellte. Auch wenn man diese von der Volksfrömmigkeit ausgehende Einschätzung der bäuerlichen Rezeption der Reformation nicht teilt, die der innovativen Kraft der reformatorischen Predigt wenig Rechnung trägt, ist die Frage doch berechtigt, ob sich das bäuerliche Reformationsverständnis aus den Artikelbriefen und Beschwerden der Dorfgemeinschaften umfassend rekonstruieren läßt. Das auf wirtschaftliche und soziale Interessen reduzierte Wirklichkeitsverständnis Bückles erfaßt m. E. weder die komplexe Verschränkung von Religion und Alltagsleben noch die Daseinsdeutung der spätmittelalterlichen Gesellschaft. „Es gab doch wohl nicht nur Absenzen und andere Mißstände, vielmehr stellte die Religion einen ganzen Kosmos verschiedenartigster Lebensäußerungen dar." 9 4 Ausgehend von der als politische Aktionseinheit definierten Gemeinde, deren Rezeption der reformatorischen Botschaft in den Artikelbriefen Gestalt gewonnen habe, übersieht Blickle konsequent andere Zeugnisse bäuerlichen Reformationsverständnisses. Der betont „areligiöse" Ansatz gibt zu denken, wenn gefragt wird, wie eine kirchliche Erneuerungsbewegung ausschließlich „realpolitisch" und remota fide umfassend dargestellt werden kann. Blickle erfaßt aufgrund seiner methodischen Prämissen m. E. nur parti90 Vgl. Brady , Sacral Community, 244; Scott, Common People, 187; Schilling, Gemeindereformation, 329. 91 Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 329. 92 Ebd. 93 94

Vgl. Scott, Common People, 187. Ziegler, Reformation, 450.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

101

eil das bäuerliche Reformationsverständnis. Ziegler ist darin Recht zu geben, daß Blickle die Religion als „Wirkungsmacht", die den Lebensprozeß der Bauern in vielfältiger Hinsicht beeinflußte, nicht adäquat berücksichtigt. Daß in den Artikelbriefen das genuin bäuerliche Reformationsverständnis sichtbar wird, bestreitet Vice mit dem Hinweis darauf, daß diese Forderungskataloge mehrheitlich von reformatorischen Theologen formuliert wurden, die gerade nicht die Religiosität und theologischen Leitgedanken des Bauernstandes repräsentierten. 95 Mehrere Forscher insistieren gegenüber Blickle auf einer deutlicheren Differenzierung zwischen den kirchlichen Gravamina der Bauern und ihren sozialen Forderungen bzw. politischen Konsequenzen, die sie aus der reformatorischen Botschaft bezogen und die damit als Ausdruck ihres Strebens nach Autonomie anzusehen seien. 96 Diese Forderung erhält gerade im Blick auf die oben dargelegten Untersuchungsergebnisse im Zürcher Umland hinsichtlich des Pfarrerwahlrechts entscheidendes Gewicht. Wenn die freie Pfarrerwahl nicht nur ein letztes Mittel zur Beseitigung kirchlicher Mißstände bzw. zur Förderung der reformatorischen Bewegung war, sondern Zeichen der Autonomiebestrebungen der Gemeinden, dann müßte sie sich nach 1523 auch auf die Ein- und Absetzung von evangelischen Pfarrern erstreckt haben. Letzteres ist jedoch für das Zürcher Gebiet nicht nachzuweisen. Es ist daher anzunehmen, daß die eigenständige Pfarrbesetzung - ein Fall von freier Wahl durch die Gemeinde ist nicht aktenkundig und wird ohne Einschränkung auch in den Artikelbriefen nicht gefordert - zur Behebung eines kirchlichen Notstandes eingeleitet wurde, der meistens durch den Konflikt mit altgläubigen Patronatsherren entstand und nicht als Ausdruck eines politischen Unabhängigkeitsstrebens gewertet werden kann. Nicht die selbstverantwortete Installation des Pfarrers als genuines Recht der Dorfgemeinschaft, sondern die Behebung kirchlicher Mißstände, vor allem die pastorale Unterversorgung, stand im Vordergrund. Über diese methodisch und historisch argumentierenden Kritikpunkte hinaus, ergeben sich bezüglich des zweiten Teils der Monographie Blickles grundlegende theologische Anfragen. Blickle formuliert zu Beginn seiner theologischen Bestandsaufnahme, daß er als Historiker die „Differenzierungen der Reformationstheologie" nicht angemessen darstellen und erfassen könne. Da es ihm jedoch nur um die Wirkung der »„veröffentlichten 4 Theologie" der Reformatoren im Bereich des „Gemeinen Mannes" gehe, empfindet er diese Aporie nicht als hinderlich. 97 „Was die Theologen dem Laien des 16. 95 Vgl. Vice , Leadership, 182: „Because Lutheran clergy frequently acted as secretaries for the largely illiterate peasantry, the rebel's grievances often expressed a religiosity which was probably not shared by the majority of the peasants." 96 Vgl. Junghans, Gemeindereformation, 127; Brecht, Gemeindereformation, 455; Ziegler, Reformation, 448. 97 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 123.

102

3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

Jahrhunderts sagen wollten, müßte ein Laie des 20. Jahrhunderts mittels seiner hermeneutischen Fähigkeiten verstehen können." 9 8 Durch diese „kokette" Immunisierung gegen das Urteil der Fachtheologen gesichert, unternimmt Blickle den Versuch, die Position der Hauptreformatoren zu Themen wie „Evangelium" und „Gemeinde" (sie!) darzulegen. Bereits die Auswahl dieser beiden von ihm so genannten „Zentralkategorien" 99 weist daraufhin, daß die Untersuchung aufgrund der bereits als konstitutiv herausgearbeiteten Elemente der Gemeindereformation vorgenommen wird. „Die These ist demnach der hermeneutische Schlüssel für die ausführlichere Darstellung der theologischen Grundpositionen [.. .]." 1 0 0 Darüber hinaus fällt auf, daß sich Blickle bei der kurzen Darstellung der reformatorischen Theologie fast ausschließlich auf Lexikonartikel aus den 60er Jahren bezieht, ohne auf die Ergebnisse der neueren theologischen Forschung hinzuweisen bzw. diese zu verwenden. Dementsprechend erscheint sowohl die Zusammenfassung der reformatorischen Rechtfertigungslehre als auch die kontrastierend gegenübergestellte katholische Gnadenlehre plakativ und undifferenziert. 101 Bei allem Verständnis für die Rezeptionskapazität des „Laien" wirken die spärlichen Ausführungen zur Rechtfertigungslehre im Blick auf die sonst durchaus redundante Darstellungsweise des Autors unangemessen. Jeder einzelne Satz dieser kurzen Charakterisierung reizt den Theologen zum Widerspruch, da die eigentliche Bedeutung der reformatorischen Theologie durch die nur partielle Erfassung der theologischen Grundgedanken verdunkelt wird. Einige Beispiele sollen diesen Vorwurf verdeutlichen. Gerechtfertigt ist der Mensch nach reformatorischem Verständnis nicht, wie Blickle resümiert, durch den Glauben an Gott, sondern durch die zugesprochene Rechtfertigung kraft des Erlösungswerkes Jesu Christi. Rechtfertigung ist vielmehr „Zusage der Gerechtigkeit, die Christus zu eigen ist und mit der Christus selbst sich dem Sünder zuspricht [,..]." 1 0 2 Der Glaube als Vertrauen auf die durchs Wort vermittelte gnadenvolle Zusage, die nicht vom Lebensbefund des Menschen vor Gott abhängig ist, ist nicht als „unabdingbare Voraussetzung der Gnade" 1 0 3 zu fassen, sondern entspricht dem Zuspruch als dankbare Anerkennung. Er ist somit ebenfalls Geschenk und nicht menschliche Leistung. Das „Medium" 1 0 4 , durch das man zum Glauben kommt, ist nicht einfach „Christus, das geoffenbarte Wort Gottes in der Form des Evangeli-

100 101 102 103

Ebd. Ebd. Κ. V Selge, Peter Blickle, Die Reformation im Reich, in: H Z 246,155-156. Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 124. Joesty Dogmatik II, 440.

Blickle, Gemeindereformation, 124. κ» Ebd.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

103

ums" 1 0 5 , sondern das Wort des gepredigten Evangeliums von Jesus Christus (viva vox evangelii), das gehört und geglaubt wird. Die zentrale Bedeutung der Predigt für die Reformation hat hier ihren theologischen Wurzelgrund. In der katholischen Gnadenlehre wurde - entgegen der Auffassung Blickles nicht die Ansicht vertreten, daß der Mensch „aus eigener Kraft die Gnade Gottes erlangen" 106 könne. Hier wäre eine zumindest im Ansatz differenzierende Sicht der katholischen Tradition und der scholastischen Theologie zur Frage des abgestuften Gnadenverständnisses und der Heilsvermittlung angezeigt, die über ein oberflächliches „Schwarz-Weiß-Schema" hinausgeht. 107 Daß dem Menschen in der reformatorischen Theologie im Vergleich zur katholischen Lehre auch nur ein bescheidener Anteil an der Rechtfertigung zugemessen wird, 1 0 8 kann nicht behauptet werden, denn er wirkt am Rechtfertigungsgeschehen überhaupt nicht mit. Er erfährt es vielmehr als „fremde Gnade", die er im Glauben dankbar annimmt. Bei der Darstellung des (sie!) „reformatorischen Sakramentsverständnisses" unterläßt Blickle jede Differenzierung zwischen Luther und Zwingli, obwohl sich an dieser Frage die Spaltung der Reformation vollzog. Die Sakramente wurden auch nicht, wie Blickle behauptet, durchgängig auf Taufe und Abendmahl reduziert, wenn bedacht wird, daß für Luther nach wie vor die Buße im Kanon der Heilsmittel verbleiben sollte. Die reformierte Tradition nicht aber die lutherische Ausprägung der reformatorischen Theologie - profilierte den Zeichencharakter der Sakramente und damit die Absage an ein effektives Verständnis derselben, wie die Abendmahlskontroverse belegt. Die hier ausgewählten vermeintlich reformatorischen Theologumena lassen die reformatorische Anliegen nur noch rudimentär erkennen. Die Kritikpunkte ließen sich trotz oder gerade wegen der erstaunlichen Kürze 1 0 9 der Ausführungen Blickles nahezu beliebig vermehren. Es sollen jedoch nur noch einige wesentliche Anfragen diskutiert werden. Blickle begründet die Spaltung der Reformation mit der unterschiedlich beantworteten Frage nach den sozialethischen Konsequenzen der Rechtfertigungslehre. 110 Diese von der communis opinio der kirchenhistorischen Forschung abweichende These wird auch von dem Allgemeinhistoriker Schilling kritisch hinterfragt, der zurecht darauf hinweist, daß die Trennung aufgrund der strittigen Sakramentslehre erfolgte und auch von den Reformatoren selbst

i° 5 Ebd. Ebd., 125. 107 Vgl. W.-D. Hauschild, Art. Gnade IV, in: TRE 13, Berlin/New York 1993,485-489. 108 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 125. 109 Blickle widmet der Zusammenfassung der reformatorischen Theologie in seinem Werk zur Gemeindereformation gerade eine Seite! Vgl. 124 f. Vgl. ebd.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

im Bewußtsein dieser Lehrunterschiede vollzogen wurde. 111 Eine kritische Prüfung seiner Darstellung soll den Wahrheitsgehalt seiner These ergründen. Blickles Kategorisierung der reformatorischen Theologen weist unübersehbare Parallelen zur idealtypischen Einteilung Troeltschs 112 auf, die der Verfasser scheinbar übernimmt, ohne die kritische Differenzierung der nachfolgenden Forschung aufzugreifen. In der wohlwollenden Charakterisierung der „christlichen Humanisten" zu denen er Zwingli, Oekolampad und Bucer rechnet, nennt er die innerweltliche Realisierung der ethischen Anweisungen der Bibel als Zentrum dieser reformatorischen Hauptrichtung. „ E i n Reich des Friedens und der Harmonie herzustellen, war das Ziel der Humanisten." 113 Dieses utopische Ansinnen läßt sich nur schwer mit dem eschatologischen Vorbehalt harmonisieren, der auch für die Zwinglische Reformationstheologie konstitutiv war. 1 1 4 In der Darstellung Zwingiis bewahrheitet sich erneut der Verdacht, daß die These der Gemeindereformation Blickles Interpretation präjudiziert und die Beobachtungen dominiert. Daher findet er bei Zwingli an zentraler Stelle die Forderung nach Umsetzung der „göttlichrechtlichen Kategorie" der Nächstenliebe in der Lebens Wirklichkeit. Fragen der Heilsvermittlung, des Schrift- und Gnadenverständnisses, die auch in Zwingiis frühen Schriften - Blickle rekurriert auf die Auslegen der Schlußreden von 1523 - ohne Zweifel im Vordergrund standen, treten hinter die Ethisierung der Zwinglischen Lehre zurück. Zwingiis theologische Konzeption erscheint, obwohl Blickle nur die Frühphase der Reformation untersucht, als abgeschlossenes System. Es ließe sich viel zu der einseitigen Zusammenfassung der Zwinglischen Position sagen, die sich vorwiegend auf die Paraphrase des 39. Artikel der Auslegen der Schlußreden beschränkt. 115 Dennoch soll hier nur die scharfe Kontrastierung zu Luther in der Frage der realen Umsetzung ethischer Grundnormen der Schrift aufgenommen werden. Ist die Forderung nach Nächstenliebe als Grundnorm der weltlichen Gesetzgebung wirklich grundlegend von Luthers Konzeption zu trennen? Blickle verzichtet darauf, an dieser Stelle Luthers Lehre von der Obrigkeit zu referieren. In seiner später vollzogenen, durchweg negativ konnotierten Darstellung der lutherischen Position, spiegelt sich m. E. die Diskussion um die Wirkungsgeschichte der sog. „Zweireichelehre" wieder (s. u.). Im Rahmen der seit der Nachkriegszeit intensiv stattfindenden Debatte wurde Luther, der der Obrigkeit aufgrund ihrer gött111

Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 331. Vgl. Punkt 1.1 dieser Untersuchung. 113 Blickle, Gemeindereformation, 125. 114 Vgl. Gestrich, Zwingli, 170 f.; G. W. Locher, Das Geschichtsbild Huldryçh Zwingiis, in: Ders., Zwingli in neuer Sicht, Zürich/Stuttgart 1969,75-104. 115 Gerät z. B. bei Zwingli wirklich der Staat unter die „normenkontrollierende ... Aufsicht der Gläubigen" oder geht Zwingli nicht viel eher von einer durch die Predigt des Evangeliums einheitlich gläubigen Staatsführung aus? 112

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

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liehen Setzung eigengesetzliches Handeln zubilligte, vorgeworfen, einer „unkritischen Akzeptanz der Herrschaftsgewalt" in Deutschland Vorschub geleistet zu haben, 116 wodurch er das Versagen der Kirchen während des „Dritten Reiches" indirekt mitverursacht hätte. Durch Luthers Haltung im Bauernkrieg, die Blickle ausführlich darstellt und verurteilt, sei darüber hinaus die demokratische Entwicklung Deutschlands verhindert worden. Die einseitige Deutung der „Zweireichelehre", die ohne Zweifel im Hintergrund der Wertungen Blickles steht, soll nachfolgend durch eine erweiterte Sicht der Haltung Luthers zur Obrigkeit ansatzweise korrigiert werden. Für Luther erhält die staatliche Obrigkeit die Ordnung des irdischen Lebens aufrecht, indem sie den Auswirkungen der Sünde mit dem Mittel der Gewalt und des Rechts wehrt. Luther ging aufgrund seiner Auslegung von Rom 13 davon aus, daß die Gesetze zur Bestrafung des Bösen und zum Schutz des Guten angewendet werden und demnach mit Gottes Gesetz übereinstimmen. 117 In seiner Schrift „Von der weltlichen Obrigkeit" (1523) sah er die vorrangige Aufgabe des weltlichen Regiments darin, den Schutz des Nächsten zu gewährleisten. 118 „Es muß yhe seyn der die boßen fehet, verklagt, würget unnd umbringt, die gûten schützt, entschuldigt, verantworttet und erredtet." 119 Ausführlich geht Luther in dieser Schrift auf die Grenze staatlicher Macht ein, wobei er sogar ein eingeschränktes Widerstandsrecht in Anlehnung an Apg 5,29 andeutet. 120 Ein großer Teil seiner Ausführungen beschreibt die rechtmäßige Amtsführung des christlichen Fürsten. A n dieser Stelle begegnen Formulierungen, die weitgehende Parallelen zu den Zwinglischen Auslegen der Schlußreden aufweisen, dort allerdings auf die politische Situation der Rats- und Stadtverfassung angewendet werden, obwohl auch Zwingli über die christlichen Feudalherren räsoniert. Zwingiis Schrift „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit" erschien in demselben Jahr wie Luthers Obrigkeitsschrift. 121 Aufgrund vielfältiger inhaltlicher Analogien vertritt u. a. Ch. Gestrich die These, daß Zwingli durch Luthers Ausführungen direkt beeinflußt wurde. 122 Luthers „Zweireichelehre" half Zwingli demnach, das Verhältnis von Staat und Kirche theologisch zu klären. Von einem prinzipiellen Gegensatz im sozialethischen Bereich läßt sich zumindest in dieser Frühphase 116 Zur Problematik der Zweireichelehre vgl. B. Lohse, Martin Luther, München 21983,190 ff. 117 Vgl. Joest, Dogmatik II, 604. 118 Vgl. Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, WA Bd. 11,229-281; vgl. ebd., 258. 119 Ebd., 260 f. 120 Vgl. ebd., 266.

121 Vgl. Ζ II, 471-525. ι 2 2 Vgl. Ch. Gestrich, Zwingli als Theologe. Glaube und Geist beim Zürcher Reformator, Zürich/Stuttgart 1967,176-178, Anm. 208. Gestrich führt dort eine eindrucksvolle Liste aller Übereinstimmungen auf.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

der Reformation nicht sprechen. Im Gegensatz zur dichotomischen Darstellung Zwingiis und Luthers durch Blickle rekurrierte Luther in seiner Obrigkeitsschrift bezüglich von Restitutionsprozessen ebenfalls auf das „Recht der Liebe", nach dem der Schuldner, ob Christ oder nicht, freigesprochen werden soll. 123 Das „Recht der Liebe" entwickelt Luther zu einer festen Kategorie der Rechtssprechung. Wenn etwa in einem Rechtsverfahren die Prozeßbeteiligten beide Nichtchristen seien und daher den Maßstab des „Rechts der Liebe" nicht gelten ließen, verstießen sie s. E. dennoch gegen Gott und das natürliche Recht. „Denn die natur leret, wie die liebe thut, das ich thun soll, was ich myr wollt gethan haben." 124 Auch bei Luther wird die Kategorie „Nächstenliebe" naturrechtlich begründet und somit zur Norm im positiven Recht erhoben. „So soll man mit allem ungerechten Gut handeln, es sei heimlich oder öffentlich, daß immer die Liebe und das natürliche Recht oben schwebe. Denn wo du der Liebe nach urteilst, wirst du gar leicht alle Sachen ohne alle Rechtsbücher entscheiden und richten. Wo du aber der Liebe und Natur Recht aus den Augen tust, wirst du es nimmermehr so treffen, daß es Gott gefalle [...]." 1 2 5

Die „Nächstenliebe" als positive Rechtsnorm kann bei Zwingli nicht als ein kategorialer Gegensatz zu Luther bezeichnet werden, wie Blickle behauptet. Vielmehr hat er diesen Gedanken wahrscheinlich direkt von Luther übernommen und ausgebaut. Als weitere Analogie zwischen Luther und Zwingli ist die parallele Aufgabenbestimmung der Obrigkeit nach Rom 13 zu nennen. Trotz dieses Befunds soll nicht bestritten werden, daß die beiden Reformatoren im Zuge der historischen Entwicklung unterschiedliche sozialethische Konzeptionen ausgebildet haben. 126 Aber von einer prinzipiellen Trennung in zentralen Lehrfragen kann im Blick auf die Frühphase 1523-25, die Blickle erörtert, nicht die Rede sein. Die scharfe Entgegensetzung Zwingiis und Luthers durch Blickle wird daher zurecht als eine unhistorische ideologische Setzung kritisiert. 127 Blickle verfolgt nach einer kurzen Darstellung der Zwinglischen und Müntzerschen Position die Frage nach der Vermittlung reformatorischer Inhalte, wobei er die Ergebnisse der neueren Kommunikationsforschung aufgreift. 128 In diesem Zusammenhang erklärt er die Flugschriftenliteratur, das „neue Propagandamedium", zur einflußreichsten Quelle der Verbreitung reformatorischer Theologie. „Über die Flugschriften, nicht nur über sie, aber

123 124 125 126

Vgl. WA 11,279. Ebd. Ebd. Vgl. Gestrick, Zwingli, 180.

127 Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 330; Scott, Common People, 185; Edwards, Gemeindereformation, 101. ι 2 « Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 128.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

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hauptsächlich über sie erhält der Gemeine Mann seine Informationen über die Reformation, ihre Theologie und Ethik." 1 2 9 Aufgrund der bisherigen Untersuchung der frühen Täuferbewegung, kann die Verfasserin, ebenso wie andere Forscher, 130 diese Einschätzung nicht teilen. In den Aussagen der an Fastenbrüchen, Bilderstürmen, Gottesdienststörungen und Zehntverweigerungen beteiligten Bauern und Handwerkern findet sich als Legitimations- und Motivationshintergrund stets der Hinweis auf das Wirken reformatorischer Prediger. 131 Die zentrale Stellung der Predigt als Verkündigung des „wahren Gotteswortes" zeigt sich auch in den aggressiven Protesten gegen altgläubige Predigten (s. u.). Die Vermittlung reformatorischer Theologie vollzog sich darüber hinaus auch in den lokalen Lesekreisen und in öffentlichen Lesungen, die von reformgesinnten Klerikern und Laien abgehalten wurden. 132 Eine Situationsbeschreibung aus der Chronik F. Sichers aus St. Gallen vermag zumindest für den schweizerischen Raum zu belegen, daß die „einfachen Leute" eher durch Predigt und Gespräch mit den Inhalten der reformatorischen Lehre vertraut gemacht wurden als durch Pamphlete: „eben allenthalb, wo ainer ging umb die stat spatzieren uff ainem sontag, so sach er ain huffen lut mit irem leßer handien und machen; es fiegend och schlecht gesellen ain ze leßen, die weder schrifft noch kunst hattendt." 133

Die reformatorische Theologie wurde vorwiegend durch die Beziehung zum persönlichen „selsorger und lütpriester" 134 sowie die Unterrichtung durch Laienprediger in Stadt und Land vermittelt. Wie wichtig der Kontakt mit Predigern und Laienpredigern für die oft lese- und schreibunkundige Landbevölkerung war, zeigt auch der oben geschilderte beharrliche Kampf um die Besetzung von Pfarrstellen mit reformatorisch gesinnten Amtsträgern. Die Täuferbewegung in Zollikon beweist, wie im organisatorischen Rahmen der Lesekreise durch Versammlungen um Laienprediger theologische Erkenntnisse transferiert wurden. 135 Die zunächst von Blickle vorgenommene Beschränkung der Quellenanalyse auf die Artikelbriefe und Beschwerden einzelner Dörfer und in der Dar129

Ebd., 132. 130 Vgl Scott , Common People, 189: „Indeed the peasants heard the reforming message primarily through preaching, rather than from pamphlets and broadsheets." 1 31 Vgl. EAk Nr. 233, 72-74; Nr. 267, 93; Nr. 432, 72; Nr. 414,158; Nr. 415,159; Nr. 416,160 f.; Nr. 421,163 ff.; Nr. 438,175 ff. Der Hinweis auf den Einfluß von Traktaten fehlt völlig. Erst in der Taufdebatte wirft Zwingli den Täufern vor, daß sie ihre Argumentation auf Traktate stützten. Auch der Müntzerbrief weist auf die Benutzung von Traktaten hin. 132 Vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung. 1 33 QGTS II, 587. 1 34 EAk Nr. 233,73. 135 Vgl. Punkt 4.2 und Punkt 10.2 dieser Untersuchung.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

Stellung des reformatorischen Kommunikationsprozesses auf die Flugschriftenliteratur bedeutet eine Engführung, die zwar seiner These dient, jedoch nicht die Variationsbreite des bäuerlich-bürgerlichen Reformationsverständnisses und dessen Vermittlung erfaßt. Bei der Auswertung der Flugschriftenliteratur ist unübersehbar, daß Blickle der Rechtfertigungsthematik möglichst wenig Gewicht beimißt. Daher stellt er auch die Einschätzung Moeliers, den er selbst für einen ausgewiesenen Fachmann dieser Materie hält, zu diesem Punkt in Frage und korrigiert im Sinne seiner These die sonst von ihm positiv rezipierten Ergebnisse Köhlers. 136 Blickles deutliche Aversion gegen Luther und das zentrale gemeinreformatorische Lehrstück der Rechtfertigungslehre verstellen einer sachlich-kritischen Würdigung des Reformators den Weg. Die statistische Auswertung der Flugschriften, die Blickle mit Akribie aufführt, bestätigt die beiden Themenbereiche, die er als das zentrale Anliegen der Gemeindereformation herausgestellt hatte: Schriftprinzip und Kirchenkritik. Ihm ist sicher recht zu geben, daß die bäuerliche und die bürgerliche Gesellschaft nur die zentralen Gedanken der Reformationstheologie erfaßten. Warum allerdings die Rechtfertigungslehre nicht verstanden worden sein soll, bleibt in seiner Beweisführung offen und muß daher eher als ideologisches Postulat des Autors denn als ein bewiesenes Faktum angesehen werden. Moeller und Köhler räumen dagegen der Rechtfertigungsthematik im Blick auf die Flugschriften einen hohen Stellenwert ein. 1 3 7 Die Darstellung Blickles zur Ekklesiologie Luthers ist bereits wiederholt kritisiert worden. 138 Luthers Schrift von 1522, die diesem als Grundlage dient, beschreibt die Notsituation einer Gemeinde unter der Herrschaft eines reformationsfeindlichen Patronats. 139 Aus dieser Gelegenheitsschrift läßt sich nicht ein von Luther generell vertretenes „Gemeindeprinzip" rekonstruieren, das er später aufgrund taktischer Überlegungen aufgegeben habe. Die Gemeinde, von der Luther hier als dem kompetenten Gremium für die Berufung von Predigern sprach, ist keineswegs als politische Gemeinde zu interpretieren, sondern als Versammlung von Christen, in der das „lautter Euangelion gepredigt w i r t . " 1 4 0 Diese Gemeinschaft der Gläubigen hat nach Luther das Recht, zu berufen und abzusetzen, wenn sie erkennt, daß die dazu verordneten Autoritäten wider Gott und sein Wort handeln. 141 Luther sieht „ynn dißer

136 Vgl Blickle, Gemeindereformation, 132. Die Rechtfertigungsthematik würde demnach nur deshalb so häufig erwähnt, weil viele Luthertexte verwendet worden seien. 1 37 Vgl. ebd., 131 f. Vgl. Junghans, Gemeindereformation, 126; Selge, Reformation, 155. 139 „Daß ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift", WA 11,401-416; vgl. Selge, Reformation, ebd. 140 WA 11,408. 141 Vgl. ebd., 411.413. 138

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

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verdampter letzten zeyt" 1 4 2 die Situation für gekommen, daß das Priestertum aller Gläubigen auch in dieser Frage umgesetzt wird, denn „nott bricht alle gesetz und hatt keyn gesetze." 143 Im Normalfall soll jedoch die Einsetzung des Pfarrers im Einvernehmen zwischen Bischof und Gemeinde geschehen. Blickle ist der Ansicht, daß der Gemeindebegriff in dieser Schrift Luthers offen bleibe, wodurch eine Übertragung auf die politische Gemeinde ermöglicht werde. Luther präzisierte jedoch seinen Gemeindebegriff gleich zu Beginn der zitierten Schrift ekklesiologisch, indem er die reformatorische Predigt als untrügliches Kennzeichen herausstellt, das zwischen Christen und Heiden, die sich Christen nennen, unterscheidet. 144 Wo das Evangelium gepredigt wird, sind Christen zu finden, „wie wenig yhr ymer sey und wie sundlich und geprechlich sie auch seyn [...]." 1 4 5 Auch der übrige Duktus der Schrift, die immer wieder die Gemeinde am Vorbild der paulinischen Ekklesiologie mißt, widerspricht einer Ausweitung des Gemeindebegriffs auf die politische Gemeinde. Deshalb ist Junghans zuzustimmen, wenn er über Luthers Ausführungen urteilt: „Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinde der entsprechend dem Evangelium Glaubenden hatte Vorrang vor dem Rechtsstatus einer politischen Gemeinde." 146 Blickle stellt jedoch zurecht fest, daß Luther seit 1520 das Priestertum aller Gläubigen theologisch entfaltete. Es erwies sich m. E. als dynamisches Prinzip, das den Fortgang der Reformation intensiv prägte. Dieses allgemeine Priestertum ist jedoch nicht mit den autonomen Rechten der politischen Gemeinde zu identifizieren. Luthers Ekklesiologie bildete sich, im Gegensatz zu Blickles statischer Darstellung, im Verlauf der wechselnden Konfliktsituationen aus. In der Frühphase läßt sich entgegen der Annahme Blickles noch keine dem Kongregationalismus zuneigende fertige Konzeption erheben, die durch die Ereignisse des Bauernkrieges verworfen wurde. In seiner Schrift gegen Karlstadt (1524/25) verurteilte Luther die Orlamünder Gemeinde, die ihn selbständig zu ihrem Pfarrer gewählt hatten. 147 Dieses Recht stünde ihnen nur zu, wenn der Fürst ein „Unchrist" wäre und sie mit gottlosen Pfarrern belastete. „Und wenn er gleich gottlosen dahy hette verordenet, als er nicht hat gethan, solten sie dennoch nicht yhrem lands herren ynn seyn recht, gut und gewalt greyffen und hynder seynem rücken welen pfarr [...] vielweniger soit ers annemen, und den fursten unersucht lassen, sondern wie die unterthanen gepûrt, demutiglich bey fursten oder Universitet geklagt und ersucht und umb eynen Christlichen pfarrer gebeten haben. Wo denn er nicht hette gewollt, mochten sie darnach yhr bestes dacht haben." 148 i « Ebd., 411. Ebd., 412. 1 44 Vgl. ebd., 408. Ebd. 146 Junghans, Gemeindereformation, 126. 147 Vgl. „Wider die himmlischen Propheten", WA 18,91,94,97. 1 48 Ebd., 97.

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Von einer theologischen Legitimierung der freien Pfarrerwahl durch die Gemeinde kann auch in dieser Schrift keine Rede sein. Lohse warnt davor, Luthers Äußerungen zur Ekklesiologie vorschnell eine „Programmatik" zu unterstellen. 149 Es ist verwunderlich, daß Blickle nicht auf die prominente Schrift „Vom Papsttum zu Rom" (1520) 150 eingeht, in der Luther die wichtige Unterscheidung zwischen der Kirche als geistliche Gemeinschaft der Gläubigen und der Kirche als verfaßte, leibliche Form der Christenheit vollzieht. In Konfrontation mit dem Anspruch des Papsttums wertete Luther die Bedeutung der äußerlich „sichtbaren" Gemeinde, die er der Ämterhierarchie unterstellte, deutlich ab. 151 Als notae ecclesiae der Versammlung der Gläubigen in ihrer sichtbaren Gestalt nannte er Taufe, Abendmahl und Predigt des Evangeliums, jedoch nicht die Bindung an Rom oder einen anderen Ort. Dieser geistliche Gemeindebegriff war für Luther prägend. Das allgemeine Priestertum entsprach zwar konsequent der Rechtfertigungslehre, wurde jedoch nicht das gestaltende Prinzip seiner Kirchenverfassung. 152 Luthers unsystematische Äußerungen zur Ekklesiologie müssen auf ihren „Sitz im Leben" innerhalb der historischen Entwicklung der Reformation befragt werden. Das Ziel, der reformatorischen Predigt ungehindert Bahn zu schaffen, dominierte die konzeptionell durchaus unterschiedlichen Einlassungen. Blickle vermutet jedoch, daß sich durch die unklare Ausdrucksweise Luthers, der Konkretionen dessen, was Gemeinde sei, vermieden habe, eine Übertragung der Rechte wie Pfarrerwahl und Lehrkompetenz auf die politische Gemeinde vollzogen habe. Diese Transferleistung sei jedem „unbefangenen Leser und Hörer" 1 5 3 zuzutrauen. Dieses Diktum bleibt trotz der suggestiven Gedankenführung spekulativ. In der anschließenden Wertung der Flugschriften kritisiert Blickle stets die Bezugnahmen auf das Priestertum aller Gläubigen, die ohne Konkretion in der Ortsgemeinde geblieben seien, wie auch die Unterscheidung von „sichtbarer" und „unsichtbarer" Kirche. Daraus ist zu ersehen, daß Blickle nicht an einer sachlichen Bestandsaufnahme reformatorischer Ekklesiologie interessiert ist, sondern allein an der Stützung seiner These. Im zweiten Anlauf der Zwingli Deutung berücksichtigt Blickle - was er Luther nicht zugestanden hatte - den Einfluß der Zeitsituation auf die Entwicklung seiner Position, die vor allem durch die Abgrenzung gegen die altgläubige Seite gekennzeichnet sei. 154 Hinsichtlich des Zürcher Reformators anerkennt w

Vgl. Lohse, Luther, 181. „Vom dem Papsttum zu Rom, wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig", WA 6, 285-324. 151 Vgl. WA 6,296 ff., 300. ι « Vgl. Lohse, Luther, 188. 150

ι 5 3 Blickle, Gemeindereformation, 137. 1 5 4 Vgl. ebd., 141.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

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er die allmähliche Ausbildung einer ekklesiologischen Konzeption, die ständig von wechselnden Gefährdungen des Reformationsprozesses konturiert wurde. Erst in der Schrift „Vom Predigtamt" (1525) sieht er Zwingiis Kirchenverständnis umfassend entwickelt. Die Gemeindeautonomie in Fragen der Lehre und der Pfarrerwahl sei jetzt durch die übergeordnete Kompetenz des Rates und der Leutpriester eingeschränkt worden. Gegen diese sukzessive Autoritätsübertragung an den Rat ist einzuwenden, daß Zwingli bereits in der Frühphase der Reformation im Rahmen der Auseinandersetzung um die Bilderund Meßthematik zwar die Rechte der einzelnen Kirchengemeinde feststellte, sie jedoch durch die Ratspolitik begrenzte und deren Kontrolle unterstellte. In der Zwingliforschung besteht ein Konsens darüber, daß der Reformator die Bannbefugnis, das Absetzungsrecht und die Pfarrerwahl zeitweise der Ortsgemeinde, zeitweise der Obrigkeit zuwies. So sprach er in der Auslegung der Schlußreden von 1523 die Bannbefugnis der einzelnen Gemeinde zu und rief andererseits bereits hier die Obrigkeit dazu auf, die Bannpraxis der Gemeinde unter ihren Schutz zu stellen. 155 Zur weiteren Untersuchung der Ekklesiologie verweise ich auf die Ausführungen zum Müntzerbrief. 156 Allerdings bleibt gegen Blickle festzuhalten, daß die von ihm gescholtene sogenannte „pneumatisch-charismatische" Struktur der Kirche sowie die Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche auch bei Zwingli bereits in den Auslegen der Schlußreden als konstitutives Element seiner Ekklesiologie begegnet. 157 Zwingli konzentrierte sich 1523 auf die Darlegung der universalen, unsichtbaren Kirche, wobei die sichtbare Kirche erstaunlich unbestimmt bleibt. In der Auslegung der Schlußreden ist das Desinteresse an der sichtbaren Kirche, ihrer Aufgabe und ihrer Struktur geradezu auffällig. Die ambivalente Einstellung Zwingiis zur Ortsgemeinde koinzidiert mit der „heißen Phase" der von Blickle behaupteten Gemeindereformation. Die Frage ist dabei, wie eine zuweilen als „Spiritualisierung" des Kirchenbegriffs bezeichnete Ekklesiologie zur Ideologie der nach Autonomie strebenden Gemeinden werden konnte. U m die theologische Präferenz Zwingiis für die Reformationsrezeption des „Gemeinen Mannes" gegenüber Luthers zu retten, stellt Blickle das Unverständnis und die selektive Wahrnehmung der Bauern und Bürger in Rechnung. Er muß selbst zugestehen, daß Zwingiis Äußerungen zur Gemeinde eher „beiläufige Auslassungen" 158 waren. Auch die von Blickle ausgewählten, reformatorischen Inhalte popularisierenden Flugschriften enthalten, wie er einräumt, nur spärliche Hinweise auf

155 Vgl. R. Ley , Kirchenzucht bei Zwingli, Zürich 1948,10. Zur Bannfrage vgl. Punkt 5.2.6 dieser Untersuchung. 156 Vgl. Punkt 5.2 dieser Untersuchung. 157 Vgl. Λ. Farner, Die Lehre von Kirche und Staat bei Zwingli, Darmstadt 1973,4 f. 158 Blickle, Gemeindereformation, 142.

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eine alternative Kirchenverfassung. 159 Den Theologen verwundert es im Blick auf die unbeantwortete Frage der Kircheneinheit und des Schismas im Gegensatz zu Blickle keineswegs, daß in den Flugschriften die Kritik an der bestehenden Kirche die Formulierung auf eine neue Kirchenverfassung gerichteter Leitsätze bei weitem überwiegt. Die Konstitutiva der Gemeindereformation findet Blickle schließlich u. a. in der Gottesdienstordnung von Ellenbogen. 160 Ungewiß bleibt, welchen publizistischen Wert diese Flugschrift hat. Ich schließe mich dem Urteil des Historikers Ziegler an, wenn er feststellt: „Auch die übrigen Autoren und Flugschriften geben dafür nicht besonders viel her; und ob man die Gottesdienstordnung von Ellenbogen und die reformatorische Rechtfertigungsschrift des Dorfes Friedhausen wegen Anstellung eines Schöffen als Prediger bis zur künftigen Residenz eines Pfarrers (1523) als Beweise für Gemeindechristentum nehmen kann [...], darf wegen der auf konkrete Notwendigkeiten bezogenen Fälle bezweifelt werden." 161

Nach der Analyse der Flugschriftenliteratur greift Blickle zum dritten Mal die Zwinglische Position zur Obrigkeit auf. Er stellt dabei fest, daß der Zürcher Reformator die für Luther grundlegende Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium nicht teile. 162 Dieser Gegensatz könne durch das spätere Schrifttum Zwingiis umfassend belegt werden. Locher weist jedoch darauf hin, daß Zwingli noch im März 1524 eindeutig die lutherische Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium für die Predigt forderte und erst im Dezember desselben Jahres seine Gesetzesvorstellung änderte, wie er selbst bemerkt. 1 6 3 Die „Ineinssetzung" von Gesetz und Evangelium stellt also eine spätere theologische Entwicklung, nicht jedoch einen von Beginn an prägenden Lehrunterschied zu Luther dar. Zwingli schrieb 1523, daß er in seiner Lehre mit Luther gänzlich übereinstimme. 164 Blickle projiziert deshalb eine spätere theologische Lehrposition Zwingiis in die Frühphase der Bewegung und konstruiert daraus einen fundamentalen Gegensatz zu Luther. Auch das von Blickle bei Zwingli entdeckte aktive Widerstandsrecht nach Apg 5,29, das im Widerspruch zu Luther formuliert sei, läßt sich m. E. nicht bestätigen. In den von Zwingli zitierten „Auslegen" ruft der Reformator nicht zum Widerstand gegen die ungerechte Obrigkeit auf, sondern stellt fest, daß politischer Aufruhr die logische Konsequenz ungöttlicher Gesetzgebung sei. Für Zwingli hatte politische Unruhe nie eine positive Bedeutung und auch keine staatsreformierende Potenz, wie seine Schriften gegen die Radikalen

Vgl. ebd. Vgl. ebd., 144. 161 Ziegler, Reformation, 444 f. 162 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 150. 160

163

Vgl. Locher, Zwinglische Reformation, 215. Vgl. Ch. Gestrich, Zwingli als Theologe. Glaube und Geist beim Zürcher Reformator, Zürich/Stuttgart 1967,83. 164

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

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zeigten. In der „Gerechtigkeitsschrift" (1523) zieht er aus Apg 5,29 vielmehr dieselbe Konsequenz wie Luther: „Sobald nun die fürsten gebeitend, das wider die götlichen warheit stryt oder dieselben verbüt, so sollend, die dem wort gottes glouben gebend, ee den tod erlyden, denn sy davon wychend."165

Zwingli beharrte darauf, daß man in bezug auf widergöttliche Gesetze der Obrigkeit keinen Gehorsam schulde. Der aktive Widerstand kann jedoch nicht als Handlungsanweisung ausgelegt werden. Auch in den von Blickle ausschließlich zitierten Auslegen wird Totschlag, Krieg und Aufruhr nicht als Möglichkeiten der Absetzung einer ungerechten Obrigkeit angesehen. Allerdings werden methodische Alternativen einer rechtmäßigen Amtsenthebung eingehend erörtert und dargestellt. Wie Blickle zugesteht, werden diese Rechte in der „Gerechtigkeitsschrift" wenige Monate später nicht mehr erwähnt. 1 6 6 Die Einhaltung des Naturgesetzes als dem Legitimationsgrund der Obrigkeit, den Zwingli festlegt, interpretiert Blickle als Ineinssetzung von politischer und kirchlicher Gemeinde. Wie bereits gesehen, läßt sich diese These aufgrund der in der Frühphase wenig konturierten Ekklesiologie und Sozialethik Zwingiis nicht beweisen. Aus seiner generalisierenden Darstellung der Zwinglischen Position, auf die er auch spätere theologische Entwicklungen Zwingiis projiziert, zieht Blickle weitreichende Schlüsse. Die Bauern, denen er eine selektive Wahrnehmung der Zwinglischen Theologie unterstellt, rezipierten allein die „Praxisrelevanz des göttlichen Wortes" 1 6 7 , die sie in ökonomische und politische Forderungen umsetzen konnten. Hierin sieht er die überragende Bedeutung Zwingiis gegenüber Luthers: „Luthers Abrechnung mit den Bauern 1525 und deren weltgeschichtlichen Folgen für die Reformation hat als Voraussetzung die Zwinglischriften von 1523." 168 Der Vergleich mit bäuerlichen Beschwerden, die den Terminus „göttliches Recht" unter Berufung auf Zwingli benutzten, wird jedoch durch den „Mangel an zweifelsfreien Beweisstücken" 169 beeinträchtigt. Die zitierten Artikelbriefe weisen dagegen alle die stereotype Formel der Reformation zur Schriftautorität auf, die von Luther eingeführt, auch bei Zwingli in den entscheidenden Disputationen begegnet. 170 Das Schriftprinzip, das in allen reformatorischen Neuerungen eingeklagt und als oberste Autorität angesehen wurde, muß m. E. nicht über den Umweg der selektiven Rezeption sozialethischer Äußerungen des Reformators durch die bäuerliche Trägerschaft rekonstruiert werden. 165

„Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit", Ζ II, 503. 166 Vgl Blickle, Gemeindereformation, 153. 167

Ebd., 155. 168 Ebd. 169 Ebd., 157. 1 70 Vgl. Punkt 4.3 dieser Untersuchung.

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Erst im Anschluß an diese Ausführungen stellt Blickle Luthers Position zur Obrigkeit anhand breiter Zitation seiner Bauernkriegsschriften dar. Er bemüht sich dabei in keiner Weise, die Zeitsituation zu berücksichtigen oder alternative Äußerungen Luthers aufzugreifen. Im Rahmen einer emotionalisierten Darstellung des lutherischen Kampfes gegen die Bauern gibt Blickle weitgehend die sachlich notwendige Distanz zu seinem Forschungsgegenstand auf. Die Interpretation erhält die Züge einer modernen Moritat: „Was Luther den Bauern abverlangte, war die duldende Unterwerfung unter den Willen der Herren und Obrigkeiten, war die Preisgabe einer jahrzehntelangen Tradition bäuerlichen Widerstandes, war der Verzicht auf Selbstbewußtsein und Identität. Kein Wunder, daß sie diesen Weg nicht gehen konnten und auch nicht gehen wollten." 171

Entgegen der Position Luthers erweist sich für Blickle Zwingiis „Ethik und Staatsauffassung" als besonders fruchtbar für die bäuerliche Reformation. 172 Aufgrund seiner diastatischen Sicht der beiden Hauptreformatoren kommt er schließlich zu dem gewagten Schluß, daß Luther sich im Bauernkrieg nicht gegen die Bauern, sondern gegen die theologischen Konzeptionen Zwingiis und Müntzers gewandt hätte. Die einseitige Luther-Interpretation (s. o.) soll nicht erneut Gegenstand der Kritik sein. Blickles Zwingli-Deutung, deren Zentrum er in der praktischen Umsetzung des Evangeliums in der Lebenswirklichkeit der Gesellschaft ansetzt, übersieht u. a. die Ausführungen des Reformators von Dezember 1524. In seiner Schrift „Wer Ursache gebe zu Aufruhr" kritisiert er diejenigen scharf, die soziale Forderungen mit der reformatorischen Predigt begründen. 173 „Dann ye offenlich empfunden wirdt, daß der glöubigen halb ghein grösser anstoß dem euangelio gelegt wirt, weder da die kinder diser wellt hörend, das stäcke darhinter: man werde einem nüts umb das syn geben; wiewol die als vor gesagt ist warlich nit diener Christi, sonder eygens nutzes sind." 174

Zusammenfassend bleibt festzuhalten, daß der zweite Teil von Blickles Untersuchung, wie auch der erste Abschnitt vielfältige Ansatzpunkte zur Kritik enthält. Es ist bedauerlich, daß die These der Gemeindereformation die Darstellung in solchem Maße dominiert, daß eine differenzierte Annäherung an die theologischen Konzeptionen der Hauptreformatoren unterbleibt. Blickles weitreichende Konklusionen für die spezifische Rezeption der reformatorischen Theologie durch den „Gemeinen Mann" entbehren einer tragfähigen Quellenbasis. Theologisch bedenklich stimmt, abgesehen von der polemischen Lutherdeutung, besonders die Mißachtung der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Bauern und Bürger rezipierten nicht nur, wie Blickle 171 172 173 174

Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 161. Vgl. ebd., 164. Vgl. Ζ III, 387 ff. Ebd., 401.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

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herausstellt, das „Sola-Scriptura"-Prinzip. Das neue Selbstbewußtsein der Laien und die Forderung nach der Predigt des reinen Evangeliums ist vielmehr ohne die Wirkung der Rechtfertigungsbotschaft nicht zu verstehen. Das reformatorische Schriftprinzip konnte als Appellationsgrundlage zur Behebung kirchlicher Mißstände genutzt werden, wie vielfältige Zeugnisse belegen. Ohne die theologische Grundlegung der Rechtfertigung allein aus Gnade mit ihren Konsequenzen für die Sakramentspraxis und das Amtsverständnis der Kirche ist jedoch die reformatorische Bewegung, die alle Stände und weite geographische Räume erfaßte, nicht zu verstehen. Gerade durch die Nichtbeachtung bzw. Fehldeutung der Rechtfertigungslehre geht Blickle m. E. am eigentlichen theologischen Movens der Reformation in Stadt und Land vorbei. Ein in ethische Leitlinien umgesetztes Gebot Gottes entspricht nicht dem Zentrum der reformatorischen Predigt. Denn Nächstenliebe als ethische Norm, die vom weltlichen A r m geschützt und umgesetzt werden sollte, findet sich wohl in jeder christlichen Tradition. Wie kann ein christlicher Allgemeinplatz zum nervus rerum der stereotypen Rezeption der Reformation(!) durch Bauern und Bürger werden? Blickle erfaßt nicht das Spezifikum der reformatorischen Theologie, das aus dem Mittelpunkt in der Rechtfertigungsbotschaft entwickelt wurde. Die Autoritätenfrage, der Antisakramentalismus, die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien und das Ende verdienstlicher Werke wurzeln in der gemeinreformatorischen Rechtfertigungslehre, die eine beispiellose soziale Dynamik entwickelte. Eine Ethisierung des Evangeliums, die Blickle zum Proprium der Rezeption des „Gemeinen Mannes" erhebt, entspräche mit gleichem Recht auch katholischer Frömmigkeit. Daß Laien sich jedoch in Fragen der kirchlichen Lehre selbst für kompetent hielten und sich mit großem Engagement für die kirchliche Erneuerung einsetzten, ist in der konsequenten Umsetzung der Rechtfertigungslehre und ihren Weiterungen im Bereich der Ekklesiologie und Sakramentspraxis begründet. Dem Verdacht, daß Blickle das Proprium der reformatorischen Theologie verfehlt, ist auch hinsichtlich der Frage nach der Korrelation von Kommunalismus und Reformation nachzugehen. In diesem Zusammenhang erscheint Blickles Festlegung, wonach die Bauern eher auf eine aus dem Evangelium entwickelte Ethik drängten, während die Bürger vornehmlich eine Sakramentsreform forderten, besonders im Blick auf die schweizerischen Quellen ebenso fragwürdig. Die Untersuchung zur Bilder- und Meßfrage, aber auch der spätere Streit um die Taufe weisen vielmehr auf ein unmittelbares Interesse der ländlichen Bevölkerung an einer Reform der Sakramentspraxis hin. Vielfältiges Quellenmaterial belegt die Aktionen von Einzelpersonen und Gruppen des Zürcher Umlandes, die eine rasche kirchliche Erneuerung unter Einschluß der Sakramentspraxis erzwingen wollten. 1 7 5 175

Vgl. Punkt 4.5 dieser Untersuchung.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

Bevor abschließend die umfassende Konzeption Blickles zum Zusammenhang von Kommunalismus und Reformation untersucht werden soll, scheint es uns notwendig, zunächst das Täuferbild Blickles zu skizzieren. Blickle bezeichnet das Täufertum als „dialektische Umkehrung" 1 7 6 der Gemeindereformation. Er übernimmt die Typisierung der normativen Forschung, wonach sich die Täufer aufgrund ihres auf Freiwilligkeit beruhenden Gemeindeprinzips definieren. Ihre „freikirchliche" Ekklesiologie stelle die Legitimität der traditionellen kirchlichen und politischen Gemeinde in Frage. Als Teil der Reformation der einfachen Leute „exilierten" sie nach den Erfahrungen des Bauernkriegs aus der Geschichte und verwirklichten die Ideale der Gemeindereformation abseits der Gesellschaft. 177 Im Gegensatz zum „positiven", auf Veränderung der Gesellschaft drängenden Protest, soll nach Blickle die weitabgewandte Täuferbewegung als „negativer Protest" verstanden werden. Blickle berücksichtigt jedoch nicht die historische Genese des Täufertums, noch untersucht er seine theologischen Grundentscheidungen. Sein Urteil, daß die Täufer eine „gegen staatskirchliche Verengungen sich wehrende Gemeindekirche" 178 seien, repristiniert traditionelle Deutungen der älteren Forschung. 179 Ebenso findet die bereits mehrfach widerlegte These eines Zusammenhanges zwischen der Theologie Müntzers und dem Schweizer Täufertum bei Blickle unkritisch Aufnahme. Der „Müntzerbrief" wird entgegen des neueren Forschungskonsens als Zeichen dieser Kongenialität bezeichnet. Traditionelle Vorurteile gegen das Täufertum wie die typischen Kategorien „Spiritualismus" und „Individualismus" werden von ihm rezipiert und sozialhistorisch bestätigt. Der „Freiwilligkeitsgemeinde" der Täufer wird von Blickle unterstellt, daß sie nicht mehr an der Mehrheit bzw. Gesamtheit der Bevölkerung orientiert sei, sondern programmatisch auf die Verbesserung der Welt verzichte. Bei dieser weitgehenden Deutung unterbleibt erneut jeder Hinweis auf die theologische Motivation dieser Bewegung. Blickle vermittelt ein statisches, durch ältere Forschungsergebnisse konturiertes Bild des Täufertums, das er mit den Ergebnissen zur Gemeindereformation zu harmonisieren versucht. Erst der sozialhistorischen Täuferforschung gelang es, seinen Ansatz mittels der These von der zweiphasigen Täuferbewegung zu verifizieren und auszugestalten.180 Die weitere Untersuchung hat zu zeigen, ob der theoretische Ansatz Blickles dem quellenmäßigen Zeugnis und damit der Eigenart des schweizerischen Täufertums entspricht.

176 Blickle, Gemeindereformation, 118; ders., Die soziale Dialektik der reformatorischen Bewegung, in: P. Blickle / A. Lindt / A. Schindler (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich, 1985,89. 177 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 119; ders., Dialektik, 89. 178 Blickle, Gemeindereformation, 118. 179 Vgl. Punkt 1.1 dieser Untersuchung. 180 Vgl. Punkt 1.3 dieser Untersuchung.

3.3 Grundsätzliche Anfragen an das Konzept der „Gemeindereformation"

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In einem Aufsatz aus dem Jahr 1986 stellt Blickle den Zusammenhang zwischen drei Kategorien der freiwilligen Vergesellschaftung - Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus - ausführlich dar. 181 Eingehend beschreibt er die gesellschaftliche Entwicklung des Spätmittelalters, die von der Bewegung des Kommunalismus geprägt wurde. Die Selbstverwaltung der Gemeinde setzte sich demnach gegen die hegemoniale Macht der Feudalherren sukzessiv durch. Als Legitimationskategorie bildete sich in der Trägerschaft von Bauern und Bürgern der „Gemeine Nutzen" heraus. 182 Die drei Konkretionen gesellschaftlicher Organisation verhalten sich nach Blickle komparativ zueinander, so daß die Republik folgerichtig zum Kommunalismus hinführte. Aus den „veränderten alltäglichen Arbeits- und Lebensweisen" 183 der spätmittelalterlichen Gesellschaft resultierten „spezifische, sich wechselseitig bedingende Organisationsformen und Wertvorstellungen", die Blickle in den drei genannten Kategorien begrifflich zu fassen versucht. Konstitutiv ist die Auseinandersetzung und letztliche Überwindung des feudal beherrschten Gesellschaftsgefüges. In diesem grundlegenden Aufsatz fehlt jede Einlassung auf die Bedeutung der Reformation. Die Verschiebung der gesellschaftlichen Tektonik des Ständestaates speist sich vielmehr s. E. aus den veränderten Lebensverhältnissen und sozialen Umbrüchen. Das große Bild der gesellschaftlichen Wandlung durch Kommunalismus, Parlamentarismus und Republikanismus, mit dem Blickle die Gesamtsituation der spätmittelalterlichen Epoche erfassen will, kann auf die Einbeziehung der Reformation getrost verzichten. Letztlich gründet die spätere Konzeption der Gemeindereformation auf dieser Gesellschaftsanalyse. In diesem Zusammenhang fällt der reformatorischen Theologie die Rolle einer legitimierenden Ideologie für den sich durchsetzenden Kommunalismus zu. Die Reformation vermittelt, gesellschaftlich betrachtet, keinen neuen Impuls, sondern war lediglich in der Lage, die soziale Umstrukturierung ideologisch zu sanktionieren. Demnach markierte die Reformation letztlich nicht den Anfang einer neuen Epoche, sondern förderte eine längerfristige gesellschaftliche Entwicklung durch ideologische Schützenhilfe. Dieses Präjudiz, das der Reformation letztlich keine innovative Kraft zur Gesellschaftsveränderung beimißt, dominiert Blickles Sicht der theologischen Grundlagen der Reformation, ihrer führenden Repräsentanten und ihrer Rezeptionsgeschichte. Nur die ideologische „Paßfähigkeit" der reformatorischen Theologie zum Kommunalismus vermochte daher, ihren Erfolg zu verbürgen. 184 Die zentrale Bedeutung des Kommunalismus und seine Präferenz einer gesellschaftlichen Bedeutung der Reformation führt Blickle schließlich zu der provokanten und 181 Vgl. P. Blickle, Kommunalismus, Parlamentarismus, Republikanismus, in: H Z 242,1986,529-556. 182 Vgl. Blickle, Kommunalismus, 541-544. 183 184

Ebd., 555. Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 203.

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3 Peter Blickles Konzeption der „Gemeindereformation"

aus seiner Sicht konsequenten Frage, ob sich die reformatorische Theologie selbst nicht gänzlich dem Kommunalismus verdanke. Blickle bekennt sich gerade durch diese These zu seinen geschichtstheoretischen Grundlagen. Das eigentliche Movens der Geschichte kann als die Anpassung der Gesellschaft an veränderte Lebensbedingungen erfaßt werden. Diese sozialen und politischen Prozesse führten zur Bildung von Ideologien, durch die gesellschaftliche Entwicklungen legitimiert und gefördert wurden. Eine in diesem Sinne verstandene Legitimationsrolle weist er auch der reformatorischen Theologie zu, sofern sie durch den Transformationsprozeß der bäuerlich-bürgerlichen Trägerschaft fruchtbar gemacht werden konnte. Mit dem von ihm herausgearbeiteten funktionalen Konzept der Gemeindereformation versucht Blickle, den Kommunalismus mit der ideologischen Potenz der reformatorischen Lehre zu verbinden und als befristete Bewegung historisch zu verifizieren. Zurecht fragen auch Allgemeinhistoriker an, ob einzig und allein die reformatorische Lehre kompatibel zum Kommunalismus bzw. besonders fruchtbar für dessen Förderung gewesen sei. 185 Schilling führt dagegen das Beispiel eines katholischen, bürgerlich-kirchlichen Kommunalismus im niederdeutschen Bereich an. 1 8 6 Ebenso argumentiert Scott im Blick auf die Schweiz: „The innner Swiss cantons, in particular, displayed a resolute will to communalize their church by controlling the appointment of priests and regulating their competency yet they remained staunchly catholic."187

Nicht nur die reformatorische Theologie, auch die altgläubige Tradition sowie eine unreflektierte Mischung aus beidem erwiesen demnach ihre „Paßfähigkeit" zum Kommunalismus. 188 Wenn dies zutrifft, bleibt das Proprium der Reformation ungeklärt bzw. gerät in eine völlige Abhängigkeit von mentalitätsgeschichtlichen, geographischen und psychosozialen Faktoren. Müßte doch in diesem Fall jeweils gefragt werden, warum in dieser oder jener Region die reformatorische Theologie und nicht die traditionelle als ideologische Legitimierung des Kommunalismus gewählt wurde. Blickles funktionale Interpretation, die den Charakter der Reformation als eines religiösen und universalhistorischen Ereignisses negiert, übersieht die innovative Kraft dieser Bewegung, die alle Stände erfaßte. Bei der Rezeption der von Blickle gewählten Kategorien muß die Kommunalismus-These und der funktionale Interpretationsrahmen berücksichtigt werden. Die eigentliche Intention des Autors liegt nach Schilling, Brady, Brecht und Po Chia Hsia 185 Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 331; Scott, Common People, 188; Po Chia Hsia, Myth, 208. 186 Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 331. 187 Scott, Common People, 188. 188 Vgl. ebd., 187.

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in der aufklärerisch-paränetischen Wirkung seiner Geschichtsdeutung auf die heutige Gesellschaft. 189 Indem er die kommunalisierende Bewegung von Bauern und Bürgern als antifeudales und antiautoritäres Erbe der deutschen Geschichte profiliert, versucht er eine Brücke zur heutigen demokratischen Staatsform in Deutschland zu schlagen. Sein leidenschaftliches Engagement und seine Polemik gegen feudale Herrschaftsstrukturen und die sie angeblich legitimierende Theologie sind wohl ohne diesen inhärenten Gegenwartsbezug nicht zu verstehen. „It forges a link between the democratic present and a populist past; it serves as a counterbalance to the legacy of the Fürstenreformation, so well reflected both in the course of German history and in German historiography." 190

Die kritische Darstellung von Blickles Gemeindereformation ist gezwungen, auf zahlreiche historische, theologische und methodische Aporien und Fehleinschätzungen hinzuweisen. Besonders der ideologische Gehalt der Konzeption muß bei ihrer Anwendung auf die Täuferforschung sorgfältig beachtet werden. Im Blick auf die Frühphase der Schweizer Reformation erwies sich Blickles These von der Gemeindereformation als ideologisches, metahistorisches Konstrukt, das die in Wahrheit wesentlich komplexeren theologischen und sozialen Sachverhalte reduktionistisch verzerrt.

189

Vgl. Schilling, Gemeindereformation, 326; Brady , Sacral Community, 241, 245; Po Chia Hsia, Myth, 215; Brecht, Gemeindereformation, 455. 190 Po Chia Hsia, Myth, 215.

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums Bei der Frage nach den ersten konzeptionellen theologischen Entwürfen der Schweizer Täuferbewegung sind zweifellos die „programmatischen Briefe" des „Grebelkreises" an Thomas Müntzer aus dem Jahre 1524,1 die Protestation von Felix Mantz 2 sowie als besonders prominente Quelle das sogenannte „Schleitheimer Bekenntnis" von 15273 als „Kristallisationspunkt" 4 des Schweizer Täufertums zu nennen. Eine Beschränkung auf diese Schriften würde jedoch nicht nur die Integration sozialhistorischer Ergebnisse, sondern auch ein tieferes Verstehen für die Eigenart des Schweizer Täufertums in Korrelation und Distanz zum „Zwinglianismus" verhindern. Die spannungsreiche und umstrittene Entstehungsgeschichte der Schweizer Täuferbewegung gehört unabdingbar zur theologiegeschichtlichen Fragestellung hinzu. Seit dem bahnbrechenden Aufsatz von J. F. G. Goeters zur Vorgeschichte des Schweizer Täufertums 5 reißt die Debatte um die „prototäuferische" radikale Partei und den Zeitpunkt ihrer Formation innerhalb der Anhängerschaft des Zürcher Reformators nicht ab. Die „Geburtsstunde" des Täufertums, ob nun bereits 1522 im radikalen Frühzwinglianismus, 1523 als Konsequenz der Zweiten Zürcher Disputation, 1525 anläßlich der ersten Gläubigentaufe oder 1527 im Konsensvotum des Schleitheimer Bekenntnisses angesetzt, ist umstritten. Es erscheint daher unmöglich, die komplexe Forschungsdiskussion, die auch indirekt die oben skizzierte historiographische Kontroverse widerspiegelt, zu ignorieren und mit der hermeneutischen Analyse der drei theologischen Hauptschriften einzusetzen. Daher wird in einem ersten Teil die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums in den Blick genommen, wobei die quellenkritische Darstellung anhand von Aktenmaterial, Chroniken und Schriften täuferischer Gesprächspartner methodologisch grundlegend ist. 1 Vgl. L. v. Mur alt / W. Schmidt (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Band 1: Zürich, Zürich 21974 (QGTS I), Nr. 14, 14-21; zur Bedeutung des Briefes vgl. Goertz, Täufer 78; vgl. Punkt 5.2 dieser Untersuchung. 2 Vgl. QGTS I, Nr. 16,23-28. 3 Vgl. H. Fast (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. 2, Zürich, 1973 (QGTS II), Nr. 26,26ff.; vgl. A. Laube/A. Schneider/ U. Weiß (Hg.), Flugschriften vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526-1535), Band I, Berlin 1992,728-748; O. Clemen/ W Köhler (Hg.), Flugschriften aus den ersten Jahren der Reformation, Bd. 2, Heft 3, Leipzig 1908,306-336; H. Fast, Der linke Flügel der Reformation, Bremen 1962,60-71. 4 Vgl. J. H. Yoder, Der Kristallisationspunkt des Täufertums, in MGB, 1972,35-47. 5 Vgl. J. F. G. Goeters, Die Vorgeschichte des Täufertums in Zürich, in: Studien zur Geschichte und Theologie der Reformation, FS Ernst Bizer, Neukirchen-Vluyn 1969, 239-281.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Es besteht ein Konsens in der Forschung, daß die Schweizer Täufer aus der Anhängerschaft Zwingiis in der Frühzeit der reformatorischen Bewegung Zürichs stammen. Der Zeitpunkt des Entstehens einer festen Gruppierung oder Fraktion innerhalb der Zwinglischen Reform sowie der Profilierung einer eigenen theologischen Konzeption ist umstritten. Bereits E. Staehelin sah im Auftreten radikaler Kräfte, die den ersten Fastenbruch initiierten, die Vorläufer der späteren Täufer. 6 Die Mitglieder dieser sich bereits 1522 abzeichnenden „Parteibildung" gehörten demnach zu den „treuesten und entschlossensten Freunden" Zwingiis, die durch seine moderate Reformpolitik und die langsam voranschreitende, evolutionäre Neuordnung der Kirche enttäuscht wurden. Ebenso hatte auch E. Egli, als „erster moderner Darsteller" 7 des Täufertums, in der Gefolgschaft Zwingiis eine radikale Gruppierung ausgemacht, die, involviert in Sozialrevolutionäre Bestrebungen in der Frühphase der Zürcher Reformation, als spätere Täufer hervortraten. 8 Im Gegensatz dazu sah die sogenannte „normative" Täuferforschung im Vollzug der ersten Gläubigentaufe 1525 und der Gründung der ersten Täufergemeinde in Zollikon die „Geburtstunde" des Täufertums. 9 H. Bender vertritt darüber hinaus die Ansicht, daß vor der Zweiten Disputation, auf der die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Reformator und seinen oft als „ungeduldig" apostrophierten Anhängerschaft deutlich wurden, keine radikale Partei existierte. 10 Auch F. Blanke und in seiner Nachfolge J. Yoder messen der Zweiten Disputation entscheidendes Gewicht für die Formierung des Täufertums zu. 11 Yoder legte in einem späteren Aufsatz seine modifizierte Auffassung dar, wonach erst durch das Schleitheimer Bekenntnis dem Täufertum als „Konfession" eine „lebensfähige übernationale Ordnung" gegeben wurde. 12 Andere Datierungsversuche vermag er in diesem Zusammenhang durchaus überzeugend als Ergebnisse unterschiedlicher Forschungsperspektiven aufzuzeigen. Trotzdem hat sich die Frühdatierung der täuferischen Bewegung als radikaler Bestandteil der Zwinglischen Reformpartei, die bereits in den Jahren 1522/23 in Erscheinung trat, vor allem durch die rege sozialhistorische Forschungsarbeit durchgesetzt. Goeters gelang es in seinem akribisch am Quellenmaterial orientierten Aufsatz, die ersten Aktionen der radikalen Anhänger Zwingiis in der dynamischen Frühzeit des Zürcher Reformprozesses 6

Vgl. R. Staehelin, Huldreich Zwingli. Sein Leben und Wirken nach den Quellen dargestellt, Band 1: Die reformatorische Grundlegung, Basel 1895,462. 7 Goeters, Vorgeschichte, 239. 8 Vgl. ebd.; Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 13. 9 Vgl. Bender, Grebel, 246; E. Krajewski, Leben und Sterben des Zürcher Täuferführers Felix Mantz. Über die Anfänge der Täuferbewegung und des Freikirchentums in der Reformationszeit, Kassel 3 1962,72 ff. 10 Vgl. Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 13. 11 Vgl. ebd., 13 f.; F. Blanke, Brüder, 6 f. 12 Vgl. Yoder; Kristallisationspunkt, 35-47.

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

herauszuarbeiten. Er kommt zu dem Ergebnis, daß unter „den vorwärtsdrängenden und die jeweiligen Vorfälle auslösenden Kräften" immer wieder die „Väter des späteren Täufertums" 13 begegnen. Goeters ist es zu verdanken, daß der Streit um den Zehnten in seiner Bedeutung für die Ausprägung der Täuferbewegung erkannt wurde. Antiklerikale Agitation und Zehntenverweigerung wurden erstmalig von Goeters für die Charakterisierung der Frühgeschichte des Täufertums als maßgebliche Kriterien entdeckt. Auch R. C. Walton entscheidet sich in seinem Werk zur Zwinglischen Reformation für die Frühdatierung der Anfänge täuferischer Gruppenbildung. 14 Durch die erkennbare personelle Kontinuität sieht er es als folgerichtig an, im radikalen Flügel der Gefolgschaft Zwingiis, der ab 1522 wiederholt durch spektakuläre Aktionen in die Öffentlichkeit tritt, den Beginn der späteren Täuferbewegung anzusiedeln. Der grundlegenden These Goeters schlossen sich in der Folgezeit viele, vor allem sozialgeschichtlich orientierte Forscher an. Hierbei ist J. M . Stayer hervorzuheben, der die „Prototäufer" als radikale Reformierte unter dem ekklesiologischen Terminus „non-separating Congregationalism" 15 deutete. Stayer unterscheidet die radikalen Kräfte, die durch die Zehntverweigerung an sozialpolitischen Spannungen teilhatten, die Autonomie der Landgemeinden als Abwehr der Zentralisierungstendenzen Zürichs befürworteten und damit Parallelen zu den Forderungen der aufständischen Bauern aufwiesen von der späteren, abgesonderten Sektengestalt der Schweizer Brüder, die sich durch das Schleitheimer Bekenntnis letztendlich konstituierten. Die theologische und soziologische „Metamorphose" des Täufertums bzw. dessen Frühgestalt vom nicht-separatistischen Kongregationalismus zum Sektentum vollziehe sich unter den politischen Ereignissen, allen voran durch die prägenden Erfahrungen des Bauernkrieges sowie unter dem Einfluß der sich festigenden Reformstrategie Zürichs und deren Rückwirkung auf die täuferischen Kreise. Stayer kommt demnach zu einem zweiphasigen Bild der täuferischen Bewegung. Die ideologischen Grundlagen für die sich später durchsetzende separatistische Ekklesiologie sieht Stayer in dem konventikelhaften „Bibelkreis" Castelbergers sowie bei dessen führenden Mitgliedern K. Grebel und F. Mantz angelegt. 16 M. Haas untermauert diese These durch Studien täuferischer Zeugnisse, die auch spätere Stadien der Entwicklungsgeschichte der

13

Goeters, Vorgeschichte, 242,252. Vgl. R. C Walton, Zwingli's Theocracy, Toronto 1967,60 f. 15 /. M. Stayer, Die Anfänge schweizerischen Täufertums im reformierten Kongregationalismus, in: H.-J. Goertz (Hg.), Umstrittenes Täufertum 1525-1575. Neue Forschungen, Göttingen 2 1977,21. 16 Vgl. ebd., 48; vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung. 14

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Bewegung berücksichtigen. 17 Die Täuferbewegung als „Syndrom vielschichtiger Vorstellungen" 18 ist s. E. - wie alle reformatorischen Bewegungen - einer vor allem durch sozialpolitische Veränderungen provozierten Wandlung unterworfen, die sie von einer radikalen, Sozialrevolutionären Gruppierung, die sich mit den Forderungen der Bauern solidarisierte, zu einer abgesonderten, weltverneinenden Sekte werden ließ. Die von Stayer und Haas profilierte Deutung des Täufertums, die auch die über einen langen Zeitraum dementierte Verbindung der Täufer mit dem Bauernkrieg nachzuweisen suchte, wurde für die neuere Forschung richtungsweisend. W. O. Packull und H.-J. Goertz 19 u. a. trugen durch ihre Untersuchungen zur Verfestigung und Differenzierung der These bei, wobei sich der Interessensschwerpunkt auf die Korrelation der frühen Täufer zur Bauernerhebung verlagerte. Folgerichtig treten bei Packull die Repräsentanten der sogenannten ländlichen Reformbewegung: S. Stumpf, W. Reublin und J. Brötli in den Vordergrund, während die Rolle von K. Grebel, F. Mantz und J. Blaurock im Gegensatz zur normativen Forschung weniger berücksichtigt wird. Die sozialpolitische Dimension der frühen Täuferbewegung übt zweifellos eine große Faszination aus, wie die expandierende Anzahl von Beiträgen deutlich macht. In Anlehnung an die neuere Forschungshypothese P. Blickles zur „Gemeindereformation" 20 sind die frühen Täufer, nach Goertz, als Verbündete der Bauern zu begreifen, die solidarisch mit ihnen um kommunale Autonomie der Zürcher Landgemeinden kämpften. 21 Erst nach der Niederlage der Bauern gelangten demnach die Täufer zu einem separatistischen Konzept der „freikirchlichen" Reformation. Die zweiphasige Deutung des Täufertums - revolutionär und postrevolutionär - , die durch die Untersuchungen Stayers und Haas' konzipiert wurde, setzt sich in neueren Studien zum Täufertum durch und erscheint gegenwärtig als allgemein konsensfähige Grundposition. 22 Der derzeitige Forschungsstand wirft unter theologiegeschichtlichem Vorzeichen mehrere elementare Fragen auf. Ist die These aufgrund quellenkritischer Arbeit haltbar, daß es neben der separatistischen Ekklesiologie des Gre17 Vgl. M. Haas, Der Weg der Täufer in die Absonderung. Zur Interdependenz von Theologie und sozialem Verhalten, in: H.-J. Goertz (Hg.), Umstrittenes Täufertum. Neue Forschungen, Göttingen 2 1977,50-78. is Ebd., 63. 19 Vgl. W. O. Packull, Die Anfänge des Schweizer Täufertums im Gefüge der Reformation des Gemeinen Mannes, in: J. G. Rott / S. L. Verheus (Hg.), Anabaptistes et dissidents au X V I e siècle, Baden-Baden 1987, 53-64; H.-J. Goertz, Aufständische Bauern und Täufer in der Schweiz, in: MGB 1989, 90-112. 20 Vgl. Ρ Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1987 (s. o.). 21 Vgl. H.-J. Goertz, Aufständische Bauern und Täufer in der Schweiz, in: MGB 1989, 92. 22 Vgl. Hui, Bauernaufstand, 115 f.

4.1 Die Fastenbrüche des Jahres 1522

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belkreises eine zunächst volkskirchliche Reformstrategie in der radikalen Bewegung gab, repräsentiert durch Stumpf, Reublin und Brötli? 2 3 Kann die postulierte Gegensätzlichkeit von städtischen und ländlichen Prototäufern und die ihr korrespondierenden theologischen Differenzen nachgewiesen werden? Zeichnete sich eine spezifisch täuferische Ekklesiologie, die sich von der Zwinglischen Konzeption unterschied, bereits in den Jahren vor dem Bauernkrieg ab oder ist sie erst als ein Produkt der einschneidenden sozialpolitischen Veränderungen in der postrevolutionären Phase entstanden? Inwieweit kann die erste Täufergemeinde in Zollikon, die stets als Modell täuferischer Ekklesiologie gedeutet wurde, in die auf Stayer und Haas zurückgehende These des zweistufigen Täufertums integriert werden? In diesem Zusammenhang ist auch zu fragen, ob die stereotype Kritik an der normativen Forschung, sie projiziere das Endstadium der täuferischen Bewegung in ihre Anfänge, berechtigt ist, oder ob sich doch eine kontinuierlich wahrnehmbare, theologische Entwicklung nachweisen läßt. Letztlich steht der neuere Forschungskonsens zur Diskussion, der in der Gefahr steht, dem zweiphasigen Täuferbild normativen Charakter zu verleihen. Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht hinreichend anhand der theologischen Schriften der Täufer erfolgen, da der Müntzerbrief aus dem Jahr 1524 das erste nachweisbare Zeugnis theologischer Konsensbildung ist. Daher werden zur Analyse der Frühphase des Täufertums Quellen wie Akten, Korrespondenz und Disputationsprotokolle auf indirekt vorhandene Hinweise auf die theologische Konzeption hin befragt.

4.1 Die Fastenbrüche des Jahres 1522 Die öffentliche Auseinandersetzung mit Zwingiis reformatorischer Predigt wurde in der Frühphase der Zürcher Reformation durch spektakuläre Fastenbrüche veranlaßt. 24 Nach Bullingers Auskunft hatte Zwingli öffentlich gegen die Fastenvorschriften gepredigt. Aber erst der demonstrative Verstoß gegen die kirchliche und öffentliche Ordnung provozierte die Diskussion über Zwingiis Äußerungen auch auf der Ratsebene, die weitreichende Konsequenzen nach sich zog. 25 Nicht ohne Berechtigung kann man daher die Fastenbrüche im Frühjahr 1522 als erste Reformationsereignisse in Zürich bezeichnen. 26 Wie bei allen folgenden Aktionen der Reformanhänger wurde die geforderte Erneuerung der Kirche bzw. der Bruch mit der alten kirchlichen Ordnung stets an ihren äußeren Symbolen oder Bräuchen sichtbar gemacht. Die öffentliche Realisierung reformatorischer Theologie vollzog sich durch23 Vgl. C. Nienkirchen, Reviewing the Case for a Non-Separatist Ecclesiology in Early Swiss Anabaptism, in: MennQR 50,1982,229. 24 Vgl. U. Gabler, Huldrych Zwingli. Leben und Werk, München 1983,51. 25 Vgl. Walton, Theocracy, 59 ff. 26 Vgl. Goeters, Vorgeschichte, 241.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

weg mittels Zerstörung der äußeren Ordnungen bzw. der Symbole der katholischen Amtskirche. Vielleicht war die Vernichtung dieser äußeren, anschaulichen Elemente der als erneuerungsbedürftig empfundenen Kirche, die einzige Möglichkeit für die Laien, die aufgrund reformatorischer Predigt gewonnene Überzeugung zu demonstrieren und zu praktizieren. Dieser Zusammenhang scheint wichtig zu sein, um nicht vorschnell den zurückhaltenden Kurs der Reformstrategie Zwingiis gegen seine „ungestümen" Freunde, die auf schnelle Reform drängten, auszuspielen. Die Demonstration christlicher Freiheit konnte durch Laien nicht mittels schriftlicher Argumentation erfolgen, sondern zumeist durch symbolträchtige Aktionen. In diesen Kontext ist m. E. auch das berüchtigte „Wurstessen" im Haus des Buchdruckers Froschauer einzuordnen, das aktenkundig geworden ist. 27 Nach der Zeugenaussage der Magd des Buchdruckers mußte sie auf Anordnung ihres Dienstherren in der Fastenzeit zwei Würste zubereiten, die anschließend aufgeschnitten reihum in einer Gesellschaft von 10 bis 12 Personen gegessen wurden. Unter den Teilnehmern befanden sich neben Zwingli und L. Jud eine Zahl von Männern, die später in der prototäuferischen und täuferischen Bewegung ζ. T. an prominenter Stelle zu finden sind, wie B. Pur, H. Aberli, H. Oggenfuss, L. Keller, W. Ininger, F. Hochrüthiner und C. Hottinger. Auffallend ist, daß Laien aus dem Handwerkermilieu den größten Teil der Gesellschaft bildeten, die auch später an Aktionen wie z. B. Bilderstürmen und Predigtstörungen beteiligt waren. Die Symbolhaftigkeit dieses gemeinsamen „Wurstessens" ist nicht zu übersehen, da darüber hinaus im selben Haus auch die Austeilung von fleischhaltigen Mahlzeiten für die Angestellten als Fastenbruch angeordnet wurde. 28 Gäblers Beobachtung, daß die Zahl der Teilnehmer, die Tageszeit und die praktizierte Austeilung der Würste an das neutestamentliche Abendmahl erinnern, unterstreicht den demonstrativen Charakter des Vorganges. 29 Z u fragen bleibt ob das gemeinsame Wurstessen - zweifellos ein Reflex auf Zwingiis Predigt - eher dem Identifikationsprozeß der reformatorisch Gesinnten fördern sollte, oder ob es eine gezielte Aktion zur öffentlichen Durchsetzung der Reformation darstellte. Die intime Atmosphäre des gemeinsamen Mahles deutet eher auf einen A k t der Selbstvergewisserung hin. Die psychische Belastung der einzelnen Teilnehmer, bewußt die kirchliche Tradition zu durchbrechen, konnte durch die gemeinschaftlich begangene Aktion gemildert werden. Diese Deutung wird durch die nachfolgenden Rechtfertigungsversuche des Hauptangeklagten bestätigt. Froschauer leugnete in seinem Verteidigungsschreiben jegliche revo27 Vgl. E. Egli (Hg.), Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519-1533, Zürich 1879, Nr. 233, 72 f. (EAk); M. Haas, Huldrych Zwingli und seine Zeit. Leben und Werk des Zürcher Reformators, Zürich 3 1982,99 ff.; Gäbler, Zwingli, 51 ff.; Walton, Theocracy, 59 ff. 28 29

Vgl. EAk Nr. 233,72-74; Nr. 234,74 f. Vgl. Gäbler, Zwingli, 52.

4.1 Die Fastenbrüche des Jahres 1522

127

lutionäre, an die Öffentlichkeit gerichtete Intention des Vorgangs. 30 Unter Berücksichtigung, daß er apologetisch argumentierte, bleibt festzuhalten, daß er den gemeinsamen symbolträchtigen Fastenbruch nicht vom Durchbrechen der Fastenordnung durch die Mahlzeiten seiner Handwerker unterscheidet. Bedeutsam bleibt die intensive Berufung Froschauers auf die Autorität der Heiligen Schrift, sein Bekenntnis zu Zwingli und die abschließende Beweisführung für die Legitimität des Fastenbruchs anhand von einschlägigen Bibelstellen. Das inszenierte Wurstessen läßt deutlich werden, daß die reformatorische Predigt durch Laien, wenn auch in Präsenz ihrer theologischen Vordenker, zu einem gewissen Zeitpunkt der Entwicklung zu praktischen Konsequenzen führte. Laien setzten reformatorisches Gedankengut in die Tat um, indem sie sich das Recht nahmen, die jahrhundertealte und bewährte Praxis der Kirche zu mißachten. Die Berufung auf die Autorität der Heiligen Schrift durch Froschauer zeigt, wie weit die Distanz zur katholischen Amtskirche und die selbstbewußte Einschätzung des einzelnen Gläubigen im Gegenüber zur Lehrgewalt der Kirche vorangeschritten war. Die Aufwertung des Laien durch die reformatorische Predigt gegenüber dem Klerus und der kirchlichen Hierarchie zeigte sich auch in weiteren A k tionen während der Fastenzeit. Neben öffentlichen Fastenbrüchen im Wirtshaus u. a. durch H. Aberli verdient ein Eklat in der Kirche des Augustinerklosters besonderes Interesse. H. Aberli und W. Ininger, die beide später in täuferischen Kreisen zu finden waren, kamen mit einigen Gesinnungsgenossen in die Kirche, während dort über die umstrittene Fastenfrage debattiert wurde. Aberli hatte eine Wurst dabei und verteilte sie, für alle sichtbar, an seine Freunde. Durch diese demonstrative Handlung provoziert, gerieten die anwesenden Kleriker mit den Fastenbrechern in Streit, dem ein Handgemenge folgte. 31 Das Sendungsbewußtsein der Agitatoren wird durch die folgende Entgegnung Aberlis auf die Vorwürfe der Mönche greifbar: „Daruf Aberli antwurtote: wenn schon sie (die Mönche) herren, so wärent doch sie (Aberli und seinesgleichen) meister. Zuodem wurdint si ouch allerlei zuo red und seite ( A berli) nämlich, die münchen und pfaffen wärint all schelmen und dieben, und empfiengint den lichnam und das bluot Christi in der mess und gebint inen, den leien, nun den lichnam, und das bluot nit." 32

Abgesehen von populären antiklerikalen Vorwürfen scheint die selbstbewußte Einschätzung der Laien gegenüber den Klerikern besonders beachtenswert. Der Lehrautorität der Amtsträger, die sich als „Herren" bezeichnen ließen, wurde die neugewonnene Kompetenz des Laien gegenübergestellt, den Aberli mit dem übergeordneten Prädikat „Meister" versah. Die Kritik an 30 Vgl. EAk Nr. 234,74 f. Vgl. EAk Nr. 233,73 f. 32 Ebd., 73. 31

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

der Meßpraxis wurde in stereotypen Wendungen auch in der späteren Auseinandersetzung laut, so daß an geeigneter Stelle darauf noch ausführlich einzugehen ist (s. u.). Wie selbstverständlich die Fastenbrüche von ihren Initiatoren für legitim und folgerichtig angesehen wurden, macht ein weiterer, beim Rat angezeigter Fall deutlich. H. Kloter, ein Kürschner, gab zu, einen „Winwarm" gegessen zu haben. 33 Er habe nach eigener Einschätzung nicht gesündigt, da er das getan habe, was sein Leutpriester und Seelsorger ihn gelehrt hätte. Die Anhängerschaft Zwingiis praktizierte in der Fastenfrage damit zunächst das, was der Reformator gepredigt hatte. Z u diesem Zeitpunkt kann von einem offenen Dissens zwischen den Radikalen und Zwingli nicht gesprochen werden. Zwingli stellte sich vielmehr durch eine theologische Abhandlung über die Fastenfrage zu dem Verhalten seiner Gefolgsleute, indem er den Fastenbruch biblisch rechtfertigte. 34 In dieser Schrift zeigt sich jedoch bereits, daß Zwingli ein taktisches Voranschreiten der Reformation aufgrund seelsorgerlicher Rücksichtnahme, aber vor allem zur Vermeidung jeglichen Aufruhrs, befürwortete. 35 Zwingiis eindrückliche Mahnung zur Besonnenheit war in der angespannten Situation des Frühjahrs 1522 durchaus notwendig. Ein weiteres öffentliches Hervortreten der Anhängerschaft Zwingiis brachten die Ereignisse um die als Sympathiekundgebung geplante „Badenschenke" für Zwingli im Mai 1522.36 In einer kritischen Phase der Reformbewegung, die durch außenpolitischen Druck und die drohende Intervention des Bischofs von Konstanz zur Disziplinierung geprägt war, organisierten Zwingiis Freunde eine A r t Solidaritätskundgebung, zu der 400-500 Teilnehmer, darunter Ratsmitglieder, Kleriker und Laien, erwartet wurden. C. Hottinger und H. Aberli waren als Verantwortliche auszumachen, die den Plan zur Durchführung der Aktion im Haus von J. Grebel, wahrscheinlich mit seinem Sohn, K. Grebel, der als Gastgeber fungierte, berieten. 37 Die Lokalisierung der Unterredung läßt auf eine Verbindung zwischen den radikalen Freunden Zwingiis und K. Grebel, dem später prominenten Mitglied der täuferischen Bewegung, bereits zu diesem frühen Zeitpunkt schließen. Sowohl Hottinger als auch Aberli hatten sich vorher aktiv an den Fastenbrüchen beteiligt, wobei besonders letzterer durch seine Impertinenz auffiel. Nach einer Zeugenaussage war die Badenschenke, die zur Rückkehr von Zwingli von einem Kuraufenthalt gefeiert werden sollte, nicht nur als Willkommensfest für den Reformator gedacht. Bei diesem großangelegten Treffen des reformatorischen Lagers sollten vielmehr auch die Briefe des Bischofs von Konstanz und die entsprechenden Reaktionen be33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Goeters, Vorgeschichte 242; Walton, Theocracy, 76 ff. 35 Vgl. Gäbler, Zwingli, 53; Goeters, Vorgeschichte, 242. 36 Vgl. EAk Nr. 246,82-84; Walton, Theocracy, 63 f. 37 Vgl. EAk Nr. 246,82 ff.

4.2 Der Castelberger Lesekreis

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raten werden. Aus den Akten ist erkennbar, daß es sich nicht nur um eine punktuelle Demonstration der Stärke handeln sollte. Das strategische Vorgehen bei der Einladung, die auch die ländlichen Nachbargemeinden Höngg, Zollikon und Witikon umfaßte, deutet vielmehr auf die Planung eines konstituierenden Treffens der evangelischen Bewegung hin. Über einen der Initiatoren, Hottinger, wurde in diesem Zusammenhang berichtet: „Witer, als er solle geredt haben, es werde nit darbi bliben, syge in der meinung gescheche, dass er gemeint, die evangelisch leer und das wort Gotts werde für und für würken und under den christen zuonemen, und (dass) die, sojetz villicht dem Evangelio nit allenklich anhangint, bekert werdent." 38

Die Ereignisse um die geplante Badenschenke verdeutlichen erneut, daß die Aktiven sich ganz in der Gefolgschaft Zwingiis sahen, wie Hottingers Rekurs auf das dynamische Schriftprinzip des Reformators zeigt. Sie hielten sich jedoch selbst für geeignet und waren dazu bereit, den Prozeß der kirchlichen Erneuerung selbständig zu fördern und voranzutreiben.

4.2 Der Castelberger Lesekreis Bevor auf das weitere Hervortreten der radikalen Anhänger Zwingiis eingegangen wird, die in personeller Kontinuität zur frühen Täuferbewegung gehörten, soll bereits an dieser Stelle über den inneren Zusammenhalt dieser Gruppierung berichtet werden. H. Fast kommt zu dem Ergebnis, daß die Täuferbewegung in Zürich und St. Gallen aus Bibellesekreisen entstanden ist. 39 Die präzise Datierung und der konkrete Anlaß der Entstehung des bekannten Lesekreises von A . Castelberger ist nicht eindeutig zu belegen. Nach allen Recherchen bleibt der vage Zeitraum von 1522 bis Anfang 1523 am wahrscheinlichsten. Die Informationen über die Zusammensetzung des Kreises, vor allem aber über den Inhalt der dort verbreiteten Lehre, sind fragmentarisch, da sie nur aus wenigen Zeugenaussagen anläßlich gerichtlicher Untersuchungen und einer Randnotiz Grebels eruiert werden können. 40 Diese ungünstige Quellenlage sollte m. E. bei der Wertung berücksichtigt werden, um voreilige Charakterisierungen der theologischen oder auch soziopolitischen Ausrichtung Castelbergers und seiner Freunde zu vermeiden.

38

Ebd., 83 Vgl. H. Fast, „Die Wahrheit wird euch freimachen". Die Anfänge der Täuferbewegung in Zürich in der Spannung zwischen erfahrener und verheißener Wahrheit, in: Schweizerischer Verein für Täufergeschichte (Hg.), „... Lebenn Nach der Lehr Jhesu ..." „Das sind Aber Wir!" Berner Täufer und Prädikanten im Gespräch 1538-1988, Bern 1989,19; vgl. dazu EAk Nr. 623,276-278; Nr. 252,85 f.; Nr. 374,136; QGTS I, Nr. 398,387-88; Nr. 7,6 f. « Vgl. QGTS I, Nr. 7,6 f. 39

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Das Bild der Castelbergerschen „Bibelschule" wird über die wenigen direkten Annotationen hinaus durch die ausführliche Schilderung eines ähnlichen Kreises in St. Gallen bereichert, der deutliche Parallelen aufweist, so daß er zur Deutung herangezogen werden kann. 41 Z u den Teilnehmern des Bibelkreises in Zürich gehörten einige der bereits im Zusammenhang mit den Fastenbrüchen und der geplanten Badenschenke genannten Handwerker: H. Aberli, L. Hochrüthiner, W. Ininger und B. Pur. 42 Aberli sagte später in einem Verhör aus, daß Hochrüthiner, Ininger, Pfister und er übereingekommen wären, sich kontinuierlich zu treffen, um sich von einer geeigneten Person ihrer Wahl in der evangelischen Lehre und in den Briefen des Paulus unterweisen zu lassen. Daraufhin seien sie zu Castelberger, einem theologisch gebildeten Buchdrucker gegangen und hätten ihn darum gebeten, bei ihren Versammlungen zu lehren. 43 Dieselbe Entstehungsgeschichte weist der Bibelkreis um J. Keßler in St. Gallen auf. Eine Anzahl von Handwerkern, darunter einige, die durch spektakuläre antikatholische Aktionen aktenkundig wurden und später zu den Täufern gehörten, luden Keßler zu einer Versammlung ein und baten ihn, den Teilnehmern im Lesen der Schrift zu helfen und sie im christlichen Glauben zu unterrichten. 44 Auffallend ist, daß beide Kreise sowohl von der Initiative als auch von der Gefolgschaft her Laienveranstaltungen waren. Ein bedeutender Impuls zur Einrichtung dieser Bibelkreise ging andererseits wohl auch von der humanistischen Prägung ihrer Führergestalten aus. Sowohl Castelberger, Grebel als höchstwahrscheinlich auch Mantz 4 5 waren mit dem Schweizer Humanismus in Berührung gekommen. Grebel betätigte sich als begeisterter Vermittler zwischen den verschiedenen Schweizer Humanistenzirkeln. 46

41 Vgl. H. Fast (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, Bd. I I Ostschweiz, Zürich 1973 (QGTS II): Fridolin Silcher, Aus seiner Chronik, 585-587; Johannes Keßler, Auszüge aus den Sabbata, 590-604. 42 Vgl. EAk Nr. 623,276 ff. 43 Vgl. ebd., 276. 44 Vgl. QGTS II, 592; Die Teilnahme von K. Grebel am Castelberger Kreis kann einem Empfehlungsschreiben an Vadian für den verbannten Hochrüthiner entnommen werden, vgl. QGTS I, Nr. 7, 6 f. In diesem Schreiben nennt Grebel den Exilierten seinen „Bruder Lorenz", der „mit uns das Wort gehört hat". Hochrüthiner wird später von J. Keßler als „ain flißiger schûler" von Grebel bezeichnet, vgl. QGTS II, 602. Daher liegt die Vermutung nahe, daß sie gemeinsam an Bibelstudien teilgenommen haben, in deren Verlauf auch Grebel lehrende Funktion wahrgenommen hat. Seine spätere Verbindung zu Castelberger und zu anderen „Bibelschülern", die als Mitunterzeichner des Müntzerbriefes 1524 erscheinen, unterstützt diese These. 45

Vgl. Krajewski, Mantz, 22 f. Vgl. G. Locher, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979,53. 46

4.2 Der Castelberger Lesekreis

Exkurs: Die humanistischen Sodalitäten als Vorbild

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der „Lesekreise"

1. Der Schweizer Humanismus „Zürich wurde Wiege und Zentrum des reformierten Protestantismus, zugleich aber auch eine Stadt, die in der Geschichte des Humanismus einen höchst bedeutenden Platz einnimmt." 47 Die Zürcher Reformation mit ihrer im Vergleich zu anderen Reformbewegungen des 16. Jahrhunderts spezifischen theologischen und sozialethischen Ausprägung ist ohne das Engagement von Humanisten wie Myconius, Zwingli, J. Ammann, H. Bullinger, aber auch K. Grebel nicht vorstellbar. Dabei hatte der „osteuropäische Kreis" des Humanismus, als dessen Hochburg Wien anzusehen ist, größeren Einfluß auf die Schweiz als sein westeuropäisches Pendant. 48 Sowohl Zwingli als auch Vadian studierten in Wien während K. Celtis dort sein humanistisches Reformprogramm entwickelte. 49 Als Schüler, Freund und späterer Nachfolger von Celtis war Vadian mit dem von ihm gegründeten Kollegium vertraut, in dessen Zentrum er zusammen mit G. Collimitius 1514-1518 als allseits hochgeschätzter humanistischer Gelehrter stand. 50 Angeregt durch seine Studienzeit in Basel und Wien setzte Zwingli seine humanistischen Studien im Pfarramt in Glarus und Einsiedeln fort. 51 Er korrespondierte mit anderen Humanisten aus der Schweiz, wie Beatus Rhenanus, Myconius, Vadian und Glarean und sorgte dafür, daß ihm bekannte junge Männer ihre Studien bei den im Ausland lehrenden Freunden aufnahmen. 52 U m Vadian versammelte sich ein Schweizer Schülerkreis, zu dem auch K. Grebel als besonders ausgezeichneter Freund und Schüler gehörte. 53 Locher vermutet, daß die prominenten Humanisten in der Schweiz es als ihre gemeinsame Aufgabe ansahen, junge Schweizer zur humanistischen Bildung zu führen. 54 47

F. Büsser, Humanismus im Zürich des 16. Jahrhunderts, in: A. Schindler (Hg.), Fritz Büsser. Die Prophezei. Humanismus und Reformation in Zürich. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bern 1994,57. 48 Vgl. Locher, Reformation, 44; W. Näf, Schweizerischer Humanismus, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 5,1947,187 f. 49 Vgl. ebd., 49.59; Haas, Zwingli, 23.28.49. 50 Vgl. C. Bonorandy Aus Vadians Freundes- und Schülerkreis in Wien, St. Gallen 1965, 86. 51 Vgl. J. G. F. Goeters, Zwingiis Werdegang als Erasmianer, in: M. Greschat / J. G. F. Goeters (Hg.), Reformation und Humanismus. R. Stupperich zum 65. Geburtstag, Witten 1969,257. 52 Vgl. ebd., 261. 53 Vgl. Bender, Grebel, 18 ff. Grebel erhielt ein kaiserliches Stipendium für Wien. Durch diese Begünstigungen prominenter Bürgerfamilien versuchte Maximilian I. seinen Einfluß in der Schweiz zu vergrößern, vgl. C. Bonorand/H. Haffter (Hg.), Die Dedikationsepisteln von und an Vadian, St. Gallen 1983,304. 54 Vgl. Locher, Reformation, 51 f.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Diese Annahme wird durch ihren Briefwechsel bestätigt, in dem wiederholt die Hoffnung ausgedrückt wird, daß die Schweizer Studenten ihr Wissen später zum Nutzen ihrer „Heimat" einbrächten und dadurch die humanistische Durchdringung der Gesellschaft förderten. 55 Dieses zielgerichtete nationale Interesse entsprach der besonderen Prägung des Schweizer Humanismus, in dem die Förderung der bonae litterae nicht zum Selbstzweck, sondern im Sinne der pädagogischen Einwirkung auf die Gesellschaft geschah.56 Demselben Zweck diente auch die „Personalpolitik" der Humanisten anläßlich der Besetzung von vakanten Pfarrstellen. 57 Die Schweizer Humanisten befürworteten den Studienaufenthalt möglichst vieler Schweizer in den Zentren des Humanismus, um die humanistische Erziehung der jüngeren Generation voranzutreiben. Der Schriftwechsel macht deutlich, daß die humanistischen Gelehrten der Schweiz in engem Kontakt zueinander standen, um ihre planmäßige Einflußnahme auf die Erziehungsarbeit der jungen Schweizer zu begleiten. So berichtete Grebel während seiner Studienzeit in Wien über die für ihn überraschend erfolgte Eröffnung der Korrespondenz durch Zwingli. 5 8 Zwingli initiierte den freundschaftlichen Kontakt zu den Schweizer Studenten in Wien, an den Grebel bei seiner Rückkehr nach Zürich anknüpfen konnte. 59 Vadian pflegte zu „seinen" Studenten in Wien, die aus der Schweiz gekommen waren, sehr enge persönliche Beziehungen, die durch kontinuierliche Korrespondenz über Jahre hinweg fortgesetzt wurden. 60 Der Briefwechsel der Schweizer Humanisten mit ihren Studenten und untereinander entwirft das Bild eines freundschaftlichen Bundes, der durch reges Interesse am wissenschaftlichen Fortschritt des anderen, an den neuesten Forschungsergebnissen und Veröffentlichungen, aber auch am persönlichen Ergehen des einzelnen geprägt war. Ein durch brieflichen Austausch und gegenseitige Besuche geknüpftes Kommunikationsnetz verband die humanistischen Protagonisten in der Schweiz untereinander. Auch Grebel trug zur Festigung dieser Kontakte bei, so daß Locher ihn sogar als Vermittler zwischen den einzelnen Lehrern und ihren Schülerkreisen bezeichnet. 61 Die intendierte Einbringung humanistischer Bildung und Ideale in die Schweiz hatte Erfolg. Maeder stellt resümierend fest:

55 Vgl. K. Maeder, Die Via Media in der Schweizerischen Reformation, Zürich 1970, 46; Bonorand / Haffter (Hg.), Dedikationsepisteln, 131. 56 Vgl. Maeder, Via Media, 51. 57 Vgl. ebd., 48. 58 Vgl. Grebel an Zwingli 8.9.1517, Ζ V I I , 62: „Literas tuas, observandissime Zwingli, ut minus expectavimus [...]". 59 Vgl. Grebel an Zwingli 31.7.1518, Ζ V I I , 91-92. 60 61

Vgl. Maeder, Via Media, 40; Bonorand, Schülerkreis, 87. Vgl. Locher, Reformation, 53.

4.2 Der Castelberger Lesekreis

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„Durch ihre jungen Studenten, die an den großen Bildungszentren Europas mit den neuen Ideen der Zeit in Berührung kommen, erfährt die Eidgenossenschaft zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihre tiefste und folgenschwerste Konfrontation mit dem neuen Denken, mit der humanistischen Vision."62

Die große Offenheit jener neuen Bildungsschicht für die nachfolgende Rezeption reformatorischer Predigt läßt sich nachweisen. Eine Vielzahl der späteren Träger der Reformation hatte zuvor in Wien studiert und sich dort dem humanistischen Gedankengut zugewandt. 63

2. Die Konzeption der Sodalitäten nach Celtis Zwingli und Vadian waren, wie bereits erwähnt, Schüler von Celtis in Wien. Celtis sah in der Gründung von sogenannten „Sodalitäten", die nach dem Vorbild der platonischen Akademie konzipiert waren, die Möglichkeit, abseits der konservativ ausgerichteten Universitäten eine humanistische Elite heranzubilden. 64 Diese freien Zusammenschlüsse von Gelehrten können als die „para-universitäre" und außerschulische Organisationsform der humanistischen Bewegung verstanden werden. 65 Sie waren das organisatorische Instrument, um das humanistische Bildungsprogramm an den Universitäten vorbei umzusetzen. Aufgrund ihrer Struktur und inhaltlichen Gestaltung entsprachen sie gleichzeitig der sich gesellschaftlich abzeichnenden Abkehr vom klerikalen Schulbetrieb und der kirchlichen Bindung der Fakultäten, die bereits durch die Einrichtung der Lateinschulen begonnen hatte. 66 Celtis setzte sich für die Idee einer den ganzen deutschen Sprachraum umfassenden Sodalität ein. 67 Die erfolgreichen Gründungen in Heidelberg, Augsburg, Nürnberg, Olmütz und Wien ermöglichen ein Bild der konstitutiven Formmerkmale dieser Freundeskreise. Sie entstanden durch freiwilligen Zusammenschluß gebildeter Kleriker und Laien, die sich kontinuierlich im Haus eines Gastgebers trafen. Die gemeinsamen Treffen wurden zur Disputation über politische Tagesfragen, literarische Werke, Forschungsprojekte, aber auch zum geselligen Beisammensein genutzt. 68 Z u den wichtigsten Auf62

Mieder, Via Media, 39. Vgl. C. Bonorand, Vadians Weg vom Humanisten zur Reformation, St. Gallen 1962,54. 64 Vgl. G. Hummel, Die humanistischen Sodalitäten und ihr Einfluß auf die Entwicklung des Bildungswesens der Reformationszeit, Leipzig 1940,9,13. 65 Vgl. ebd., 184; Oberman, Wertung, 239 f. 66 Vgl. F. Hartwegy Das „Bildungsangebot" in Schlettstadt in der zweiten Hälfte des XV. und im ersten Viertel des X V I . Jahrhunderts, in: L. Grenzmann/K. Stackmann, Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, Stuttgart 1989,26 f. 67 Vgl. Hummel, Sodalitäten, 22,51 u. a. 68 Vgl. ebd., 26,34,43. 63

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

gaben der Sodalitäten gehörte, die gegenseitige Weiterbildung der Mitglieder und ihre wissenschaftlichen Studien zu fördern. Anläßlich der Kolloquien, gemeinsamer Reisen und vor allem durch die ausführliche Korrespondenz wurden Handschriften antiker Autoren, Quellenmaterial sowie Neuerscheinungen aufgesucht, bekanntgemacht sowie konstruktive Kritik an eigenen Werken der Sodalen geübt. 69 Die Pflege der lateinischen und griechischen Sprache stand im Zentrum des Interesses. In der organisatorisch lockeren Studiengemeinschaft entwickelte sich nach Ausweis der Quellen eine enge persönliche Gemeinschaft der Sodalen, die ihren Ausdruck in der gegenseitigen Bezeichnung als „Bruder" bzw. „Freund" fand. 70 In den Zusammenkünften wurden Briefe und literarische Erzeugnisse verlesen und anschließend zur Diskussion gestellt. Werke wurden von ihren Autoren nur nach Absprache mit der Sodalität und nach Korrektur durch die Mitsodalen veröffentlicht. 71 Das gegenseitige pädagogische Wirken umfaßte die Mitglieder der Sodalität und ihren Schülerkreis, der gemeinsam herangebildet wurde. Dem Ideal von Celtis entsprach die Einheit von wissenschaftlicher Arbeit und Lebensstil, die sich in der Organisation der Sodalitäten als „Studien- und Lebensgemeinschaft" realisieren sollte. 72 Von Beginn an waren die auf Celtis zurückgehenden Sodalitäten überregional orientiert und verwirklichten seine Konzeption in unterschiedlicher Ausprägung und nicht-identischen Statuten. Die Vergesellschaftungsform der Sodalitäten hatte ein Pendant in den kirchlichen Bruderschaften, die sich gleichzeitig u. a. zur Pflege der Heiligenverehrung und gemeinsamer Frömmigkeitspraxis bildeten. 73 Somit entsprach die freie Organisation der Sodalitäten, die an keine Institution gebunden und überregional ausgerichtet war, der gesellschaftlichen Entwicklung im Bildungsbereich. Die Sodalitäten sollten ein Reservoir an humanistisch Gebildeten heranziehen und vereinigen, um später eine Reform an den Hochschulen zu ermöglichen. Celtis gesamtdeutsche Konzeption scheiterte jedoch nach seinem Tod, während sein Modell der humanistischen Sodalität in regionalen Gelehrtengemeinschaften seine Fortsetzung fand und schließlich ζ. T. sogar in den universitären Bereich integriert wurde.

69

Vgl. ebd., 28 f. Vgl. ebd., 20,47,113; Goeters, Werdegang, 267: Erasmus nennt Zwingli seinen an Bruders statt geliebten Freund; Grebel an Vadian 26.10.1518: Grebel sieht den Sinn seines Studium darin, Vadian später seinen Bruder nennen zu dürfen, VB II, 136. 70

™ Vgl. Hummel, Sodalitäten, 113,148. 72 Vgl. ebd., 157. 73 Vgl. ebd., 48, Anm. 38.

4.2 Der Castelberger Lesekreis

135

3. Die Zürcher Sodalität Obwohl die einschlägigen Biographien nur wenig über Zwingiis humanistischen Freundeskreis in Zürich berichten und stärker sein Verhältnis zum Erasmus-Kreis in Basel reflektieren 74 , lassen sich aus seiner Korrespondenz deutliche Hinweise darauf entnehmen, daß er selbst eine Sodalität in Zürich gegründet hatte und sie persönlich leitete. Staehelin, der als einziger direkt auf die Zürcher Sodalität eingeht, faßt deren Tätigkeit ironisierend zusammen: „Daneben vereinigte er [= Zwingli] eine Anzahl älterer Freunde, unter ihnen die Lehrer der beiden Stiftsschulen, sowie mehrere Chorherren und der Pfarrer Simon Stumpf aus Höngg genannt werden, zu einer Art Kränzchen, dessen Zusammenkünfte mehrmals in der Woche stattfanden und in welchem er einen eigentlichen Lehrkurs im Griechischen erteilt zu haben scheint."75

Der Zwingli-Biograph sieht in der von ihm nicht näher untersuchten Sodalität eine A r t „wissenschaftliche Genossenschaft", die sich auch zu gemeinsamen Mahlzeiten traf. Aufgrund dieser vagen Information erscheint eine eingehendere Bestandsaufnahme sinnvoll zu sein. Während seiner Zeit in Glarus hatte Zwingli seine humanistischen Studien fortgesetzt und stand dabei im regen Schriftverkehr mit anderen Schweizer Humanisten. 76 Seine Verehrung für Erasmus, die sich aus der Lektüre seiner Schriften und später aus dem persönlichen Kontakt in Basel ergab, ließ ihn zum engagierten Vertreter humanistischer Ideale werden. 77 Nach Antritt seiner Predigtstelle in Zürich (1519) muß es sehr rasch zur Bildung eines humanistischen Zirkels um Zwingli gekommen sein, zu dem sicher die für die erasmische Neuerung offenen Mitglieder des Großmünsterstifts, u. a. Myconius, gehörten. Letzterer bestellte in einem Schreiben vom 10. Juni 1520 Grüße an Zwingiis Sodalität, die in diesem Brief zum ersten Mal erwähnt wird. 7 8 Ebenso sandte Glarean einen Monat später einen Gruß an diejenigen, die mit Zwingli zusammen Griechischstudien betrieben. 79 Eine weitere Erwähnung der „literarischen Sodalität" in Zürich findet sich in einem Schreiben Melchior Macrinus an Zwingli vom 22. September 1522.80 Demnach bestand spätestens seit dem Frühsommer 1520 in Zürich eine Sodalität unter der Leitung Zwingiis. Z u deren Mitgliedern gehörte auch Grebel, der im Herbst 1520 Vadian berichtete, daß er eifrig Griechisch studiere. 81 Aus 74 75 76 77 78 79 80 81

Vgl. Locher, Reformation, 59,75,78,92; Haas, Zwingli, 51 ff.; Gäbler, Zwingli, 39 ff. Staehelin, Zwingli, Bd. 1,149. Vgl. Locher, Reformation, 68; Gäbler, Zwingli, 40; Goeters, Werdegang, 260 f. Vgl. Goeters, Werdegang, 263 ff. Vgl. Ζ V I I , 322: „Sodalitium tuum nomine meo salutatis plurimum." Vgl. Glarean an Zwingli 7.7.1520, Z V I I , 333 „[...] omnes tecum graecissantes." Vgl. Z V I I , 590: „Salutatem die nomine nostro soldalitati literariae apud vos." Vgl. Grebel an Vadian 11.9.1520, VB V I I , Ergänzungsband, Nr. 10.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

demselben Schreiben wird sein enger Kontakt zu Zwingli erkennbar. Ein Jahr später teilt er Myconius mit, daß mit Zwingli und seinen Freunden alles zum Guten stünde. 82 Grebel berichtete Vadian, daß Zwingli, V. Tschudi, J. J. Ammann und er selbst gemeinsam Piaton studierten. 83 Zwingli seinerseits teilte Myconius im Juni desselben Jahres seine Absicht mit, Hebräisch-Studien aufzunehmen und zu diesem Zweck mit einigen „Anfängern" die Psalmen zu lesen. 84 Z u diesem Hebräisch-Kreis gehörte höchstwahrscheinlich ab 1522 auch Mantz. 85 Gegenüber Myconius zählte Zwingli im Sommer 1522 Grebel, Ammann und Binder zu seinen gelehrten und begabten Schülern. 86 Myconius war 1520 an der Stiftsschule seiner Heimatstadt Luzern als Lehrer tätig. Aufgrund seiner offenen Sympathie für die Reformbewegung mußte er jedoch sein A m t dort aufgeben und kehrte 1522 nach Zürich zurück. 87 In der Zeit vor seiner Rückkehr schrieb Zwingli ihm u. a. einen aufmunternden Brief, in dem er die Freunde aufzählt, die sich auf seine Ankunft freudig vorbereiteten. 88 Die kommentierte Namensliste ergibt ein anschauliches Bild der Zürcher Sodalitas. Zwingli berichtet, daß Jacob Ceporinus 89 plane, Lesungen teils in Hebräisch, teils in Griechisch fortzusetzen, die bisher durch geschäftliche Angelegenheiten in der Sache Myconius unterbrochen gewesen seien. Die Chorherren H. Utinger und H. Engelhard sowie den Kämmerer des Großmünsterstifts, R. Rhegius, führt er gegenüber Myconius als „Älteste" bzw. Senioren der Gemeinschaft an. 90 Ihnen folgen Erasmus Fabricius, Pfarrer zu Stein, K. Großmann (Megander) und Zwingli selbst, die er als „Männer" und damit wohl als verantwortliche Mitglieder der Sodalitas einordnet. Als „hellstrahlende" und an Bildung herausragende junge Leute bezeichnet Zwingli Grebel, Ammann und G. Binder. Besonders hervorgehoben wird sein Freund L. Jud und Th. von Geroldseck sowie F. Zink aus Einsiedeln. 91 Der Kreis umfaßte demnach bereits bewährte humanistische Gelehrte und jüngere Mitglieder, die gerade ihre universitären Studien beendet hatten. Die Teilnehmerschaft war nicht eng auf das stadtzürcher Gebiet beschränkt. Zwingli selbst übernahm Vorlesungen in diesem Kreis. Z u den jüngeren Mitgliedern gehörten Grebel und

82

Vgl. Harder , Sources, 157. Vgl. Grebel an Vadian 11.9.1520, VB V I I , Ergänzungsband, Nr. 10: „Platonisamus: Zinlius, Tschudi, Ammanus et ego." 84 Vgl. Ζ V I I , 151 f. 85 Vgl. Krajewski, Mantz, 22 f. 86 Vgl. Ζ V I I , 568: „[...] inter Grebelios, Ammanos, Binderos, candissimos et doctissimos adulescentes [...]." 87 Vgl. Locher, Reformation, 47. 88 Vgl. Ζ V I I , 568 f. 89 Vgl. Ζ V I I , Nr. 156, Anm.3. w Vgl. ebd., 568. w Vgl. ebd., 569. 83

4.2 Der Castelberger Lesekreis

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Binder 92 , die bei Vadian in Wien studiert hatten, und Ammann, der in Paris bei Glarean und anschließend bei Rhenanus in Basel sein Studium absolviert hatte. 93 Besonders aufschlußreich ist der Bericht A. Burers über die Zürcher Sodalität, in der er durch S. Stumpf (!) anläßlich eines Aufenthalts im Zürcher Gebiet eingeführt wurde. 94 Burer, der „Famulus" von Rhenanus in Basel war, 95 beschrieb die Sodalität als offen und gastfrei. 96 Stumpf, den er als seinen und des Rhenanus alten Freund vorstellt, brachte ihn anläßlich einer Zusammenkunft der Sodalität in Kontakt mit Zwingli. Der Pfarrer von Höngg ist aufgrund dieser Erwähnung und seiner späteren Verbindung mit Rhenanus, nachdem dieser aus Zürich verbannt worden war, 97 als Humanist zu identifizieren. Burer nannte die Pflege der griechischen Wissenschaften als das vorrangige Charakteristikum des Kreises. 98 Diese Einschätzung verdeutlicht das Selbstverständnis der Gelehrtengemeinschaft als einem humanistischen Zirkel. Zwingli tritt in Burers Darstellung als zentrale Figur der Sodalitas auf, während der Reformator selbst in seinem Brief an Myconius die Gleichberechtigung der Mitglieder der Sodalität durch parallele sprachliche Formulierungen zum Ausdruck bringt. Er spricht auch in bezug auf die jüngeren Mitglieder der Gemeinschaft nicht von Schülern und vermeidet so jeden Anschein einer Hierarchisierung. Burer berichtete über Zwingli, daß er bei seinem Lehrvortrag eine zahlreiche Zuhörerschaft gehabt habe. Er unterrichte nicht nur griechische Wissenschaften, sondern verkündige auch das Evangelium. Aufgrund dieser Annotation ist zu vermuten, daß Zwingli bereits zu diesem Zeitpunkt Evangelientexte, höchstwahrscheinlich aus dem griechischen Urtext, auslegte. Bereits 1513 hatte er als Sinn seiner kontinuierlichen Griechischstudien die Lektüre der Heiligen Schriften angegeben.99 Das intensive Schriftstudium gehörte seit jener Zeit zu seiner Predigtvorbereitung. In der Sodalitas wurden demnach parallel zur Beschäftigung mit der klassischen Literatur auch neutestamentliche Schriften gelesen und kommentiert bzw. ausgelegt. Burer schrieb G. Binder, den Zwingli als erfolgversprechenden „Nachwuchs-Humanisten" einschätzte, eine führende Rolle in der Zürcher Sodalität zu. 1 0 0 In seiner Beschreibung der Sodalität 92

Vgl. W. Näf Vadian und seine Stadt St. Gallen, Bd. II, St. Gallen 1957,58; Bonorand / Haffter, Dedikationsepisteln, 228 f. 93 Vgl. Locher, Reformation, 581. 94 Vgl. Burer an Rhenanus Mai 1520, Ζ V I I , 322, Anm. 4. 95 Vgl. P. G. Bietenholz, Basle and France in the Sixteenth Century, Genf 1971,28. 96 Vgl. Ζ V I I , 322, Anm. 4. 97 Vgl. Locher, Reformation, 266, Anm. 264. 98 Vgl. Ζ V I I , 322, Anm. 4: „Graecissat pars una, altera graecatur." 99 Vgl. Ζ V I I , 22; Goeters, Werdegang, 262. Vgl. Ζ V I I , 322, Anm. 4.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

zählte Burer neben Zwingli Nicolaus Bavarus, Henricus Nuistheler und Henricus Buchter, dessen mönchisches Leben von ihm geschildert wird, zu den Mitgliedern des Kreises. Das „Sodalitium literarium Tigurense" hat ihn an einem seiner reich ausgestatteten Gastmähler teilnehmen lassen. Dieser von Burer erwähnte kommunikative Teil der Sodalität weist auf die Tradition einer nach dem Ideal des Celtis verfaßten Humanistengemeinschaft hin, in der auch gemeinsam gefeiert wurde und in der durch festliche Zusammenkünfte die Verbundenheit der Sodalen deutlich werden sollte. Burer beschloß seinen Bericht mit dem Hinweis darauf, daß keiner zur Sodalität gehöre, der sich nicht wissenschaftlichen Studien öffnen wolle. Die „Lerngemeinschaft" und die gegenseitige Förderung der Mitglieder sei durch den Reichtum an Begabungen sichergestellt. Mit diesen letzten Ausführungen vermerkt Burer den in bezug auf die Eignung und Vorbildung elitären Charakter der Sodalität.

4. Das Verhältnis von „Sodalität" und „Lesekreis" Seit 1520 gab es in Zürich eine von Zwingli geleitete Sodalität, in der gemeinsam Griechisch studiert, antike Autoren gelesen und neutestamentliche Lektüre gepflegt wurden. Z u ihren jüngeren Mitgliedern gehörten Grebel und später Mantz sowie Stumpf. Die personelle Überschneidung mit den prototäuferischen Lesekreisen ist dadurch ausreichend nachgewiesen. Es ist nicht auszuschließen, daß auch andere Prototäufer zu der erweiterten Zuhörerschaft Zwingiis im Rahmen der Sodalität gehörten. Auf eine gewisse Offenheit des intellektuell exklusiven Kreises läßt die Behandlung Burers und die von ihm erwähnte Größe der Versammlung schließen. Unter Zwingiis Anhängern fanden sich, wie gesehen, anläßlich des Fastenbruchs 1522 zahlreiche Prototäufer. 101 Die von der Forschung rekonstruierte enge Verbindung zwischen Buchdruckern und Humanisten, 102 die im Verhältnis Zwingiis zu Froschauer 103 paradigmatisch wird, läßt darauf schließen, daß auch Mitglieder jener Berufsgruppe zum größeren Kreis der Sodalitas gerechnet werden können. Ob diese Annahme auch auf Castelberger zutrifft, muß trotz hoher Wahrscheinlichkeit fraglich bleiben. Dennoch ist die Teilnehmerschaft der späteren Lesekreise nicht mit der der Sodalität kongruent. In der literarischen Sodalitas versammelten sich humanistisch gebildete Kleriker und Laien. Ein gewisses Maß an Bildung bzw. Bildungsfähigkeit, die Kenntnis der griechischen und lateinischen Sprache kön101 Vgl Punkt 4.1 dieser Untersuchung. 102 Vgl Maeder, Via Media, 40: „Als grosse Einheit steht das Leben der Gelehrten und ihrer Drucker da, als Arbeitsgemeinschaft edelster Art." 103

Vgl. Locher, Reformation, 582 f.

4.2 Der Castelberger Lesekreis

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nen als Voraussetzungen für die Mitgliedschaft angenommen werden. Diese Prämissen konnte nur ein kleiner Teil der Zürcher Bürger erfüllen. Der Gelehrtenkreis stand nach Burer nur denen offen, die Interesse an griechischen Studien hatten. Aufgrund dieser elitären Ausrichtung kommt Bender zu dem Schluß, daß Grebel und Mantz als Mitglieder der Zürcher Sodalität keine Sympathie für das gemeine Volk hatten, welche erst durch ihre reformatorische Wende entstand. 104 Trotz des zweifellos elitären Charakters der Sodalität überwiegt m. E. nicht die Diskontinuität zwischen humanistischer Gelehrtengemeinschaft und prototäuferischem Lesekreis, sondern die Kontinuität. Die Entstehung der Lesekreise kann darüber hinausgehend ohne die humanistische Organisationsform der Sodalitäten schwerlich verständlich gemacht werden. Ein Vergleich mit den Charakteristika der Lesekreise weist die auffallenden Parallelen nach. Wie in der Sodalitas versammelten sich die Prototäufer um einen Lehrer bzw. „Leser" 1 0 5 in Häusern, die von einem Gastgeber zur Verfügung gestellt wurden. Der vorrangige Sinn der Zusammenkünfte war das gemeinsame Hören auf biblische Texte und das Lernen. Die Gespräche über die jeweilige Lesung, die freundschaftlichen Beziehungen der Teilnehmer untereinander und die gemeinsamen Mahlzeiten innerhalb der Lesekreise 106 stimmten mit den Idealen der Sodalität überein. Ebenso korrespondiert die laikale, antihierarchische und dadurch gleichberechtigte Struktur dem Vorbild des Gelehrtenkreises. Inhaltlich lag das Interesse der Lesekreise, soweit wir wissen, ausschließlich auf religiösem Gebiet. Der thematische Schwerpunkt verlagerte sich von der Pflege antiker Wissenschaften völlig auf die Auslegung der Heiligen Schrift, vornehmlich des Neuen Testaments. Während in Zwingiis Sodalität 1521 noch humanistische Studien und biblische Exegese nebeneinanderstanden, findet sich in den Quellen zu den Lesekreisen kein Hinweis darauf, daß etwas anderes als Bibeltexte verlesen, ausgelegt und besprochen wurden. Der erzieherische Charakter der Lesekreise wird durch die wiederholt von außen an sie herangetragene Bezeichnung als „Schule" (s. u.) unterstrichen. Die Struktur der Sodalität als Lern- und Lebensgemeinschaft erwies sich m. E. als protagonistisches Modell für die Lesekreise. Die These von der „Mutation" des Gelehrtenkreises zum bibellesenden Hauskreis wirft jedoch die Frage nach den Trägern und kontinuierlichen Elementen auf. Zum einen ist dabei an Grebel, Mantz, Stumpf und vielleicht auch an Castelberger zu denken, die selbst Mitglieder der Sodalitas und daher vertraut mit deren Organisation waren. Die oben festgestellte pädagogische Motivation des i 0 4 Vgl. Bender, Grebel, 87. los Vgl / / fast, Zur Überlieferung des Leser-Amtes bei den oberdeutschen Täufern, in: MGB 54,1997,61-68. Vgl. EAk Nr. 623,276 ff.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Schweizer Humanismus, der sich im Entstehungsjahr der Lesekreise sukzessiv in die Reformbewegung eingliederte, mag den Impuls zur Einwirkung auf untere Bildungs- und Gesellschaftsschichten gefördert haben. Sahen sich Grebel, Mantz und Stumpf in Konsequenz des reformatorisch neu entdeckten „Priestertums aller Gläubigen" zur Erziehung der ungebildeten Bevölkerung berufen? Gaben sie ihre Erfahrungen in der Sodalitas unter reformatorischen Vorzeichen nun in den Lesekreisen weiter? Diese Annahmen werden durch die Tatsache gestützt, daß sowohl Mantz als auch Grebel als Leiter von Lesekreisen in Erscheinung traten (s. u.). Dagegen spricht jedoch die Aussage, wonach der Lesekreis Castelbergers als auch der Kreis in St. Gallen auf Anregung späterer Mitglieder initiiert wurden. 107 Vielleicht verlangten Bürger, die von der reformatorischen Predigt erreicht worden waren oder am erweiterten Kreis der Sodalität teilgenommen hatten, nach einer eigenständigen Einrichtung, in der sie das Evangelium hören und studieren konnten. Nach diesem Befund koinzidierten der pädagogische Impetus der humanistischen Bewegung und das durch die reformatorische Botschaft theologisch legitimierte Bildungsbedürfnis der einfachen Bürger und Bauern. Die freie Organisationsform der Sodalität, ihr Gemeinschaftsgefüge und ihre Ausrichtung auf das gemeinsame Lernen im Dialog waren ohne Zweifel vorbildlich für die prototäuferischen Lesekreise. Die führenden Persönlichkeiten der Radikalen waren von der Erfahrung mit humanistischen Gemeinschaften geprägt, die sie unter dem Eindruck der reformatorischen Predigt auf die Lesekreise übertrugen. Daher ist auch die überregionale Ausrichtung und organisatorische Flexibilität der Lesekreise zu verstehen. 108 Ein interessanter Rückverweis auf die humanistische Ausbildung führender Täufertheologen und ihre Organisationsform in Gesprächskreisen findet sich in den hutterischen Chroniken zur Entstehung der Zürcher Täuferbewegung: „ Umb die Zeit sein etliche Personen im Schweitzerland, die der hebrêischen, griechischen vnd deutschen Sprach vnd der biblischen Geschrift wol erfaren gewesen, zusammen komen, sich mit einander erspracht vnd eigentlich aus Gottes gnadt erkenndt, wie man sich gott im Tauff ergeben müesst, - vnd dan miteinander angefangen [...]."io9

In dieser kurzen retrospektivischen Zusammenfassung sind als wichtige Elemente der Anfangsphase in Zürich die Gelehrsamktheit der Verantwortlichen, das gemeinsame Gespräch und die Versammlung festgehalten worden. Auch in den nachfolgenden Ausführungen zur Einführung der Gläubigentaufe wird erneut das gemeinsame Gespräch über der Bibel als Auslöser heraus107

Vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung. Vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung. Dazu gehören die Kontaktaufnahme mit Radikalreformern und die überregionale Zusammensetzung der Teilnehmerschaft. 109 J. Beck (Hg.), Die Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Österreich-Ungarn von 1526-1787, Wien 1883,15. 108

4.2 Der Castelberger Lesekreis

141

gestellt. 110 Inwieweit die Ekklesiologie der Täufer durch die Grunderfahrungen mit dem Ideal der Sodalitäten geprägt wurde, soll die weitere Untersuchung klären. Geht man von der Beeinflussung durch die erasmische Theologie bzw. Gedankenwelt aus, wie des öfteren konstatiert wurde, 111 spielte das Ideal des Laientheologen bei der Förderung der Bibelkreise eine entscheidende Rolle. 1 1 2 Nach den Aussagen des erasmischen „Enchiridions" hat jeder Christ durch die Bibel die Möglichkeit zur direkten und unmittelbaren Begegnung mit Christus. Deshalb soll allen Laien die Bibel in die Hand gegeben und ihre Botschaft in geeigneten Übersetzungen zugänglich gemacht werden. „Klassisch hat Erasmus seine Vorstellung eines Laientheologen, in enger Verbindung mit dem Gedanken der Theologia vitae, in jenen [...] Worten zusammengefaßt, daß für ihn der wahrhaft ein Theologe sei, der die christlichen Inhalte mit seinem Leben selbst zum Ausdruck bringe, sei er ,gleich Arbeiter oder Weber'." 113

Der persönliche Umgang mit der Heiligen Schrift und die Umsetzung biblischer Inhalte in der Lebenspraxis des Einzelnen stellte ein Ideal des Erasmus dar, das seine Schüler übernahmen bzw. zu realisieren versuchten. Die Einrichtung von Laienkreisen, zu deren Hauptinteresse das gemeinsame Bibelstudium gehörte, liegt demnach in der Konsequenz erasmischer Theologie. Man könnte es als sakralisiertes humanistisches Bildungsideal bezeichnen. Bei beiden erwähnten Kreisen handelt es sich um Versammlungen, deren Hauptsinn in der biblischen Unterweisung bestand. Die Leiter der Bibelkreise wurden „Leser" genannt, worin diese Konzentration auf das gemeinsame Bibelstudium deutlich wird. Auch in polemischen Schriften über die Entstehung des Täufertums erscheint für die Lehrer der verschiedenen Bibelkreise die Bezeichnung „Leser". 1 1 4 Daß die inhaltliche Gestaltung der Versammlungen nicht ausschließlich dem Vorlesen biblischer Texte vorbehalten war, wie die Bezeichnung der Leiter nahelegt, sondern auch Raum für das Gespräch der Teilnehmer bestand, läßt sich aus folgenden Hinweisen schließen. Keßler selbst lehnte zunächst das an ihn herangetragene A m t ab, erklärte sich dann aber doch unter gewissen Bedingungen bereit: „Aber nit dester minder, wo ir zûsamen kommend, will ich willig sin, mich zû üch fügen und aîn besundere fröd haben, mit üch von der gschrift und warhait unsers christlichen globens helfen reden, lesen und gsprech ze halten, damit wir in der ekanntnus Jesu Christi zûnemmen und wachsen mögen." 115 110

Vgl. ebd., 16. Vgl. H. Fast , The Dépendance of the First Anabaptists on Luther, Erasmus and Zwingli, in: MennQR 30,1956,104-119; K. R. Davis, Erasmus as a Progenitor of Anabaptist Theology and Piety, in: MennQR 47,1973,169-178. 112 Vgl. E. W. Kohls, Die Theologie des Erasmus. Textband, Basel 1966,166 ff. 113 Ebd., 166. 114 Vgl. QGTS II, 586 f.; H. Miles, Auszüge aus der Chronik, 703. 115 QGTS II, 592. 111

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Die Verlesung biblischer Texte und das gemeinsame Glaubensgespräch gehörten demnach konstitutiv zu diesen Versammlungen. Auch in St. Gallen trafen die Initiatoren des Bibelkreises die Wahl, welches biblische Buch zunächst gelesen werden sollte. Keßler ging auf den Vorschlag ein, hielt aber zu einem späteren Zeitpunkt die Lektüre des Römerbriefes, wie im „Castelberger Kreis", für besonders notwendig. 116 Nach Ausweis der Quellen erfreuten sich diese Bibelstudien großer Beliebtheit, was sich in ständig zunehmenden Teilnehmerzahlen zeigte, so daß sowohl in Zürich als auch in St. Gallen wiederholt der Versammlungsort gewechselt werden mußte. In beiden Fällen erkannten Laien demnach die Notwendigkeit biblischer Unterweisung, die unabhängig von der Kirche sein sollte. Sie initiierten in Reaktion auf die reformatorische Predigt eine selbständige organisatorische Form des Zusammenseins, einschließlich der Wahl ihrer Lehrer und unter Beteiligung der Anwesenden am Gespräch über die Bibel. Das gewachsene Selbstbewußtsein der Laien, wie es bereits die eklatanten Brüche der Fastenordnung und deren Legitimation unter Berufung auf die Schrift sowie Streitgespräche mit Klerikern gezeigt hatten, tritt auch im Blick auf die sogenannte „Bibelschule des gemeinen Mannes" 1 1 7 deutlich hervor. Das Verhältnis vom „Leser" zu den anderen Teilnehmern ist aus den Zeugnissen kaum zu rekonstruieren. Ein Hinweis auf eine weitgehende Gleichberechtigung enthält das Selbstzeugnis von Keßler, der beim zweiten Treffen des Bibelkreises in St. Gallen nach eigenen Angaben erstaunt war, daß kein anderer Teilnehmer vorlas, sondern er erneut gebeten wurde. Er hatte wohl an eine Lesung gedacht, die reihum erfolgen sollte. 118 In den Bibelkreisen waren lebhafte Diskussionen anscheinend keine Seltenheit. Ein Augenzeuge berichtete, daß „eben allenthalb, wo ainer ging umb die stat spatzieren uff ainem sontag, so sach er ain huffen lut mit irem leßer handien und machen" 119 . Keßler beschrieb ferner ein Streitgespräch zwischen ihm und Hochrüthiner, der aus Zürich verbannt worden war, über die richtige Auslegung des sechsten Kapitels des Römerbriefes, das schließlich zur Spaltung des Lesekreises führte. 120 Auch der Zürcher Bibelkreis geriet durch Personen, die während der Versammlungen Castelbergers Ausführungen kritisierten, in Schwierigkeiten.121 Packull vermutet in diesem Zusammenhang, daß die religiösen Anschauungen Castelbergers, die er als antiklerikal und sozialkritisch deutet, die Auffassungen altgläubiger konservativer Bürger verletzten, wodurch es zu nächtlichen Ausschreitungen gegen den Bibelkreis, Verspottung der Verantwortlichen und schließlich zu einem Untersuchungsverfahren wegen Ketzerei

116 117

"« »» 120 121

Vgl. ebd., 593. H. S. Bender, zit. nach: Packull, Anfänge, 54. Vgl. QGTS II, 593. Ebd., 587. Vgl. ebd., 602 ff. Vgl. EAk Nr. 623,276 ff.

4.2 Der Castelberger Lesekreis

143

kam. 1 2 2 Entgegen dieser Annahme scheinen m. E. nicht in erster Linie die religiösen Lehrinhalte ausschlaggebend für die Proteste der Bürger gewesen zu sein, sondern bereits die unkonventionelle Organisationsform der Versammlungen. Ein Kreis von Laien, der sich außerhalb der Kirche in Privathäusern oder unter freien Himmel traf, in dem eigenverantwortlich gewählte „Laien" als Lehrer akzeptiert wurden und dessen Teilnehmer darüber hinaus selbst die Kompetenz in Fragen der Lehre anstrebten, vielleicht sogar demonstrierten, 123 mußte suspekt wirken. Die Reaktionen der Bürger zeigen vornehmlich ihre Abneigung gegen die Art der Zusammenkünfte, nicht gegen die dort vertretene Lehre. I m Zuge einer nächtlichen Attacke wurde G Hottinger, einer der Teilnehmer, mit folgenden Worten provoziert: „Du, tüfel, Hottinger, stand uf! nimm dine ketzer mit dir, und gond in die Ketzerschuol!" 124 Zusätzlich sangen die Randalierer als Verspottung das sogenannte „Judenlied". 1 2 5 Castelberger wurde wegen seines in den Augen der Bürger zu Unrecht angemaßten Lehramtes als „Leutpriester ohne Kirche", bezeichnet. 126 Mit derselben Tendenz sprach man Hottinger in der Metzgerei ironisch als „Doktor" an. 127 Die Bezeichnung des Lesekreises als „Judenschule" bzw. „Schule" könnte neben der sicherlich abwertenden Einstellung, die auf zeitgenössische antisemitische Präjudizien 128 zurückgriff, um den Gegner zu diffamieren, auch auf einen realen Hintergrund verweisen. Das jüdische Lehrhaus pflegte zu allen Zeiten das Gespräch und die Lehrdebatte um die richtige Auslegung der Schrift. Die gemeinsame Talmuddiskussion sowie die regelmäßige Unterweisung in der Schrift sind für das Judentum konstitutiv. Vielleicht erinnerte die Laienveranstaltung um den „Leser", die in Gesprächsform abgehalten wurde, an die bekannte jüdische Institution des Lehrhauses, das auch „Schule" genannt wurde. Auch Zwingli selbst verwendet die Bezeichnung „Schule" für das gemeinsame Bibellesen. „Die Christen fragend iren gesalbten pfaffen nüts mee nach. Und sind kü- und gänshirten iez geleerter denn ire theologie. Und ist eins ieden buren hus ein schul, darin man nüaws und alts testament, die höchsten kunst, lesen kann." 129 122 123

Vgl. Packull, Anfänge, 54 f.

Vgl. EAk Nr. 623, 276 ff.: Castelberger warnte seine Freunde wiederholt vor geistlichem Hochmut. 124 EAk Nr. 252,85; ein ähnlicher Vorfall mit der Bezeichnung „Judenschule" findet sich in EAk Nr. 374,136. 125 Egli deutet die Bezeichnung „Judenlied Gamahu" auf das Purimfest. In der Festliturgie wird bei der Verlesung der Estherrolle immer wenn der Name „Haman" im Text vorkommt ein Verfluchungsruf von der Gemeinde aufgesprochen. Vgl. EAk Nr. 252,86 (Anm. des Herausgebers). ™ Vgl. EAk Nr. 623,277. 127 Vgl. EAk Nr. 252,86; Packull, Anfänge, 55. 128 Bis in die Gegenwart hinein wird das Schimpfwort über die angeblich so „laute Judenschule" verwendet. 129 „Wer Ursache gebe zu Aufruhr", Ζ I I I , 361; In seinem Taufbuch bezeichnet der Reformator seine früheren Anhänger auch als „Rabbiner": „So ir yetz glöubig sind und das wort ghört und verstanden, ja gantz rabi drinn sind." Ζ I V , 325.

144

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Wie sehr die Versammlungen gegen den gesellschaftlichen Common sense verstießen, zeigen die stereotypen Gerüchte und Vorurteile, die sich aus den Zeugenaussagen rekonstruieren lassen. Man warf dem Kreis heimliche Völlerei, Ausschweifung und Prassen vor. 1 3 0 Hochrüthiner beteuerte deshalb, daß sie nach der Unterweisung nur etwas Wein getrunken hätten, um nicht in öffentliche Wirtshäuser gehen zu müssen. 131 Die Teilnehmer gerieten durch ihre Organisationsform in Konflikt mit den gesellschaftlichen Normen. In diesen Zusammenhang gehören auch offensichtlich falsch verstandene Aussagen Castelbergers zu Frauen, Diebstahl und Mord, die als Anklagepunkte erscheinen und deren ursprünglichen Sinn die Teilnehmer des Bibelkreises im nachhinein selbst mit der Berufung auf die Autorität Zwingiis zu legitimieren versuchten. 132 Wahrscheinlich fielen die provokanten Ausführungen in einer Übertragung des Gleichnisses vom Pharisäer und Zöllner aus M t 23,1-12 auf das damals verständlichere Gegensatzpaar von Hure und Bürgersfrau. Es ist leicht vorstellbar, daß die von Castelberger dargelegte Gleichsetzung einer ehrbaren Ehefrau mit einer Hure, wenn jene sich überhebt und nicht als Sünderin begreift, Anlaß zur Verleumdung werden konnte. Gleiches gilt für seine Bemerkungen zum Pfründenwesen, Wucher und Diebstahl. Daß die Zeugen Castelbergers kritische Einstellung gegen den Kriegsdienst und das Söldnerwesen hervorhoben, mag als ein Hinweis auf seine pazifistische Ausrichtung zu werten sein. 133 Diese Einstellung gegen den Kriegsdienst wäre ein frühes Zeugnis für die spätere Befürwortung der Gewaltlosigkeit in der Täuferbewegung. „Item, der Andrea hab geseit vil vom kriegen; wie die göttlich 1er so heftig darwider und wie sünd das syg, und nämlich die meinung gesprochen: einer, so sich sins vätterlichen erbs und guots möchte behelfen und in krieg zühe, gelt und besoldeung empfache und damit biderb lüt zuo tod schlache, denen ir[e] neme, die im nie leids getan habint, derselb kriegsmann syg vor gott dem allmächtigen, ouch nach inhalt der evangelischen 1er ein morder und nit besser dann der, so armuot halb mürde oder stele[...]." 134 130

Vgl. EAk Nr. 623, 278. In seiner Schrift über die wahren Aufrührer spricht Zwingli von eigenen „Kampfhäusern", in denen sie heimlich zusammen kämen und zu Gericht über andere Menschen säßen, vgl. Ζ I I I , 405. Auch hier wird die Art der Versammlung in Häusern als konspirative Treffen gedeutet. 131 Zur grundsätzlichen Einstellung der Täufer gegenüber den Wirtshäusern vgl. M. Kobelt-Groch, Unter Zechern, Spielern und Häschern. Täufer im Wirtshaus, in: N. Fischer / M. Kobelt-Groch (Hg.), Außenseiter zwischen Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Hans-Jürgen Goertz zum 60. Geburtstag, Leiden 1997,111-126. Der gewagten These der Autorin, wonach die Täufer in Wahrheit die Wirtshäuser benötigten, weil dort eine antiklerikale Stimmung vorherrschte, die zur Unterstützung ihrer Bewegung notwendig gewesen sei, muß allerdings widersprochen werden. Vgl. dazu die kritischen Ausführungen zum „Antiklerikalismus" im Ertrag dieser Untersuchung. 132 Vgl. EAk Nr. 623,277 f. 133 Vgl. Stayer, Sword, 96. ι * QGTS I, Nr. 397,387; EAk 623,277 f.

4.2 Der Castelberger Lesekreis

145

Denkbar wäre jedoch auch, hierin eine Replik auf eine Anschuldigung gegen den Bibelkreisleiter zu sehen, er rechtfertige mittellose Mörder. Die Legitimierung von Mord und die Gleichstellung von ehrbaren Frauen mit Huren waren, wie oben dargestellt, Hauptanklagepunkte gegen Castelberger. Diese These stützt die kurze Aussage von U. Trinkler, der bezeugte, er hätte Castelbergers Äußerungen über die Ehefrauen und über den Diebstahl ebenso wie Aberli gehört und verstanden, „[...] und von wegen der mörderey sage er nüt, hab es ouch nit gehört." 1 3 5 Die drastischen und lebensnahen Vergleiche Castelbergers konnten, ohne daß die Argumentation als Ganzes begriffen wurde, in schwere Anklagen gegen die „Ketzerschule" umgewandelt werden. Aus dem Ratsprotokoll läßt sich m. E. nicht eindeutig beweisen, daß Castelberger grundsätzlich mit den Forderungen des gemeinen Mannes solidarisch war, noch daß er die Bibel vornehmlich sozialkritisch auslegte. 136 Packull erwähnt in seiner Beschreibung des Castelberger Kreises erstaunlicherweise nicht ein einziges Mal den vorrangigen, von den Teilnehmern selbst herausgestellten Zweck der Versammlungen: die Unterweisung in evangelischer Lehre und das gemeinsame Studium des Römerbriefes. Er versucht, Castelberger in sein Bild der Reformation des gemeinen Mannes in Verflechtung mit der prototäuferischen Bewegung zu integrieren, in dem er ihn auf sozialkritische Themen festlegt. Die dazu benutzten Zeugenaussagen paraphrasieren jedoch nicht die zentralen Lehrinhalte Castelbergers, sondern spiegeln die Anklagepunkte seiner Gegner und die eigene Richtigstellung durch Teilnehmer des Kreises wieder. Zwei Zeuginnen berichteten jedoch im Juni 1525, daß ihnen durch einen Mitbewohner Castelbergers, H. Scheffler, über das lebhafte Aus- und Eingehen vieler Bauern bei Castelberger erzählt worden sei, der gepredigt habe, man müsse keinen Zehnten zahlen und sie gleichzeitig über die Taufe belehrte. 137 Aus der Zeugenaussage Schefflers wird deutlich, daß er seinen Hauswirt bewußt verleumdete, da das Mietverhältnis wohl vor der Auflösung stand. Castelberger würde den Bauern, die zu ihm kämen das Taufbuch Zwingiis auslegen und dessen Fehler nachweisen. Zugleich befürworte er eindeutig die Wiedertaufe. Der letzte Vorwurf scheint die sozialkritische Ausrichtung Castelbergers zu belegen: „[...] sye der meinung, daß man kein oberkeit haben und den zehenden nit geben solle etc." 1 3 8 Gerade im Blick auf das lückenhafte Quellenmaterial, das nur wenige konkrete Angaben über den Le-

135 EAk Nr. 623,278. 136 Vgl. Packull, Anfänge, 55; Wie weit die Interpretation dieser wenigen Aussagen über Castelbergers Lesekreis gehen kann, zeigen Ausführungen von H.-J. Goertz: Castelberger kann für ihn als „Brückenkopf der religiösen und sozialen Interessen gelten, wie sie auf dem Lande mit Zehntverweigerung und eigener Pfarrerwahl verfolgt wurden." H.-J. Goertz, Das Täufertum - ein Weg in die Moderne, in: P. Blickle / A. Lindt / A. Schindler (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985,174. 1 37 Vgl. QGTS I, Nr. 398,387 f. 1 38 Ebd., 388.

146

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

sekreis enthält, muß man sich vor einer Überinterpretation der einzelnen Aussagen hüten und ihren „Sitz im Leben" berücksichtigen. Es bleibt festzuhalten, daß die humanistischen Sodalitäten bei aller Berücksichtigung der Unterschiede (Elitebildung, Bildungsvoraussetzungen, Lehrinhalte) als Modell für die späteren Lesekreise anzusehen sind. Schon die enge personelle Verflechtung mit der Prototäuferbewegung deutet auf diesen Zusammenhang hin. Die spontane Organisation von freien Bibelkreisen durch Laien in struktureller Analogie zu den Sodalitäten war darüber hinaus eine konsequente Antwort auf die reformatorische Predigt. Laien ergriffen die Initiative, versammelten sich um die Schrift und strebten nach vertiefter Bibelkenntnis. Die von den Reformatoren proklamierte Schriftautorität und das Prinzip des Priestertums aller Gläubigen fanden in den Bibelkreisen ihren organisatorischen Rahmen. Im Gegenzug konnte die Aufwertung des Laien eine radikale Absage an die „Klerikerkirche" sowie an die Vorrangstellung gelehrter Theologen bedeuten. H. Miles beklagte dementsprechend im Blick auf die Vorgänge in St. Gallen, daß durch die Lesekreise das gemeine Volk so verführt worden sei, daß es „Pfaffen" und gelehrte Leute verachte. 139 Die Kompetenz, in Lehrfragen eigenständig entscheiden zu können, erwarben die radikalen Kräfte zum einen durch die reformatorische Predigt, zum anderen durch die organisierte Unterweisung in den Bibelkreisen. Daher ist es nicht verwunderlich, daß gerade Mitglieder dieser Laienveranstaltungen an öffentlichen Aktionen gegen die alte Ordnung beteiligt waren. Während der ersten Disputation nahm Zwingli wiederholt zur Einbeziehung der Laien in den Reformprozeß und in die Evangeliumsverkündigung Stellung. Er warf den Klerikern vor, sie hätten dem „gemeinen man" bewußt das Evangelium vorenthalten. 140 „Denn sy geben für, es gebür sich niemants die geschryfft ußzelegen denn inen, glych als ob die anderen frummen menschen nitt ouch Christen und mit dem geist gottes nüt ze schaffen hetten oder on erkanntnus göttlichs worts sin müsten." 141

Demgegenüber lobte Zwingli die erhältlichen Bibelübersetzungen, die es nun ermöglichten, „daß sich ein yetlicher frummer Christenmensch, der lesen oder latin kan, lichtlich berichten mag und den willen gottes erlernen." 142 Die Dynamik der reformatorischen Bewegung, die in dieser Frühphase vor allem eine Bibelbewegung war, faßte er zum Abschluß der ersten Disputation mit einer deutlichen polemischen Spitze gegen seine Gegner zusammen: „Denn es ist darzu kummen, das ouch die leyen und wyber mer von göttlichem geschrifft wissent, denn ettlich priester und pfaffen." 143 Wiederholt werden die 139 140 141 142 143

Vgl. QGTS II, 703. Vgl. Ζ 1,496. Ebd. Ebd., 562. Ebd., 563.

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

147

Lesekreise von den Gegnern (!) der Täufer im nachhinein als Keimzelle des Täufertums bezeichnet. So läßt sich in St. Gallen die Entstehung der dortigen Täuferbewegung anhand der Aufzeichnungen Keßlers nachweisen. Ein entscheidender Schritt zur Formierung der täuferischen Partei war ein Disput um die Taufe unter den Teilnehmern des Lesekreises. 144 Hochrüthiners Argumentation gegen die Kindertaufe und Keßlers Verteidigung der traditionellen Praxis und ihres sakramentalen Charakters führten zur Spaltung des Bibelkreises. Die Kindertaufgegner wurden darüber hinaus durch ein Schreiben Grebels eindeutig gegen Keßler eingenommen, dessen Tauflehre „uß dem tüf e l " 1 4 5 wäre. In einer gemeinsamen Bibelstunde am 25. Januar 1525 fiel in Zürich die Entscheidung zur ersten Glaubenstaufe. 146 Ohne Zweifel waren die Bibelkreise eine maßgebliche Wurzel der Täuferbewegung in der Schweiz. Ob sich aufgrund der aufgezeigten Charakteristika der Versammlungen bereits ein ekklesiologischer Grundansatz des späteren Täufertums entnehmen läßt, soll der Fortgang der Untersuchung zeigen. Sicherlich waren die Lesekreise ein bedeutender Schritt auf dem Weg, das Recht der Gemeinde als Versammlung der Gläubigen zu realisieren, die befähigt waren, die Predigt anhand der Schrift zu prüfen und Kompetenz in Lehrfragen beanspruchten. 147 Goeters führt in diesem Sinne über den Zürcher Bibelkreis aus: „In dieser Gruppe, einer um das Neue Testament sich versammelnden Laienbewegung, die sich gleichermaßen von weltlicher Geselligkeit wie katholischem Gottesdienst zurückzieht, haben wir die Wiege des Täufertums unter den stadtzürcher Bürgern zu sehen."148

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung (Sommer 1522) Der Sommer 1522 war im Blick auf die Zürcher Reformation durch Konfrontationen zwischen den Reformkräften und den Ordensleuten der städtischen Klöster geprägt. 149 Oberman kommt in seiner Darstellung der Ereignisse, die zur ersten Disputation führten, diese Phase betreffend zu interessanten Ergebnissen. I m Verlauf der Fastendebatte fand zunächst eine Disputation 144 14

Vgl. QGTS I I , 602 f. 5 Ebd. 603.

146

Vgl. Fast, Wahrheit, 19. Vgl. ebd., 18. 148 Goeters, Vorgeschichte, 255. 149 Vgl. Gäbler, Zwingli, 55; H. Fast, Reformation durch Provokation. Predigtstörungen in den ersten Jahren der Reformation in der Schweiz, in: H.-J. Goertz (Hg.), Umstrittenes Täufertum, Göttingen 21972, 80; Goeters, Vorgeschichte, 245; Haas, Zwingli, 104 iL 147

148

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

zwischen Zwingli und einer Konstanzer Bischofsdelegation statt. 150 Ferner focht Zwingli einen Lehrstreit über die Heiligenverehrung mit F. Lambert von den Franziskaner Observanten aus, den der Reformator durch eine spontane Unterbrechung seiner Predigt provoziert hatte. 151 Für besonders wichtig hält Oberman die vom Rat einberufene Disputation Zwingiis mit Vertretern der Bettelorden am 21. Juli 1522, die er als eigentliche „erste Disputation" bezeichnet und an deren Ende bereits ein Ratsbeschluß über die Einführung schriftgemäßer Predigt stand. 152 A n den verschiedenen Auseinandersetzungen mit Klerikern der Ordenskongregationen Zürichs, in deren Zusammenhang die theologischen Themen der Marien- und Heiligenverehrung, des Mönchtums, der Priesterehe und des Klosterwesens verhandelt wurden, nahmen die Anhänger Zwingiis in unterschiedlicher Intensität teil. S. Stumpf, Leutpriester zu Höngg, gehörte zu den Mitunterzeichnern einer Petition Zwingiis an den Bischof von Konstanz vom 2. Juli 1522, in der die Aufhebung des Zölibats für den Klerus und die Einführung schriftgemäßer Predigt gefordert wurden. 153 Ein Gedicht Grebels beschloß den „Archeteles", die Antwortschrift Zwingiis auf das Mahnschreiben des Bischofs vom Mai 1522. 154 Zwingli erwähnt in diesem Schreiben an den Bischof, daß er genötigt sei, seine Anhänger zur Geduld und zur Rücksichtnahme gegenüber den „Schwachen" im Glauben zu ermahnen. 155 Grebels Gedicht enthält ausgeprägte antiklerikale Züge, indem er etwa kämpferisch die Besiegung widerstreitender Bischöfe, die er als reißende Wölfe bezeichnete, vorhersagte. In seinem Brief an Vadian vom 21. November 1522 lassen sich weitere antiklerikale Ausfälle Grebels aufzeigen, die die Härte der aktuellen Auseinandersetzung verdeutlichen. 156 Grebel prophezeite hier den Klerikern, die den Fortgang der Reformation behinderten, ein Strafgericht, zieh sie der fortgesetzten Blasphemie wider den Heiligen Geist und anderer „monströser" Verbrechen. Seinen Eifer für die reformatorische Sache bekannte er seinem Schwager mit emphatischen Worten, wonach sein einziges Trachten der Verfolgung der „Wölfe" - gemeint sind die altgläubigen Widersacher - gelte. Kennzeichnend für die gespannte Situation zwischen Reformbefürwortern und Vertretern der altgläubigen Geistlichkeit in den städtischen Klöstern waren wiederholt stattfindende spektakuläre Predigtstörungen. 157 Die Deutung 150 Vgl υ a Oberman, Werden und Wertung der Reformation, Tübingen 1977,270 f. 151 152

Vgl. ebd. Vgl. ebd., 273.

153

Vgl. Gabler, Zwingli; Goeters, Vorgeschichte, 243. Vgl. Gabler, Zwingli, 56 f.; Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 15; vgl. Apologeticus Archeteles Ζ1,249-327; das Gedicht von Grebel, ebd., 327. 155 Vgl. Yoder, ebd., 14. 156 Vgl. E. Arbenz / H. Wartmann (Hg.), Vadiansche Briefsammlung der Stadtbibliothek St.Gallen (VB), Historischer Verein, 1888-1913, Bd. II, Nr. 326. 154

157

Vgl. Fast, Reformation, 80 ff.; Gabler, Zwingli, 55.

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

149

dieser Gottesdienstunterbrechungen durch Zwingli und seine Anhänger ist umstritten. Zum einen vertritt Walton die Ansicht, daß diese Agitation unmittelbar auf die radikalen Kräfte zurückgehe, die damit die evolutionäre Entwicklung der Reformation gefährdeten. 158 Fast hingegen interpretiert die Predigtstörungen als bewußt gewähltes Mittel zur Durchsetzung der Reform, das von Zwingli durchaus positiv gewertet werden konnte und erst in einer späteren Entwicklungsphase vom Täufertum instrumentalisiert und schließlich in die freikirchliche Ekklesiologie der frühen Täuferbewegung als Zeichen der mündigen Gemeinde integriert worden sei. 159 Ungeachtet der Tatsache, ob man der These Fasts folgen will, daß die Predigtstörungen gezielte Agitationen zur Beförderung der Reformation waren, ist offensichtlich, daß die Unterbrechung von Predigten keine spezifische Äußerungsform der radikalen Kräfte war. Es waren vielmehr Aktionen, die zum Ausdruck brachten, daß die Schriftautorität über der Amtsautorität stand. Die Autoritätenproblematik, die hinter den Auseinandersetzungen mit dem Klerus stand, prägte auch die erste Disputation. 160 Sie mußte auf den verschiedenen Ebenen zur Entscheidung gelangen, wobei letzthin zugunsten der Schriftautorität entschieden wurde. Die theologische Konzentration auf die Schriftgemäßheit der Predigt, inklusive ihrer kirchenpolitischen und sozialen Folgen, die in den Veröffentlichungen Zwingiis im Frühjahr 1522 zutage trat, wurde im Sommer desselben Jahres in die Tat umgesetzt. Eine Predigt, die eines der „Reizthemen" der kirchlichen Auseinandersetzung anschnitt und sich für die Reformkräfte damit als nicht schriftgemäß auswies, war daher auch für den Laien Anlaß genug, öffentlich den Amtsträger zu korrigieren. Fast ist zuzustimmen, wenn er die überragende Rolle der Predigt für die Reformbewegung betont, aus der ersichtlich wird, warum an dieser Stelle zu solch provokativen Maßnahmen gegriffen wurde. 161 Obwohl auch Zwingli selbst Predigten von Amtsbrüdern durch Zwischenrufe störte, wurden nur seine Schüler Grebel, Aberli, Pur und Hottinger wegen Predigtunterbrechungen vor den Rat geladen. 162 Man bleibt auf Vermutungen angewiesen bei der Frage, warum nicht auch Zwingli, der des gleichen Vergehens schuldig war, sondern nur seine vier Gefolgsleute vor den Rat zitiert wurden. Vielleicht galt die Anmaßung eines Laien, eine Predigt im öffentlichen Gottesdienst zu stören und damit seine Autorität mit der 158 Vgl. Walton, Theocracy, 65 f. 159

Vgl. Fast, Reformation, 93.98 ff. Vgl. Gäbler, Zwingli, 59.65; vgl. W. P. Stephens, Authority in Zwingli - in the First and Second Disputations, in: Reformation and Renaissance Review. Journal of the Society for Reformation Studies 1,1999,56 ff. 161 vgl. Fast, Reformation, 95 ff. Um das zu illustrieren sollte man den Verlauf der ersten Disputation unter dem Stichwort „Predigt" bzw. „Wort Gottes" untersuchen. 160

162 Vgl. EAk Nr. 269, 94; G. Finsler (Hg.), Die Chronik von Bernhard Wyss 15191530, Basel 1901,13-15.

150

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

des geweihten Amtsträgers der Kirche gleichzustellen, als größeres und skandalöseres Verbrechen als ein ähnliches Verhalten seitens eines Klerikers. Diese These muß allerdings bei späteren Auftritten L. Juds, die ebenfalls Ratsverhandlungen nach sich zogen, überprüft werden. 163 Die tumultartige Gerichtsszene vom 7. Juli 1522 ist bereits hinreichend in der Literatur zur Täuferbewegung dargestellt worden. 164 Die vier Angeklagten (s. o.) muß ten sich wegen Predigtstörungen und Disputationen mit Ordensangehörigen verantworten. Die Delinquenten zeigten sich anscheinend keineswegs reumütig, sondern standen selbstbewußt zu ihrem Vorgehen gegen die i. E. nicht schriftgemäße Predigt und ließen sich weitere Predigtstörungen nicht a priori verbieten. Folglich mündete die Verhandlung in einen erregten Wortwechsel. 165 Eine Zeugin sagte später aus, daß „die Stuben fast geknellt" hätte. 166 In dieser durchaus „explosiven" Situation äußerte Zunftmeister M. Schliniger die Befürchtung, der Teufel sei wohl in der Gestalt der sich wehrenden Angeklagten in der Ratsstube anwesend. Die Replik Grebels ist keineswegs devot, indem sie im Blick auf Zwingiis Gegner, P. Reger, 167 den Teufel im Rat sitzen sah. Die verbale Verunglimpfung des Ratsmitglieds, die durch die Zeugin wiedergegeben wurde, ist ein sprechendes Beispiel mittelalterlichen „Mistvokabulars". 168 Grebel gab sich mit der drastischen Beschimpfung seiner Gegner im Rat nicht zufrieden, sondern drohte ihnen „Zerstörung" an, sofern sie den Fortgang des Evangeliums behinderten. 169 Die Deutung des provokanten Auftretens der Beschuldigten ist nicht einfach, da genaue Informationen über den Inhalt des Gespräches fehlen. Zum einen wäre denkbar, daß in den Worten Grebels bereits zu diesem Zeitpunkt eine Spur der apokalyptischen Verunglimpfung des Rates als antichristlicher Gegner zu erkennen ist. 1 7 0 Die Identifikation von Ratsmitgliedern mit dem Teufel wie auch die Ankündigung der Zerstörung derjenigen, die den Lauf des Evangeliums hinderten, könnten ebenso wie der „zelotische" Eifer Grebels in der Szene vor Gericht auf seine endgeschichtliche Ausrichtung hinweisen. Dagegen spricht, daß Grebel der Bezug auf den Teufel durch den Ausruf Schlinigers bereits vorgegeben war. Er wandte den Vorwurf, der gegen die Angeklag163

Vgl. Fast, Reformation, 92 ff. Vgl. Goeters, Vorgeschichte; Stayer , Sword, 97; Goertz, Täufer, 16; Fast, Reformation, 80 f. 165 Vgl. EAk Nr. 269,94. 166 Ebd. Das mit diesem Ausdruck das „Türzuschlagen" Grebels gemeint sein könnte, wie Fast vermutet, ist unwahrscheinlich, da erst nach dieser Situationsbeschreibung der Inhalt des Streitgesprächs durch die Zeugin berichtet wird, vgl. Fast, Reformation, 82, Anm. 9. 167 Vgl. Fast, Reformation, 81. 168 Vgl. Oberman, Luther, 114. 169 Vgl. EAk Nr. 269,94. 170 Vgl. Nienkirchen, Reviewing, 231. 164

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

151

ten gerichtet wurde, nur analog dazu auf seine Widersacher an. Festzuhalten bleibt die ausgesprochen selbstsichere A r t des Auftretens der Vorgeladenen, die keineswegs zu „gehorsamen Untertanen" 1 7 1 passen möchte. Der Kampf für eine schriftgemäße Predigt wurde von Grebel und seinen Gesinnungsgenossen trotz der Rüge durch die Obrigkeit für legitim angesehen. Das Kriterium für eine rechtschaffene Obrigkeit bestand für die Reformkräfte bereits zu diesem Zeitpunkt in der Förderung der evangelischen Predigt. Die radikalen Reformer stellten sich im Sommer 1522 im Bewußtsein ihrer neugewonnenen Autorität gegen die Stadtgeistlichkeit und gegen Mitglieder des Rates, wenn i. E. der Fortgang der Reformation behindert wurde. Vielleicht kann diese erstaunliche Selbsteinschätzung nur aufgrund einer von ihnen erkannten prophetischen Sendung in apokalyptischer Zeit angemessen gedeutet werden. 172 Der Ausgang des oben genannten Verfahrens ist ungewiß, da Bullinger und Wyss das Verbot weiterer Agitationen durch den Rat überlieferten, während die erwähnte Zeugin den Freispruch der vier Angeklagten ohne weitere Auflagen berichtete. 173 Die Reaktionen des Rates bei späteren Predigtstörungen 1 7 4 weisen eher darauf hin, daß die Beschuldigten ermahnt wurden, weitere Dispute und Gottesdienststörungen zu unterlassen. I m September 1522 kam es zur ersten Zehntverweigerung, die den Auftakt zu einer intensiven Auseinandersetzung um den Zehnten bildete. Dies erfolgte in Reaktion auf eine Predigt des Pfarrers von Höngg, S. Stumpf, der gelehrt habe, „man sei keinen Zehnten schuldig." 175 Diese Debatte eskalierte im Sommer 1523 schließlich im verbreiteten Widerstand gegen das Zehntrecht durch die Zürcher Landgemeinden. Der Zusammenhang von Zehntverweigerung und radikaler Reformation sowie das Engagement späterer Täufer in diesem Protest wurde zuerst von Goeters aufgezeigt und gewann in der sich anschließenden Forschungsdiskussion große Aufmerksamkeit. Goeters sieht in der Zehntverweigerung von 1522 und den sich daran anschließenden Konflikt um die Gerichtsbarkeit im Falle Stumpfs den eigentlichen Anlaß zur ersten Disputation. 176 Der Auseinandersetzung um den Zehnten wird gerade in der sozialhistorischen Täuferforschung eine hohe Bedeutung beigemessen, gehört sie doch zu den Fundamenten der These, daß sich die Täufer von einer Sozialrevolutionären Bewegung, die solidarisch mit den Forderungen der Bauern war, erst nach dem Bauernkrieg zur sektenhaften Konzeption einer abgesonderten Gemeinschaft durchrangen.

171 172 173 174 175 176

Goeters, Vorgeschichte, 245. Vgl. Nienkirchen, Reviewing, 231. Vgl. Fast, Reformation, 82. Vgl. ebd., 82 ff. EAk Nr. 267,93. Vgl. Goeters, Vorgeschichte, 252 f.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Die Verweigerung des Zehnten gehört nach Erkenntnis der neueren Forschung, die sich vorwiegend an den Ergebnissen Blickles orientiert, wie auch die eigenständige Pfarrerwahl zu den stereotypen Kennzeichen der Autonomiebestrebungen der Landgemeinden gegen den Zentralismus Zürichs. 177 Daher gelten die Zehntverweigerungen, die in den Jahren 1522/23 unter dem Einfluß der radikalen Reformatoren stattfanden, als Indiz dafür, daß deren Predigt als „Aufruf zur Umgestaltung" 178 verstanden wurde. „Abhängigkeitsstrukturen sollten zur Gemeindeautonomie umgeschmolzen werden." 1 7 9 Ähnlich weitgehend hatte bereits Stayer die von den Täufern provozierte Zehntverweigerung interpretiert, indem er hinter dem Streit um den Zehnten die Frage nach der Machtbefugnis des Rates gegenüber den Landgemeinden sah, die nach lokal verwalteten Dorfgemeinschaften strebten. 180 Die Prototäufer als Repräsentanten der radikalen Reformation fügen sich deshalb nahtlos in die These der bäuerlichen Gemeindereformation ein. 1 8 1 Die von Stayer profilierte Forschungsmeinung erhält in jüngster Zeit durch Goertz eine weitreichende Konsequenz. Demnach sei die Entstehung des Täufertums nicht mehr aus den kontroversen ekklesiologischen Paradigmen Volkskirche und Freikirche - zu erklären, sondern sei im Autonomiekampf der Dörfer der Zürcher Landschaft gegen das zentralistische Reformkonzept Zürichs begründet. 182 Goertz versucht durch umfangreiche Forschungen die Korrelation von Täufertum und Bauernkrieg zu erweisen. Dabei urteilt er geradezu apodiktisch über das frühe Täufertum: „Es handelte sich hier um eine Bewegung bzw. um den reinen und konsequenten Ausdruck einer »Gemeindereformation 4 ". 183 In der zweiten, „postrevolutionären" Phase des Täufertums vollziehe sich durch die soziopolitischen Veränderungen ein Wandel innerhalb der Bewegung, die sich zu einer ausschließlich religiösen Gruppierung entwikkelte. „Sollte ursprünglich die politische und religiöse Autonomie der Kommunen hergestellt werden, so gilt es jetzt, nur noch für die Autonomie der religiösen Gemeinschaft zu kämpfen." 184 Der Zehnte wird darüber hinaus als „Zentralproblem" gewertet, an dem die Einheit von Zwingli und seinen radikalen Anhängern scheiterte. 185 177 Vgl. P. Blickle , Gemeindereformation, München 1987, 60 f.; J. M. Stayer , Anabaptists and Future Anabaptists in the Peasants' War, in: MennQR 62,100. 178 Hui y Bauernaufstand, 117. 179 Ebd. 180 Vgl. Stayer , Future Anabaptists, 100. 181 Vgl. Blickle , Gemeindereformation, u. a. 71 ff. Das spezifische Verhältnis der Stadt zu ihren Landgemeinden wird im 10. Kapitel dieser Untersuchung ausführlich erörtert. 182 Vgl. Goertz, Bauern, 92. 183 Ebd., 104. Vgl. Punkt 3 und Punkt 10 dieser Untersuchung. 1 84 Ebd., 107. 185 Vgl. Stayer , Anfänge, 30; Packull, Anfänge, 57.

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

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4.3.1 Zur Zehntfrage in der Reformationszeit Die umstrittene Legitimität des Zehnten hatte 1522 bereits eine bewegte Vorgeschichte hinter sich, in der prominente Vertreter wie J. Wycliff den Mißbrauch des Zehnten und die damit verbundene Machtposition sowie die finanzielle Ausbeutung seitens der Kirche verurteilt hatten. 186 Erste Zeugnisse über die Erhebung des Zehnten sind um 500 n. Chr. zu datieren. 187 Die staatlich begünstigte Etablierung der Zehntpflicht in der Karolingerzeit führte dazu, daß der Zehnte als wichtigste und dauerhafteste Steuer in der wirtschaftlichen Entwicklung Westeuropas betrachtet werden kann. 1 8 8 Dabei durchliefen die theologische Begründung, der Kanon der Zehntpflichtigen, die juridische Grundlage sowie die Verteilung des Zehnten mannigfaltige Stadien. Im frühen Mittelalter dominierte die Überzeugung, daß der Zehnte von allen Gliedern der Kirche, einschließlich des Klerus, als A k t der Gottesverehrung zu zahlen sei. 189 Die allgemeine Zehntpflicht basierte auf biblischen Vorschriften. Bereits zu dieser Zeit läßt sich die Verbindung von Zehntabgabe und Armenfürsorge nachweisen, woraus zu schließen ist, daß bereits in frühchristlicher Zeit der Zehnt vornehmlich als Abgabe für karitative Zwecke praktiziert wurde. Daneben begegnet in der theologischen Begründung stets die Argumentation, daß der Zehnte Gottes Besitz sei und daher nicht mit A l mosen gleichgesetzt werden dürfe. Der Universalität der Zehntpflicht korrespondierte die Abgabenleistung, die auf alle Einnahmen, nicht nur aus dem landwirtschaftlichen Bereich erhoben wurde. Bereits im neunten Jahrhundert ergaben sich jedoch die größten Zehnteinnahmen im landwirtschaftlichen Bereich, so daß sich der Zehnte sukzessiv zur reinen Abgabe der Landbevölkerung entwickelte. 190 Die Zahlung des Zehnten erfolgte in der Regel an die Kirche, in der man die Sakramente empfing. Die ursprüngliche Gebundenheit des Zehnten an die Parochialgemeinde als „Gegenleistung" zur Spendung der Sakramente muß im Blick auf die reformatorische Zehntverweigerung berücksichtigt werden. Die universale Zahlung des Zehnten und die parochiale Organisation der Verwaltung wurde staatlicherseits durch flankierende Maßnahmen unterstützt. 191 Die Entwicklung führte zunächst dahin, daß im 10. Jahrhundert jede Kirche, die pastorale 186

Vgl. Oberman, Werden, 146 ff., 152; Wycliff betrachtete den Zehnten als Almosen und freiwillige Abgabe. Diese Interpretation wurde später von den Täufern aufgegriffen. 187 Vgl. G. Zimmermann, Die Antwort der Reformatoren auf die Zehntenfrage, Frankfurt a. M./Bern 1982,23. 188 Vgl. G. Constable , Monastic Tithes. From their Origin to the TWelfth Century, Cambridge 1964, 2; W. v. Hippel, Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, Bd. 1, Boppard a. R. 1977,209 f. 189 Vgl. Constable , Tithes, 15. 190 Vgl. Zimmermann, Antwort, 20; Constable , Tithes, 34 f. 191 Vgl. Constable , Tithes, 37 f.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Funktionen ausführte, mit Zustimmung des Bischofs die Zehntrechte erhielt, wodurch der Zehnte sich mehr und mehr zu einer legitimen kirchlichen Einnahme wandelte, die unter bischöflicher Aufsicht zur Finanzierung des Klerus, des Kirchenbaus, der Armenfürsorge und bischöflicher Belange genutzt wurde. In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts setzte sich darüber hinaus parallel zum Machtzuwachs des Papsttums die Befreiung des Klerus von der Zehntpflicht durch, die als Konsequenz einer funktionalen Änderung des Zehnten zu verstehen ist. „Tithing increasingly became a matter not of divine law and moral obligation but of human law, ecclesiastical discipline and finance, and even of private-property relationships." 192 Daher verloren seit dem Hochmittelalter die Zehntrechte zunehmend ihren genuinen Charakter als Kirchensteuer und entwickelten sich zu einem wirtschaftlichen Faktor des privaten Besitzes, der auch auf Laien und Einzelpersonen übergehen konnte. 193 I m 14.-15. Jahrhundert setzte sich diese Entwicklung fort, indem immer mehr Zehntrechte in die Hände von Laien übergingen. Die Verankerung des Zehntrechts im Grundeigentum wirkte sich dabei tendenzverstärkend aus, da man mit dem Erwerb eines Grundstückes zugleich die Zehntrechte übernahm. 194 Widerstand gegen den Zehnten gab es nach Ausweis der Quellen im gesamten Mittelalter, besonders da die ständige kirchliche Einflußnahme im bäuerlichen Bereich unbeliebt war. 195 Es ereigneten sich deshalb wiederholt Zehntverweigerungen, vor allem im 14. und 15. Jahrhundert, die wohl auch als Reaktion auf den zunehmend privatrechtlichen Charakter des Zehntwesens angesehen werden können. Als Kampf gegen eine fundamentale Infragestellung sozialer Gerechtigkeit gehörte der Streit um den Zehnten zum Kennzeichen der Reformation, dessen Grundlage bereits in vorreformatorischer Zeit entstanden war. Oberman zitiert in diesem Zusammenhang eine Schrift des Tübinger Theologen K. Summenharts, in der er ebenso wie G. Biel die göttliche Legitimation des Zehnten widerlegte und diesen nur noch als positives Gewohnheitsrecht anerkannte. 196 Summenhart führte aus: „Der rechtlich angemessene Zehnt dient dazu, den Lebensunterhalt des Pfarrers zu sichern und den Armen zu helfen." 197 Beide Motive, die Besoldung des Pfarrers und die Armenfürsorge, waren, wie gesehen, ursprüngliche Bestandteile der theologisch legitimierten Zehntpflicht. Sie treten bei der aktiven Zehntverweigerung der Reformationszeit im Zuge des Bedeutungswandel des Zehnten erneut in den Vordergrund. 198 Von weitreichender Konsequenz für die gesamte Gesellschaft sind die theoretischen Ausführungen Summenharts, 192

Ebd., 220. Vgl. Hippel, Bauernbefreiung, 211; Zimmermann, Antwort, 28. 194 Vgl. Zimmermann, Antwort, 28 f. 195 Vgl. Hippel, Bauernbefreiung, 211. ™ Vgl. Oberman, Werden, 146,152. 197 Ebd., 153. 198 Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 61 f. 193

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

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der dem Zehnten die göttliche Legitimität absprach und ihn dem Bereich des Gewohnheitsrechtes zurechnete, das durch den Konsens der Betroffenen reguliert wurde. 199 Den Einfluß Summenharts auf die Repräsentanten der Reformation hält Oberman auch in dieser Frage für äußerst relevant. 200 Die Zehntverweigerungen häuften sich nachweislich in der ersten Phase der Reformation, so daß die Korrelation von reformatorischer Predigt und Widerstand gegen die Zehntpflicht nachweisbar erscheint. Während die mittelalterlichen Proteste gegen den Zehnten die Zehntordnung grundsätzlich bejahten, stellten nach Zimmermann die Verstöße in der Reformationszeit dessen Rechtsgrundlage grundsätzlich in Frage. 201 Karlstadt, dessen Einfluß auf die späteren Täufer bekannt ist, äußerte sich bereits 1521/22 zur Zehntenfrage. Mit Hilfe seiner heilsgeschichtlichen Differenzierung von Altem und Neuem Testament negierte er den göttlichen Gebotscharakter des Zehnten. 202 Er kritisierte unverhohlen den Mißbrauch des Zehnten, dessen rechtmäßige Empfänger er in dem Pfarrer der Parochialgemeinde und den Armen der Gemeinde sah. 203 Mit dieser Auslegung des Zehntrechts konnte Karlstadt an den traditionellen Gebrauch des Zehnten im Frühmittelalter anknüpfen und gleichzeitig die berechtigte Kritik am damaligen Pfründenwesen, bei dem 93 % der kirchlichen Pfründeninhaber nicht in der Pfarrei residierten und somit ohne Gegenleistung Nutznießer des Zehntrechts waren, zum Ausdruck bringen. Für Karlstadt war die Parochialgemeinde Trägerin des Kirchwesens und dadurch zugleich prädestiniert, selbstverantwortlich die kirchlichen Einnahmen zur Besoldung des Pfarrers sowie zu karitativen Zwecken einzusetzen. Die scharfe Polemik Karlstadts gegen die unrechtmäßigen Zehntempfänger findet ihre Fortsetzung in späteren Begründungen von aktiven Zehntverweigerungen. „Der Zehnte, der einem Fremden, einem nicht in der Gemeinde tätigen Seelsorger, zukommt, wird an einen Dieb und Räuber geliefert; damit verhindert das Zehntwesen in seiner gegenwärtigen Form sowohl die Liebe als auch das Notwendige.204

Zwingli beschäftigte sich bereits 1520 mit der Zehnt- und Zinsfrage, ohne jedoch ausführlich zu diesem Thema Stellung zu nehmen. 205 Auf einer Sitzung des Großmünsterstifts hatte er 1520 dem Zehnten jegliche göttliche Legitimation abgesprochen, woraufhin eine schriftliche Kontroverse mit dem Probst des Stiftes erfolgte. 206 Auch aus seinen späteren Voten sowie in Zeugenaussa199

Vgl. Oberman, Werden, 156. Vgl. ebd., 155. 201 Vgl. Zimmermann, Antwort, 31. 202 Vgl. ebd., 41 f. 203 Vgl. ebd., 43. 204 Zimmermann, Antwort, 43. 205 Vgl. E. Ramp, Das Zinsproblem. Eine historische Untersuchung, Zürich 1949, 61; Zimmermann, Antwort, 75. 206 Vgl. Zimmermann, Antwort, ebd. 200

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

gen wird deutlich, daß Zwingli sich unmißverständlich gegen den zeitgenössischen Mißbrauch des Zehnten aussprach. 207 Obwohl er in seinen Schriften gegen jegliche eigenmächtige Aktion gegen das Zehntrecht polemisierte, hielt er eine Reform des Zehnt- und Pfründenwesens für unausweichlich. Zwingli plädierte durchaus für eine Kommunalisierung des Zehnten, der in Anlehnung an den genuinen Zweck der Abgabe als Grundlage der Armenfürsorge und zur Versorgung des Pfarrers Verwendung finden sollte. 208 Der Reformator übertrug jedoch dem Magistrat und nicht der autonomen Ortsgemeinde die Verantwortung für eine geordnete Reform des Systems. Er erklärte sich in der berechtigten Kritik an der zeitgenössischen Struktur des Zehntwesens mit den Zehntverweigerern solidarisch, verurteilte jedoch scharf jegliches Vorgehen, das der Autorität der weltlichen Obrigkeit schadete. Interessant ist dabei die Beobachtung, daß sich für Zwingli im Jahre 1523 an der Frage des Zehnten entschied, ob eine Obrigkeit rechtmäßig sei. In seiner Schrift „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit" führte er dementsprechend aus: „Es ist aber hieby der oberhand eigentlich uffzesehen, das die zehenden nit mißbrucht werdind, und wo das beschähe, das sy dasselb beßre. Denn kurtz: Strafft sy die mißtat nit, so ist sy ein unredliche oberkeit." 209

Die Darstellung der Zehntfrage in Zwingiis Schrift über die „wahren Aufrührer" 2 1 0 von 1524 ist von scharfer antiklerikaler Kritik am derzeitigen Zehntwesen und den seiner Meinung nach unrechtmäßigen Nutznießern durchzogen. Bischöfe werden von ihm angeklagt, da sie alles Geld der Welt zusammengerafft hätten, ohne es für die Armen zu verwenden. 211 Auch die Äbte werden wortreich als gewinnsüchtige Heuchler vorgeführt. 212 Unter Bezugnahme auf die prophetische Kritik aus Hab 2,6-8 warnte Zwingli den Klerus, der auf räuberische Weise Reichtum aufgehäuft hätte, vor der Gegenreaktion der Beraubten. Durch diesen kurzen Überblick wird deutlich, daß sich die Anhänger Zwingiis, die das Zehntrecht in der derzeitigen Form in Frage stellten, zurecht auf die Position des Reformators beziehen konnten. Die prononcierte Kritik an der Struktur der Zehntordnung, die auch in späteren Schriften Zwingiis nachzuweisen ist, läßt auf seine frühen Äußerungen zum Zehntrecht, die wahrscheinlich noch radikaler waren, zurückschließen. Motive seiner Einstellung zum Zehnten begegnen darüber hinaus auch in Predigten und in der Wiedergabe seines Standpunktes durch seine Gefolgsleute. Daß Zwingiis theologisch fundierte Position zum Zehntrecht auf Außenstehende anders 207

Vgl. ebd., 81; Ramp, Zinsproblem, 60; EAk Nr. 432,172. Vgl. „Wer Ursache gebe zu Aufruhr", Ζ I I I , 392 f. 209 Ζ II, 514. 21 0 „Wer Ursache gebe zu Aufruhr", Ζ I I I , 355^69. 211 Vgl. ebd., 392 ff., 457 u.ö. 2 2 * Vgl. ebd., 397. 208

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

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und wesentlich radikaler gewirkt hatte, zeigen die enttäuschten Reaktionen auf die von ihm begrüßte Übertragung der Reformierung des Zehnten auf den Magistrat, durch die es zur Kriminalisierung der Zehntverweigerer kam. Vogt J. O. Rordorf attackierte Zwingli und unterstellte ihm Opportunismus in der Zehntfrage, denn „der hat schon etwan gepredigt, dass man den zehenden nit schuldig syge zuo geben; und jetzt widerüeft er's darumb, dass er ein Chorherr ist worden [...]." 2 1 3 Blickle vermag zu zeigen, daß die prinzipielle Ablehnung des Zehnten erst durch die gesamte bäuerliche Reformationsbewegung veranlaßt wurde, obwohl diese Abgabe bereits vorher eine ständige Quelle für Beschwerden dargestellt hatte. 214

4.3.2 Die radikalen Kreise und die Zehntfrage Es ergibt sich nun die Frage, inwieweit die radikalen Gefolgsleute Zwingiis tatsächlich eine führende Rolle im Kampf gegen den Zehnten gespielt haben bzw. ob sie als Träger des Autonomiestrebens der Landgemeinden hinreichend identifiziert werden können. 215 Innerhalb dieser weitreichenden Interpretation der Zehntverweigerung kommt der Person Stumpfs besondere Bedeutung zu. Nach Stayer hat Stumpf den „Kampf" gegen das „System" des Pfründenwesen aufgenommen. 216 Obwohl er wenig später die Oberhoheit des Abtes von Wettingen anerkannte, urteilt Stayer etwas vorschnell über den „Freiheitskämpfer": „Nichtsdestoweniger markierte sein Ausbruch im Jahre 1522 den Beginn des kongregationalistischen Unabhängigkeitsstreben, das sich gegen den Zehnten als den Eckstein einer korrupten religiösen Struktur richtete, welcher einer grundlegenden Reformation entgegen wirkte." 217

Stumpf wird aufgrund weniger Aussagen, die überdies zum größten Teil aus dem Munde seiner Gegner stammen, auch von anderen Autoren zu einem radikalen antiklerikalen Vorkämpfer der bäuerlichen Gemeindereformation stilisiert. 218 Ohne Zweifel haben Stumpf und mit ihm andere radikale 213 214

EAk Nr. 432,172.

Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 61. 215 In Snyders Darstellung über das Täufertum werden die Radikalen als allein Verantwortliche für den Zehntstreit identifiziert. Diese Vereinfachung wird der komplizierten Situation in Zürich und der Zürcher Landschaft nicht gerecht. Vgl. Snyder , History and Theology, 52. 216 Vgl. Stayer , Anfänge, 29. 217 Ebd., 29 f. 218 Vgl. Packull, Anfänge, 56; Unangemessen erscheint in diesem Zusammenhang die stereotype Wiederholung eines Vorwurfs Zwingiis gegen Stumpf, der gehört habe, daß Stumpf „alle Pfaffen totschlagen" wollte. Dieser Aussage des Reformators wird soviel Wahrheitsgehalt zugeschrieben, daß sie zur alleinigen Charakterisierung der Geisteshaltung Stumpfs benutzt wird.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Anhänger Zwingiis gegen den Zehnten gepredigt, so daß im Sommer 1522 in der Zürcher Landschaft die Verweigerung des Zehnten um sich griff. Die Frage bleibt, inwieweit sozialpolitische Motivationen festzustellen sind und ob tatsächlich der Kampf um die kommunale Selbstbestimmung den Hintergrund dieses Zehntstreits bildete. Dazu müssen erneut die ζ. T. spärlichen Quellen in Korrelation zu den oben genannten weitreichenden sozialhistorischen Interpretationen überprüft werden. Zunächst ist festzustellen, daß im Jahr 1522 ein Predigthörer Stumpfs, K. aus Frei von Watt, seine Zehntabgabe reduzierte. 219 Als Begründung dafür gaben die Zeugen an, daß der Priester von Höngg in Affoltern gepredigt habe, man sei den Zehnten nicht schuldig. Der Protest des Bauern Frei richtete sich nach eigenen Angaben vor allem gegen das Verzehnten des Samens, das eine Folge der ständigen Ausweitung des Zehnten darstellte. 220 Die Reduzierung bzw. Teilunterschlagung des Zehnten, wie sie hier vorliegt, kann m. E. nach einer angemessenen kategorialen Unterscheidung 221 nicht als bewußter, reformatorischer Zehntstreik gewertet werden. Durch die Predigt des Zwingli-Getreuen Stumpf, der wie der Reformator selbst den Mißbrauch des Zehnten anprangerte und seine göttliche Legitimität bestritt, erfolgte eine spontane Verletzung der Zehntpflicht, die nach den Quellen keinen demonstrativen Charakter aufweist. Diese Deutung entspricht dem Befund, wonach dem betroffenen Bauern der Prozeß gemacht wurde, während Stumpf nicht rechtlich belangt wurde, 222 was zweifellos erfolgt wäre, wenn er zur aktiven Verweigerung des Zehnten aufgefordert hätte. Zwingiis Stellung zum Zehnten wurde später, wie gesehen, mit den gleichen Worten zusammengefaßt, wie die oben genannte Predigt Stumpfs. 223 Stumpf geriet jedoch wegen seiner Predigt in Konflikt mit dem Patronatsherrn seiner Pfarre, dem A b t von Wettingen. Für den Fortgang der Reformation in Zürich wurde dieser Streit zum Präzedenzfall, an dem sich die Frage der zuständigen Gerichtsbarkeit in religiösen Angelegenheiten zugunsten des Magistrats klärte. 2 2 4 Hier interessieren weniger die weitreichenden Konsequenzen des Prozesses gegen Stumpf, die zweifellos die Autoritätsproblematik der ersten Disputation konfigurierten, sondern die Rekonstruktion der Anklagepunkte und des Verlaufs der Verhandlung. Stumpf wurde während des Verfahrens vor dem A b t und einer Delegation seiner Konventsherren sowie vor den zuständigen Ratsmitgliedern vorgeworfen, er hätte den A b t und seine Kongregation als „nichtsnutzige Mönche" beschimpft, die den gemei219 Vgl. EAk Nr. 267,93. 220

Vgl. Blickle, Gemeindereformation, 60. Vgl. Zimmermann, Antwort, 31. 222 Vgl. Goeters, Vorgeschichte, 246. 221

223 224

Vgl. EAk Nr. 432,172. Vgl. Goeters, Vorgeschichte, 252 ff.; Gäbler, Zwingli, 61 f.

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

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nen Mann lange genug ausgeraubt hätten. 225 Der Prozeß wird aufgrund polemischer Äußerungen Stumpfs zur „Ehrenrettung" des Abtes und seiner Chorherren abgehalten. Während des langwierigen Verhörs leugnete Stumpf jedwede Beleidigung des Abtes, indem er die Zeugen der Anklage als Lügner bezeichnete und angab, nur das Evangelium gepredigt zu haben. Die umstrittene Predigt basierte demnach auf Joh 10,1. A n dieser Stelle wird in einer Gleichnisrede Jesu vor den Dieben und Räubern gewarnt, die in den Schafstall eindringen. Stumpf bestritt, daß er diese mit dem Abt von Wettingen und seinen Konventsherren identifiziert hätte. 226 Der Abt widersprach seiner Darstellung unter Hinweis auf einen früheren Auftritt Stumpfs in der Ratsstube bei dem dieser den A b t als „zuckenden Wolf" und „Seelenmörder" bezeichnet habe. 227 Die antiklerikalen Motive in Stumpfs Predigt lassen sich auch in den Ausführungen von Karlstadt, F. Lambert, J. Strauß und Zwingli zur Zehntfrage nachweisen. 228 Die Diskreditierung der zeitgenössischen Zehntordnung bzw. des Pfründenwesens durch ihre Deutung als „Beraubung des gemeinen Mannes" war demnach keineswegs eine spezielle Eigenart des radikalen Reformators Stumpf. Obwohl es wahrscheinlich ist, daß Stumpf sich gegen das s. E. unrechtmäßige Zehntwesen unter Aufnahme typischer, antiklerikaler Polemik ausgesprochen hatte, wurde während des Prozesses noch nicht einmal seine Haltung zum Zehnten thematisiert, viel weniger sein „potentieller Aufruf" zum allgemeinen Zehntstreik. Stumpf leistete nach der langen Verhandlung, die vor allem durch die mangelnde Versöhnungsbereitschaft des Abtes prolongiert wurde, Widerruf und Unterwerfung. Er verpflichtete sich zum Gehorsam gegen den A b t mit Hinweis auf den berühmten reformatorischen Vorbehalt, sofern dieser nicht gegen die Heilige Schrift verstoße. 229 Nach diesem Befund ist es unangebracht, Stumpf im Jahr 1522 aufgrund dieses Einzelfalls von Zehntreduzierung als planmäßigen Initiator eines Zehntstreiks zu bezeichnen. Die Debatte um den Zehnten wurde zweifellos durch die reformatorische Predigt ausgelöst, die verbreitet durch Zwingli und seine Anhänger im Kampf gegen die katholische Amtshierarchie auch das unrechtmäßige Pfründenwesen anprangerte. 225

Vgl. EAk Nr. 326b, 899; R. Hoppeler, Zur Charakteristik des Leutpriesters Simon Stumpf von Höngg, in: Zwing 4,1926,322. 226 Vgl. Hoppeler, Charakteristik, 325. 227 Ebd. Der Ausdruck „Seelenmörder" begegnet andernorts auch in der Polemik gegen die Messe lesenden Priester. Vgl. QGTS II, Nr. 405, 333; Zwingli berichtete im nachmaligen Täuferprozeß, daß Stumpf ihm gesagt hätte, man wäre weder Zehnten noch Zinsen schuldig. Dasselbe hätte er auch dem Rat von Höngg mitgeteilt. Vielleicht spielte der Abt von Wettingen während des Prozesses auf diesen skandalösen Vorfall an, wo es wahrscheinlich auch zu Beschimpfungen des „unrechtmäßigen" Empfängers gekommen war. Vgl. Ζ V I , 170. 228 229

Vgl. Zimmermann, Antwort, 41 ff. Vgl. Hoppeler, Charakteristik, 327.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

U m die Rolle der späteren Täufer in der Zehntfrage näher zu bestimmen, soll an dieser Stelle in der Untersuchung der chronologische Rahmen unterbrochen und bereits hier die Zehntverweigerungen der Folgezeit thematisiert werden. Daß die Legalität des Zehnten in der Zürcher Landschaft umstritten war, zeigte sich u. a. im Fall der Anstellung W. Reublins durch die Gemeinde Witikon sowie in einem vor dem Rat verhandelten Streitgespräch mit einigen Bürgern und dem Pfarrer von Bülach über den „neuen Glauben". 2 3 0 Die in diesem Zusammenhang vor den Rat gebrachte Szene, deren Schauplatz das Wirtshaus war, verdeutlicht die bestehenden Spannungen in der Bevölkerung: „Ernst schlug dem Kilchherrn, den er hatte kommen lassen und der eine Mass Wein mitbrachte, auf die Achsel und sagte zu ihm: ,Herrli, das wachs wirt minder werden; man wirt üch nit mer so vil opferen und zehenden geben wie vornahar, - und lachoti darmit.'" 231

Witikon setzte im Dezember 1522 Reublin ohne Anfrage an das Großmünsterstift, das die Patronatsrechte innehatte, als Pfarrer ein. Der Zürcher Rat legitimierte die Anstellung Reublins im Frühjahr 1523 unter der Maßgabe, das der Zehnte weiterhin an den Patronatsherrn zu zahlen sei. 232 „Die selbsterschaffene Kirchgemeinde Witikon gab zur Antwort, sie würde den Zehnten errichten, ,es wäre denn, dass ander lüt nit me gebint, wöllint si ouch ungebunden syn.'" 233

Interessant ist, daß in diesem Fall nicht wirtschaftliche Gründe zur Anfrage an den Zehnten führten wie bei der Zehntreduzierung in Watt, sondern die eigenständige Pfarrereinsetzung. 234 Die Zurückführung des Zehnten auf seine genuine Bedeutung als kirchliche Abgabe zur Besoldung des Pfarrers und zur Armenfürsorge in parochialer Verwaltung, wie sie bereits Summenhart gefordert hatte, läßt sich am Verhalten der Gemeinde Witikon nachweisen. Der Zehnt wurde nicht an sich abgelehnt, wohl aber dessen unangemessene Verwendung durch das Großmünsterstift, das die seelsorgerliche Versorgung der Gemeinde nicht als Gegenleistung gewährte. Ein ähnlicher Sachverhalt läßt sich aus einem Beschwerdefall der Gemeinde Kloten von A p r i l 1523 entnehmen. 235 Kloten stellte eigenständig einen Pfarrer an, der die rechtmäßige Verkündigung und seelsorgerliche Betreuung der Gemeinde gewährleistete und verlangte dessen Finanzierung durch die Zehnteinkünfte des Großmünsterstifts. I n diesem Fall wurde während der gemeinsamen Verhandlung zwi230

Vgl. EAk Nr. 314,110 (von Egli auf 1522 datiert); Stayer , Anfänge, 30. EAk Nr. 314,110. 232 Vgl. Stayer , Anfänge, 30; Blickle, Gemeindereformation, 30 f. Vgl. auch Punkt 3.2 dieser Untersuchung. 233 Stayer , Anfänge, 30; vgl. Zimmermann, Antwort, 76. 234 Vgl. Zimmermann, Antwort, 76. 235 Vgl. EAk Nr. 354,128; Nr. 359,129; Blickle, Gemeindereformation, 27; Walton, Theocracy, 142.

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

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sehen Gemeindevertretern und Delegierten des Stiftes ein Kompromiß gefunden, wonach ein Pfarrer angestellt werden sollte, der den Erwartungen der Gemeinde entsprach und vom Patronatsherren finanziert wurde. Der Fall Kloten zeigt, wie die Reform des Zehntwesens in Übereinstimmung mit den Zehntempfängern unter Aufsicht des Rates vor sich gehen konnte. Auch hier kann nicht von einer demonstrativen Zehntverweigerung gesprochen werden. Die Gemeinden bestanden unter dem Einfluß der reformatorischen Predigt auf einer Korrektur des Zehntwesens, um den Mißbrauch der Abgaben, der zur pastoralen Unterversorgung ihrer Dörfer beitrug, zu beenden. Auf der ersten Disputation fand die Zehntfrage keine nennenswerte Erwähnung, so daß in dieser Hinsicht keineswegs von einem alles beherrschenden Thema die Rede sein kann. In seinen Schlußreden erwähnt Zwingli erst im 67. Artikel die Zins- und Zehntfrage, die er den für ihn anscheinend peripheren Streitfragen, wie die Erlösung ungetaufter Kinder und die Firmung, in wenigen Sätzen zurechnete. 236 Weitgehende Beachtung in der sozialhistorischen Forschung findet die Petition von sechs Dörfern der Zürcher Landschaft, darunter Witikon und Zollikon, an den Magistrat vom 22. Juni 1523. 237 Die Gemeinden beschwerten sich über den Mißbrauch des Zehnten durch den Pfründeninhaber, in diesem Fall erneut das Großmünsterstift in Zürich. Sie kritisierten vor allem den unangemessenen Gebrauch ihrer Abgaben durch einige Chorherren, die sie bewußt ihrer eigentlichen Bestimmung, nämlich der Armenfürsorge, entfremdeten. Die Kläger gaben an, daß ihnen durch das „Heilige Evangelium", die reformatorische Predigt, der genuine Sinn des Zehnten verdeutlicht worden wäre, der ein „Almosen" sei. 238 Als Hauptanklagepunkt gegen den Patronatsherrn erscheint die zusätzliche Bezahlung von Amtshandlungen anläßlich von Kasualien. Dahinter stand wahrscheinlich die wiederentdeckte Bedeutung des Zehnten als kirchliche Abgabe bzw. Gegenleistung zur Sakramentsspendung. 239 Das Schreiben der Dorfgemeinden richtete sich gegen den Mißbrauch des Zehnten und die zusätzlichen Belastungen durch die Kasualpraxis. Von der Androhung eines Zehntstreiks oder einer allgemeinen Infragestellung des Zehnten war nicht die Rede. 240 Der Rat verpflichtete die Gemeinden

236 Vgi # χ ^ 465: „Ob yemand begerte, gespräch mitt mir ze haben von zinsen, zehenden, von ungetoufften kindlinen, vonn der firmung, embüt ich mich willig zu antwurten." 237 Vgl. EAk Nr. 368, 132 f.; Blickle,, Gemeindereformation, 30 f.; Zimmermann, Antwort, 76 f.; Stayer , Anfänge, 28. 238 Dieselbe Begrifflichkeit begegnete bereits bei Wycliff: Vgl. Oberman, Werden, 152; vgl. Zwingli, „Wer Anlaß gebe zu Aufruhr", Ζ I I I , 392: „Die bäpstlichen recht zeygend an, daß die zehenden ein stür oder schoß sygind der armen menschenn." 239 Vgl. Punkt 4.3.1 dieser Untersuchung. 240 Gegen Stayer , Anfänge, 30.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

weiterhin den Zehnten zu zahlen wie bisher, sicherte ihnen aber eine Überprüfung der Verwendung der Abgaben zu. Trotz dieser Beispiele für eine geordnete Vorgehensweise gegen den Mißbrauch des Zehnten war der Sommer 1523 durch sich ausweitende Zehntverweigerungen gekennzeichnet. 241 In einem undatierten Schreiben, wohl vom Juni 1523, wird die gespannte Situation in Zürich und Umgebung geschildert, woraus hervorgeht, daß viele Altgläubige meinten, ihres Lebens nicht mehr sicher sein zu können und „hat die sach sich also in gerisse, dass unser puren uf dem land weder zins nach zehenden mer wöllent geben." 242 Der gleiche Tenor begegnet in einem Brief des Notars J. Widmer an H. Göldli in Rom, der über die Zustände in Zürich im Sommer 1523 Auskunft gibt. 2 4 3 Die Bedrohung der Kleriker durch den gemeinen Mann, die Kritik am Pfründenwesen und die Solidarität Zwingiis mit den Forderungen der Bauern finden in diesem Schreiben Erwähnung. 244 Vielfältige Bestrafungen von Zehntverweigerern werden im Juli 1523 aktenkundig. 245 Ferner wurde die drastische Predigt Reublins, der antiklerikale Polemik aufnahm, deren Inhalt bereits im Fall Stumpfs analysiert wurde, vor dem Rat erörtert. 246 Der Leutpriester von Richterschwyl predigte über den Mißbrauch des Zehnten, ohne jedoch die aktive Zehntverweigerung zu unterstützen. 247 Interessant ist seine Ansicht, daß der Zehnte dem gehören sollte, der das Gotteswort predige. I m Fortgang der Auseinandersetzung wurde der Zehnte wiederum als Almosen bezeichnet, der dem Verkündiger des Wortes zustehe. Der Rat sah sich durch die Ereignisse gezwungen, gegen „etliche" Priester, die „ungeschickt" gepredigt hätten, vorzugehen. Das Thema war bei allen Vorfällen die angemessene Verwendung des Zehnten. Er sollte seinem ursprünglichen Sinn, der Pfarrerbesoldung und der Armenfürsorge, wieder zugeführt werden. Walton sieht m. E. zurecht die konstitutive Verbindung von Abschaffung der Messe und der Rekommunalisierung des Zehnten. 248 Der Zehnte sollte für denjenigen verwendet werden, der das Evangelium recht verkündigte und die Seelsorge der Gemeinde sicherstellte. Die Sakramentsspendung allein reichte nicht mehr aus, wie der Fall Kloten zeigte. 249 Die parochiale Nutzung des Zehnten für die Besoldung eines Pfarrers, der schriftgemäß predigte, sowie für die Armenfürsorge wurde zu einem Mittel zur Durchsetzung der Re241 242 243 244 245 246 247 248 249

Vgl. Zimmermann, Antwort, 77. EAk Nr. 370,134; Vgl. Zimmermann, Antwort, 78. Vgl. EAk Nr. 372,134 ff.; Blickle, Gemeindereformation, 28 f. Vgl. EAk Nr. 372,134 ff. Vgl. EAk Nr. 375 und Nr. 376,137; Nr. 380,138; Nr. 391 und Nr. 392,143. Vgl. EAk Nr. 378,137 f. Vgl. EAk Nr. 379,138. Vgl. Walton, Theocracy, 144 ff. Vgl. ebd.

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

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formation. Der unlösbare Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen die Messe und der Zehntverweigerung soll im Fortgang der Untersuchung an geeigneter Stelle überprüft werden. Offensichtlich wurde im Jahr 1523 die Konsequenz aus der reformatorischen Predigt hinsichtlich des Zehnten gezogen. Seine ursprüngliche Widmung als kirchliche Abgabe wurde dem derzeitigen Mißbrauch durch die Pfründeninhaber kontrastierend gegenübergestellt. Umstritten war vor allem der Gebrauch des Zehnten durch den A b t von Wettingen und das Großmünsterstift in Zürich. Das Motiv der Landgemeinden war vornehmlich die rechtmäßige Verkündigung durch einen Pfarrer ihrer Wahl sowie die geregelte seelsorgerliche Versorgung ihrer Kommunen zu erreichen. Die Dörfer setzten nicht von vornherein auf Konfrontation, sondern strebten Kompromißlösungen an, die ihre Anliegen unter Aufsicht des Rates berücksichtigten. Daneben ereigneten sich eine Vielzahl von individuellen Zehntverweigerungen, die strafrechtlich verfolgt wurden. Unter den „etlichen" Priestern, die gegen den Mißbrauch des Zehnten predigten, waren auch Reublin und Stumpf, die zu den Prototäufern gerechnet werden. Ihre führende Rolle im Protest gegen den Zehnten kann m. E. nicht nachgewiesen werden. Auch die Annahme, daß Reublin die Petition der sechs Landgemeinden vorantrieb, läßt sich aus den Quellen nicht erschließen. 250 Zweifellos gehörte die Debatte um den Zehnten zu den Konsequenzen des reformatorischen Erneuerungswillens, der bereits im Kampf gegen die Autorität des Klerus 1522 zum Ausdruck gekommen war. Daß die Debatte über den Zehnten, in deren Hintergrund die Frage der rechtmäßigen Besetzung von Pfarrstellen und Seelsorgegewährung stand, konstitutiv für den Fortgang der Reformation war, läßt sich auch aus den Reaktionen Grebels entnehmen. Grebel verfolgte, wohl wegen verwandtschaftlicher Beziehungen, aufmerksam den Konflikt um das Kloster Oetenbach. 251 Er begrüßte, daß die Ordensfrauen ihren Priester schließlich selbständig wählen durften und dadurch, wie er ausführte, vor dem „wölfischen Rachen" des altgläubigen Priesters gerettet würden. 252 In diesem Zusammenhang kündigte er die bevorstehende Entscheidung des Rates über das Zehntrecht an. In seinem nächsten Brief kritisierte er scharf das Vorgehen des Rates, das die bestehende Zehntordnung sanktionierte. 253 Grebel polemisierte gegen die Ratsmitglieder, die wie Tyrannen herrschten. „Gentes mundi dixi tyrannos patriae nostrae, quos patres conscriptos vocant, rectius patres decimantes vocan-

250 Gegen Stayer , Anfänge; 30. Die Ausmalung des Vorgangs bei Goertz ist im Blick auf den Quellenbefund erstaunlich; Vgl. Goertz, Täufer, 17 f. 251 Vgl. Grebel an Vadian 1.12.1522, VB II, 301; Grebel an Vadian 17.6.1523, VB I I I , Nr. 348; QGTS I, Nr. 1. 252 2

Vgl. Grebel an Vadian 17.6.1523, QGTS I, Nr. 1. « Vgl. Grebel an Vadian 15.7.1523, QGTS I, Nr. 2.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

tur." 2 5 4 Seine Enttäuschung über Zwingiis moderate Haltung deutet sich bereits hier an. Auch Zwingli setzte bei seinen späteren Vorschlägen zur Reform der Zehntordnung auf die Autonomie der Ortsgemeinde, deren Kompetenz allerdings durch die Autorität des Rates begrenzt werden sollte. 255 Es scheint unangemessen, in der Agitation gegen den Zehnten vorrangig den Autonomiekampf der Landgemeinden gegen den Zentralismus Zürichs zu sehen. Die religiöse Motivation, das Drängen auf den Fortgang der Reformation und die Gewährleistung evangelischer Predigt standen nach Ausweis der Quellen eindeutig im Vordergrund. Wer die Ursache für die Entstehung der Täuferbewegung im Kampf der Landgemeinden um politische Autonomie begründet sieht, geht m. E. weit über den Quellenbefund zum Zehnstreit hinaus. Auch wenn immer wieder betont wird, daß in der Frühphase der Reformation sozialpolitische und religiöse Motive nicht zu trennen seien, darf die eindeutig zutage tretende Dominanz des gesellschaftlich-wirtschaftlichen Faktors nicht unwidersprochen bleiben. Eine von den späteren Täufern taktisch organisierte Zehntverweigerung läßt sich nicht nachweisen. Daß sie gemäß der Position ihres Lehrers Zwingli gegen den Mißbrauch des Zehnten predigten, ist dagegen gut bezeugt. 256 In diesem Zusammenhang scheint erwähnenswert, daß Zwingli in seiner Schrift über die wahren Aufrührer von 1524 die Zehntverweigerer von denen, die „me mit kunst deß euangelii ufgeblasen" 257 sind, unterscheidet. Letztere sind ohne Zweifel als die späteren Täufer zu identifizieren. Diese Beobachtung soll nicht die nachweisliche Partizipation von den Prototäufern an der Auseinandersetzung um den Zehnten leugnen, sondern vielmehr zur Differenzierung einer einseitigen sozialpolitischen Interpretation der frühen Täuferbewegung beitragen. Ein in dieser Hinsicht bemerkenswertes Zeugnis ist ein Brief J. Brötlis an den Landvogt Sargans vom 11. Mai 1523. 258 Brötli, der zusammen mit Reublin als einer der Führer der Zehntverweigerung bezeichnet wird, 2 5 9 sandte darin dem Landvogt eine Apologie seiner Heirat zu, in der er den Zölibat als nicht schriftgemäß auszuweisen sucht. In seinen Ausführungen zum Priesteramt bekannte er sich klar zum reformatorischen Prinzip des allgemeinen Priestertums.

254 Ebd. 255

Vgl. Zimmermann, Antwort, 98. 256 Obwohl nach der Ansicht Waltons kein Beweis dafür vorliegt, daß die Radikalen zur Durchsetzung eigener Pläne an der Agitation gegen den Zehnten beteiligt waren. 257 Ζ III, 403 ff. 258 Vgl. QGTS II, Nr. 682,558. 259 Vgl. Stayer , Future Anabaptists, 102.

4.3 Der Kampf gegen den Klerus und die Zehntverweigerung

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„Das wir aber alsam priester sigend, will ich kenntlich machen uß der helgen gschrifft an vil orten, wo es not thût [...]. Christus ist der obrist priester und ist unser allen houpt und wir sind sine glider. Nun, ist das houpt ein priester, so sind die hend und finger ouch priester und die bein und füß und zehen ouch und der lib und ouch die glider. Also Christus, unser houpt, hat unß all ζû priester gewicht durch sin allerheögest plût, das wir all betten sond, opfren und leren betten einer fur den anderen." 260

Brötli wehrt sich daran anschließend gegen die Verleumdung, er hätte gepredigt, daß man den Zehnten nicht geben solle; ferner, daß er sich mittels 100 Mann gegen den obrigkeitlichen Zwang zu Wehr setzen wolle. Ob das eine reine Schutzbehauptung war, läßt sich nicht nachweisen. Brötli schwor jeglicher Gewaltanwendung seinerseits ab. „Ich beger kein unfrid noch plûtvergiessen zmachen und hab es nie begehrt. Ich setz ouch min hoffnung kein menschen uff ertherich." 261 Zum Schluß bekannte Brötli, daß er seine Einstellung zur Gewalt gewandelt habe. „Das ich well gwalt mit gwalt vertriben, wil ich nit, bin aber wol etwan der meinung gsein. Aber min gott heiß mich es, und ich lers ouch min underthan nit." 2 6 2 Das Bild Brötlis als sozialrevolutionärer Agitator gegen den Zehnten mag aus dieser Schrift nicht recht deutlich werden. Allerdings predigte er gegen den Mißbrauch des Zehnten und gab dem ekklesiologischen Prinzip des Priestertums aller Gläubigen einen klaren Beweis aus der Schrift. Die Profilierung der Gemeinde Jesu als Trägerin der Reformation läßt sich m. E. aus diesem Brief eindeutig entnehmen. Das Priestertum aller Gläubigen konkretisierte sich in der Ortsgemeinde als Gemeinschaft derer, die zusammen beteten, einander lehrten, Fürbitte übten füreinander und sich für den anderen opferten. Snyder, der in seinen Untersuchungen fortgesetzt die Sozialrevolutionäre Prägung des Täufertums nachzuweisen versucht, resümiert durchaus differenziert hinsichtlich der täuferischen Einstellung zur Zehntthematik: „The open refusal to pay tithe was not universal, however, and in suprisingly short order the purely economic question of paying the tithe was granted by the majority of Swiss Anabaptists. Valentin Gredig testified, for instance, that a Christian should pay the tithe. Rudolf Hottinger expressed what was probably a majority opinion already by the end of 1525 when he said that the Anabaptists had exhorted one another to be obedient to the authorities in taxes, the tithe and debts, and Felix Mantz stoudly denied ever having preached against paying the tithe." 263

260 QGTS I I , Nr. 682, 559; vgl. / M. Stayer , Reublin and Brötli: The revolutionary Beginnings of Swiss Anabaptism, in: M. Lienhard, (Hg.), The Origins and Characteristics of Anabaptism, Procedings of the Colloquium Organized by the Faculty of Protestant Theology of Strasbourg 20.-22.2.1975, International Archives of History of ideas 87, The Hague 1977,87. 2

« Ebd., 560. Ebd., 561. 263 Vgl. A. Snyder, Biblical Text and Social Context: Anabaptist Anticlericalism in Reformation Zurich, in: MennQR 65,1991, Nr. 2,184. 262

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

4.4 Der Plan einer neuen Kirche Die erste Disputation hatte den Reformkräften in Zürich Auftrieb gegeben, da von nun an die formale Schriftgemäßheit zur entscheidenden Norm in Konfliktfällen wurde, der Ketzereivorwurf gegen Zwingli nicht nachgewiesen werden konnte und der Rat seine Kompetenz auch auf religiösem Gebiet zur Begrenzung bischöflicher Machtbefugnisse profiliert hatte. 264 Obwohl die Ergebnisse der ersten Disputation sicher nicht zu hoch bewertet werden dürfen, wurde fortan die schriftgemäße Predigt als fundamentale Neuerung zum Erhalt des städtischen Friedens normativ. Dem Rat lag auch aufgrund außenpolitischer Beweggründe an einer Befriedung der Stadt. Diese Intention beeinflußte die Mandatspolitik des Jahres 1523 nachhaltig, 265 weshalb Oberman zu dem Schluß kommt: „Die evangelische Partei konnte nur Fortschritte machen, sofern sie sich an der politisch-religiösen Einheit des bonum commune, des Dienstes am Gemeinwohl, ausweisen konnte." 2 6 6 In diese gespannte Situation fiel die sich ausweitende Zehntdebatte, die den Rat zur Stellungnahme und zum Eingreifen provozierte. Die Spannungen zwischen Altgläubigen und Reformkräften eskalierten im Herbst 1523 aufgrund der „Bilderfrage" und dem Kampf um die Abschaffung der Messe. Bevor auf die Rolle späterer Täufer in den Bilderstürmen einzugehen ist, die schließlich zur zweiten Disputation führten, soll ein bedeutsamer Vorgang hinsichtlich eines Plans der radikalen Anhänger Zwingiis erörtert werden. Aus späteren Schriften Zwingiis und seinen Aussagen im Täuferprozeß gegen Grebel, Mantz und Blaurock wird deutlich, daß im Jahr 1523 mehrere Gespräche zwischen dem Reformator, L. Jud und verschiedenen Vertretern der radikalen Partei stattfanden. 267 Die Datierung der Besprechungen ist in der Forschung ebenso umstritten wie die inhaltliche Ausgestaltung der prototäuferischen Pläne, da nur retrospektivische Aussagen Zwingiis vorliegen, die nicht frei von Polemik gegen die zu diesem Zeitpunkt bereits etablierte Täuferbewegung sind. Der terminus ante quem der Gespräche ist der 23. Dezember 1523, das Datum der Ausweisung Stumpfs, der nach Angaben Zwinglis neben Grebel und Mantz einer seiner Gesprächspartner war. Blanke, Bender und auch Stayer - in seinem Buch „Anabaptists and the Sword" - setzten die Gespräche nach der für die radikalen Reformer ungünstig verlaufenden zweiten Disputation an. 2 6 8 Die Mehrzahl der Forscher plädiert jedoch heute für eine Frühdatierung der Treffen im Zusammenhang mit der Zehntdiskussi264

Vgl. Locher, Reformation, 114. Ζ V I I I , 131. 420 Vgl ebd. 130: „Cum captivis summo iure actum est [...]."

« ι Vgl. VB III, Nr. 369; QGTS I, Nr. 7,6 ff.

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

einem Fragesatz auch die Autorität der zweiten Disputation und ihrer schriftgemäßen Aussagen über die Bilder und die Messe einbezog. Die Struktur des Briefes ist durch die sich wiederholende Formel: „Dignus est" vorgegeben. Auch die interrogativ verneinte Redewendung „an non dignus est" bezieht sich mit dem nachfolgenden Satz ohne Zweifel auf Hochrüthiner, den Grebel als in Schriften und christlichen Dingen sehr gelehrten Mann bezeichnet. In diesem Satz sieht Goeters eine Anspielung auf Zwingli enthalten, der das Unrechtsurteil unterstützt hätte. 422 Grammatikalisch und inhaltlich scheint mir diese Deutung jedoch nicht haltbar zu sein. Es besteht kein Anlaß, hier eine Kritik an Zwingli zu vermuten, vielmehr wird auch in diesem Satz die Würdigkeit Hochrüthiners als unschuldig Leidender gerühmt. Der Verbannte erscheint in Grebels Brief als Mitglied eines gemeinsamen Bibellesekreises, in dem wohl die vertraute und gleichzeitig urchristliche Anrede „Bruder" gebraucht wurde. 423 Der Tenor der beiden Empfehlungsschreiben divergiert an entscheidender Stelle. Während Zwingli die Ratspolitik und die sich entwickelnde Reform durchaus positiv einschätzte und beschrieb, so daß sich der Fall Hochrüthiners als bedauernswerter, aber den widrigen politischen Umständen entsprechender Lapsus ausnimmt, fehlt in Grebels Brief jegliches Einverständnis mit der derzeitigen Strategie des Rates. Obwohl Grebel keine direkten Invektiven gegen die Ratspolitik formulierte, wird aus der umfangreichen Schilderung des Unrechtsurteils, die sich wie ein Plädoyer vor Gericht ausnimmt, seine Kritik überdeutlich. Die ungerechte Verurteilung eines Mitbruders war ohne Zweifel ein weiteres Indiz für die Unfähigkeit des Rates, in religiösen Angelegenheiten rechtmäßig zu entscheiden. Der Rat erwies sich für Grebel einmal mehr als altgläubige Bastion, die die Erneuerung der Kirche behinderte. Sein „explosives" Urteil vom Sommer 1523, wonach der Teufel unter den Ratsherren sitze, bestätigte sich für ihn und seinen Kreis durch das Unrechtsurteil gegen Hochrüthiner, besonders da es im Widerspruch zu den Ergebnissen der zweiten Disputation stehe. Während Zwingli den Fall herunterspielte und mit einer Rückkehr des Verbannten rechnete, sobald sich die Wogen geglättet hätten, stellte Grebel die Aufhebung des Urteils allein der Führung Gottes anheim, was seine Resignation im Blick auf die Kompetenz und Gerechtigkeit der Ratspolitik unterstreicht. Die Verurteilung Hochrüthiners, als einem der Ihren, war für die radikalen Kräfte ein Fanal, welches das Mißtrauen gegen den Rat eskalieren ließ. Eine Kooperation Zwingiis mit dem Rat in Sachen kirchlicher Reform konnte daher in diesen Kreisen ab diesem Zeitpunkt mehr und mehr unter den ungünstigen Verdacht der Kollaboration mit einer unrechtmäßigen, ja ungläubigen Regierung geraten. Vielleicht fiel erst in diese 422

Vgl. Goeters, Vorgeschichte, 273. Vgl. QGTS I, Nr. 7: „quia ex deo et Christo frater - audit enim nobiscum dei sermonem"; zur Bedeutung des Titels „Bruder in Christo" vgl. Oberman, Werden, 296299. 423

4.6 Die Spaltung im reformatorischen Lager

197

Zeit das von Zwingli bezeugte Drängen der Radikalen auf eine demonstrative kirchenpolitische Aktion, die in einer A r t öffentlicher Scheidung der Frommen von den Unfrommen vonstatten gehen sollte. 424 Stumpf, einer der Initiatoren, hielt sich zu diesem Zeitpunkt nach seiner Verbannung aus Höngg in Zürich auf, wodurch sich die Gelegenheit ergab, den Reformator aufzusuchen. Der Rat hatte durch die Verurteilung der Bilderstürmer und der damit verbundenen Verhinderung der radikalen Reform seine Unfähigkeit erwiesen. Z u fragen bleibt jedoch, ob sich das Verhältnis der Radikalen zum Reformator nicht schon soweit verschlechtert hatte, daß seine Einbeziehung in ihre Pläne nicht länger denkbar war und sie von ihm keine entscheidende Wirkung in Richtung einer konsequenten Reformation mehr erwarteten. A m 17. November 1523 wurde die angekündigte Schrift Zwingiis, die Walton treffend als „educational pamphlet" 4 2 5 bezeichnet, mit ausdrücklicher Zustimmung des Rates veröffentlicht. 426 „Die kurze, christliche Einleitung [...] kann deshalb nicht bloß als eine private Äußerung Zwingiis gelten. Vielmehr stellt der Zürcher Rat hiermit verbindlich die Lehre fest." 427 I n seinen Ausführungen über die Bilder- und Meßfrage befürwortete Zwingli zwar eindeutig deren Abschaffung, der Weg dorthin dürfe jedoch nicht zu Aufruhr in der Bevölkerung führen. Er bestätigte die Kompetenz des Rates in der Durchsetzung der kirchlichen Reform, die nur bei gleichzeitiger Sicherung des Friedens geschehen könne. Daraus ist zu schließen, daß zu diesem Zeitpunkt die Ratspolitik mit der „reformatorischen Methode" 4 2 8 Zwingiis konvergierte, die, wenn auch eher theologisch als politisch motiviert, die Vorordnung der reformatorischen Predigt bzw. Unterweisung gegenüber der Reform des Kultus vertrat. In der Folgezeit zeigte sich jedoch, daß die Zeitvorstellungen über die „Belehrungsphase", die bis zur Abschaffung der Messe dauern sollte, von Rat und Reformator durchaus unterschiedlich eingeschätzt wurden. Z u einem weiteren öffentlichen Eklat kam es Anfang Dezember, als sich die Kapläne des Großmünsterstifts weigerten, weiterhin die Messe zu lesen. 429 Dieser Zwischenfall ist in der Forschung unterschiedlich interpretiert worden. Einige Forscher sehen in der Weigerung der Kapläne eine Solidarisierung mit Zwingiis Reform, 430 die ihnen aufgrund einer Gewissensentscheidung nicht mehr ermöglichte, die Messe wie bisher zu halten. Auf der anderen Seite werden die Unruhen im Großmünster als öffentliche Demonstrationen gegen die 424

Vgl. Punkt 4.4 dieser Untersuchung. Walton, Theocracy, 198. 426 Vgl. Eine kurze christliche Einleitung, vom 17.11.1523, Ζ II, 626-663; vgl. Gäbler, Zwingli, 75; Locher, Reformation, 135. 427 Locher, Reformation, ebd. 428 Vgl. ebd. 429 Vgl. EAk Nr. 456,182. 430 Vgl. Goeters, Vorgeschichte, 277; Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 26; Gäbler, Zwingli, 78. 425

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Messe gedeutet, in deren Verlauf die zelebrierenden Priester als „Gottsmetzger" bezeichnet werden, so daß jene sich weigerten, unter diesen Umständen ihr A m t weiter zu versehen. 431 Nach Auskunft der Quellen entspricht die letztere Interpretation eher dem tatsächlichen Verlauf. Probst und Kapitel legten beim Rat Beschwerde ein, da Kaplan H. Widmer, der sich schon im Sommer über die Verachtung der Messe durch das Kirchenvolk beklagt hatte, 432 mit ehrenrührigen Schimpfworten während des Meßgottesdienstes angegriffen worden war. 433 Gleichzeitig wurden Fälle von Vandalismus in der Kirche bekannt, in deren Verlauf auch die Halseisen entwendet und der Galgen umgehauen wurden. 434 Locher ist zuzustimmen, der in diesen Aktionen einen Angriff auf die Autorität und Jurisdiktionsgewalt des Stifts vermutet. 435 Es handelte sich demnach nicht um einen Boykott der Messe aus Gewissensgründen, sondern um eine Reaktion der betroffenen Priester, die sich durch diese aggressiven Agitationen gegen die Messe nicht mehr sicher glaubten bzw. unter diesen Umständen die Messe nicht mehr halten wollten. Nach Verhören mit den Leutpriestern beschloß der Rat, das Mandat mit Betonung darauf zu wiederholen, daß die Übertreter, d. h. diejenigen, die durch ihr Verhalten die öffentliche Ordnung gefährdeten, hart bestraft würden. 436 Die Vorfälle im Dezember lassen darauf schließen, daß der Rat die fortschreitende Ablehnung der Messe durch größere Teile der Bevölkerung nicht richtig eingeschätzt hatte. Zur Klärung der Lage wurde daher erneut die Kommission einberufen, die nach der zweiten Disputation eingesetzt worden war. In dieser Situation votierten Engelhard, Jud und Zwingli für die sofortige Einführung des schriftgemäßen Abendmahls, dessen ersten öffentlichen Gebrauch sie auf den Weihnachtstag festsetzten. 437 Zur Begründung führten sie an, daß man der Welt den richtigen Gebrauch nicht länger vorenthalten könne, ohne sich als Lügner zu entlarven. Diese Argumentation spielte wohl zum einen auf die Unruhen im Großmünsterstift an, die erwiesen hatten, daß die Ablehnung der Messe in der Bevölkerung bedrohliche Formen angenommen hatte, zum anderen aber auch auf die Ergebnisse der zweiten Disputation, die eindeutig den Opfercharakter der Messe verurteilt und zu ihrer Abschaffung ermahnt hatten. Ein täglicher Predigtgottesdienst sowie die anschließende Mahlfeier unter beiderlei Gestalt wurden von den drei Leutpriestern empfohlen. Kein Priester dürfe ferner zum Halten der Messe gezwungen werden. 431

Vgl. Locher, Reformation; Walton, Theocracy, 201. Vgl. Punkt 4.5 dieser Untersuchung. Brief Widmer am Göldli. 433 Vgl. EAk Nr. 456,182. 434 Vgl. ebd. 435 Vgl. Locher, Reformation, 137. 436 Vgl. EAk Nr. 456,182; Nr. 458,183. Die Wiederholung des Ratsmandats erfolgte am 13.12.1523. 437 Vgl. EAk Nr. 460,183 ff. 432

4.6 Die Spaltung im reformatorischen Lager

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Die Kommission konnte sich jedoch auf dieses eindeutige Vorgehen zur Umsetzung der Reform nicht einigen. Obwohl grundsätzlich dem theologischen Gutachten der Leutpriester zugestimmt wurde, plädierten andere Mitglieder des Gremiums für einen „Mittelweg", der zum provisorischen Ausgleich zwischen Reformern und Altgläubigen führen sollte. Aus Rücksicht auf die „Schwachen" bzw. „Blöden", d. h. diejenigen, die sich der kirchlichen Erneuerung noch widersetzten, sollte die Messe vorerst bestehen bleiben. Der Kompromiß sah vor, daß auf Wunsch, das Abendmahl unter beiderlei Gestalt gereicht werden durfte und kein Priester zum Halten der Messe gezwungen werden könne. Ferner stand weiterhin jede Schmähung der Messe und die Agitation gegen sie unter Strafe. Die Messe sollte fortbestehen, es sei denn einzelne Gemeinden erzielten einen gegenteiligen Konsens. In größeren Gemeinden sollte auf jeden Fall weiterhin der traditionelle Gottesdienst stattfinden, wobei die gegenseitige Toleranz der Priester angemahnt wurde. Das Minderheitsvotum der Leutpriester für die sofortige und allgemein gültige Einführung einer reformierten Mahlfeier wurde überstimmt. Auch in der Bilderfrage vereinbarte man eine Interimslösung, die ein Verbleiben der Bilder bzw. ein legales Entfernen nur durch den Eigentümer vorsah. Das Mandat über die Bilder wurde am 23. Dezember 1523 erneuert und in einer Versammlung der Stadtgeistlichkeit am 28. Dezember 1523 veröffentlicht. 438 Der „Mittelweg", der die direkte Reform des Kultus aufschob, war mit all seinen Konsequenzen vom Rat aus innen- und außenpolitischen Gründen beschritten worden. Die katholische Opposition, die sich auf der dritten Disputation noch einmal offensiv zu Wort meldete und immer noch in großen Bevölkerungskreisen verwurzelt war, konnte nach Meinung des Rates durch einen Angriff auf die Messe zur Eskalation der Spannungen veranlaßt werden. 439 Die Isolation Zürichs durch die Tolerierung bzw. Unterstützung der reformatorischen Bewegung sowie durch das Verbot des französischen Solddienstes nahm im Rahmen der Eidgenossenschaft bedrohliche Ausmaße an, die eine Spaltung des Bundes wahrscheinlich werden ließ. In dieser Situation beschloß der Rat eine Interimslösung, deren einziger Sinn die Befriedung der Stadt nach innen und außen war. I m Nachhinein hat der Aufschub einer Kultusreform bis ins Frühjahr 1525 vor allem der Reformbewegung, 440 aber auch der religiösen Einheit des Zürcher Herrschaftsgebietes geschadet. Bevor das erneuerte Mandat zusammen mit den Ergebnissen der einberufenen Kommission abgegeben wurde, also noch vor dem endgültigen Ratsentscheid, schrieb Grebel bereits einen äußerst erbitterten Brief an Vadian, 441 in dem er die Kompromißlösung prognostizierte. Die darin geäußerte scharfe 43

* Vgl. EAk Nr. 461,189; Nr. 464,190; Locher, Reformation, 138. Vgl. Locher, Reformation, 138 ff. 141 f. 440 Vgl. ebd., 145. « ι Vgl. QGTS I, Nr. 8,8. Brief Grebel an Vadian vom 18.12.1523. 439

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4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

Kritik an Zwingli sowie an der vom Rat eingesetzten Kommission läßt vermuten, daß er die Vorschläge des Gremiums nicht etwa aus „prophetischer Eingebung" richtig vorhersah, sondern bereits vor der Erörterung im Rat, die er für den nächsten Tag erwartete, von den Ergebnissen der Kommission Kenntnis erhalten hatte. Denkbar ist, daß ihm das überstimmte Votum der Leutpriester nicht mitgeteilt worden war. Das für Grebel unbefriedigende Ergebnis könnte allerdings auch den anfänglichen Willen der Leutpriester zur Reform in seinen Augen derart desavouiert haben, daß er ihnen eine taktierende Akkommodation an die politische Macht unterstellte. Die Kommission, deren Zusammensetzung Grebel zunächst kurz beschreibt, hatte sich für ihn disqualifiziert, nicht allein durch die teilnehmenden Kleriker, die er als „Monster mit Tonsur" bezeichnete, sondern durch den beschlossenen „Mittelweg" in der Meßfrage, den sie s. E. aus „teuflischer Vorsicht" gewählt hatten. 4 4 2 Für ihn genügte die Tatsache, daß die Messe weiterhin gegen den Willen Gottes bestehen bleiben sollte, um die gesamte Situation für die Sache des Evangeliums äußerst pessimistisch zu werten. Als Anfang dieser negativen Entwicklung nannte er die zweite Disputation und die an ihrem Verlauf aktiv beteiligten Reformatoren. Mit dieser Kritik können sicher nicht die theologischen Ergebnisse in der Bilder- und Meßfrage gemeint sein, denen Grebel sicher zustimmte, sondern die Auseinandersetzung um das Procedere der Reformen und um die radikale Abschaffung der Messe in all ihren unbibüschen Bestandteüen. Bereits am zweiten Verhandlungstag hatte Grebel direkte Konsequenzen aus der theologischen Debatte gefordert. Eine schriftgemäße Neuordnung der Eucharistie, die er zweifellos nach dem Verlauf des Gespräches erwartete, sollte darüber hinaus auch die geringsten Spuren „unbiblischer" Tradition verwerfen. Die konkreten Anfragen über die materiale Beschaffenheit des Abendmahlsbrotes etc. zielten, wie gesehen, auf eine Erneuerung der Mahlfeier nach neutestamentlichem Vorbild. Dieser weitgehenden Konzeption trat bereits in der Versammlung Zwingiis Kompetenzübertragung auf den Rat entgegen, dem der Reformator grundsätzlich das ius reformandi zugestand. Gleichzeitig sprach sich Zwingli für die Verlagerung s. E. peripherer Fragen der äußeren Gottesgestaltung in das Belieben der Einzelgemeinde aus. In dieser Haltung Zwingiis sah Grebel retrospektiv den beginnenden Widerspruch gegen den göttlichen Willen, der sich in der Tolerierung der nachfolgenden Ratspolitik durch den Reformator fortsetzte. Der Fortbestand der Messe, dem Zwingli schließlich zustimmte, wurde für Grebel zu einem Zeichen der vollständigen Mißachtung des Evangeliums, die sich in immer neuen taktischen Kompromissen niederschlug. A n die Stelle der geforderten Einführung des schriftgemäßen Abendmahls trat ein provisorisches Nebeneinander von Messe und fakultativem Mahl unter beiderlei Gestalt. Während für Grebel der Rat bereits im Sommer durch seine Ent442

Vgl. ebd.

4.6 Die Spaltung im reformatorischen Lager

201

Scheidungen in der Zehntenfrage sowie wenige Wochen zuvor durch das Unrechtsurteil gegen die Bilderstürmer seine Unfähigkeit bewiesen hatte, geriet nun Zwingli als „Sympathisant" der verfemten Ratspolitik ins Kreuzfeuer der Kritik. Die Enttäuschung über den Reformator, der die Pläne für eine neue Kirche zu diesem Zeitpunkt bereits rigoros abgelehnt hatte, brach in diesem Schreiben Grebels unvermittelt hervor. Nach seiner Meinung versäumte Zwingli die von ihm selbst immer als vornehmste Aufgabe angesehene Pflicht, das Wort Gottes zu verkündigen. Mehr noch, er verkehrte nach der Ansicht Grebels das Wort Gottes ins Gegenteil, indem er es bewußt zurückweise und binde. Dieser erbitterte Vorwurf machte aus Zwingli in letzter Konsequenz einen Antireformator. Dieser Deutung entspricht das Axiom, das Grebel am Schluß seines Briefes aufstellte: „ Q u i Zinlium ex officio pastoris agere putat, credit vel dicit, impie putat, credit et dicit." 4 4 3 Zwingli handelte demnach in den Augen Grebels nicht mehr wie es seinem Hirtenamt entsprach, hatte er doch s. E. die eigentliche Aufgabe der Verkündigung ins Gegenteil verkehrt. „Jetzt sah Grebel in Zwingiis Nachgeben gegenüber dem Rat in der Mess- und Abendmahlsfrage einen krassen Widerspruch zum Inhalt seiner Predigt. Mit dem Ungehorsam des Hirten gegenüber der von ihm selbst verkündigten Wahrheit war die Wahrheit unglaubhaftig gemacht."444

Grebel bot Vadian an, das von ihm aufgestellte Axiom auf Wunsch zu beweisen. Stayer bezeichnet das Axiom wiederholt als „protestantischen Bannfluch" 4 4 5 , womit er m. E. dem Charakter der Formulierung nicht gerecht wird. Der Begriff „ A x i o m " vereinigt unterschiedliche Bedeutungsinhalte. Aus der Dialektik stammend, bezeichnete er ursprünglich eine Behauptung, die ein Dialogpartner als wahren Satz zur Grundlage der gemeinsamen Diskussion machen wollte. 4 4 6 Durch Aristoteles entwickelte sich άξίωμα zu einem notwendig wahren Satz, der, weder eines Beweises fähig noch bedürftig, an den Anfang einer Diskussion gestellt wurde. Diese Deutung von „ A x i o m " setzte sich in der Folgezeit durch, so daß die Annahme der Selbstevidenz von Axiomen in der Scholastik verbreitet war. 4 4 7 Grebels in griechischen Buchstaben geschriebene Überschrift könnte folglich als Anfangssatz einer von ihm gewünschten Diskussion mit Vadian über Zwingli gemeint sein. Dem entspräche das Anerbieten Grebels, dies „Axiom" zu beweisen, wenn Vadian wünsche. Andererseits könnte gemäß der Bezeichnung die Aussage über Zwingli, der sein Hirtenamt nicht mehr wahrnehme, für Grebel bereits den Charakter einer einsichtigen und für jedermann erkennbaren Wahrheit besitzen. Grebel 443

Ebd. Fast, Wahrheit, 23. 445 Vgl. Stayer , Anfänge, 35; ders., Schweizer Brüder, 12. 446 Vgl. Â. Szabó, Art. Axiom und Postulate, in: J. Ritter (Hg.), H W P 1 , Basel/Stuttgart 1971,739; L. Oling-Hanhoff, Art. Axiom II. Geschichte, in: H W P 1, ebd., 741. 447 Vgl. Oling-Hanhoff, Axiom, 743. 444

202

4 Die Vorgeschichte des Schweizer Täufertums

hätte damit eine sachliche, nicht mehr hinterfragbare Entscheidung getroffen, die den Bruch mit dem Reformator eindeutig feststellte. Beide Deutungsmöglichkeiten kommen m. E. in Frage, wobei erstere durch den Folgesatz, in dem Grebel eine Beweisführung in Aussicht stellt, die größere Wahrscheinlichkeit besitzt. Die zweite Disputation vor allem aber die darauffolgende Ratspolitik, die Zwingli tolerierte, führte nach einer Phase der Entfremdung zur Spaltung des reformatorischen Lagers. Goeters kommt zu demselben Ergebnis, indem er aufgrund der Quellen resümiert, „daß dort der Wendepunkt lag und auch von allen Beteiligten, deren theologischen Wege und praktischen Vorstellungen nicht mehr dieselben waren, so gesehen wurde [...]. Zwingiis einstige Freunde waren in ihrer Bibelschule zur Selbständigkeit gelangt." 448

448

Goeters, Vorgeschichte, 230.

5 D i e Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren Trotz der repressiven Ratspolitik, die den Status quo in der Bilder- und Meßfrage zu erhalten suchte, setzten sich seit Ende 1523 durch die zunehmende Abkehr der Bevölkerung vom traditionellen Kultus langsame Reformen durch. 1 Die Entfernung der Bilder wurde im Sommer 1524 planmäßig in Angriff genommen und durchgeführt, während in der Meßfrage weiterhin ein unerfreuliches Nebeneinander bestehen blieb. Im Einklang mit der Ratspolitik vermochte Zwingli die Ausgestaltung seiner Reformation voranzutreiben. Über die Aktivitäten seiner radikalen Gefolgsleute sind bis zur Kontaktaufnahme mit anderen Reformatoren, wie Müntzer und Karlstadt, keine Nachrichten erhalten. Es ist zu vermuten, daß sie sich weiterhin in den verschiedenen Bibelkreisen trafen. Inwieweit dort Pläne zur selbständigen Errichtung einer alternativen Kirchenstruktur entwickelt wurden, die Zwingli ihnen später unterstellte, 2 muß offen bleiben. Einzelne von dieser Gruppe nahmen an erneuten Aktionen gegen die Messe und den Bilderdienst teil. 3 Ausgehend von Predigten der Reformatoren und eigenständigen Bibelstudien, rückte zunehmend die Tauffrage in das Blickfeld der Radikalen. 4 I m Frühjahr 1524 kam es daher zu mehreren Fällen von Taufverweigerung in Witikon und Zollikon. 5 Die Anfang August vom Rat zur Rechenschaft gezogenen Eltern begründeten ihre Entscheidung mit Hinweis auf die Predigttätigkeit Reublins. 6 Daraufhin wurde dieser inhaftiert und über seine Lehre bezüglich der Taufe verhört. Taufaufschub wurde seitens des Rates verboten und unter Strafe gestellt. Die Eltern wurden angewiesen, ihre Kinder unverzüglich taufen zu lassen. Wenn man davon ausgeht, daß die Tauffrage seit längerem im Kreis der Radikalen diskutiert worden war und nun, ebenso wie in der Bilderund Meßdebatte, reformerische Konsequenzen gezogen wurden, ist der Beschluß des Rates von herausragender Bedeutimg für den Fortgang der Entwicklung. Der Rat als weltliche Obrigkeit entschied, ohne eine theologische Kommission einzusetzen oder eine öffentliche Disputation einzuberufen wie noch im Fall der Messe und der Bilder, eigenmächtig über eine zentrale kirch1 2 3 4 5 6

Vgl. Locher, Reformation, 142 f. Vgl. Punkt 9.1.3 dieser Untersuchung. Vgl. EAk Nr. 495,216; Nr. 535,233; Nr. 552,240. Vgl. EAk Nr. 566 und Nr. 567,246; QGTS II, 602. Vgl. EAk Nr. 566 und Nr. 567,246; QGTS I, Nr. 11 und Nr. 12,10 f. Vgl. QGTS I, Nr. 11,10.

204

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

liehe Frage. Fugel versteht m. E. diesen autoritären Entscheid zurecht als wichtiges Glied in der Entwicklung zu einer staatskirchlichen Praxis, 7 die sich nach der zweiten Disputation sukzessiv durchsetzte. „Die Kindertaufe war damit von der weltlichen Obrigkeit gewissermaßen zum Staatsgesetz erhoben worden." 8 Anders als in der zurückliegenden heftigen Kontroverse um die Reform des Gottesdienstes wurde eine erneute öffentliche theologische Auseinandersetzung von vornherein unterbunden. Der Rat entschied, autorisiert durch die reformatorische Bewegung, in eigener Verantwortung über eine grundlegende Lehrfrage. War der Prozeß gegen die Taufverweigerer ein weiteres Fanal für die radikalen Kreise? Sahen sie im rigiden Vorgehen der Obrigkeit eine Vorwegnahme ihres eigenen Schicksals? Es könnte sein, daß dieser Konflikt, der zuungunsten der radikalen Reformkräfte ausging, später als Beginn der eigenen Verfolgungszeit begriffen wurde. Nach dem Ausgang des Verfahrens mußte jedem deutlich sein, daß im Zürcher Herrschaftsgebiet ein Verstoß gegen die traditionelle Taufpraxis zwangsläufig in die Illegalität und zur Strafverfolgung führte. Nur kurze Zeit nach dem Prozeß gegen die Taufverweigerer traten die Kreise um Grebel und Castelberger in Kontakt mit anderen radikalen Reformatoren.

5.1 Das Verhältnis zu Andreas Bodenstein von Karlstadt und Thomas Müntzer Anfang September berichtete Grebel seinem Schwager Vadian über die Korrespondenz mit Karlstadt und Müntzer. 9 Sein emphatischer Brief spiegelt neben der persönlichen Befindlichkeit des Autors auch die Stimmung des radikalen Flügels wider. „Angetrieben vom Wort Gottes", wie er bezeugte, habe er an Karlstadt geschrieben, der ihm bereits geantwortet habe und nun das erste Mal an Müntzer. Grebel spekulierte auch über ein herausforderndes Schreiben an Luther. Nach Auskunft des Briefes unterrichtete er weiterhin einen Kreis von Schülern, denen er das Matthäusevangelium vorlas und auslegte.10 Grebel sammelte und verzeichnete Bibelstellen zu Themen, die s. E. von allgemeinem Interesse waren. Seine Ergebnisse wollte er veröffentlichen bzw. auf die Öffentlichkeit „herabschleudern". Mit einer langen Folge von Schriftzitaten begründete er gegenüber seinem Schwager seine eifrigen Aktivitäten. 7 Vgl. A. Fugel, Tauflehre und Taufliturgie bei Huldrych Zwingli, Bern/Frankfurt a. M. u. a. 1989,184. 8 Ebd. 9 Vgl. QGTS I, Nr. 13,11 f. 10 Vgl. QGTS II, 602; hier wird deutlich, daß dieser Kreis wohl schon vorher neben dem Castelbergerkreis bestand, denn der verbannte Hochrüthiner wird als ein Schüler Grebels bezeichnet. Ein weiterer Lesekreis wurde von Mantz im Hause seiner Mutter geleitet, vgl. Krajewski, Mantz, 37 ff.; vgl. Exkurs zu den Sodalitäten als Vorform der Lesekreise dieser Untersuchung.

5.1 Das Verhältnis zu Bodenstein von Karlstadt und Müntzer

205

Zunächst beschrieb er unter Berufung auf Hiob 32,16-22 seinen „zwanghaften" Auftrag zur Verkündigung, die dem Schweigen und Stillstehen der anderen ein Ende bereiten sollte. Man könnte diese selbstbewußte Einschätzung als Gegenbild zu den nach Grebels Ansicht taktierenden Reformatoren verstehen, die nicht mehr die Erkenntnis Gottes ohne Ansehen der Person und Situation verkündigten. Daß sein Sendungsbewußtsein der gegenwärtigen, von ihm als ausweglos, ja apokalyptisch empfundenen Situation entsprach, zeigen die folgenden Schriftzitate. Grebel erwähnte die Prophezeiung aus Dan 9,27 über den Greuel der Verwüstung, der im Tempel bis zu seiner Zerstörung aufgerichtet wird. Hinter diesem biblischen Beleg könnte eine Anspielung auf den Fortbestand der Messe oder auf die weitere Duldung der Bilder vermutet werden. Weiter zitierte Grebel Texte aus dem Propheten Hesekiel über die schlechten Hirten, die den ihnen anvertrauten Schafen das Wasser trübten, selbst aber reines Wasser tränken. Bereits im Dezember hatte Grebel, wie oben dargelegt, festgestellt, daß Zwingli sein Hirtenamt nicht mehr recht ausübte. Die prophetische Klage über den ungerechten Hirten paßte daher zur Situation, in der eine tiefgreifende Reform aus taktischen Gründen trotz besseren Wissens der Reformatoren verschoben wurde. Zwingiis Akkommodation an die Reformstrategie des Rates interpretierte Grebel erneut als einen Verrat am Evangelium. Die Konsequenz aus dem Versagen der „Hirten" zog er, indem er selbst ihren Verkündigungsauftrag wahrnehmen wollte. Die Verurteilung der Ratspolitik und der mit ihr übereinstimmenden Reformatoren unterstreicht auch die letzte von Grebel aufgeführte Bibelstelle aus Jes 30. Dort ist von Plänen die Rede, die nicht von Gott stammten, sondern nur dazu führten, daß Sünde auf Sünde gehäuft werde. Die von Jesaja an dieser Stelle kritisierte Bündnispolitik Israels mit Ägypten könnte von Grebel auf die in seinen Augen fatale Verbindung zwischen Zwingli und den Interessen des Rates übertragen worden sein. Auch wenn man dieser exegetischen Interpretation nicht folgen will, zeigt sich in diesem Schreiben Grebels ein großes Sendungsbewußtsein sowie eine fieberhaft zu nennende Aktivität in Abgrenzung zur bestehenden kirchlichen und politischen Situation. U m Grebel hatte sich eine Gruppe geschart, die mit dem Verlauf der Reformation unzufrieden und von ihrem einstigen Vorbild Zwingli maßlos enttäuscht war. Im Kontext der Auseinandersetzung um die Entfernung der Bilder und in bezug auf die Taufverweigerung hatten sie bereits Strafverfolgung durch den Rat erfahren müssen. In dieser Situation suchten sie sich andere Bündnispartner, von denen sie erhofften, daß sie ihren eigenen theologischen Weg mitgehen bzw. ideologisch unterstützen könnten. Bevor eine eingehende Analyse des umfangreichen Briefes an Müntzer erfolgen kann, der als erstes theologisch normierendes Zeugnis der Schweizer Täufer gilt, 1 1 soll das Ver11

Vgl. Stayer , Sword, 103; Bender, Grebel, 171; zum Text und Kontext des Müntzerbriefes vgl. auch Goertz, „A common future conversation", 73-90.

206

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

hältnis der Radikalen zur Person und Theologie Karlstadts und Müntzers geklärt werden.

5.1.1 Andreas Bodenstein von Karlstadt Der Einfluß Karlstadts auf die Zwinglische Reformation sowie das Schweizer Täufertum wurde bisher nur unzureichend gewürdigt. 12 Diese Forschungslücke resultierte u. a. aus dem bis in die Gegenwart reichenden Vorurteil gegen den „Schwärmer" Karlstadt, der durch die Prolongierung des Karlstadtbildes Luthers nicht Gegenstand differenzierten historischen Bemühens wurde, 13 obwohl das Volumen an volkssprachiger Publikationen durch Karlstadt überaus beachtlich war. 14 Bedauerlicherweise fehlt bis heute eine kritische Gesamtausgabe seiner Werke und Korrespondenz. 15 Die bahnbrechende Biographie H. Barges 16 von 1905, die an der Aufarbeitung der traditionellen Polemik gegen Karlstadt interessiert war, bildete den ersten Schritt zu einer innovativen Diskussion innerhalb der Karlstadtforschung. Auf die vielfältigen Ergebnisse der neueren Karlstadtforschung (s. o.), die gegenwärtig von äußerst kontroversen Meinungen und Urteilen geprägt ist, kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Es mutet jedoch befremdlich an, daß in einer Festschrift für Karlstadt aus dem Jahr 1980, obwohl neuere Untersuchungen die Bedeutung dieses Reformators innerhalb der reformatorischen Bewegung nachgewiesen haben, wohl aus einer einseitig lutherischen Perspektive lapidar bemerkt wird: „Gewiß gehört Karlstadt nicht zur ersten Garnitur der reformatorischen Theologen." 17 Sein Einfluß habe sich, nach Kantzenbach, nur unter den „Abweichlern von der Generallinie" 18 ausgewirkt. Der Wirkung der Theologie Karlstadts auf die „Abweichler" und darüber hinaus auf die „Hauptreformatoren" widmet sich das Werk Paters. I m Gegen12

Vgl. C. A. Pater , Karlstadt as the Father of Baptist Movements: The Emergence of Lay Protestantism, Toronto/Buffalo/London 1984,117. 13 Vgl. U. Bubenheimer, Consonantia Theologiae et Iurisprudentiae. Andeas Bodenstein von Karlstadt als Theologe und Jurist zwischen Scholastik und Reformation, Tübingen 1977, h4 ff.; zur Forschungsgeschichte vgl. S. Looß, Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486-1541) in der modernen Forschung, in: Dies. / Matthias, M. (Hg.,), Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486-1541). Ein Theologe der frühen Reformation. Wittenberg 1998,9-23. 14 Vgl. A. Zorzin, Karlstadt als Flugschriftenautor, Göttingen 1990,217. Abgesehen von Luther erzielten die Flugschriften Karlstadts in den Jahren 1520-25 die höchste Auflage und Verbreitung. 15 Die kritische Gesamtausgabe wurde 1994 als Projekt der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg begonnen. 16 Vgl. H. Barge, Andreas Bodenstein von Karlstadt, 2 Bde. Nieuwkoop 21968. 17 F. W. Kantzenbach, Karlstadt und Luther, in: W. Merklein (Hg.), Andreas Bodenstein von Karlstadt. 500 Jahrfeier. Festschrift der Stadt Karlstadt, Karlstadt 1980,91. « Ebd.

5.1 Das Verhältnis zu Bodenstein von Karlstadt und Müntzer

207

satz zu Kantzenbach ist für ihn die Relevanz Karlstadts nicht zu überschätzen. Die Ergebnisse seiner Untersuchung lassen den Leser nicht nur staunend fragen, welches originäre theologische Potential die Täufer besaßen, sondern auch ob die Hauptreformatoren, allen voran Zwingli, überhaupt einen eigenständigen Gedanken bzw. eine Konzeption hervorgebracht haben, die nicht an entscheidender Stelle von Karlstadt geprägt wurden. Diese Arbeit kann als psychologisch verständliche Reaktion auf das einseitige Karlstadtbild gelten, wobei ihre durchaus interessanten Erträge im einzelnen zu prüfen sind. 19 Das enthebt diese Studie allerdings nicht einer m. E. notwendigen Kritik an der insgesamt überzeichneten Bedeutung der Rolle Karlstadts. Für den Fortgang unserer Untersuchung ist die Frage entscheidend, warum die radikalen Kreise in Zürich 1524 Kontakt zu Karlstadt aufgenommen haben. Zum einen gewann Karlstadt durch die Verbreitung seiner Schriften Einfluß auf den Zürcher Reformator und - teils durch Zwingli teils auch auf direktem Wege - auch auf dessen radikalen Anhänger. 20 Der entscheidende Mittelsmann zwischen Karlstadt und der schweizerischen Reformbewegimg scheint Castelberger gewesen zu sein, der als Buchdrucker und Herausgeber Zwingli wohl mit den Schriften Karlstadts versorgte. 21 Er war es auch, der für die radikalen Freunde 1524 in Briefkontakt mit Karlstadt t r a t 2 2 Castelberger und seine Gesinnungsgenossen kannten, so die Ergebnisse Paters und anderer Forscher, die frühen Schriften Karlstadts, mit deren theologischen Aussagen sie übereinstimmten. Aus diesem Grund sahen sie in ihm einen möglichen Bündnispartner. Kurz bevor seine Verbannung aus Sachsen erfolgte, erhielt Karlstadt das ehrerbietige freundschaftliche Schreiben Castelbergers und auch einen Brief Grebels, der leider nicht erhalten ist. 23 I n dieser für ihn bedrängenden Situation sah Karlstadt die Botschaft der Schweizer Brüder wahrscheinlich als einen möglichen Ausweg aus seiner schwierigen Lage an. Barge erwägt sogar, ob Karlstadt an eine Übersiedlung nach Zürich dachte. 24 Aufgrund der erfreulichen Korrespondenz schickte er seinen Schwager und eifrigsten Anhänger, G. Westerburg, mit einem weiteren Antwortschreiben und acht Traktaten nach Zürich, um das Terrain für ihn zu klären. 25 Grebel berichtete Vadian über den Besuch Westerburgs, der mit den Freunden sechs Tage lang die Schriften Karlstadts diskutiert hätte. Westerburg erhoffte wohl auch finanzielle Unterstützung zur Veröffentlichung der mitgeführten theolo-

19

Vgl. J. M. Stayer, Sächsischer Radikalismus und Schweizer Täufertum, in: G. Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Weimar 1994,169 ff.; Looß, Karlstadt, 14. 20 Vgl. Pater, Karlstadt, 118 ff. 21 Vgl. ebd., 121. 22 Vgl. QGTS I, Nr. 14,19; Pater, Karlstadt, 141. 23 Vgl. Pater, Karlstadt, 159. 24 Vgl. Barge, Karlstadt, Bd. II, 205. 25 Vgl. ebd; Pater, Karlstadt, 162; vgl. Zorzin, Flugschriften, 124.

208

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

gischen Abhandlungen. 26 Durch Westerburg erfuhren die Radikalen von dem Zusammentreffen Luthers und Karlstadts in Orlamünde, über ihren Disput und schließlich die bestehende Herausforderung zur schriftlichen Kontroverse.27 Westerburg ging im Anschluß an den intensiven Meinungsaustausch gemeinsam mit Castelberger und Mantz nach Basel. Sie trafen dort mit dem exilierten Hochrüthiner zusammen und erwirkten die Drucklegung der Schriften Karlstadts. 28 Karlstadt traf schließlich selbst in Basel ein. Mantz und Castelberger verließen Basel mit 5300 gedruckten Exemplaren der Traktate Karlstadts, die sie über die gesamte Schweiz verbreiteten. A m 7. Dezember 1524 ließ der Baseler Rat die für die Veröffentlichung der Karlstadtschriften verantwortlichen Drucker J. Bebel und T. Wolf verhaften und verfügte eine Zensur, die die weitere Drucklegung verhinderte. 29 Die Zürcher Radikalen waren über die Verbindung mit Castelberger demnach über die theologischen Positionen Karlstadts unterrichtet. Sie sympathisierten mit ihm, setzten sich für die Verbreitung seiner Schriften ein und planten anscheinend eine engere Zusammenarbeit, die jedoch nach einem direkten Kontakt aufgegeben wurde. In seinen Schriften wandte sich Karlstadt mit der Zeit immer stärker an gebildete Laien, denen er eine Urteilsfähigkeit in Glaubensfragen zuerkannnte. 30 In seinen dialogischen Flugschriften treten Laien auf, die eine solide Kenntnis der Bibel aufweisen, sich zu ihrer einzigartigen Autorität bekannten und sich mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein gegen die Bevormundung durch Klerus und Gelehrte zur Wehr setzten. A m Maßstab der Heiligen Schrift überprüften sie die alte und neue Lehre der Kirche. Karlstadt profilierte in seinen Schriften ein autonomes Laienchristentum, das zu einer „unabhängigen Auslegung und profunden Erfahrung des Gottesworts" 31 gelangt war. Die Hervorhebung des Laien, der für Karlstadt als „Grundstein einer erneuerten und wahrhaftigen Kirche Gottes" 3 2 galt, harmonierte mit den Erfahrungen der Lesekreise in Zürich. Sie konnten sich mit diesem Bild des selbstbewußten Laien identifizieren. Karlstadts Laienbild, das nach Zorzin sogar „apostolische" Züge annahm, diente ihnen als Legitimation der eigenen Organisationsform und ihres Auftrages. Neben der Kongruenz in theologischen Fragestellungen scheint aber auch die analoge Entwicklung - mit anderen Worten: der ähnlich andere Weg der radikalen Reformbewegung Karlstadts - ein wichtiges Moment für die Kontaktaufnahme gewesen zu sein. In einem Brief ein Vadian vom 14. Oktober 1524 26 27 28 29 30

32

Vgl. Pater, Karlstadt, ebd. Vgl. QGTS I, Nr. 15,21 f. Grebel an Vadian 14.10.1524. Vgl. Pater, Karlstadt, 159 f.; Barge, Karlstadt, Bd. II, 217. Vgl. Zorzin, Flugschriften, 124. Vgl. ebd., 209. Ebd., 221. Ebd., 216.

5.1 Das Verhältnis zu Bodenstein von Karlstadt und Müntzer

209

schreibt Grebel in diesem Sinn: „Quod hic fit, Wittenbergae quoque fit." 3 3 Grebel zog Parallelen zwischen dem Schicksal Karlstadts und den Zürcher Radikalen. Ein Blick auf die Chronologie der Ereignisse der Wittenberger Reformbewegung und der Reformen in Orlamünde sowie die Reaktionen Luthers kann diesen Vorgang verdeutlichen. Die Wittenberger Reform 1521/22 war der gemeinschaftliche Versuch der Reformkräfte gewesen, praktische Konsequenzen aus dem reformatorischen Programm zu entwickeln und durchzusetzen. 34 Konkrete Schritte zur Beseitigung der Messe sowie zur Neugestaltung des Gottesdienstes wurden diskutiert und ansatzweise durchgesetzt. Im Mittelpunkt stand zunächst die Kritik an der traditionellen Sakramentspraxis, an die sich die Ablehnung der Bilderverehrung anschloß. Obwohl Karlstadt noch im Herbst 1521 keineswegs zu den eifrigsten Reformern zählte, sondern eine eher moderate Haltung in der Meßreform auf der Oktoberdisputation einnahm, feierte er im Dezember 1521 unter Beteiligung weiter Kreise der Bevölkerung das erste Abendmahl unter beiderlei Gestalt. 35 Vehement setzte sich Karlstadt ab Januar 1522 für die Entfernung der Bilder aus den Kirchen ein. In der gemeinsam erarbeiteten evangelischen Stadtordnung vom 24. Januar 1522 wurden die evangelische Meßreform, die Abschaffung der Büder und soziale Maßnahmen als Forderungen an den Rat weitergeleitet, der die Reformen durchführen sollte. Öffentliche Unruhen, die zur politischen Eskalation beitrugen, setzten dem Reformprozeß mittels kurfürstlichem Verbot ein Ende. Luther, eigens zurückgekehrt von der Wartburg, plädierte in seinen berühmten Invokavitpredigten mit dem Hinweis auf das notwendige „Schonen der Schwachen" für die Rücknahme der Reformen. 36 Luthers Eintreten für ein evolutionäres Voranschreiten der Reformen mag sicherlich auch durch den Druck der Reichs- und Landesgewalt beeinflußt worden sein. Luther gelang es, den politisch gefährlichen Kurs der Reformbewegung zu ändern, woraufhin sukzessive alle Reformen rückgängig gemacht wurden. 37 Traditionellerweise führte man die Kontroverse zwischen Luther und Karlstadt auf fundamentale theologische Differenzen zurück, wobei Karlstadts Theologie meistens die reformatorische Basis abgesprochen wurde. Bubenheimer dagegen sieht, im Konsens mit neueren Forschungsergebnissen, in der unterschiedlichen Reformstrategie den eigentlichen Grund für die Auseinander-

33 QGTS I, Nr. 15,22. 34 Vgl. Bubenheimer, Scandalum et ius divinum. Theologische und rechtstheologische Probleme der ersten reformatorischen Innovationen in Wittenberg 1521/22, in: Z R G K A 90, Abt. 59,1973,264 ff. 35 Vgl. ebd, 321 f.; W. H. Neuser, Die Abendmahlslehre Melanchthons in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1519-1530), Neukirchen 1968,147 ff. 36 Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 327. 37

Vgl. Bubenheimer, Karlstadt, 37.

210

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

Setzung.38 Die Fragen des Zeitpunkts, der Form und nach der Autorität, die das ius reformandi besaß, waren zwischen Karlstadt und Luther umstritten. Durch diesen kurzen Überblick wird deutlich, weshalb die radikalen Kreise in Zürich Parallelen zwischen Karlstadts Ergehen und ihrem Schicksal ziehen konnten. Auch sie bemühten sich seit den Fastenbrüchen 1522 um die Realisierung der Reformforderungen. Die praktische Umsetzung des reformatorischen Programms in der Gottesdienstgestaltung, in der Predigt, selbst im sozialen Bereich wurde von ihnen mit allen Mitteln erstrebt. Dabei wurden sie mit der zögerlichen Ratspolitik sowie mit der Haltung Zwingiis konfrontiert, der einem politisch abgesicherten evolutionären Vorangehen der Reform eindeutig den Vorrang gab. Selbst wider besseres Wissen, so sahen es seine enttäuschten Schüler, unterstützte er die vorsichtige Ratspolitik, die weiterhin die traditionelle Meßpraxis tolerierte und nur halbherzig den Reformprozeß unter Abwägung der politischen Lage unterstützte. Von Grebel wurde diese vergleichbare Situation auf eine kurze Formel gebracht: „Was hier geschieht, geschieht genauso in Wittenberg (s. o.)." Das Scheitern des Reformprogramms Karlstadts, der ebenfalls in Orlamünde vor der restriktiven Politik des Kurfürsten, der in Einvernehmen mit Luther handelte, nicht geschützt war, sahen die Zürcher Brüder als Paradigma für ihre Situation der Trennung von Zwingli. Das taktische Verhalten Luthers, das quasi zu einem Typus für die schweizerische Situation wurde, führte zur Solidarisierung mit Karlstadt. Aber nicht nur der äußere Gang der Ereignisse zeigte die Übereinstimmung mit den Radikalen. Bei einer komparativen Untersuchung der Schriften Karlstadts ergeben sich weitreichende Parallelen in den theologischen Grundüberzeugungen der späteren Täufer, die auch im Müntzerbrief bereits deutlich zutage treten. Ein eingehender Vergleich mit den theologischen Positionen Karlstadts soll deshalb anhand der Kommentierung des Müntzerbriefes erfolgen. Das Zusammentreffen Karlstadts mit den Prototäufern im Herbst 1524 in Zürich erbrachte trotz dieser Übereinstimmungen keine erkennbaren Resultate. Es kam nicht zu der beiderseitig erhofften Zusammenarbeit. Bei der Frage nach der Begründung für das offensichtliche Scheitern des Gesprächs ist man auf Vermutungen angewiesen. Barge gibt als Grund für den negativen Ausgang des direkten Kontaktes die Neigung der Täufer „zu Müntzers visionären Schwärmertums" an, dessen soziale Revolution auch von ihnen unterstützt und für ihr Einflußgebiet geplant worden sei. 39 Damit wiederholt er das stereotype Vorurteil gegen die Täufer, dem die Ergebnisse der gesamten neueren Täuferforschung widersprechen. Heute kann man daher von der gesicherten Erkenntnis sprechen, daß die Übereinstimmung der Radikalen mit 38 Vgl. ebd.; R. J. Sider, Andreas Bodenstein von Karlstadt. Zwischen Liberalität und Radikalität, in: H.-J. Goertz (Hg.), Radikale Reformatoren, München 1978,25. 39 Vgl. Barge, Karlstadt II, 217.

5.1 Das Verhältnis zu Bodenstein von Karlstadt und Müntzer

211

Müntzers Theologie bzw. die Kenntnis seiner theologischen Positionen nur sehr gering zu veranschlagen sind. 40 Pater kommt zu dem Ergebnis, daß Karlstadt selbst es ablehnte, eine eigene separierte Kirche Karlstadtscher Provenienz zu gründen. 41 Wenn es auch zweifelhaft ist, daß die Radikalen tatsächlich mit diesem Ansinnen an Karlstadt herangetreten sind, so scheinen m. E. Differenzen in der Ekklesiologie und die kirchliche sowie politische Situation in Zürich ausschlaggebend gewesen zu sein, die in Aussicht genommene Zusammenarbeit fallenzulassen. 42 Karlstadt hatte in der Wittenberger Bewegung dem Rat der Stadt die Kompetenz für die Durchführung der Reformation übertragen. Er profilierte eindeutig eine „stadtkirchliche" gegen eine „landeskirchliche" Reformation. 43 Die Obrigkeit hatte daher das Recht, mehr noch die Pflicht, die Reformen auch unter Anwendung von Zwang nach göttlichem Gebot durchzusetzen. Seine Konzeption, die er auch in Orlamünde umsetzte, entsprach einer städtischen Gemeindeautonomie. 44 Die Identifizierung von kirchlicher und politischer Gemeinde, der sogenannten „korporativen Ekklesiologie", kollidierte m. E. mit der Konzeption der Radikalen in Zürich, die eine Gemeinde der wahrhaft Gläubigen befürworteten. 45 Abgesehen von dieser theologischen Differenz scheint die ausweglose Situation der radikalen Kreise, die in Opposition zur Ratspolitik und dem breiten Strom der reformatorischen Bewegung standen, nicht gerade motivierend auf einen bereits mehrfach vertriebenen Emigranten gewirkt zu haben. Die realistische Einschätzung der Lage hatte m. E. Karlstadt die Illusion genommen, eine erfolgversprechende Alternativbewegung zur etablierten Reformation Zwingiis gründen zu können. Sein weiterer Weg verdeutlicht die fortschreitende Resignation des Reformers Karlstadt, der sich nach erfolgtem Widerruf schließlich als Professor in Basel zur Ruhe setzte. Diese Überlegungen bleiben jedoch spekulativ, da über das ausschlaggebende Motiv für das Scheitern des Gesprächs mit Karlstadt keine Äußerungen vorliegen. Auch nach seinem Besuch in Zürich, der nicht die erwünschte Solidarisierung erbrachte, blieben jedoch die Schriften Karlstadts maßgebend. 46

40 41 42 43 44 45 46

Vgl. u. a. Stayer , Schweizer Brüder, 13. Vgl. Pater, Karlstadt, 167. Vgl. Bender, Grebel, 109. Karlstadt habe s. E. die Gruppe für zu schwach gehalten. Vgl. Bubenheimer, Karlstadt, 34. Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 307 f. Vgl. u. a. Punkt 5.2.6 dieser Untersuchung. Vgl. Pater, Karlstadt, 168.

212

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

5.1.2 Thomas Müntzer Die Kontaktaufnahme mit Müntzer war zum einen durch einige seiner Schriften, zum anderen durch die Vermittlung H. Huiufs, eines Handwerkers aus Halle, der Beziehungen zu Müntzer unterhielt, motiviert. Er gehörte zu den Radikalen und wirkte als ihr Informant über die Wittenberger Bewegung. 47 Huiuf brachte von einem Besuch Müntzers zwei seiner Schriften („Von dem erdichteten Glauben", „Protestation und Ehrerbietung") mit, deren Lektüre der eigentliche Anlaß für die Aufnahme der Korrespondenz wurde. Müntzer hatte in seiner „Protestation" seine Leser dazu aufgefordert, ihm zu schreiben, was als weiterer Beweggrund für die Abfassung des Briefes gewertet werden kann. Wie bei Karlstadt ist daher von der Kenntnis einiger Schriften Müntzers bei den Radikalen sowie von der Parallelisierung des Schicksals des kämpferischen Reformators mit dem eigenen auszugehen. Eine tiefergehende Einsicht in das theologische Programm Müntzers scheint, hierin ist Bender Recht zu geben, 48 nicht existiert zu haben, wie u. a. der Nachtrag zum ersten Brief über Müntzers Stellung zur Gewalt deutlich macht. 49 Ausschlaggebend für die Kontaktaufnahme mit Müntzer waren die Informationen aus Sachsen, die den Radikalreformer als zu Unrecht durch den Hauptreformator verfolgten Gesinnungsgenossen auswiesen. Das Reformprogramm in Allstedt, von dem die Radikalen Kenntnis erhielten, entsprach in wichtigen Teilen ihrem Ansatz zur Durchführung liturgischer Neuerungen. Die drohende Verfolgung Müntzers durch die Obrigkeit sowie den offenen Konflikt mit Luther deuteten sie ebenso wie bei Karlstadt typologisch als ihr eigenes Schicksal. Ihre Reaktion war eine Initiative zur Sammlung und Vereinigung der radikalen Kräfte, die sich gegenseitig unterstützen sollten. Der Brief Grebels und seiner Freunde hat Müntzer mit großer Wahrscheinlichkeit nie erreicht, so daß es nicht zu einer weitergehenden Korrespondenz kam wie im Falle Karlstadts. Das Verhalten im Bauernkrieg desavouierte Müntzer späterhin für die Täufer, so daß er nicht mehr als leidender Gesinnnungsfreund betrachtet werden konnte. Die Analyse des Müntzerbriefs muß erweisen, ob die theologische Übereinstimmung mit Müntzer über die Kenntnis und Verwertung einzelner Schriften hinausging. 50 Die äußeren Gegebenheiten lassen auf eine rein literarische Verbundenheit schließen, die keineswegs der Qualität der Beziehung zu Karlstadt entsprach. 47

Vgl. Fast, Flügel, 10; Bender, Grebel, 109 ff. Vgl. Bender, Grebel, 110; vgl. als neuere Studie zum Verhältnis von Täufern und Müntzer: J. Stayer, Sächsischer Radikalismus und Schweizer Täufertum, in: G. Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Weimar 1994,160 ff., 172 ff. 49 Vgl. QGTS I, Nr. 14,19 f. 50 Goertz verweist auf einige interessante Analogien zwischen Müntzers Anschauungen und dem Müntzerbrief, ohne eine direkte Abhängigkeit der Radikalen von seiner Ideenwelt zu konstatieren. Vgl. dazu Goertz, „A common future conversation", 73 ff. 48

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

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5.2 Konrad Grebel und Genossen an Thomas Müntzer 5.2.1 Der Müntzerbrief als kollektives Schreiben Hinsichtlich des Briefs an Müntzer, 51 der des öfteren als Grebelbrief 52 bezeichnet wird, handelt es sich der Form nach um ein Kollektivschreiben. Bis auf wenige Zeilen gegen Ende des Briefes ist er durchgehend in der ersten Person Plural verfaßt, worin sich die Übereinstimmung der Unterzeichnenden ausdrückt. Aus welchen Gründen auch immer die Radikalen diese kollektive Form des Schreibens gewählt haben - sei es um ihrem Brief mehr Gewicht zu geben, sei es, daß dieses (formal) gemeinschaftliche Werk dem Charakter der sich in Bibelkreisen organisierenden Bewegung am besten entsprach - sie muß bei der Auslegung berücksichtigt werden, um den Stellenwert des Briefes für die Geschichte der Täuferbewegung einschätzen zu können. Der Brief kann daher m. E. nicht als eigenständiges Werk Grebels angesehen werden, auch wenn er entscheidend an der Abfassung und inhaltlichen Gestaltung beteiligt war 5 3 , sondern ist als ein Konsensvotum der sich formierenden radikalen Bewegung zu betrachten. Die neuere sozialgeschichtliche Forschung tendiert dazu, den stadtzürcher Kreis um Grebel und Castelberger von den Repräsentanten der radikalen Reform in den Landgemeinden zu trennen. „Unter den radikalen Reformierten herrschte eine latente Spannung zwischen denen, die ganze Ortsgemeinden reformieren wollten, und den Zürchern, die einen exklusiven Bibelkreis bildeten." 54 Diesem Kreis in Zürich wird ferner eine „proto-sektiererische Mentalität" 5 5 attestiert, die die Entwicklung nach Schieitheim antizipierte. Zwischen den Radikalen in Zürich und den nach Autonomie strebenden Landgemeinden unter der Führung von Stumpf, Reublin und Brötli wird zwar eine Interessenskonvergenz, keineswegs aber ein theologischer Konsens angenommen. 56 Als Mittelsmann zwischen städtischer und ländlicher Reformbewegung wird wiederum Castelberger, der Leiter eines stadtzürcher Bibelkreises war, genannt. Nach dieser These, die weitgehend Anerkennung in der Täuferforschung gefunden hat, ist es überraschend, daß als Mitunter51 Um bei der nun folgenden Analyse des Textes die ständige Zitation der einzelnen Briefpassagen zu vermeiden, wird die parallele Lektüre des Textes bei der Darstellung vorausgesetzt, so daß nur besonders wichtige Aussagen des Briefes im Kontext der Erarbeitung wörtlich erscheinen. 52 Zur Überlieferungs- und Editonsgeschichte vgl. S. Bräuer; „Sind beyde dise Briefe an Müntzer abgeschikt worden?". Zur Überlieferung der Briefe des Grebelkreises an Thomas Müntzer vom 5. September 1524, in: MGB 55,1998,7-24. 53 Grebel hat den Brief geschrieben und auch unterzeichnet, wie ein Handschriftenvergleich mit seinen anderen deutschsprachigen Briefen zeigt. Vgl. Bräuer; Briefe, 10. 54 Stayer, Anfänge, 38. 55 Ebd., 37. 56 Vgl. Packull, Anfänge, 53.

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Zeichner neben Grebel, Mantz und Castelberger auch u. a. Brötli, ein prominenter Vertreter der kommunalen Reformbewegung, und Oggenfuß, der ebenfalls aus dem landgemeindlichen Bereich stammt, zu finden sind. Aber nicht nur in diesem Schreiben zeigt sich eine weitgehende Übereinstimmung zwischen land- und stadtzürcher Radikalen. Sie läßt sich auch an den bereits ausgewerteten Aktionen nachweisen, in denen ein gemeinsames Vorgehen beider „Gruppierungen" deutlich wird. 1. A n demonstrativen Fastenbrüchen in Zürich beteüigten sich Hottinger und Oggenfuß, beide Vertreter der Landgemeinden. 2. In den Plan zur Badenschenke wurden die umliegenden Dörfer von den Initiatoren Aberli und Grebel einbezogen. Hottinger gehörte zum „Planungskomitee". Er war ebenfalls Mitglied des Castelberger Lesekreises in Zürich. 3. Aufgrund gemeinschaftlicher Agitation wurden Aberli, Pur, Grebel und Hottinger vor den Rat zitiert. 4. Die Vertreter der Landgemeinden Reublin und Stumpf predigten gegen den Mißbrauch des Zehnten, wobei Grebel, der Führer der protosektiererischen Täuferbewegung, den Rat aufgrund der Legitimierung der traditionellen Zehntordnung als Tyrannen verurteilte. Der Gegensatz in der Zehntfrage erscheint daher von der Forschung eher konstruiert zu sein, als den tatsächlichen Gegebenheiten zu entsprechen. 5. Dagegen leugnete Brötli, der sonst als führender Vertreter der Sozialrevolutionären Täuferbewegung gewertet wird, daß er gegen den Zehnten gepredigt hätte und beteuerte seinen Verzicht auf jegliche Gewalt. 6. Den Plan einer alternativen Kirche legten Stumpf, Repräsentant der Landgemeinden und Grebel, Teilnehmer des exklusiven Bibelkreises, gemeinsam dem Reformator vor. Von einer latenten Spannung im ekklesiologischen Bereich kann daher im Blick auf dieses wichtige Ereignis nicht gesprochen werden. 7. A n Aktionen gegen die Büder und die traditionelle Meßpraxis sind sowohl land- als auch stadtzürcher Radikale beteiligt. 8. Auf der zweiten Disputation traten Stumpf und Grebel wie die Sprecher einer Gruppe auf, die eine radikale Durchführung der Gottesdienstreform forderten. Theologische Differenzen sind bei diesem Anlaß nicht zu erkennen. Dieser Befund läßt die theologische Aufspaltung zwischen land- und stadtzürcher Radikalen zweifelhaft erscheinen. Ausgehend vom vorliegenden Quellenmaterial, ergibt sich m. E., daß die gemeinsame Mitte für die Radikalen Zürichs und der ländlichen Umgebung im Bibelkreis Castelbergers 57 bzw. in mehreren Bibelkreisen Zürichs, die im engen Austausch miteinander standen, anzusiedeln ist. Das gemeinsame Bibelstudium kann m. E. am zutreffendsten als integrierendes Moment unterschiedlicher Prägungen und Vorstellungen angesehen werden. Ohne Zweifel wurde von den Radikalen die Übereinstimmung in theologischen Grundüberzeugungen in Abgrenzung zur offiziellen Reformation angestrebt. 57 Vgl. Packull, Anfänge, 56. Packull hebt die große Bedeutung von Castelberger hervor.

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Der Müntzerbrief kann daher als ein theologisches Konsenspapier verstanden werden, das die Grundpositionen der radikalen Kräfte zusammenfaßte. Es bleibt im Kontext der Auslegung des Briefes weiterhin zu überprüfen, ob die in mehreren Veröffentlichungen vorgenommene theologische Isolierung des Grebelkreises von den ländlichen Radikalen tatsächlich dem Quellenbefund oder eher dem Modell eines zweiphasigen Täuferbildes der sozialgeschichtlichen Forschung entspricht.

5.2.2 Formale Charakteristika und Briefeingang Das Präskript des Müntzerbriefs hat deutliche formale und inhaltliche Anklänge an apostolische Briefe des Neuen Testaments. Der Eingangsgruß entspricht wörtlich denen der beiden Timotheusbriefe. 58 Auch der Schlußgruß erinnert bezüglich des Aufbaus an das neutestamentliche Briefformular. Der Kreis der Unterzeichnenden gab dem Schreiben demnach die Form eines apostolischen Sendschreibens, was seine hohe Autorität und normativen Charakter unterstreicht. Den stilisierten Beginn und Abschluß des Briefes darf man m. E. nicht ignorieren. Er verdeutlicht das hohe Sendungsbewußtsein des Verfasserkreises. Müntzer wird als getreuer und wahrhaftiger Verkündiger des Evangeliums tituliert. 59 Bereits in dieser Formulierung, die einer hohen Wertschätzung des Adressaten Ausdruck verleiht, zeigt sich die Motivation für die Kontaktaufnahme zu Müntzer. Im Gegensatz zu Zwingli, der nach Ansicht seiner enttäuschten Anhänger wider besseres Wissen keine Konsequenzen aus der reformatorischen Botschaft ziehe, sei Müntzer ein wahrhaftiger Prediger des Evangeliums, weil er im Gehorsam gegen Gottes Wort bereits Reformen durchgeführt habe. Fast ist darin Recht zu geben, daß sich die Wahrheitsfrage für die Täufer nicht allein an der rechtmäßigen Theologie entschied, sondern an der damit verbundenen schriftgemäßen Praxis. 60 Die im Briefkorpus mehrfach wiederholte Hochschätzung Müntzers sowie die Bitte um Abfassung weiterer Schriften durch ihn widerlegen m. E. die These, daß das Schreiben „ein Dokument der angewandten Regel Christi" 6 1 sei. Es ist nicht einsichtig, daß man den Bruder, „von dem man sich getrennt weiß", mehrfach als leuchtendes Vorbild und geradezu als Ausbund rechter theologischer Gelehr58

Im Gegensatz zum Bibeltext wird allerdings der „Frieden" der „Gnade" und der „Barmherzigkeit" vorgeordnet. Kann dies als ein Hinweis auf den dringlichsten Wunsch der Radikalen in ihrer krisenhaften Gegenwart verstanden werden? Gegen QGTS I, Nr. 14,13, Anm. 3. 59 Vgl. QGTS I, Nr. 14,13. «J Vgl. Fasi, Wahrheit, 23. 61

Ch. Wiebe, Konrad Grebels Ausführungen über Glaube und Taufe, in: MGB 46, 1989,59.

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samkeit beschreibt. Die Ausführungen zur Gemeindezucht sollen dieses vorläufige Ergebnis verifizieren. 62 Nach dem Eingangsgruß entschuldigten sich die Verfasser für die informelle Anrede Müntzers mit „Bruder". Für Zwingli verband sich mit der Grußformel „Brüder in Christo" die Anerkennung als gleichberechtigter Partner, die sich mit ihm der Richtschnur der Heiligen Schrift verbunden wußten. 63 Die Bruderschaft, die die Radikalen mit Müntzer verband, war durch Jesus Christus als Herrn und durch die Gabe des Heiligen Geistes begründet. Er ist es auch, der nach eigener Auskunft den Kreis zur Kontaktaufnahme mit Müntzer „getrieben" und „gezwungen" habe. Christus selbst wird als der Urheber und die Motivation des Sendbriefs hervorgehoben. Eine ähnliche Sprache, die dem neutestamentlichen Sprachgebrauch nachempfunden ist, begegnete im bereits erwähnten Brief von Grebel an Vadian vom 3. September 1524.64 Dem „zwanghaften" Impuls zur Verkündigung im persönlichen Leben Grebels korrespondierte das Gezwungensein der Gemeinschaft der Radikalen zum Dialog mit Müntzer. Eine höhere Legitimation als durch den erhöhten Herrn selbst konnte es für das Schreiben in den Augen der Radikalen nicht geben. Neben dieser christologischen Motivation wird aber auch die Anregung zur Korrespondenz durch die Schriften Müntzers nicht verschwiegen. Die Briefform und der selbst dargestellte Anlaß des Schreibens zeigen, daß es nicht um eine allseits erbauliche Korrespondenz mit einem bekannten Theologen, sondern um einen durch Christus autorisierten Prozeß der Solidarisierung ging. Die Kontaktaufnahme mit den radikalen Reformatoren geschah demnach nicht zum Selbstzweck. Sie sollte vielmehr der Formierung einer alternativen bruderschaftlichen Reformbewegung mit dem Ziel eines klaren theologischen Konsenses dienen. Ob diese weitgehende These zutrifft, muß die Analyse des Textes erweisen. Die Ausführungen beginnen mit einem selektiven Geschichtsrückblick, der die Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte beschreibt, wobei auch die letztlich negative Rolle der Reformatoren erwähnt wird. F. H. Littell sah im „Primitivismus", der eine kritische Sicht der Kirchengeschichte als Geschichte nach dem zweiten Sündenfall einschließt, das entscheidende Denksystem des Täufertums. 65 Darüber kam es Anfang der 70er Jahre zu einer Forschungskontroverse mit H. Hillerbrand. 66

62

Vgl. Punkt 5.2.6 dieser Untersuchung. Zur Bedeutung der Anrede „Bruder" vgl. Oberman, Werden, 296-299. 64 Vgl QGTS I, Nr. 13,11 f. 65 Vgl. Littell, Selbstverständnis, 82 ff. 66 Vgl. G. L. Dipple, Humanists, Reformers and Anabaptists on Scholasticism and Deterioation of the Church, in: MennQR 68,1994,461. 63

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Geschichtsrückblicke gehörten von Beginn an zur Vorstellungswelt der jüdischen und christlichen Apokalyptik. 6 7 Sie wurden seit der Zeit der Alten Kirche über Augustin, das Mittelalter mit Denkern wie Joachim von Fiore bis in die Zeit der Reformation tradiert und neu für die jeweilige Gegenwart gedeutet. Auch Erasmus präsentierte bereits 1518 einen Geschichtsrückblick, der die Kirchengeschichte in fünf Perioden einteilte, wobei der degenerative Charakter des letzten Zeitalters hervorgehoben wurde. 68 Obwohl in den frühen Schriften Zwingiis kaum dezidierte Hinweise auf seine Sicht der Kirchengeschichte als einer „Verfallsgeschichte" vorliegen, wertet Dipple seine Kritik an der Scholastik ab 1521 als Zeichen der zunehmend negativen Bewertung der gesamten kirchengeschichtlichen Entwicklung und resümiert: „Zwingli's criticisms of the papacy in the Archeteles lacked the apocalyptic shrillness of Luther's writings. But his perception that abuses held the upper hand in the church for a thousand years indicated that on the chritical issue of the locus of authority he had moved beyond the Erasmian position."69

In der Korrespondenz Grebels finden sich vor dem Müntzerbrief keine Einlassungen zur degenerativen Deutung der Kirchengeschichte, wodurch die Gegenthese Hillerbrands, die Prototäufer hätten kein Interesse an der Geschichte gehabt, bestätigt wird. 70 Der ausgeführte Geschichtsrückblick im Müntzerbrief erinnert durch einzelne Formulierungen an die Protestation Müntzers, so daß er wohl eher eine Bearbeitung dieser Vorlage als ein genuines Produkt der Zürcher Radikalen darstellt. In seiner Protestation äußerte sich Müntzer dezidiert zum Verlauf der Kirchengeschichte und den Gründen ihres degenerativen Charakters, woraufhin er in einem zweiten Schritt auch zum Gang der Reformation kritisch Stellung nahm. Als Ursache für den Fall der Kirche benannte er ihre falsche Sakramentsfrömmigkeit, die sich u. a. in der Kindertaufe als „unverstandener Taufe" manifestiere. „Die rechte tauffe ist nicht verstanden, darumb ist der eingang zur Christenheit zum vihischen affenspiel worden." 71 Der scharfen Kritik an der katholischen Kirche folgt eine Auseinandersetzung mit dem Kern der reformatorischen Botschaft, der Rechtfertigungslehre. Müntzer kritisiert ihren einseitigen Glaubensbegriff, der die Werke des Glaubens mißachtete. „Des ziels wirt weyt geteylt, so man predigt, der glaub muß uns rechtfertig machen und nicht die werck. Ist ein unbescheidene 67 Vgl. P. Vielhauer; Apokalypsen und Verwandtes, in: K. Koch / J. M. Schmidt (Hg.), Apokalyptik, Darmstadt 1982,405 f. 68 Vgl. Dipple, Humanists, 463. 69 Ebd., 470. 70 In diesem Zusammenhang ist auch interessant, daß Littells Konzept, derzufolge die Täufer ihre Absonderung von der Welt mit dem Fall der Kirche begründeten, auch im Schleitheimer Bekenntnis nicht nachweisbar ist. Der Zusammenhang von Verfallsgeschichte der Kirche und Absonderung wird in den Formulierungen von Schieitheim gar nicht erwähnt. 71 Th. Müntzer, Protestation oder Erbietung, G. Franz (Hg.), Thomas Müntzer. Politische Schriften und Briefe. Kritische Gesamtausgabe (MSB), Gütersloh 1968,228,13.

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rede." 72 Müntzer mahnte die Konsequenzen des Glaubens in der Gestaltung der christlichen Existenz an. In seiner Protestation kämpfte er demnach gegen zwei Fronten, zum einen gegen die katholische Kirche, die durch ihre Sakramentslehre im Gegensatz zur biblischen Lehre existiere, zum anderen gegen das „sola fide" einer forensisch verstandenen Rechtfertigungslehre der Reformatoren. Bis in die Gegenwart hinein ist das problematische Verhältnis von Glaube und Werken, das sich aus dem reformatorischen sola fide entwickelte, einer vielschichtigen Kritik ausgesetzt.73 Müntzer hob in seiner Argumentation vor allem die libertinistische Fehlinterpretation hervor. „Do meinen dann die leuthe in windtfangender weyße selig zu werden und lesen und hören nicht vom anfang zum ende, was man schreybt vom glauben oder wercken und wollen mit viel rhumretigen wortten also gut evangelisch sein. Das ist ein mechtiger, grober, tülpischer yrthum. Das man yn auch möchte greyffen. Noch seint viel leutte ym gunstig, ein frechs leben zu treyben und lassen yn yren schanddecker sein."74

Müntzer forderte in seiner Schrift „Vom erdichteten Glauben", die die Radikalen ebenfalls kannten, nach dem biblischen Zeugnis einen Glauben, der sich im leidenden Gehorsam bewähre. „Es muß nicht ein meytlin daran geprechen des gantzn leben, das ein ider crist durch und durch anzusehen werde und demselbigen nach seinem pfund ader maße auffs höchste gleich zu werden. Dan wer mit Cristo nicht stirbet, kan nicht mit im auffsten." 75

Dieselbe Argumentationslinie findet sich im Geschichtsrückblick des Müntzerbriefes. Zunächst wird die katholische Kirche, die von göttlichen Gebräuchen, göttlicher Liebe und vom christlichen Wesen abgefallen sei, beschrieben. 76 Die falsche Sakramentslehre wird parallel zu den Ausführungen Müntzers als ihre Hauptschuld aufgeführt. „[...] On Got, gsatz und evangelio in menschlichen unnützen unchristlichen brüchen und ceremonien gelebt und darinn selikeit ze erlangen vermeint habend [...]·" 77

Auffallend ist der Begriff „ceremonien", der in Müntzers Protestation mehrfach zur Charakterisierung der Unrechten Sakramentspraxis der katholischen Kirche verwendet wird. Die Apostasie der katholischen Kirche haben nach Meinung der Radikalen die Reformatoren aufgedeckt, was zu ihrem Vorteil festgehalten wird. Aufgrund ihrer rechtmäßigen Kritik an der römischen Kirche werden sie an dieser Stelle ausdrücklich belobigt. Anschließend machten sich die Verfasser die von Müntzer ausgeführte Verurteilung des einseitigen Verständnisses des „sola fide" zu eigen: „also ouch jetzund wil ieder-

72 73

Ebd., 235,29.

Vgl. H. Pöhlmann, Abriß der Dogmatik, Gütersloh 41985,265 f. 74 MSB 236,20. 7 * Ebd., 222 f , 26. 7 * Vgl. QGTS I, Nr. 14,13. 77 Ebd.

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man in glichsendem glauben selig werden, on frücht deß gloubens [ , . . ] " 7 8 Bis dahin entsprechen die Ausführungen den Kerngedanken der Protestation. Ohne Zweifel griffen die Radikalen auf die Urteile Müntzers zurück, bis in parallele Formulierungen hinein. Z u Beginn des Schreibens stellten sie damit eine gemeinsame Basis auf, von der aus sie zu ihren eigenen Vorstellungen übergehen konnten. Die Aufnahme Müntzerschen Gedankenguts könnte man daher, abgesehen von der tatsächlich vorhandenen theologischen Übereinstimmung, auch als bewußte Solidarisierung mit dem Adressaten, vielleicht sogar als Captatio benevolentiae interpretieren. Allerdings gingen die Radikalen in ihrer Kritik an den Reformatoren weit über Müntzers Äußerungen hinaus. Nicht nur der Glaubensbegriff, sondern vor allem die fehlende Reform der Sakramentspraxis erwiesen für sie die Schuld der evangelischen Prediger. Ebenso wie die katholische Kirche beharrten diese in „antichristlichen Bräuchen" der Taufe und des Abendmahls, da sie das göttliche Wort mißachteten. Überschaut man den bisherigen Brieftext, fällt die vielfache Erwähnung der „Gebräuche" bzw. „Zeremonien" ins Auge. Hier lag, wie auch die bisherige Untersuchung gezeigt hat, der entscheidende Punkt der Auseinandersetzung zwischen Zwinglischer und radikaler Reformation. Die fehlende praktische Reform desavouierte die vorher verehrten Lehrer des Evangeliums, die jetzt nur noch als antipäpstliche Prediger bezeichnet werden. Ihr taktisches Vorgehen wird als Grundirrtum vermerkt, in dem auch die Radikalen selbst befangen waren, bis sie zu Schülern der Schrift geworden seien. Hinter dieser Einschätzung verbirgt sich die Erfahrung der Bibelkreise, in denen die Laien in Fragen der theologischen Lehre Kompetenz aus dem gemeinsamen Bibelstudium gewannen, die schließlich zur Emanzipation von ihren reformatorischen Lehrern führte. „In semlicher irrung sind ouch wir gewäsen, die wil wir allein zûhôrer und läser warend der evangelischen predigeren, welche an disem allem schuldig sind, uß verdienst unserer sünden. Nach dem wir aber die gschrift ouch zehand genommen habend und von allerley artiklen besechen, sind wir etwaß bericht worden und habend den großen und schädlichen mangel der hirten, ouch unseren erfunden [...]." 79

M. E. spricht aus diesen Worten das Selbstbewußtsein des Laienkreises, der die Bibel selbst zur Hand genommen hat. Die Sprache in diesem Teil der Ausführungen macht ebenfalls eindeutig Anleihen bei Formulierungen der Protestation Müntzers. Als Kern der Kritik am Vorgehen der Reformatoren nennt der Verfasserkreis das falsche Schonen der Schwachen, das zur Unterdrückung des Wortes Gottes führe. 80 Der Terminus „Schonen der Schwachen" weist auf die in den Kreisen der Radikalen bekannte Schrift Karlstadts hin, deren Publikation 78

Ebd. QGTS I, Nr. 14,14. so Vgl. ebd. 79

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von den Prototäufern unterstützt wurde. 81 Aber nicht nur die Formulierung, sondern auch die theologische Konsequenz, daß durch das Schonen der Schwachen das Wort Gottes unterdrückt werde, zeigt die genaue Kenntnis bzw. Übereinstimmung mit Karlstadts Argumentation. U m das zu verdeutlichen, soll zunächst auf die Hauptaussagen des Traktates eingegangen werden, die m. E. ein Schlüssel für den gesamten Müntzerbrief darstellen. Karlstadt setzte sich in dieser Schrift aus dem Jahr 1524 mit der Position Luthers zur Wittenberger Bewegung von 1521/22 auseinander. 82 Der Zeitpunkt der Reformen sowie die gesamte Reformstrategie waren zwischen Luther und Karlstadt umstritten, da der eine nicht gegen das Gewissen der „Schwachen" vorgehen wollte, um dadurch nicht zum Ärgernis für diese zu werden, während der andere in der Aussetzung von Reformen das eigentliche Ärgernis sah. Karlstadt verstand unter dem Begriff Ärgernis alles, was objektiv im Widerspruch zum göttlichen Gebot stand, wozu auch die traditionelle Gottesdienstgestaltung gehörte. 83 Grundlegend für diese Definition war die Präzisierung seines Schriftprinzips, das in dieser Phase zurecht als bedingungsloser Biblizismus bezeichnet werden kann. 84 Sämtliche Teile der Bibel galten für Karlstadt seit seiner Wende zum radikalen Reformer 1521/22 als „ius divinum", demgegenüber alles andere, was nicht klar in der Schrift ausgesagt wurde, als menschliche Tradition eingestuft und damit von minderem Wert war. Das traditionelle Verständnis des „sola scriptura" trennte Luther schließlich von Karlstadt. „Luthers Forderung, die Schwachen zu schonen, gilt Karlstadt als Zusatz zu Gottes Wort, auch auf Paulus berufe man sich zu Unrecht." 8 5 Die Realisierung des Willens Gottes, wie ihn die Schrift offenbare, durfte s. E. nicht aufgrund der „Schwachen" im Glauben zurückgestellt werden. Dabei gehörten die Gestaltung der gottesdienstlichen Praxis und der äußeren Ordnung auch zur Durchsetzung des göttlichen Rechts, so daß auch hier kein Abwarten geduldet werden konnte. 86 Scharf kritisierte Karlstadt deswegen die Beibehaltung von Meßpraxis und Bilderdienst. 87 „Wan eyner gottis verbott und willen weiß, soll er stracks dem selben nach volgen und weder engeil noch heiligen noch propheten hören, die yhn von gotlichem gebot wellen tzihen, ap sie gleich eynen scheyn hetten guter meynung."88

81 Vgl. Karlstadt, „Ob man gemach faren und des ergernüssen der schwachen verschonen soll in Sachen so gottis willen angehn", in: E. Hertzsch (Hg.), Karlstadts Schriften aus den Jahren 1523-1525, Teil I, Halle 1956,75-97; Bubenheimer, Scandalum, 322. 82 Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 322. 83 Vgl. ebd., 287. 84 Vgl. Bubenheimer, Consonantia, 175. 85 Bubenheimer, Scandalum, 323. 86 Vgl. Bubenheimer, Consonantia, 244. 87 Vgl. Karlstadt t „Ob man gemach faren", in: Hertzsch, Karlstadt Schriften 1,88. 88 Karlstadt, „Von Abtuung der Bilder", in: Laube, Flugschriften, 116,37.

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Das Schonen der Schwachen als Motiv christlicher Nächstenliebe war nach Karlstadt ein „teuflischer Mantel der Bosheit." 89 Dagegen mußte Gottes Recht durchgesetzt werden. „Wir solten den schwachen soliche schedliche dinge nemen und auß iren henden reyssen unnd nicht achten ob sie drumb weinten schryhen oder flüchten." 90 Karlstadts biblischen Rigorismus machten sich die Radikalen zu eigen, indem sie das falsche Schonen der Schwachen im Kontext der Zwinglischen Reformation ebenfalls als Unterdrückung des göttlichen Wortes und Vermischung mit menschlicher Tradition bezichtigten. 91 „ I n semlichem allem bringt daß faltsch schonen, die verschwignung und Vermischung deß gôtlichen Wortes mit dem menschlichen." 92 Daß die Durchsetzung des Willens Gottes für sie über aller taktischen Vorgehensweise stand, aus welch lauterer Gesinnung auch immer sie eingeschlagen werde, zeigt der Fortgang des Schreibens. Die Radikalen hatten sich den Kerngedanken Karlstadts bezüglich des ius divinum, wie es die Schriften des Alten und Neuen Testaments darstellten, angeeignet. Sein Schriftprinzip harmonierte mit ihren Erfahrungen des gemeinsamen Bibelstudiums. Mehr noch: Karlstadt stellte ihre empirisch aus dem selbständigen Umgang mit der Bibel gewonnenen Erkenntnisse auf eine systematisch-theologische Basis, auf der sie ihre Argumentation aufbauen konnten. Müntzer, mit dem sie sich aufgrund seiner offenen Kritik an den Reformatoren solidarisch wußten, ermahnten sie infolgedessen, sich zu ihrer theologischen Grundlage zu bekennen, die sie im Anschluß an Karlstadts Äußerungen formulierten. „Darumb so bittend und ermanend wir dich alß ein brûder by dem namen, kraft, wort, geist und heil, so allen christen durch Jesum Christum unßeren meyster und seligmacher begegnet, wellist dich ernstlich flissen, allein gôtlichs wort unerschroken predigen, allein gôtliche brüch uffrichten und schirmen, allein gûtt und recht schetzen, daß in heiterer clarer geschrift erfunden mag werden, alle anschlâg, wort, brüch und gûtdunken aller menschen ouch din selbß, verwerfen, hassen und verflûchen." 93

Es drängt sich der Eindruck auf, daß diese feierlichen drängenden Worte der Form nach einem Bekenntnis bzw. einer Eidesformel gleichkommen. A n dieser Stelle wird von Müntzer ein Bekenntnis zum exklusiven Schriftprinzip gefordert, wie es die Radikalen in den Schriften Karlstadts vorgebildet fanden. Nach dieser grundlegenden Einleitung, in der die theologische Norm der Radikalen unterstrichen wird, folgen Ausführungen zu einzelnen Kritikpunkten an Müntzers Lehre und zu eigenen Auffassungen verschiedener theologischer Loci wie z. B. Abendmahl, Taufe und Liturgie, aus denen sich das theologische Programm der Radikalen heben läßt. 89

Vgl. Karlstadt, „Ob man gemach faren", in: Hertzsch, Karlstadt Schriften 1,88. Vgl. ebd. 9 1 Vgl. QGTS I, Nr. 14,14. 92 Ebd. 93 Ebd. 90

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5.2.3 Kirchengesang und Liturgiereform Im Schreiben an Müntzer nimmt die Auseinandersetzung um die Liturgie, speziell den Kirchengesang, breiten Raum ein. Die Radikalen wiederholten hier ihre kritische Position zum gottesdienstlichen Gesang, die sich bereits anläßlich Zwingiis Versuch über den Meßkanon manifestiert hatte. 94 Hier wandten sie sich gegen die Einführung neuer deutscher Gesänge durch Müntzer, von der sie nun Kenntnis erhalten hatten. In ihrer Ablehnung liturgischer Gesänge erwiesen sich die Radikalen zunächst als treue Schüler ihres Lehrers Zwingli. Auf der zweiten Disputation und in seinen Schriften zum Meßkanon vertrat er generell eine negative Haltung zur Kirchenmusik, wodurch u. a. eine parallele Entwicklung des evangelischen Gemeindegesanges entsprechend der lutherischen Reformation in Zürich verhindert wurde. 95 Als zentralen neutestamentlichen Beleg gegen den Kirchengesang verwies Zwingli wiederholt auf Kol 3,16, wo vom „Singen im Herzen" die Rede ist. 96 Als weiteren Schriftbeweis zieht er in Abhängigkeit von Erasmus IKor 14,19 sowie Eph 5,19 hinzu. 97 Alle Schriftstellen begegnen in den Ausführungen des Müntzerbriefs gegen die Einführung deutscher Gesänge in der Liturgiereform Müntzers. Die Radikalen bewegten sich damit durchaus im Rahmen Zwinglischer Argumentation, so daß diese Auslegung allein keinen Nachweis für ihren besonders rigorosen Biblizismus darstellt. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang jedoch der die Argumentation begründende „Lehrsatz": „waß wir nit gelert werdend mit claren Sprüchen und bispilen, sol unß alß wol verbotten sin, als stûnd eß geschriben: daß tu nit, sing nit." 9 8 Diese weitgehende Formulierung ist die negativ gewendete Seite des radikalen Schriftprinzips, das die gesamte Bibel mit dem göttlichen Recht identifizierte. Nur das ist ius divinum und darum verbindlich, was klar in der Schrift ausgesagt ist. Diesen Grundsatz hatte Karlstadt auf das Ablaßwesen angewendet, das sich für ihn dadurch als menschliche Institution erwies. 99 In gleicher Weise verwarfen die Radikalen jeglichen Gesang im Gottesdienst, weil er in der Schrift nicht klar geboten, mehr noch, nach ihrer Erkenntnis ausdrücklich kritisiert werde. Die Radikalen übernahmen zum großen Teil die Argumentation Zwingiis gegen den Kirchengesang, verknüpften sie jedoch mit dem Schriftprinzip, das sie aus Karlstadts Schriften entnommen hatten. Beide, Müntzer und Karlstadt, vertraten aus je eigener theologischer Entscheidung die Einheit von Altem und Neuen Testament, worin die Radikalen

94

Vgl. Punkt 4.5 dieser Untersuchung. Vgl. M. Jenny; Zwingiis Stellung zur Musik im Gottesdienst, Zürich 1966,8 ff. 9 * Vgl. ebd., 10.19. 97 Vgl. ebd., 32. 98 QGTS I, Nr. 14,15. 99 Vgl. Bubenheimer, Consonantia, 170. 95

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ihnen nachfolgten. 100 „Christus heißt sine botten allein daß wort uß predigen in altem gar nach und nüwem Testament [...]." 1 0 1 Die alleinige Orientierung an der Schrift als Richtschnur für die Änderung der Gottesdienstgestaltung wird gegen Müntzers und Luthers Liturgiereform hervorgehoben. Der Duktus der Argumentation gegen die Gottesdienstreform Müntzers erinnert bis in Formulierungen hinein an Karlstadts Ausführungen über das Schonen der Schwachen. Unter dem sechsten Punkt mahnten die Radikalen unter Verweis auf Dtn4,2, nichts zum göttlichen Wort hinzuzufügen bzw. davon abzustreichen. 102 Mit denselben Worten argumentierte Karlstadt u. a. gegen die Beibehaltung von Bildern. 1 0 3 Dem von deuteronomistischer Theologie geprägten Schriftbeweis Karlstadts entspricht die Gleichsetzung von „Wort" und „Geist" Christi, die in den Müntzerbrief eingegangen ist. „Wilt du die meß abtûn, mûsz nit mit tütschen gsang geschechen, daß din ratschlag fillicht oder von dem Luther her ist. Sy müß mit dem Wort und uffsatz Christi uß gerüttet werdend." 104 Die Gottesdienstreform, die von den Radikalen vehement gefordert worden war, sollte demnach in Übereinstimmung mit Karlstadt allein nach dem biblischen Zeugnis durchgeführt werden.

5.2.4 Abendmahlslehre Die Ausführungen zum Abendmahl orientieren sich gemäß dem Schriftprinzip an den neutestamentlichen Kernstellen der Evangelienberichte und der Überlieferung im 1. Korintherbrief. M. Brecht stellte in seinem Aufsatz zur Taufanschauung der Schweizer Täufer fest, daß sie in der Abendmahlslehre weitgehend mit Zwingli übereinstimmten, wobei auch die praktischen Konsequenzen zur Reform eingeschlossen seien. 105 Bereits 1956 hatte Fast die Theologie der Täufer einer genauen Analyse hinsichtlich ihrer Abhängigkeit von Luther, Zwingli und Erasmus unterzogen. 106 Auch er vertritt darin die Ansicht, daß die gesamte Abendmahlslehre der Radikalen von Zwingli stammte. „Indeed, the formulations agree so minutely that the first glance shows that it is no question of a possibility of Zwingli's being the source of loo Vgi 5 Bräuer /W. Ullmann (Hg.), Thomas Müntzer. Theologische Schriften aus dem Jahr 1523, Berlin 2 1982,20; Bubenheimer, Scandalum, 326; ders., Consonantia, 244. ιοί QGTS I, Nr. 14,15. 1°2 Vgl. ebd., 15. 103 Vgl. Karlstadt, „Ob man gemach faren", in: Hertzsch, Karlstadt Schriften 1,86 f. QGTS I, Nr. 14,15. los Vgl M. Brecht, Herkunft und Eigenart der Taufanschauung der Zürcher Täufer, A R G 64,1973,149. 106 Vgl. H. Fast, The Dépendance of the First Anabaptists on Luther, Erasmus and Zwingli, in: MennQR 30,1956,104-119.

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Grebel's ideas, but of the certainty that he was that source." 107 I m Anhang seiner Untersuchung bietet Fast eine Synopse verschiedener Schriften Zwingiis zum Abendmahl sowie dem Müntzerbrief, die eine ζ. T. wörtliche Übereinstimmung belegt. Dieser Befund zeigt, daß der Zentralgedanke über das Abendmahl als ein gemeinschaftsstiftendes Ereignis - festgehalten in der Formulierung: „Mahl der Vereinbarung" - direkt von Zwingli übernommen wurde. Die Konzeption Zwingiis bezüglich des Abendmahls als Gedächtnis-, Gemeinschafts- und Bekenntnismahl, die, wie Locher zurecht feststellt, im Gegensatz zu Luther von der Gemeinde und nicht von Christus als handelndem Subjekt des Mahles ausgeht, 108 wurde ohne Zweifel von den Radikalen rezipiert. Schon in den frühen Schriften Zwingiis lassen sich Hinweise auf den für ihn bedeutsamen Gemeinschaftscharakter des Abendmahls finden. 109 I m Archeteles (1522) argumentierte er gegen die traditionelle Form der communio sub una, da sie den Gedanken der eucharistischen Gemeinschaft (synaxis) widerspräche. 110 Die Betonung der Mahlgemeinschaft zeigt sich auch darin, daß die gnadenhafte Anwesenheit Christi in den Elementen vom Glauben der Teilnehmenden abhängig gemacht wird 1 1 1 , so daß Locher von einer „anamnetischen Realpräsenz" sprechen kann. Alle Wirksamkeit der Eucharistie ist für Zwingli vom Glauben der Kommunikanten abhängig und von der vollzogenen Handlung. Eucharistie findet demnach nur in usu statt. 112 Die Entwicklung des Gemeinschaftsgedankens in der Abendmahlslehre Zwingiis führt Bosshard auf den Einfluß erasmischer Theologie zurück. 113 Für Erasmus mußte sich die Eucharistiegemeinschaft in einer Lebensgemeinschaft bewähren, in der die Liebe Christi durch die A r t und Weise des Umgangs miteinander offenbar würde. 114 Ein Schreiben Zwingiis aus dem Jahr 1524 weist erstaunlich weitgehende Parallelen zum Münzerbrief auf, so daß es diesem wohl als Vorlage gedient hat. Es handelt sich um Zwingiis Ausführungen vom Mai 1524 zur Bilderfrage und Meßreform. 115 Zwingli bezeichnete hierin, ausgehend von I K o r 10,16-17, das Abendmahl als „innerliche und usserliche vereimbarung der Christenmenschen" 116 . U m sich gegenseitig den Glauben zu bekennen, nimmt man als 107

Ebd., 113. Vgl. Locher, Reformation, 290.296. 109 Vgl. S. N. Bosshard, Zwingli - Erasmus - Cajetan, Wiesbaden 1978,13. 110 Vgl. ebd.; Locher, Reformation, 284. 111 Vgl. Locher, Reformation, 287. 112 Vgl. ebd., 288; Bosshard, Zwingli, 17. 108

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Vgl. Bosshard, Zwingli, 14 f. 114 Vgl. ebd., 14. 115 Vgl. Fast, Dépendance, 113. 116 Ζ I I I , 124.

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Glaubender an der Mahlfeier teil. Die Mahlgemeinschaft ist ein Zeichen der christlichen Einheit und Bruderschaft. 117 Das Ziel der Einsetzung des Abendmahls durch Christus sah Zwingli nach Ausweis dieser Schrift in der sichtbaren Vereinigung der Christen. 118 Daher sollte dem Mahl eine Selbstprüfung des einzelnen vorausgehen, in der man sich vergewissern sollte, ob man zu dieser brüderlichen Einheit bereit sei. „Denn so bedeuchend und ernüwerend wir alle mit einanderen die brûderschaft, die wir einanderen in Christo habend, innerlich und sichtbarlich." 119

Das gemeinsame Mahl verpflichtet nach Zwingli gleichzeitig zur liebenden Solidarität mit dem Bruder nach dem Vorbild Christi: „Also sind ouch wir schuldig, einer sich für den anderen ze geben als für sinen brûder, ja, als für sin eigen glid." 1 2 0 Besonders an dieser Stelle wird der erasmische Einfluß auf Zwingiis Abendmahlsverständnis deutlich. Im Blick auf den Müntzerbrief fällt auf, daß die theologische Bedeutung des Abendmahls auf den Gemeinschaftscharakter reduziert wird, während die Problematik des Meßopfers, die Kontroverse um Gedächtnismahl oder Realpräsenz Christi nicht entfaltet werden. Zur äußeren Gestaltung des Abendmahls werden jedoch viele Anweisungen gegeben. Beide Beobachtungen, das große Interesse an der konkreten Neugestaltung der Messe sowie die Konzentration auf den Gemeinschaftscharakter des Mahles, führen zum eigentlichen Anliegen des prototäuferischen Kreises. Bei der theologischen Grundlegung der Abendmahlslehre, die den Gemeinschaftscharakter der Mahlfeier in den Mittelpunkt rückt, machten die Radikalen eindeutig Anleihen bei der Zwinglischen Konzeption, wie ein Vergleich mit der oben skizzierten Darlegung beweist. Das Abendmahl erhielt im Müntzerbrief den programmatischen Titel: „Mahl der Vereinbarung"- also Gemeinschaftsmahl (Punkt 10.13). 121 Die Teilnahme am Mahl verbürgt im Glauben das Einverleibtwerden in Christus und die Gemeinschaft mit den Brüdern (Punkt 16). Z u dem Essen „im Geist" nach Joh 6 tritt die Liebe als unveränderliches Konstitutivum der Eucharistie (Punkt 16). Glaube und brüderliche Liebe müssen der Mahlfeier als Prämisse für den Freudencharakter des Abendmahls vorausgehen (Punkt 17). Wahrscheinlich ist hierbei an ein Bekenntnis vor der Kommunion gedacht, das bezeugt, daß der Betreffende zu seinen Brüdern in einer versöhnten Beziehung steht. 122 Das gemeinsame Mahl in der Gemeinde verdeutlicht die Einheit des Leibes Christi nach I K o r 10,16-17 (Punkt 17). Das Fehlen brüderlicher Liebe - nicht in erster Linie des Glaubens - galt da117 "β 119 120

Vgl. ebd., 125. Vgl. ebd., 126. Ebd., 125. Ebd., 126.

121 Vgl. QGTS I, Nr. 14,15 [„nachtmal der vereimbarung"]. 122 Vgl. Barge, Karlstadt, Bd. 1,455.

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gegen als Zeichen eines unwürdigen Teilnehmens, da es die innere und äußere Einheit der Gemeinde beschädigt (Punkt 18). Mangelnde brüderliche Liebe verhindert darüber hinaus das notwendige wahre Gedächtnis des Kreuzestodes Jesu (Punkt 19). Wahres Gedächtnis aber befähigt zum Leben und Leiden für Christus und die Brüder (Punkt 19). Die Ablehnung von Privatmessen wird konsequent damit begründet, daß das Abendmahl ein Mahl der Gemeinschaft ist (Punkt 20). Keiner dürfe deshalb allein Abendmahl halten und dabei das Brot der Gemeinschaft gebrauchen bzw. mißbrauchen (Punkt 20). Das Abendmahl soll nicht ohne die Anwendung von Gemeindezucht nach M t 18 gefeiert werden, die als konstitutives Element der Feier angesehen wird (Punkt 23). Diese Aufzählung belegt m. E. hinreichend, daß der Schwerpunkt auf dem Gemeinschaftsaspekt der Eucharistie lag. Ihm ist im Müntzerbrief der Verkündigungs- bzw. Bekenntnischarakter eindeutig untergeordnet. Mit Zwingli vertraten die Radikalen, daß der Glaube unabdingbare Voraussetzung für die rechtmäßige Teilnahme an der Mahlfeier war, und wandten sich daher eindeutig gegen jede Form des Sakramentalismus. Die aufgeführten Bibelstellen, die zum Beweis herangezogen werden, begegnen in derselben Reihenfolge auch bei Zwingli. Parallel zur Konzeption Zwingiis bekennen sich die Radikalen zur freudigen Grundstimmung des Mahles (Punkt 17). Die aufgezeigten Gemeinsamkeiten lassen keinen Zweifel daran, daß die Prototäufer in der Abendmahlslehre weitgehend mit Zwingli übereinstimmten und seine theologischen Definitionen und Argumentationsreihen übernahmen. Ähnlich wie in der Frage des Kirchengesangs sahen die radikalen Kreise keine Schwierigkeiten, den theologischen Konsens mit Zwingli festzuhalten. Die Frage ist jedoch, ob andere Akzentuierungen bzw. fremde Einflüsse festzustellen sind, die gegen die Annahme sprechen, daß die Radikalen in der Abendmahlslehre, wie sie im Müntzerbrief in komprimierter Form begegnet, ausschließlich von Zwingli abhängig waren. Wie bereits die Untersuchung der Einleitung zeigte, bildete die Abschaffung der „antichristlichen Bräuche", die die Radikalen von den Reformatoren ohne Erfolg einklagten, neben den konzedierten theologischen Konvergenzen mit Zwingli, einen weiteren Schwerpunkt des Briefes. Fast führte die Differenzen zwischen Zwingli und seinen Schülern letztendlich auf die unterschiedlichen Konsequenzen aus der gemeinsamen spiritualistischen Tendenz ihrer Theologie zurück. 123 Die Täufer stimmten mit Zwingli darin überein, daß sie „zwischen Äusserem und Innerem im Hinblick auf das Wort Gottes, die Kirche, die Bilder, die Messe, die Taufe, die Kirchenzucht und dem christlichen Gehorsam" 124 unterschieden. Das führte zur generellen Abwertung der bestehenden Sakramentspraxis sowie zur Absicht, die „Neuordnung der 123 Vgl. Fast, Wahrheit, 26 ff. 124 Ebd., 26.

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äusseren Verhältnisse aus ihrem ursprünglich gemeinten Wesen herzuleiten." 1 2 5 Wie bereits anhand der vorausgegangenen Untersuchung deutlich geworden ist, bedingte die spiritualistische Unterscheidung bei Zwingli eine Abwertung der äußeren Ordnungen, so daß Reformen im sozialen Bereich (Zehntfrage), aber auch in der Bilderfrage und in der Gottesdienstgestaltung, der Obrigkeit überlassen werden konnten. Eben diese theologischen Konsequenzen, die mit der realpolitischen Einstellung Zwingiis harmonierten, hielten seine früheren Anhänger für verwerflich. Ausgehend von ihrem rigoristischen Schriftprinzip, sollte auch die äußere Form liturgischer Handlungen unter die Richtschnur des göttlichen Wortes gestellt werden. Weil hier der eigentliche Dissens zu ihrem Lehrer lag, mit dem sie in der theologischen Konzeption weiterhin übereinstimmten, der sie aber in der konsequenten Durchsetzung der Reformen aus theologischen und politischen Gründen nicht unterstützte, konzentrierten sie sich in diesem Brief auf Vorschläge zur schriftgemäßen Erneuerung der liturgischen und sakramentalen Praxis. Als Beweis für diese These kann auf das Auftreten Zwingiis gegenüber seinen radikalen Schülern anläßlich der zweiten Disputation verwiesen werden. 126 Bereits dort hatte Grebel Zwingli mit konkreten Fragen über Details der Abendmahlspraxis, die der Reformator als periphere Anliegen der Autorität der Einzelgemeinde übertrug, konfrontiert. Als Vorbild für die ausgeführten Neuerungsvorschläge im Müntzerbrief läßt sich m. E. die evangelische Messe Karlstadts in der Wittenberger Bewegung sowie seine Abendmahlsschriften von 1523/1524 mit einiger Sicherheit ausmachen. 127 Grundlegend für alle Reform war die akribische Ausrichtung am Wortlaut der Heiligen Schrift, die gemäß dem Schriftprinzip Karlstadts auch für die äußeren Ordnungen Geltung haben sollte. In Karlstadts Dialogue zum Abendmahl findet sich immer wieder der stereotype Hinweis auf den fehlenden Schriftbeweis u. a. für das sakramentale Verständnis der Eucharistie, für die Realpräsenz Christi in den Elementen, für die Konsekration und für das Tabernakel. 128 Der Hauptvorwurf gegen die fiktiven Gegner ist, daß 125 Ebd. 126 Vgl Punkt 4.6 dieser Untersuchung. 127 Auch Pater geht von einem weitgehenden Einfluß Karlstadts auf die radikalen Kreise in dieser Frage aus. Vgl. Pater, Karlstadt 134 ff.; Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlin von dem grewlichen unnd abgöttischen mißbrauch des hochwirdigen sakraments Jesu Christi." 1524, in: E. Hertzsch (Hg.), Karlstadts Schriften aus den Jahren 1523-25, Teil II, Halle 1957, 7-49; eine neuere Untersuchung zur Abendmahlslehre Karlstadt erwähnt Looß, Karlstadt, 17: R. Ponander, Die Abendmahlslehre des Andreas Bodenstein von Karlstadt in den Jahren 1521-1524. Die Kritik an der Realpräsenz durch Karlstadt, untersucht vor dem Hintergrund der Chorismus-Problematik, Diss.theol Greifswald 1994. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, daß Karlstadt grundsätzlich zwischen Sache und Zeichen, Innerem und Äußerem unterscheide und die Lehre von der Realpräsenz ablehne. m Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlein", in: Hertzsch, Karlstadtschriften II, 12.13.24.37.41.44.49.

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sie etwas zu der Schrift hinzufügen oder weglassen. Die Dominanz des alles entscheidenden Schriftprinzips wird im Dialogus besonders deutlich. Das Abendmahl wird im Müntzerbrief nicht ein einziges Mal mit den traditionellen Begriffen „Messe" oder auch „Sakrament" bezeichnet, die sich für Karlstadt als unbiblische Begriffe erwiesen hatten. 129 Im Dialogus zum Abendmahl finden sich bei Karlstadt längere Ausführungen über den s. E. unangemessenen Gebrauch des Begriffs „Sakrament", das weder von Christus selbst, noch von den Aposteln verwendet worden sei. 130 In ähnlicher Tendenz werden im Müntzerbrief die im Abendmahl handelnden Personen nicht länger als „Priester" oder „Pfarrer", sondern nur als „Diener aus der Gemeinde" bezeichnet 131 , wohl um jedwede Anerkennung eines Amtsträgers bzw. seiner besonderen Weihe zu vermeiden. Auf der zweiten Disputation war bereits die Opposition gegen die angemaßte Autorität des sakramentsspendenden Klerus von Grebel zum Ausdruck gebracht worden, indem er die selbständige Einnahme von Brot und Wein durch die Kommunikanten forderte. 132 Auch in dieser Hinsicht kann die evangelische Messe Karlstadts als Vorbild ausgemacht werden, in deren Ordnung die selbständige Einnahme der Elemente vorgeschrieben war. Gegen das Vorrecht des Klerus zur Spendung der Sakramente verwahrte sich Karlstadt, indem er jedem Christen zubilligte, Brot und Wein selbst zu ergreifen und zu sich nehmen zu können. 133 Der Kreis der Zürcher Radikalen votierte für die Einführung von Brot anstelle der traditionellen Hostien sowie für die Verwendung alltäglichen Geschirrs. 134 Karlstadt hatte zuvor herausgestellt, daß Christus selbst gewöhnliches Brot für das letzte Mahl benutzt habe, und verurteilte die in Gebrauch stehenden Oblaten aufgrund des eingeprägten Christusbildes als „abgöttisches Brot". 1 3 5 Auch der Gebrauch von gewöhnlichen Gefäßen bei der Abendmahlsfeier war bereits von Karlstadt praktiziert worden. 136 Diese Veränderungen wie auch die Abschaffung von Meßgewändern, des vorbereitenden Fastens und der Beichte, ferner das Unterlassen des Kreuzschlagens und 129 Vgl. Pater, Karlstadt, 150. 130

Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlein", in: Hertzsch, Karlstadtschriften II, 9 ff. 1 31 Vgl. Die Ausführungen zum Pastorenbild von Jakob Strauß. Vgl. Punkt 5.2.5 dieser Untersuchung. 132 Vgl. Punkt 4.6 dieser Untersuchung. Karlstadt äußerte ebenfalls Kritik an der besonderen Stellung der Priester während der Mahlfeier. Vgl. Barge, Karlstadt, Bd. II, 174; Vgl. Ausführungen zu J. Strauß, Punkt 5.2.5 dieser Untersuchung. 1 33 Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlein", in: Hertzsch, Karlstadts Schriften II, 33. 1 34 Vgl. QGTS I, Nr. 14,15. 1 35 Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlein", in: Hertzsch, Karlstadts Schriften II, 46; vgl. Barge, Karlstadt II, 86; Pater, Karlstadt, 157; 1 36 Vgl. Pater, Karlstadt, ebd.

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der Elevation der Elemente verdeutlichen Karlstadts Intention, das Abendmahl der ursprünglichen Form anzunähern, in der Christus es zelebriert habe. 137 Bereits auf der Wittenberger Disputation im Oktober 1521 plädierte Karlstadt, der dort noch als durchaus moderater Reformbefürworter auftrat, für die größtmögliche Angleichung der Abendmahlsfeier an die Evangelienberichte. 138 Aufgrund seines späteren radikalen Biblizismus , forderte er die unbedingte Einführung des Mahles unter beiderlei Gestalt, wobei er sogar denjenigen, die nur das Brot zu sich nahmen, bewußtes und aktives Sündigen vorwarf. 139 U m sich den biblischen Berichten weiter anzupassen, verlangte Karlstadt, daß die Kommunikanten den Kelch selbst in die Hand nahmen, während - wohl zur Vermeidung von situativer religiöser Befangenheit - zunächst auf das selbständige Einnehmen des Brotes verzichtet wurde. 140 Karlstadts Einstellung gegen ein Sakramentsverständnis „ex opere operato" brachte er auch in bezug auf das Abendmahlsbrot zum Ausdruck, dem er keinerlei materiale Besonderheit zumaß. Vehement wandte er sich gegen die Konsekrierung der Elemente und gegen die Lehre von der Realpräsenz Christi. 1 4 1 In dieser Frage stellte er sich bewußt auch gegen das lutherische Abendmahlsverständnis. Die Einführung einer schriftgemäßen einfachen Mahlfeier durch Karlstadt, die für die Kommunizierenden verständlich und von jedem Bezug auf den Opfercharakter der Messe gereinigt war, konnte daher zum gültigen Paradigma der Radikalreformer in Zürich werden. Ihre Begründung für die Verwendung einfachen Brotes weist auf die von Karlstadt als Götzendienst bezeichneten Gebrauch von Hostien hin. „Eß sol ein gmein brot sin, on gôtzen und zûsatz." 142 Ebenso stimmten die Radikalen mit Karlstadt darin überein, daß das äußere Zeichen von der inneren Bedeutung ablenken könne. 143 Schon 1521 hatte sich Karlstadt gegen die Anbetung der Abendmahlselemente ausgesprochen. „Hätte Christus Lust und Gefallen gehabt, daß wir Brot und Wein mit Augen, Kniebiegen, mit Küssen und Umtragen sollten ehren, er wäre wohl so klug und

137 Vgl. Barge, Karlstadt II, 173. 138 Vgl. Neuser, Melanchthon, 305. 1 39 Vgl. Bubenheimer, Scandalum, 286; Barge, Karlstadt I, 320.338. 1 40 Vgl. Neuser, Melanchthon, 156 f.; Sider vertritt hier eine andere Ansicht. Er schreibt über die erste Feier des reformierten Abendmahls in Wittenberg: „Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, als er den Laien erlaubte, das Brot und den Kelch in die eigenen zitternden Hände zu nehmen, anstatt ihnen die Oblate in den Mund zu schieben. Dieser Bruch mit einem Jahrhunderte alten Brauch schreckte einen furchtsamen Laien so sehr, daß dieser seine Oblate fallen ließ und unter einem Schock nicht fähig war, sie wieder aufzuheben" (Sider, Karlstadt, 22). 1 41 Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlein", in: Hertzsch, Karlstadts Schriften II, 18 ff., 24 f., 32.41 u. ö. "2 QGTS I, Nr. 14,15. 1« Vgl. ebd., Punkt 15.

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mitteilsam gewesen, daß er uns dasselbe nit verborgen hatte." 1 4 4 Obwohl sich Karlstadt zu diesem frühen Zeitpunkt noch zur Realpräsenz Christi in den Elementen bekannte, verwarf er die Anbetung der Zeichen remota fide. „Der Glaube allein schafft die innere geistige Vereinigung mit Christus." 145 Der Punkt 16 des Müntzerbriefs spiegelt m. E. wiederum theologische Bruchstücke der frühen Abendmahlslehre Karlstadts wider. Erneut wird die falsche Anbetung der Elemente verworfen, die bereits durch die Einführung gebräuchlichen Geschirrs vermieden werden könnte, und es so zum rechten Erkennen und Verstehen des Mahles komme. Das Brot bliebe Brot, im Glauben aber sei es der Leib Christi. In diesem Sinne hatte Karlstadt in seinen Disputationsthesen vom 17. Oktober 1521 ausgeführt, daß das Brot stets Brot bliebe, obwohl er sub conditione fidei die Gegenwart Christi in den Elementen festzuhalten suchte. 146 Als biblischen Beweis verwendete Karlstadt mehrfach die sogenannte „Brotrede" aus Joh 6 und die darin enthaltene Selbstaussage Jesu, er sei das lebendige Brot aus dem Himmel, die auch im Müntzerbrief als Schriftbeleg begegnet. 147 In einer späteren Schrift kommt Karlstadt auf das gemeinschaftsstiftende Ereignis im Abendmahl zu sprechen: „Demnach ist das Gedächtnis und Erkenntnis und Verstand des Leibes und Bluts Christi der rechte Grund und ein gründlich Band der Gemeinschaft des Brots und Kelchs Christi und wir sind darum ein Brot und ein Kelch, daß wir ein Brot brechen, aus einem Kelch trinken in Gedächtnis, Erkenntnis und Bekenntnis Christi, der seinen Leib in den Tod gegeben und sein Blut vergossen hat um unsrer Sünden willen." 148

Bereits hier wird die Vereinigung der kommunizierenden Glaubenden zu einem Leib dem gemeinsamen Mahl zugeschrieben. Karlstadts Auslegung zu I K o r 10,17 bringt diese Auffassung noch einmal auf den Punkt. „Demnach spricht Paulus auch, ,Wir seind alle ein brot, die von eynem brott essen4, alsso ist uns der herr genent, oder tzu eynem namen, das wir ein brott, ein leyb, ein christlicher hauff seind." 149 144 Karlstadt, „Von der Anbettung und ererbietung der tzeychen des newen Testaments", Wittenberg, 1. November 1521, in: Barge, Karlstadt I, 329. Vgl. R. Ponander, „Caro nihil prodest. Joan. vi. Das fleisch ist nicht nutz / sonder der geist." Karstadts Abendmahlsverständnis in der Auseinandersetzung mit Martin Luther 1521-1524, in: S. Looß, / M. Matthias (Hg.), Andreas Bodenstein von Karlstadt (1486-1541). Ein Theologe der frühen Reformation, Wittenberg 1998,224 f. 145 Barge, Karlstadt, 329. 1 46 Vgl. ebd., 336. 147 Der Hinweis auf Joh 6 könnte auch von Zwingli stammen, für den die Auslegung dieser Schriftstelle eine große Bedeutung hatte. Die antisakramentale Deutung der Elemente gehört ebenso zur Konzeption Zwingiis. „Brot ist Brot und Wein ist Wein; die Bezeichnung als Leib und Blut des Herrn ist in übertragenem Sinne, uneigentlich, ,katachretisch' zu verstehen." (Locher, Reformation, 288). Zur Auslegung von Joh 6: vgl. Ponander; Karstadts Abendmahlsverständnis, 225. 148 Karlstadt, „Ob man mit heiliger Schrift", Barge, Karlstadt II, 164. 149 Karlstadt zit. nach: Pater, Karlstadt, 157.

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Eine weitere Übereinstimmung zur Abendmahlslehre des Müntzerbriefs besteht darin, daß im Anschluß an Joh 6 die Kommunion vor allem „ i m Geist" und „in der Liebe" zu vollziehen sei. 150 Karlstadt schrieb dazu: „Welcher nu das Leben in dem Fleisch und Blut Christi begehrt zu schöpfen, der muß in dem Geiste den erhöhten Christum an dem Kreuze als ein Speise und Trank suchen und nit in dem Sakrament." 151

Für Karlstadt wie für die Radikalen ist das Mahl nach erfolgter Prüfung 152 , ob man des wahren Gedächtnisses fähig ist bzw. ob Glaube und brüderliche Liebe vorhanden seien, ein Freudenmahl. 153 Bereits in seinen frühen Schriften sah Karlstadt die Anwendung von Gemeindezucht nach M t 18 - anstelle des üblichen Schuldbekenntnisses - als Voraussetzung für das Abendmahl vor. 1 5 4 Gerade diese Vorordnung der Gemeindezucht findet sich breit ausgeführt im Müntzerbrief. Ferner plädierten die Radikalen ebenso wie Karlstadt, aber auch wie die anderen Reformatoren, eindeutig gegen sogenannte Privat- bzw. Stillmessen. Als letzte augenfällige Gemeinsamkeit ist festzuhalten, daß Karlstadt ebenso wie die Radikalen eine schriftgemäße zeitliche Ansetzung des Mahles erwog, ohne sich auf eine Fixierung auf die Abendzeit festzulegen. 155 Nach diesem Befund ist Pater Recht zu geben, daß die Abendmahlspraxis und -lehre Karlstadts entscheidenden Einfluß auf die radikalen Kreise ausgeübt hat. Dies gilt unbeschadet der methodologischen Problematik der Belege bei Pater, der ζ. T. Karlstadts spätere Schriften, die nach der Abfassung des Müntzerbriefes erschienen sind, als Beweismittel anführt. Ohne Zweifel wurden in bezug auf die Abendmahlslehre bisher die Parallelen der Prototäufer zu Karlstadt in der Forschung zu wenig wahrgenommen, wobei einseitig eine Abhängigkeit von Zwingli konstatiert wurde. Bei aller Übereinstimmung mit Karlstadt und Zwingli bleibt zu fragen, wie das Proprium der Prototäufer in der Abendmahlslehre beschrieben werden kann, falls es ein solches überhaupt gegeben hat. Wie bereits dargelegt, waren die Radikalen in bezug auf die Abendmahlslehre weitgehend von Zwingli abhängig. In den schriftgemäßen praktischen Konsequenzen der neuen Abendmahlspraxis lehnten sie sich an die Refor150

Vgl. QGTS I, Nr. 14,15. Hier herrscht auch Übereinstimmung mit Zwingli. Karlstadt, „Auslegung dieser Worte"; Barge, Karlstadt II, 169. 152 Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlin", in: Hertzsch, Karlstadts Schriften II, 28. 1 53 Vgl. QGTS I, Nr. 14,15; Barge, Karlstadt II, 172. 154 Vgl. Pater, Karlstadt, 158; Barge, Karlstadt 1,455. In seiner Erklärung von lKor 10 führt er über die notwendige Gemeinschaft der Gläubigen aus: „Darumb müssen wir ee gemeinschafft haben mit dem leyb unnd blut Christi, ee wir das brot und den kelch Christi genyesen, und unser gemeinschafft steet gar und gantz in der lieb, in erkanntnuß oder im glauben Christi." Karlstadt, „Erkärung von 1. Kor 10", in: Laube, Flugschriften, 63,37. 155 Vgl. Pater, Karlstadt, 157; Bubenheimer, Scandalum, 286. 151

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men und das theologische Programm Karlstadts an. Z u der zweifellos vorhandenen theologischen Übereinstimmung mit Zwingli trat unübersehbar die Rezeption des biblizistischen Ansatzes Karlstadts, der auf schriftgemäße Reformen der äußeren Ordnungen und Liturgie abzielte. Die Verschmelzung beider theologischen Konzeptionen schuf den Nährboden zum offenen Bruch mit dem Zürcher Reformator. Abgesehen davon ist die ausschließliche Konzentration der inhaltlichen Deutung des Abendmahls auf den Gemeinschaftsaspekt signifikant. Sie ist m. E. auf die ekklesiologische Orientierung des Zürcher Kreises zurückzuführen. Nicht auszuschließen ist, daß sich hierin erasmisches Gedankengut, vermittelt durch Castelberger, als normierend erwies. Diese These gilt es anhand der weiteren Erarbeitung des Müntzerbriefs zu prüfen.

5.2.5 Zu Zehntfrage, der Aufstellung von Tafeln und dem Verhältnis zu Jakob Strauß Nach der ausführlichen Stellungnahme zur Praxis des Abendmahls werden im Fortgang des Schreibens, in einem exkursartigen Zwischenteil, verschiedene Themen angesprochen, über die der Verfasserkreis informiert worden war bzw. die dieser an Müntzers Reformprogramm kritisierte. Zunächst hoben sie jedoch erneut die hohe Bedeutung Müntzers und Karlstadts für ihren Kreis als „reinisten ußkünder und prediger deß reinisten gôtlichen Wortes" hervor. Die Radikalen ermahnten Müntzer im Anschluß an diese Lobrede, sich von der Finanzierung durch Pfründen und Zehntabgabe zu trennen. In diesem Zusammenhang wurden ganz offensichtlich Vorstellungen wiederholt, die bereits im Zehntenstreit thematisiert worden waren. Der „Hirte" sollte demnach ausschließlich durch die Gemeinde unterhalten werden. 156 Die Verfasser hatten demnach keine Kenntnis davon, daß Müntzer sich bereits seit 1522 von dem Pfründenwesen distanziert hatte und von der Gemeinde in Allstedt unterstützt wurde. 157 Im Anschluß an die kurzen Thesen zum Zehnten und zu den Pfründen wird die Beziehimg zu dem Eisenacher Prediger J. Strauß erwähnt, von dem sich die Radikalen viel erwarteten. 158 Näheres über einen geplanten oder vollzogenen Kontakt wird nicht berichtet, so daß es sich hierbei wahrscheinlich nur um eine literarische Beziehung gehandelt hat. Da Strauß im Anschluß an die 156 Vgl QGTS I, Nr. 14,16: „Ir wüssend wol, wie ein hirt ernert werden sol." 157

Vgl. Goertz, „A commomn future conversation", 80. iss Vgl j 5 Oyer, The Influence of Jacob Strauss on the Anabaptists. A Problem in Historical Methodology, in: M. Lienhard (Hg.), The Origins and Characteristics of Anabaptism, Procedings of the Colloquium Organized by the Faculty of Protestant Theology of Strasbourg 20.-22.2.1975, International Archives of History of Ideas 87, The Hague 1977,62-82.

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Ausführungen zum Pfründenwesen genannt wird, nahm man in der Forschung an, daß vor allem seine erste „Wucherschrift" aus dem Jahr 1523 die Radikalen beeinflußt habe. 159 Diese über Thüringen hinaus weitverbreitete Schrift verurteilte scharf den Wucher, auch in Form des Zinskaufs, so daß es in Eisenach und Umgebung zu zahlreichen Zahlungsverweigerungen und demzufolge zu langwierigen Auseinandersetzungen zwischen geistlichen Institutionen sowie städtischer und kurfürstlicher Obrigkeit mit der Bevölkerung kam. 1 6 0 In seinem Brief an Vadian vom 15. Juli 1523 berichtete Grebel, daß er die genannte Schrift von Strauß erhalten habe. 161 Überschwenglich bezeichnete er die 51 Thesen als „articuli evangelissimi". 162 So kann davon ausgegangen werden, daß die Schrift gegen den Wucher im Kreis der Radikalen gelesen und erörtert wurde. 163 Die deutlichen Aussagen gegen die finanzielle Ausbeutung der Bevölkerung durch geistliche Institutionen und Ämter fand Resonanz bei den kleruskritischen Kräften. Inwieweit die Wucherschrift von Strauß für die im Sommer 1523 vorherrschende Zehntdebatte theologisch grundlegend war, muß offenbleiben. Es ist aber nicht auszuschließen, daß die Radikalen neben den Ausführungen Juds und Zwingiis zum Zehntrecht auf das Traktat von Strauß als Argumentationshilfe zurückgriffen. Strauß' vehemente Kritik an dem sich durch „Wucher" bereichernden Adel und anderen Teilen der Bevölkerung sowie deren fatale sozio-ökonomische Konsequenzen finden im Müntzerbrief keine Erwähnung. Auch Strauß' exegetische Grundlage, der Schriftbeweis gegen den Wucher, wird nicht aufgenommen. Seine umstrittene Position, daß sowohl Zinsnehmer wie auch -geber sich des Verstoßes gegen das Evangelium schuldig machten, bleibt ebenso unerwähnt. Die Ausführungen im Müntzerbrief konzentrieren sich an dieser Stelle auf die Person des Pfarrers in seinem Verhältnis zur Gemeinde, speziell 159

Vgl. Fast, Flügel, 18. 160 Vgl j Rogge, Der Beitrag des Predigers Jakob Strauß zur frühen Reformationsgeschichte, Berlin 1957, 72 ff.; Zimmermann, Antwort, 48. In der neueren Reformationsforschung sind nur wenige Untersuchungen über die Person und das Werk Strauß' vorhanden. Rogges Buch, das einen Einblick in das Schaffen dieses Frühreformators gewährt, ist leider gekennzeichnet durch eine einseitige Interpretation, die allein die lutherische Theologie als Maßstab nimmt. In stetem Vergleich zum „unvergleichlichen" Reformator aus Wittenberg erweist sich Strauß folgerichtig stets als minderwertiger Theologe, eigensüchtiger Agitator und dadurch als ein letztlich zum Scheitern verurteilter Reformer. So bleibt am Ende dieser die Kategorie „reformatorisch" mit „lutherisch" gleichsetzenden Studie die allerdings problematische Frage offen, ob Strauß überhaupt ein Theologe der Reformation gewesen sei, da er nicht zu den Mitarbeitern Luthers gehörte. Eine sachliche Analyse bleibt daher ein Forschungsdesiderat. 161

Vgl. QGTS I, Nr. 2,2. Ebd. 163 Die scharfe Kritik, die Strauß an den Wittenberger Reformatoren aufgrund ihrer moderaten Reformpolitik geübt hat, nahm wahrscheinlich die Radikalen besonders für ihn ein. In dieser Kontroverse konnten sie eine Parallele zu ihrer Konfrontation mit Zwingli entdecken. Vgl. Oyer, Influence, 66 f. 162

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auf seine finanzielle Versorgung. Daher scheint mir die Annahme berechtigt, daß sich die Verfasser, obwohl sie die Wucherschrift kannten, auf eine andere Darlegung von Strauß beziehen, nämlich auf sein Memorandum an Johann, den Herzog von Sachsen von 1523: „Das nit herren, aber diener eyner yeden Christlichen Versammlung zugestellt werden." 1 6 4 In fünfzig Schlußreden legte Strauß die Neuordnung des Predigtamtes und seine Beziehung zur christlichen Gemeinde dar. 165 Bereits in der dritten These lehnte Strauß alle Titel für den Pfarrer ab, außer seiner Bezeichnung als „Diener der Versammlung". 166 Diese Formulierung faßt gleichzeitig sein pastoraltheologisches Programm zusammen. Die Gemeinde wählt demnach ihren Pastor in freier Selbstbestimmung, ohne den Einfluß geistlicher und weltlicher Gewalten (These 15). 167 Sie entscheidet bzw. prüft, ob die Verkündigung christusgemäß ist (These 18). Das Verhältnis zwischen Pfarrer und Gemeinde ist eine freie Vereinbarung beider Seiten, wobei der Grundsatz gilt, daß ein Pfarrer dieses A m t solange bekleidet, wie Gott dessen Verkündigung segnet (These 26). Eine Anstellung auf Lebenszeit wird daher abgelehnt, da das dem dienenden Charakter des Amtes widerspräche (These 28). Dem gewählten „Diener" steht eine ausreichende Unterstützung durch die Gemeinde zu (These 20, 23, 24). Pfarrkirchliche Stiftungen, Zehnte, Zinsen, Spenden etc. müssen entsprechend dieser Regelung aufgehoben werden (These 30). Strauß polemisierte gegen die Ausbeutung der Gemeinde durch obrigkeitlich eingesetzte Pfarrer (These 49 u. a.). Kernpunkt der Ausführungen war die neue Amtsdefinition des Pfarrers als „Diener" der Gemeinde und nicht länger als ihr (Pfarr-) „Herr". Die weitgehende Autonomie der Gemeinde wird christologisch begründet, wonach die christliche Gemeinde nur einem Herrn als ihrem Haupt untersteht, Jesus Christus. In den ausführlichen Thesen des Müntzerbriefs zum Abendmahl begegnet die signifikante Bezeichnung des sakramentsverwaltenden Pfarrers als einem „diner uß der gmein". 168 Dieser ungewöhnliche Titel verweist m. E. auf die Straußschen Ausführungen zum Predigtamt. Die Radikalen rezipierten mit dieser Bezeichnung dessen neue Definition des Verhältnisses von Gemeinde und Pfarrer, zumal jede andere Benennung des geistlichen Amtes von ihnen vermieden wird. Als eindeutige Parallele zu den Ausführungen von Strauß ist ferner die Mahnung an Müntzer und Karlstadt zu werten, sich von Zehntabgabe und Pfründen zu trennen und ihren Unterhalt allein durch die Gemeinde zu beziehen. Die ganze Gemeinde sollte für die materielle Versorgung ihres Hirten aufkommen. Diese kurzen Hinweise zeigen an, daß die Konzeption von Strauß rezipiert wur164

Vgl. Rogge, Beitrag, 157 (Abdruck der genannten Schrift). Vgl. Zimmermann, Antwort, 40,47-48; Rogge, Beitrag, 62 ff. 166 Vgl. Rogge, Beitrag, 162. ™ Vgl. ebd., 157 ff. i « QGTS I, Nr. 14,15. 165

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

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de, ohne daß weitere Erläuterungen des Verhältnisses von Gemeinde und Pfarrer erfolgten. 169 Die Einleitung zum Müntzerbrief enthält darüber hinaus eine fundamentale ekklesiologische Bestimmung, die ebenfalls an die Ausführungen Strauß' zum Predigtamt erinnert. U m die vertraute Anrede Müntzers als „Bruder" zu legitimieren, erklären die Radikalen, daß Christus der eine Meister sei und das Haupt aller Gläubigen, die durch ihn zur Bruderschaft zusammengeschlossen würden. 170 In These 29 der Schrift zum Predigtamt schrieb Strauß: „Die scheflein Christi mögen kein herren der seien, denn alleyn Christum erleyden." 1 7 1 Daß nach Ansicht der Radikalen die christliche Gemeinde kompetent war, Lehrfragen anhand der Bibel zu prüfen und Lehrentscheidungen zu treffen, verdeutlicht die gesamte Korrespondenz mit Müntzer, dessen Reform bei aller Zustimmung auch offen kritisiert wurde. Ohne daß die Neuordnung des Verhältnisses von Pfarrer und Gemeinde durch Strauß in extenso erörtert wurde, scheint sie m. E. geradezu die Voraussetzung und den Hintergrund der ekklesiologischen Ausführungen des Müntzerbriefes zu bilden. Hierbei stellt sich die Frage, ob auch die frühe Schrift Strauß' zur Ekklesiologie „Underricht" 1 7 2 von 1522 bei den Radikalen bekannt war. Grundlegend für die Gemeindelehre Strauß' ist die Auffassung von der Kirche als Versammlung der Kinder Gottes, die in hilfsbereiter Bruderschaft miteinander lebten. Mehrfach wird das deuteropaulinische Motiv von der Gemeinde als Leib, dessen Haupt Christus ist, aufgenommen und variiert. Die Gemeindeglieder sind aufeinander angewiesen und sind dem anderen Mitleid, Dienstbereitschaft, Glauben und Liebe schuldig. Sogar die Gütergemeinschaft wurde von Strauß als Konsequenz dieser bruderschaftlichen Gemeindelehre angedeutet. 173 Es läßt sich nicht feststellen, ob der Kreis um Grebel und Castelberger diese Schrift kannte. Parallelen im Bereich der Ekklesiologie können jedoch auch dann gezogen werden, wenn sich kein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis nachweisen läßt. Den Radikalen war darüber hinaus, wahrscheinlich durch ihren Mittelsmann Huiuf, bekannt geworden, daß Müntzer Tafeln mit den zehn Geboten in seiner Kirche hatte aufstellen lassen. „Wahrscheinlich handelte es sich um den Dekalog in Plakatform bzw. einen Tafelkatechismus, der nah dem Vorbild der spätmittelalterlichen Kirche der Glaubenserziehung dienen sollte." 174 Mit Hilfe des von Karlstadt übernommenen radikalisierten Schriftprinzips argumentierten sie entschlossen gegen diesen Vorgang. Allerdings zeigt sich hier eine 169

Zum Verständnis des Predigtamtes bei den Hauptreformatoren und den Täufern vgl. D. J. Grieser, Anabaptism, Anticlericalism and the Creation of a Protestant Clergy, in: MennQR 71,1997,515-543. ™ Vgl. QGTS I, Nr. 14,13. 171 Zit. nach: Rogge, Beitrag, 164. «2 Vgl. ebd,21. 173 Vgl. ebd., 23; Oyer, Influence, 70. 1 74 Bräuer, Briefe, 13

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interessante hermeneutische Vorordnung des Neuen Testaments, die nicht von Karlstadt stammen kann. Wie bereits erwähnt, ging Karlstadt in der Bilderfrage von der Gleichwertigkeit beider Testamente in bezug auf die Gebotsfrage aus. 175 Die Verfasser votierten jedoch gegen die Aufstellung der Tafeln im Blick auf das Gesamtzeugnis der Schrift, wobei dem Neuen Testament ein Primat eingeräumt wurde. Als Schriftbeweis wurden numerisch gleichgewichtig Texte aus dem Alten und Neuen Testament herangezogen. Ohne Zweifel kann man in der Argumentation gegen die „Tafeln" die Grenze des radikalen Biblizismus der Prototäufer erkennen. In strittigen Fragen propagierten sie gerade keine buchstäbliche Einhaltung jedes Bibelwortes, sondern waren durchaus zu einer hermeneutischen Besinnung und einem systematisch-theologischen Urteil fähig. 1 7 6 Daneben wird der leidenschaftliche Wille deutlich, der die gottesdienstliche Praxis schriftgemäß bzw. nach den Grundsätzen der Reformation vollständig zu reformieren beabsichtigte. Die Vorordnung des Wortes als einziges Mittel der Lehre wird erneut mit Verve verteidigt. 5.2.6 Ekklesiologie Im Vergleich zu den Ausführungen zur Abendmahlspraxis sowie nachfolgend zum Taufverständnis nimmt der spezifisch ekklesiologische Themenbereich innerhalb des Müntzerbriefes relativ wenig Raum ein. Die spärlichen Anmerkungen lassen auf den ersten Blick keine ausgeführte ekklesiologische Konzeption erkennen. Es erhebt sich bei diesem Befund die Frage, ob man von den gemeindetheologischen Aussagen des Müntzerbriefes ausgehen darf und diesen zurecht als „älteste Urkunde protestantischen Freikirchentums" 177 bezeichnen bzw. das Programm der Freikirche in ihm als voll entwickelt 1 7 8 ansehen kann. Yoder vertritt die Ansicht, daß im Müntzerbrief ein „ganz neuer Kirchenbegriff" und „ein neues Selbstverständnis" 179 zum Tragen komme. I m Kontrast dazu behauptet Goertz im Zuge der sozialhistorischen These eines zweiphasigen Täuferbildes, daß im Müntzerbrief zwar Ansätze für den Weg in die Freikirche vorhanden seien, die freikirchliche Konzeption der Schweizer Täufer jedoch erst im Schleitheimer Bekenntnis von 1527 hervortrete. 180 „Die Freikirche wurde erst geboren, als die Täufer unter dem Druck der Reformatoren und der Obrigkeit keine Möglichkeit mehr sahen, eine radikale Reform der Christenheit durchzuführen, und sich auf eine kleine Gemeinschaft zurückzogen." 181 175

Vgl. Punkt 4.5 dieser Untersuchung. Diese These wird durch die spätere Taufdiskussion mit Zwingli u. a. zur Frage nach der Beschneidung bestätigt. 177 Blanke, Brüder, 15. 178 Vgl. Fast, Reformation, 97. 179 Yoder, Gespräch, 31 (Auflage von 1962!) 180 Vgl. Goertz, Täufer, 98 f. 181 Ebd. 176

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Auch Goertz' neueste Auslegung des Müntzerbriefes, in der er kenntnisreich den Stand der Forschung auswertet, wiederholt seine bekannten revisionistischen Positionen zur Ekklesiologie. 182 Interessant ist dabei die eklektische Heranziehung von Zitaten aus dem Müntzerbrief, wobei er ohne Nennung von Gründen auf den zentralen Satz zur Ekklesiologie verzichtet (s. u.). U m zu belegen, daß die Verfasser noch nicht zu einer separatistisch-freikirchlichen sondern vielmehr zu einer volkskirchlichen Konzeption tendiert hätten, zitiert Goertz ihre Grundeinstellung zur Bibel, die sich im Anschluß an die wenigen Aussagen zur Ekklesiologie findet. „Eß ist wißheit und rates me dann gnug in der gschrift, wie man all stend, alle menschen leren, regieren, wisen und fromm machen sol." 1 8 3 Diese „universale" Bedeutung der Bibel läßt aber m. E. keinen Rückschluß auf die grundlegende Gemeindelehre zu. Goertz' weitreichende ekklesiologische Interpretation des Bibelverständnisses steht vielmehr zu der folgenden Textpassage in einem spannungsvollen und von ihm nicht erklärten Widerspruch: „Eß ist fil weger, daß wenig recht bericht werdind durch daß wort Gottes, recht gloubind und wandlind in tugenden und brüchen, denn daß fil uß vermischter 1er falsch hinderlistig gloubind." 184 Im Zentrum der Auseinandersetzung zwischen „normativer" und „revisionistischer" Täuferforschung steht also die Interpretation der täuferischen Ekklesiologie, die mit den Schlagworten „genuine Freikirche" oder „non-separating Congregationalism" gekennzeichnet werden kann. Von daher gewinnt die Untersuchung der ekklesiologischen Aussagen des Müntzerbriefes besonderes Gewicht. Der zentrale ekklesiologische Satz des ganzen Briefes lautet: „Züch mit dem wort und mach ein christenliche gmein mit hilf Christi und siner regel, wie wir sy ingesetzt findend Mathei im xviij. und gebrucht in den epistlen." 185 Die Anwendung der Kirchenzucht ist demnach ein kirchengründender Faktor und gehört für die Radikalen zum Wesen der Kirche. Als weitere Elemente der neu zu schaffenden Gemeinde werden das gemeinsame Gebet und das enthaltsame Leben nach dem Kriterium des Glaubens und der Liebe angeführt. Danach schildern die Verfasser die Anwendungspraxis der Kirchenzucht gemäß M t 18,15 ff. Überblickt man den gesamten Brieftext, finden sich noch einige weitere ekklesiologische Motive. Z u Beginn des Schreibens rechtfertigen sich die Prototäufer für die „informelle" Anrede Müntzers als Bruder mit dem Hinweis auf die von Christus gestiftete Bruderschaft, die alle Gläubigen vereine. 1 8 6 Das bekannte Bild der paulinischen (und deuteropaulinischen) Ekkle182 Vgl Goertz, „A common future conversation", 73 ff. 183 184

Vgl. QGTS I, Nr. 14,17.

Vgl. ebd., 16. 185 QGTS I, Nr. 14,17. i « Vgl. ebd., 13.

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siologie vom Leib Christi mit dem einen Haupt, Jesus Christus, und der Gemeinschaft der Glieder untereinander wird hier ebenso wie in den Ausführungen zum Abendmahl aufgegriffen. Es bleibt zu prüfen, ob dieses bruderschaftliche Verständnis der neutestamentlichen Aussagen direkte Auswirkungen auf die Ekklesiologie hatte, die sich nachweisen lassen. Innerhalb der Abendmahlslehre findet sich ein impliziter Hinweis auf eine ekklesiologische Konzeption, die auf eine Minderheitskirche bzw. eine Kirche der wahrhaft Gläubigen abzielt (s. o.). 1 8 7 Die Schar der „Rechtgläubigen" wird ferner mit dem apokalyptischen Bild der Evangelien als Schafherde unter Wölfen bezeichnet, die Verfolgung und Trübsal leiden muß. 1 8 8 Das Motiv des notwendigen Leidensschicksals wird noch einmal im zweiten Brief an Müntzer aufgenommen, in dem erneut die geringe Zahl der Gläubigen, die hier mit 20 Personen angegeben wird, mit klagendem Unterton festgestellt wird. 1 8 9 Die ekklesiologischen Konsequenzen der Sakramentslehre sollen freilich erst im Anschluß an die Darstellung der Tauflehre erörtert werden. Systematische Ausführungen zur Gemeindelehre sind nach diesem Überblick nicht vorhanden. Bei den wenigen direkten Äußerungen zur Ekklesiologie tritt die Kirchenzucht eindeutig in den Vordergrund, so daß eine eingehende Beschäftigung mit diesem Thema notwendig zu sein scheint. Kein anderer theologischer Topos wird im Müntzerbrief so häufig erwähnt wie die Kirchenzucht nach M t 18. Das Abendmahl soll nicht ohne Anwendung der Regel Christi gefeiert werden. 190 Zweimal wird die Regel Christi in den spezifisch ekklesiologischen Sätzen aufgeführt. Innerhalb der Tauflehre wird gleich zu Beginn die Praktizierung der Regel des Bindens und Lösens als Voraussetzung für den Taufempfang genannt. 191 Schließlich tritt die Kirchenzucht nach M t 18,15 ff. im Nachschreiben an Müntzer gleichberechtigt neben die Forderung nach „unvermischter, unverfälschter Taufe" und „unvermischtem Nachtmahl". 192 Den hohen Rang der Kirchenzucht und ihre Auswirkung auf die ekklesiologische Grundstruktur stellt Goertz im Blick auf die gesamte Täuferbewegung in der Schweiz heraus. 193 Der Bann - d. h. die rigorose Praxis der Kirchenzucht - wurde im Laufe der Entwicklung neben der Taufe zu

i 8 7 Vgl. ebd., 16. i«8 Vgl. ebd., 17. i « Vgl. ebd., 20. 190 Vgl. ebd., 15. iw Vgl. ebd., 17. 19 2 Vgl. ebd., 20. 193 Vgl. Η.Ί Goertz, Art. Kirchenzucht: 3. Reformationszeit, in: T R E 19,179; vgl. ders., Kleruskritik, Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung in den täuferischen Bewegungen der frühen Neuzeit, in: H. Schilling (Hg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994,183-198.

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dem markanten Kennzeichen der Täufer schlechthin. 194 Die Frage bleibt, weshalb die Kirchenzucht in das Zentrum täuferischer Theologie rückte und aus welchen Quellen diese theologische Entscheidung, die sich bereits im Müntzerbrief andeutet, gespeist wurde. Bei der Erörterung dieser Frage bilden die ekklesiologischen Konsequenzen im Kontext des Müntzerbriefs den Schwerpunkt. Aufgrund der Genese des Täufertums in der Gefolgschaft Zwingiis liegt es nahe, zunächst die Einstellung des Zürcher Reformators zur kirchlichen „disciplina" zu untersuchen. In der Zwingliforschung gibt es einen Konsens, wonach der Reformator in bezug auf die Kirchenzucht lange Zeit unentschlossen war, und zwar sowohl was ihren Zusammenhang mit dem Abendmahl, ihr Subjekt, als auch ihre vorrangige Intention betraf. 195 Die Bannbefugnis, das Absetzungs- und Pfarrerwahlrecht sowie den Ausschluß vom Abendmahl wies er zeitweise der Einzelgemeinde, zeitweise der Obrigkeit zu. Während sich im Zuge der reformatorischen Entwicklung die Tendenz zur Kooperation mit dem Rat auch in dieser Frage verstärkte, plädierte Zwingli in der Auslegung seiner Schlußreden von 1523 für die Kirchenzucht als einer genuinen Aufgabe der autonomen Ortsgemeinde. 196 In Auseinandersetzung mit der Bannpraxis der katholischen Kirche gelangte er zu der Auffassung, daß nur die Gesamtgemeinde den Bann bzw. die Exkommunikation beschließen könne. Die Gemeinde kann sich s. E. in dieser Funktion von keiner kirchlichen Zentralgewalt vertreten lassen. Als biblische Begründung zog Zwingli neben IKor 5,1-6 vor allem die Gemeindeordnung nach M t 18,15 ff. heran. 197 Der Bann konkretisierte sich im Meiden des betreffenden Gemeindegliedes bis hin zu seinem Ausschluß aus der Gemeinde. In den Schlußreden wird der Zusammenhang von Exkommunikation und Abendmahl nicht eigens thematisiert. Als Kriterium für die Anwendung der Kirchenzucht galt der Öffentlichkeitscharakter der Verfehlung. Der Sinn des Banns lag für Zwingli vornehmlich in der prophylaktischen bzw. abschreckenden Wirkung der Strafmaßnahme für andere Kirchenmitglieder, nicht so sehr in der seelsorgerlichen Bemühung um den einzelnen „Sünder". Bereits in den Schlußreden rief Zwingli die Obrigkeit dazu auf, die Bannpraxis der Kirche unter ihren Schutz zu stellen. 198 Eine gewisse Kooperation mit der Obrigkeit deutete sich demnach auch in dieser Frage bereits an. In seiner kurzen „Einleitung" von 1523 autorisierte Zwingli den Rat unter Hinweis auf 194

Vgl. E. Egli, Zwingiis Stellung zum Kirchenbann und dessen Verteidigung durch die St. Galler, in: Ders., Analecta Reformatoria, Bd. I, Zürich 1899,104. 195 Vgl. R. Ley , Kirchenzucht bei Zwingli, Zürich 1948, 9; Gäbler, Zwingli, 97; Locher, Reformation, 153; eine neuere Untersuchung: B. Gordon, Die Entwicklung der Kirchenzucht in Zürich am Beginn der Reformation, in: H. Schilling (Hg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Berlin 1994,65-90. 196 Vgl. Ley , Kirchenzucht, 10 ff. 1 97 Vgl. ebd., 12. 1 98 Vgl. ebd., 10.

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5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

M t 18 folgerichtig, in den kirchlichen Bereich einzugreifen und für eine evangeliumsgemäße Predigt zu sorgen. 199 Während Zwingli in der Diskussion mit der katholischen Seite in der Folgezeit die Autonomie der Gemeinde in Glaubensfragen auch in Bereich der Bannpraxis verteidigte, erhöhte sich sukzessiv in der historischen Entwicklung die Kompetenz der Obrigkeit. Sein „Ratschlag" von 1525, in dem der Obrigkeit ein Ausschluß aus der Gemeinde, der Kirche aber die Verweigerung des Abendmahls vorbehalten war, wurde vom Rat als Einschränkung seiner Machtbefugnis nicht akzeptiert. Daher kann Egli zurecht resümierend feststellen, daß ab 1526 „der Bann als solcher beseitigt und nur das weltliche Strafrecht geblieben" 200 sei. Den Radikalen waren die Zwinglischen „Schlußreden" von 1523 und deren Auslegung bekannt. Gerade im Vergleich mit diesen relativ frühen Äußerungen Zwingiis lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich der Kirchenzucht aufzeigen. Wie für Zwingli hat auch bei den Radikalen die Gemeindeordnung nach M t 18,15 ff. eine herausragende Bedeutung. Trägt diese Schriftstelle für Zwingli die ganze Bedeutung des Banns in sich, 201 so ist sie das einzige im Müntzerbrief angeführte Bibelzitat zur Darlegung der Gemeindezucht, das darüber hinaus zweimal expressis verbis genannt wird. In zwei weiteren Zusammenhängen nehmen die Verfasser ebenfalls auf M t 18 Bezug, indem sie im Kontext der Tauflehre von der Regel des Bindens und Lösens (Mt 18,18) und im Nachschreiben von der „Regel Christi" sprechen. 202 Nur summarisch wird dagegen auf die urchristliche Praxis nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Briefe verwiesen. Ebenso stimmen die Aussagen des Müntzerbriefs mit Zwingiis Auffassung bezüglich der Vorgehensweise überein. Als Konsequenz von M t 18 soll das fehlbare Gemeindeglied insgesamt von drei Personen ermahnt werden, und wenn es in seiner Schuld beharrt auch öffentlich vor der Gemeinde. 203 Ein kleiner Unterschied zeigt sich jedoch darin, daß Zwingli dem Prediger bzw. dem Bischof die erste Stufe des Ermahnens zuteilt, dem die Hinzuziehung zweier Zeugen im Bedarfsfall zufolgen habe, die das „Ermahntwerden" des Schuldigen bezeugen sollen. Diese unterschiedliche Aufgabenverteilung wurde von seinen radikalen Gefolgsleuten in dieser Weise nicht vorgenommen. Eine Sonderstellung des Pfarrers wird gerade nicht festgelegt. Die ermahnenden Gemeindeglieder werden unabhängig vom Zeitpunkt ihres Wirkens und ihres Amtes gleichberechtigt als drei Zeugen bezeichnet. In Übereinstimmung mit den frühen Aussagen Zwingiis ist das Subjekt der Gemeindezucht, obwohl im Müntzerbrief nicht explizit formuliert, die Ge199

Vgl. ebd., 29. 200 Egli, Stellung, 102. 201 Vgl. Auslegung der Schlußreden, Ζ II, 277. 202 Vgl. QGTS I, Nr. 14,17.20. 203 Vgl. Ζ II, 277 ff.; QGTS I, Nr. 14,17.

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meinde. Es werden keinerlei andere stellvertretende Institutionen bzw. Personen genannt, die mit einer solchen Kompetenz ausgestattet wären. Auffällig ist, daß im Müntzerbrief jegliche Kritik an der katholischen Praxis fehlt. Schließlich stimmten beide Seiten - Zwingli und die Radikalen - in der vorrangigen Konsequenz der Kirchenzucht überein, die nach M t 18,17 in der Meidung des Straffälligen besteht. Andere Strafen, etwa wie der Ausschluß vom Abendmahl, werden im Gegensatz zu Zwingli von den Radikalen ausgeführt. Zwingli verknüpfte, wie gesehen, zu diesem Zeitpunkt die Exkommunikation nicht mit der Thematik des Abendmahls. 204 Erst im November 1524, d. h. nach dem Abfassen des Müntzerbriefs, äußerte sich der Reformator zur Relation von Altarsakrament und kirchlicher Disziplin. In seiner Schrift „ D e vera et falsa religione commentarius" von 1525 tritt das Motiv des Ausschlusses vom Abendmahl als Strafmaßnahme hervor, wobei die Entfernung aus der Kirchengemeinde weiterhin den Vorrang behielt. Bei den Prototäufern fehlt das von Zwingli klar herausgestellte einzig legitime Kriterium für die Anwendung der Kirchenzucht: das öffentliche Ärgernis. Sie votierten für die Kirchenzucht, ohne das Kriterium des „öffentlichen Ärgernisses" in den Blick zu nehmen. Es wird ferner in keiner Weise eine Differenzierung einzelner Sünden, seien sie privater Natur oder gegen die Kirche gerichtet, vorgenommen. Ebenso findet sich weder ein Hinweis auf das Verzeihen nach M t 18,22 noch auf die Zurücknahme des Banns. 205 Gemeindezucht war demnach generell bei demjenigen anzuwenden, der „sich nit besseren, nit glouben wil und dem wort und hendlen Gottes widerstrebt und also verhart." 2 0 6 Ein weiterer eklatanter Unterschied liegt in der dargelegten Intention der Kirchenzucht. Während Zwingli sie zu diesem Zeitpunkt vornehmlich als präventive Maßnahme begreift, die durch das Mittel der Abschreckung andere Gemeindeglieder vor vergleichbaren Irrwegen bewahren soll, stellen die Verfasser ganz andere Motive in den Vordergrund. Bei der Unterlassung von Gemeindezucht bestünde i. E. die Gefahr, daß alle sich mit Äußerlichkeiten beim Abendmahl begnügten, worunter die Innerlichkeit und die Liebe litte und wodurch gleichzeitig falsche und wahre Brüder gemeinsam am Mahl teilnähmen. 207 Die Kirchenzucht erscheint daher als ein Mittel der Unterscheidung bzw. der Trennung von falschen Brüdern und gleichzeitig der Reinigung der Gemeinde. 208 Besonders schwierig zu interpretieren ist die kurze Formulierung der Strafmaßnahme im Müntzerbrief. I n getreuer An204

Vgl. Ley , Kirchenzucht, 34. 205 Gegen Wiehe, Ausführungen, 59. 206 QGTS I, Nr. 14,17. 207 Vgl. ebd., 15. 208 Dasselbe Motiv findet Looß in Karlstadts Schrift „Verstand des Wortes Pauli: ,Ich begeret ein Verbannter zu sein von Christo für meine Brüder 1 (Rom 9,3). Was Bann und Achte" vom Januar 1524. Vgl. S. Looß, Karlstadt und der Bann. Stationen in Thüringen, Zürich und Altstätten zwischen 1522 und 1532, in: MGB 56,1999,10.

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wendung von M t 18,15 ff. soll der Schuldige als „Heide" und „Zöllner" behandelt werden. Merkwürdig erscheint dabei die weitergehende Bestimmung, daß er nicht getötet werden soll. Diese Forderung kann man nicht aus M t 18 ableiten, da dort nicht von einer Todesstrafe die Rede ist. Daß es sich hiermit um einen Hinweis auf die alttestamentliche Praxis handelt, die nach Ausweis der biblischen Gesetzeskorpora durchaus die Todesstrafe zur Reinerhaltung des Gottesvolkes kannte, scheint trotz des unzweifelhaften Biblizismus des Kreises unwahrscheinlich, da jeglicher Textbezug fehlt. Die Vermutung, die Radikalen seien auf die Androhung Müntzers eingegangen, die Christenheit müsse mit Gewalt gesäubert werden halte ich für wenig plausibel, da die Radikalen erst nach der Abfassung des ersten Briefs über den kämpferischen Rigorismus Müntzers unterrichtet wurden, den sie in der Nachschrift dann auch sofort zurückwiesen. „Man soll ouch daß evangelium und sine annemer nit schirmen mit dem schwert oder sy sich selbs, alß wir durch unseren brûder vernommen hand dich also meinen und halten." 209

Es handelt sich m. E. höchstwahrscheinlich um einen Hinweis auf den Zusammenhang von kirchlicher und obrigkeitlicher Strafmaßnahme. Ein Schuldigwerden im kirchlichen Bereich, wie ζ. B. im Fall von Blasphemie, hatte direkte Auswirkungen im gesellschaftlichen Bereich, da staatliche Strafen bis hin zur Todesstrafe als Kirchenstrafe verhängt werden konnten. 2 1 0 Das Zwinglische Modell der Kirchenzucht ging bereits in den Schlußreden von einer Kooperation von staatlicher Gewalt und Kirche bei der Verhängung und Vollstreckung von Strafmaßnahmen aus. Später entwickelte sich diese Zusammenarbeit im Dienst der Kirche zur Parallelisierung von Kirchenbann und obrigkeitlicher Strafe. Aber nicht nur bei Zwingli, sondern bereits in vorreformatorischer Zeit gehörte der Einsatz der staatlichen Gewalt zum Wohl der Kirche und damit ihr Einfluß im kirchlichen Bereich zum Selbstverständnis des christlichen Staatswesens.211 I m Gegensatz zur Konzeption Zwingiis soll nach Ansicht des Müntzerbriefes jemandem, der sich in der Gemeinde verfehlt hat, nicht eine bürgerliche Strafe treffen. Die Gemeindezucht soll allein auf den kirchlichen Bereich beschränkt sein und nicht die weltliche Existenz des Bestraften beeinträchtigen. Hinter dieser Haltung könnten die Erfahrungen des radikalen Kreises anläßlich der Bestrafung der Bilderstürmer und der Taufverweigerer stehen. Im Fall der Taufverweigerung hatte sich die Obrigkeit noch dazu die Kompetenz angemaßt, in theologischen Lehrfragen autonom und ohne öffentliche Anhörung zu entscheiden. Wenn diese Interpretation zutrifft, dann votierten die Radikalen für die vollständige Autonomie der Gemeinde im Bereich der Kir209 QGTS I, Nr. 14,17. 210 2

Vgl. Ley , Kirchenzucht, 28. " Vgl. ebd.

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

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chenzucht und lehnten jegliche Kooperation mit der weltlichen Obrigkeit ab. Der Kontext der Aussagen stützt diese Annahme, da im Folgesatz die Rolle der Schwertgewalt und damit das Verhältnis zur Obrigkeit thematisiert wird. Gemeindezucht erscheint nach dem Müntzerbrief als rein kirchliche Angelegenheit, die vor allem der Identitätsfindung, Unterscheidung und Gestaltung der jeweiligen Gemeinde der Gläubigen dient. Nach diesem Befund fallen die Unterschiede beider Konzeptionen der Kirchenzucht - von Zwingli und den Radikalen - stärker ins Gewicht als die Gemeinsamkeiten, die zum großen Teil nur auf der gemeinsamen Bezugnahme auf M t 18 beruhen. Es bleibt zu fragen, wodurch die Kirchenzucht zu dem entscheidenden Wesensmerkmal der prototäuferischen Gemeinschaft werden konnte, ferner, ob es Anhaltspunkte von theologischer Abhängigkeit zu anderen reformatorischen Programmen in dieser Frage gibt. In diesem Zusammenhang soll auf die mögliche Dependenz von der erasmischen Theologie eingegangen werden. Davis, ein vehementer Vertreter der These, daß der Einfluß des großen Humanisten auf die radikalen Kreise nicht zu überschätzen sei, der ihn sogar als „Progenitor" 2 1 2 der gesamten Täuferbewegung bezeichnet, behauptet, daß im Bereich der Ekklesiologie die größten Gemeinsamkeiten vorlägen 2 1 3 Es verwundert, daß nahezu alle „typischen" Theologumena der täuferischen Kreise, u. a. Wiedergeburt, Eidverweigerung, Gütergemeinschaft, Heiligung, Trennung von Kirche und Staat, bereits im Werk des Erasmus antizipiert worden sein sollen. Erasmus hat nach Davis auch die täuferische ekklesiologische Konzeption der Versammlung der Gläubigen als Minderheitskirche vorbereitet. 214 Seine Untersuchung endet daher auch mit dem prononcierten Urteil, daß Erasmus mehr Einfluß auf die Täuferbewegung ausgeübt habe als Luther, Zwingli, Karlstadt und Müntzer. 215 Das Verhältnis der Täufer zur erasmischen Gedankenwelt wurde wiederholt thematisiert, wobei eine detaillierte Untersuchung noch aussteht. Fast und Bender vertreten die Ansicht, daß eine direkte Abhängigkeit von Erasmus in der Täuferbewegung nicht nachzuweisen sei. 216 Ebenso urteilt E. W. Kohls, der davon ausgeht, daß die Täufer nur einige theologische Anleihen bei Erasmus gemacht hätten, ohne dessen Gesamtkonzeption verstanden zu haben. 217 Sicher ist, daß die Täufer durch ihren Lehrer Zwingli schon früh mit 212 K R. Davis, Erasmus as a Progenitor of Anabaptist Theology and Piety, in: MennQR 47,1973,167-178. 213 Vgl. ebd., 171. Erstaunlicherweise bietet Davis keine Hinweise auf täuferische Quellen, die seine These stützen. 214 Vgl. ebd., 170,173. 2 15 Vgl. ebd., 178. 216

Vgl. ebd., 178; Fast, Dependence, 111. Vgl. E. W. Kohls, Die theologische Lebensaufgabe des Erasmus und die oberrheinischen Reformatoren. Zur Durchdringung von Humanismus und Reformation, Stuttgart 1969,35 f. 217

244

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

den Schriften und der Gedankenwelt des Erasmus bekannt gemacht wurden. 2 1 8 Diese unterschiedliche Bewertung läßt erneut nach den Spuren erasmischer Theologie in den Täuferschriften fragen. A n dieser Stelle soll vor allem ein Vergleich der ekklesiologischen Grundgedanken erfolgen. Die personelle und sachliche Verwurzelung der Radikalen im Schweizer Humanismus bedarf keines erneuten Beweises,219 vielmehr soll sich die Darstellung auf parallele Denkstrukturen und Begriffe im Bereich der ekklesiologischen Aussagen des Müntzerbriefs beschränken. Zunächst ist festzustellen, daß im Gegensatz zu anderen Theologen wie Karlstadt, Strauß und Müntzer, deren prägender Einfluß ausdrücklich von den Verfassern gewürdigt wird, es keinerlei unmittelbare Bezugnahme auf Erasmus gibt. Bereits 1524 hatten sich die reformatorischen Kreise im Zuge der kirchenerneuernden Bewegung in der Schweiz von ihrem ehemaligen humanistischen Leitbild zu weit entfernt, als daß ein bewußtes Bekenntnis zu seinen theologischen Vorstellungen noch tragbar war. Etwaige Parallelen können demnach nur als Rudimente einer zurückliegenden humanistischen Phase der Bewegung interpretiert werden. Unter dieser Perspektive lassen sich vor allem im Diskurs mit den frühen Schriften des Erasmus einige wesentliche Gemeinsamkeiten feststellen. Ohne die Kirche an sich anzugreifen, war Erasmus, bezogen auf die Institution, die Amtsträger und die in ihr herrschenden Mißbräuche ein radikaler Kritiker seiner zeitgenössischen Kirche. 220 Er bekämpfte vor allem die Veräußerlichung der Religion, die für ihn in allen Spielarten mittelalterlicher Volksfrömmigkeit, wie Heiligenverehrung, Devotionalienkult oder unablässiger Teilnahme an kirchlichen Zeremonien, zutage trat. Diese Kritik wurde von allen reformatorischen Bewegungen aufgenommen. Mehrfach werden auch im Müntzerbrief die „unchristlichen Bräuche" und Zeremonien der Kirche angegriffen. Immer wieder forderten die Radikalen die Beseitigung von äußeren falschen Zeremonien. Auch die Auseinandersetzung um die „Tafeln" beruht auf dem Antagonismus von Äußerlichem und Innerlichem. Die radikalen Kreise gingen, wie bereits festgestellt, über die verbale Verurteilung hinaus und versuchten durch spektakuläre Aktionen die kirchliche Praxis von i. E. „abergläubischen" Elementen wie Bilder- und Heiligenverehrung zu befreien. Die erasmische Kritik an der Kirche als Institution und die Ausformung seiner ekklesiologischen Konzeption ist nach überwiegender Ansicht der Forschung Konsequenz seiner neuplatonisch-origenistischen Ontologie. 221 Ausge218 Vgl. F. Büsser,; Zwingli, ein Zeitgenosse des Erasmus, in: A. Schindler (Hg.), Fritz Büsser. Die Prophezei. Humanismus und Reformation in Zürich. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, Bern 1994,13-25. 219 Vgl. Punkt 4.2 (Exkurs zu den humanistischen Sodalitäten) dieser Untersuchung. 220 Vgl. C. Augustijn, The Ecclesiology of Erasmus, in: J. Coppers (Hg.), Scrinium Erasmianum, Bd. II, Leiden 1969,136 ff.; Kohls, Theologie des Erasmus 1,168 ff. 221 Vgl. F. Krüger, Humanistische Evangelienauslegung. Desiderius von Rotterdam als Ausleger der Evangelien in seinen Paraphrasen, Tübingen 1986,239 ff.

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

245

hend v o n seinem dualistischen Welt- u n d Menschenbild - konkretisiert i m Gegensatz v o n Geist u n d Fleisch, sichtbarer u n d unsichtbarer W e l t - gehört für i h n die Kirche zu den sichtbaren u n d zeitlichen D i n g e n . 2 2 2 D i e antithetische G r u n d s t i m m u n g seiner Theologie ist daher auch i m Bereich der Ekklesiologie maßgeblich, wodurch die äußere Struktur der Religion abgewertet u n d das Wesen, die innere Realität der Kirche, i n den Vordergrund t r i t t . 2 2 3 F ü r Erasmus ist die K i r c h e eine Gemeinschaft, die auf Christus ausgerichtet ist u n d durch seine L i e b e bestimmt wird. „ D i e Kirche ist die Gemeinschaft der i n der Taufe m i t d e m Geist u n d der K r a f t der L i e b e Begabten, die i n der L i e b e Gottes u n d der Liebe z u m Nächsten den Weg zu i h r e m H e r r n z u r ü c k g e h e n . " 2 2 4 Bereits i m „ E n c h i r i d i o n " w i r d die „Liebesgemeinschaft" der Christen nach I K o r 12 ausführlich dargelegt. Das M o t i v v o m L e i b Christi w i r d z u m I d e a l der christlichen Gemeinschaft, der alle Gläubigen gleichberechtigt angehören u n d i n der die gegenseitige karitative L i e b e konstitutiv i s t . 2 2 5 „Hoc unum tibi observetur ob oculos et satis sit: Caro mea est, frater est in Christo. Quod in membrum confertur, nonne in universum corpus redundat atque inde in caput? Omnes sumus invicem membra. Membra cohaerentia constituunt corpus; corporis caput Iesus Christus; Christi caput deus. [...] Haec omnia unum sunt: deus, Christus, corpus et membra." 226 I n der brüderlichen Gemeinschaft sind alle sozialen Unterschiede, auch die Trennung v o n K l e r i k e r n u n d L a i e n aufgehoben. D i e gegenseitige V e r a n t w o r tung füreinander auch i n sozialen Belangen w i r d durch das „ L e i b C h r i s t i - M o t i v " christologisch begründet. „Membrum tuum ringitur inedia, et tu ructas perdicum carnes. Frater nudus horret, tibi tantum vestium tineis et carie vitiatur. [...] Tb dicis: 'Quid mea?" [...] Et postea isto cum animo tibi videris Christianus, qui ne homo quidem sis? [...] Ergo nihil tibi cum corpore, si nihil cum membro. Ne cum capite quidem aliquid, si nihil cum corpore." 227 222 Vgl Augustijn, Ecclesiology, 140. 223

Vgl. Krüger, Evangelienauslegung, 3; C. Augustijn, Erasmus von Rotterdam. Leben, Werk, Wirkung, München 1986,45 f. 224 Kohls, Theologie 1,163. 225 Vgl. Augustijn, Ecclesiology, 140; H. Treinen, Studien zur Idee der Gemeinschaft bei Erasmus von Rotterdam, Saarlouis 1955,182,186. 226 Erasmus, Enchiridion, in: W. Welzig (Hg.), Ausgewählte Schriften. Erasmus von Rotterdam, Bd. 1, Darmstadt 1968,273: „Das eine stehe dir vor Augen und genüge dir: Er ist mein Fleisch, er ist mein Bruder in Christus. Was man einem Glied angedeihen läßt, strömt das nicht über in den ganzen Körper und von da in das Haupt? Wir sind alle wechselseitig Glieder. Zusammenhängende Glieder bilden den Körper. Das Haupt des Körpers ist Jesus Christus [...] Dies alles ist eines: Gott, Christus, Körper und Glieder." 227 Ebd., 279: „Eines deiner Glieder wird von Hunger gequält, und du speist Stücke von Rebhühnern aus. Der nackte Bruder ist starr vor Kälte, und dir verdirbt soviel Gewand durch Fäulnis oder Motten [...] Du sagst: Was kümmert das mich? [...] Und mit dieser Einstellung dünkst du dir schließlich noch ein Christ zu sein, der du nicht einmal ein Mensch bist? [...] So hast du also auch nichts mit dem Körper zu schaffen, wenn du mit dem Glied nichts zu schaffen hast, geschweige denn mit dem Haupte, wenn nicht mit dem,Körper 4."

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5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

In gleicher Weise kritisierte Erasmus jede Machtentfaltung innerhalb der christlichen Gemeinschaft, die gemäß dem christozentrischen Grundansatz seiner Theologie nur dem einen Herrn und Meister, Jesus Christus, zusteht. 228 Ausgehend von dem Vorbild Jesu Christi ist für Erasmus jeder Christ, nicht nur der Kleriker, in seiner Lebenspraxis zum Streben nach Vollkommenheit berufen, die sich in den Maßstäben neutestamentlicher Ethik konkretisiert. Im Müntzerbrief ist das Motiv des Christusleibes grundlegend für alle Aussagen zur Ekklesiologie. Bereits in der Einleitung wird die Gleichrangigkeit aller Glaubenden damit begründet. 229 In der Abendmahlslehre tritt dieses neutestamentliche Bild für die christliche Gemeinschaft wiederum in den Vordergrund. 230 Das „Ein-Leib-Werden" mit Christus und den Brüdern entspricht der dynamischen Abendmahlsauffassung des Erasmus, die eindeutig auf die geistliche Gemeinschaft mit Christus zielt. Die Gemeinschaft der Gläubigen wird nach Aussage des Müntzerbriefs zusammengehalten durch das innere Band der Liebe. 231 Die gegenseitige Liebe und Verantwortung für den Mitbruder, wie sie Erasmus fordert, erscheint ebenfalls im Zusammenhang mit der Abendmahlslehre. Das Mahl erinnert den Christen an den göttlichen Bundesschluß durch den Kreuzestod Jesu, durch den er bereit wird, um Christi und der Brüder willen zu leben und zu leiden. 232 Die Besserung des Lebens, die Enthaltsamkeit nach dem Maßstab des Glaubens und der Liebe, ohne daß kirchliche Gebote und Bestimmungen dazu anleiten, 233 ähneln darüber hinaus dem erasmischen Ideal des Strebens nach Vollkommenheit des einzelnen Christen, das hier auf die Gemeinschaft übertragen wird. Im Enchiridion stellt Erasmus fest, daß nur wenige Gläubige die Kreuzesnachfolge mit ihren Konsequenzen für die Lebensführung auf sich nehmen. 234 Obwohl alle zur Nachfolge des Hauptes Jesu Christi berufen seien, ist die große Mehrheit der Christen s. E. auf einem anderen, „verderblichen" Weg. „Die Schar derer ist winzig und wird es immer sein, in deren Herzen christliche Einfalt, Armut und Wahrheit wohnen. Winzig ist sie, aber glücklich, denn ihr allein gehört das Himmelreich." 235 Diese pessimistische Einschätzung könnte sich prägend auf die radikalen Kreise ausgewirkt haben, die mehrfach von der zahlenmäßig kleinen Schar der wahren Gläubigen ausgehen.236

228

Vgl. Augustijn, Ecclesiology, 142. Vgl. QGTS I, Nr. 14,13. 230 Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung, » ι Vgl. QGTS I, Nr. 14,15. 232 Vgl. ebd. 233 Vgl. ebd., 19. 234 Vgl. Erasmus, Enchiridion, in: Welzig, Schriften, 156 ff.: „Quisquis es, haec arta tibi ineunda semita est, per quam pauci mortalium ambulant." 235 Ebd. 229

* * Vgl. QGTS I, Nr. 14,16,20.

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

247

Ohne Zweifel lassen sich im Müntzerbrief Motive erasmischer Theologie nachweisen, wobei das ekklesiologische Grundmotiv der Kirche als Liebesgemeinschaft im Vordergrund steht. Die konstitutive Bedeutung der Ethik, die auch mit der Formel „Früchte des Glaubens" bezeichnet werden kann, zeigt die strukturelle Verwandtschaft mit der Gedankenwelt des Humanisten. Ebenso berechtigt kann man jedoch auch auf gravierende Unterschiede in der ekklesiologischen Konzeption hinweisen. Für Erasmus steht im Mittelpunkt des Interesses nicht die Kirche, die er in seinen frühen Schriften nur am Rande thematisiert, sondern stets das Individuum. 2 3 7 Die Herausbildung des einzelnen durch das Vorbild Jesu Christi in die unsichtbare Welt des Geistes und die innere Vervollkommnung des einzelnen Christen ist der Ausgangsund Zielpunkt seines theologischen Denkens. Grundlegend auch für seine ekklesiologischen Ausführungen ist demnach die Konzentration auf die Frömmigkeit des einzelnen, dessen „Geistwerdung" 238 dann Konsequenzen für die christliche Gemeinschaft hat. So stellt Augustijn zurecht zur Ekklesiologie des Erasmus fest: „Es ist nicht die Frömmigkeit der Masse, sondern die des Einzelnen. Der Gewissenstrost liegt nicht in der gemeinsam erlebten Anbetung Gottes auf den von der Kirche angebotenen Wegen [...] Der Mensch steht als Individuum vor Gott und geht nur mit Gott und seinem eigenen Gewissen zu Rate." 239

Diese individualistische Grundtendenz ist m. E. im Müntzerbrief nicht nachzuweisen, im Gegenteil, geht es hier doch immer wieder um die Gemeinschaft. Gerade die ausführliche Beschäftigung mit der Kirchenzucht verdeutlicht den Impuls, eine reine, schriftgemäße Gemeinschaft zu schaffen, in der zwischen wahren und falschen Brüdern unterschieden wird. Obwohl die Besserung des Lebens sowie die ethische Verantwortung des einzelnen angesprochen werden, liegt die Betonung nicht auf der Vervollkommnung des einzelnen, sondern auf der Bewährung der Gebote in der Gemeinschaft. Prägnant läßt sich der Unterschied beider theologischen Konzeptionen in der Abendmahlslehre aufzeigen. Während die Radikalen von Erasmus den Gedanken der geistigen „Ein-Leib-Werdung" mit Christus übernehmen, fügen sie gleichrangig die Vereinigung mit den Brüdern an. Wie bereits festgestellt, stimmen Erasmus und die Radikalen in der Kritik an der Veräußerlichung der kirchlichen Praxis überein. Ausgehend von seiner neuplatonisch geprägten Theologie, lenken für Erasmus sichtbare Dinge, zu denen er auch die Zeremonien der Kirche zählt, von der wahren, inneren Frömmigkeit ab. Es geht bei ihm deshalb immer um die innere Befindlichkeit, die Intention des Gläubigen, wobei äußere Aktionen völlig nebensächlich werden, bis hin zur völli-

237 238 239

Vgl. Augustijn, Ecclesiology, 135. Krüger, Evangelienauslegung, 245. Augustijn, Erasmus, 53.

248

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

gen Abwertung des Äußerlichen. 240 Als Konsequenz dieser Spiritualisierung steht er den kirchlichen Zeremonien, die für ihn zum sichtbaren Bereich gehören, indifferent gegenüber. Äußere Zeichen sind s. E. für den in der Nachfolge Christi Vollkommenen letzlich überflüssig. Erasmus setzte sich daher nicht für eine radikale Reform der Sakramentspraxis ein. 2 4 1 Hier liegt der Hauptunterschied zu den Radikalreformatoren, die sich seit 1522 mit allen Mitteln für die konsequente, schriftgemäße Änderung der Gottesdienst· und Sakramentspraxis einsetzten. Die Abschaffung unchristlicher Bräuche, bis hin zur vehementen Absage an jegliche Form von Kirchengesang, ist ein Hauptanliegen des Müntzerbriefes. Die Frömmigkeit, die Glaubenserfahrung und die Predigt des Evangeliums mußten nach Ausweis des gesamten Schreibens in schriftgemäßen Ordnungen und Zeremonien der Kirche Gestalt gewinnen. Gerade hierbei, in der mangelhaften Umsetzung reformatorischer Erkenntnis in der kirchlichen Praxis, gerieten die Reformatoren in das Sperrfeuer ihrer Kritik. Zugespitzt könnte man sagen, während Erasmus auf innere Frömmigkeit setzt, setzten sich die radikalen Kräfte für die äußere Orthopraxie ein. Ein existentieller Wille zur konkreten Gestaltung und Veränderung der kirchlichen Praxis bis in kleinste Details hinein durchzieht die gesamten Ausführungen. Die Begründung für diese diametral entgegengesetzten Interessen ergibt sich m. E. aus dem unterschiedlichen Verständnis der Institution Kirche. Die erasmische Kirchenvorstellung beruht auf dem Ideal der Kirche als mystische Gemeinschaft. Sie ist vornehmlich als eine geistige, nicht äußerlich manifeste Vereinigung gemeint. 242 „Der Kirchenbegriff wird erweitert zur Vorstellung eines universalen, d. h. der Möglichkeit für jeden immer offenen geistigen Heilsraumes. Kirche ist überall dort, wo philosophia Christi verwirklicht wird, wo es um ewige Wahrheit und um das Heil, d. h. um den karitativen Dienst am Menschen, an der Gesellschaft, im Geben und Nehmen geht." 243

Von dieser spiritualistischen Konzeption ausgehend akzeptierte Erasmus die römische Kirche, obwohl sie von seinem Ideal abwich. Da die Institution Kirche für ihn nie wesentlich war, konnte er den Reformeifer, der den kirchlichen Frieden gefährdete, nicht gutheißen. 244 Bereits im Enchiridion verwahrte er sich bei aller Kritik an der Kirche gegen eine Verachtung kirchlicher Gebote und Bräuche, um die „Schwachen" zu schonen 2 4 5 Augustijn resümiert:

240

Vgl. Augustijn, Erasmus, 48. * Vgl. ebd. 242 Vgl. Treinen, Studien, 186. 243 Ebd. 244 Vgl. Augustijn, Ecclesiology, 154. 245 Vgl. Erasmus, Enchiridion, in: Welzig, Schriften, 231. 24

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

249

„His ideal is one, united and concordant Christendom. He knows that the Church of Rome has strongly deviated from this ideal but, to paraphrase his words, there would be no point in learning to join the Church of the Reformation which, in spite of its pretention, has strayed just as far." 246

Eine klare ekklesiologische Konzeption liegt im Müntzerbrief nicht vor. Aber es läßt sich m. E. bereits vor der Erörterung der Tauflehre feststellen, daß es den Verfassern eindeutig um die sichtbare Gestalt der Kirche ging. Alle Anweisungen zielen auf die konkrete Reform der Institution Kirche. Der Reformwille ist so dominant, wobei die Schriftgemäßheit das Kriterium bildet, daß selbst das Gewissen der „Schwachen" kein Maßstab mehr sein darf. Vielmehr wird jede Verzögerung der radikalen Erneuerung der Kirche als unchristlich verurteilt. Wenn es auch inhaltliche Parallelen zu Erasmus gibt, wie oben aufgezeigt, treten im Verhältnis zur Kirche als Institution die Auffassungen weit auseinander. Von daher kann Davis nicht zugestimmt werden, daß im Bereich der Ekklesiologie die größten Übereinstimmungen zwischen erasmischer und täuferischer Theologie liegen, ebensowenig, daß sein Einfluß wichtiger als der anderer Reformatoren gewesen sei. Aufgrund unserer Untersuchung kann bei Erasmus in keiner Weise die Tendenz zur Bildung einer neuen Kirche oder Minderheitskirche festgestellt werden, wie Davis behauptet. Auch wenn andere Parallelen zur Theologie der Prototäufer durchaus gezogen werden können, unterscheiden sich die Radikalen besonders im Blick auf die erasmische Anthropologie und die Spiritualisierung des Kirchenverständnisses signifikant von dem Humanisten. Sie waren von Erasmus geprägt, übernahmen gewisse Schlüsselgedanken, wie die Kirche als „Liebesgemeinschaft", ohne dessen theologisches System zu rezipieren. Darüber hinaus erhebt sich die Frage, ob die Analogien zur erasmischen Theologie sich nur „via Zwingli" auf die radikalen Kreise ausgewirkt haben. Nachdem bereits einige Konturen der Ekklesiologie des Müntzerbriefs deutlich geworden sind, soll im folgenden ein Vergleich mit der frühen ekklesiologischen Konzeption Zwingiis vorgenommen werden, die über die oben erbrachte Untersuchung seines Verständnisses der kirchlichen Disziplin hinausgeht. Dabei kommen vor allem die ekklesiologischen Thesen der Auslegung der Schlußreden in Betracht. Zwingli definiert hier, nach einer genaueren Begriffsanalyse des neutestamentlichen und alttestamentlichen Befunds, die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen. 247 Er wendete sich mit diesem Ergebnis, das dem reformatorischen Konsens entsprach, gegen die Vorstellung einer repräsentativen Kirche und die hierarchische Struktur der bisherigen Kirche. Die Kirche ist die Gemeinschaft aller, die an Jesus Christus glauben. Zwingli verwahrt sich in den Schlußreden vor allem gegen die stellvertretende Rolle der römischen Amtskirche. Ihr gegenüber profilierte er die Kirche 246 247

Augustijn, Ecclesiology, 155. Vgl. Ζ II, 55 ff.

250

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

als eine vom Geist Gottes versammelte Gemeinschaft der Heiligen bzw. der Christusgläubigen. Er bestreitet, unter dem Hinweis auf die alleinige Autorität der Heiligen Schrift, die Legitimität der päpstlichen Lehrgewalt, der Konzilien und der Tradition. Ohne Zweifel vertrat Zwingli in den Schlußreden genuin reformatorische Grundpositionen zur Ekklesiologie. 248 Grundlegend für seine Ausführungen ist, ebenso wie bei Erasmus und auch im Müntzerbrief, die Leib-Christi-Vorstellung. Von diesem ekklesiologischen Grundkonsens der Reformatoren wichen die Radikalen nicht ab. Für Zwingli umfaßt die wahre Kirche alle Gläubigen an allen Orten und zu allen Zeiten. Daher tritt sie als solche nie leiblich zusammen, sondern ist ihrem Wesen nach unsichtbar und nur Gott allein offenbar. 249 Dieser universalen, unsichtbaren Kirche, deren Realität nur im Glauben erfaßt werden kann, tritt die sichtbare Kirche in Form der Ortsgemeinde an die Seite. In der Einzelgemeinde stehen die Verkündigung des Evangeliums und die Lehrunterweisung im Zentrum. Hier findet auch die Kirchenzucht nach M t 18 ihre Anwendung. Die sichtbare Kirche, die in der Vielzahl einzelner Kirchengemeinden besteht, ist nicht mit der wahren Kirche identisch. Diese ist vielmehr eine eschatologische Größe, die zwar im Geist und im Glauben auch in der Gegenwart real, aber zugleich nicht sichtbar, sondern nur Gott bekannt ist. Über die Merkmale der sichtbaren Kirche fehlen in den Schlußreden weitergehende Ausführungen. Zwingli konzentrierte sich auf die dogmatische Darlegung der universalen unsichtbaren Kirche, die der ecclesia representativa kontrastierend gegenübersteht. A b 1525 verwendete Zwingli für die Beschreibung der Natur der sichtbaren Kirche das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen nach M t 13,24-30. 250 In der ecclesia visibilis waren demnach für Zwingli Gläubige und Ungläubige vereint. Große Aufmerksamkeit widmete die Forschung der spezifisch Zwinglischen Verhältnisbestimmung von Christengemeinde und Bürgergemeinde. 251 Es besteht weitgehend Konsens darin, daß Zwingli eine korporative Ekklesiologie entwickelte, die von der Einheit der kirchlichen und städtischen Ordnung ausging. Walton kann diese ekklesiologische Grundeinstellung, die von der Kooperation von Kirche und Obrigkeit ausging, eindrucksvoll für den Gesamtverlauf der Zürcher Reformation nachweisen. Über die Konsequenzen der korporativen Ekklesiologie, zu der die Erfahrungen mit dem christlichen Magistrat gehörten, führt Walton im Blick auf die Ortsgemeinde aus: „This faith led him to spiritualize the church and to identify the visible church 248 Vgl. Pöhlmann, Abriß, 299 f.; Joest, Dogmatik II, 527: „Die Kirche sind die Glaubenden selbst in ihrer Vergemeinschaftung durch die Predigt des Evangeliums [...]". 249 Vgl. A. Farner, Die Lehre von Kirche und Staat bei Zwingli, Darmstadt 1973,4 f.; Fugel, Tauflehre, 112 f. 250 Vgl. Famer, Lehre, 7. 251 Vgl. Walton, Theocracy, 220-226; Stayer , Anfänge, 22; Gäbler, Zwingli, 67,70 f.

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

251

with the outward structure of the community [.. .]." 2 5 2 Die Identifizierung von Bürgergemeinde und Christengemeinde wird in den ekklesiologischen Artikeln der Schlußreden nicht dargelegt. Auffallend ist Zwingiis Desinteresse an der sichtbaren Kirche, ihrer Aufgabe und ihrer Struktur sowie eine Konzentration der Darstellung auf die Bedeutung der unsichtbaren Kirche. Hier liegt m. E. der gewichtigste Unterschied zu den ekklesiologischen Thesen des Müntzerbriefs, in denen jeder Bezug auf die unsichtbare und universale Kirche fehlt. Alle Anweisungen kreisen vielmehr um die schriftgemäße Gestaltung und Erneuerung der sichtbaren Kirche. Eine die Ortsgemeinde übergreifende Ekklesiologie wird nicht reflektiert. Gerade der zentrale Satz zeigt die Fixierung auf die sichtbare Gemeinde: „Züch mit dem wort und mach ein christenliche gmein [...]." 2 5 3 In dieser Formulierung wird das reformatorische Verständnis der Kirche als „creatura verbi" 2 5 4 eigenartig anthropozentrisch gewendet. Verweist das Theologumenon im ursprünglichen Sinn darauf, daß Christus selbst durch sein Wort die Kirche entstehen und bestehen läßt, so legen die Formulierungen des Müntzerbriefs nahe, daß dieses schöpferische Wort in der Verantwortung des Menschen liegt. Die Gemeinde Jesu Christi läßt sich demnach „generieren." Der aktivische, sogar kreative Sinn der verwandten Verben bestätigt die These, daß dabei an eine Neugestaltung bzw. Neuschaffung der wahren Kirche gedacht war. 2 5 5 In der durch das Wort gezeugten und also neugeschaffenen Gemeinde gilt die Regel Christi. Sie garantiert die Reinheit der Gemeinde als wahre Kirche. Die Kirchenzucht ermöglicht die Unterscheidung von falschen und wahren Brüdern. 2 5 6 Dem Desinteresse Zwingiis an der äußeren Ordnung der sichtbaren Kirche steht der Eifer seiner Gefolgsleute zur schriftgemäßen Neugestaltung der einzelnen Ortsgemeinde gegenüber. Die Spiritualisierung des Kirchenbegriffs bei Zwingli wurde von den Radikalen nicht übernommen, die sich im Gegensatz dazu auf die öffentliche, sichtbare Ordnung der Gemeinde Jesu konzentrierten. 257 In dieser Vorordnung der sichtbaren Gemeinde vor jeder Reflexion über die universale Kirche liegt m. E. der Schwerpunkt des theologischen Dissenses zwischen dem Hauptreformator und den Radikalen. Die Überzeugung von der „Machbarkeit" der wahren Kirche riß eine Kluft zwischen Zwingli und seinen Anhängern auf. Im Bereich der Ekklesiologie, die im Müntzerbrief noch keineswegs systematisch dargelegt wird, zeigen sich gra252

Walton, Theocracy, 226. QGTS I, Nr. 14,17. 254 Vgl. Joest, Dogmatik II, 528. 255 Vgl. Antiquarische Gesellschaft in Zürich (Hg.), Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache, Bd. 4, Fraunfeld 1901,20. Fast übersetzt hier m. E. wenig hilfreich mit: „Werde Zeuge des göttlichen Wortes [...]", (Fast, Linker Flügel, 19). 256 Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung. 257 Vgl. Fast, Wahrheit, 28 f.

252

5 Kontaktaufnahme der Prototäufer mit anderen radikalen Reformatoren

vierende Unterschiede zur Zwinglischen Konzeption. Andere reformatorische und vorreformatorische Denker, wie Erasmus, trugen zur eigenständigen Profilierung der Gemeindelehre der Radikalen bei. Goertz vertritt unter Verweis auf die reformierte Tradition die Ansicht, daß die konsequente Anwendung der Gemeindezucht kein zwingender Beweis für die freikirchliche Konzeption des Kreises um Grebel und Castelberger sei. 258 Trägt man noch einmal die spezifischen Aussagen zur Ekklesiologie zusammen, muß jedoch zumindest eine deutliche theologische Akzentverschiebung zugunsten der sichtbaren Gemeinde konstatiert werden. Grundlegend für die Verfasser war das paulinische Motiv des Leibes Christi, zu dem alle Glieder durch das Wort zusammengeschlossen wurden. Die gleichberechtigten Glieder sind in bruderschaftlicher Liebe einander zugetan. Die Betonung des Gemeinschaftscharakters des Abendmahls stimmt mit diesem ekklesiologischen Grundgedanken überein. Die Anwendung der Kirchenzucht, die in der Kompetenz der Gemeinde liegt, sollte zur Abwehr einer lediglich äußerlichen Abendmahlsteilnahme, zur Trennung von wahren und falschen Brüdern und zur Erhaltung gegenseitiger Liebe beitragen. Weitere Kennzeichen dieser Gemeinschaft sind das gemeinsame Gebet und eine asketische Lebensführung. Die so verfaßte Gemeinde ist der Verfolgung ausgesetzt und wendet keine Gewaltmittel zu ihrem Schutz an. Die bisherigen Erfahrungen zeigten den Radikalen bereits, daß nur wenige zu diesem Weg der wahrhaft Gläubigen bereit waren. Ohne Zweifel liegen hier theologische Ansätze für eine freikirchlich zu nennende Kirchenverfassung vor. Besonders der Aufruf an Müntzer, eine christliche Gemeinde zu schaffen bzw. zu „zeugen", sowie dessen Konzentration auf die äußere Ordnung der Gemeinschaft legen die tendenzielle Entwicklung zu einer freikirchlichen Konzeption nahe. In diesem Zusammenhang muß erneut auf den bereits 1523 vorgelegten Plan einer neuen Kirche verwiesen werden, den der Hauptreformator zurückwies. 259 Wiederholt betont Zwingli, daß er sich gegen die Errichtung einer neuen Kirche, die von seinen Anhängern gefordert würde, ausgesprochen habe. Die spiritualistische Färbung der frühen Ekklesiologie Zwingiis weist erstaunliche Parallelen zu Erasmus auf, entsprach aber nicht dem Gemeindeverständnis seiner radikalen Freunde, die durch das von Karlstadt übernommene radikalisierte Schriftprinzip und durch die Erfahrungen ihrer Organisationsform in eigenständigen Bibelkreisen eine alternative Ekklesiologie anstrebten. Wie ihr Gemeindeverständnis in der Öffentlichkeit wirkte, schildert Zwingli in seiner Schrift über die wahren Aufrührer vom Dezember 1524. 260 Vehement kritisiert er den geistlichen Hochmut der Radikalen, aus dem her258 259 260

Vgl. Goertz, Täufer, 98. Vgl. Punkt 4.4 dieser Untersuchung. Vgl. Ζ I I I , 404 ff.

5.2 Grebel und Genossen an Müntzer

253

aus sie ständig die Lebensführung anderer Menschen beurteilten und sich von ihnen absonderten. „Sind so gût, das sy nieman grûtzend, der inen begegnet unnd nitt gevallt." 261 Der Reformator wirft ihnen vor, nicht das rechte Maß zu haben, um „in den lastren ze straffen." Hier wird die Tendenz zu einer konsequenten Milieukontrolle erkennbar. In diesem Zusammenhang unterstellt Zwingli den ehemaligen Gesinnungsgenossen, daß sie in der Gefahr stünden, einer Werkgerechtigkeit Vorschub zu leisten. Einerseits versuchte er, ihr Streben nach einer erkennbaren christlichen Lebensführung positiv aufzunehmen und beklagt gleichzeitig ihren unbarmherzigen Umgang mit den Zeitgenossen. „Daby ist das üwer einiger flyß, das man christenlich lebe, so müssend ir die, so nit christenlich lebend, nit mit nachred oder schelcken ziehen, sonder mit senffte, mit rüwender liebe." 262

5.2.7 Gewaltlosigkeit Den ekklesiologischen Thesen folgen einige kurze Bemerkungen über die grundsätzliche Gewaltlosigkeit der christlichen Gemeinde. Im Zuge der revisionistischen Täuferforschung wurde gerade dieses Themenfeld - Verhältnis zur Schwertgewalt, Pazifismus, Gewaltlosigkeit - einer eingehenden Prüfung unterzogen, 263 so daß hier nicht näher darauf eingegangen werden soll. Aus dem Brieftext geht eindeutig hervor, daß die wahrhaft Gläubigen nach Ansicht der Radikalen auf jede Gewaltanwendung verzichten sollten, selbst wenn diese zugunsten des Evangeliums erfolgte. Die Gemeinde Jesu Christi wird als leidende Gemeinschaft inmitten einer feindlichen Welt begriffen, was durch das apokalyptische und auch im Neuen Testament begründete Motiv von den „Schafen unter den Wölfen" ausgedrückt wird 2 6 4 Ähnlich wie in den Ausführungen zur Aufstellung der „Tafeln" dem neutestamentlichen Zeugnis das größere Recht zugewiesen wird, so wird auch im Blick auf die Legitimität des Krieges das „alte Gesetz" der neuen Wirklichkeit entgegengesetzt. Die Gegenwart der Gemeinde Jesu ist gekennzeichnet durch Leiden und Verfolgung. Der apokalyptische Sprachgebrauch fällt dabei besonders ins Auge. Auch im Nachschreiben findet die mit Nachdruck vertretene Erwartung des Martyriums ihren Ausdruck. 265 Nienkirchen betont die bedeutende Funktion apokalyptischer Vorstellungen für die Ekklesiologie des Müntzerbriefs. 266 Er zeigt in Grebels Korre261

Ebd., 404. Ebd., 407. 263 ygi j m. Stayer , Anabaptists and the Sword, Lawrence 31973. 262

264

Vgl. QGTS I, Nr. 14,17. Vgl. ebd., 27. 91 Ebd. 92 Vgl. Punkt 4.6 dieser Untersuchung. 93 Vgl. QGTS I, Nr. 18,30; „Wer Ursache gebe zu Aufruhr," Dezember 1524, Ζ I I I , 355-469. 94

Vgl. Locher, Reformation, 382.

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Widmung an die Stadt Mühlhausen und ihren reformfreundlichen Prediger N. Prugner, dem zur selben Zeit revolutionäre Agitation unterstellt wurde, 95 weist auf Zwingiis Absicht hin, durch seine Schrift den gefährlichen Schatten des politischen Verdachts von der reformatorischen Bewegung fernzuhalten. Die gravierenden Konsequenzen für jene Reformkräfte, die des politischen Aufruhrs bezichtigt wurden, hatten sich für Zwingli bereits im Fehlurteil gegen die Anführer des Ittinger Klostersturms gezeigt. 96 „Das Urteil verknüpfte Aufruhr und Ketzerei, d. h. es stempelte die Ketzerei zum Aufruhr gegen die Obrigkeit." 9 7 Die Reformbewegung stand im Dezember 1524 selbst in Gefahr, als Quelle des innen- und außenpolitischen Unfriedens und der sozialen Unruhe bezeichnet zu werden. In dieser Situation war Grebel bekannt geworden, daß Zwingli zum Thema des Aufruhrs Stellung nehmen wollte. Der Grad an Distanz zwischen den einstigen Gefolgsleuten Zwingiis und dem Reformator wird durch die Tatsache deutlich, daß Grebel damit rechnete, daß Zwingli die radikalen Kreise zur Entlastung seiner eigenen Position der politischen Unzuverlässigkeit bezichtigen werde. 98 Als Konsequenz dieser Schrift vermutete Grebel die Einleitung von Verfolgungsmaßnahmen durch die Obrigkeit. „Man wil von ufrûreren schriben. A n der frucht wirt man sy bekennen, by dem verjagen und dargeben an daß schwert. Ich mein nit, daß Verfolgung ußbliben werd." 9 9 Grebel rechnete also mit der Kriminalisierung der Radikalen durch ihren einstigen Lehrer, was zweifellos die obrigkeitliche Unterdrückung der radikalen Bewegung auslösen würde. Die Protestation, die Zug um Zug eine Widerlegung der Zwinglischen Taufauffassung verfolgt und die sich - versteckt oder offen - gegen die Person des Reformators richtet, ist ein weiterer Beleg dafür, daß die Radikalen bereits zum Jahreswechsel 1524/25 in Zwingli ihren Hauptgegner sahen. In der Schutzschrift kommt nicht nur die Enttäuschung über die moderate Reformstrategie Zwingiis zum Ausdruck. Dem Reformator wird vielmehr die bewußte Verleugnung der Wahrheit sowie die Absicht unterstellt, seine einstigen Freunde wider besseres Wissen der Obrigkeit auszuliefern. Die Beziehungen zu Zwingli hatten durch die Härte der Auseinandersetzung in der Tauffrage eine neue Dimension erreicht. Auch der Reformator erkannte die überaus gespannte Situation, zog aber daraus nicht die von den Radikalen gefürchteten Konsequenzen. I n seiner Schrift vom „Aufruhr" zählte er sie nicht zu den wahren Aufrührern, sondern charakterisierte sie als eine A r t „Aufrührer minderer Kategorie", die dabei 95 96 97 98 99

Vgl. Locher, ebd. Vgl. Gäbler, Zwingli, 80. Locher, Reformation, 159. Vgl. QGTS I, Nr. 18,30. Ebd., 31.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

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gute Christen sein wollten. 100 Trotz der klaren Unterscheidung der Reformkräfte von der altgläubigen Seite, die als Urheber des „wahren Aufruhrs" identifiziert werden, kommt auch die Uneinigkeit des reformatorischen Lagers zur Sprache, in dem es nach Zwingli zu störenden Auswüchsen gekommen sei. Er differenziert in diesem Kontext zwischen denjenigen, die sich nur aufgrund von Ressentiments gegenüber der Papstkirche zur neuen Lehre gewandt hätten, und denen, die die reformatorische Freiheit libertinistisch auslegen sowie pekuniäre Vorteile aus ihr ziehen wollten. Als vierte Gruppe innerhalb der Reformpartei erscheinen die Radikalen, denen Zwingli Streitsucht aufgrund „äußerer Dinge" 1 0 1 zum Hauptvorwurf macht. In seinen Äußerungen wird die Verbitterung über die gescheiterten Verhandlungen deutlich. „So man die kinder toufft, schrygend sy, das man ghein grösser abomination, grüwen oder sünd in der christenheyt tûge, weder das man kinder touffe." 102 Zwingli beklagte die ständige Kritik durch diese Kreise, die selbst für keinerlei Belehrung offen seien. Seine Enttäuschung über das illoyale Verhalten seiner früheren Anhänger und die permanente Opposition dieser Radikalreformer, die sich in fortgesetzten Diskussionen, Predigtstörungen und öffentlichen Streitereien auswirkte, verschafft sich in seiner Charakterisierung der Radikalen Luft: „Kempffend also an allen eggen, straassen, lädenn, wo sy es zû wägen könnend bringen." 103 Die zynische Schilderung des Treibens der Radikalen entspricht positiv gewendet dem Bild und den operativen Möglichkeiten einer Laienbewegung. Auch in den vorangegangenen Auseinandersetzungen um die kirchliche Erneuerung hatten die Radikalen ihre Sozialkontakte genutzt, um intensiv für die Reform zu werben. 104 Wie bereits die Agitation in der Meß- und Bilderfrage gezeigt hatte, führte das neue Selbstbewußtsein dieser Kreise dazu, daß die Lehrgespräche nicht länger den Prädikanten und dem Klerus überlassen wurden. Die Organisationsform der Radikalen, die sich in Bibelkreisen versammelten, verurteilt Zwingli nun als „Kampfhäuser" 105 und Stätten konspirativer Zusammenrottung. Bei aller Kritik und Polemik bezeichnete Zwingli die Radikalen in dieser Schrift jedoch weiterhin als Brüder. 1 0 6 Er sprach sie sogar indirekt an und ermahnte sie zum Abtöten des „alten Adams", so daß sie durch ihre vorbildliche Lebensführung, nicht aber durch fortgesetzte Kritik, die Reform unterstützten. Zwingli erwähnt neben dem Hauptvorwurf der Streitsucht auch weitere Charakteristika der prototäuferischen Bewegung, die bereits mehrfach in der 100

Vgl. Ζ I I I , 403-412. Vgl. ebd., 404. Ebd. Ebd. km Vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung. 101

105

Vgl. Ζ I I I , 405. 106 vgl. ebd., 406 „Also erman ich dise brûder [...]."

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Forschung interpretiert wurden. Als forschungsgeschichtlich besonders einflußreich erwies sich dabei die Deutung Stayers, der in den Aussagen Zwingiis eine Widerspiegelung der divergierenden theologischen Konzeptionen der Täufer sah. 107 Zwingli warf den Radikalen vor, sie hätten keine einheitliche Anschauung von ihrer Stellung zur Obrigkeit. „letz wellend sy ghein obergheit haben; denn wellend sy die obergheit haben; doch so sye keiner ein christ, welcher ein obrer sye. Bald wellend sy ein eigne kilchen haben, darnach sol ein oberhand mit gwalt das predgen deß euangelii nit schirmen. letz sol man die verfûrischen pfaffen ze tod schlahen; bald sol man sy on gwalt fry lassen predgen." 108

Die aufgeführten Ungereimtheiten sind keine durchgehenden Gegensatzpaare. Sie erscheinen eher wie Bruchstücke, die an ganz unterschiedliche Äußerungen der Radikalen anknüpften (u. a. den Plan einer besonderen Kirche, Müntzerbrief, Stumpfs Ausfall gegen den Klerus). Die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen Grebel und Stumpf bzw. der stadtzürcher und landzürcher Täuferbewegung aus den polemischen Anmerkungen Zwingiis ist nach den bisherigen Ergebnissen der Untersuchung m. E. überzogen. Aus den vorhandenen theologischen Versatzstücken wird nur erkennbar, daß die Radikalen zu bestimmten Fragen der Lehre noch keine abschließende Position gefunden hatten. Die Unausgereiftheit der ekklesiologischen Konzeption und auch der Tauflehre wurde bereits im Zusammenhang des Müntzerbriefs festgestellt. Es wäre sicher verfehlt, den Prototäufern und Zwingli zu diesem frühen Zeitpunkt eine abgeschlossene ekklesiologische und sozialethische Programmatik zu unterstellen. Auch innerhalb der radikalen Bewegung standen sich m. E. nicht zwei konkurrierende Modelle der Kirchenverfassung, sondern verschiedene Anschauungen gegenüber, die aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig den beteiligten Personen zugeordnet werden können. Erst im Verlauf des Konflikts vollzog sich zunehmend eine Profilierung der einzelnen Standpunkte. Zwingli kritisiert in seiner Schrift über den „Aufruhr", daß die Radikalen sich von ihren Kontrahenten zu isolieren begannen, so daß sie sogar das allfällige Grüßen der mit ihnen dissentierenden Reformkräfte verweigerten. 109 Aus dieser Bemerkung kann sicher nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, daß die Radikalen bereits zu diesem Zeitpunkt nach 2Joh 10 handelten und generell ihre Gegner nicht mehr grüßten. 110 Es muß deshalb m. E. davon abgesehen werden, aus Zwingiis Kommentierung, die durch die eskalieren-

107 108

Vgl. Stayer, Sword, 99. Ζ III, 404.

™ Vgl. ebd. 110 In der späteren Täuferbewegung war die Verweigerung des Grußes gegenüber der als feindlich betrachteten Umwelt durchaus üblich. Vgl. Punkt 12.2 dieser Untersuchung.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

313

den Spannungen mit den Kindertaufgegnern geprägt war, unmittelbare Rückschlüsse auf die Lehrbildung der Prototäufer zu ziehen. Ein Kritikpunkt Zwingiis erhält jedoch im Blick auf die bisherigen Ergebnisse besonderes Gewicht. Zum Ende seiner Ausführungen über die Radikalen wiederholt der Reformator eindringlich seine Mahnung, nicht wegen „äußerer Dinge" zu streiten. 111 In dieser Formulierung verbirgt sich der bereits ausführlich geschilderte Hauptunterschied zu den Prototäufern, der anläßlich der Interpretation des Müntzerbriefs zutage trat. Für die Radikalen gehörte die Reform der äußeren Ordnung der Kirche sowie der Gottesdienst- und Sakramentspraxis unabdinglich unter die Richtschnur des göttlichen Wortes. Diesen theologischen Grundsatz, der im radikalen Schriftprinzip Karlstadts seinen Ursprung hatte, verkannte Zwingli, als er die Kontroverse als vordergründige Streitigkeiten um periphere Dinge qualifizierte. Den Radikalen ging es in der Auseinandersetzung mit Zwingli, wie die Protestation zeigt, jedoch auch in den praktischen Fragen um das Fundament der gesamten Reform. So beteuert Mantz, daß die Erneuerung der „ceremonien" nach dem Befehl Christi „nicht ein kleins ist, wie wol es anders furgeben wirdt." 1 1 2 M i t ganzem Ernst versucht er auch gegen Ende seiner Schutzschrift zu beweisen, daß die schriftgemäße Reform der Sakramentspraxis unabweisbar ist. Aus der Schrift sei zu entnehmen, „das gott haben wil, das wir seine gebott und ceremonien halten, wie er sy uns gebotten hatt; habend ouch vil exempel, gott größlich gestrafft haben das ubertretten der eußerlichen gebotten [...]." 1 1 3 Obwohl Zwingli die Radikalen von den „wahren Aufrührern" unterschied, sah er in ihnen eine potentielle Gefährdung seines Reformwerkes, wie die intensive Auseinandersetzung in der Tauffrage zeigt, die schließlich mit der Zustimmung Zwingiis zur Zerschlagung der Zürcher Täuferbewegung führte. Durch seine wenn auch nur grob differenzierende Zuordnung der Prototäufer zu den aufrührerischen Kräften, die den Reformprozeß gefährdeten bzw. den sozialen Frieden störten, trug er zu deren öffentlicher Diskreditierung bei. Die negative Einstellung des Rates zeigte sich bereits im Januar 1525 anläßlich der Ausschreibung zur Disputation, die bereits das Ergebnis präjudizielle. 114 Die Perspektive drohender Verfolgung durch die Obrigkeit bildete daher den Rahmen für das Verständnis der Protestation. Mantz selbst nannte als primäre Beweggründe für die Abfassung der Schrift den Vorwurf des Aufruhrs, der gegen ihn erhoben wurde und ihn zu Unrecht kriminalisierte, und erst in zweiter Linie den unbefriedigenden Ausgang der „Dienstagsgespräche".

m Vgl. Ζ I I I , 412. uz QGTS I, Nr. 16,24. h 3 Ebd., 27. 114 Vgl. Punkt 7.1.2 dieser Untersuchung.

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6.2.4 Argumentation gegen die Kindertaufe Das abgesehen von der Behauptung, die Kindertaufe sei eine Erfindung des Papsttums zuerst genannte und wohl zentrale Argument gegen die Kindertaufe erwähnte Mantz bereits in seiner Darstellung des s. E. unfairen Verhandlungsverlaufs der Dienstagsgespräche. 115 Christus hätte nicht gelehrt, daß man Kinder taufen solle, und die Apostel hätten ebenfalls die Praxis der Kindertaufe nicht gekannt. Die Taufe bedeute vielmehr, daß nur diejenigen sie empfangen sollten, die sich bessern, den Lastern absterben und ein neues Leben führen wollten. Ausgeführt wird diese Prämisse anhand der Interpretation von Rom 6. Dieser Teil der Ausführungen weist deutliche Parallelen zur Tauflehre des Müntzerbriefs auf, die ebenfalls die ethische Anwendung von Rom 6 als Element der Tauflehre aufgriff. Daß Christus die Kindertaufe nicht gelehrt und eingesetzt habe sowie der Hinweis auf die apostolische Tradition, in der die Kindertaufe nicht praktiziert worden sei, scheinen die wichtigsten Argumente der Prototäufer in den Dienstagsgesprächen gewesen zu sein. Zwingli nennt im Brief an Lambert dementsprechend beide Thesen nacheinander als primäre Gegenthesen seiner Kontrahenten. 116 Nach Zwingiis Bericht versuchten die Prototäufer mit der Perikope der Kindersegnung aus M k 10,13-16 zu beweisen, daß Christus keineswegs den Befehl zur Kindertaufe gegeben habe. 117 Christus ließ zwar die Kinder zu sich kommen, habe aber nicht befohlen, sie zu taufen noch taufte er sie selbst. Dieses argumentum e silentio läßt sich bereits im Müntzerbrief als hermeneutischer Grundsatz nachweisen und hat seinen Ursprung vermutlich in Karlstadts Theologie: „waß wir nit gelert werdend mit claren Sprüchen und bispilen, sol unß alß wol verbotten sin." 1 1 8 Die weitergehende Auseinandersetzung um den Evangeliumsbericht der Kindersegnung wurde bereits im Zusammenhang mit dem „Dialogus" näher ausgeführt. 1 1 9 Auffällig ist, daß die Schutzschrift auf eine Beschäftigung mit den Fragen des Kinderglaubens, der „Natur" des Kindes u.ä. völlig verzichtet, während diese Argumentation noch im Müntzerbrief breiten Raum einnahm und nach dem Kommentar Zwingiis auch in den Dienstagsgesprächen thematisiert worden war. Entweder hatte Zwingli durch seine Widerlegung die Sicherheit der Kindertaufgegner in dieser Frage erschüttert, so daß Mantz auf die Wiederholung ihrer Beweisführung verzichtete, oder - was wohl eher zutrifft - es überwog auch in diesem Zusammenhang das Interesse der Protestation, das Zwinglische Taufverständnis zu widerlegen. Hinter dieses vorrangige Ziel, das eine Konzentration auf die Widerlegung der us Vgl. QGTS I, Nr. 16,23. 116 Vgl. Ζ V I I I , 271 f.; Saxer, Zwingli, 113 f. 117 Vgl. Ζ V I I I , 272; Saxer, Zwingli 113. 118 QGTS I, Nr. 14,15. 119 Vgl. Punkt 6.2.2 dieser Untersuchung.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

315

Kernpunkte der Zwinglischen Tauflehre zur Folge hatte, trat die Darstellung der eigenen Tauflehre merklich zurück. Analog zu der fehlenden Einsetzung der Kindertaufe durch Christus existierte für die Radikalen auch kein Schriftbeweis für die Praxis der Kindertaufe in der apostolischen Zeit. 1 2 0 Daher fand für sie notwendigerweise auch hier das konsequente Schriftprinzip seine Anwendung. Gegen dieses Argument führte Zwingli seine Auffassung von der typologischen Bedeutung der Beschneidung zur Stärkung seiner argumentativen Basis ein. Aus dem Vergleich der Protestation mit Zwingiis Brief an Lambert wird ersichtlich, daß Mantz die Kernaussage der Kritik an der Kindertaufe - Christus habe sie nicht befohlen und die Apostel hätten sie nicht praktiziert - in seiner Schutzschrift zwar als erstes Argument gegen die Kindertaufe erwähnt, aber darauf nicht näher eingeht, obwohl diese These einen Schwerpunkt der Diskussion bildete. Dieser erstaunliche Befund kann erneut nur durch den Hinweis auf seine vorrangige Intention einer möglichst fundierten Widerlegung der Zwinglischen Position erklärt werden. Durch diese Beobachtung wird der Charakter der Protestation als Gelegenheitsschrift, die ohne den zeitgeschichtlichen Kontext nicht verstanden werden kann, wiederum bestätigt. Es ist daher nicht angebracht, die Protestation als Zusammenfassung der Tauflehre zu bezeichnen. 121 Erst der Vergleich mit Zwingiis retrospektivisch verfaßten Bericht über die Gespräche in seinem Schreiben an Lambert ermöglicht m. E. eine sachgemäße Annäherung an den damaligen Standpunkt der Prototäufer in der Tauffrage. Als ersten Schwerpunkt seiner Auseinandersetzung mit Zwingli führt Mantz die umstrittene Deutung der Johannes taufe an. 1 2 2 Auch Zwingli stellt in seinem Brief an die Straßburger die Johannestaufe als erstes beweiskräftiges Argument für die Legitimität der Kindertaufe heraus, 123 das auch in seinen späteren Taufschriften maßgeblich bleibt. 1 2 4 Bei der Auslegung der Johannestaufe ging es Zwingli um den Nachweis, daß die Wassertaufe zurecht an denjenigen vollzogen wird, die noch keine Glaubenserkenntnis besitzen: „quod autem baptismus cis etiam datus sit, qui credituri erant, Io. 1. clarissime patet." 1 2 5 Die Spendung des Taufsakraments sei der Glaubenserkenntnis vorausgegangen, da die Menschen, die Johannes der Täufer taufte, weder Christus als Person noch sein Heilshandeln gekannt hätten. Daher sei die Kindertaufe, die an denjenigen vollzogen werde, die noch nicht glaubten, kein 120 Vgl. Z V I I I , 273; Saxer, Zwingli, 114. 121

Vgl. Fugel, Tauflehre, 209, Anm. 110. 122 Vgl. QGTS I, Nr. 16,24. 123 Vgl. Ζ V I I I , 269 f.; Saxer, Zwingli, 111 f. 124 Vgl. Fugel, Tauflehre, 281 ff. 125

Ζ V I I I , 269; Saxer, Zwingli, 111: „Daß nun also die Taufe auch für diejenigen eingesetzt worden ist, die erst zum Glauben kommen sollten, geht aus Johannes 1 ganz deutlich hervor."

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Widerspruch zur Schrift. Z u dieser weitgehenden Interpretation gelangte Zwingli durch die Identifizierung der Johannestaufe mit der christlichen Taufe. Obwohl er sich bewußt war, sich damit in Widerspruch zur gesamten kirchlichen Tradition zu stellen, 126 sah er Johannes und nicht Christus als denjenigen an, der das Taufsakrament eingesetzt habe: „Nam inter Ioannis Christique baptismum nullum prorsus discrimen facimus; nam quibuscunque verbis uterque fieret, idem tarnen symbolum aut sacramentum erat." 1 2 7 Die überraschende Auslegung der Johannestaufe sah Zwingli selbst jedoch nicht in erster Linie als Argument in bonam partem für die Kindertaufe - an dieser Stelle griff seine typologische Deutung auf die Beschneidung zurück sondern als Widerlegung der täuferischen These, daß der Glaube der Taufe vorausgehen bzw. mit ihrem Empfang verbunden sei. In seiner Taufschrift vom Mai 1525 128 unterschied er vier Arten der Taufe. 129 Die Wassertaufe, die ohne Vorbedingung des Glaubens aber auch ohne heilsvermittelnde Qualität vollzogen wird; dann die für ihn überaus wichtige Geisttaufe, die sich unabhängig vom Ritus allein durch das offenbarende Handeln Gottes ereignet; Taufe nennt er aufgrund seiner Interpretation von M t 21,25 auch die Glaubensunterweisung; und schließlich umfaßt der Begriff „Taufe" auch den Glauben selbst. Der äußeren Taufe und der Lehre werden von Zwingli jegliche heilsvermittelnde Potenzen abgesprochen, die allein dem Glauben und damit der Geisttaufe zukommen. Die vier Arten der Taufe sind streng voneinander zu unterscheiden und können nur gesondert gespendet bzw. empfangen werden. Aufgrund dieser antisakramentalen und konsequent „spiritualistisch" zu nennenden Scheidung zwischen Geistes- und Wassertaufe, Ritus und Glaubensvermittlung, verliert der von den Täufern behauptete Zusammenhang von Glaube und Taufe bzw. die unumkehrbare Reihenfolge von Glaube und Taufe ihre Bedeutung. Der äußerlich sichtbare A k t des Taufens, der für Zwingli „lediglich eine Ceremonie" 130 ist, kann daher unabhängig vom Glauben des Täuflings vollzogen werden. Als biblische Belege für diese dem dualistischen Grundzug seiner Theologie entsprechenden Interpretation dienten ihm die Evangelienberichte über die Johannestaufe und die in analoger Weise praktizierte Taufe der Apostel vor der Auferstehung Christi. Taufe ohne Glaube entsprach Zwingiis Unterscheidung von Geistes- und Wassertaufe, die er anhand der Johannestaufe biblisch zu bestätigen suchte. 126 Vgl. Fugel, Tauflehre, 285. 127 £ V I I I , 270; Saxer, Zwingli, 112: „Zwischen der Taufe des Johannes und derjenigen Christi mache ich nun aber weiter keinen Unterschied; denn mochte sie auch bei jedem von beiden wieder mit anderen Worten vorgenommen werden, so war sie dennoch dasselbe Symbol oder Sakrament." 128 „Von der Taufe, von der Wiedertaufe und von der Kindertaufe" (27.5.1525), Ζ IV, 188-337. !29 Vgl. Fugel, Tauflehre, 278. 130

Köhler, zit. nach: Fugel, Tauflehre, 278 f.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

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Zwingli vermerkt in seinem Brief an Lambert, daß seine Gegner gerade dieser These, wonach die Taufe denjenigen gespendet wurde, die erst später zum Glauben kamen, besonders heftig widersprochen hätten. 131 Sie berührte ohne Zweifel den Kernbereich der gesamten Auseinandersetzung, weil sie das zentrale Argument der Prototäufer gegen die Kindertaufe aufgrund des biblischen Zusammenhangs von Glaube und Taufe in Frage stellte. Mantz antwortete auf die Zwinglische Interpretation der Johannestaufe mit der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Täufers, die seine Taufe eindeutig von der christlichen Taufe trenne. 132 Z u diesem Zweck paraphrasierte er die betreffenden Texte in den Evangelien. Johannes erscheine dort als der Vorläufer Jesu, der seinen Weg bereitete und das Volk zur Buße rief. Die notwendige Bedingung für die Verkündigung des kommenden Erlösers besteht für Mantz in der Absicht der Hörer des Täufers, sich bessern zu wollen und Buße zu tun. Diejenigen, die umkehren wollten, habe Johannes auf das „Lamm Gottes" verwiesen und auf die zukünftige Vergebung der Sünden in Christi Passion getauft, die jedoch wiederum nur wirksam würde, wenn ihr Leben zugleich Früchte der Buße zeigte. Zwei Aspekte fallen bezüglich der durch weitgehend inhaltliche Übereinstimmung bzw. Zitation der neutestamentlichen Texte gekennzeichneten Argumentation zur Johannestaufe auf. Mantz hält zum einen die Relevanz des Heilswerkes Christi für die Bedeutung der Taufe und die endgültige Sündenvergebung fest. Die Taufe des Johannes geschah demnach nur im Blick auf die kommende Sündenvergebung durch Jesus Christus. Hier folgte Mantz in gewisser Weise der christozentrischen Argumentation Zwingiis. Andererseits tritt die Betonung der Umkehr und des Willens zur Änderung der Lebensführung eindeutig in den Vordergrund. Der Bußcharakter der Johannestaufe, den Mantz herausstellte, entspricht ohne Zweifel den Aussagen der Evangelienberichte.133 Die Hervorhebung der Entscheidung der Täuflinge, ihre Lebensführung zu ändern, bedeutete jedoch für Mantz gleichzeitig eine unmittelbare Parallele zur urchristlichen Taufe. Dem von Johannes geforderten persönlichen Entschluß zur Umkehr und zur Besserung des Lebens entspräche daher die von den Aposteln geprüfte Glaubensentscheidung des Täuflings. Allerdings führte Mantz diese typologische Analogie nicht aus, sondern setzte mit Anmerkungen zum Taufbefehl Christi aus M t 28,19 und dem prominenten Text M k 16,16 neu ein. 1 3 4 Die beiden Bibelstellen seien zentrale Aussagen über die von Christus befohlene Taufe, die in gleicher Weise von den Aposteln praktiziert wurde. Die Satzstruktur dieser wichtigen theologischen Passage der Protestation, in der die Analogie zur Johannestaufe und 131

Vgl. Ζ V I I I , 271; Saxer, Zwingli, 112. 132 Vgl. QGTS I, Nr. 16,24. 133

Vgl. G. Barth, Die Taufe in frühchristlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn 1981,24 ff. ι 3 4 Vgl. QGTS I, Nr. 16,24 f.

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gleichzeitig die Besonderheit sowie der heilsgeschichtliche Neuansatz der Christustaufe beschrieben werden, ist nicht stringent. Der Vergleichspunkt getauft werden nur die, die sich bessern wollen - wird sprachlich nicht konsequent entfaltet. Die angeschlossene Paraphrase der Bekehrung des Kornelius aus Apg 10,1 ff. sollte vermutlich die Anwendung des Taufbefehls in der Praxis der Apostel illustrieren. Ein Rückverweis auf die Johannestaufe, der zur Verdeutlichung des Analogieschlusses notwendig wäre, unterbleibt. Lag die Intention Zwingiis darin, anhand der Johannestaufe zu belegen, daß die Glaubenserkenntnis nicht konstitutiv für den Taufempfang sei, versuchte Mantz durch die zitierten Texte (Mt 28,19; M k 16,16; Apg 10,1 ff.), die Unterweisung und die Glaubensentscheidung als für den Taufvollzug unabweisbare Prämissen festzuhalten. Der Befehl des Auferstandenen und die Konkretisierung seiner Anweisung in der Praxis der Apostel waren für den Verfasser der Schutzschrift von unbestreitbarer Autorität. Mantz gab die Szene im Haus des Kornelius, wie sie in der Apostelgeschichte überliefert wird, ausführlich wieder, wobei er weite Strecken des neutestamentlichen Textes zitierte. Er versuchte damit zu illustrieren, daß die Apostel dem Befehl Christi entsprechend zuerst das Evangelium verkündigten und erst nach der gläubigen Annahme ihrer Predigt, die mit dem Geistempfang verknüpft war, die Gläubigen tauften. Die textliche Reihenfolge: Predigt, Glaubenserkenntnis, Erfülltwerden mit dem Heiligen Geist und die anschließende Wassertaufe galt Mantz als getreue Ausführung des Taufbefehls Christi. Die Formulierung der Schlußfolgerung lehnt sich eng an die zitierten Bibelstellen (Mt 28,19; Apg 10,1 ff.) an. Allerdings fügt Mantz über den Textbefund hinausgehend hinzu, daß zur Taufunterweisung der Apostel nicht nur das Kerygma der christlichen Botschaft gehörte, sondern auch die Verpflichtung „rechtschaffene" 135 Werke eines geänderten Gemüts zu vollbringen. Während in der Textparaphrase über die Predigt des Petrus nur steht, daß alle zur Sündenvergebung gelangen, die an Christus glauben, fügt Mantz in seiner systematischen Deutung der Taufpraxis die Forderung nach Glaubenswerken 136 und Lebensänderung hinzu. Entweder weist diese Hinzufügung erneut auf den ethischen Impetus der Radikalen hin, der sich bereits in der Tauflehre des Müntzerbriefs abzeichnete, oder sie spiegelt eine indirekte Analogie zur Johannestaufe wieder. Demnach hätten auch die Apostel, wie vormals Johannes, eine Entscheidung zur Besserung der Lebenspraxis von den Taufbewerbern gefordert. Auffallend ist, daß Mantz in der Wiedergabe der Predigt des Petrus, die sich ansonsten streng am Wortlaut orientiert, einige Passagen ausläßt. Er übergeht die Einleitung (V. 34-37), gibt den Vers 38 nur teilweise wieder, läßt den Vers 40 bis auf die Tatsache des Todes Jesu aus und zitiert erst dann wörtlich. Bei der 135 Ebd., 25. 136

Im ersten Entwurf stand „Buße". Vgl. ebd.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

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von Petrus kurzgefaßten Darstellung des Lebens Jesu verschweigt er damit die Salbung durch den Heiligen Geist, die Predigt Jesu in Galiläa, die Taufe durch Johannes und Jesu exorzistisches Wirken. Die Kürzungen könnten als Versuch gewertet werden, durch die Konzentration auf die wichtigsten Punkte eine klare Formulierung des Taufkerygmas zu erhalten. Durch die Auslassungen erhält so der Text eine dem apostolischen Glaubensbekenntnis vergleichbare Struktur. Allerdings erscheint die Auslassung der Johannestaufe nicht allein aufgrund dieser Intention vorgenommen worden zu sein. Ihr Verhältnis zum beginnenden Wirken Jesu wird in dem vorliegenden Text der Apostelgeschichte nicht eindeutig geklärt. Im Grundtext wird die Salbung Christi mit dem Heiligen Geist erst nach der Taufe erzählt, wodurch die obige Argumentation von Mantz mit der konstitutiven Reihenfolge der verschiedenen Elemente des Glaubensprozesses empfindlich gestört würde. Die Schlußfolgerung aus der „Taufgeschichte" des Kornelius enthält das bereits im Müntzerbrief ausgeführte Verständnis der Radikalen von innerer und äußerer Taufe. 137 Die durch die Apostel unterwiesenen und zum Glauben gekommenen Personen wurden getauft, „[...] das gleich wie sy inwendig durch die zûkunfft des heiligen geistes gereiniget, ouch eußerlich mitt wasser begossen wurdend zu bedeutung des innerlichen abweschens und absterbens den sünden." 138 Der Taufvollzug bestätigte äußerlich, was dem Gläubigen bereits innerlich widerfahren war, nämlich die Vergebung der Sünden. Die Bedeutung der äußeren Taufe lag demnach darin, die innere Taufe sichtbar und transparent zu machen. Diese Taufanschauung lag in der Konsequenz der Zwinglischen Sakramentslehre und fand ihre systematische Begrifflichkeit in der Tauflehre Strauß'. Gerade an dieser Stelle wird, im Vergleich mit dem Müntzerbrief, der Konsens der Radikalen in der Tauflehre greifbar. Als zweiten neutestamentlichen Beleg für die konstitutive Abfolge von Glaube und Taufe führt Mantz die Taufe des Paulus nach Apg 22,14-16 an. 1 3 9 Er zitiert wörtlich die Rede des Ananias (V. 14-16). Bei der Wiedergabe des Textes überrascht jedoch, daß die Aussage von Vers 16 verdoppelt wird. „[...] und nun was verzühest du. Stand uff und wird getaufft und wesch die sünd ab dir, so du des herren namen angeruefft hast, und nun was brist dir weiter dan getaufft sein und abgeweschen deiner Sünden, nachdem des herren namen angeruefft ist." 140

Man kann diese Wiederholung auf einen Kopierfehler zurückführen. Diese Annahme wird dadurch unterstützt, daß die gestrichenen Verschreibungsfehler auf die Arbeit wörtlicher Übertragung hinweisen. 141 Dagegen spricht je137

Vgl. Punkt 5.2.8 dieser Untersuchung. 1 38 QGTS I, Nr. 16,25. 139 Vgl. ebd. 140 Ebd., 26. 141 Vgl. ebd. (mit Anm.).

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doch, daß Mantz in der Wiederholung des Versteils andere Begriffe und grammatikalische Formen als bei der Erstzitierung benutzt. Die verdoppelte Aussage erscheint dadurch wie ein Rekurs auf eine andere bekannte Erzählung der Apostelgeschichte (Apg 8,26-40, bes. V. 37), in der die Bekehrung eines Schatzmeisters aus Äthiopien berichtet wird. Die Reihenfolge: Predigt des Evangeliums durch Ananias, Anrufung des Namens des Herrn durch Paulus und schließlich dessen Taufe läßt sich durch die beiordnende Satzstruktur in Apg 22,16 nicht klar erheben. Deshalb ergänzt Mantz m. E. hier den Bibeltext, wodurch die Anrufung des Namens des Herrn, die dem Taufvollzug vorangehen soll und ein Synonym für den Glaubensempfang darstellt, betont wird. Aus der so geänderten Geschichte zieht Mantz dieselbe Schlußfolgerung wie aus Apg 10. Die Taufe soll nur der empfangen, der zuvor durch das Wort Gottes belehrt worden sei, den Glauben empfangen habe und ein neues Leben führen wolle. Dem Schriftbeweis anhand der Apostelgeschichte folgt eine Auslegung des sechsten Kapitels des Römerbriefes, das, wie bereits festgestellt, als tauftheologischer Grundtext für die Radikalen von großer Bedeutung war. Die Aussagen von Rom 6 fassen für Mantz sowohl das Wesen der Taufe als auch ihre Voraussetzungen zusammen. Die inhaltliche Überschneidung der Taufdeutung mit ihrer angemessenen Anwendung erschweren eine Analyse dieser Passage. Es wird nicht deutlich, welche Satzteile sich auf die Charakterisierung der Taufe beziehen und welche ihre Voraussetzungen thematisieren. Aufs Ganze gesehen scheinen die Prämissen des Taufempfangs auch in der Auslegung dieser Bibelstelle zu überwiegen, was ihrem Kontext in der Schutzschrift entspricht. Getauft werden sollte demnach nur der, der durch das Wort Gottes bekehrt wurde und in einem neuen Leben zu wandeln bereit war. Mantz mißverstand, ähnlich wie der Müntzerbrief, die συν-Aussagen des Paulus textes. 142 Die Anteilhabe am Heils werk Christi, das „Mitgekreuzigtwerden" und „Mitsterben", wird bei Mantz zu einer Voraussetzung für den äußeren Taufakt und nicht zur Deutung des Taufgeschehens selbst. Das entscheidende Heilsereignis findet für Mantz nicht im Rahmen der Wassertaufe, sondern während der inneren Taufe statt. Anders läßt sich m. E. nicht verstehen, daß hier eine Taufe als Voraussetzung für die Taufe erwähnt wird. Besonderes Gewicht erhält wiederum die Willensentscheidung des Täuflings, die man als markantesten Grundzug der Tauflehre der Protestation ansehen kann. Lapidar zieht Mantz schließlich das Fazit aus dem Gesagten, wonach diese Prämisse für den Taufvollzug von Kindern nicht erfüllt werden könnte. Wer dies dennoch behaupte, stelle sich gegen die Schrift. Nach diesem aufgrund des Schriftbeweises durchaus selbstbewußt formuliertem Urteil, faßt Mantz seine Taufanschauung noch einmal zusammen: „[...] das der tauff nichts anders dan ein absterben des alten menschens und anlegen 142

Vgl. Punkt 5.2.8 dieser Untersuchung.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

321

eins newen ist." 1 4 3 In diesem Resümee konkretisiert sich erneut der ethische Tenor der dargelegten Tauflehre. Nach Eph 4,22-24 bedeutet das Bild vom Ablegen des alten Menschen eine Absage an den früheren sündenbehafteten Lebenswandel. Das Anziehen des neuen Menschen entspricht der Erneuerung des Geistes und einer Lebensführung, die durch Gerechtigkeit und Heiligkeit geprägt ist. Ausgehend von Eph 4,21 zieht Mantz die Summe aus dem bisher zur Taufe Gesagten, wonach Christus nur die zu taufen befahl, die zuvor eine Katechese erhalten hatten. Gleiches gelte für die Apostel, die nur an denjenigen die Taufe vollzogen hätten, die im Evangelium unterwiesen worden seien und ein Taufbegehren bzw. ein Glaubensbekenntnis artikuliert hätten. 144 Diese These, die Mantz durch seinen Schriftbeweis für hinreichend belegt sah, erweist für ihn die Kindertaufe als mit dem biblischen Zeugnis unvereinbar. Die bis dahin dargestellte Beweisführung der Protestation steht vollständig im Kontext der Widerlegung der Zwinglischen Deutung der Johannestaufe. Es ergaben sich drei vorrangige Argumente: Zum einen gebe es keinen Befehl Christi, Kinder zu taufen, was für Mantz aufgrund des radikalen Schriftprinzips schon hinreichend gegen die Praxis der Kindertaufe sprach. Die Johannestaufe verlange eine Willenskundgebung des Täuflings, wonach er zur Buße und zur Besserung seiner Lebensführung bereit sei. Gleiches gelte für die von Christus befohlene Taufe, zu deren Voraussetzung der s. E. konstitutive ordo salutis in Form der Predigt des Evangeliums, der Annahme des Wortes sowie der Verpflichtung zu einem neuen Wandel gehörten. Die äußere Taufe zeige nur an, was durch die innere, von Gott gewirkte Taufe bereits geschehen sei. Diese Elemente der Tauflehre zeigen sich auch in der Erwiderung Zwingiis innerhalb seines Schreibens an die Straßburger Reformatoren. Er zitiert im Anschluß an seine eigene Beweisführung für die Kindertaufe auch die Argumente seiner Gegner. „Primus est: Nusquam legimus apostolos abluisse infantes; cum ergo et verbum et exempla desint, non sunt abluendi.145 [...] Secundo sic obiiciunt: Apostoli dum baptizarent, prius fidem eorum, quos tingebant, explorarunt. 146 [...] Tertio hunc nodum obiiciunt: Qui crediderit et baptizatus fuerit, salvus erit, qui non crediderit, condemnabitur. Fidem ergo precedere oportet; alioqui non minus frustra baptizabitur quisquam corvus. 147 [...]

1 43 QGTS I, Nr. 16,26. 144 Vgl. 6.2.2 dieser Untersuchung (Parallelen zum Taufverständnis des Dialogus). 145 Ζ V I I I , 273; Saxer, Zwingli, 114: „1) Wir lesen nirgends, daß die Apostel Kinder getauft haben; folglich wenn das Wort und die Beispiele fehlen, darf man sie nicht taufen." 146 Ζ V I I I , 273; Saxer, Zwingli, 114: „2) Wenn die Apostel tauften, so haben sie zuerst die Täuflinge auf ihren Glauben untersucht." 147 Ζ V I I I , 274; Saxer, Zwingli, 115: „3) ,Wer da glaubt und getauft wird, der wird selig werden. Wer aber nicht glaubt, der wird verdammt werden.4 Der Glaube muß also zuerst dasein, sonst könnte man ebensogut einen Raben taufen."

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Quarto loco sic instant: Longe vividius erit ac efficacius, dum quisque palam fidem confitebitur, priusquam in aquam mergatur." 148

Als letztes Gegenargument erwähnt Zwingli, daß die Radikalen meinten, es fehle der Kindertaufe, „daß jeder den Glauben aus freiem Antrieb bekenne." 1 4 9 Es fällt auf, daß in der Darstellung Zwingiis die ethische Ausrichtung der Tauflehre ebenso unberücksichtigt bleibt wie die Verhältnisbestimmung von innerer und äußerer Taufe. Letzteres ist wohl darauf zurückzuführen, daß Zwingli an dieser Stelle grundsätzlich mit der Meinung der Radikalen übereinstimmte, wie seine spätere vierfache Unterscheidung der Taufe zeigte. Der ethische Grundzug der Taufanschauung der Protestation gehörte zwar, wie bereits dargelegt, zu den Charakteristika der Tauflehre der radikalen Kreise, wurde jedoch durch die Auseinandersetzung mit der Johannestaufe zusätzlich profiliert. Mantz sah den Vergleichspunkt zwischen Johannes- und Christustaufe in der Bußgesinnung als Taufvoraussetzung. Diese Erkenntnis, die zur Widerlegung der Zwinglischen Position herangezogen wurde, spielte für Mantz und seine Freunde im Rahmen der Dienstagsgespräche argumentativ keine Rolle, wie Zwingiis Bericht belegt. In seiner ersten ausführlichen Taufschrift vom Mai 1525 erwähnt Zwingli jedoch wiederholt, daß die Täufer vor der Taufe ein Bekenntnis des Täuflings forderten, wonach dieser versprach, fernerhin ohne Sünde leben zu wollen. 1 5 0 Keiner sollte demnach die Taufe empfangen, der sich nicht zu einem sündlosen Leben verpflichtete. Dieses Ansinnen verurteilt Zwingli in stets neuen sprachlichen Wendungen als Hochmut und Heuchelei. Anhand der Predigt des Täufers Johannes versuchte er zu widerlegen, daß der Wille zur Besserung des Lebens eine konstitutive Vorbedingung für die Taufe sei. 151 Besonders hart kritisierte der Reformator die ihm zugetragene Ansicht der Täufer, jeden durch die Taufe der Gemeindezucht zu unterstellen, um durch Observation seitens der Mitbrüder diesen vor Irrwegen und schuldhaften Verfehlungen zu schützen. 152 Zwingli dagegen verlagerte die Prüfung des Glaubens und der Lebensführung nach I K o r 11,28 ff. auf die gemeinsame Mahlfeier. 1 5 3 Er nahm an, daß die Täufer eine sündlose Existenz nach der Taufe für möglich hielten. 154 Der stereotype Vorwurf Zwingiis, die Täufer verlangten ei148

Ζ V I I I , 274; Saxer, Zwingli, 115: „4) Es wäre etwas viel Kräftigeres und Wirksameres, wenn jeder öffentlich den Glauben bekennen würde, bevor man ihn ins Wasser taucht." 149 Saxer, Zwingli, 115; Ζ V I I I , 274: „Quod autem isti deesse putant, ut quisque fidem suopte marte confiteatur [...]." 150 Vgl. Ζ I V , 229 ff., 240 f., 298 u.ö. 1 51 Vgl. ebd., 229 f. 152 Vgl. ebd., 253 f. ι » Vgl. ebd., 298. 154 Derselbe Vorwurf trifft später auch Mantz, dem Zwingli vorhält, er vertrete die Vorstellung einer sündlosen Kirche. Vgl. Ζ I V , 171-172.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

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nen Willensentschluß zur Besserung des Lebens vor der Taufhandlung, entspricht im Kern sowohl der ethischen Ausrichtung der Tauflehre in der Protestation als auch im Müntzerbrief. Im Schreiben an Müntzer wurde nur kurz darauf hingewiesen, daß die „Regel Christi" vor dem Taufvollzug anzuwenden sei. 155 Mantz präzisierte diese Auffassung dadurch, daß der Wille zur Lebensbesserung fest zur Bedeutung der Taufe hinzugehörte. Die wenigen positiven Aussagen zur Tauflehre, die nicht nur durch die Widerlegung der Zwinglischen Position veranlaßt sind, konzentrieren sich auf die Bedeutung der Taufe für die Lebenspraxis des Täuflings. Daher warf Zwingli den Täufern berechtigterweise vor, daß sie die Taufe vor allem als ein Zeichen der Besserung des Lebens interpretierten. 156 Die Untersuchung der ersten Gläubigentaufe muß erweisen, wie die konkrete Umsetzung dieser theologischen Prämisse in der Praxis aussah. Z u der sich an die Auseinandersetzung mit der Johannestaufe anschließenden christologischen Argumentation gegen die Kindertaufe, die eine Schmähung des Heilswerkes Christi darstelle, verweise ich auf die Ausführungen zum Müntzerbrief und zum Dialogus. 157 Den zweiten direkten Bezug zur Zwinglischen Beweisführung in der Protestation bildet die kurze Einlassung zur Bedeutung der Beschneidung. Für Zwingli blieb auch in seinen späteren Schriften über die Taufe die Parallelisierung mit der alttestamentlichen Beschneidung der wichtigste Beweis für die „Berechtigung und Notwendigkeit" 1 5 8 der Kindertaufe. I m Schreiben an die Straßburger im Dezember 1524 bezeichnete er die Gleichsetzung von Beschneidung und Taufe anhand von Rom 4,11 und Kol 2,11 als klare Zusammenfassung seiner Beweisführung für die Legitimität der Kindertaufe. 159 Auch in seinem Taufbüchlein ging Zwingli wiederholt auf die Identifikation von Kindertaufe und Beschneidung ein, die er als erstes Argument im Abschnitt über die Kindertaufe breiter ausführte und biblisch zu begründen suchte. 160 U m seine Deutung der Taufe als analoge Zeremonie zur alttestamentlichen Beschneidung zu erfassen, sollen im folgenden nicht nur die Ausführungen des Lambertbriefes, sondern auch das Taufbuch Zwingiis herangezogen werden. In der Auseinandersetzung mit dem Täufertum entwickelte Zwingli die Grundlagen seiner föderaltheologischen Konzeption, die in den folgenden Jahren zum Proprium seiner Theologie und auch für andere Reformtheolo-

155 Vgl. Punkt 5.2.8 dieser Untersuchung. ι 5 « Vgl. Ζ I V , 240 f. Vgl. Punkt 5.2.8 und 6.2.2 dieser Untersuchung. 158 Fugely Tauflehre, 335 f. 157

159 Vgl. Ζ V I I I , 271; Saxer, Zwingli, 112. n» Vgl. Ζ I V , 227 f., 292 ff., 326 f., 333.

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gen prägend wurde. 161 Sein bundestheologischer Ansatz, den er im „Elenchus" umfassend ausführte 162 , geht davon aus, daß zwischen dem Alten und Neuen Bund kein wesentlicher inhaltlicher Unterschied bestehe, vielmehr seien Altes und Neues Testament „nur zwei Modalitäten des einen, unteilbaren Bundes, welchen Gott mit der ganzen Menschheit geschlossen hat." 1 6 3 Die Einheit von Altem und Neuem Bund leitete er aus seiner Gotteslehre ab, die besagte, daß Gottes Einzigkeit, Unveränderlichkeit und Stetigkeit in Analogie zu seinem Handeln stehe. „Die Einheit Gottes begründet die Einheit von Altem und Neuem Testament, die Einheit und Unveränderlichkeit Gottes diejenige seines Bundes in seiner Geschichte mit uns von der Erschaffung der Welt bis an ihr Ende." 1 6 4 Aufgrund dieser „theologisch" begründeten Identifikation werden von ihm auch die Bundeszeichen „Beschneidung" und „Taufe" ihrer Deutung und inhaltlichen Bestimmung nach gleichgesetzt. Diese bleiben zwar aufgrund des heilsgeschichtlichen Verlaufs zwei zu unterscheidende Zeremonien, ihr Wesen und Sinn seien jedoch identisch. 165 Das Analogieverhältnis von Beschneidung und Taufe ist keine genuin Zwinglische Entdeckung. Sie findet vielmehr ihren Ausweis bereits in den deuteropaulinischen Briefen und wird von der nachfolgenden altkirchlichen Tradition aufgegriffen. Die Ausbildung von Zwingiis Bundestheologie mit ihrer Korrelation zur Kindertaufe beruht, wie Zwingli selbst vermerkt, auf seiner kritischen und zugleich positiven Auseinandersetzung mit der Theologie Augustins. 166 Die in der Konfrontation mit Donatisten und Pelagianern gewonnene Konzeption des objektiven und subjektiven Bundesgedankens bei Augustin, die die gnadenhafte Bundesverpflichtung Gottes in den Mittelpunkt stellte, 167 prägte auch Zwingiis bundestheologische Vorstellungen. Obwohl die von Augustin beeinflußte mittelalterliche Bundestheologie die sakramentale Vermittlung des Heils im Handeln der Kirche begründete, 168 und insofern der Zwinglischen Sakramentslehre widersprach, konnte der Zürcher Reformator bei seiner föderaltheologischen Begründung der Kindertaufe an diese Tradition anknüpfen, indem er sie antisakramental modifizierte. Hatte in der kirchlichen Tradition die Bundesverpflichtung Gottes vorrangig die 161 Vgl. / G. F. Goeters, Art. Föderaltheologie, in: T R E 11, 1983, 246; J. Staedtke, Die Theologie des jungen Bullingers, Zürich 1962,227. 162 Vgl. Fugel, Tauflehre, 335 f. 163 Ebd., 336; vgl. G. W. Locher, Die Theologie Huldrych Zwingiis im Lichte seiner Christologie, Teil 1: Gotteslehre, Zürich 1952,51, Anm 7. 164 Locher, Theologie, 96. i « Vgl. Fugel, Tauflehre, 338.

i « Vgl. Ζ I V , 318 ff.; Fugel, Tauflehre, 331. Vgl. Η. A. Oberman, Wir sein pettier. Hoc est verum. Bund und Gnade in der Theologie des Mittelalters und in der Theologie der Reformation, in: Z K G 78, 1967, 242 ff. i « Vgl. ebd., 246. 167

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

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Vermittlung der objektiven Gnade durch die Sakramente garantiert, wurde die Bundestreue Gottes nunmehr in seiner Auffassung zur alleinigen Voraussetzung für die Einheit von Altem und Neuem Bund samt ihrer Bundeszeichen. Der Bundesgedanke, den Zwingli der theologischen Tradition entnahm, legitimierte für ihn die Identifikation der beiden Testamente und ihrer Initiationszeremonien. Dieser explizit föderaltheologische Ansatz prägte auch Zwingiis Schriftverständnis, dessen Konsequenzen sich bereits im Taufbüchlein zeigten. Während die Täufer ein anhand der Schriften Karlstadts ausgebildetes radikales Schriftprinzip vertraten, wonach nur das für Lehre und Praxis als verbindlich angesehen werden könne, was eindeutig in der Schrift ausgesagt werde, verweist Zwingli aufgrund seiner hermeneutischen Vorentscheidung auf die ontische Einheit von Altem und Neuem Testament. Da die Kindertaufe nicht eindeutig aus dem Neuen Testament nachzuweisen sei, griff Zwingli in seiner Argumentation auf alttestamentliche Aussagen zurück. „Es ist ouch nit allein von des touffs wegen hinder sich in das alt testament ze louffen, sunder ouch umb etlicher ander usserlichen dingen wegen, die unser läben beträffend." 169 Die Differenz im Schriftverständnis zwischen den Täufern und Zwingli kam auch in der Reaktion der Kindertaufgegner zum Ausdruck, die diese typologische Auslegung nicht verstanden und, wie Zwingli berichtete, spöttisch zurückfragten, wo im Alten Testament von einer Taufe die Rede sei. Darauf antwortet Zwingli mit der Identifizierung von Beschneidung und Taufe. 170 Dem alttestamentlichen Ritus der Beschneidung entsprechend ist die Taufe für Zwingli ein Bundeszeichen bzw. Pflichtzeichen. Sie signiert denjenigen, der von Geburt an zum Gottesvolk gehört vor dessen eigener Entscheidung mit einem Bundeszeichen. Die Kindertaufe ist daher eine „gemeine verzychnung", eine Kennzeichnung derer, die zum Volk Gottes gehören und denen eine christliche Erziehung zuteil werden soll. Parallel zur Beschneidung, die Abraham als Pflicht- und Bundeszeichen für seine Nachkommenschaft gegeben worden sei, 171 versieht die Taufe Kinder christlicher Eltern mit einem vergleichbaren Bundeszeichen, wodurch diese von Beginn an auf Gott bezogen sind und sich die Eltern zu ihrer Erziehungspflicht und zur Hinführung der Kinder zu Gott verpflichten. 172 „Uß dem ursprung der beschnydung sehend wir eigenlich, das der kindertouff glych dahin dient, dahin ouch die beschnydung dienet hatt, nämlich, daß die, so den waren gott vertruwet, ouch ihre kinder zû erkanntnus und anhangen desselbigen gottes ziehen sollend; in welchem nütz weniger das pflichtend zeichen vorgon mag und die 1er

169

Ζ I V , 326. ™ Vgl. ebd., 326 f. 171 Vgl. ebd., 292 f. ™ Vgl. ebd., 295.

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hamach volgen, weder imm alten testament die beschnydung vor dem glouben gegeben ist." 173

Die letztlich pädagogische Intention der Kindertaufe wurde in Zwingiis Schreiben an Lambert noch nicht expliziert. In diesem ersten Votum des Reformators zur Kindertaufe stand noch die Beweisführung für die biblisch legitimierte Trennung von Glaubens- bzw. Geistempfang und dem Taufvollzug im Vordergrund. Mit Hilfe der typologischen Deutung der Beschneidung versuchte Zwingli die von den Täufern geforderte Glaubensentscheidung vor der Taufe zu widerlegen. Die Beschneidung sei ja auch an Säuglingen vollzogen worden, die erst später zum Glauben ihrer Väter gekommen seien. Daher konnte nach Zwingli die Beschneidung nicht als Zeichen eines vorhandenen Glaubens betrachtet werden. Folglich sei auch das parallele Bundeszeichen, die Taufe, an denen zu vollziehen, die sich erst später zu ihrem Glauben bekennen würden. Analog zu seinen Ausführungen über die Johannestaufe gebrauchte Zwingli die alttestamentliche Beschneidung als Motiv, um gerade den zentralen Einwand der Täufer zu entkräften, wonach der Glaube der Taufe vorausgehen müsse bzw. ein Willensentschluß zur Änderung des Lebens sowie ein persönliches Glaubensbekenntnis für den Taufempfang im Neuen Testament konstitutiv seien. Mit dem Hinweis darauf, daß die „nebensächlichen" Begleitumstände des Ortes, der Person, der Zeit und des Ritus der Beschneidung auf die Taufe nicht übertragbar seien, reagierte Zwingli in seinem Taufbuch auf den sophistischen Einwand der Täufer, daß im Alten Testament nur männliche Säuglinge mit dem Bundeszeichen versehen wurden und zwar am achten Tag nach der Geburt. 1 7 4 „ O ir armen Juden! Sich, wie hangend ir an den dementen, das ist: usserlichen Dingen diser weit [...] Also tûnd hie alle umstend der zyt, person, statt und wiechtigheit dennen, so habend ir den touff fry." 1 7 5 I m Schreiben an Lambert gibt Zwingli abschließend zur Beschneidungsthematik den Text aus Kol 2,11 an, der s. E. die Parallelisierung von Taufe und Beschneidung vorgibt. 1 7 6 Diese Bibelstelle belegt für ihn, daß die Kindertaufe bereits im Neuen Testament ihren Ursprung hatte und nicht erst im Papsttum. Der Rückverweis auf das populäre Argument der Täufer gegen die Kindertaufe bildet im Taufbuch den Anlaß zu längeren historischen Ausführungen, die die These widerlegen sollten, daß die Kindertaufe erst durch das Papsttum eingeführt worden sei. 177 Auf das oben dargestellte zentrale Argument Zwingiis für die Kindertaufe, die Identifikation von Beschneidung und Taufe, ging Mantz in seiner Prote173

Ebd., 295. Vgl. ebd., 330. 175 Ebd. 174

17« Vgl. Ζ V I I I , 271; Saxer, Zwingli, 112 f. 1 7 7 Ζ I V , 318 ff., 322.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

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Station nur kurz ein. Er widersprach der föderaltheologischen Analogie durch den Hinweis auf die Biographie Jesu, der als Kind beschnitten, jedoch erst im Alter von 30 Jahren getauft worden sei. 178 „Nun hatt uns Christus ein beyspil furgetragen, das, wie er im gethan hab, wir im ouch alßo thun sollend." 179 Es fällt auf, daß Mantz erst am Ende seiner Ausführungen zur Beschneidungsthematik Stellung bezieht und diese für Zwingiis Argumentation eminent wichtige These nur mit einem lapidaren Hinweis auf den historischen Jesus, gleichsam in einer Marginalie zu widerlegen versuchte. Dieser Befund deutet an, daß die Radikalen in dieser Frühphase dem Zwinglischen Rückgriff auf das alttestamentliche Vorbild der Beschneidung und dem damit verbundenen hermeneutischen Grundsatz der Einheit beider Testamente argumentativ nicht begegnen konnten. Ihre Verlegenheit in dieser Frage findet sich auch noch in Zwingiis Taufbuch, dem die Wiedergabe eines Wortgefechts mit den Täufern über Kol 2,10 f. zu entnehmen ist. 1 8 0 Zwingli berichtet genüßlich über die hilflosen Versuche der Radikalen, seine Auslegung zu widerlegen. Es schließt mit folgendem sarkastischen Resümee: „Ja, so man sy also in den wincklen umharjagt, so endrünnend's zû irem geist und sprechend, der geist geb's inen also ze verston. Ich gloub's inen wol. Es ist der recht geist der roten hosen. Yetz wellend sy den bûchstaben unverstanden haben unnd unußgelegt, bald wellend sy inn gar nit haben. Darumb ich billich sag, daß glych mit inen ze handien ist, als wenn dir einen von den roten hosen seyt." 181

Die letzte Bezugnahme in der Protestation auf Zwingli befaßt sich mit der Ansicht des Reformators, daß die Fragen nach Taufform und -praxis lediglich periphere theologische Probleme darstellten. 182 Mit dieser Einschätzung beendete Zwingli seine Ausführungen zur Tauflehre im Schreiben an Lambert. 1 8 3 Er stellt in diesem Zusammenhang noch einmal die exklusive Heilsnotwendigkeit des Glaubens und die Bedeutung der von Gott gewirkten Geisttaufe heraus, wogegen die Wassertaufe als letztlich irrelevanter Ritus erscheint. Es gebe daher keinen Grund wegen „des äußeren Zeichens" 184 zu streiten. I m Rahmen dieser Überlegungen scheint Zwingli, um den Frieden wiederherzustellen, sogar mit einer potentiellen Aufgabe der äußeren Taufe spekuliert zu haben, die allerdings nur auf Befehl Gottes aufgehoben werden könnte. „ U n d wenn das Taufen wirklich eine solche Lästerung ist, so möge er machen, daß wir nicht mehr taufen [,..]." 1 8 5 Ob Zwingli realiter zu einer solchen Konzession bereit gewesen ist, bleibt zweifelhaft. Die Formulierung so1 78 Vgl. QGTS I, Nr. 16,26. ™ Ebd. 180 Vgl. Ζ I V , 327 f. 1« Ebd. 182 Vgl. QGTS I, Nr. 16,27. 1 83 Vgl. Ζ V I I I , 275; Saxer, Zwingli, 116. 1 84 Ebd. ι « Ebd.

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wie die Tatsache, nach der Gott die Entscheidung überlassen werden sollte, deutet auf einen hyperbolischen Satz hin, der lediglich die Unerträglichkeit der gegenwärtigen Auseinandersetzung verdeutlichen sollte. Daß Zwingli den Streit um die Taufe aufgrund seines spiritualistischen Sakramentsverständnisses im Grunde für überflüssig hielt, läßt sich auch anhand seiner Ausführungen im Taufbuch illustrieren. Seine Klage über die Streitsucht seiner Gegner, die aufgrund „äußerer Dinge" den Frieden gefährdeten, durchzieht die ganze Schrift wie ein Refrain. 186 Gleich in der Einleitung bedauert er, daß diejenigen, die zuvor in der Kritik am Sakramentalismus mit ihm einer Meinung gewesen waren, nun um „äußerlicher Zeichen" willen einen Streit entfachten. „Ja, diesselben sehend wir ietz umb des usserlichen Zeichens willen allen christenlichen friden zerrütten, und, wer inne daryn redt, einen kätzer und Antichristen schelten, so doch ir sölchs fürnemen nütz anders ist denn ein kätzerey, das ist, ein rotten und anhang."187

Er beendet sein Taufbuch mit einem Appell, wegen der Kindertaufe und anderer äußerlicher Dinge nicht länger Unfrieden zu schüren. 188 Überblickt man den gesamten Traktat, bildet die Anschuldigung der Täufer, sie maßten den „äußerlichen Dingen" zuviel Gewicht bei, den Hauptvorwurf. Dadurch gerieten sie für Zwingli sogar in den Verdacht des von ihnen zuvor gemeinsam bekämpften Sakramentalismus. Nach Ansicht des Reformators schätzten die Kindertaufgegner die Bedeutung der äußeren Taufe zu hoch ein, wodurch sie dem alleinigen Wirken Gottes und der Prävalenz des Heilswerkes Christi nicht genügend Anerkennung zukommen ließen. I m Kontext dieser Überlegungen verdient eine Ansicht Zwingiis Beachtung, die in Abwehr des s. E. individualistischen Weges der Täufer die Entscheidung über die Kindertaufe der Autorität der Gemeinde übertragen wollte. „Sölte man nit den kindertouff wie andere usserliche dinge mit zucht bruchen oder dennen tun, weders dem christenlichen volck aller bast und komlichest wurde sin?" 1 8 9 Demgegenüber sei die Initiative der Täufer „Rotterei" und „Sektiererei", weil diese nicht mit der gesamten Kirche in einen Entscheidungsprozeß eingetreten seien. Mantz faßte die Kritik Zwingiis am Streit um „äußere Dinge" verkürzt und daher nur ungenau zusammen. Er warf in diesem Zusammenhang seinem Gegner vor, ihm läge nichts an der Frage nach einer wirklich schriftgemäßen Taufpraxis. 190 Demgegenüber erläuterte er das umfassende Schriftverständnis der Radikalen, das auch die äußere Ordnung der Kirche sowie die Reform 186 187 188 189 190

Vgl. Ζ I V , 206,210 f., 252,255,302,325 f., 328,330,333,337. Ebd., 206. Vgl. ebd., 337. Ebd., 328. Vgl. QGTS I, Nr. 16,27.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

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der Sakramentspraxis unter Gottes Recht stellte. 191 Die Darstellung des umfassenden Schriftprinzips, nach dem alle Zeremonien entsprechend dem Willen Gottes auf der Grundlage der Gebote zu reformieren seien, fügt sich in das bisher erarbeitete Bild der radikalen Partei ein. Ausgehend von den Fastenbrüchen, über die Aktionen gegen die Messe sowie die Taufverweigerung und schließlich in den nachfolgenden Lehrgesprächen bestanden sie auf einer fundamentalen Neuerung der äußeren Ordnung und Praxis der Kirche. Interessanterweise übernahm Mantz sogar die Zwinglische Charakterisierung der Sakramente als „äußerliche Gebote" bzw. „Zeremonien", zog aber daraus die Konsequenz, sie uneingeschränkt nach Gottes Willen, wie er sich in der Schrift offenbare, zu verwenden und zu vollziehen. Als Schriftbeweis dafür, daß Gott diejenigen strafe, die seine „äußeren Gebote" überträten, führte Mantz die Erzählung aus Lev 10,1-2 an, in der vom Tod der Söhne Aarons (Nadab und Abihu) die Rede ist. 1 9 2 Sie hatten das Räucheropfer nicht den Geboten Gottes entsprechend dargebracht und seien deshalb mit dem Tod bestraft worden. Mantz verwandte diese alttestamentliche Bibelstelle, um die dogmatische Setzung zu begründen, nach der es dem Willen Gottes entspräche, wenn die äußeren Ordnungen schriftgemäß gehandhabt würden. Aus diesem Schriftgebrauch wird deutlich, daß die Radikalen aufgrund ihres Bibelverständnisses zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage waren, der Parallelisierung Zwingiis von Taufe und Beschneidung argumentativ zu begegnen. Sie setzten vielmehr selbst in ihrer Beweisführung alttestamentliche und neutestamentliche Schriftstellen als gleichwertige Belege ein. Eine hermeneutische Entscheidung zugunsten der Priorität des neutestamentlichen Kanons, wie sie im Müntzerbrief im Bück auf die Auseinandersetzung um das Aufstellen von Steintafeln vorgenommen wurde, 193 läßt sich in der Protestation nicht nachweisen. Das Verhältnis beider Testamente war in der Frühphase noch ungeklärt bzw. nicht eindeutig festgelegt worden. In Zwingiis Taufbuch wird darüber hinaus deutlich, daß auch die Auslegungsmethode bei den Radikalen nicht einheitlich war. Insistierten sie, wie Zwingli berichtet, zum einen vehement auf dem Literalsinn, so verlangten sie anläßlich sophistischer Exegesen des Reformators zum anderen einen Verzicht auf dererlei Spitzfindigkeiten. Zwingli reagierte darauf durch den Vorwurf eines „Buchstabenglaubens." 194 Er läßt sich selbst aber in seinem Schreiben - und wie zu vermuten ist auch in den mündlichen Kontroversen - immer wieder auf die „buchstäbliche" Textinterpretation ein, um die Täufer mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Daher argumentierte er analog zu den Radikalen biblizistisch, wie etwa die an der wörtlichen Reihenfolge orientierte

191

Vgl. Punkt 5.2.2 dieser Untersuchung. 192 Vgl. QGTS I, Nr. 16,27. 1 93 Vgl. ebd., Nr. 14,16 f. 1 94 Vgl.ΖIV,232ff.;240u.a.

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Auslegung von M t 28,19 f. beweist. 195 Überblickt man die gesamte von Zwingli wiedergegebene Diskussion, liegt der Schwerpunkt der Auslegung bei den Radikalen sicherlich in der konsequenten Betonung des Literalsinns der Bibel. Dieser Befund harmoniert mit den bisherigen Ergebnissen zum Schriftprinzip der Prototäufer. Der typologischen Deutung des Alten Testaments standen die Täufer, nach Angaben Zwingiis, eher hilflos gegenüber. 196 Das radikalisierte Schriftprinzip erwies sich für die Täufer im Konflikt mit dem „gelehrten Lehrer" Zwingli als Waffe, die sich gegen sie selbst richtete. Im Anschluß an die Auseinandersetzung um die Kindertaufe in den Dienstagsgesprächen im Duktus der Schutzschrift und den Vergleich mit Zwingiis Ausführungen bleibt zu fragen, welche Argumente Mantz in seinen Ausführungen unberücksichtigt ließ. Es ist bereits festgestellt worden, daß er die Beschneidungstypologie nur kurz berührte. A n dieser Stelle tritt eine auffällige Argumentationsschwäche der Radikalen zutage, die auf das hermeneutisch noch ungeklärte Verhältnis beider Teile des biblischen Kanons zurückzuführen ist. Weiterhin fällt auf, daß Mantz die Kontroverse über die sachgemäße Auslegung von M k 10,13-16 schlicht überging. Sie findet dagegen in Zwingiis Brief an Lambert große Aufmerksamkeit und muß nach diesem Zeugnis in den Dienstagsgesprächen ausführlich thematisiert worden sein. 197 Mantz ließ in der Protestation jedoch nicht nur die Diskussion über das sogenannte „Kinderevangelium" außer acht, sondern auch die Auseinandersetzung um den Glauben, den Heilsstand und die Natur von Kindern. 1 9 8 Demgegenüber berichtete Zwingli ausführlich über ein Gespräch mit den Radikalen zu dieser Fragestellung, in dessen Verlauf auch Texte aus der Apostelgeschichte und dem ersten Korintherbrief kontrovers ausgelegt worden seien. 199 In diesem Zusammenhang wies Zwingli die Straßburger auf die Taufe ganzer „Häuser" in der Apostelgeschichte hin. Z u dieser sozialen Größe des antiken Hauses gehörten wahrscheinlich auch Kinder, so daß deren Taufe nicht auszuschließen sei. 200 Die von Zwingli an dieser Stelle angeführte Argumentation mit der in der exegetischen Forschung sogenannten „Oikosformel" entwickelte sich zu einem Standardbeweis (dicta probantia) für die Legitimität der Kindertaufe. 201 Durch den Brief an die Straßburger wird 195

Vgl. ebd., 232 ff. Vgl. ebd., 118 f. 1 97 Vgl. Z V I I I , 271 f.; Saxer, Zwingli, 113. 198 Seine einzige Bezugnahme auf die grundsätzliche Glaubensfähigkeit der Kinder erfolgt im Anschluß seiner Darstellung der Taufe anhand von Rom 6. Die konstitutive Willensäußerung zur neuen Lebensgestaltung und das Glaubensbekenntnis könnten von Kindern nicht verlangt werden. „Welcher dingen, ietz erzelt, den kinderen züschreiben, ohn alle und wider alle geschrifft ist." QGTS I, Nr. 16,26. 196

1 99 Vgl. Ζ V I I I , 271 f.; Saxer, Zwingli, 113 f. 200 Vgl. Z V I I I , 273; Saxer, Zwingli, 114 (lKor 1,16; Apg 11,14; 16,15; 16,31.33). 201

Vgl. Barth, Taufe, 138 ff.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

331

deutlich, daß Zwingli seinen Gegnern in der Auslegung von M k 10 argumentativ überlegen war. Auch deren Einwände zur Interpretation von I K o r 7,14 konnte Zwingli mit einem Hinweis auf ihr falsches „judaisierendes" Schriftverständnis entkräften. 202 In seinem Taufbuch gibt Zwingli im Zusammenhang mit dem Gebrauch der Oikosformel die Diskussion über die rechte Interpretation von Apg 16,30-34 (bes. V.33) wieder, 203 in deren Verlauf die Radikalen aufgrund seiner stringenten Argumentation „schamrot" dagestanden hätten. Ohne Zweifel verfügte Mantz in seiner Protestation nicht über ausreichende Gegengründe, um Zwingiis Auslegung widerlegen zu können. Deshalb verzichtete er wohl in seinem Rechtfertigungsschreiben an den Rat auf ihre Erwähnung oder eine Entgegnung. Stärker noch als der Brief an Lambert enthält das Taufbuch vielfältige Anspielungen auf die für die Radikalen durchaus unangenehme Situation der Gespräche mit den Leutpriestern. Immer wieder gelang es Zwingli und auch Jud, wie der Reformator berichtet, die Beweise der Kindertaufgegner abzuschmettern, wobei alle möglichen exegetischen und hermeneutischen Kunstgriffe angewandt wurden. Mehrfach beschreibt Zwingli, wie seine Kontrahenten durch ihn in die Enge getrieben worden seien, worauf diese unbeherrscht reagiert und ihrem Zorn lautstark Ausdruck verschafft hätten. In den Aufzeichnungen Zwingiis „stammeln" sie, werden „schamrot" oder beharren trotzig auf ihrer Meinung, auch wenn diese argumentativ überwunden worden sei. Zur Auslegung der Typologie von I K o r 10,1 ff. schreibt Zwingli sarkastisch: „Ich wölte hie lieber die Toufflöugner lassen das ort ußlegen. So gagsend sy in der gschrifft, und weiß gruntlich, daß sy nit könnend, denn sy könnend nit me in der gschrifft, weder sy uß den tractätlinen hin und wider gelesen habend." 2 0 4 Die Unterlegenheit seiner Gegner, die Zwingli mehrfach triumphierend festhält, findet aber auch in der kritischen Charakterisierung der Dienstagsgespräche durch Mantz ihren Ausdruck. 205 Nicht zuletzt wegen der schlechten Erfahrungen im mündlichen Diskurs mit dem Reformator und seinen Vertrauten plädierte er für die schriftliche Fortsetzung der Diskussion.

6.2.5 Zusammenfassung Die Untersuchung der Protestation im Vergleich mit Zwingiis frühen Äußerungen zur Taufproblematik um die Jahreswende 1524/25 und in seinem Taufbuch von Mai 1525 bestätigte, daß sein Schreiben an den Rat als Gelegenheitsschrift zu bewerten ist, die eine unmittelbare Reaktion auf die gescheiterten Lehrgespräche darstellte und sich daher primär an der Beweisfüh2°2 203 204 205

Vgl. Z V I I I , 272; Saxer, Zwingli, 114. Vgl. Ζ I V , 312 f. Ebd., 119. Vgl. QGTS I, Nr. 16,24,27.

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6 Die Auseinandersetzung um die Tauffrage im Herbst und Winter 1524

rung Zwingiis für die Kindertaufe orientierte. Die Widerlegung seiner Argumentation, vor allem bezüglich der Johannestaufe und der wesenhaften Einheit von Beschneidung und Taufe, stand im Vordergrund. Die Protestation ist m. E. ganz von der Situation des Winters 1524 geprägt, wodurch die Annahme, sie lege die Tauflehre der Radikalen umfassend dar, hinfällig wird. Zweifellos unternahm Mantz bei der Abfassung seiner Schrift Anleihen bei bereits vorliegenden Tauftraktaten. Dabei ist wohl aufgrund seiner nachweislich engen Beziehung zu Karlstadt vor allem an dessen verschollene Taufschrift von 1524 zu denken. Mantz benutzte in seiner Schutzschrift nur solche Argumente, die zur Widerlegung der Zwinglischen Auffassung geeignet waren oder sich in der Diskussion bereits als tragfähig erwiesen hatten. Daher fehlen u. a. Ausführungen zum Glauben unmündiger Kinder bzw. ihrem Heilsstand. Der Bezug auf das reformatorische Schriftprinzip erweist sich als Konstante der gesamten Schutzschrift. Das Schriftprinzip war die vom Rat legitimierte Grundlage der kirchlichen Erneuerung und damit für die Radikalen die einzig mögliche Appellationsbasis. Die Schriftgemäßheit der Taufpraxis und lehre markiert, abgesehen von den bereits skizzierten politischen Gründen, das genuin theologische Anliegen der Prototäufer. Wie wiederholt ausgeführt, sollten die äußeren Ordnungen der Kirche einzig nach dem Vorbild der Heiligen Schrift reformiert werden. Dieses radikale Schriftprinzip, das vor allem am Literalsinn der Texte ausgerichtet war, wandte Zwingli in der Kontroverse gegen seine theologischen Widersacher an. Sie konnten demgegenüber seiner typologischen Auslegung des Alten Testaments und der Parallelisierung beider Kanonteile argumentativ nichts Gleichwertiges entgegensetzen. Z u einer hermeneutischen Entscheidung, die dem Neuen Testament die Priorität gegenüber alttestamentlichen Analogieschlüssen einräumte, fand sich Mantz nicht bereit. Vielmehr argumentierte er für die schriftgemäße Reform der Taufe ebenfalls mit alttestamentlichen Belegstellen. Das Hauptargument der Radikalen gegen die Kindertaufe, wie sich vor allem aus Zwingiis Schriften erheben läßt, war die zeitliche Vorordnung des Glaubens vor dem Taufempfang. A n zentralen Bibelstellen (Mt 28,19 ff.; M k 16,16) verdeutlichten sie, daß die von Christus eingesetzte Taufe eine katechetische Unterweisung sowie den persönlichen Glauben voraussetzte. Mantz nahm zu diesen fundamentalen Elementen der Tauflehre nur im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Johannestaufe und der typologischen Deutung der Beschneidung Stellung. Die konstitutive Reihenfolge von Glaube und Taufe wird von ihm zwar erwähnt, wirkt aber durch die Dominanz der Zwinglischen Thesen, mit denen er sich auseinandersetzte, wenig profiliert. Dennoch begegnen auch in der Protestation Unterweisung, Glaubenserkenntnis und Umkehr als konstitutive Prämissen für die Taufe. Besonderes Gewicht erhält die Willensentscheidung des Täuflings zur Besserung des Lebens, was zum einen durch die intensive Beschäftigung mit der ethischen Ori-

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

333

entierung der Johannestaufe im Neuen Testament erklärt werden kann, andererseits aber auch der ekklesiologischen Konzeption der Radikalen entsprach, in welcher der Praxis der Gemeindezucht große Bedeutung zukam. In der gesamten Tauflehre der Protestation ist ein ethisierender Grundton nachweisbar, der auch in der Interpretation der paulinischen Kernstelle zur Tauflehre (Rom 6) dominiert. Mantz wandte sich in seiner Schrift ausdrücklich gegen den Vorwurf, sie würden nur um „äußerer Dinge" willen streiten. Die Konsequenzen des reformatorischen Schriftprinzips für den Laienkreis, dessen Gültigkeit gerade für die Reform der kirchlichen Sakramentspraxis angemahnt wurde, ist bereits ausführlich dargestellt und ausgewertet worden. 206 Es bleibt aber festzuhalten, daß das von Karlstadt rezipierte Schriftverständnis und die damit verbundene Einschätzung äußerer Ordnungen zum elementaren Dissens zwischen Zwingli und den Prototäufern generierte. Die Protestation verdeutlicht ein Stadium der Entfremdung zwischen Zwingli und seinen vormaligen Anhängern, das eine künftige Verständigung ausschloß. Mantz forderte mit seiner Schrift einen Entscheid der Obrigkeit heraus. Die Auseinandersetzung hatte das Konfliktstadium eines sachlichen Dissenses innerhalb des reformatorischen Lagers bereits überschritten. Mantz und auch Grebel hatten nunmehr in Zwingli ihren Hauptgegner ausgemacht, dem sie sogar unterstellten, er werde sie der Verfolgung durch die Obrigkeit ausliefern. Die Perspektive drohender Verfolgung mittels einer Inkriminierung der Kindertaufgegner durch den Reformator bildet den historischen Interpretationsrahmen zum Verständnis der Schutzschrift. Mantz rief den Rat an und verlangte eine Disputation mit Zwingli, der durch die Maßnahme nicht länger als Lehrer bzw. Gesinnungsgenosse, sondern vielmehr als theologischer Gegner apostrophiert wurde. Das Lager der Reformkräfte war m. E. bereits gespalten, bevor die erste Gläubigentaufe vollzogen wurde. Die in der Protestation dargelegte Tauflehre weist vielfältige Parallelen zum Müntzerbrief auf. Z u den Ergebnissen der Untersuchung des Schreibens an Müntzer gehörte, daß keine fixierte Taufanschauung vorlag, eine ausführliche Beschreibung der Taufe anhand der Bibel fehlte und die theologische Begründung für das Postulat „Gläubigentaufe" fragmentarisch war. Der Zusammenhang von Glaube und Taufe erschien bereits in diesem Brief als konstitutiv, wurde jedoch nicht durch einen Schriftbeweis abgesichert. Die im späteren Verlauf der Auseinandersetzung so zentralen Bibeltexte (Mk 16,16; M t 28,19 ff.) finden daher im Müntzerbrief keine Erwähnung. Trotz dieser tauftheologischen Aporie knüpfte Mantz in seinem Schreiben wiederholt an einzelne Inhalte des Müntzerbriefes an. Die ethische Interpretation von Rom 6 weist in beiden Schriften parallele Züge auf. Der Wille zur Besserung des Lebens tritt analog als entscheidende Prämisse für den Taufempfang neben 206

Vgl. Punkt 5.2.10 dieser Untersuchung.

334

6 Die Auseinandersetzung um die Tauffrage im Herbst und Winter 1524

den Glauben. U m die Bedeutung der Wassertaufe zu profilieren, führte Mantz an, daß sie die innere Abwaschung und das Absterben der Sünde nach außen anzeige. Dieselbe Terminologie findet sich in den kurzen zusammenfassenden Aussagen zum Wesen der christlichen Taufe des Müntzerbriefes. „Abwaschen" und „Absterben" erscheinen in beiden Schriften in derselben Reihenfolge. Mantz gebraucht zwar nicht die Begriffe der „inneren" und „äußeren" Taufe, der Sache nach aber übernahm er diese Unterscheidung des Müntzerbriefes durchaus. Inwendig seien die Täuflinge bereits durch den Heiligen Geist gereinigt worden, woraufhin sie äußerlich mit Wasser getauft werden sollten „zu bedeutung des innerlichen abweschens und absterbens den sünden." 207 Müntzerbrief und Protestation entsprechen sich ebenso in der christologischen Sakramentskritik, die im Schreiben an Müntzer breit ausgeführt wurde, während Mantz nur in einer kurzen Glosse auf die „Schmähung Christi" durch die Praxis der Kindertaufe rekurrierte. Übereinstimmend wird die Kindertaufe als gotteslästerlicher Greuel charakterisiert. Den im Müntzerbrief lediglich angedeuteten Zusammenhang von Kirchenzucht und Taufe erörterte Mantz dagegen nicht. Die ständige Betonung der Umkehr und sein Insistieren auf einem Willensentschluß zur Lebensänderung könnten jedoch als Hinweise auf dieses in späterer Zeit konstitutive Element der täuferischen Tauflehre interpretiert werden. Auch der ethische Grundzug seiner Taufauffassung sowie der von Zwingli vorgebrachte Vorwurf, Mantz würde eine potentiell sündlose Existenz des Christen nach der Taufe lehren, lassen auf einen Zusammenhang von Taufe und Disziplin schließen, den Mantz allerdings nicht eigens erläuterte. Wie bereits festgestellt, verzichtete Mantz völlig auf die Auseinandersetzung über Fragen von Glauben und Seligkeit unmündiger Kinder, was noch im Müntzerbrief ausführlich thematisiert wurde. Es ist nicht zu übersehen, daß die fragmentarische Tauflehre des Müntzerbriefes, sofern sie zum Wesen der christlichen Taufe Stellung nahm, in die Protestation integriert wurde. In der Auseinandersetzung mit Zwingli erbrachte die Protestation darüber hinaus die erste biblisch fundierte Beweisführung für die Gläubigentaufe, die im Müntzerbrief nur als Postulat begegnete. Es gelang Mantz anhand zentraler Schriftstellen, die konstitutive Reihenfolge von Lehre, Glaubenserkenntnis und Taufe nachzuweisen. Ein Vergleich mit dem „Dialogus" zeigte, daß eindeutige theologische Parallelen in der Argumentation festgestellt werden können. In Anlehnung an diese Schrift, die Karlstadt zuzuschreiben ist, sowie unter partieller Berücksichtigung weiterer Argumentationen gegen die Kindertaufe (ζ. B. Hätzers) versuchte Mantz, eine biblische Begründung für die Gläubigentaufe zu erbringen. Sein Werk leidet jedoch unter dem Situationsdruck, weshalb die positive Darlegung seiner Tauflehre bzw. der Konsens der 207 QGTS I, Nr. 16,25.

6.2 Die Protestation von Felix Mantz

335

Radikalen in der Tauffrage nur wenig profiliert werden, während die Widerlegung der Zwinglischen Position unzweifelhaft dominiert. Im Gegensatz zum Müntzerbrief, der die Kindertaufe eindeutig verwarf, aber keine exegetische Begründung für die Gläubigentaufe hervorbrachte, hatte sich Mantz, angeregt durch Karlstadts „Dialogus" und dem Verlauf der Dienstagsgespräche, mit seiner Schutzschrift jedoch auf den Weg zu einer theologischen Beweisführung für die Gläubigentaufe begeben.

7 Die Flrühphase des Schweizer Täufertums 7.1 Die Disputation vom Januar 1525 7.1.1 Im Vorfeld der Disputation Der Januar 1525 ist durch die Ereignisse in Zürich und Zollikon zum Katalysator der Entstehung des Schweizer Täufertums geworden. Die „inoffiziellen" Dienstagsgespräche, die zur Befriedung in der Taufdebatte angesetzt worden waren, hatten weitgehend ihr Ziel verfehlt. Vehement beklagten sich die Radikalen über die ungerechte Verhandlungsführung, die i. E. dem gleichberechtigten Austausch von Meinungen im Rahmen einer Disputation nicht entsprochen hätte. Als Reaktion darauf verfaßte Mantz eine ausführliche Appellationsschrift an den Rat, in der er um eine von der städtischen Obrigkeit autorisierte schriftliche Auseinandersetzung mit Zwingli bat. Die konfliktreichen Begegnungen führten auch Grebel zu der Überzeugung, daß er und seine Freunde auch in Zukunft mit obrigkeitlichen Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hätten. Während des gesamten Jahres 1525 hielt die außenpolitische Kontroverse um die Isolierung Zürichs bzw. dessen Ausschluß aus der Eidgenossenschaft an, die somit direkte Rückwirkungen auf den städtischen Reformprozeß hatte. In dieser spannungsreichen Zeit hatte der Rat zunächst versucht, die schwelende Taufdiskussion unter Ausschluß der Öffentlichkeit durch inoffizielle Gespräche beizulegen. Der Widerstand der Taufgegner manifestierte sich, wie gesehen, in Mantz' Schutzschrift an den Rat. Obwohl die Radikalen - wahrscheinlich aufgrund von Drohungen ihrer Gegner - ihre Kriminalisierung befürchteten, engagierten sie sich weiterhin offensiv in der Tauffrage, wie ein Brief E. Hegenwalds an Grebel vom 1. Januar 15251 und ein Fall von Predigtstörung im selben Monat 2 belegen. Das Schreiben Hegenwalds aus Oelsnitz in Sachsen, das er von Wittenberg aus verschickte, ist eindeutig Teü eines Briefwechsels mit Grebel samt seines Freundeskreises. 3 Der aus dieser frühen Korrespondenz einzig erhaltene Brief ist ein wichtiges Zeugnis über die Prototäufer in der kritischen Phase vor dem ersten Vollzug der Gläubigentaufe und der Ausbreitung der täuferi1 Vgl. L. Harder, The Sources of Swiss Anabaptism, Scottdale 1985, 324-331; Vadiansche Sammlung St. Gallen, Ms 30, Brief 223. 2 Vgl. QGTS I, Nr. 23,33. 3 Vgl. Bräuer, Briefe, 15.

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7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

sehen Bewegung. Besonderes Gewicht kommt dem Schreiben darüber hinaus insofern zu, als es eines der wenigen Zeugnisse darstellt, die Auskunft über die theologische Entwicklung u. a. in der Tauffrage nach den Dienstagsgesprächen geben. Die kollektive Form des Anschreibens belegt, daß Grebel eindeutig als Sprecher einer gefestigten Gruppe auftrat, die Hegenwald als solche anerkannte. Die bisherige Forschung hat durch ihre Konzentration auf die Persönlichkeit sowie den Theologen Konrad Grebel diesem Gruppenbewußtsein der Radikalen nicht genügend Rechnung getragen. 4 Aus dem Brief wird deutlich, daß Grebel auf ein früheres Anschreiben Hegenwalds im Namen seiner Brüder überaus aggressiv geantwortet hatte. Wiederholt mahnte ihn Hegenwald daher zur Mäßigung. In 13 Thesen sollte Grebel laut Hegenwald zu den kritischen Anfragen eines vorausgehenden Schreibens Stellung genommen haben, worin Themen wie Berufung, Mahlfeier und Kindertaufe verhandelt worden seien. Der Brief reflektierte die bisherige Korrespondenz und enthält einige Anspielungen auf Grebels Position, die kurz paraphrasiert werden. Allerdings unternahm Hegenwald nicht den Versuch, die 13 Thesen Grebels systematisch und vollständig zu widerlegen, weshalb eine Rekonstruktion der Argumentation Grebels im nachhinein unmöglich ist. Der Brief ist in einem höflichen und um Versöhnung werbenden Ton abgefaßt. Dabei geht der Verfasser davon aus, daß die Radikalen die Intention seines vorausgegangenen Schreibens mißverstanden hätten. In einer ersten längeren Passage des Briefes erläutert Hegenwald, daß er keinesfalls die Gesinnung und das Glaubenszeugnis der Radikalen in Frage stellen wollte.5 Anscheinend hatte der Kreis um Grebel seinen Aufruf, die eigene Gesinnung zu überprüfen und die „Geister zu unterscheiden" als Angriff gewertet und empört zurückgewiesen. Der unlösbare Zusammenhang zwischen der Erkenntnis des Willens Gottes und der Ehrfurcht vor Gott wurde deshalb von Hegenwald anhand von Bibelstellen nachdrücklich betont. Kein anderes Motiv erscheint im Schreiben so häufig wie die Bezugnahme auf das Schriftprinzip der Radikalen. Grebel und seine Freunde träten nach den Worten Hegenwalds mit dem Bewußtsein auf, die Schrift auf ihrer Seite zu haben. 6 Sie verlangten von ihm, seine Meinung „Wort für Wort" mit der Bibel zu beweisen, da sie diese sonst nicht akzeptieren könnten. Hegenwald wirft ihnen in diesem Zusammenhang Selbstüberschätzung und Heuchelei vor, die ihn an die Freunde Hiobs erinnere, die trotz ihrer Schriftgründe und ihrer weisen Selbstprädikation, dennoch geirrt hätten. 7 Hegenwald zitiert das u. a. bereits im Müntzerbrief deutlich gewordene radikale Schriftprinzip sei4 In der vorliegenden Untersuchung war bereits der Müntzerbrief als Kollektivschreiben charakterisiert worden (s. o. Punkt 5.2.1 dieser Untersuchung). 5 Vgl. Harder, Sources, 325. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. ebd., 327.

7.1 Die Disputation vom Januar 1525

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ner Gegner. Sie verurteilten Luther und ihn selbst, weil sie i. E. auch in der Bilderfrage etwas der Schrift „hinzufügten" bzw. von ihr „abstrichen". Die im selben Zusammenhang geäußerten Vorwürfe der Radikalen, er handele gegen die Schrift, sofern er „äußere Dinge" - hier bezogen auf die Mahlfeier und die Bilderfrage - handhabe wie er will, wies Hegenwald mit dem Hinweis auf die christliche Freiheit zurück. Immer wieder erwähnt Hegenwald den Grundvorwurf seiner Adressaten, daß er seine Position nicht mit der Schrift beweise. Die Häufigkeit des Vorkommens dieser Fragestellung belegt erneut, daß die konsequente Anwendung des Schriftprinzips in der kirchlichen Praxis als theologisches Zentralmotiv für die prototäuferische und täuferische Lehre gewertet werden muß. Die göttliche Berufung, auf die sich nach Hegenwalds Aussagen die Radikalen bezögen, weist auf das Sendungsbewußtsein dieser Kreise hin, das bereits im Müntzerbrief und in den Agitationen gegen Predigten und Messe zutage getreten war. Eine vergleichbare Auseinandersetzung um die rechte „vocatio" und sein radikales Schriftprinzip findet sich auch in Luthers Entgegnung auf Karlstadt. Luther stellte Karlstadts rechtmäßige Berufung durch die Orlamünder Gemeinde in Frage und warf ihm wiederholt eine „biblizistische" Hermeneutik vor. 8 Daraus ergibt sich die Frage, ob Hegenwald Luthers Argumentation gegen Karlstadt in analoger Weise auf die Prototäufer übertrug oder ob diese von sich aus die Position Karlstadts in dem Maße rezipiert hatten, daß sie dieselbe Kritik treffen konnte. Hegenwald hielt sich trotz der Länge seiner Ausführungen im Grunde nicht für kompetent, die theologischen Positionen seiner Adressaten zu widerlegen, sondern verwies beharrlich auf die bereits im Druck befindliche Schrift Luthers gegen Karlstadt. Er identifizierte demnach die Ansichten der Radikalen eindeutig mit Karlstadts theologischem Programm. 9 Nach den vorausgehenden Ergebnissen unserer Untersuchung scheint diese Parallelisierung durchaus berechtigt. Indirekt deutete Hegenwald den Kreis um Grebel als Anhängerschaft Karlstadts, so daß ihre Positionen zum Abendmahl und zum Schriftgebrauch in gleicher Weise durch Luthers Schrift hinterfragt und widerlegt würden. Die Charakterisierung der Radikalen als „Karlstadtianer" belegt zum einen den großen Einfluß dieses Reformators auf die Zürcher Prototäufer, der auch von ihren Gegnern festgestellt wurde. Andererseits macht die vollständige Identifizierung Grebels und seiner Freunde mit Karlstadts Theologie in Hegenwalds Schreiben eine Erfassung der täuferischen Lehrentwicklung in dieser entscheidenden Phase beinahe unmöglich. Auch die Auseinandersetzung um die Abendmahlslehre reflektiert vor allem die Position Karlstadts, die er u. a. in seinem Dialogus zum Abendmahl formuliert hatte, und nicht die spezielle Interpretation der Radikalen. Bei genauerem Hinsehen begegnen in Hegenwalds Wiedergabe der täuferischen Thesen 8

Vgl. Wider die himmlischen Propheten, WA 18,73,90 f., 94,97,99. Vgl. Harder, Sources., 328 f., 331 (insgesamt fünf Verweise auf Luthers Schrift gegen Karlstadt.) 9

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7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

mithin fast ausschließlich Fragmente der Karlstädtischen Abendmahlslehre, jedoch keine genuin täuferischen Elemente. Hegenwalds Ausführungen machen sich den lutherischen Vorwurf der Werkgerechtigkeit zu eigen, der die gesamte Argumentation Karlstadts und der Prototäufer treffen sollte. Als Zentrum der Auseinandersetzung benennt er die Deutung der Einsetzungsworte. 10 Dies stimmt mit Karlstadts Dialogus zum Abendmahl überein, in dem dieser fast ausschließlich und mit allen exegetischen und dogmatischen Mitteln um deren richtige Auslegung rang. In der bisherigen Abendmahlslehre der Prototäufer fehlt dagegen eine Einlassung auf die umstrittene Frage nach der Realpräsenz Christi und der damit verbundenen Interpretation der Einsetzungsworte. Diese Beobachtung führt zu zwei Vermutungen: Entweder übernahm Grebel in seinen 13 Thesen konsequent die Karlstädtische Abendmahlslehre, die ihm durch die Flugschriften bekannt geworden war, oder Hegenwald identifizierte die Radikalen so vollständig mit der Position Karlstadts, daß eine Unterscheidung aus seiner Sicht unnötig war. Beide Alternativen belegen den hohen Grad an theologischer Übereinstimmung zwischen den Zürcher Radikalen und Karlstadt. Eine kurze Untersuchung der von Hegenwald aufgegriffenen Argumente soll - sofern es überhaupt möglich ist - gleichwohl versuchen, den genuin täuferischen Anteil an dieser Abendmahlslehre zu ermitteln. Der erste Einwand der Radikalen richtete sich nach Hegenwalds Aussagen gegen dessen vermeintlich mangelhafte biblische Beweisführung für eine Objektivität der Gnadenvermittlung im Abendmahl, die vom Glauben und der Einstellung der Kommunikanten unabhängig sei. 11 Hegenwald antwortete mit einem Hinweis auf lJoh 4,2, wonach derjenige, der die Inkarnation Jesu glaube, aus Gott sei, wer diese aber leugne, nicht zu Gott gehöre. Die beabsichtigte Wirkung dieser Bibelstelle im Kontext seiner Ausführungen kann zweifach gedeutet werden. Hegenwald verzichtete auf eine unmittelbare Anwendung dieser Schriftstelle auf seine Gegner. Es liegt jedoch nahe, daß er ihnen aufgrund ihres antisakramentalen Verständnisses die Leugnung der inkarnatorisch begründeten Realpräsenz Christi unterstellte. Andererseits könnte der in lJoh 4,2 beschriebene Glaube an die Inkarnation Christi für Hegenwald auch als Voraussetzung für den würdigen Empfang des Abendmahls zu verstehen sein. Die Radikalen machten dagegen s. E. die Bedeutung des Abendmahls vom Glauben und der persönlichen Einstellung der Teilnehmenden zueinander abhängig. Diese These entspricht den Abendmahlspassagen des Müntzerbriefs, in denen der Glaube und die brüderliche Liebe als Konstitutiva des Abendmahls genannt werden. 12 Die fehlende Liebe zu den teilnehmenden Vgl. ebd., 329. » Vgl. ebd., 328. 12 Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung.

7.1 Die Disputation vom Januar 1525

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„Brüdern" und weniger der fehlende Glaube wird dort zu den Hauptkennzeichen für den unwürdigen Gebrauch des Mahles gezählt. Karlstadt führt in ähnlicher Weise in seinem Dialogus aus, daß derjenige unwürdig esse, der ohne die rechte Erkenntnis des Sühneleidens Christi kommuniziert. 13 Der Glaube und das Verständnis der Heilstat Christi am Kreuz sind für ihn unverzichtbare Voraussetzungen für die Teilnahme am Abendmahl. Das „Prüfen" vor der Kommunion, ob man eines leidenschaftlichen Gedenkens der Passion Christi fähig sei und dieses Gedächtnis vor der Gemeinde durch die Teilnahme am Mahl demonstrieren wolle, entscheidet für Karlstadt über den rechten bzw. unwürdigen Gebrauch der Mahlfeier. 14 Luther geht mehrfach auf diese intentionale „Vorprüfung" vor dem Mahl ein, die er als neue Gesetzlichkeit interpretiert. 15 Hegenwalds Vorwurf trifft demnach sowohl Karlstadt als auch die Prototäufer. Es läßt sich daher nicht nachweisen, ob er eine These Grebels paraphrasiert oder auf Karlstadts Dialogus zurückgreift. Der fehlende Hinweis auf die brüderliche Liebe, die im Müntzerbrief charakteristisch für die genuin täuferische Abendmahlsauffassung war, läßt eher auf eine Reminiszenz an Karlstadt schließen. Harder kommt zu demselben Ergebnis, indem er die Abhängigkeit Hegenwalds von Luthers Argumentation aufzeigt, der mit eben dieser Begrifflichkeit Karlstadt der Überbetonung des Äußerlichen und der Werke bezichtigte. 16 Die Abhängigkeit der Wirkung des Sakraments von der Motivation und geistlichen Disposition der Kommunikanten lehnte Luther vehement ab. 17 Auch in diesem Zusammenhang sprach er von Karlstadts neuer Gesetzlichkeit, Werkgerechtigkeit und Ausrichtung auf Mose. 18 Diese Terminologie findet sich in abgewandelter Form auch in Hegenwalds Antwort auf Grebels Schreiben. 19 Er warf den Prototäufern vor, Christus auf „äußere Dinge" festzulegen und daher die Erlösung außer vom Glauben auch von einem Werk abhängig zu machen und Christus dadurch zu einem neuen Mose werden zu lassen. Dieser aus seiner Sicht „gesetzlichen" Christologie begegnete er mit dem Herrenwort zum Sabbat M t 12,8, wonach Christus und s. E. alle Christen mit ihm „Herren" über die gesetzlichen Bestimmungen des Alten Testaments seien. Die Verkündigung Jesu als neue Bekundung des Willens Gottes überbietet für ihn jedoch die alten Weisungen.

13 Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlin", in: Hertzsch, Karlstadts Schriften II, 20,24,27,28,44. 14 Vgl. R. J. Sider, Andreas Bodenstein von Karlstadt, Leiden 1974,295,298. 15 Vgl. Wider die himmlischen Propheten, WA 18,138 f., 169 f., 193. 16 Vgl. Harder , Sources, 328, Anm. 59. 17 Vgl. Wider die himmlischen Propheten, WA 18,193. 18 Vgl. ebd.,u.a.73,76f., 123. 19 Vgl. Harder , Sources, 329.

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7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

Hegenwald gestand ein, daß seine bruchstückhafte Argumentation zur Widerlegung der täuferischen Thesen nicht ausreichen werde. Er erwartete von den Prototäufern den kritischen Hinweis auf die Einsetzungsworte. Bedauerlicherweise beschreibt er nicht, in welchem Sinne sie von ihnen gebraucht wurden. Zur Widerlegung ihrer Interpretation der Einsetzungsworte verweist er wiederum auf die Schrift Luthers gegen Karlstadt. Es bleibt also erneut zu vermuten, daß die Täufer entweder Karlstadts eigenwillige Auslegung der Abendmahlsworte übernahmen, oder daß Hegenwald Karlstadts Deutung auf die Prototäufer übertrug. Die Kontroverse zwischen Luther und Karlstadt konzentrierte sich vor allem auf die unkonventionelle Exegese des griechischen Textes durch den radikalen Reformator, die hier nicht im einzelnen ausgeführt werden soll. 20 Jesu Deutewort - „das ist mein Leib" - sollte nach Karlstadt nicht länger die sakramentale Gegenwart des Herrn im Element bezeichnen, sondern eine Anweisung, worauf sich das Gedächtnis der Kommunikanten richten sollte. Hegenwald läßt sich nicht auf eine Auseinandersetzung über die Einsetzungsworte ein, sondern zitiert nur eine Formulierung Luthers, wonach der Teufel sich in Gestalt von Karlstadt der Deuteworte bemächtigt hätte, um gegen den Geist zu kämpfen. 21 Resümierend behauptete er erneut, daß die Prototäufer die Wirkung des Abendmahls und seine Bedeutung von den teilnehmenden „Personen" abhängig machten, selbst wenn sie sich dessen nicht bewußt seien. Hier zeigt sich der Hauptvorwurf Luthers gegen die Karlstädtische Konzeption, in der s. E. die Verheißung, die zugeeignete Vergebung und der Glauben zu einem Werk des Gesetzes würden. Karlstadt betonte in seinem Dialogus die geistliche Einstellung der Kommunikanten auf das Gedächtnis Jesu Christi und ihr bewußtes Verständnis der Heilstat Christi als notwendige Voraussetzungen für die angemessene („würdige") Mahlteilnahme. Das geistliche Geschehen des Abendmahls, die leidenschaftliche Erinnerung an Christi stellvertretendes Leiden und dessen Bezeugung vor der Gemeinde durch das gemeinsame Mahl traten in den Vordergrund. I n den bisher analysierten Schriften der Prototäufer lassen sich Parallelen zu dieser Abendmahlsinterpretation nachweisen. Allerdings wurde im Müntzerbrief noch stärker die Qualität der Gemeinschaft der Kommunikanten untereinander profiliert. Die rechtmäßige Teilnahme am Abendmahl war demnach nicht nur vom Glauben und Verständnis der Heilstat Christi abhängig sowie von der inneren Motivation, der Leiden Christi zu gedenken, sondern vor allem von der Verpflichtung zur brüderlichen Liebe. 22 Diese spezielle Konturierung der täuferischen Abendmahlslehre wurde von Hegenwald nicht aufgegriffen. Es bleibt festzuhalten, daß die Argumentation Karlstadts mit hoher Wahrschein20 Vgl. Karlstadt, „Dialogus oder ein gesprechbüchlin", in: Hertzsch, Karlstadts Schriften II, 13 ff.; Wider die himmlischen Propheten, WA 18,144 ff., 148 ff., 161-166. 21 Vgl. Harder , Sources, 329. 22 Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung.

7.1 Die Disputation vom Januar 1525

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lichkeit von den Prototäufern rezipiert und mit der spezifischen Betonung der „Koinonia" der Beteiligten weiterentwickelt wurde. Im Zusammenhang mit der Abendmahlskontroverse kommt Hegenwald noch einmal auf den Vorwurf der Radikalen zurück, er würde seine Ansichten nicht mit der Schrift belegen.23 Er repliziert mit dem schwachen Argument, daß er nicht die ganze Bibel zu diesem Thema befragen und ihnen darüber schreiben könne. Als einzige Voraussetzung für den Abendmahlsempfang nennt Hegenwald erneut den Glauben, der allein notwendig sei. Solange dieser vorhanden sei, spielten Fragen des rechten Gebrauchs keine Rolle. Hier hatten die Radikalen anscheinend heftig widersprochen und auf dem Gehorsam gegenüber Gottes Wort insistiert. Die leider nicht gänzlich eindeutige Bezugnahme Hegenwalds auf die Meinung der Radikalen läßt auf den fundamentalen Grundsatz der Bewegung schließen, wonach auch die äußere Ordnung der Sakramentspraxis der Richtschnur des Gotteswortes zu folgen hätte. Im Gegenzug warf Hegenwald ihnen vor, gewisse Bibelworte - darunter Jesu Wort über den Sabbat - ihrerseits nicht zu glauben. Die Argumentation ist an dieser Stelle nicht klar und setzt wohl die Kenntnis der vorangegangenen Korrespondenz voraus. Hegenwald verwies die Prototäufer erneut auf Luthers im Erscheinen begriffene Schrift zu diesem Thema. Aus den Andeutungen Hegenwalds läßt sich keine eigenständige Abendmahlslehre der Prototäufer eruieren. Seine Darstellung ist von Luthers Argumentation gegen Karlstadt dominiert, so daß Besonderheiten der radikalen Position nicht zum Tragen kommen. Eine enge Anlehnung der prototäuferischen Interpretation des Abendmahls an Karlstadts Konzeption ist daher wahrscheinlich, wenngleich eine vollständige Übereinstimmung aufgrund der eingeschränkten Perspektive Hegenwalds nicht vorausgesetzt werden darf. Nach der Beschäftigung mit der Abendmahlsfrage ging Hegenwald noch kurz auf die von Grebel zum Schluß der Thesenreihe angesprochene Problematik der Kindertaufe ein. Grebel hatte demnach die Kindertaufe erneut als sinnlose Blasphemie bezeichnet und einen Beweis dafür angekündigt. 24 Hegenwald wollte sich mit seinem Schreiben nicht auf eine Erörterung dieser Frage einlassen. Er verweist Grebel vielmehr auf einen Brief, den er an Myconius über die Taufthematik geschrieben habe und erwähnt später, daß die radikalen Kreise ihn aufgefordert hätten, nicht länger über Kindertaufe und andere Blasphemien zu schreiben. 25 Dieser Hinweis deutet an, daß seitens der Prototäufer eine Auseinandersetzung als unnötig empfunden oder abgelehnt wurde, da das negative Urteil über die Kindertaufe für sie bereits unwiderruflich feststand. Gerade in diesem Zusammenhang beschwerte sich Hegenwald über die unversöhnliche und kämpferische Haltung Grebels. Die Kindertaufe 23

Vgl. Harder , Sources, 329. Vgl. ebd., 329. 25 Vgl. ebd., 330. 24

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kann demnach als spezielles „Reizthema" für die Zürcher Radikalen ausgemacht werden. Die traditionelle Taufpraxis, die von den Reformatoren mit leichten theologischen und liturgischen Korrekturen weiterhin toleriert wurde, geriet unter das unabänderliche Verdikt der Gotteslästerung. Grebels Verunglimpfung der Kindertaufe als Blasphemie entspricht der zu diesem Zeitpunkt erreichten Aggression der Prototäufer gegen deren weitere Anwendung. Aber bereits im Brief an Müntzer hatte er die Kindertaufe mit dieser Polemik belegt. In der Protestation findet sich, wie bereits festgestellt, der Hinweis, daß die Kindertaufe vom Antichristen stamme. Hegenwald zitiert demnach ein bekanntes Schlagwort der Prototäufer und zugleich die Spitze ihrer Invektiven gegen die herrschende kirchliche Praxis. Der um friedlichen Ausgleich bemühte Brief Hegenwalds, dem das Entsetzen über die rigorosen Anschauungen der Prototäufer abzuspüren ist, zeigt die unnachgiebige Härte der Positionen an. Leider verzichtete er auf die Wiedergabe weiterer inhaltlicher Thesen der Radikalen, so daß sich außer zur eminenten Brisanz dieser Thematik auch zur Tauflehre der Radikalen keine näheren Angaben machen lassen bzw. keine Entwicklung nach der Jahreswende festgestellt werden kann. Hegenwald verwahrte sich gegen seine Gleichsetzung mit Luther und Zwingli, die Grebel offensichtlich in seinem Schreiben wiederholt vorgenommen hatte, und beteuerte ausführlich seine untergeordnete Bedeutung. Luther bezeichnete er in diesem Zusammenhang als Elia, wodurch seine fast schon übersteigert zu nennende Hochschätzung des Wittenberger Reformators erneut deutlich wird. Daraufhin ermahnte er Grebel, seinen „alten Adam" besser zu unterdrücken und nicht derart aggressiv und leidenschaftlich zu schreiben. Im Interesse Luthers, dem Grebel hart genug geschrieben hätte, sollte er sich stärkere Zurückhaltung auferlegen. Aus dieser sehr ausführlichen Passage wird deutlich, daß die Radikalen zu diesem Zeitpunkt besonders in der Tauffrage keine Kompromißbereitschaft mehr zeigten, sondern ihren Standpunkt polemisch und mit Vehemenz verteidigten. Die konfrontative Attitüde der Prototäufer führte Hegenwald schließlich zu der Vermutung, daß sie ihn nicht länger als einen Bruder in Christus betrachteten. 26 Er lehnte das Angebot Grebels zur Fortsetzung der Korrespondenz ab und wollte selbst für den Fall, daß dieser ein Buch gegen ihn veröffentlichte, nicht öffentlich darauf antworten. Abschließend gab Hegenwald die Grüße Luthers an Grebel weiter. Luther verzichtete nach Hegenwald darauf, Grebels Schreiben an ihn zu kommentieren. Eine Begründung für diese Verweigerung wird nicht gegeben, außer durch den Hinweis, daß der Reformator nicht wüßte, was er auf einen solchen Brief antworten sollte. Es ist zu vermuten, daß auch hier der aggressive Stil und die Radikalität der Argumentation ausschlaggebend waren. Mit einem erneuten Hinweis auf Luthers Schrift ge26 Vgl. ebd.

7.1 Die Disputation vom Januar 1525

345

gen Karlstadt, die auch Antworten für die Zürcher Radikalen enthielte, schloß Hegenwald sein Schreiben. Leider sind diesem ausführlichen Brief nur wenig Anhaltspunkte auf die proto täuferische Lehrentwicklung um den Jahreswechsel 1524/25 zu entnehmen. Z u stark ist die Darstellung durch Luthers Kontroverse mit Karlstadt geprägt. Hegenwald legte den Schwerpunkt seiner Ausführungen darüber hinaus auf die Klärung seines Verhältnisses zu Grebel, machte seinem Unmut über dessen Beschuldigungen Luft und beklagte ausführlich die Härte und Ungerechtigkeit der ihm aufgenötigten Kontroverse. Festzuhalten bleibt die von ihm vorgenommene Identifikation der Radikalen mit Karlstadts Abendmahlsverständnis. Stärker als es in der bisherigen Forschung wahrgenommen wurde, muß der Einfluß Karlstadts auf die Theologie der Prototäufer untersucht und verifiziert werden. Aufgrund der Korrespondenz mit Grebel und seinen Gefolgsleuten war Hegenwald jedenfalls zu der Annahme gelangt, daß es sich hier um „Karlstadtianer" handelte. Hinter dieser übergreifenden Charakterisierung blieb die Profilierung ihrer spezifischen Positionen durch Hegenwald zurück. Die kompromißlose Haltung in der Tauffrage wird jedoch deutlich und mit dem Bewußtsein göttlicher Berufung verknüpft, so daß die Eskalation der Spannungen in Zürich und der radikale Bruch mit Zwingli verständlich erscheinen. Das Vorgehen eines von Gott berufenen Sendboten gegen die als Gotteslästerung apostrophierte Kindertaufe mag auch das Motiv für die Predigtunterbrechung von J. Hottinger in der Dominikanerkirche gewesen sein, die Grebel am 14. Januar 1525 seinem Schwager anzeigte.27 A m 12. Januar 1525 hatte dort C. Megander, der zum Kreis der „engsten Vertrauten" 28 Zwingiis gehörte, in einer Predigt die Kindertaufe verteidigt, weshalb er von Hottinger unterbrochen wurde. Fast sieht in den Predigtunterbrechungen, die bereits in der Frühphase der Zürcher Reformation wiederholt vorkamen, ein probates Mittel zur Durchsetzung des reformatorischen Programms. 29 Die Störungen des altgläubigen Klerus durch Zwingli und seine Anhänger zielten demnach auf Provokation der Obrigkeit, die zum Eingreifen bzw. zur öffentlichen Thematisierung des reformatorischen Gedankenguts gezwungen werden sollte. Insofern wandten die Radikalen nach Fast in der ungeklärten Situation der Taufdebatte erneut ein bereits bewährtes Mittel der Provokation an, um einen Entscheid der Obrigkeit zu erzwingen. „Die Vorgänge sehen aus wie eine Kopie dessen, was man einst unter Zwingli mit seinem Einverständnis und zugunsten seiner Reformation praktiziert hatte." 30 Fasts These wird durch die Beobachtung gestützt, daß der Rat am selben Tag die öffentliche Disputation 27 Vgl. QGTS I, Nr. 23,33. 28 Vgl. Gäbler, Zwingli, 98. 29 3

Vgl. Fast, Provokation, 93 u. ö. 0 Ebd., 98.

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7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

auf den 17. Januar 1525 festsetzte. 31 Ferner berichtete Grebel, daß Hottinger nicht ausfallend geworden sei, sondern sich „züchtiklich" verhalten habe. 32 Dennoch beinhaltet eine Predigtunterbrechung wohl doch stets ein spontanes, unkalkulierbares Element. Wenn ein geplantes Vorgehen der Radikalen im Hintergrund gestanden hätte, wäre Hottinger, ein ungelehrter Bauer aus Zollikon, sicher nicht als besonders geeigneter Mann dafür ausgewählt worden. Der Eklat ist eher aus der gespannten Situation innnerhalb des reformatorischen Lagers zu verstehen. Die Radikalen waren zu der unumstößlichen Überzeugung gelangt, daß die Kindertaufe ein „antichristliches Wasserbad" sei, wie Grebel erneut im selben Schreiben erklärte. Das Gespräch mit den Reformatoren war in eine Sackgasse geraten, mehr noch, die Prototäufer empfanden sich einer drohenden Kriminalisierung ihres Anliegens und damit einer potentiellen Verfolgung durch die Obrigkeit ausgesetzt. Die Hauptreformatoren machten sich in den Augen der Radikalen zu Anwälten antichristlicher Bräuche, die sie scharf bekämpften. Daher richtete sich ihr Sendungsauftrag, der zunächst die altgläubigen Prediger getroffen hatte, nun gegen das eigene Lager. Obwohl die Wirkung der Predigtstörung auf die Ratspolitik durch Fast im Gefüge der Reformbestrebungen sehr treffend erfaßt worden ist, scheint mir im Hinblick auf das reale Sendungsbewußtsein der Eiferer dabei die taktische Komponente zu stark hervorgehoben zu sein. Hottinger konnte nicht länger schweigen, als nach seinem Empfinden Lügen gepredigt und so dem Antichristen zugearbeitet worden sei. Es ist anzunehmen, daß die von Grebel überlieferte Predigtstörung nur ein Beispiel für die in dieser Phase fortgesetzte Agitation der Prototäufer gegen die Kindertaufe darstellt 3 3 Mit einiger Sicherheit kann man vermuten, daß sie das auslösende Moment für die Ansetzung der Disputation war, die dem gärenden Prozeß der Auseinandersetzung um die Kindertaufe ein Ende setzen sollte.

7.1.2 Ausschreibung und Verlauf der Disputation Der Ausschreibung der Disputation ging ein unvollständig protokollierter Ratsbeschluß voraus, in dem vom Erlaß einer Kanzelabkündigung die Rede ist, die eine Einladung zum Gespräch von Kindertaufgegnern und -befürwortern zum Inhalt haben sollte. 34 Als Begründung für die Disputation wird ausgeführt, daß „tzwytracht" entstanden sei, ob man Kinder taufen sollte. Diese 31 Vgl. QGTS I, Nr. 22,33. 32 Vgl. ebd., Nr. 23,33. 33 Ein weiterer Eklat war sicher der umgestürzte Taufstein in Zollikon. Vgl. QGTS I, Nr. 24,35. 34 Vgl. QGTS I, Nr. 21,32 f.; EAk Nr. 617,269 f; Ζ I V , 286 „einist vor gantzem grossen radt".

7.1 Die Disputation vom Januar 1525

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Formulierung vermied jedes Werturteil. I m Gegensatz dazu bezeichnet das verabschiedete Mandat des Rates die Haltung der Kindertaufgegner bereits als „verirrte Meinung". 3 5 Allerdings sollten sie die Möglichkeit erhalten, ihre Auffassung vor dem Rat mit der Schrift zu begründen. Formal wird dadurch der Rekurs auf das reformatorische Schriftprinzip beibehalten, wobei die Offenheit des Rates für die Beweisführung der Prototäufer aufgrund des tendenziösen Ausschreibungstextes bezweifelt werden darf. Grebel erwähnte in seinem Brief an Vadian ebenfalls die angesetzte Disputation, deren Charakter er jedoch unkommentiert ließ. Allein seine Einschätzung, daß entgegen anderslautender Spekulationen, Hubmaier nicht eingeladen worden sei, weist darauf hin, daß er vom Rat nicht länger eine vorurteilsfreie, unabhängige und unparteiische Entscheidung erwartete. 36 Kann demnach Grebels emotionsloser Bericht über die Einberufung der Disputation, der in keiner Weise die Entscheidung des Rates für eine Anhörung der streitenden Parteien und damit die Gelegenheit zur öffentlichen Aussprache begrüßt, bereits als ein Zeichen der Resignation der radikalen Kreise gewertet werden? In der Ausschreibung der Disputation wird die täuferische Lehre mit der Formel zusammengefaßt, die bereits von den ersten aktiven Taufverweigerern vorgebracht worden war und auch im Müntzerbrief begegnete. Die Kinder sollten demnach erst getauft werden, wenn sie „zu iren tagen kommen" 3 7 , d. h. soweit herangewachsen seien, daß sie zwischen gut und böse unterscheiden bzw. zum Glauben kommen könnten. Die Frage der „Wiedertaufe" findet keine Erwähnung, woraus ersichtlich wird, daß sie im Vorfeld der Disputation nicht thematisiert wurde. Der Verhandlungsverlauf wurde nicht protokolliert 38 und kann daher nur im Rückschlußverfahren rekonstruiert werden. Wie bereits Yoder aufzeigte, berichtet Bullinger von vier Thesen der Täufer, die im Verlauf des Gesprächs diskutiert wurden: 1. Ein Kind versteht nichts von der Taufe; 2. die Taufe ist eine Verpflichtung; 3. die Apostel haben keine Kinder getauft; 4. die Wiedertaufe. 39 Das erste Argument umfaßt zweifellos die ausführliche Auseinandersetzung über die Fähigkeit der Kinder zu glauben, die bereits im Müntzerbrief erschien. Aus dem erörterten Befund zur ersten Taufverweigerung wird deutlich, daß dieses rationale Argument von zentraler Bedeutung für die Prototäufer war. Ebenso gehörte die Behauptung, die Apostel hätten keine Kinder getauft sowie ihre negative Entsprechimg, die Taufe stamme aus dem Papsttum, zum Repertoire der täuferischen Argumentation gegen die Kin-

35 36 37 38 39

Vgl. ebd., Nr. 22,33: „ettlich verirtter meinung"; vgl. auch Blanke, Brüder, 20. Vgl. QGTS I, Nr. 23,33. Ebd., vgl. Punkt 5 (v. a. 5.2.8) dieser Untersuchung. Vgl. Yoder, Schweiz, 40. Vgl. ebd.

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7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

dertaufe. 40 Die Taufe als Verpflichtung rekurriert mit einiger Sicherheit auf den Zusammenhang von Sündenbekenntnis und gleichzeitiger Willenskundgebung vor dem Taufempfang, ein neues Leben führen zu wollen. M i t seiner Zusammenfassung gibt Bullinger zweifellos die Hauptlinie der prototäuferischen Argumentation zur Taufe bzw. die in der Diskussion vorrangigen Themen wieder. Yoder ist zuzustimmen, daß die vierte These bezüglich der „Wiedertaufe" jedoch als anachronistisch zu werten ist. 41 Dafür spricht unter anderem, daß das auf die Disputation folgende Mandat gegen die Prototäufer sich einzig auf die Taufverweigerung bezieht. 42 Zudem beklagte sich Zwingli später wiederholt darüber, daß die Täufer ihre Ansicht zur „Wiedertaufe" nicht vor ihrem ersten Vollzug thematisiert und somit eine theologische Auseinandersetzung verhindert hätten. 43 Daher sind die Anmerkungen Bullingers zur Januardisputation wenig hilfreich, da sie die spezifischen Gesprächsinhalte nicht oder nur durch die spätere Entwicklung gefärbt wiedergeben. Die inhaltliche Konzentrierung der Disputation sowie ihr Verlauf bleiben daher im Dunkeln. Der Ratsbeschluß, der sich ausschließlich gegen den Taufaufschub bei Kindern richtete, führte zu den lange befürchteten Konsequenzen für die Prototäufer. Als Resultat des Gesprächs über die Auslegung der Heiligen Schrift wurde die Taufverweigerung für illegitim erklärt und die Kindertaufe als unumgängliche Pflicht angeordnet. 44 Innerhalb von acht Tagen sollte die Taufe bei Androhung der Verbannung von zuwiderhandelnden Eltern an den bisher ungetauft gebliebenen Kindern nachgeholt werden. In Zollikon sollte der als Zeichen gegen die Rechtmäßigkeit der Kindertaufe umgestürzte Taufstein wieder installiert werden. Die Kompromißlosigkeit und die qualifizierte Strafandrohung verdeutlichen die Entschlossenheit des Rates, in dieser Situation keine weitere Agitation gegen die Kindertaufe zu zulassen. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die bedrängte außenpolitische Lage der Stadt hingewiesen. Wie in keiner anderen vorangegangenen Lehrstreitigkeit während der zwei Jahre des reformatorischen Aufbruchs in Zürich ging die Obrigkeit entschlossen gegen die Befürworter der Sakramentsreform vor, um eine Kohäsion der reformatorischen Kräfte in dieser politisch gespannten Lage herbeizuführen. Der darauffolgende Beschluß vom 21. Januar 1525 zielte dementsprechend auf die völlige Zerschlagung der radikalen Bewegung. 45 Mantz und Grebel werden darin, wohl als Wortführer der Gruppe, angehalten, den Ratsbeschluß zu akzeptieren und jedes weitere 40

Vgl. Punkt 5.2.8 und 6.2 dieser Untersuchung. Vgl. Yoder, Schweiz, 40. 4 2 Vgl. QGTS I, Nr. 24,34. 41

43

Vgl. Punkt 9.1 dieser Untersuchung; Krajewski, Vgl. QGTS I, Nr. 24,34 f. 4 * Vgl. ebd., 35. 44

Mantz, 74.

7.1 Die Disputation vom Januar 1525

349

Agitieren zu unterlassen. 46 Selbst die Aussicht auf eine erneute Disputation wurde von vornherein abgelehnt. Besonderes Gewicht hatte in diesem Zusammenhang das Verbot der „bsondern schulen" 47 , waren doch die Bibelund Lesekreise die spezielle Organisationsform der Prototäufer gewesen, in denen sich ihre spezifische Lehrauffassung herausgebildet hatte. 48 Der Ratsentscheid versuchte, die gesamte Bewegung mit dem Angriff auf ihre organisatorische Basis zu unterbinden. Demselben Zweck diente auch die gleichzeitige Exilierung der führenden nicht-zürcher Personen wie Reublin, Brötli, Castelberger und Hätzer. Für die Deutung der frühen Täuferbewegung bleibt die Beobachtung wichtig, daß ihre Organisation in freien Lesekreisen von der Obrigkeit als ihr spezielles Kennzeichen und gleichzeitig als Gefahr für die Einheit des Gemeinwohls erkannt worden war. Diese Form der Vergesellschaftung erregte, wie gesehen, besonderes Mißtrauen. Das Treffen in den Lesekreisen wurde in dem Ratsbeschluß erneut als „Schule" bezeichnet. Die Analogie zum Lehrhaus der Synagoge - das ebenfalls „Schule" genannt wurde - ist jedoch nicht hinreichend belegbar, wenn sich diese Bezeichnung auch möglicherweise auf die hier wie dort praktizierte Diskussion um die Heilige Schrift bezieht. 49 Der Rat konnte die außergewöhnliche Versammlungsart der Prototäufer wahrscheinlich nur mit dem bereits im Judentum geprägten Begriff der „Schule" erfassen. Das Modell für die Lesekreise war jedoch die humanistische Sodalität. 5 0 Durch den Ratsbeschluß wird die Schlüsselrolle der prototäuferischen Organisationsform in freien Lesekreisen bestätigt. Die Namen der „Anführer" weisen ein Spektrum auf, das mit der These einer unterschiedlichen Ausrichtung und Motivation von land- und stadtzürcher Exponenten der Täuferbewegung schwerlich in Einklang zu bringen ist. Das Ratsmandat traf die sogenannte „protosektiererische" Richtung Grebels und Mantz' genauso wie die mit den Autonomiebestrebungen identifizierten Landgeistlichen Reublin und Brötli. Nach Ausweis der Quellen scheint es angemessener, die betroffenen Personen als zu einer Bewegung gehörig anzusehen, die sich in speziellen Bibelkreisen überregional organisierte. Das Redeverbot für Grebel und Mantz, das Versammlungsverbot sowie die Verbannung der anderen Mitglieder diente dem einen Ziel, die in „Schulen" organisierte Gruppe zu zerstören und ihrer Basis zu berauben. Der Bruch zwischen Zwingli und seinen ehemaligen Anhängern, der sich bereits seit der Oktoberdisputation von 1523 andeutete, wurde mit ganzer Konsequenz durch 46

Vgl. ebd., 35 f. Vgl. ebd. 48 Vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung. 49 Vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung. 50 Vgl. Punkt 4.2, Exkurs: Die humanistischen „Sodalitäten" als Vorbild der „Lesekreise." 47

350

7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

die nach Zwinglischer Auffassung mit dem ius reformandi ausgestattete Obrigkeit vollzogen. Die Gefährdung des Reformimpuls durch die „innere Opposition" sollte per Dekret überwunden werden. Oberman ist zuzustimmen, daß mit der Weigerung des Rates, eine weitere Disputation zu veranlassen, „das erste Kapitel in der Zürcher Reformationsgeschichte abgeschlossen"51 wurde. Angesichts des großen Gewichts, das den Disputationen des Jahres 1523 im Rahmen der reformatorischen Entwicklung Zürichs zugewiesen wird, 5 2 muß überraschen, daß die Entscheidung des Rates von Januar 1525, keine weiteren Disputationen zuzulassen, in der Forschung schlicht übergangen wird. Einführung und Durchsetzung der Reformation in Zürich geschah nach der mehrheitlichen Meinung der älteren und neueren Forschung durch den Klärungsprozeß der öffentlichen Disputationen. Die erste Disputation vom Januar 1523 galt lange Zeit als der „Prototyp" für die folgenden Versammlungen, die die Grundlage für die reformierte Kirchenbildung gelegt habe. 53 Zwingli selbst profilierte stets die Bedeutung dieser und späterer „Synoden", in denen der Heiligen Schrift allein die Richterfunktion zukäme. Sie sei daher eine „Christliche Versammlung gleichberechtigter Amtsbrüder unter der Richtschnur der Schrift". 54 Dem Rat wurde konsequent die Rolle des Exekutivorgans zugewiesen, das die Ergebnisse der Beratung im Einklang mit der durch die Versammlung autorisierten Schriftauslegung umzusetzen hatte. In der Tauffrage wurde jedoch abschließend geurteilt. Die Möglichkeit einer weiteren Disputation, bei der die Klausel Anwendung fände: „bis er eins bessern bericht(et) werde," 55 und damit die Offenheit für einen potentiellen Erkenntniszuwachs aus der Schrift, wurde für diesen Bereich ausgeschlossen. Die im reformatorischen Aufbruch entstehende Kirche widersprach mit dieser Entscheidung ihrem eigenen Grundsatz einer „ecclesia semper reformanda" und akkommodierte sich an die realpolitischen Gegebenheiten der außen- und innenpolitisch bedrohten Stadt. Der Rat handelte - mit der theologischen Legitimierung durch Zwingli - radikal im Sinne der Befriedung des Gemeinwesens und urteilte gleichzeitig verbindlich über die Frage nach der Reform des Taufsakraments. Mantz und Grebel wurden im Fall, daß sie bezüglich der Taufe bzw. den Glauben betreffend weiterhin Fragen und Gewissensbindungen hätten, angewiesen, mit den Stellvertretern der Obrigkeit zu verhandeln, denen nunmehr das Urteil zustehe. Aus Zwingiis Sicht wendete der Rat in der Tauffrage im Einvernehmen mit der christlichen Versammlung, die für ihn die rechtmäßige Repräsentantin der 51

Oberman, Werden, 266. 52 Vgl. ebd., 241 ff. 53 54 55

Vgl. ebd., 267 ff. (Kritische Einschätzung durch Oberman). Ebd., 297. EAk Nr. 327,115 (Bericht über die erste Disputation).

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe

351

Gemeinde war, das „ius circa sacra" an. Gleichzeitig wurden die Radikalen aus dieser Gemeinde ausgeschlossen, da sie ihrem Konsens widersprachen. Die Koaütion von städtischer Obrigkeit und Reformation, die in der Folgezeit großen Belastungen ausgesetzt war, 56 funktionierte vorzüglich in der Ausgrenzung der Kindertaufgegner. Eine Konsequenz war neben der theologisch bedenklichen Exklusivität der sukzessive Verlust des dynamischen Potentials innerhalb des Reformprozesses. Der Gesprächsabbruch sowie die konsequente Beseitigung der theologischen Kontrahenten mittels staatlicher Gewaltmaßnahmen widersprachen eindeutig dem hohen Ziel einer unabhängigen, allein von der Heiligen Schrift motivierten Kirchenerneuerung, die durch eine christliche Versammlung durchgeführt werden sollte. Auch die Einsetzung der Zürcher Synode von 1528, die Locher als Konsequenz der Disputationen von 1523 begreift, 57 kann über die Reglementierung und Institutionalisierung der Reformvorgänge nicht hinwegtäuschen. Die Teilnehmer der Synoden mußten einen Eid schwören, daß sie „kein Dogma und keine Lehre einmischen, die zweifelhaft, noch nicht erörtert und bestätigt ist [...]" 5 8 und ausschließlich entsprechend den Ratsmandaten lehren und predigen würden. Solche Versammlungen wurden schließlich als Mittel zur Kontrolle und Zensur der Pfarrerschaft und ihrer Gemeinden benutzt. Festzuhalten bleibt, daß die endgültige Spaltung der Reformpartei bereits durch die Mandate vom 18.1. und 21. Januar 1525 vollzogen wurde, durch die die Prototäufer aus der für den Reformprozeß maßgeblichen christlichen Versammlung ausgeschlossen und ihrer organisatorischen Basis beraubt wurden.

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe Die Reaktion der radikalen Kreise auf die restriktive Ratspolitik war der Vollzug der ersten Gläubigentaufe. Die Datierung, der Verlauf und vor allem die Deutung dieses Geschehens sind in der Forschung umstritten. Über die nachfolgenden Taufen in Zollikon und Umgebung sind wir aufgrund der zahlreichen Ratsprotokolle dagegen recht gut unterrichtet, während über die erste Taufe keine direkten Quellen vorliegen, so daß man ausschließlich auf die Auswertung späterer Zeugnisse angewiesen ist. 59 Die Deutung des Ereignisses ist in der wissenschaftlichen Diskussion bis heute divergent, was vor allem aus der ungeklärten Frage nach der Begründung für die Praktizierung der Gläubigentaufe zu diesem Zeitpunkt resultiert. Warum führten die Radikalen als Reaktion auf die obrigkeitliche Festschreibung der Kindertaufe, dem 56

Vgl. Oberman, Werden, 302. Vgl. Locher, Reformation, 192 f. 58 Ebd., 193. 59 Vgl. F. Blanke, Ort und Zeit der ersten Wiedertaufe, ThZ 8,1952,74-76. 57

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7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

unter Androhung von Strafmaßnahmen abgewiesenen Taufaufschub und der Zerschlagung ihrer Basis die Gläubigentaufe ein? Zwingli bezeichnete in seiner Taufschrift vom Mai 1525 die Wiedertaufe als Mittel zur Sammlung einer neuen Kirche. 60 Nachdem die Täufer durch die „Leer überwunden" 61 waren, hätten sie durch die Einführung der „Wiedertaufe" eine eigene Kirche gegründet. Diese Interpretation wiederholt der Reformator im „Elenchus": „ I b i primum sentiscere coepimus, cuius causa et novam ecclesiam colligere institerint et infantium baptismum tantopere obpugnaverint." 62 Zwingli wies in seinen Schriften mehrfach darauf hin, daß die Radikalen zwar die Kindertaufe bekämpft und abgelehnt, aber die „Wiedertaufe" nie öffentlich thematisiert hätten. 63 Das Ratsmandat bestätigt diese Meinung des Reformators. Anläßlich der Disputation vom 17. Januar 1525 ist offensichtlich die „Wiedertaufe" nicht erörtert worden, sonst wäre ein Verbot bzw. ein warnender Hinweis im Mandat erfolgt. Zwingli deutete die „Wiedertaufe" aus ekklesiologischer Perspektive als einen bewußten A k t der Separation und damit der Gründung einer neuen Kirche. Eine Vielzahl von Forschern, vor allem aus der normativen Schulrichtung, folgten dieser Interpretation. So bezeichnet Blanke die erste am 21. Januar 1525 vollzogene Taufe als „Geburtsstunde des Täufertums". 64 Die Radikalen seien nunmehr überzeugt gewesen, daß der Rat sich durch sein Mandat als unfähig erwiesen hätte, die „Urkirche" wiederherstellen zu können, weshalb sie die Sache selbst in die Hand genommen hätten. Obwohl Yoder die Schwierigkeiten erkennt, ein genuines Motiv für die erste Gläubigentaufe zu finden, sieht auch er in dem Vorgehen der Täufer eine bewußte Aktion der „Einzelgemeinde", die dem Rat die Kompetenz in Glaubensfragen zu urteilen absprach. 65 Analog dazu interpretierte Krajewski die erste Taufe als „Schritt, der die endgültige Lösung von der Staatskirche Zwingiis bedeutete." 66 „Es war die erste Taufe auf das Bekenntnis des Glaubens hin in der Geschichte des Protestantismus, durchgeführt von Männern, die mit den Reformatoren ganz auf evangelischem Boden standen, jedoch von ihnen getrennt waren durch ein verschiedenes Kirchen Verständnis."67

60

Vgl. Ζ I V , 207. « Ebd., 208. 62 Ζ V I , 40. « Vgl. Ζ I V , 208. 64

Blanke, Brüder, 22; Harder, Sources, 338. Vgl. J. Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, Karlsruhe 1962, 42 f. Yoder verlegt jedoch die eigentliche „Geburtsstunde" des Täufertums nach Schieitheim, weil s. E. erst 1527 ein Endpunkt des Dialogs zwischen Reformation und Täufern erreicht worden sei, vgl. Yoder, Kristallisationspunkt, 45. 66 Krajewski, Mantz, 73. 67 Ebd., 78. 65

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe

353

Dieselbe Linie vertritt Wenger mit seinem emphatischen Urteil, das die Konsequenz der ersten Taufe folgendermaßen zusammenfaßt: „So führte das Mandat nicht zur Unterdrückung derer, die für eine freie Kirche eintraten, sondern vielmehr zur tatsächlichen Begründung der ersten freikirchlichen Gemeinde." 68 Auch in neueren Beiträgen zur Geschichte des Täufertums, so ζ. B. bei Estep, wird diese Sicht in bezug auf das „epochale" Ereignis der ersten Gläubigentaufe geteilt. „With this event the Anabaptist movement, which had been in gestation for over a year, was born and with it the Free Church Movement." 6 9 Selbst Goeters, dem ein wichtiger Neuansatz in der Erforschung der Vorgeschichte des Täufertums zu verdanken ist, faßt zu Beginn seines wegweisenden Aufsatzes zur Entstehung der Täuferbewegung den „Konsens" zur Einführung der Gläubigentaufe zusammen. „Vielmehr ist es [= das Täufertum, Anm.] mit dem Vollzug der ersten Großtaufen am Abend des 21. Januars 1525 in Zürich gewissermaßen förmlich gestiftet worden und dann durch das Entstehen einer täuferischen Gemeinde im benachbarten Zollikon geschichtlich ans Licht getreten." 70

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, bis hin zu der in einem wenig instruktiven Abschnitt über das Täufertum lapidar formulierten Einschätzung Moellers, wonach in Zürich das „äußerliche Kennzeichen der wahrhaft Frommen" 71 , die Gläubigentaufe „erfunden" und erstmals praktiziert worden sei. Analog dazu urteilt Moeller auch in seiner kurzgefaßten Kirchengeschichte: „So machte man den Widerspruch handgreiflich, indem man die eigene Gemeinschaft, die wahre Kirche, mit einer neuen Taufhandlung, die die eigentliche sein sollte, begründete [...]." 7 2 Allen Autoren ist, wenn auch aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven, die These gemeinsam, daß die Einführung der Gläubigentaufe als ein Zeichen der Trennung von der Zwinglischen Reformation und gleichzeitig als Charakteristikum einer neuen kirchlichen Gemeinschaft anzusehen sei. Ganz anders, jedoch um nichts einsichtiger, fallen die Interpretationsversuche der revisionistischen Täuferforschung aus. Während Stayer in seiner Monographie zur Schwertgewalt die „Erwachsenentaufe" noch als äußeres Zeichen der innerlich vollzogenen Separation verstand, das die geistliche Elite von der „weltlichen Masse" trennen sollte 73 , bezeichnet er sie in einem neueren Aufsatz nicht mehr als separatistischen Akt, sondern als Versuch einer radikalen Gottesdienstreform. 74 Die Einführung der „Erwachsenentaufe" sei nach 68 69 70 71

J. C. Wenger, Die Dritte Reformation, Kassel 1963,18 f. W R. Estep, Anabaptist Beginnings (1523-1533), Nieuwkoop, 1976,2. Goeters, Vorgeschichte, 239. R. Kottje/B. Moeller (Hg.), Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 2, Mainz 41988,

340. 72 73 74

B. Moeller, Geschichte des Christentums in Grundzügen, Göttingen 41987,250. Vgl. Stayer , Sword, 103. Vgl. Stayer , Anfänge, 39.

354

7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

Stayer ein „echter Verzweiflungsschritt" gewesen. Dabei ging s. E. die Initiative von dem protosektiererischen Kreis um Grebel aus. Stayer präzisiert seine Interpretation schließlich dahingehend, daß die erste Gläubigentaufe „ein dramatischer und verzweifelter A k t des Widerstandes gegen die etablierte Kirche und Obrigkeit" 7 5 gewesen sei. Auch in seinen neueren Veröffentlichungen deutet er die erste Taufe vom 21. Januar 1525 nicht länger als Abspaltung von der Zürcher Reformationsbewegung, sondern als Praktizierung des neutestamentlichen Ideals, das der Ansicht des Reformators widersprach. 76 Goertz wendet sich analog zu Stayer ebenfalls gegen die weitverbreitete Meinung, die erste „Wiedertaufe" sei als Gründung einer Freikirche anzusehen, 77 obwohl er sie weiterhin als institutionellen Bruch mit der Zürcher Reformation bezeichnet. Die erste Gläubigentaufe in Zürich sei „tendenziell ein separatistischer", wenn auch unbewußter A k t gewesen, der eher „Protest als frohgemute Gründung einer neuen Kirche" 7 8 darstellte. Für Goertz sind die Kindertaufverweigerung und der Vollzug der ersten Gläubigentaufe in „den Rahmen bäuerlicher Verweigerungs- und Widerstandsgesten" 79 voll integrierbar. Er kommt daher zu dem Schluß, daß die Gläubigentaufe „nur" als ein weiteres antiklerikales Zeichen neben Zehntverweigerung, Predigtunterbrechung und Bildersturm zu werten sei. Erst in Schieitheim 1527 wird s. E. die Glaubenstaufe in die freikirchliche Ekklesiologie der Täufer integriert. „Vorher war sie ein A k t antiklerikaler Verweigerung und ein antiklerikaler Gegenritus, ein Mittel, die Kirche zu reinigen bzw. zu erneuern." 80 In seiner umfassenden sozialgeschichtlichen Interpretation des Täufertums werden die Täufer vollständig in die bäuerliche Erhebung eingeordnet, in deren Rahmen die Glaubenstaufe zu einem antiklerikalen und schließlich „antizwinglischen" sowie „antiobrigkeitlichen" Protestzeichen wird. Goertz kommt zu dieser „atheologischen" Interpretation der Taufe im Zuge seiner Analyse des frühen Täufertums und im Kontext der Autonomiebestrebungen der Bauern, die das Täufertum kurzzeitig zu einer Massenbewegung werden ließen. Goertz, wie auch Haas, belegen die These, wonach sich das Täufertum zu einem Sammelbecken antiklerikaler Strömungen entwickelte, mit Zeugnissen aus dem Grüninger Amt, Schaffhausen, Hallau und auch St. Gallen, aus denen die Verflechtung mit den Bauernerhebungen hervorgehe. Von diesen Beobachtungen geleitet, deutet Goertz jedoch auch die erste Glaubenstaufe in Zürich als genuin antiklerikalen A k t bzw. Ausdruck 75

Stayer , Schweizer Brüder, 14. Vgl. J. M. Stayer ; Sächsischer Radikalismus und Schweizer Täufertum, in: G. Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation, Weimar 1994,153. 77 Vgl. Goertz, Täufer, 20. 78 Goertz y Bauern, 92 f. 79 Ebd., 94. ω Ebd., 96. 76

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe

355

des systemkritischen Protests. W. Klaassen schließlich versteht die Glaubenstaufe vor allem als „Zeichen religiöser Mündigkeit", das in Verbindung mit einem unterrichteten „Laienstand" die „geistliche Kontrolle" durch die Geistlichkeit brechen sollte. 81 Zur Begründung der ersten Taufe in Zürich führt er nur an, daß der Ratsbeschluß die Radikalen „zur Tat" zwang, so daß ohne vorherige Planung die Gläubigentaufe spontan vollzogen wurde. In einem weiteren Aufsatz zur Taufentwicklung führt er aus: „The mandates against them forced the dissenters to act, altough the first baptisms, which took place on January 21, do not seem to have been deliberately planned." 82 Konsens besteht in der heutigen revisionistischen Forschung darüber, daß die erste Gläubigentaufe in Zürich und die nachfolgenden Taufen in Zollikon nicht länger als separatistischer A k t zur Gründung einer Freikirche verstanden werden können. I m Blick auf die Folgezeit wird die Gläubigentaufe vielmehr als antiklerikales Zeichen verständlich, das die Forderungen der Bauern rituell konkretisierte und mit ihnen inhaltlich korrespondierte. Die Reaktion der Radikalen auf das Ratsmandat vom 21. Januar 1525 wird in diesem Zusammenhang stereotyp als „Verzweiflungsschritt" bzw. antiklerikaler Protest gegen das kirchliche „Establishment" gewertet, der kein reflektiertes theologisches Programm initiierte. Nach dieser kurzen Übersicht wird deutlich, daß sich gerade in der Interpretation der ersten Taufhandlung die Ergebnisse der verschiedenen Schulrichtungen der Täuferforschung unversöhnlich gegenübestehen. Weitgehend unbeantwortet blieb bisher die Frage, aus welchem Grund es - über den Taufaufschub bei Kindern hinausgehend - zur Praktizierung der Gläubigentaufe an bereits als Kind getauften Personen kam, die nach Ausweis der Quellen zuvor nicht thematisiert worden war. Weder in den zwei theologischen „Hauptschriften" jener Frühzeit, der Protestation und dem Müntzerbrief, noch in den Briefen Grebels oder in den Berichten über die stattgefundenen Taufgespräche findet sich ein Hinweis auf eine öffentlich bzw. privat geäußerte theologische Legitimierung der „Taufwiederholung". Ferner bleibt zu fragen, warum der Vollzug der Gläubigentaufe zu einem Zeitpunkt erfolgte, an dem die radikalen Kreise durch den obrigkeitlichen Eingriff, besonders durch die Exilierung ihrer leitenden Verantwortlichen, vor ihrer Auflösung standen. Kam es bereits in Zürich zur Gründung einer Gemeinde? Auch normative Forscher deuten die Ereignisse in Zollikon als „eigentlichen" Ursprung der ersten Täufergemeinde. Welche integrative Bedeutung hatte demzufolge die Taufe in Zü-

81 W. Klaassen, Die Taufe im Schweizer Täufertum, MGB 46,1989,86 f. Er geht dabei von der abwegigen Vorstellung aus, daß bereits am 17.1.1525 die Gläubigentaufe thematisiert wurde. Der Quellenbezug auf Seite 84 ist unklar. 82 Ders., The Rise of the Baptism fo Adult Believers in Swiss Anabaptism, in: Ders., Anabaptism Revisited, Scottdale 1992,93.

356

7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

rieh in einem Kreis von radikalen Reformatoren, die in der Folgezeit voneinander getrennt ihren jeweils eigenen Wirkungskreis fanden? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen die Zeugnisse über die erste Taufe, vor allem aber die vielfältigen Berichte über die Entwicklung in Zollikon neu untersucht werden. Es ist in diesem Zusammenhang nicht hinreichend, spätere Tendenzen der Täuferbewegung im Zusammenhang mit den Bauernerhebungen als alleiniges Interpretament für den plötzlichen Vollzug der Glaubenstaufe zu werten. Auch hier gilt, daß die spätere Entwicklung - d. h. die Massenbewegung des frühen Täufertums in Korrelation zum Bauernaufstand - die genuine Intention der radikalen Kreise zu Beginn 1525 nicht hinreichend verdeutlichen kann. 83 Neben Zwingiis Darstellung, dessen Interpretation bereits oben dargestellt wurde, liegt in Keßlers Sabbata ein weiterer zeitgenössischer Bericht über den Beginn der „Wiedertaufpraxis"vor. 84 Die Darstellung Keßlers aus dem Jahr 1533 ist jedoch weitgehend von Zwingiis Wertung der radikalen Kreise geprägt. Er übernahm u. a. Zwingiis Charakterisierung des ekklesiologischen Modells der Täufer, wonach sie eine „reine, unbefleckte" Gemeinde anstrebten. 85 Fast gab er wörtlich Zwingiis Beurteilung der Prototäufer wieder, die s. E. schon früh die kirchliche Trennung beabsichtigt hätten. Der Kampf gegen die Kindertaufe wird demzufolge als indirekte Profilierung der „Wiedertaufe" interpretiert, die als Zeichen der Absonderung und als Eingangsritus zu einer neuen Kirche galt. Zur ersten Taufe in Zürich führte Keßler aus: „Hierumb sy die vorgemelten 'arxibaptisai, erwidertoufer, zum ersten Cunrat Grebel, zu nacht in ainem hus anderen widergetouft habend, zu warem urkund, wie sy den kindertouf kainen touf, sunder iren widertouf für den waren bekennend, desglichen ir Versammlung (allda ware toufe wer) vermaintend die waren hailigen, christenlichen kirchen zu sin." 86

Keßler schilderte, sicher in polemischer Akzentuierung, die diskriminierenden Begleitumstände der ersten Taufe. Die Radikalen trafen sich demnach nachts. Die Handlung habe in einem Privathaus und nicht im kirchlichen Raum stattgefunden. Sie sei nicht durch einen Amtsträger vollzogen worden, vielmehr hätten sich die Radikalen gegenseitig getauft. Diese Fakten unterstrichen für den Chronisten den mysteriösen, illegitimen und „sektiererischen" Charakter der täuferischen Bewegung. Gleichzeitig entsprachen sie der tatsächlichen Organisationsform der Prototäufer, die in den Lesekreisen

83

Dieses unhistorische Verfahren entwickelte sich zu einem Standardvorwurf der revisionistischen Forschung gegen die normative Richtung, die i. E. die Endgestalt des Schweizer Täufertums (Schieitheim) in die Anfänge der Bewegung reprojiziere. 84 Vgl. QGTS II, 598 ff. 85 Vgl. ebd., 600 (= Ζ I V , 206 ff.). 86 Ebd., 600.

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe

357

ihre bisherigen theologischen Überzeugungen ausgebildet hatten und ihre Gemeinschaft auf diese Weise konstituierten. Keßler benennt zwei grundlegende Lehrauffassungen der Täufer. Sie sprächen der Kindertaufe die Bedeutung als wahre bzw. schriftgemäße Taufe ab und erklärten die Gläubigentaufe zur einzig legitimen Taufpraxis. Ferner verstünden sie ihre Gemeinschaft der wahrhaft Getauften als wahre, heilige und christliche Kirche. Die drei Attribute, die der täuferischen „Kirche" von ihren Mitgliedern zugeschrieben worden seien, erinnern an die notae ecclesiae des altkirchlichen Credos, auch wenn sie nicht wörtlich mit diesem übereinstimmen. Von Keßler wird vor allem der Anspruch der Täufer herausgestellt, daß sie sich als „wahre Kirche" und damit im Gegensatz zum corpus permixtum der reformatorischen und altgläubigen Kirche verstanden. Es ist schwer einzuschätzen, worauf Keßler seine Ansicht über das Selbstverständnis der Täufer bezieht. Die Nähe zu den Ausführungen Zwingiis läßt auf eine literarische Abhängigkeit schließen. Trotz seiner polemischen Darstellung bleibt zu fragen, ob die erste Taufe und die darauffolgenden Ereignisse in Zollikon das Bewußtsein der Täufer „wahre Kirche" zu sein veranlaßt bzw. begleitet haben. Dem Bericht Keßlers, wie auch zuvor Zwingiis, liegt die These zugrunde, daß die Täufer den Vollzug der Gläubigentaufe als Konstituierung einer neuen Gemeinschaft, mehr noch einer eigenen Kirche, verstanden. Bei der Bewertung dieser Deutung müssen besonders im Blick auf Keßler die zeitliche Distanz zu den Ereignissen und die zur Zeit der Abfassung der Sabbata bereits eskalierten Auseinandersetzungen mit den Täufern berücksichtigt werden. Einen ausführlichen, aber ebenfalls spät datierten Bericht über die erste Gläubigentaufe bietet die älteste Chronik der Hutterer, 87 der schon wiederholt in der Forschung analysiert wurde. Die Darstellung steht in direkter literarischer Abhängigkeit von einem Brief der Schweizer Brüder an ihre Kölner Glaubensgenossen aus der ersten Hälfte des Jahres 1530.88 Meihuizen hat die Qualität dieser Quelle, die ins Niederländische übertragen in drei Varianten vorliegt, eingehend untersucht 89 und ihre Priorität gegenüber der späteren hutterischen Chronik nachgewiesen. Die legendarischen Glossen besonders

87 Vgl. A. J. F. Ziegelschmidt (Hg.), Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder, New York 1943,47: C. Braitmichel war der erste Chronist der Hutterer (1524-1542); /. Beck (Hg.), Die Geschichts-Bücher der Wiedertäufer in Österreich-Ungarn von 15261787, Wien 1883. 88 Vgl. C. van Ghendt, Het beginsel en voortgandt der geschillen, scheuringen en verdeeltheden onder degene die Doops-gezinden genoemd worden, in: S. Cramer (Hg.), Bibliotheca Reformatoria Neerlandica (BRN) V I I , Zestiende - eeuwsche schrijvers over de geschiedenes der oudste Doopsgezinden hierte lande, Gravenhage 1910, 507-564; vgl. zum Köln/Klettgau-Brief ebd., 515-516; Harder, Sources, 338. 89 Vgl. Η. E. Meihuizen, De bronnen voor een geschiedenis van de eerste doperse doopstroedienig, in: Doopsgezinde Bijdragen, 1975,54-61.

358

7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

zur Person und zum Werk Blaurocks, 90 die in der Chronik hervortreten, sprechen für eine spätere Überarbeitung des Klettgau/Köln-Briefes durch den hutterischen Chronisten. Die im Schreiben an die Kölner geschilderte Entstehungsgeschichte des Täufertums ist kirchenhistorisch äußerst aufschlußreich. Nach eigenen Angaben und zugleich in Übereinstimmung mit der bisher dargestellten Genese des Täufertums sahen die Täufer in der Zwinglischen Reformation den Wurzelgrund ihrer Bewegung. Grebel und Mantz seien 1522 im Gespräch mit Zwingli (sie!) zur Erkenntnis gekommen, daß „de Kinder-doop onnodigh zy, oock voor geen Doopsel bekent. Daer hebben die twee Coenraet ende Felix gelooft ende bekent dat men moeste ende behoorde, nae Christelijcke ordeninge, gedoopt te worden [...]." 9 1 Als Kernargumente für die Gläubigentaufe werden nachfolgend die konsequente Ausrichtung am Taufbefehl Christi 92 und der prominente Tauftext aus M k 16,16 hervorgehoben, die die unumkehrbare Reihenfolge von Glaube und Taufe verdeutlichen sollten. Diese zunächst gemeinsam erkannte Taufanschauung wird als entscheidender Trennungsgrund von Zwingli festgehalten, der von der Praktizierung der Gläubigentaufe Abstand genommen habe, damit es nicht zu einem Aufruhr komme. Zwingiis politischer Vorsicht setzten die Täufer nach ihrem eigenen Verständnis den unbedingten Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes, wie sie in der Schrift offenbart seien, entgegen. Zwingli trifft auch hier der wiederholt geäußerte Verdacht, daß er in der Tauffrage wider besseres Wissen entschieden habe. 93 Als entscheidendes Merkmal der „Täuferführer" Grebel, Mantz und Blaurock wird der „Eifer" für Gottes Willen genannt, der geradezu als Leitwort für den gesamten Brieftext auszumachen ist. Blaurock wird im Stil einer Heiligenlegende als besonders von Gott

90 Die Biographie J. Cajakobs, genannt Blaurock, liegt fast vollständig im Dunkeln. Seine Ankunft in Zürich, seine Beziehung zu Zwingli und die Kontaktaufnahme mit den Prototäufern bleiben ungewiß. Als sein Heimatort wird von Keßler Bonaduz (Graubünden) angegeben. Er war Säkulargeistlicher und kam nach seinem Bruch mit der katholischen Kirche und vollzogener Heirat nach Zürich. Aufgrund der wenigen Fakten ist anzunehmen, daß ihn ein ähnliches Schicksal wie Brötli nach Zürich führte, der als Gesinnungsgenosse Zwingiis nach seiner Amtsenthebung einen neuen Aufgabenbereich suchte und als Flüchtling in die Stadt kam. Blaurock schloß sich dann, wahrscheinlich aus Enttäuschung über die mangelnde Radikalität des Zürcher Reformators, den Prototäufern an. Er war der erste, der die Gläubigentaufe an sich vollziehen ließ. Sein Leben und Wirken wird in folgenden Beiträgen dargestellt: O. Vasella, Von den Anfängen der bündnerischen Täuferbewegung, SchwG 19, 1939, 165-184 (vgl. bes. 168.174.176 f.); J. A. Moore, Der starke Jörg. Die Geschichte von Jörg Blaurock, des Täuferführers und Missionars, Kassel 1955. 91

Ghendt, Het beginsel, 515. „Maer dese voor-genoemde twee mannen hebben gemeent menen konde Gods bevel daeromme niet achter-laten" (ebd.); diese Formulierung verweist wohl auf Mt 28,19 (Missionsbefehl). 93 Vgl. ebd.; vgl. auch die Ausführungen zu Zwingiis Tauflehre unter Punkt 5.2.8.3 dieser Untersuchung. 92

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe

359

begnadeter Mann vorgestellt, der zu Zwingli gekommen sei, aber letztlich von ihm und seinen Antworten in Glaubensfragen enttäuscht wurde. „Doen heeft men hem geseyt, datter andere waren, die yveriger waren als Zwinglius [

] "94

Diese Hervorhebung läßt die Selbsteinschätzung und die Befindlichkeit der frühen Täuferbewegung erahnen. Für unsere Untersuchung ist die Darstellung der ersten Gläubigentaufe von besonderem Interesse. Bedauerlicherweise wird über Ort und Zeitpunkt des Ereignisses nichts berichtet. Die einzig greifbare Situationsangabe schildert eine Versammlung der Radikalen, worunter wohl eine der üblichen Zusammenkünfte zu verstehen ist. Durch die konzentrierte formelhafte Sprache erinnert der Bericht an die neutestamentliche Pfingsterzählung aus Apg 2,1-13. Demnach wurden die Versammelten von großer Furcht ergriffen, so daß sie gemeinsam Gott um Gnade baten. 95 Blanke deutet die „Angst" der Anwesenden psychologisch, die aufgrund ihrer gefährdeten Situation nach dem Ratsbeschluß zur Auflösung der Konventikel und Ausweisung ihrer geistlichen Führer entstanden sei. 96 In dem Brieftext, der m. E. ätiologische Züge für die nachfolgende täuferische Bewegung enthält, ist jedoch - hier ist Krajewski recht zu geben - nicht die Angst vor dem Zürcher Rat, sondern vor Gott gemeint. 97 Die „Angst" bzw. der „Gottesschrecken", der die versammelten Täufer befiel, konnte jedoch auch als Zeichen eines offenbarenden Handelns Gottes verstanden werden. Z u diesem Charakteristikum eines übernatürlichen Ereignisses gehört das gemeinsame Gebet ebenso wie die spontan geäußerte Bitte Blaurocks, an ihm die Taufe zu vollziehen. Der „Schrecken" ist ein bekanntes formgeschichtliches Element biblischer Theophanieberichte. 98 Auch die Reaktion in Form der gemeinsamen Anbetung, die in der hutterischen Chronik zu einer A r t Proskynese ausgestaltet wird, 9 9 gehört zu den typischen Kennzeichen einer biblischen Gottesbegegnung. Es fehlen jedoch alle anderen, eine Theophanie begleitenden Zeichen, wie visionäre oder auditive Elemente und ekstatische Zustände der beteiligten Personen. Die hutterische Version steigert im Vergleich mit dem Klettgau/Köln-Brief jedoch den sakralen Offenbarungscharakter der Situation, die dadurch einer direkten Beauftragung zur

94

Ebd., 515. „Ende het heeft hem begeven, dat zy by malkanderen zijn geweest. Nadien den anghst grootelijck op haer heeft gelegen, soo hebben zy Godt in den Hemel aengeroepen, dat hy haer barmhertigheydt wilde bewijsen" (ebd., 516). 96 Vgl. Blanke, Ort und Zeit, 76. 97 Vgl. Krajewski, Mantz, 78. 98 Vgl. z. B. J. Hempel, Art. Theophanie II, in: R G G 3 6, 841-843. Vgl. auch Gen 32,31; Ex 3,6; Ri 6,22; 13,22; Jes 6,5. 99 „Da haben sy angefangen ire Knie zu biegen vor dem Höchsten Gott im Himel vnd in angerufft, als ein Hertzem kundigen [...]." Beck, Geschichtsbücher, 19. 95

360

7 Die Frühphase des Schweizer Täufertums

Taufe durch Gott selbst gleichkommt. 100 Aber auch in der älteren Berichtsfassung erhält die spontane Bitte Blaurocks um die Taufe, umgeben von Theophaniemotiven wie Gottesfurcht und Gebet, einen von Gott legitimierten und inaugurierten Charakter. Blaurock erscheint als derjenige, der von Gott die Eingebung erhalten habe, was jetzt zu tun geboten sei. „Doen is Jorian opgestanden, ende heeft om Gods wille gebeden den Coenraet, dat hy hem wilde doopen, ende dat heeft hy gedaen: naemalels heeft hy die anderen oock gedoopt [...]." 1 0 1

Die erste Taufe erhält damit, wenn auch nur andeutungsweise, eine durch göttliche Offenbarung sanktionierte Begründung. Ein Vergleich mit der späteren Fassung in der hutterischen Chronik verdeutlicht, neben der interessanten Hervorhebung des geistlichen Amtes, 102 daß die legendarischen Züge der „Ursprungsgeschichte" in der Folgezeit noch gesteigert wurden. Eine bewußte Analogie zum neutestamentlichen Pfingstgeschehen ist denkbar, wenn auch alle ekstatischen und visionären Elemente fehlen oder bewußt ausgelassen wurden. 103 So heißt es über die entscheidende Versammlung: „Vnd es hat sich begeben, das sie bey einander gewesen sind, biss sie die Angst anging, vnd auf sy kam. Ja in iren Hertzen gedrungen wurden." 104

Daß die erste Gläubigentaufe nicht von einem Ordinierten vorgenommen wurde, war in der Folgezeit, in der sich bereits ein dezidiertes Amtsverständnis ausgebildet hatte, ein legitimatorisches Problem. Deshalb wird die Handlung Blaurocks und Grebels im Bericht damit entschuldigt, daß „darzumal kein verordneter Diener solches werkhs zu handen war" (ebd.). Man kann die Schilderung der ersten Gläubigentaufe mit einigem Recht als einen Versuch werten, den Vorgang post festum theologisch zu legitimieren. Damit wäre die historische Aussagekraft des Berichtes als gering einzuschätzen, da er vorwiegend als ätiologischer Text für die bereits etablierte Täuferbewegung zu bewerten wäre. Rekurriert der Bericht jedoch auf authentische Zeugenaussagen, so erfolgte die erste Gläubigentaufe in Konsequenz einer gemeinsamen religiösen Erfahrung. Die Motivation für die anschließende intensive Missionsarbeit entspräche dem Sendungsbewußtsein, das durch ein gemeinsames geistliches Erlebnis entstanden sein könnte. Dann wäre die erste Taufe in Zürich jedoch zugleich als ein bewußtes Zeichen für die endgültige Loslösung der radikalen Kreise aus der Zwinglischen Reformkirche zu verstehen. Eine Untersuchung der zahlreichen Protokolle über 100 „Denn Fleisch vnd Bluet vnd Menschlicher Fürwitz hat sy gar nit getriben [...]. Beck, Geschichtsbücher, 19. 101 Ghendt, Het beginsel, 516. 102 Vgl. Harder , Sources, 339. 103 Vgl. das Ende des Klettgau-Köln-Briefes, in dem vor charismatischen „Auswüchsen" gewarnt wurde; Harder , Sources, 342.

104 Beck, Geschichtsbücher, 19.

7.2 Deutung der ersten Gläubigentaufe

361

nachfolgende Taufen, die im Anschluß an dieses religiöse „Schlüsselerlebnis" stattfanden, sollen zur Klärung dieser These herangezogen werden. A n Fakten bleibt zunächst festzuhalten, daß Zwingli und seinen Anhängern das genaue Datum der ersten Gläubigentaufe nicht bekannt war. Die „Taufwiederholung" war in den vorangegangenen Gesprächen und auch in den Schriften der Prototäufer nicht thematisiert oder als Handlungsalternative zum Taufaufschub behandelt worden. Offen bleibt daher die theologische bzw. schriftgemäße Begründung der Taufe an zuvor im Kindesalter Getauften. Die erste Gläubigentaufe fand mit einiger Sicherheit in einer abendlichen Versammlung im „Lesekreis" der Radikalen statt. Die Zusammenkunft wurde durch den existenzbedrohenden Ratsbeschluß vom 21. Januar 1525 geprägt. Blaurock bat - auch nach eigenen Angaben 105 - als erster um den Vollzug der Taufe und taufte anschließend alle übrigen. Von diesen dürftigen Situationsangaben her erscheint es unangemessen, die Taufe als einen demonstrativen A k t zu bezeichnen. Sie geschah vielmehr im Verborgenen, und erst die Folgeereignisse machten auf den ersten Vollzug aufmerksam. Der konspirative Charakter des Ereignisses wird in den Sabbata betont festgehalten. Später wird die erste Gläubigentaufe von den Täufern als göttlich legitimiertes Vorgehen interpretiert. Die sich dem historischen Urteil entziehende gemeinsame religiöse Erfahrung motivierte die Beteiligten in der Folgezeit zur intensiven Missionsarbeit im Sinne ihrer Bewegung, die selbst das Martyrium einschloß. Aufgrund der spärlichen Angaben zum Geschehen selbst und der ausschließlich theologischen Interpretation in den späteren Selbstzeugnissen fällt es schwer, in dem Ereignis - unabhängig von der späteren Massenbewegung - eine bloß sozialkritische und antiklerikale Protestaktion zu sehen. Wenn man die religiöse Dimension des Geschehens marginalisiert, wie es in der sozialhistorischen Forschung zunehmend geschieht, dann bleibt für die Erklärung der ersten Gläubigentaufe wirklich nur das m. E. wenig hilfreiche und schwerlich plausible Deutemuster eines „Verzweiflungsschritts" übrig. Worin jedoch die explikative Leistung dieses scheinbar psychologischen Interpretaments beruht, will nicht recht deutlich werden. Auch Oyer hinterfragt im Blick auf die erste Gläubigentaufe die Sinnhaftigkeit dieser Bewertung. „For many, if not all, Anabaptists baptism was an essentially religious act, symbolizing a religious experience and commitment. It is difficult to subsume their conviction under some larger, presumably more powerful socio-economic-political motivation." 1 0 6

105 106

Vgl. QGTS I, Nr. 123,125. Vgl. Oyer, Response, 326.

8 D i e Entwicklung in Zollikon (Januar bis März 1525) 8.1 Die Ereignisse in Zollikon Die Zeugenaussagen über die Ereignisse in Zollikon von Januar 1525 und den folgenden Monaten sind schon wiederholt untersucht und dargestellt worden. In unserem Zusammenhang steht nicht die chronologische Rekonstruktion der Ereignisse und die Auflistung der handelnden Personen im Vordergrund, sondern vornehmlich die Frage, ob sich analoge Motive der verschiedenen Vorgänge aufzeigen lassen, aus denen sich Kriterien für die Bewertung der gesamten Frühphase ergeben. Von besonderem Interesse ist fernerhin, welcher (biblisch-)theologischen Begründung sich die Betroffenen bedienten. Bisher wird überwiegend die These vertreten, daß ein gemeinschaftlich erfahrenes religiöses Erlebnis die Praxis der Gläubigentaufe legitimierte. Ungeklärt ist noch die Frage, ob die Täufer nach dem Ratsmandat bewußt die Errichtung einer separaten Kirche beabsichtigten, wobei die Maßnahmen in Zollikon dann als Ausdruck einer ekklesiologischen Initiative zu deuten wären. I m ersten erhaltenen Ratsprotokoll berichtet Curat Brunner über ein Gespräch mit Nicolaus Billeter, Pfarrer in Zollikon und Heinrich Thoman, der ihm von einer freien Abendmahlsfeier und gegenseitiger Taufe erzählt habe.1 Für Thoman war auf Nachfrage des Gesprächspartners der beobachtete Vorgang ein schockierendes Erlebnis. Als feststehende Formeln begegnen im weiteren Bericht das „Aufrichten des Tisch Gottes" und die gegenseitige Taufe. Ein weiterer Zeuge bekannte Brunner, daß er ebenfalls über den Vorfall entsetzt gewesen sei. Die Versammlung, in der Abendmahl und Taufe gefeiert wurden, fand am 25. Januar 1525 im Haus des Rudi Thoman statt. Heinrich Thoman berichtete Billeter, daß die Zusammenkunft mit einem gemeinsamen Bibellesen begann, an das sich die gemeinsame Mahlfeier anschloß. Die Frage muß zunächst offen bleiben, ob es sich hierbei nur um die Verlesung der Einsetzungsworte aus IKor 11 handelte, oder ob sich die Mahlfeier an eine übliche „Lesestunde" anschloß. Blaurock brach nach der Zeugenaussage das Brot und verteilte den Wein. Die Beschreibung der Zeremonie, wonach unter beiderlei Gestalt kommuniziert wurde und reguläres Brot sowie einfaches Geschirr für den Wein Verwendung fand, entsprach den bereits während der zweiten Disputation 1

Vgl. QGTS I, Nr. 29,38.

364

8 Die Entwicklung in Zollikon

geforderten und im Müntzerbrief ausgeführten Reformvorschlägen zur Abendmahlspraxis. 2 Dazu gehörte auch die selbständige Einnahme der Abendmahlselemente durch die Kommunikanten. Die Bezeichnung „Mahl der Vereinbarung", die den Gemeinschaftscharakter des täuferischen Mahles besonders profilierte, findet sich, wenn auch verkürzt, ebenfalls in der Zeugenaussage. Der Teilnahme am Mahl ging demnach eine Verpflichtung zur brüderlichen Gemeinschaft voraus. Nur wer in diese „vereinung" 3 einwilligte, durfte kommunizieren. Diese Praxis entsprach den bisherigen theologischen Ausführungen zur Abendmahlslehre, in denen die Liebe zu den teilnehmenden „Brüdern" und die gläubige Erkenntnis des Heilswerkes Christi konstitutiv waren. Fehlende Liebe zu den Brüdern wurde bereits im Müntzerbrief als Hinderungsgrund für die Teilnahme am Abendmahl entfaltet. Das intentionale Prüfen der Kommunikanten vor dem Empfang der Elemente entsprach der Karlstädtischen Abendmahlslehre und der speziellen Betonung der „koinonia" der Beteiligten in der prototäuferischen Theologie. 4 Dem Faktum, daß in der frühen Taufbewegung nicht nur die Tauf-, sondern gleichzeitig auch die Abendmahlspraxis konsequent reformiert wurde, ist bisher in der Forschung keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet worden. Dabei ist festzuhalten, daß die Täufer nach dem Vollzug der ersten Gläubigentaufe konsequent dazu übergingen, die von ihnen als notwendig erkannten Reformen der Sakramentsspendung, wie sie bereits im Müntzerbrief formuliert wurden, zu praktizieren. Das könnte als ein wichtiger Hinweis darauf gewertet werden, daß die Täufer in ihrer Reform den Anfang einer neuen kirchlichen Gemeinschaft sahen, die die Sakramentsgewalt eigenverantwortlich ausübte. Über die oben geschilderte Versammlung liegt ein ausführlicher Bericht des Gastgebers Rudi Thoman vor. Er habe Johannes Brötli und Wilhelm Reublin, die durch das Ratsmandat beide verbannt worden waren, zu einem Abschiedsessen eingeladen.5 Plötzlich seien viele andere zu dieser „Privatfeier" hinzugekommen, „das die stubennn voll wurd." 6 Thoman hob wahrscheinlich den privaten Charakter der Einladung hervor, um sich nicht dem Vorwurf der Einberufung eines konspirativen Treffens aussetzen zu müssen. Demnach wäre die Darstellung, es habe sich um ein spontanes Zusammentreffen gehandelt, rein apologetisch motiviert und gibt nicht den wahren Sachverhalt wieder. Denkbar ist jedoch auch, daß die Verbannung der beiden Prediger und die eifrige „Aufklärungsarbeit" der Radikalen tatsächlich eine gewisse Unruhe in die Dorfgemeinschaft gebracht hatten. Vielleicht kamen 2 3 4 5 6

Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung. QGTS I, Nr. 29,38. Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung. Vgl. QGTS I, Nr. 32,42. Ebd.

8.1 Die Ereignisse in Zollikon

365

einige, um die bekannten Seelsorger zu sehen und ihre Reaktion auf den Ratsentscheid zu hören, während andere eher aus Sensationslust hinzutraten. Jede Deutung muß spekulativ bleiben. Eine angespannte Atmosphäre und eine emotionale Gemengelage von Angst, Zorn, Ratlosigkeit und Trauer mögen in der engen Bauernstube entstanden sein. Reublin und Brötli nutzten die spontan einberufene Versammlung zur biblischen Unterweisung. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde von ihnen die Reform von Taufe und Abendmahl mit biblischen Belegen begründet und die ekklesiologische Entscheidung zugunsten einer getrennten Kirche besprochen. Thoman bezeugt, daß sie lange Zeit „gelesen hätten", womit ein Anhaltspunkt für die reguläre Lesekreissituation bewiesen wäre. Während des gemeinsamen Gesprächs - oder der Bekehrungspredigt - sei Hans Bruggbach aufgestanden, habe über seine Sünde lamentiert und geweint sowie um Fürbitte gebeten. Der emotionale Ausbruch wurde von dem Zeugen anschaulich beschrieben. Blaurock, der zuvor wahrscheinlich als eindringlicher Prediger gewirkt hatte, habe anschließend den „reuigen Sünder" gefragt, ob er die Gnade Gottes begehre, was jener bejahte. Mantz sei danach aufgestanden und habe gefragt, wer ihn hindern 7 könnte, Bruggbach zu taufen. Blaurock habe erwidert: „Niemandt!" 8 Selbst im später verfaßten konzentrierten Protokoll des Zeugen wird noch etwas von der Dramatik der berichteten Szene deutlich. Dem Bekenntnis Bruggbachs, daß er ein Sünder sei und die Gnade Gottes begehre, folgte in unabweisbarer Konsequenz die Taufe. Das Selbst- und Sendungsbewußtsein der radikalen Täuferführer wird durch das wiedergegebene kurze Zwiegespräch zwischen Mantz und Blaurock deutlich. Sie verliehen ihrer Überzeugung Ausdruck, daß keiner sie hindern könne Menschen, die im Hören auf die Predigt zum Glauben kämen, ihre Sünde öffentlich bekannten und Gottes Gnade begehrten, mit der „wahren" Taufe zu taufen. Auch in diesem Zeugenbericht wird die emotional aufgeladene Atmosphäre der Versammlungen deutlich, die in unmittelbarer Nähe zur ersten Gläubigentaufe in Zürich stattfanden. Ohne Zweifel faßte man das extrovertierte Zeugnis Bruggbachs als ein geistgewirktes Geschehen auf Wenn Gott handle, so meinten die Radikalen, durfte die erkannte Wahrheit nicht aus taktischen Überlegungen vernachlässigt werden. Die bezeugte Taufform, bei welcher der Täufling mit Wasser begossen und unter Verwendung der trinitarischen Taufformel getauft wurde, war im Müntzerbrief und den anderen theologischen Texten der Prototäufer im Gegensatz zur ausführlich dargelegten Reform der Abendmahlspraxis nicht näher beschrieben worden. Der zur Anwendung gekommene Ritus scheint sehr einfach gewesen zu sein, wobei die Verwendung der trinitarischen Taufformel, die von M t 28,19 abgeleitet wur7 8

Vgl. Apg 10,47: Petrus bei Kornelius. Vgl. QGTS I, Nr. 32,42.

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8 Die Entwicklung in Zollikon

de, als einzige Konzession an die traditionelle Taufliturgie begegnet. Nach dem Vollzug der ersten Taufe an Bruggbach folgte in derselben Zusammenkunft sogleich auch die von Jakob Hottinger. Interessanterweise wird hier aber nur davon gesprochen, daß er aufstand und die Taufe begehrte. Nähere Angaben zu einem öffentlichen Sündenbekenntnis bzw. zur psychischen Verfassung Hottingers liegen nicht vor. Konstitutiv war demnach bereits in diesen ersten täuferischen Versammlungen nur die Geste des Aufstehens, die zugleich ein Zeichen der Entscheidung und der Willenskundgebung war, sowie der vor den anderen verbal geäußerte Wunsch, getauft zu werden. Die Frage Blaurocks an Bruggbach deutet an, daß der Täufling unter Umständen vor seiner Taufe nach seinem Glauben befragt wurde. Die Aussagen Marx Boßharts über dieselbe Versammlung bestätigen die bisherigen Beobachtungen, fügen aber einige interessante Details hinzu. 9 Nach dem Nachtmahl seien Mantz und Blaurock hinzugekommen und es habe eine Zeit des gemeinsamen Bibellesens begonnen. Boßhart schildert ebenfalls den emotionalen Ausbruch Bruggbachs. Er habe jedoch nach seinem Sündenbekenntnis nicht nur die Gnade Gottes begehrt, sondern auch ein äußeres Zeichen seines Bekehrungswillens. Die Taufe hatte demnach eine vornehmlich ethische Konnotation, welche die Täufer aus Rom 6 herleiteten. Boßhart wurde durch das Erlebnis innerlich so bewegt, daß er nach einer Nacht, die er im Gebet verbracht habe, ebenfalls die Taufe begehrte. Auch in diesem Zeugenbericht ist die emotionale Betroffenheit ein wichtiges Moment der Versammlungen und der Begründung des Taufbegehrens. Bei Boßhart wird ein fast „zwanghafter" Charakter der Taufentscheidung deutlich. Nach der Versammlung seien die Anfechtungen, die er erlebte, so stark gewesen, daß er sich habe taufen lassen müssen. Boßhart berichtete ferner von weiteren 23 Täuflingen, darunter auch Brötli, der demnach wohl bei der ersten Taufe in Zürich nicht teilgenommen hatte. Blaurock spielte im weiteren Fall Rudi Thomans eine wichtige Rolle, da er am darauf folgenden Tag seinen Schwager, ihn selbst und schließlich auch „das gantz hußgesind" 10 taufte. Die Taufe wurde daher nicht nur in der Versammlung der Radikalen praktiziert, sondern auch im eher privaten Rahmen. Diese Beobachtungen legen den Schluß nahe, daß die Einführung der Sakramentsreform nicht unauflöslich mit der ekklesiologischen Verankerung, die eine Bindimg an die Versammlung der Radikalen bedingt hätte, einherging. Bei dieser vorläufigen Wertung muß jedoch die Ausnahmesituation der Täufer beachtet werden, die sich bereits unter dem Verdikt des Ratsmandats befanden. In dieser schwierigen Lage wurden auch spontane Tauffeiern ohne die Einberufung der gesamten Gruppe durchgeführt und für legitim gehalten. Ob bei diesen Vorgehen ebenfalls die missionarische Situation der Apostel9

Vgl. ebd., Nr. 31,40. 10 Vgl. ebd., Nr. 32,43.

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367

geschichte zum Vorbild genommen wurde, in der nach dem neutestamentlichen Zeugnis häusliche Missionsversammlungen stattfanden und auch von der Taufe ganzer Häuser gesprochen wird, läßt sich nicht klären, aber eindeutig vermuten. Blaurock überzeugte nach dem Zeugenbericht die Genannten, indem er ihnen ihre Sündhaftigkeit bewußt machte. Nach Aussagen Thomans appellierte er an sie, daß sie ihre Lebensführung bessern sollten. Als Formulierung für das Taufbegehren, das als freiwillige Entscheidung des Taufbewerbers festgehalten wird, habe er die Wendung „wenn er der gnaden gots begerte" 11 benutzt. Blaurock wirkte in diesem Fall, wie der Bericht deutlich macht, intensiv missionarisch. Die Taufe erscheint in der vom Widerfahrnis geprägten knappen Wiedergabe des Zeugen zumindest sprachlich als „gnadenvermittelndes" Zeichen und vornehmlich unter der Thematik einer Bußtaufe. Blaurock zielte in seinem Wirken demnach vor allem auf die persönliche Sündenerkenntnis seiner Zuhörer und deren Willensentschluß, ein besseres Leben zu führen. Es ist nicht zu übersehen, daß Blaurock die Beteiligten suggestiv ansprach und auf den Erfolg seiner Mission drängte. Dabei war ihm selbst die Drohung, daß das Leben seines Gastgebers ein baldiges Ende finden könnte, ein probates Mittel. Das Vorgehen Blaurocks war von einem großen Bekehrungs- bzw. Missionseifer geprägt. 12 In der von Blaurock zelebrierten Mahlfeier im Hause des Rudi Thoman stellte er die Frage nach dem Glauben der Versammelten an die Versöhnungstat Christi. Der Glaube wird nach diesem Bericht zur einzigen Prämisse für die Teilnahme an der Eucharistie. Die von den Prototäufern im Anschluß an Karlstadt geforderte Prüfung der Kommunikanten wurde in der Abendmahlspraxis der Täufer konsequent umgesetzt, wobei in dem Bericht von Thoman die anderweitig so wichtige Betonung der brüderlichen Liebe keine Erwähnung findet. I m Blick auf die bisherigen Berichte wird deutlich, daß sowohl bei der Taufe im Lesekreis als auch bei der Mahlfeier nicht alle Versammelten einvernehmlich zustimmten bzw. teilnahmen. Eine gewisse Gruppendynamik wird jedoch in den abendlichen Versammlungen erkennbar. Weitere, ähnlich geartete Versammlungen in anderen Häusern Zollikons wurden im selben Zeitraum gemeldet. Nach einem Gespräch, wobei wohl das übliche Bibelgespräch gemeint seien dürfte, seien nach Aussagen eines weiteren Zeugen Lienhart

11

Ebd. In den wenigen biographischen Beiträgen zu Blaurock wird er einhellig als volksnaher, leidenschaftlicher Prediger dargestellt. Aufgrund seiner bäuerlichen Herkunft habe er die Sprache und die Denkungsart der ländlichen Bevölkerung verstanden. Dadurch sei sein großer Missionserfolg auf dem Land zu erklären. Im Gegensatz zu den humanistisch gebildeten Täufern Grebel und Mantz erscheint Blaurock als einfacher Geistlicher, der mit seinem „erwecklichen" Predigtstil und seiner direkten Sprache auf breite Resonanz stieß. Vgl. Moore, Blaurock, 24; Vasella, Anfängen, 178. 12

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Plüwler und Conrat Hottinger aufgestanden und hätten um die Taufe gebeten, woraufhin Brötli sie getauft habe. 13 A n diesem Bericht ist bemerkenswert, daß die Täuflinge wie in den ersten Darstellungen in der Versammlung ihr Taufbegehren bei gleichzeitiger Geste des Aufstehens verbal zum Ausdruck brachten. 14 Andere Zeugen bestätigten, daß Grebel und Mantz seit dem Ratsmandat in verschiedene Häuser gegangen seien und dort Versammlungen gehalten hätten. Von anderen Verhörten wurden die Versammlungen in den Häusern sowie die als Agitation empfundene Missionsarbeit der Täufer ebenfalls bezeugt. Das Bekenntnis von 15 Getauften, angefangen von Rudolff Rutschman, das zwischen dem 30. Januar und dem 7. Februar 1525 datiert wird, deutete die jeweilige Entscheidung zur Taufe als einen geistgewirkten Akt. Die namentlich Aufgeführten schwörten demnach dem Rat Gehorsam in allem, „was nit wider das wort gots syg" 15 . Jörg Schad, durch Mantz getauft, berichtete eingehend über die Lebenswende, die für ihn die Taufe bedeutet habe. 16 Er sei „all sin tag inn lastern und inn Sünden umhin glouffenn." 17 Für ihn war offensichtlich die von Gott geschenkte Sündenerkenntnis die Voraussetzung für die Bitte um die Taufe. Auch in diesem Zeugnis wird die ethische Bedeutung der Taufe, wie sie der Müntzerbrief aber auch in der Protestation ausgeführt wurde, in einer verkürzten Form reflektiert. Die Taufe erscheint sprachlich analog zum Abendmahlsverständnis der Radikalen als Zeichen „brüderlicher lieby". Vielleicht spiegelt sich in dieser konzentrierten Zeugenaussage die praktische Umsetzung der im Müntzerbrief festgehaltenen Bestimmung wider, wonach die Taufe nicht ohne Anwendung der Regel Christi auszuführen sei. 18 Schads nachfolgende Deutung des Mahles beschränkt sich auf die zwei Grundgedanken der täuferischen Lehre: Gedächtnis- und Gemeinschaftsmahl. „Deß tischs halb seit er, sy habind ein brott brochen und in dem namen geeßen, daß sy gott allweg im hertzen habenn und an inn dencken wettind, dazû gegen jederman brüderliche lieby erzeigen." 19 Bei den vorliegenden Zeugenaussagen muß stets bedacht werden, daß es sich bei den Betroffenen um einfache Handwerker oder Bauern handelte, die nur das theologische Vokabular und die Deutungen, die sich ihnen eingeprägt hatten, mitteüten. Eine korrekte und umfassende Wiedergabe der täuferischen Predigt kann daher nicht erwartet werden. Vielmehr handelt es sich um markante Äußerungen der Täufer und einige theologische Versatzstücke. Die Struktur der 13 Vgl. QGTS I, Nr. 29,38. 14 Vgl. Beck, Geschichtsbücher, 19. Blaurock stand ebenfalls auf und bat Grebel um die Taufe. 15 QGTS I, Nr. 30,40. i* Vgl. ebd., Nr. 31,41. 1 7 Ebd., 41. 18 Vgl. Punkt 5.2.8 dieser Untersuchung, i* QGTS I, Nr. 31,41.

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Aussagen weist auf die stereotypen Fragen des Verhörs hin, die vor allem an einem Aufweis der Strafbarkeit an den Vorgängen sowie den daran beteiligten Personen interessiert waren. Aufgrund dieses quellenkritischen Vorbehalts geht m. E. die Deutung von Goertz über das Votum Schads zu weit, der darin den Ersatz des sakramentalen Charakters der Taufe durch eine rein ethische Sicht für nachweislich hält. 2 0 Im Gegensatz dazu sprach Schad selbst im vorab von der Verheißung der Sündenvergebung, die ihn zum Taufwunsch motivierte. 21 Die Taufe wurde von ihm aber auch als Zeichen der Lebensverbesserung und -wende angesehen. Erneut ist dadurch der enge Zusammenhang von Sündenerkenntnis bzw. Schuldempfindung und dem Entschluß zur Taufe festzustellen. Besonders deutlich wird die emotionale Erschütterung, die dem Taufbegehren vorausging, im nachstehenden Bericht von Rudolff Breitinger 2 2 Er flehte Brötli bei einer gemeinsamen Wanderung an, ihn zu taufen, während er gleichzeitig seine Sünden beweinte und bekannte. Wiederum gingen demnach Sündenerkenntnis und -bekenntnis sowie der persönlich geäußerte Taufwunsch dem Taufvollzug voraus. Zusätzlich versprach Breitinger, daß er von nun ab von allen seinen Sünden lassen wolle. Der Wille sein Leben zu ändern, ist erneut eng mit dem Taufbegehren verbunden, das von ihm als ein „wortzeichenn" benannt wird. Seine freiwillige Teilnahme an der Mahlfeier begründete Breitinger mit dem Hinweis auf eine göttliche Intervention. In seiner Aussage wird deutlich, daß vor der Kommunion im Täuferkreis die Einsetzungsworte gesprochen wurden, die von Breitinger mit den Worten: „die wort gottes" wiedergegeben werden. Danach teilte in diesem Fall Felix Mantz das gebrochene Brot aus. Die den Ablauf der Mahlfeier beschreibende Formulierung „und wölcher gwöllen heig, der habe darvon geeßenn" 23 macht die Schlußfolgerung von Haas nicht zwingend, wonach die Teilnahme am Abendmahl jedem ohne Vorbedingung freistand. 24 Die knappe Verlaufsskizze der Mahlfeier ist eingebettet in Breitingers Aussage über seine göttlich initiierte Anteilhabe am Mahl sowie seine Verpflichtung vor der Taufe, ein neues Leben führen zu wollen. Der Zeuge scheint sich gegen die Unterstellung gewehrt zu haben, er sei von irgendeiner Seite zur Abendmahlsteilnahme gezwungen worden, weswegen er die Freiwilligkeit der Kommunion besonders hervorhebt. Daraus ist jedoch keine generelle Lehrauffassung der Täufer abzuleiten, wonach die Teilnahme keinerlei Voraussetzungen hatte und ein offenes Abendmahl unter größtmöglicher Beteiligung propagiert wurde. Ein theologischer Dissens der Zolliker Praxis zum Müntzerbrief, der allerdings 20 21 22 23 24

Vgl. Goertz, Bauern, 95. Vgl. QGTS I, Nr. 31,41. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Haas, Absonderung, 63.

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sehr gut in die These der sukzessiven Absonderung des Täufertums passen würde, kann m. E. aus dieser isoliert herangezogenen Passage eines Zeugenberichts nicht entnommen werden. Die übrigen zeitgleichen Aussagen zur Mahlfeier klären vielmehr die Vorbedingungen der Teilnahme und deren theologische Deutung. So spricht Boßhart u. a. in seiner Charakterisierung der Mahlfeier vom „Brot der Liebe und des christlichen Gemüts", wodurch erneut der zuvor pointierte Gemeinschaftsaspekt des Mahles in den Vordergrund tritt. Diese Formulierung legt eher die intentionale Prüfung der Kommunikanten nahe als ein völlig offenes Abendmahlsverständnis. Die freien Abendmahlsfeiern in Zollikon entsprechen nach den bisherigen Recherchen den theoretischen Ausführungen der Prototäufer in Müntzerbrief und Protestation sowie der rekonstruierten Abendmahlsauffassung, die im Brief Hegenwalds deutlich wurde. Cunrat Hottingers Bericht enthält ebenfalls die bereits bekannten Motive. Gott habe ihm seine Sünden geoffenbart, aber auch gleichzeitig die Hoffnung auf Vergebung. 25 Er sei zu Brötli gegangen und habe ihn gebeten, ihn zu taufen. Als Unterstreichung der Dringlichkeit seines Begehrens oder als Ausweis der göttlich gewirkten Entscheidung fügte Hottinger die Formulierung hinzu, er habe Brötli im Namen Gottes um den Vollzug der Taufe gebeten. In Hottingers Aussage ist ein sakramentales Verständnis der Taufe nicht zu übersehen. Er interpretiert sie als Zeichen „zü abweschung und nachlaßung der Sünden."26 Die Terminologie erinnert an Ausführungen des Müntzerbriefes, obwohl die charakteristische Verhältnisbestimmung von „innerer" und „äußerer" Taufe in ihrer antisakramentalen Zuspitzung dabei wohl nicht verstanden worden ist. Das Abendmahl wurde auch von Hottinger in erster Linie als Zeichen brüderlicher Liebe und Friedens begriffen. Er erwähnt ebenfalls die Lesung bzw. die Auslegung des Einsetzungsberichtes aus dem 1. Korintherbrief vor dem Mahl. Im Vergleich mit den bisherigen Taufberichten ist die von Oggenfuß geschilderte Begebenheit vom Brunnen zu Hirslanden ungewöhnlich. 27 Fridli Schumacher habe Brötli um die Taufe gebeten, weil er zu der Erkenntnis gekommen sei, daß jener ihn die Wahrheit gelehrt habe. Fast alle bisher festgestellten Elemente wie Sündenerkenntnis, Willenskundgebung zur Lebensbesserung, emotionale Betroffenheit etc. fehlen. Allein der verbal geäußerte Taufwunsch bleibt nachweisbar. Das kann einerseits in der ungenauen Wiedergabe der Episode durch den Zeugen begründet sein, könnte jedoch auch auf einen bereits formalisierten Ritus des Taufbegehrens hinweisen. Oggenfuß, der sich bei mehreren Anlässen als radikaler Anhänger der Reformation

25

Vgl. QGTS I, Nr. 31,41. 26 Ebd. 27 Vgl. ebd.

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371

ausgewiesen hatte, 28 nahm auch an einer Abendmahlsfeier unter der Leitung Grebels teil. In seiner Aussage präzisierte er die „biblische Unterweisung" dahingehend, daß über Taufe und Abendmahl gesprochen wurde. Mit dem Abendmahlsempfang sei der Wille zur Besserung des Lebens verknüpft. „Darvon eße er ouch, der gstalt, das sy nun furhin ein christenlich lebenn füren und halten wöltind." 2 9 Diese Formulierung weist erneut auf die Beschreibung des Abendmahls im Müntzerbrief hin, wonach die Anwendung der Regel Christi bzw. die Prüfung der brüderlichen Liebe der Teilnahme vorausgehen sollte. 30 Der Zeuge gab an, daß er noch nicht getauft sei, erklärte aber seine Absicht, sich taufen zu lassen. Z u diesem Zeitpunkt kurz nach der ersten Gläubigentaufe wurde die „Wiedertaufe" demnach noch nicht als unbedingte Voraussetzung für die Teilnahme an der radikal reformierten Mahlfeier verstanden. Dieser Umstand ist jedoch nicht als Beweis für eine generell „liberale" Praxis in Zollikon zu werten, die eine bedingungslose Teilnahme propagiert hätte. 31 Die bisher analysierten Berichte zeigen, daß die geistigen Führer der radikalen Kreise sowohl die biblische Unterweisung als auch den Vollzug der Sakramente übernommen hatten. Grebel, Blaurock, Mantz und Brötli tauften und leiteten die Mahlfeiern zu verschiedenen Anlässen. Erstaunlich ist hierbei die anscheinend allseits akzeptierte Rolle Blaurocks, der erst kurzzeitig zu der Bewegung gehörte. Nach Ausweis der Quellen engagierte er sich besonders in der missionarischen Verkündigung. Der Befund weist darauf hin, daß das geistliche A m t nicht länger als Voraussetzung für die Ausführung von Amtshandlungen angesehen wurde. Wie weitgehend das „Priestertum aller Gläubigen" umgesetzt wurde, verdeutlichen die folgenden Aussagen von Rudolff Hottinger, Jacob Unholtz, Fridli Schumacher, U l i Bruggbach und Lienhart Plüwler. 32 Hottinger gab zu, daß er eine junge Frau getauft habe. Die anderen bekräftigten, daß sie, wenn Gott es ihnen auftrüge, ebenfalls zum Vollzug der Taufe an anderen bereit wären. Die Taufhandlung war also nicht exklusiv auf den Führungskreis der Radikalen beschränkt. Vielmehr war jeder, der sich von Gott autorisiert wußte, zur Taufe berechtigt. Der Fall der jungen Frau, die von Hottinger getauft wurde, weist Analogien zu den bereits untersuchten Taufen auf. Sie habe ihn demnach „mit weynenden ougen" um die Taufe gebeten. Hottinger nannte noch einmal die Prämissen dafür, daß er selbst die Taufe vollzog: „Er welle niemas heissen sich touffen zu lassenn, sonders soferr etwar an inn keme unnd begerte mit vliß unnd erntstlichem gemûtt umb gots willen getoufft zû werden, 28 29 30 31 32

Vgl. Punkt 4.5 dieser Untersuchung. QGTS I, Nr. 31,42. Vgl. 5.2.4 dieser Untersuchung. Dagegen Haas, Absonderung, 63. Vgl. QGTS I, Nr. 33,43.

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gebe im dann der geist gottes in, so werde er inn touffenn unnd das alßdann nit underwägen lassenn."33

Erstaunlich ist die charismatische Legitimation der Autorität zum Sakramentsvollzug, die von allen Verhörten für sich in Anspruch genommen wurde. Alle erklärten sich zum eigenständigen Taufen bereit, sofern sie von Christus bzw. dem Heiligen Geist dazu angewiesen würden. Freilich ist erkennbar, daß die nachfolgenden Zeugen sprachliche und theologische Anleihen bei ihren Vorrednern machten. Dennoch überrascht das Sendungsbewußtsein, mit dem die Getauften im Rekurs auf die ihnen verliehene „apostolische" Vollmacht aufgrund derer sie sich analog zu Paulus als Diener und Knechte Gottes bezeichneten - ihr Verhalten rechtfertigten. Die eigene Taufe muß demnach von ihnen als Ermächtigung zum apostolischen Dienst interpretiert worden sein. Keiner Schloß die Möglichkeit aus, selbst in die Situation zu kommen, daß er aufgrund göttlichen Befehls zu taufen hätte. Als Kennzeichen für den wahren Wille zur Taufe galt die inständige Bitte des Taufbewerbers unter Hinweis auf den von Gott gewirkten Entschluß. Diese Entscheidung wurde häufig mit der Formel „um Gottes Willen" zusammengefaßt. Festzuhalten bleibt, daß das Privileg des geistlichen Amtes in der radikalen Reform grundsätzlich beseitigt zu sein schien. Das ekklesiologische Prinzip der Reformation, das „allgemeine Priestertum", sowie die egalitären Erfahrungen der Lesekreise hatten ohne Zweifel auf die Ausbildung dieses „Amtsverständnisses" eingewirkt. A m 30. Januar 1525 wurden Blaurock, Mantz und alle Getauften (insgesamt 25 Personen) inhaftiert. 34 Für die Beurteilung der Vorgänge in Zollikon sind die Verhörprotokolle der inhaftierten Täufer sowie der Bericht des später zur Verantwortung gezogenen Wächters Hottinger, der sie während der Haft besuchte, besonders aufschlußreich. Während ihrer Gefangenschaft, die Blanke als „Bekehrungshaft" 35 bezeichnet, sollten sie durch eine Abordnung unter der Führung Zwingiis zum Widerruf ihrer „Irrlehre" gebracht werden. 36 Blanke hat die Ereignisse eingehend untersucht und dargestellt. In unserem Zusammenhang interessieren nur die in bezug auf die Sakramentsreform als konstitutiv benannten Elemente, die biblische Begründung der Gläubigentaufe sowie die spezifischen theologischen Motive und Deutungen, ohne daß die gesamte Chronologie erneut erarbeitet wird. Die folgenden Ergebnisse erwuchsen aus der Analyse von Verhören, Briefen und Stellungnahmen im Zeitraum von Januar bis Juni 1525, bezogen auf das Gebiet Zürich und engere Umgebung. Dabei liegen die meisten Zeugnisse für die erste Periode vom Datum der ersten Taufe bis Ende März vor.

33

Ebd. Vgl. QGTS I, Nr. 38,47; Blanke,, Brüder, 35,50. 3 * Blanke, Brüder, 51. 3 * Vgl. QGTS I, Nr. 37,47. 34

8.1 Die Ereignisse in Zollikon

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Konstitutiv für den Taufempfang wird einhellig das „Taufbegehren", d. h. der Wunsch des Bewerbers angesehen. Wie kein anderes Motiv tritt die verbal geäußerte persönliche Bitte um Taufe ins Zentrum des Taufgesprächs mit anschließendem Taufvollzug. Des öfteren wird davon gesprochen, daß die Betreffenden so intensiv (oftmals weinend) darum baten, getauft zu werden, daß sich der Angesprochene diesem Wunsch nicht entziehen konnte. 37 Jede Aussage über den Taufvollzug, sei es von Seiten des Täuflings oder des Täufers, wird mit dem Hinweis auf die persönliche Bitte (das Taufbegehren) begründet. Dabei soll zum einen die Freiwilligkeit des Entschlusses demonstriert, zum anderen der für den Täufer unausweichliche, ja „zwanghafte" Handlungsbedarf belegt werden. 38 Die fundamentale Bedeutung des Taufbegehrens wird auch darin deutlich, daß die Getauften für sich auch in Zukunft nicht ausschließen können, selbst zu taufen, da jemand mit dieser schwer abweisbaren Bitte an sie herantreten könne. 39 Das Taufbegehren wird häufig durch den Gestus des „Aufstehens" bzw. des „Vortretens" in der Versammlung oder durch eigenständiges Kommen des Taufbewerbers zu einem Täufer seiner Wahl angezeigt.40 Ob dem Taufwunsch eine Prüfung des Glaubens oder ein besonderes Glaubensbekenntnis zugeordnet war, läßt sich mit letzter Sicherheit nicht beweisen, ist aber nach den bereits analysierten ersten Taufhandlungen, in denen gezielte Fragen zum Glauben des Täuflings gestellt wurden, sehr wahrscheinlich. Bemerkenswert ist, daß die Initiative zu fast allen bezeugten Fällen vom Taufbewerber ausging. Nur Blaurock, dessen spezielle „Einzelseelsorge" bereits oben dargelegt wurde, scheint in seiner Predigt den Hörern die Entscheidung nahegelegt zu haben. Er fragte ζ. B. Heinrich Aberli, ob er an das Erlösungswerk Christi glaube, was jener bejahte. Daraufhin taufte er ihn. 4 1 Die bezeugte Szene erweckt den Anschein, daß Blaurock Aberli zur Taufe gedrängt habe. Andererseits könnte die dargestellte Befragung auch die Wiedergabe einer konstitutiven Glaubensüberprüfung vor dem Taufvollzug darstellen. Aberlis apologetisches Interesse hätte demnach den Sachverhalt verzerrt, so daß er die Freiwüligkeit der Taufe in Abrede stellte. Von dieser Aussage abgesehen, wurde die Taufe ausdrücklich nur an denjenigen vollzogen, die darum baten.

37

Vgl. ebd., Nr. 42 a, 49 (Mantz); Nr. 48,58 f. (Blaurock, Oggenfuß); Nr. 55,63 (Valentin Gredig). 38 Vgl. ebd., Nr. 55,63: Valentin Gredig wird durch Ströwli so inständig um die Taufe gebeten, daß er nicht ablehnen kann; Nr. 50, 60 (Taufbegehren); Nr. 41b, 50 (Taufvollzug an jedem, der sie begehrt hat); Nr. 56,64 (J. Hottinger); Nr. 56,65 (Oggenfuß); Nr. 58,67 (auf sein Begehr hin, wurde getauft, nicht gezwungen). 39 Vgl. Nr. 54,62 (Gabriel Giger); Nr. 64,73 (Jakob Hottinger). 40 Vgl. Nr. 42a, 49 (Frauen kommen zu Mantz); Nr. 48, 59 (Vortreten); Nr. 56, 64 (Etliche kommen zu Hottinger); Nr. 56,65 (Oggenfuß). 41 Vgl. Nr. 54,62.

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Wie bereits anhand der Interpretation der Schutzschrift nachgewiesen wurde, bestanden die Radikalen auf der biblisch begründeten Vorordnung des Glaubens vor der Taufe. 42 Besonderes Gewicht wurde daneben der Willensentscheidung des Einzelnen zur Besserung des Lebens als fundamentale Prämisse für den Taufempfang beigemessen. Der Dialogus, der m. E. mit Karlstadts Taufbuch zu identifizieren ist und demnach zur grundlegenden Lektüre der Radikalen gehörte, benennt ebenfalls den persönlichen Entschluß und ein Glaubensbekenntnis als unverzichtbare Voraussetzungen für die Taufe, wodurch die Berechtigung der Kindertaufe widerlegt wurde. 43 Vor der Taufe sollte der Täufer, wie in der Zeit der Apostel, den Glauben des Täuflings überprüfen. Daraufhin sollte der Täufling seinen Glauben öffentlich bekennen. In der besonderen Hervorhebung des Taufbegehrens, wie es im Lauf der Ereignisse in Zollikon deutlich wurde, ist m. E. die praktische Konsequenz dieser tauftheologischen Grundlegung zu sehen. Die Bewerber standen entweder nach der biblischen Unterweisung bzw. Predigt innerhalb der Versammlung auf, baten um die Taufe und beantworteten Rückfragen nach ihrem Glauben sowie ihrer Lebensführung oder konsultierten einen der Täufer und begründeten ihm gegenüber ihre Taufentscheidung. Einige Berichte legen die Vermutung nahe, daß die Täufer das Glaubensbekenntnis für den Täufling formulierten, was dieser bejahend annahm. Die Taufhandlungen wurden meistens während der abendlichen Versammlungen im Anschluß an die Lesungen, Gespräche und Predigten vollzogen. Man kann davon ausgehen, daß die Täufer in diesen Zusammenkünften ihre Tauf- und Abendmahlsauffassung mit verschiedenen Bibeltexten belegten. U m so erstaunlicher ist der Befund, daß die Getauften im Verhör wenig Bibelstellen zitierten oder zur Begründung heranzogen. Die biblische Unterweisung, die wahrscheinlich mit „erwecklicher" Predigt verknüpft war, erwies sich in Zollikon als durchaus überzeugend, konnte jedoch von den einfachen Handwerkern und Bauern vor Gericht nicht ohne weiteres wiedergegeben werden. Lienhart Plüwler und Petter Vorster bezeugten jedoch, daß der Schriftbeweis der Täufer sie überzeugt habe und sie nur durch eine bessere Belehrung aus der Schrift von ihrer Erkenntnis abzubringen seien. 44 Aus dieser Formulierung wird deutlich, daß der Rekurs auf das als verbindlich angesehene reformatorische Schriftprinzip die Appellationsgrundlage war. Die einzigen Bibelstellen, die zur Begründung sowohl von Mantz als auch Valentin Gredig in der gerichtlichen Auseinandersetzung herangezogen werden, sind das Sendungswort Christi aus M t 28,19 und das Logion M k 16,16, aus denen die konstitutive Reihenfolge von Glaube und Taufe hervorgehen sollte. 45 42 43 44 45

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Punkt 6.2.4 dieser Untersuchung. Punkt 6.2.2 dieser Untersuchung. QGTS I, Nr. 54,62 f. ebd., Nr. 42a, 49; Nr. 60,68.

8.1 Die Ereignisse in Zollikon

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Ein indirekter Hinweis auf den einzigen biblischen Beleg für eine „erneute" oder „zweite" Taufe kann den Aussagen Hans Hottingers über seinen Besuch bei den Inhaftierten im Augustiner-Eremitenkloster entnommen werden. 46 Hottinger berichtete bei seiner Rückkehr, daß in der Gegenüberstellung der Täufer mit Zwingli der Reformator durch ihre Beweisführung aus der Schrift bezwungen worden sei. Die Textstelle, die ihm als Beweis für die Rechtmäßigkeit der „Wiedertaufe" genannt wurde, habe er mit dem Hinweis auf die Einmaligkeit des geschilderten Geschehens zu entkräften gesucht. 47 Zwingli hatte die Täufer anscheinend mit der Behauptung konfrontiert, daß es keinen biblischen Beweis für die zweifache Taufe einer Person gäbe. Den Inhaftierten war jedoch offensichtlich eine Schriftstelle bekannt, die über eine erneute Taufe berichtete. Zwingli sah sich daher genötigt, diesen Text als für die Geschichte des Christentums einmalig zu bezeichnen. Nach diesen Hinweisen kann es sich bei der biblischen Belegstelle nur um Apg 19,1-6 handeln, da Paulus in dieser Perikope die bereits getauften Johannesjünger von Ephesus noch einmal taufte. Die Johannestaufe wird in diesem Zusammenhang als vorläufig eingeordnet, die Taufe im Namen Jesu Christi, die allein mit der Gabe des Heiligen Geistes verknüpft war, dagegen profiliert. Daß dieser Text im Zentrum der Diskussion mit Zwingli stand, wird aus der Aussage Hottingers deutlich, wonach Zwingli zur Johannestaufe und zur durch Paulus vollzogenen Taufe Stellung genommen hätte. 48 Blanke rekonstruiert die vorgestellte Szene im Augustiner-Eremitenkloster in anschaulicher Weise. Dem „Aufmarsch" der drei Leutpriester und einiger Ratsherren standen die von ihren theologischen Führern isolierten Bauern aus Zollikon gegenüber. 49 Trotz der „theologischen Übermacht" hätten die Gefangenen den Eindruck gewonnen, Zwingli argumentativ überwunden zu haben. Da Hottinger scheinbar als einziges Moment die Auseinandersetzung um Apg 19,1-6 im Gedächtnis geblieben ist, müsse selbst Zwingli durch die Beweiskraft dieses Schriftbelegs zumindest vorübergehend irritiert gewesen sein. Andererseits weist die Verwendung der Perikope, bei sonst auffallend geringer Zitation von Bibelstellen, durch die ungelernten „Laientheologen" darauf hin, daß dieser Beleg wahrscheinlich als ein zentraler Schriftbeweis im Kreis der Täufer kursierte. Weder im Müntzerbrief, noch in der Protestation wurde auf diesen Bericht der Apostelgeschichte Bezug genommen. In diesen grundlegenden theologischen Schriften ging es gerade nicht um den Aufweis der Legitimität einer wiederholten, zweiten Taufe, sondern um die Bestreitung der Kindertaufe. Die theologische Begründung der Gläubigentaufe ließ sich aus den bereits analysierten Schriften nachweisen. Es fehlte jedoch bisher die biblische Argu-

46 47 48 49

Vgl. ebd., Nr. 43,52; Nr. 46,57. „Ha, das ist ein mal gschehen." Ebd., Nr. 43,52. Vgl. ebd., Nr. 46,57. Vgl. Blanke, Brüder, 51 f.

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mentation zugunsten der erneuten Taufe, die zweifellos vorlag, bevor die erste Gläubigentaufe in Zürich vollzogen wurde. Dabei ist zu beachten, wie bereits des öfteren festgestellt wurde, daß die Täufer auch zu diesem frühen Zeitpunkt ihre Taufe nicht als „Wiedertaufe" interpretierten, sondern als die eine und einzig wahre Taufe. 50 Trotzdem konnte der Bericht über eine durch den Apostel Paulus vollzogene „Wiedertaufe" ihre Tauferkenntnis und -praxis zusätzlich rechtfertigen. In der Analyse des Dialogus wurde bereits die Erwähnung von Apg 19,1-6 kurz thematisiert. 51 Der dortige Hinweis auf das Wirken des Apostels Paulus inEphesus steht im Kontext der Erörterung darüber, was es bedeute, im Namen Jesu Christi zu taufen bzw. welche Voraussetzungen der Täufling dafür erbringen müsse. Demnach sollte nur derjenige im Namen Jesu Christi getauft werden, der die Heilstat Christi erkannt habe und sich seiner Sünde bewußt sei. Denn Paulus ließ in Ephesus „widerumb" taufen, „nur darûb das sie nit eyn gnûgsam erkanntnuß Gottes hetten". 52 In dieser Interpretation liegt m. E. der Schlüssel für die theologische Rechtfertigung der „Wiedertaufe" bzw. erneuten Taufe an den Gläubigen. Die Kindertaufe war von den Täufern als gotteslästerlicher, vom Papst eingesetzter Greuel identifiziert worden. Sie verlor darüber hinaus ihre Legitimität auch dadurch, daß Kleinkinder nicht über den für die Taufe als konstitutiv angesehenen Glauben bzw. die Erkenntnis Gottes verfügten. Die von den Täufern vollzogenen Taufen geschahen unter den im Dialogus genannten Prämissen des Glaubens an das Erlösungswerk Christi und der Erkenntnis der eigenen Schuldverhaftung. Daher erschien die Kindertaufe nicht länger als die biblische Taufform, sondern erwies sich als ebenso ergänzungsbedürftig wie die neutestamentlich bezeugte Johannestaufe in Apg 19,1-6. In der Konsequenz dieses Ansatzes lag, daß die Kindertaufe schließlich überhaupt nicht mehr als Taufe im biblischen Sinne verstanden wurde und daher die eigene Taufpraxis fernerhin als allein wahr und schriftgemäß galt. Nach dieser These ist der Übergang der Täufer von dem bereits im Frühjahr 1524 belegten Taufaufschub bei Kindern zur Praxis der Gläubigentaufe im Januar 1525, die formal als „Wiedertaufe" stattfand, nicht ohne den Rückbezug auf den Dialogus bzw. die dort ausgelegte Schriftstelle Apg 19,1-6 zu verstehen. In der Forschung fehlte es bisher an überzeugenden Antworten, wie die plötzlich einsetzenden „Wiedertaufen" zu begründen seien. Wahr ist, daß von den Radikalen über einen längeren Zeitraum hinweg die Kindertaufe als unbiblische Taufpraxis angesehen wurde, der man zunächst durch die Täufverweigerung begegnete. Die Einführung der „Gläubigentaufe" durch die formale „Wiedertaufe" muß m. E. auf dem Hintergrund der gemeinschaftlichen 50 51 52

Vgl. ebd., Nr. 43,53: „Antwurtent sy, wärint auch nur ein mal getaufft." Vgl. Punkt 6.2.2 dieser Untersuchung. Karlstadt, Dialogus, C I V b.

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religiösen Erfahrung in der Krisensituation nach dem ultimativen Ratsmandat, der fortschreitenden Perhorreszierung der Kindertaufe als antichristlichem A k t und der positiven theologischen Beweisführung für eine erneute Taufe anhand von Apg 19,1-6 im Sinne der als Autorität anerkannten Auslegung der Bibelstelle in Karlstadts Dialogus verstanden werden. Alle drei Faktoren wirkten im Januar 1525 zusammen. Die folgende Untersuchung muß weiterhin die Frage berücksichtigen, ob sich durch den Vollzug der Taufe zugleich ein neues Kirchenverständnis artikulierte bzw. ob dadurch eine separatistische Kirche gegründet werden sollte. Dabei soll die parallele Reform der Abendmahlspraxis und das zutage tretende Amtsverständnis berücksichtigt werden, das vom radikalen Prinzip des Priestertums aller Gläubigen geprägt wurde. Nach der vorliegenden Analyse wurden zur Legitimierung der Gläubigentaufe von den Verhörten nicht in erster Linie biblische Argumentationen vorgebracht, vielmehr begegnen verschiedene theologische Motive aus der bereits dargelegten Tauflehre der Radikalen. So wurde die Kindertaufe als ein vom Papst eingesetzter Ritus bezeichnet.53 Demgegenüber sei die Gläubigentaufe göttlichen Ursprungs und daher die einzig wahre Taufpraxis. 54 Kinder sollten nicht getauft werden bis sie im Glauben unterwiesen worden seien. 55 Auch in bezug auf die freien Abendmahlsfeiern, die sich wiederholt an die „Bibelstunden" anschlossen, fällt in den Protokollen der Rückbezug auf die durch Gott autorisierte Praxis durch die Formulierung auf, wonach der „Tisch Gottes" so genutzt würde, wie er von Gott eingesetzt worden sei, 56 bzw. daß der „Tisch Gottes" wieder aufgerichtet worden sei. 57 Bereits im Müntzerbrief wurde in Analogie zu Karlstadt jede Bezeichnung des Abendmahls vermieden, die an die traditionelle Diktion der Sakramentslehre erinnerte. 58 Der im Müntzerbrief in Anlehnung an Zwingli gewählte Terminus „nachtmal der vereimbarung" fehlt in den vorliegenden Zeugenaussagen, auch wenn die theologischen Charakteristika der prototäuferischen Abendmahlslehre in den freien Mahlfeiern, wie gesehen, umgesetzt wurden. Stattdessen findet sich nunmehr ausschließlich die Bezeichnung „Tisch Gottes" für das Abendmahl. Die einfach gestalteten Mahlfeiern entsprachen offensichtlich der Intention, weder mit der Taufhandlung noch mit dem Abendmahl anders zu handeln als Christus es verordnet habe. Dennoch fällt die Formulierung „Tisch Gottes" besonders auf, da sie nur in der Frühphase Verwendung findet und weder in der spä53 54 55 56

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

QGTS I, Nr. 54,62; Nr. 64,73. ebd., Nr. 54,62; Nr. 60,68. ebd., Nr. 64,73. ebd., Nr. 55,63.

57 Vgl. ebd., Nr. 56,65; Nr. 57,65. Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung; Ch. Windhorst, Das Gedächtnis des Leidens Christi und Pflichtzeichen brüderlicher Liebe, in: H.-J. Goertz (Hg.), Umstrittenes Täufertum, Göttingen 21977,119; Pater, Karlstadt, 150. 58

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teren Entwicklung aufgenommen wird, 59 noch in den vorausgehenden theologischen Zeugnissen begegnet. Es erscheint möglich, daß die deutliche Analogie zum Zwinglischen Abendmahlsverständnis, die durch den Titel „Mahl der Vereinbarung" im Müntzerbrief noch ungebrochen Verwendung fand, nach der endgültigen Trennung vom Reformator nicht mehr aufrechterhalten werden sollte. Nicht nur die Praxis der freien Mahlfeier, sondern auch die Bezeichnung sollte demnach auf die Separation der radikalen Kreise verweisen. Der Benennung „Tisch" fehlt zudem jeglicher Anklang an die Meßopferpraxis bzw. an einen wie auch immer gearteten heilsvermittelnden Vorgang. Vielleicht kann hier sogar eine polemische Gegenbezeichnung zum „Altar", einschließlich der mit ihm verbundenen Meßopferfrömmigkeit, vermutet werden. Windhorst versucht, die antagonistische Atmosphäre der damaligen Mahlfeiern zu erfassen: „Die Heiligkeit des Meßopfers und die Ehrfurcht davor waren ins Unermeßliche gestiegen. Dem entsprach die oft übersteigerte Form von Akten der Vorbereitung (Beichte, strenge Fasten und andere Bußwerke) auf die Teilnahme am Opfermahl, so ,daß der Laie kaum noch wagte, sich dem mysterium tremendum zu nahen.' Er stand bei Hochämtern fern im Kirchenschiff, schaute und vernahm, wie das göttliche Drama mit großer Pracht und von mehreren Klerikern im Chorraum zelebriert seinen liturgischen Verlauf nahm [...]. Der Anblick der erhobenen Hostie war das Wichtigste und zum Ersatz für die Kommunion geworden." 60

Demgegenüber waren die spontanen Mahlfeiern in den „Bauernstuben" in Zollikon tatsächlich eine „Revolution" 6 1 , zumindest eine ungeheure Provokation. Gefeiert wurde, wie in den neutestamentlichen Abendmahlsberichten, in Form einer um den Tisch versammelten Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern. Ähnlich den Agape-Mahlfeiern der Urgemeinde wird von der Kommunion im Anschluß an eine gemeinsame Mahlzeit mit Bibelgespräch berichtet. 62 Die in der Frühzeit gewählte Bezeichnung „Tisch Gottes" läßt daher zumindest zwei Deutungen konvergieren. Zum einen betont die Formulierung den radikal antisakramentalen Charakter der Mahlfeier, zum anderen entsprach sie der realen Praxis. Hubmaier kann daher in Konsequenz der ausgestalteten Abendmahlsform von den Kommunikanten als „Tischsitzern" oder auch „Beisitzenden" 63 sprechen. Das „Aufrichten" des Tisches Gottes 59 Vgl. Windhorst, Leiden, 123: Bei Hubmaier treten die Begriffe „Nachtmahl", „Christmahl" und „Brotbrechen" auf; / J. Kirnet, Pilgram Marbeck, Kassel 1957,118: im Marpeckkreis begegnet vor allem die Bezeichnung „Abendmahl"; im Schleitheimer Bekenntnis „Brotbrechen," vgl. QGTS II, Nr. 26,26 ff.; die maßgebliche Bibelstelle für die Bezeichnung „Tisch des Herrn" könnte auf lKor 10,21 zurückgehen, wo eine Gegenüberstellung zum „Tisch der Dämonen" erfolgt. 60 Windhorst, Leiden, 112 f. 61 Vgl. Blanke, Brüder, 25. 6 2 Vgl. QGTS I, Nr. 50,60. 63 Vgl. T. Bergsten, Balthasar Hubmaier. Seine Stellung zu Reformation und Täufertum 1521-1528, Kassel 1961,314.

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entspricht der gleichzeitig verwendeten Bezeichnung: „den Tisch Gottes so zu gebrauchen, wie ihn der Herr eingesetzt habe." Dahinter ist der Anspruch zu vermuten, daß die traditionelle Meßpraxis sowie die reformierte Abendmahlsfeier weder dem Willen noch dem Gebot Gottes entsprach. Das „Aufrichten des Tisches Gottes" impliziert, daß dieser in den traditionellen Kirchen nicht mehr zu finden bzw. zerstört worden sei. Hier wird m. E. ebenso radikal gedacht wie in der Tauffrage. Für die Täufer war auch die Mahlfeier die einzig wahre und von der Schrift legitimierte Form, die dem Willen Gottes kongruent war. „Tisch Gottes" kann daher als polemischer Begriff aufgefaßt werden. Diese These wird durch die biblischen Belegstellen, die möglicherweise zu dieser Bezeichnung geführt haben, unterstützt. Allerdings bleibt man hier aufgrund fehlender Quellenverweise im Bereich des Spekulativen. Der „Tisch des Herrn", auf dem nach dem Zeugnis des Alten Testaments die Schaubrote lagen, gehörte zur Grundausstattung des Tempels.64 Auch in den protoapokalyptischen Visionen des Ezechiels über den neuen Jerusalemer Tempel gehört der „Tisch, der vor dem Herrn steht" zum Inventar des Allerheiligsten. 65 Die prophetische Klage des Maleachi über das „treulose Volk" enthält als wichtigen Vorwurf die Geringachtung, Schändung und Verunreinigung des Tisches des Herrn. 6 6 Es ist nicht sicher, ob die Täufer den Meßgottesdienst ihrer Gegenwart mit dieser Entheiligung des Tisches Gottes identifizierten und ihre Mahlpraxis daher als dessen „Wiederaufrichtung", d. h. dessen Reinigung und erneute Wertschätzung verstanden. Diese Annahme erhält jedoch im Blick auf die scharfe Polemik gegen den traditionellen Kultus, wie sie sich bereits im Müntzerbrief und stärker noch in den offenen Agitationen gegen die Messe artikulierte, eine gewisse Berechtigung. Der einzige neutestamentliche Beleg für die Bezeichnung „Tisch des Herrn" beinhaltet ebenfalls eine streng polarisierende Tendenz. Paulus schreibt im ersten Korintherbrief im Kontext der Auseinandersetzung um das Essen von „Götzenopferfleisch" und der damit verbundenen Teilnahme an kultischen Opferfeiern, daß die Gemeinde nicht gleichzeitig am „Tisch des Herrn" und am „Tisch der Dämonen" teilhaben könne. 67 Die Teilhabe am Tisch des Herrn sei für die christliche Gemeinde exklusiv. Ihm steht daher als Gegenbild der Tisch der Dämonen gegenüber. Diese Bibelstelle wird im Schleitheimer Bekenntnis als Beleg für den exklusiven Charakter der Mahlfeier verwendet, der die Selbstprüfung der Gemeinde und ihre Absonderung von der Welt voraussetzt. 68 Nach diesem Befund wird deutlich, daß - welche biblische Beweisführung auch immer für die Begrifflichkeit „Tisch Gottes" herangezo-

64

Vgl. lKön 7,48. Vgl. Ez 41,22. Vgl. Mal 1,7.12. 67 Vgl. IKor 10,21. 68 Vgl. QGTS II, Nr. 26,29. 65

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gen wurde - damit stets eine polemische und abgrenzende Konnotation verbunden war. Wie bereits in der Tauffrage zu beobachten war, stand auch im Blick auf die Mahlfeiern die biblische Beweisführung nach den Zeugenaussagen nicht im Vordergrund. Das könnte erneut auf die theologische Verlegenheit oder Inkompetenz der Verhörten hinweisen, die fast ausschließlich dem Laienstand angehörten. Überblickt man aber den Befund, so fällt auf, daß die charismatische bzw. übernatürliche Interpretation der Ereignisse in den Protokollen einen breiten Raum einnimmt. So lief Gabriel Giger nach eigenen Angaben vom Geist Gottes getrieben in das Haus von Felix Mantz, um sich taufen zu lassen.69 Er wollte ferner vor Gericht nicht versprechen, daß er künftig nicht mehr taufen werde, da er nicht wüßte, was mit ihm geschehen werde. Giger rechnete demnach mit der Möglichkeit, daß er spontan zum Täufer berufen werden könnte, wenn Gott ihm jemanden zuführte, der um die Taufe nachsuchte.70 Die vollständige Inanspruchnahme durch Gott bekannte er in einem weiteren Verhör: „er sye nit sin selbs, waß inn got heisse, daß werde er thûn." 7 1 Er berichtete von Gottes wunderbarem Wirken in St. Gallen, nachdem er aus dem Zürcher Gebiet verbannt wurde. 72 Auch andere inhaftierte Täufer konnten nicht versprechen, sich des Taufens zu enthalten, da sie nicht wüßten, was ihnen widerfahren würde. 73 Hans Bichter, Schneider aus Walschwyl am Bodensee, begründete dementsprechend seine Tauferkenntnis mit dem offenbarenden Handeln des Schöpfers. 74 Gleichzeitig sei er zur Verkündigung des Wortes Gottes berufen worden und habe ca. 30 fremde und einheimische Personen getauft. Seiner Berufung folgte demnach eine sofort einsetzende Tauftätigkeit. Die Legitimität seiner Verkündigungstätigkeit führte er auf das unmittelbare Eingreifen Gottes zurück. Er hätte „dick geprediget, was in got habe ermant." 75 Eine analoge Beauftragung durch Gott selbst bezeugten auch andere „prominente" Täufer, wie Rutsch und Jakob Hottinger. Nach der ersten Haft im Augustinerkloster wegen fortgesetzter Tauftätigkeit erneut zur Rechenschaft gezogen, beteuerte Rutsch Hottinger, daß er sein Versprechen gehalten habe, „biß sy gott ermant hatt." 7 6 I m Verhör beharrte er auf seiner Tauferkenntnis, denn „waß im got in sin hertz geben, mög im nieman nemen." 77 Jakob Hottinger, Jörg Blaurock und Fridli Schuhmacher blieben ebenfalls bei ihrer Überzeugung, daß sie unmittelbar dem Willen 69

Vgl. QGTS I, Nr. 41,49. ™ Vgl. ebd., Nr. 54,62. 7 1 Ebd., Nr. 64,73. 72 Vgl. ebd., Nr. 66,75. 73 Vgl. ebd., Nr. 54,63. u Vgl. ebd., Nr. 56,64. 7 * Ebd., Nr. 56,65. 7 « Ebd., Nr. 54,62. 77 Ebd., Nr. 64,73.

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Gottes unterständen, der sie in Situationen führen könne, wo sie ihm allein gehorchen müßten. 78 Die Offenheit für das „spontane" Handeln Gottes an ihnen verhinderte demnach den absoluten Gehorsam gegenüber dem Ratsbeschluß. Nicht nur diese Bezugnahmen auf das Eingreifen Gottes, sondern auch andere Phänomene weisen auf den charismatischen Charakter der Ereignisse in Zollikon hin. Emotionale Ausbrüche und Versammlungen, in denen der intensive Wunsch nach der Feier des Abendmahls entstand, ließen sich ebenso anführen wie die Tatsache, daß jeder sich zum Täufer berufen fühlen konnte. Jedes Mitglied der Bewegung war nach den Zeugenaussagen dazu bereit, einen anderen zu taufen, wenn er darum gebeten würde. So tauften neben Grebel, Mantz, Blaurock und Brötli auch Oggenfuß, Jakob Hottinger, Jörg Schad, Hans Meyer, Valentin Gredig, Hans Huiuff. Innerhalb von zwei Wochen (8.-15. März 1525) wurden in Zollikon und Umgebung ca. 80 Personen getauft. Einen weiteren aufschlußreichen Bericht bietet uns ein Verteidigungsbrief von Mantz, den er im Februar 1525 an den Rat richtete und in dem er seine Sicht der Ereignisse in Zollikon kurz darstellte. 79 Nach einem christologischen Bekenntnis paraphrasiert er am Briefeingang zunächst den Missionsauftrag aus M t 28,19, welcher sich zu einer der zentralen biblischen Belegstellen der Täufer für ihre Sendung und ihre Taufauffassung entwickelte. Das habe er denen gelehrt, die weinend zu ihm gekommen seien und ihn um die Taufe gebeten hätten. Hier wiederholt sich die bereits festgestellte emotionale Ergriffenheit der Taufbewerber, die daraufhin die führenden Täufer inständig um die Taufe baten. Mantz gab an, daß er ihnen deshalb das Begehren nicht hätte abschlagen können. Auch hier läßt sich, wie oben ausgeführt, der konstitutive Taufwunsch als Voraussetzung für den Taufvollzug nachweisen. Interessanterweise erwähnte Mantz im Zusammenhang mit der Taufe auch die Lehre von der Gütergemeinschaft (vgl. Apg 2,44 f.), die in Zollikon wohl praktiziert wurde. Das Koinonia-Verständnis der Mahlfeiern tritt ebenfalls aus dem Schreiben deutlich hervor. Mantz beteuerte abschließend, daß sie sich in allem mit dem festen Willen Gottes einig wüßten. I n seinem Brief bestätigt Mantz die bisherigen Aussagen der gefangengesetzten Täufer.

78

Ebd., Nr. 54,62. Vgl. ebd., 49 f.; Krajewski, dieser Untersuchung. 79

Mantz, 89 f. Zur näheren Analyse vgl. auch Punkt 10.2.

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8 Die Entwicklung in Zollikon

Exkurs: Die Briefe Johannes Brötlis an die Schwestern und Brüder in Zollikon Johannes Brötli 8 0 , der zusammen mit Reublin durch das Dekret vom 21. Januar 1525 zum Verlassen der Zürcher Landschaft gezwungen worden war, wandte sich aus seinem Domizil in Hallau - wahrscheinlich im Zeitraum Februar/März - in einem Brief an die Brüder in Zollikon. 8 1 Schon der Eingangsgruß verdeutlicht den Charakter des gesamten Schreibens, das wie ein apostolischer Brief aus neutestamentlicher Zeit konzipiert ist: „Johannes, ein diener Jesu Christi, berûfft ze verkünden das euangelium Christi durch den willen gottes vatters, den frommen christen und berûfften von gott der christenlichen versamlung ze Zollikon, gnad und frid von gott dem vatter und unsrem herren Jesu Christo." 82

Auffällig ist die starke Ähnlichkeit in der Formulierung zu den Eingangsversen des ersten Korintherbriefes. 83 Brötli stellte damit bereits zu Beginn des Briefes seine Autorität und Legitimität durch die Berufung Gottes dar. Ohne Zweifel konzipierte er die Eingangsadresse nach dem neutestamentlichen Vorbild. Besonders auffällig ist dabei die Formulierung „christliche Versammlung". Der Autor richtete sein Schreiben nicht an eine Gemeinde oder Kirche in Zollikon, sondern an die Versammlung der „frommen Christen" und Berufenen. Das bereits skizzierte Selbstverständnis der Täufer tritt durch diesen Eingangsgruß ebenso deutlich zutage, wie auch der ekklesiologische Grundansatz der sichtbaren Gestalt der Kirche in der Gemeinschaft der Gläubigen. Der gesamte Brieftext ist durchsetzt mit neutestamentlichen Motiven. Brötli übertrug bestimmte Elemente der paulinischen Briefe direkt auf seine Situation. Offensichtlich identifizierte er seine Biographie mit der des Apostels. So erinnerte er die Zolliker Geschwister an die Zeit, da er bei ihnen das Wort verkündigt habe. 84 Brötli betonte, daß er, wie der Apostel, selbst für seinen Unterhalt gesorgt habe, um niemanden zur Last zu fallen. 85 Er hoffte wiederum zu seinen Geschwistern in Zollikon kommen zu können. 86 Dieser Wunsch weist direkte sprachliche Analogien zu den Reisevorhaben des Pau80 Vgl. J. M. Stayer, Reublin and Brötli: The Revolutionary Beginnings of Swiss Anabaptism, in: M. Lienhard (Hg.), The Origins and Characteristics of Anabaptism, Procedings of the Colloquium Organized by the Faculty of Protestant Theology of Strasbourg 20.-22.2.1975, International Archives of History of Ideas 87, The Hague 1977,86 ff. 81 82 83 84 85 86

Vgl. QGTS I, Nr. 36,44-46. Ebd., 44. Vgl. auch Rom 1,3.7; IKor 1,1-3. Vgl. lKor2,lff. Vgl. IKor 4,12; IThess 2,9. Vgl.u.a. Rom 1,10f.

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lus auf. Der verbannte Prediger legte den Schwerpunkt seiner Ausführungen darauf, die Geschwister zu ermahnen, bei der Wahrheit zu bleiben, zu der sie berufen worden seien. 87 Die von ihm bezeugte Freude in der Gefangenschaft bzw. im Exil ist ein weiteres typisch paulinisches Motiv. 8 8 Seine Erlebnisse auf der Reise von Zollikon nach Hallau schilderte Brötli im Stil der neutestamentlichen Missionsberichte, wie sie in erster Linie die Apostelgeschichte wiedergibt. Erneut begegnen sprachliche Anleihen aus dem Corpus Paulinum. So bekannte Brötli, daß Reublin und er sich „des leben verwegen" 89 hätten. Nach der Skizzierung seiner persönlichen Lage in Hallau kommt er zum Hauptanliegen seines Schreibens, das in der Bitte um Zusendung von Lebensmitteln und Hausrat bestand. Der Briefschluß erweist sich eher als ein Florilegium neutestamentlicher Textstellen, denn als die eigene Komposition des Briefschreibers. Die Trias „Glaube, Liebe, Hoffnung" (IKor 13,13; IThess 1,3), die wörtliche Wiedergabe von Gal 1,9 und die Warnung vor den falschen Propheten (2Petr 2,1) stellen nur einige Belege dafür dar. Auch die Bitte, ihm einen Bruder zu schicken, der ihm berichten möge, wie es um die Geschwister in Zollikon stehe, gehört zum bekannten Repertoire apostolischer Sendschreiben. 90 In seinen Schlußgrüßen lebt selbst die urchristliche Sitte des Bruderkusses wieder auf. 91 Die Gestaltung der letzten Zeilen des Briefes entspricht 2Thess 3,6 und 2Joh 9. Brötli schrieb damit einen Brief an die „Brüder" in Zollikon, der sich formal und inhaltlich fast gänzlich an neutestamentlichen Vorbildern orientierte. Er selbst erscheint in diesem Schreiben als verbannter Apostel, der sich um seine zurückgelassene „Herde" sorgt. Der eigentliche Anlaß für das Schreiben war wohl die Bitte um materielle Unterstützung, wie ein nachfolgendes zweites Schreiben nahelegt. 92 Dieser Brief weist ebenfalls eindeutige Parallelen zu neutestamentlichen Texten auf. Inhaltlich ist jedoch der Wandel von der Bitte um Standhaftigkeit hin zur Klage über den „Abfall" der Gemeindeglieder festzustellen. Brötli klagt im zweiten Schreiben über diejenigen, die das Zeichen der Taufe verleugnet hätten. Er schließt den Brief mit einer kurzen Empfehlung des Boten, die den Referenzen des Paulus ähnelt. Brötli weist abschließend darauf hin, daß er eigenhändig geschrieben habe, was eine Reminiszenz an die Glossen des Apostel Paulus in seiner Korrespondenz ist. 93 Auch aus diesem Schreiben wird deutlich, daß Brötli seinen Auftrag in Kontinuität zur Sendung des Völkerapostels begreift. 87 88 89 90 91 92 93

Vgl. die Abschiedsrede des Paulus in Apg 20,17-38; IThess 3,2-3. Vgl. Phil 1,12 ff. Vgl. 2Kor 1,8. Vgl. die Sendung des Timotheus in IThess 3,5. Vgl. IPetr 5,14; 2Kor 13,12. Vgl. QGTS I, Nr. 44,54. Vgl. Gal 6,11; 2Thess 3,17.

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Die genaue Parallelisierung seines eigenen Schicksals und seiner gegenwärtigen Situation mit der frühchristlichen Missionsgeschichte kann dazu beitragen, das hohe Sendungsbewußtsein der Radikalen besser zu verstehen. Daß diese apostolische Selbsteinschätzung nicht der krankhaften Vorstellung eines einzelnen entspringt, zeigen andere, ähnlich geartete Briefe an die Geschwister in Zollikon. 9 4 Schon bei der Untersuchung des Müntzerbriefes fiel dessen sprachliche Konzeption als apostolisches Sendschreiben auf. 95 Der Rahmen des neutestamentlichen Briefformulars fand auch in weiteren Schreiben an die Zolliker Täufer Verwendung. So begegnen dort nach dem neutestamentlichen Vorbild gestaltete Eingangsgrüße, Ermahnungsformeln, Empfehlungen, Anweisungen zur Verlesung des Briefes, Grußlisten und Schlußdoxologien. Die frühe Täuferbewegung parallelisierte ihre Situation zweifellos mit der Geschichte der urchristlichen Mission. Der Kampf der Obrigkeit verstärkte diesen speziellen Zug ihrer Frömmigkeit. Aus den „apostolischen" Briefen ist ferner zu entnehmen, daß die Täufer in Zollikon schon sehr früh ein Gemeindebewußtsein entwickelten. Die Versammlung der Gläubigen, die aus diesem religiösen Aufbruch hervorging, konstituierte sich bereits nach wenigen Wochen als eine Gemeinde, die den verbannten und auswärtigen Brüdern als feste Größe erschien. Der religiöse Aufbruch verband sich demnach sehr rasch mit einer ekklesiologischen Struktur. Die Grundlage dafür war bereits in den theologischen Lesekreisen gelegt worden.

8.2 Interpretation der Entwicklung in Zollikon Blanke kommt im Blick auf die theologische Ausrichtung und die begleitenden Phänomene zu dem Schluß, daß die Vorgänge in Zollikon als Erwekkungsbewegung zu bezeichnen seien. 96 „Man versteht darunter ein plötzlich auftretendes religiöses Erwachen, wobei nicht bloß einzelne wenige Menschen, sondern eine größere Anzahl von ihnen mit einer unmittelbaren Gewalt von persönlicher christlicher Bußgesinnung ergriffen werden und zur Erlösungsfreude durchbrechen." 97

Damit kann er die oben genannten historischen Phänomene, aber auch die erstaunliche Breitenwirkung und das schnelle Anwachsen der frühen täuferischen Bewegung erklären. Die „vollmächtige Bußpredigt" sieht er als „eigentlichen Anstoß" für die einsetzende Erweckung. 98 Demgegenüber sieht die neuere sozialgeschichtliche Forschung in der intentionalen Übereinstim94

Vgl. QGTS I, Nr. 61,691; Nr. 66,75 f. Vgl. Punkt 5.2.2 dieser Untersuchung. 96 Vgl. Blanke, Brüder, 36. 97 Ebd. 9 * Ebd., 40. 95

8.2 Interpretation der Entwicklung in Zollikon

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mung von Täufertum und den nach Autonomie strebenden Bauern den eigentlichen Grund für den großen Anfangserfolg der Bewegung." Die Täufer hätten sich durch ihr theologisches Programm mit dem „frühreformatorischen Antiklerikalismus und der gärenden Unruhe unter den Bauern verbunden". 1 0 0 Der unlösliche Zusammenhang mit der bäuerlichen Erhebung wird auch zur Deutung der Gläubigentaufe und ihrer ethischen Ausrichtung herangezogen. „So wird die Taufe zu einem Akt, in dem der Mündigkeit des Laien Rechnung getragen wird und in dem das eben erst erwachte revolutionäre Selbstbewußtsein des gemeinen Mannes' einen ihm gemäßen Ausdruck findet." 101

Die Ereignisse in Zollikon und anderen Gebieten, in denen die täuferische Bewegung sich überraschend schnell ausbreitete, werden somit religionsphänomenologisch entweder als „Erweckung" gedeutet oder als zeitweilige „theologische Ideologie" der Bauernbewegung interpretiert. Die täuferische Sakramentsreform gehört demnach „in den Rahmen bäuerlicher Verweigerungs- und Widerstandsgesten." 102 Auch Haas stellt fest, daß die Täufer „vorerst vor allem als Verbündete der Bauern" 1 0 3 hervorgetreten seien. Der „Massenbewegung", die von allgemeinen antiklerikalen Ressentiments getragen war, entsprach s. E. das Verhalten der Taufbewerber, die die Gläubigentaufe als Pflichtübung auffaßten, „um ihre Sympathie zur täuferischen Gemeinschaft und ihrer Organisationsform zu bekunden." 104 Beide konkurrierenden Interpretationen der Ereignisse in Zollikon müssen auf ihre Tragfähigkeit hin untersucht werden.

8.2.1 Erweckungsbewegung Es stellt sich zunächst die Frage, welches Verständnis von Erweckungsbewegung hinter der oben skizzierten Deutung Blankes steht. Die Definition der kirchenhistorischen und religionsphänomenologischen Kategorie der „Erweckung" ist umstritten. 105 Rooden unterscheidet zunächst eine zyklische

99

Vgl. Goertz, Bauern, 93 (Referat in Übereinstimmung mit Stayer und Haas). Ebd. Ebd., 95. 102 Ebd., 94. 103 Haas, Absonderung, 61. 104 Ebd., 63. los ygi ρ van Rooden, The Concept of an International Revival Movement around 1800, in: Pietismus und Neuzeit, Bd. 16,1990,155-172; A. Lindt, Die Erweckungsbewegung - Ferment der Spaltung oder Weg zur Glaubenseinheit?, in: U. Gäbler / P. Schräm (Hg.), Erweckung am Beginn des 19. Jahrhunderts, Amsterdam 1986, 33-43; M. D. Geuze, Some Remarks on Revival its Terminology and Definition, in: Gäbler/Schram (Hg.), Erweckung, 23-32. 100

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8 Die Entwicklung in Zollikon

Sicht der Erweckung, die von ihm als „timeless possibility" 1 0 6 der Kirche Jesu Christi angesehen wird, von der Fixierung der Erweckungsbewegung durch die kirchenhistorische Forschung der 50er Jahre auf den definitiven Zeitraum des 18.-19. Jahrhunderts. 107 Im Rahmen der zyklischen Deutung der Erwekkungsbewegung kann die gesamte Kirchengeschichte als Abfolge von Degeneration und Verweltlichung der Kirche mit darauf folgender Erweckung betrachtet werden. Als entscheidendes Kriterium für die Erweckung gilt die Rückkehr zur „primitiven" Frömmigkeit und zur Tradition. Rooden nennt neben den emphatischen Ansichten einiger Erweckungsprediger, wonach die gesamte Kirchengeschichte seit Mose (!) ein Ergebnis von Erweckungen darstelle, und einigen Vertretern älterer Forschungsgenerationen, überraschenderweise auch H. W. Krumwiede, L. Rott und J. E. Orr, die ebenfalls eine rhythmische Sicht der Erweckung verträten. 108 In diesem Sinn führt Krumwiede im dritten Teilband seiner Geschichte des Christentums zur Erwekkungsbewegung des 19. Jahrhunderts aus: „Die europäische Erweckungsbewegung (EB) in der zweiten Hälfte des 18. und 19. Jh.s gehört zu dem dialektischen Prozeß, welcher die Geschichte der christlichen Kirche von Beginn an bestimmt hat: Nach Zeiten hochgespannter Bemühungen um die Heiligung des Menschen machen sich seine irdischen Bedürfnisse wieder geltend, was wiederum zur Forderung nach Überwindung des natürlichen Menschen führt." 109

Krumwiede interpretiert die gesamte Kirchengeschichte als kontinuierliche Abfolge von „Anspannung, das hohe Ziel eines gottseligen Lebens zu erringen" und von „Erschlaffung der religiösen Energien", die erneut zur Reform drängt. 110 Der übergreifende Konsens der heutigen Forschung tendiert jedoch zur Festlegung der Erweckungsbewegung auf den spezifischen historischen Kontext des frühen 19. Jahrhunderts. 111 „Die Erweckung wird als eine sich in mehreren Ländern zeigende, im Westen antiaufklärerische Bewegung mit dem Höhepunkt um das Jahr 1830 verstanden." 112 Eine analoge Definition bietet auch Lindt, der jedoch weitergehende inhaltliche Bestimmungen hinzufügt. „Erweckung meint ein Selbstverständnis der sich so nennenden religiösen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Wachwerden aus dem Schlaf eines bloßen Gewohnheitschristentums zu einem lebendigen, persönlich erfahrenen und einsatzfreudigen Glauben." 1 1 3 Rooden entlarvt sowohl die For106

Rooden, Concept, 157. Vgl. ebd., 156 f. 1 08 Vgl. ebd., 157. 109 H. W. Krumwiede, Geschichte des Christentums, Bd. 3, Stuttgart 21987,128. Ebd., 50. 111 Vgl. Lindt, Erweckungsbewegung, 34; Rooden, Concept, 158-164 (der Verfasser untersucht M. Schmidt, E. Beyreuther, G. A. Benrath, M. Greschat und U. Gäbler). 112 U. Gäbler, Erweckung im europäischen und amerikanischen Protestantismus, in: Pietismus und Neuzeit, Bd. 15,1989,25. 113 Lindt, Erweckungsbewegung, 34. 107

8.2 Interpretation der Entwicklung in Zollikon

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schungsergebnisse der 50er Jahre, die zur chronologischen Festlegung der Erweckungsbewegung beitrugen, als auch neuere Ansätze, die scheinbar eine inhaltliche Ausweitung der Definition ermöglichten, als Ansichten, die letztlich ungebrochen auf der zyklischen Sicht der Erweckungsbewegung aufbauten. Die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts sei demnach die Erwekkung, die sich von den vorangegangenen vor allem durch den Kampf gegen die Aufklärung unterscheide. 114 Seine kritische Analyse wird u. a. durch Gäbler bestätigt, der im Kontext seiner oben zitierten Definition der Erweckungsbewegung, die dieser auf das 19. Jahrhundert begrenzt sieht, lapidar feststellt: „,Erweckungen 4 hat es in der Geschichte der christlichen Kirchen immer wieder gegeben." 115 Die Festlegung der Erweckungsbewegung auf den Zeitraum des 18.-19. Jahrhunderts kann demnach mit der zyklischen Gesamtinterpretation koinzidieren. Ebenso umstritten wie die grundsätzliche Deutung der Erweckungsbewegung ist ihre inhaltliche Bestimmung. Unter rein soziologischen Gesichtspunkten kann unter Erweckung eine Hinwendung zur Kirche durch eine große Anzahl von Menschen verstanden werden, die sich an einem unerwarteten Anstieg der Mitgliederzahlen zeigt. 116 Freytag unterscheidet in seinem Artikel über Erweckung die massenhafte Bekehrung von Andersgläubigen („Heiden") zum Christentum von spontan auftretenden innerkirchlichen Erweckungsbewegungen. 117 Anhand von Beispielen aus Afrika charakterisiert er die Erweckung als eine Bußbewegung, die von einer „Atmosphäre psychischer Ansteckung" 118 begleitet wird. Die Betonung des religiösen Erlebnisses sowie emotionale Reaktionen der Beteiligten werden als weitere typische Kennzeichen genannt. Benrath sieht in der Evangelisationspraxis der „Jungen Kirchen" die Fortsetzung der im angelsächsischen Protestantismus des 18. und 19. Jahrhunderts hervorgebrachten neuen Formen der christlichen Verkündigung und somit die Kontinuität zwischen verschiedenen diachronen Erweckungsbewegungen. 119 Kennzeichen der Erweckungspredigt sei die „Erweckung massenhafter Hörerscharen". 120 Während Freytag jedoch eine Erweckung als spontanes und kontingentes Ereignis begreift, sieht Benrath heutige Erweckungen als Konsequenzen der modernen Evangelisation, die auf die Erweckungspredigt und „Verkündigungstechnik" des 19. Jahrhunderts zurückgingen. Beyreuther, der sich als Anhänger der zyklischen Sicht der Erweckungsbewegung ausweist, in die er selbst die Bewegung der Jesus People einzuordnen vermag, nennt als Charakteristika geistlicher Bewegungen das 114

Vgl. Rooden, Concept, 158. Gäbler, Erweckung, 24. 116 Vgl. Rooden, Concept, 157. 117 Vgl. W. Freytag, Art. Erweckung II, in: R G G 3 2,629. Ebd., 630. 119 Vgl. G. A. Benrath, Art. Erweckung/Erweckungsbewegungen I, in: T R E 10,205. !2o Ebd. 115

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„Hervortreten des Elementaren", die persönliche Erfahrung der Gegenwart Gottes, die emotionale Begeisterung und den Drang zur Mission und Evangelisation. 121 Er faßt die Erweckungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts als eine durch den gemeinsamen Kampf gegen die Aufklärung geeinte Strömung auf. „Als elementare Bußbewegung4 suchte sie zum Bibelglauben zurückzuführen und dadurch ,reformatorische Anliegen neu geltend zu machen 4 ". 122 Für J. E. Edwards waren folgende Kriterien für die Erweckung maßgeblich: manifeste Zeichen der Gegenwart Gottes, Ausschüttung des heiligen Geistes, Bekehrung vieler „Sünder", Glaubensstärkung der Gläubigen und die dadurch hervorgerufenen positiven Einwirkungen auf die Gesellschaft. 123 In ähnlicher Weise bestimmt auch Orr die Kennzeichen einer Erweckung, wobei das vollmächtige Predigen und die konsequente Reform der Kirche zu einer lebendigen Gemeinschaft hinzutreten. 124 Offensichtlich steht hinter diesen vorwiegend theologischen Deutungen der Erweckung eine pneumatologische Begründung, nach der die Erweckung als Wiederholung von Pfingsten bzw. als ein Phänomen betrachtet wird, für das die neutestamentlichen Pfingstereignisse als protologisch angesehen werden. „Für die ,Erweckten 4 ist dies ein geistgewirktes Geschehen, durch das Gott selber die Christenheit erneuert und aktiviert." 1 2 5 Daneben gibt es Forscher, die ohne diesen Bezug zur Transzendenzerfahrung versuchen, dem vielgestaltigen Phänomen der Erweckung zu begegnen, sei es im Blick auf das 18.-19. Jahrhundert, sei es als allgemein kirchengeschichtliche Kategorie. Religiöse Erweckung wird etwa als Reaktion auf gravierende politische, soziale oder wirtschaftliche Veränderungen interpretiert. 1 2 6 Die Koinzidenz von religiöser und politischer Unruhe wird ebenso konstatiert, wie die substituierende Wirkung religiöser Erweckung in bezug auf die politische Mobilisierung der Unterschichten. 127 Die religiöse Erwekkung reflektiere in Krisenzeiten demnach den „Chiliasmus der Verzweiflung" innerhalb des Proletariats. Allerdings warnt D. Luther davor, die Analyse säkularer Bedingungen für eine Erweckung von der Untersuchung innerkirchlicher Prämissen zu lösen. Daneben gibt es synthetische Versuche zur Deutung der Erweckung, in denen theologische und allgemeinhistorische Deutungskategorien verwendet werden. Gäbler nennt in diesem Kontext als Kriterien

121 Vgl. E. Beyreuther, Merkmale geistlicher Bewegungen, in: Ders., Theologie und Frömmigkeit, Hildesheim/New York 1980,364. 122 Gäbler, Erweckung, 26. 123

Vgl. Geuze, Remarks, 28. Vgl. ebd., 29. 125 Lindt, Erweckungsbewegung, 34. 1 26 Vgl. D. Luther , Revivalism in Theory and Practise: The Case of Cornish Methodism, in: Journal of Ecclesiastical History 37,603. 1 27 Vgl. ebd. 124

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u. a. die Zeitkritik bzw. Zeitklage, 128 die Ausrichtung auf die persönliche Gotteserfahrung des einzelnen 129 sowie die Organisationsform in Sozietäten, die auf der Freiwilligkeit, Gleichberechtigung und Überzeugung der Mitglieder beruhen. 130 Auch Greschat, der die Erweckung aus dem konfessionellen Rahmen des Protestantismus lösen will und sie zur Reaktion der Kirchen auf die Moderne erweitert, benennt ähnliche inhaltliche Schwerpunkte, etwa den prägenden Einfluß der Sündenvergebung, den Ruf zur Umkehr und Heiligung des Lebens sowie die missionarische Grundstruktur der Bewegung. 131 Lindt bezeichnet den individualistischen Ansatz im „Glaubens- und Kirchenverständnis" als konstitutiv für die Erweckungsbewegung des 18.-19. Jahrhunderts. 132 Die Glaubensentscheidung des einzelnen trat s. E. in den Vordergrund der Verkündigung. Ebenso gehörte die Konzentration auf das „unfehlbare Bibelwort" sowie die Orientierung des Gemeindelebens am Erleben des einzelnen Gläubigen zu den typischen Merkmalen der Erwekkungsbewegung. „Volle kirchliche Gemeinschaft aber war emotional und dann meist auch faktisch nur möglich, wo Bruderschaft erlebbar war." 1 3 3 Im Blick auf die Vielgestaltigkeit der Erweckungsbewegungen des 18.-19. Jahrhunderts, die, wie Rooden nachweist, durch die bisherigen inhaltlichen Bestimmungen nicht harmonisiert werden können, ist die übergreifende Bezeichnung als Erweckung obsolet geworden. Trotzdem wird weiterhin von „Erweckungen" in der Kirchengeschichte gesprochen, und parallel dazu findet die erweckliche Semantik weiterhin Verwendung in der gegenwärtigen Missionswissenschaft. 134 Erweckung bezeichnet demnach eine spezifische kirchengeschichtliche Phase und dient andererseits als übergreifender Begriff für spontane religiöse Aufbrüche in der Geschichte oder Gegenwart, die den Charakter von Massenbewegungen annehmen, sich aber vornehmlich am religiösen Erleben des einzelnen orientieren. Die Definition bleibt nach diesem Befund sowohl kirchenhistorisch als religionsphänomenologisch umstritten. Blanke vertritt mit seiner Charakterisierung des frühen Täufertums als Erweckungsbewegung ohne Zweifel die zyklische Sicht. Er versteht die Erwekkung als spontanes religiöses Geschehen, das eine große Anzahl von Menschen erfaßte. 135 Die konstitutiven Elemente der Vorgänge in Zollikon gewinnt er, indem er sie indirekt mit der neuzeitlichen Erweckungsbewegung 128

Vgl. Gäbler, Erweckung, 26 f. Vgl. ebd., 34 f. 13 « Vgl. ebd., 36. 131 Vgl. Rooden, Concept, 163. 132 Lindt, Erweckung, 38. 133 Ebd., 41. 134 Vgl. W. J. Hollenweger, Art. Erweckung III, in: T R E 10,224-227; S. Machie, Die Entdeckung der jüngeren Kirchen, Weltmission Heute, H. 39/40, Stuttgart 1970, U36 ff. 135 Vgl. Blanke, Brüder, 36. 129

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vergleicht. So werden Bußgesinnung, Sündenerkenntnis, Bekehrungserlebnis und die sie begleitende emotionale Erregung anhand von Beispielen illustriert. Grundlage für die Erweckung sei eine „neue Bußdogmatik" 1 3 6 des Grebelkreises gewesen, die durch die vollmächtige evangelistische Verkündigung der täuferischen Protagonisten verbreitet wurde. „Dabei haben diese Erscheinungen, wie wir es immer bei Erweckungsbewegungen sehen, das Merkmal des Unwiderstehlichen und Eruptiven." 1 3 7 Vor allem Blaurock galt Blanke als Prototyp des Evangelisten dieser Bewegung. 138 Blanke gelingt es, die oben dargestellten Ereignisse in Zollikon und Zürich unter der theologischen Prämisse einer religiösen Erweckung einleuchtend zu beschreiben. Sowohl die persönlichen Erlebnisse der Täuflinge, die sich in der aufgeladenen Atmosphäre der Versammlungen spontan ereigneten und überliefert werden, die emotionale Betroffenheit sowie die „zwanghaft" zu nennenden Bitten um den Taufvollzug lassen sich in die Deutung einer so verstandenen Erweckung integrieren. Die charismatische Selbstinterpretation der Ereignisse, das religiöse Sendungsbewußtsein der Getauften und der Wunsch nach lebendiger Gemeinschaft von Gleichgesinnten stimmen ebenfalls mit dieser Charakterisierung überein. Dennoch bleibt die Frage, ob die zyklische Sicht der Erweckung angemessen bzw. historisch verifizierbar ist und ob sich die Kategorien der neuzeitlichen Erweckungsbewegung ohne hermeneutische Besinnung nahtlos auf eine 400 Jahre zurückliegende Epoche übertragen lassen. Rooden ist recht zu geben, der dem zyklischen Ansatz vorwirft, den Perioden, die den jeweiligen Erweckungen vorausgehen, nicht gerecht zu werden. 139 In bezug auf die Neuzeit wurde sie mit Schlagworten wie „erstarrte" Frömmigkeit, „tote" Orthodoxie, Rationalismus o.ä. beschrieben. Gegen die dunkle Folie der vorangegangenen kirchengeschichtlichen Phase leuchtete die neue Bewegung als Erneuerung des ursprünglichen Christentums dann umso heller. Eine ähnlich polemische Darstellung findet sich auch im Bereich der Reformationsgeschichte, die protestantischerseits traditionell gegen den „Spätherbst" des Mittelalters als Fanal der Freiheit geschildert wird. Die zyklische Sicht der Erweckung verdeckt nach Rooden zudem die innovative Potenz solcher Bewegungen, die nicht nur mit dem Etikett der Rückkehr zum vorgegebenen Gut bzw. zur primitiven Form des Christentums versehen werden sollten. Religiöse Aufbrüche sind nicht umfassend unter diesem „konservativen" Siegel zu begreifen, denn sie inkorporieren jeweils auch neue Deutungen und Konsequenzen der christlichen Verkündigung im Dialog mit ihrer Zeitsituation. Die Strukturierung der Kirchengeschichte als ein Alternieren von Abstieg und

™ Ebd., 40. Ebd., 38. 1 38 Vgl. ebd., 41. 139 Vgl. Rooden, Concept, 158. 137

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Erweckung unterliegt zudem der Gefahr subjektiver Setzungen. Wie können allgemein kanonisierbare und überkonfessionelle Kriterien benannt werden, die zur definitiven Wertung historischer Perioden unter dem Signum des „Verfalls" bzw. der „Erweckung" führen? Auch bei der Deutung des frühen Täufertums durch die normative Forschung wurde indirekt die zyklische Sicht von Verfall und Erweckung in der Kirchengeschichte rezipiert. Die Täufer erscheinen in Abgrenzung zur „Hauptreformation" als die einzig konsequenten Vollender der Reformation, die zu den Idealen der urchristlichen Gemeinde zurückgekehrt seien. 140 Das konstatierte Zurückbleiben des Hauptreformatoren hinter ihrem ursprünglichen Reformprogramm - sei es aus kirchen- oder gesellschaftlichen Motiven - entwickelte sich so zur negativen Folie für die Täuferreformation. Auf diese zyklische Sicht der Erweckungsbewegung des „Täufertums" ist m. E. die oben genannte Kritik Roodens anzuwenden. Die Frühphase der Zürcher Reformation, mit ihrer speziellen Konstellation von Bürger- und Christengemeinde im Kampf gegen die altgläubige Tradition und Gesellschaftsordnung kann nur unter Vernachlässigung der realen Umstände und Intentionen als „Erstarrung" und „Degeneration" des Christentums gedeutet werden, von der die lebendige täuferische Bewegung als Erweckung abzuheben sei. Der schematische theologische Dualismus verhindert vielmehr eine angemessene Würdigung beider Ausprägungen der Reformation. Die innovative Kraft und Eigenart der Schweizer Täuferbewegung werden verdunkelt, wenn sie vorwiegend als eine Restitution der Urgemeinde und Rückkehr zum urchristlichen Ideal verstanden wird. Sobald die Typologie einer zyklischen Erwekkungsbewegung für die Interpretation des Täufertums herangezogen wird, sind Verzeichnungen der hauptreformatorischen Anliegen sowie Vereinfachungen der täuferischen Position unvermeidlich. Die Übertragung von Kategorien der neuzeitlichen Erweckungsbewegung wie Bekehrungspredigt, Evangelisationsveranstaltungen etc. auf die damalige Situation im Zürcher Umland erscheint ebenso problematisch. Die für die neuzeitliche Erweckungsbewegung typischen Organisationsformen wie Missions·, Traktat- und Bibelgesellschaften sowie die spezifischen sozialen Bedingungen des 19. Jahrhunderts weisen keine greifbaren Analogien zur Situation der Zürcher Landgemeinden zu Beginn des 16. Jahrhunderts auf. Die sozialen und organisatorischen Faktoren der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts, die in der neueren Forschung besonders profiliert werden, markieren die entscheidende Differenz zur reformatorischen Zeit. Wenn die Deutekategorie „Erweckung" weiterhin für das frühe Täufertum Anwendung finden soll, muß eine differenzierte inhaltliche Bestimmung des Begriffs vorgenommen werden, die von der letztlich geschichtstheologischen zykli140 Vgl. Punkt 1.2 dieser Untersuchung; vgl. bes. F. H. Litteil, Das Selbstverständnis der Täufer, Kassel 1966, der das Täufertum als „Primitivismus" charakterisiert.

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sehen Sicht Abstand nimmt. Dabei wäre für eine Definition der Erweckung zu plädieren, die sowohl die zyklische als auch die isoliert historische Sicht als einander ausschließende Bestimmungen überwindet. Konstitutiv für eine „erweckliche Bewegung" ist ein religiöses Ursprungserlebnis, das die Beteiligten zu Trägern der ihnen offenbar gewordenen Idee macht, die das Erlebnis als göttliche Offenbarung deuten, in deren Dienst sie nunmehr gerufen sind. Der religiöse Aufbruch, vermittelt durch diese Protagonisten, erfaßt zahlreiche Menschen, so daß eine Massenbewegung entsteht. Dies impliziert, daß eine religiöse Erfahrung kommunizierbar und auf andere Individuen übertragbar sein muß. Konstitutiv ist auch der kontingente Charakter einer Erweckung, die zumindest im Anfangsstadium der Manipulation durch Menschen entbehrt. Emotionale Betroffenheit und der zwanghafte Wunsch nach Zugehörigkeit zur „gottgewirkten" Bewegung gehören ebenso zu den Charakteristika. Typisch ist die Korrelation von Gruppendynamik (einschließlich kollektiver Hysterie) und der je individuellen Nachvollziehbarkeit religiöser Erfahrungen, durch die eine gemeinsame Identität gestiftet und kodifiziert wird. Dem so beschriebenen religiösen Aufbruch entspricht häufig auch eine gleichberechtigte, freiwillige und auf gemeinsame Überzeugungen beruhende Form der Vergesellschaftung. Die gemeinsame religiöse Erfahrung transzendiert die Grenzen des Standes, der Region und der Profession. Diese A r t religiösen Aufbruchs ist nicht auf den christlichen Glauben beschränkt, sondern findet sich auch in anderen Religionen. I m christlichen Kontext ist sie stets auf das Versöhnungswerk Christi bezogen, das mittels des Heiligen Geistes in neuer Intensität nach Verwirklichung im Leben des Individuums in seiner sozialen Kohärenz drängt. Ein neues Verständnis des christologischen Heilsgeschehens führt die Beteiligten zur Revision ihrer Lebensführung und zur Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Nach den bisher untersuchten Quellen läßt sich m. E. die frühe Täuferbewegung in Zürich und Umgebung als genuin religiöser Aufbruch und in diesem Sinne als „Erweckung" begreifen. Die dargestellten Rituale, Motivationen und Aktivitäten der Täufer unterstreichen den Charakter der Bewegung als eines religiösen Aufbruchs. Spontaneität, transzendental begründetes Sendungsbewußtsein, emotionale Hysterie und Massenwirkung treten als weitere Faktoren hinzu. Ohne die Kategorie einer religiösen Erweckung als einer das ganze Leben erfassenden Erneuerungs- und Sammlungsbewegung lassen sich die Ereignisse in Zürich und Umgebung nicht hinreichend interpretieren. Es handelte sich, hierin ist der revisionistischen Täuferforschung recht zu geben, keineswegs um eine „frohgemute Kirchenbildung". Weder die geordnete Wahl von Amtsträgern, das Aufrichten von Gemeinderegeln, geplante und durchorganisierte neue Formen von Gottesdienst noch besonders festgelegte Lokalitäten für die Taufhandlungen werden berichtet. Vielmehr tragen die Begegnungen vornehmlich einen spontanen Charakter. Jeder, der von der neuen Sakramentslehre aufgrund des Schriftstudiums und persönlich erfahre-

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ner „Offenbarung" überzeugt war, verstand sich unmittelbar darauf selbst als Gesandter. Als solcher taufte er, wann und wo auch immer er darum gebeten wurde. Daher waren alle Befragten stets bereit, auf das geäußerte Begehren hin die Taufe zu vollziehen. Die charismatische Begründung ihrer Aktivitäten erwies sich als durchgängiges Motiv in den Verhörprotokollen, während die Eingliederung der neugewonnenen Anhänger in ein - wenn auch provisorisch zu nennendes - geordnetes Gemeindeleben in der Frühzeit nicht thematisch wurde. Das religiöse Vorzeichen der täuferischen Erweckung kann unter Berücksichtigung der Aussagen der Beteiligten nicht geleugnet werden.

8.2.2 Sozialer Protest Die sozialgeschichtliche Forschung widmet den Vorgängen in Zollikon im Gegensatz zur normativen Schulrichtung durchgängig nur eine geringe Aufmerksamkeit. Es ist daher unmöglich, eine ähnlich differenzierte Darstellung der Forschungsergebnisse vorzulegen. U m die Ereignisse, die sich in dem vielfältigen Quellenmaterial belegen lassen, deuten zu können, wird hier ebenfalls auf eine gemeinschaftsstiftende und die Bewegung auslösende Motivation hingewiesen. A m häufigsten findet auch in diesem Fall die stereotyp gebrauchte Kategorie des Antiklerikalismus Verwendung. 141 I m Blick auf die oben analysierten Zeugnisse scheint es jedoch fraglich, ob der Zorn auf die traditionelle kirchliche Hierarchie in ihren Gliederungen, einschließlich der sozialen und wirtschaftlichen Implikationen, ein hinreichendes Interpretament für die Entstehung der ersten Täufergemeinden darstellen könnte. So finden sich in keiner der Protokollaussagen verhafteter Täufer antiklerikale Ressentiments. Selbst die vorab durchaus bezeugte Polemik gegen die Messe und gegen die sie zelebrierenden Amtsträger ist nicht ein einziges Mal Verhandlungsgegenstand in den Verhören. Haß auf den Klerus, die Klage über mangelnde Seelsorge oder andere Gravamina in bezug auf die kirchliche Amtspraxis werden von den Inhaftierten nirgends als Motivhintergrund benannt. Von daher muß man den Antiklerikalismus als unbewußte Triebkraft der Bewegung postulieren, wodurch den faktischen Aussagen der Beteiligten eine mindere Bedeutung zugemessen wird als der hypothetischen Prämisse. Ähnliches gilt für die Einschätzung, daß die Bewegung aufgrund der intentionalen Übereinstimmung zwischen den nach Unabhängigkeit strebenden Bauern und den Täufertheologen ein derat schnelles Wachstum erlebte. Die geschilderten Vorgänge in Zollikon und Umgebung enthalten kaum einen Hinweis auf die sozialen und politischen Ziele bzw. Sehnsüchte der ländlichen Bevölkerung. Der Kampf um die Autonomie der Landgemeinden, der wiederholt als innere Motivation genannt wird, erscheint im Bück auf die bezeugten emotionalen Ausbrüche „alter Weiblein" und „halber Kinder" als 141

Vgl. den Punkt „Ertrag" dieser Untersuchung.

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abstrakte Formel. Den Zeugnissen korrespondiert sehr viel eher ein religiöser Eifer als ein taktisches Vorgehen zugunsten der Mehrheitsverhältnisse in einer dörflichen Gemeinde. 142 Wie läßt sich das Postulat belegen, daß die täuferische Theologie und Reform lediglich ein an sich revolutionäre Motivation der Landbevölkerung camouflierte? In den Quellen finden sich keinerlei Hinweise auf die bäuerlichen Forderungen zur Verbesserung der sozialen Situation in den Landgemeinden. Selbst die für die revisionistische Forschung so eminent wichtige Zehntdebatte wird in den Verhörprotokollen nicht erwähnt. Die Anführer der Bewegung erscheinen in den Aussagen auch nicht als soziale Neuerer oder revolutionäre Protagonisten gesellschaftlicher Reformen. Ein Zusammenklang von täuferischer Theologie und sozialem Protest kann man den Quellen zu den Zolliker Ereignissen nicht entnehmen. 143 Auffällig ist zudem, daß an keiner Stelle das lokale Interesse einer Landgemeinde thematisiert wird. Vielmehr tritt die überregionale Ausrichtung der Beteiligten deutlich hervor. Diesem Befund muß in der sozialhistorischen Perspektive das Postulat entgegengesetzt werden, daß die Zeugen - bewußt oder unbewußt - ihre eigentliche Motivation religiös eingekleidet oder gar verbrämt hätten. In derselben Interpretationslinie steht die psychohistorische Deutung, wonach die religiöse Unruhe als Konsequenz der Frustration durch die repressive Ratspolitik bzw. als Verweigerungs- und Widerstandsgestus gedeutet wird. In sozialhistorischen Interpretationen ist das religiöse Moment immer nur Kaschierung der „eigentlichen" Motive, deren Offenlegung die Aufgabe der Sozialhistoriker sei. Dahinter kann nur die Vorentscheidung des Forschers bzw. der Forscherin stehen, daß die genuinen Triebkräfte geschichtlicher Bewegungen nicht in religiösen Fragestellungen liegen können, da das geschichtliche Movens allein in konfligierenden ökonomischen Interessen des einzelnen und der Gesellschaft zu finden sei. Ein solches Vorverständnis impliziert zugleich, daß der Historiker, aufgrund welcher Autorisierung auch immer, die Beweggründe historischer Personen stets besser versteht, als diese 142

Vgl. Punkt 10 dieser Untersuchung. Vgl. dazu A. Snyder, Zollikon Anabaptism and the Sword, in: MennQR 69,1995, 205-225. In dieser Studie versucht Snyder nachzuweisen, daß sich für die Zürcher Obrigkeit aufgrund der militärischen Vergangenheit der Bewohner Zollikons einschließlich der späteren Täufer der Verdacht eines bewaffneten Konflikts nahelegte. Grundlage seiner Interpretation sind Listen von Kriegsteilnehmern aus Zollikon sowie vereinzelte Zeugenaussagen, die den Täufern aufrührerische Absichten unterstellten. Die Tatsache, daß eine bewaffnete „Eingreiftruppe" vom Rat bestellt wurde, die gegen Zollikon eingesetzt werden sollte, bestätigt seine These, wonach die Täufergemeinde in Zollikon nicht von vornherein pazifistisch eingestellt gewesen sei. Die Konklusionen, die Synder zieht, sind erstaunlich weitreichend, wenn man bedenkt, daß es keinen einzigen Quellenbeleg für den angeblich bewaffneten Widerstand gibt. Auch in den Verhörprotokollen der gefangenen Täufer von Zollikon begegnet man weder dem Vorwurf des „Aufruhrs" noch einer einzigen Aussage, die den gewaltsamen Widerstand befürwortet. 143

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selbst. Die scheinbare Tiefensicht der Forschenden, der hinter den Quellentexten, ja sogar im Gegensatz zum Wortlaut der Quellen das eigentliche Moyens zu ergründen weiß, entzieht sich jeder wissenschaftlichen Verifizierung. 144 Der Ideologieverdacht, der so schonungslos der normativen Forschung vorgehalten wurde, trifft damit gerade die revisionistische Forschung, wenn sie ihr Vorverständnis nicht mehr selbstkritisch reflektiert und jenseits des Wortlauts der Quellen einer programmatischen Prärogative treu bleibt.

8.2.3 Religiöse Bewegung Die Religionssoziologie hat sich in den letzten Jahrzehnten vermehrt dem Phänomen religiöser Bewegungen zugewandt. 145 Im Diskurs mit den Ergebnissen dieser Forschung stellt sich die Frage, ob unter dem Begriff der religiösen Bewegung Erklärungsansätze für die frühe Täuferbewegung, speziell in Zollikon und ihre spätere Entwicklung zu finden sind. Neue religiöse Bewegungen werden dabei zumindest im westlichen Kulturkreis als kontinuierliches Phänomen ausgemacht.146 Dennoch fehlt nach dem Urteil der Forscher bisher eine differenzierte Soziologie religiöser Bewegungen. Als Konstitutiva religiöser Bewegungen werden die Spontaneität, die Infragestellung doktrinärer und sakramentaler Bürokratie und die zunächst antihierarchische Selbstorganisation genannt. 147 Das gemeinschaftsstiftende Erlebnis als Grundlage religiöser Bewegungen wird neben der Bedeutung charismatischer Führergestalten und ihres messianischen Anspruchs als wichtiges Moment der Bewegung aufgeführt. Faber konstatiert, daß gerade das Christentum nicht in der Lage gewesen sei, das „anarchisch-schweifende, antiinstitutionelle" 148 Charisma zu bändigen, das kontinuierlich zu religiösen Aufbrüchen führte. Ausgehend von Troeltschs kategorialer Unterscheidung (Staatskirche, Sekte, Universalkirche) interpretiert W. Stark die Sekte als religiöse Oppositionsbewegung. 149 Als Kennzeichen nennt er die innere demokratische Konstitution, die Gleichberechtigung aller Glieder, die antiintellektuelle Ablehnung 144 Man könnte die Quellenanalyse, die hinter dem buchstäblichen Sinn der Quellen stets einen verborgenen postuliert, durchaus mit der traditionellen allegorischen Schriftauslegung vergleichen. Sie hatte in der Kirchengeschichte ihren Raum und in der Predigtexegese ihre, wenn auch umstrittene Berechtigung. 145 Vgl. E. Barker (Hg.), New Religious Movements: A Perspective for Understanding Society, New York 1982; R. Faber , Art. Bewegung, in: H. Cancik / B. Gladigow / M. Laubscher (Hg.), H R W G 2, Stuttgart u. a. 1990,135 ff. 146 Vgl. Β. R. Wilson , The New Religions: Preliminary Considerations, in: Barker, Religious Movements, 16. 147 Vgl. Faber, Bewegung, 135 ff. 148 Ebd., 138. 149 Vgl. W Stark, Grundriß der Religionssoziologie, Freiburg 1974,36.

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der Gelehrsamkeit, das Fehlen eines Klerus, die Weitabgewandtheit und das Elitebewußtsein der Sektenmitglieder. Als Frühphase der aus einer Bewegung erwachsenden Sektenbildung macht er eine enthusiastische und eschatologisch ausgerichtete Grundbefindlichkeit aus. Dieses Ursprungsstadium wird von eine Phase abgelöst, in der es sich entscheidet ob die Sekte zur Integration in die Gesellschaft fähig ist oder zur „Auswanderung" aus ihr tendiere. 1 5 0 Stark beschreibt eine charakteristische „Daseinsbahn" der Sekte, deren Anfangsstadium durch eine intensive Erlebnisfähigkeit der Mitglieder gekennzeichnet ist, die dem initiatorischen Impuls der religiösen Bewegung entspreche. Z u einem ähnlichen Ergebnis kam bereits die phänomenologisch argumentierende Sicht Menschings im Blick auf typische Stadien der Religion. 151 Das Stadium der Anfangsverbundenheit, das auf einen religiösen Aufbruch zu übertragen wäre, sei durch einen unmittelbaren Glauben charakterisiert. „Ohne vermittelnde Instanzen, ohne Organisation oder Ritus, stehen die Menschen des Anfangsstadiums der Universalreligion mit dem Heiligen in Verbindung." 1 5 2 Die Gemeinde werde zunächst durch das gemeinsame Erleben konstituiert und geeint, bis das Problem der Tradition und des Zusammenhangs von Ursprung und Entwicklung entstehe. Die auf lebendige Glaubenserfahrung, persönliche Berufungs- und Gnadenerlebnisse gegründete Gemeinde suche früher oder später nach der Objektivierbarkeit ihrer Botschaft, womit eine weitere Phase der Religionsbildung eingeleitet werde. Mittels kritischer Rezeption und Differenzierung der Troeltschen Typisierungen versucht auch J. M. Yinger die soziologische Entwicklung von Sekten zu analysieren. Er betrachtet die Entstehung von Sekten als Produkt der Unzufriedenheit von Gruppen und Individuen mit der Kirche, die nicht mehr in der Lage sei, deren speziellen Bedürfnisse zu erfüllen. 153 Als typisches Kennzeichen hält er daher den Kampf gegen die Kompromißbereitschaft der Kirche fest. Er bestätigt die in der Forschung lange Zeit gängige Einschätzung, daß Sekten vorwiegend als religiös verbrämte Protestbewegungen der unteren Schichten gegen die materielle Unterprivilegierung anzusehen seien. Die ökonomische Motivierung des Protests läßt sich s. E. jedoch nicht für alle religiösen Bewegungen nachweisen. 154 Den Bewegungen, die sich aufgrund sozialer Nöte, politischer Ohnmachtserfahrung und Armut entwickelten, setzt er diejenigen entgegen, die als Mittel- und Oberschichtsphänomene anzusehen sind. Allgemein definiert er Sekte als „religious protest against a system ι » Vgl. ebd., 59 ff. 151 Vgl. G. Mensching, Die Religion, Stuttgart 1959,309 ff. ι « Ebd., 309. 1 53 Vgl. J. M. Yinger, The Scientific Study of Religion, London 1970,254. 1 54 Vgl. ebd. Nach seiner Einschätzung werde eher der einsame Mensch zum Sektenmitglied als der hungernde.

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in which attention to the various individual functions of religion has been obscured and made ineffective by the extreme emphasis on social and ecclesiastical order." 1 5 5 Neben der ökonomischen und gesellschaftlichen Unterprivilegierung nennt er die Unfähigkeit der etablierten Kirche, mit persönlichen Erfahrungen der eigenen Unzulänglichkeit, von Schmerzen, Schuld und Orientierungslosigkeit umzugehen. Die Sekte verstehe es dagegen, auf diese fundamentalen religiösen Bedürfnisse zu reagieren. Als Antwort auf die als aporetisch empfundene Kirche entwickele sich die Sekte durch die Betonung des individuellen Glaubens und der Praxis pietatis zu einem Gegenkonzept für Kirche und Gesellschaft. In dieser Entwicklung sei die Tendenz zur Anarchie im Gegensatz zum Autoritarismus der Kirche konstitutiv. In einer zweiten Phase müsse es zur Ausbildung von Strukturen wie Mitgliedschaft und Leiterschaft kommen, damit die Sekte Bestand habe. Yinger konstatiert daher eine diachrone Dialektik zwischen Sekte und Kirche. 1 5 6 Er differenziert diese Kategorien, indem er die „Sekte" und die „etablierte Sekte" von eher kurzlebigen Bewegungen unterscheidet. Sekten hält er für grundsätzlich instabil. In der zweiten Phase bzw. Generation entscheide es sich, ob diese durch die Ausbildung formaler Strukturen - vor allem zur Gewinnung neuer Mitglieder - bestehen bleibe oder sich auflöse. „Professional leaders may emerge, because the intense enthusiasm of the first generation which sustained the lay charakter of the movement tend to decline." 157 Sekten oder Bewegungen entwickelten sich aufgrund der theologischen Intention sowie der Zeitumstände (wie Verfolgung, Migration oder Isolation vom gesellschaftlichen Normenkonsens) entweder zur Denomination oder zur etablierten Sekte. Sekten/Bewegungen, die vor allem die Kompensation persönlicher Schuld- und Angsterfahrungen thematisierten, tendierten eher zur Denomination, als diejenigen Gruppierungen, die soziale Mißstände anprangerten. Verfolgung verfestigt s. E. den sektiererischen Impetus, während kirchliche und staatliche Toleranz die Entwicklung zur Denomination erleichterten. Grundsätzlich seien religiöse Gruppen dynamisch, so daß sie sich in beiden Richtungen entwickeln könnten. Bestimmte Bewegungen hätten gezeigt, daß die Resistenz gegen eine professionelle Leitungsstruktur und Bürokratisierung über mehrere Generationen erhalten werden konnte. Die differenzierten Typisierungsversuche Yingers, die dennoch im Rahmen der Troeltschen Kategorisierung bleiben, sollen hier nicht näher betrachtet werden. Für den derzeitigen Stand unserer Erarbeitung ist entscheidend, daß Yinger generell einer Sekte bzw. religiösen Bewegung ein Transformationspotential konzediert. Er weist religiöse Bewegungen nach, die nicht vorrangig soziale Probleme propagieren, sondern eine als aporetisch empfundene ι 5 5 Ebd., 255. 15 * Vgl. ebd., 256 f. 1 57 Ebd., 267.

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Frömmigkeit, die individuelle Isolation und den Egoismus des einzelnen thematisieren. Radikale religiöse Bewegungen, die sich in direkter Aufnahme des ethischen Programms der Evangelien um konkrete Weltveränderung einsetzten, seien davon zu unterscheiden. Der introvertierten, „pietistischen Sekte", die sich als Gemeinschaft der Gleichgesinnten sukzessiv aus der „Welt" zurückziehe, rechnet er den radikalen Flügel der Reformation zu. Alle Bewegungen müssen s. E. einen Transformationsprozeß durchleben, in dem es sich entscheidet, ob sie überlebten oder untergingen. Diese Beobachtungen, die der bereits an der Troeltschen Kategorisierung geübten Kritik unterliegen, 158 sind für die Beurteilung der Ereignisse in Zollikon dennoch von Bedeutung. Die reügiöse Bewegung der Täufer, die sich ausgehend von einem identitätsstiftenden Ursprungserlebnis aus unterschiedlichen Motiven in Zürich und Umgebung entwickelte, müßte demnach ebenfalls einen Transformationsprozeß durchlaufen haben. Es stellt sich die Frage, ob sich dabei unterschiedliche Entwicklungsphasen aufweisen lassen. Dabei kann nach Ausweis der Quellen die ökonomische Perspektive (Autonomiestreben der Dorfgemeinden) nicht als einzige Begründung hinreichen. Wilson, der eine „reale Soziologie" der religiösen Bewegung anmahnt, faßt einige typische Merkmale zusammen. 159 Religiöse Bewegungen entstünden stets im Kontext bereits etablierter religiöser Traditionen. Sie füllten Defizite, die in der tradierten Religion bzw. religiösen Institution offenkundig seien. Das Proprium der jeweils neuen religiösen Bewegung faßt Wilson unter dem Stichwort eines „sichereren", „kürzeren" und „eindeutigeren" Wegs zur Erlösung zusammen. 160 Sowohl bei Bewegungen, die Erfahrungen rationalisierten, als auch bei solchen, die eine mystische Transzendenz zur Gottheit erstrebten würde eine Vergewisserung der Erlösung eher erreicht als in den traditionellen Formen der Religion. Die religiöse Institutionalisierung, die mit der Ausbildung von Ritualen, Dogmen und Amtshierarchie einhergehe, sei gekennzeichnet von Formalismus und werde sukzessiv mit dem Verlust ihres Bedeutungsgehalts konfrontiert. Religiöse Bewegungen durchbrechen nach Wilson grundsätzlich religiöse Routinen und bieten einen unmittelbaren Zugang zur „Erlösung" an. In ihrer ersten Phase sind sie - hier stimmt er mit Stark und Yinger überein - oft antiklerikal und antihierarchisch ausgerichtet, da sie gegen den etablierten Kodex religiöser Rituale rebellieren, die für den Laien unabdingbare Voraussetzung zur religiösen Partizipation geworden seien. Die elitäre Besetzung religiöser Funktionen durch das Amtspersonal wirke sich auf die Dauer unbefriedigend für den Laien aus. Die Distanz zwischen Klerus und Laien bei gleichzeitiger Notwendigkeit der Heilsvermittlung, führe zu Aggregation von Frustrationserfahrungen. Hinzu kämen typische Vor158 159

Vgl. Punkt 1.1 dieser Untersuchung. Vgl. Wilson, Religions, 17. Vgl. ebd.

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behalte gegenüber etablierten Religionen wie priesterliche Apathie, Indifferenz, spirituelle Laxheit und moralischer Libertinismus. Nach Wilsons These impliziert die Routinisierung und Institutionalisierung der Religion eine voranschreitende Distanzierung der Heilsvergewisserung für die Laien. 1 6 1 Neue religiöse Bewegungen böten dagegen ihren Mitgliedern einen unmittelbaren und zunächst uneingeschränkten Zugang zur Erlösung bzw. dem Heil an. Der spirituellen Elitenbildung werde dadurch entgegenwirkt, daß eine sich freiwillig rekrutierende Öffentlichkeit breiten Zugang zu spirituellen Möglichkeiten erhalte. Das „Priestertum aller Gläubigen" wird gegen den Dualismus von Klerus und Laien der etablierten Religion zum Grundprinzip stilisiert. Die Erfahrung des göttlichen Heils könne in neuen Bewegungen durch einfache Riten bzw. Techniken gesichert werden, wodurch ein unmittelbarer Zugang zur Transzendenz vermittelt werde. Wilson bedient sich zur Begründung dieser Thesen auch psychosozialer Kategorien, indem er postuliert, daß Menschen, die eine religiöse „Rückversicherung" in Krisenzeiten suchen, nur ein geringes Verständnis für dogmatische Systeme und ausgefeilte Rituale aufbrächten, die zwischen ihnen und der angestrebten Kompensation ihrer Kontingenz- bzw. Leidenserfahrung stünden. Religiöse Bewegungen zeichneten sich demnach besonders durch das Angebot eines unmittelbaren Zugangs zum Heil, einen Angriff auf die spirituelle Elite (Klerus), die Anwendungsmöglichkeit für eine breitere Öffentlichkeit, die Einfachheit religiöser Rituale, geistliche Mobilität sowie eine direkte Paßfähigkeit auf die existentiellen Bedürfnisse des Einzelnen aus. „The anti-elitism and the open accessibility of new religious movements is often accompanied, when movements are in their pristine state, by at least an element of the ecstatic, whether or not that is a feature of the religious tradition within which, and against which they arise. New religions tend to set spontaneity, immediacy, and sincerity over against the cultivated and measured responses of convential religion." 162

Neue religiöse Bewegungen seien durch die Forderung nach radikaler Gefolgschaft eher dazu in der Lage, Enthusiasmus zu mobilisieren als die konventionelle Religion. „Just as the new religions are life-enhancing, so they explicitly enhance emotional responses." 163 Wie auch Yinger geht Wilson in diesem Zusammenhang auf den notwendigen Transformationsprozeß religiöser Bewegungen ein. Die Perseveranz des Enthusiasmus der ersten Phase werde in der Folgezeit zu einem Hauptproblem der Bewegung, die zur Systemerhaltung schließlich den Weg der Routinisierung beschreiten müsse. „The phenomenon of routinization is well-understood. It begins as a initial following, is converted into a stable membership engaging in regular devotions, making regular subscriptions, accepting specific obligations, giving public acknowledgement ι « Vgl. ebd., 19. Ebd., 21. 163 Ebd. 162

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to specific teachings, and obeying specific social, moral, and administrative stipulations. Movements must balance the ecstatic (in however dilute a form it is permitted to persist), since it marks the mobilization of emotional commitment, with the imperative of orderly, systematic, organized, and sustained patterns of behaviour by which alone a new movement is assured of stability, unity, continuity and growth." 164

Nach Wilson können Bewegungen, die den Weg der Routinisierung nicht beschritten und keine Sensibilität für „boundary maintenance" entwickelten, sich nicht etablieren. Durchaus selbstkritisch merkt Wilson an, daß seine Charakterisierung neuer religiöser Bewegungen nicht zur Formulierung eines Idealtypus' ausreiche, da die Pluralität aller religiösen Bewegungen in diesem Schema nicht hinreichend erfaßt werden könne. Allgemein läßt sich s. E. jedoch festhalten, daß religiöse Bewegungen auf die Aporien der traditionellen Religion im Kontext des jeweiligen gesellschaftlichen Systems antworteten. Diese Bewegungen erfüllen dabei jedoch in unterschiedlichen kulturellen und historischen Gegebenheiten nicht dieselbe Funktion. So könnten sie einerseits vermittelnd zwischen der Gesellschaft und den einzelnen Individuen wirken und somit systemerhaltend funktionieren. Rekrutieren sie sich jedoch aus isolierten und einsamen Menschen, so wird eine solche Bewegung eher eine metaphysische Systemkritik generieren, als eine gesellschaftlich strukturelle Stabilisierung bewirken. Wilson zieht auch die Möglichkeit in Betracht, daß religiöse Bewegungen nicht nur auf spezielle Bedürfnisse antworten, sondern solche auch erst wecken könnten. 165 Funktionalistische Interpretationsversuche können nach Wilson die Diversität der verschiedenen Bewegungen innerhalb eines Kulturraums nicht erklären. Unter den Bedingungen moderner Gesellschaften entstünden religiöse Bewegungen in großer Zahl, deren pluriforme Lehren, intrinsische Orientierungen und Praktiken nicht allein durch soziale Determinierung geklärt werden könnten. Wilsons Überlegungen verdanken sich seinen Beobachtungen religiöser Entwicklungen innerhalb moderner Gesellschaften, auch wenn er ζ. T. ältere Analogien in seine Studie einbezieht. Der Fokus seiner Untersuchung richtet sich auf den religiösen Pluralismus des 20. Jahrhundert. Die Schwierigkeiten beginnen dort, wo seine Ergebnisse auf die Reformationszeit übertragen werden. Dennoch enthalten seine Ausführungen im Zusammenhang mit den anderen religionssoziologischen Studien (Yinger, Faber, Stark) zu religiösen Bewegungen m. E. vielfältige Ansatzpunkte, die wichtige analogische Perspektiven zur frühen Täuferbewegung bieten. Die von ihm genannten Charakteristika religiöser Bewegungen, wie unmittelbarer Zugang zur Heilsgewißheit, antiklerikale und -hierarchische Ausrichtung lassen sich ohne Zweifel auf das frühe Täufertum übertragen. Die Gleichberechtigung der Glaubenden, die Vereinfachung der Riten aufgrund i " Ebd. 165 Vgl. ebd., 25.

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des Schriftstudiums und die spirituelle Erlebnisfrömmigkeit wurden als täuferische Charakteristika identifiziert. Die Täuferbewegung könnte als Antwort auf die spirituellen Bedürfnisse der Bevölkerung verstanden werden, zumal sie die Distanz zwischen Klerus und Laien infolge des Priestertums aller Gläubigen konsequent zu überwinden suchte. Heilsgewißheit wurde durch die Taufe ebenso allgemein zugänglich, wie das Erlebnis unmittelbarer Gottesbegegnungen in den emotional aufgeladenen Versammlungen. Dazu bot die täuferische Bewegung vielfältige Möglichkeiten, selbst aktiv und gestaltend im religiösen Geschehen mitzuwirken. Die oben analysierten Zeugnisse reflektieren das intensive spirituelle Erleben in der Anfangsphase der Bewegung. Die Frage, ob die Täuferbewegung sich relativ früh auf den Weg der Routinisierung begeben hat, ist noch zu klären. Die Ausbildung des Amtes, der Gemeindeordnung samt restriktiver Gemeindezuchtpraxis und der normativen Lehre wären dann als Früchte der Routinisierung, Bürokratisierung und Abgrenzung zu verstehen, die jede religiöse Bewegung nach Wilson (u. a.) entwickeln muß, um ihre Konsistenz und Kohärenz zu sichern. Daß diese Transformation durch äußere Umstände wie v. a. die Verfolgung beeinflußt wurde, steht außer Frage. Damit eröffnet die religionssoziologische Untersuchung zu den neuen religiösen Bewegungen einen weiteren Deutehorizont als die bisherige sozialgeschichtliche Theorie. Während dort das zweiphasige Bild der Täuferbewegung mit sozialen Prozessen begründet wurde, an die sich die Ideologie der Täufer akkomodiert hätte, werden von Religionssoziologen weitere Funktionen religiöser Bewegungen genannt. Das Täufertum entsprach in Lehre und Praxis demnach nicht ausschließlich oder in erster Linie dem ökonomischen und politischen Bestrebungen der Zürcher Landbevölkerung, sondern antwortete auf deren religiöse und existentielle Bedürfnisse, die durch die traditionelle kirchliche Organisation aporetisch geblieben waren. Wilson und andere funktionalistische Religionssoziologen weiten den Blick für menschliche Nöte, die nicht auf ökonomische Hegemonialbestrebungen zurückgingen, sondern die Kontingenzerfahrung, Schuld, Leid und die Transzendierung der Alltagswelt einschließen. I n diesem Sinne kann das frühe Täufertum als religiöse Bewegung zugleich im Sinne eines enthusiastischen religiösen Aufbruchs angesehen werden, der einer breiten Öffentlichkeit unmittelbaren Zugang zum Heil versprach und dessen Protagonisten aufgrund der reformatorischen Predigt die Gleichberechtigung aller Gläubigen zu verwirklichen suchten. Diese frühe Phase der Bewegung, in der die Etablierung einer geistlichen Führung und gemeindlicher Ordnungen noch von geringer Relevanz waren, geriet, forciert durch die historischen Ereignisse, auf den Weg der Routinisierung. In Folge dieser Transformation könnte sich analog zu den theologischen Konstitutiva der frühen Bewegung das sogenannte „sektiererische" Täufertum der Schweizer Brüder entwickelt haben. Diese These kann jedoch erst durch den Fortgang der Untersuchung verifi-

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ziert oder zumindest plausibilisiert werden. Festzuhalten bleibt, daß die Quellen der Zolliker Ereignisse eher die Annahme eines enthusiastischen religiösen Aufbruchs bestätigen - womit auch Blankes These von der „Erweckung" ihr bleibendes Recht erhält, als ein religiös eingekleideter sozialrevolutionärer Protest.

8.2.4 Charismatische Bewegung In einem Aufsatz kommt R. Davies zu dem Ergebnis, daß man das Täufertum des 16. Jahrhunderts übergreifend als eine charismatische Bewegung bezeichnen könne. 166 Mit dieser Definition versucht er alle Täufergruppierungen zusammenzufassen, wobei er jedoch die „evangelical Anabaptists" konsequent von den enthusiastischen Kreisen um Hut, Müntzer und Hoffmann unterscheidet. Als Hauptargument für seine Klassifizierung nennt Davies die geistgewirkte Autorisierung und Berufung der Laien zum Predigtamt, die von allen Täufern gleichermaßen postuliert würde. 167 Die durch die Geschichte hindurch bis in die Gegenwart behauptete Kontinuität der neutestamentlichen Geistesgaben sucht er auch für die s. E. moderaten charismatischen Täufergruppen wie die Schweizer Brüder, den Marpeck-Kreis und die Täufer um Obbe Philipps nachzuweisen.168 Die stellenweise undifferenzierte Analyse seines Aufsatzes, der noch dazu auf einer relativ schwachen Quellenbasis beruht, will die vorhandenen Deutekategorien um das charismatische Element im Täufertum erweitern. War die normative Schulrichtung aufgrund der vorangegangenen Täuferforschung ängstlich darum bemüht, jedes enthusiastische bzw. sogenannte spiritualistische Element aus dem Täuferbild zu eliminieren, gelingt es Davies auf pneumatologische Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen. Er bezieht jedoch sein Vergleichsmaterial nur aus wahllos und unsystematisch zitierten Äußerungen der theologischen Führerpersönlichkeiten aller Täufergruppierungen. Die Vorgänge in Zürich und Zollikon stehen daher keineswegs im Zentrum seiner Untersuchung. Davies wird mit der Charakterisierung des gesamten Täufertums als einer „charismatischen Bewegung" den divergierenden theologischen Konzeptionen dieser pluriformen Strömung nicht gerecht. Ferner übernimmt er trotz des Versuchs, einen neuen Ansatz zu profilieren, das normative Schema, indem er die „main-line"-Täufer und damit letztlich das traditionelle Täuferbild streng von den übrigen „häretischen" Gruppierungen abhebt. Dennoch scheint es im Blick auf die Vorgänge in Zollikon

166 Vgl. R. Davies, Anabaptism as a Charismatic Movement, MennQR 53, 1979, 219-234, vgl. bes. 233. 167 Vgl. ebd., 222. 1 68 Vgl. ebd., 225 ff.

8.2 Interpretation der Entwicklung in Zollikon

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sinnvoll zu sein, die Bezeichnung „charismatische Bewegung" auf ihr Deutungspotential hin zu untersuchen. Die in den Zeugenaussagen geschilderten Phänomene in den Versammlungen der Täufer wie öffentliche Bußbekenntnisse, religiöse Erlebnisse und emotionale Ausbrüche, vor allem aber die selbstverständliche Amtsausübung und Predigt durch Laien kommen den oben genannten Charakteristika charismatischer Bewegungen sehr nahe. Es fällt jedoch auf, daß, bis auf eine Ausnahme, 169 keiner der befragten Täufer sich auf die Autorität des Heiligen Geistes, auf Visionen, Sonderoffenbarungen o.ä. beruft, die für charismatische Bewegungen der Neuzeit als typisch zu gelten haben. Die Weisungen zur Taufe, zur Predigt und zur Umkehr führten die Inhaftierten auf die direkte Einwirkung Gottes oder der Bibel zurück, für die sie nach eigenem Bekunden auch fernerhin offen sein wollen, ohne daß das Mittleramt des Heiligen Geistes erwähnt wird. Es findet sich in dieser Frühzeit kein Hinweis darauf, daß die Schweizer Täufer ihre Sendung durch die von Gott verliehenen Charismen nach I K o r 12-14 oder analoge neutestamentliche Textstellen begründeten. Die Charismenlehre spielte keine erkennbare Rolle für ihre theologische Argumentation. Die Betroffenen verwiesen vielmehr ausschließlich auf die unmittelbare Berufung durch Gott, was eher dem Sendungsbewußtsein der alttestamentlichen Propheten entsprach. Der prophetische Auftrag spiegelt sich, wie oben dargelegt, sowohl in den Predigtunterbrechungen mit den begleitenden Zeichenhandlungen als auch in der endzeitlichen Prozession der Zolliker Täufer nach Zürich wieder (s. u.). Die Bezeichnung „charismatische Bewegung" vermag das genuin religiöse Motiv und die begleitenden religiösen Erfahrungen der entstehenden Bewegung in Zürich und Zollikon nur partiell zu erhellen. Da jede unmittelbare Berufung auf den Heiligen Geist in den Quellen fehlt, sollte diese Charakterisierung mit Vorsicht verwandt werden.

8.2.5 Zusammenfassende Wertung H. W. Wolff urteilte im Blick auf den Versuch, die alttestamentliche Prophétie rein anthropologisch zu deuten, mit der provokanten These: „Die theologische Kategorie ist wissenschaftlich unverzichtbar." 170 Auch in der Deutung des frühen Schweizer Täufertums ist m. E. die „theologische Kategorie" unverzichtbar. Die frühen Täufer waren durch ihre mittels Schriftstudium erkannte Wahrheit bewegt, die sie selbst als Offenbarung Gottes deuteten. Diese trieb sie nach eigenen Aussagen zur Umsetzung einer radikalen

169

Gemeint ist Gabriel Giger, vgl. QGTS I, Nr. 41,49. Giger lief, eigenen Angaben zufolge, vom Heiligen Geist getrieben zum Haus von Felix Mantz. 170 H. W Wolff, ; Prophetische Alternativen, München 1982,13.

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Sakramentsreform und formte ihre missionarische Existenz. Durch ihre Predigt überzeugten sie viele Zeitgenossen, wobei die psychosozialen Faktoren der durch die Reformation bereits veränderten bäuerlichen Bevölkerung nicht geleugnet, sondern als verstärkendes Element berücksichtigt werden müssen. Ohne die Kategorie des religiösen Erlebnisses bzw. der im Glauben existentiell betreffenden Wahrheit lassen sich die Ereignisse in Zürich und Zollikon, wie sie von den Quellen berichtet werden, nicht erklären. Das frühe Täufertum muß als eine religiöse Bewegung verstanden werden, die zunächst eine große Anzahl von Menschen umfaßte. Der ζ. T. eruptive und spontane Charakter dieser Bewegung ist auch gegenüber der idealisierten Betrachtungsweise der normativen Forschung festzuhalten, nach deren Ansicht die ersten Täufer den Plan einer Freikirche konsequent in die Tat umgesetzt hätten. Eine geregelte Gemeindegründung im Sinne des freikirchlichen Ideals läßt sich aus den frühen Zeugnissen darum nicht entnehmen. Die Vorgänge in Zürich und Zollikon gleichen eher dem Bild eines spontanen religiösen Aufbruchs, der die zuvor in den Lesekreisen ausgebildete Lehre, ausgelöst durch ein religiöses Ursprungserlebnis in Zürich und verstärkt durch die motivierende Kraft charismatischer Erfahrungen, in die Praxis umsetzte. Diesem tatsächlich „stürmischen" Anfang korrespondierte keine sektiererische Absonderung. Vielmehr zeigte sich durch den religiösen Eifer gesteigert eine Hinwendung zur Öffentlichkeit und eine hohe missionarische Motivation, die möglichst viele Menschen aller Stände und Lokalitäten erreichen wollte. Die Konzeption der „kleinen Herde", die sich von der Welt absondert, war dieser euphorischen Frühphase fremd. Das religiöse Ursprungserlebnis in Verbindung mit dem bereits dargelegten theologischen Programm galt nicht als esoterisches Wissen weniger Auserwählter, sondern wurde offensichtlich als stimulierendes Angebot an die land- und stadtzürcher Öffentlichkeit verstanden. In diesem Sinne entsprach die evangelistische Aktivität der frühen Täufer der frühchristlichen Missionsarbeit. Allerdings war m. E. der mit dem religiösen Aufbruch verbundenen Sakramentsreform und ihren ekklesiologischen Konsequenzen ein separatistischer Zug inhärent. Wer sich der Bewegung anschloß, an den Mahlfeiern teilnahm und die Gläubigentaufe an sich vollziehen ließ, trennte sich von der traditionellen Kirche und trat in eine neue Gemeinschaft ein. Diese separatistische Tendenz verstärkte sich parallel zur theologischen Ausgestaltung des ekklesiologischen Modells des Schweizer Täufertums in der Folgezeit sukzessive. Von daher ist die Einführung der Gläubigentaufe und der freien Mahlfeier als ein separatistischer A k t zu sehen, der die Teilnehmenden eindeutig von der Zwinglischen Reformation trennte. Die Konsequenz der Minderheitskirche, die sich bereits im Müntzerbrief andeutete, vollzog sich jedoch nicht programmatisch, sondern war das Resultat reaktiver historischer Entwicklungen. Die in Verbindung mit der Erfahrung der Lesekreise entwickelte

8.2 Interpretation der Entwicklung in Zollikon

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Lehre der Täufer verfestigte die Latenz zum Separatismus, ohne die Implikation einer abgesonderten Minderheitskirche. 171 Die vollzogene Trennung von der Zwinglischen Reformation bewirkte keineswegs die sofortige Selbstbescheidung auf eine weitabgewandte Sekte. Vielmehr löste die charismatische Initiation der Gläubigentaufe einen religiösen Aufbruch aus, in dessen Verlauf möglichst viele Anhänger durch den Einsatz missionarischer Energien gewonnen werden sollten. Das entsprechend stark ausgeprägte Sendungsbewußtsein der „Erweckten" zeigt sich auch in der bereits wiederholt untersuchten Predigtstörung Blaurocks in Zollikon. 1 7 2 Blaurock trat in der A r t eines alttestamentlichen Propheten auf, der unter Berufung auf seine göttliche Bevollmächtigung den ordnungsgemäß installierten Prediger zum Schweigen bringen wollte. Seine Zeichenhandlung, die der „Tempelreinigung" durch Jesus nachempfunden war, kann eher als enthusiastisches Element einer gesteigerten religiösen Erregung innerhalb der Bewegung verstanden werden, denn als ein taktisches Manöver zur Gewinnung der Mehrheit der Dorfgemeinschaft. Zurecht kritisiert Nienkirchen die u. a. von Stayer und Haas postulierte Einheit von separatistischer Ekklesiologie und Minderheitenstatus der Kirche. Separatistisch ist eine spezifische Ekklesiologie nicht erst dann, wenn sich nur eine Minderheit zu ihren Grundsätzen bekennt, sondern bereits in der inhaltlichen Ausbildung ihrer Sakramentspraxis und Verfaßtheit. Die Konstitutiva wie Glaubensbekenntnis und öffentliche Willenskundgebung zur Besserung des Lebens sowie die Sakramentspraxis der frühen Täufer, die auch in den stürmischen Ereignissen von Zollikon nachzuweisen sind, hatten einen separatistischen Charakter, da ihre Anhänger die Lehrbefugnis, die Sakramentsverwaltung, sowie die kirchliche Organisation usurpierten und den kirchlichen und obrigkeitlichen Institutionen aus der Hand nahmen. Die Bildung der „wahren Kirche", wie sie im Müntzerbrief in Ansätzen sichtbar wurde, realisierte sich nach und nach durch die mit großem missionarischen Eifer gesammelte Gemeinschaft der Gläubigen. Der Impuls, möglichst viele Zeitgenossen von der erkannten Wahrheit zu überzeugen, überwog zunächst sogar das Anliegen, geordnete Gemeinden zu gründen. Ein anderer hinreichender Grund für die akephale Struktur der frühen Bewegung, in der auf ein entsprechendes Begehren hin jeder Gläubige predigen und taufen konnte, läßt sich m. E. nicht eruieren. Trotz der organisatorisch wenig ausgereiften Gemeindestruktur lassen sich bereits relativ früh erste kybernetische Maßnahmen nachweisen, die eine auf die Sichtbarkeit der Kirche Jesu Christi ausgerichtete separatistische Ekklesiologie bestäti171

Ähnlich urteilt Nienkirchen über die Ergebnisse von Stayer und Haas, vgl. Nienkirchen, Reviewing, 234. 172 Vgl. QGTS I, Nr. 29, 39; Haas, Absonderung, 63 f. Vgl. auch Punkt 10.2 dieser Untersuchung.

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gen. So berichtet Bichter über die Täufer in Zollikon, daß diejenigen, die „das Gebot" - gemeint sind wohl ethische Anweisungen der Bibel - nach ihrer Taufe übertreten hätten, ausgeschlossen worden seien. 173 Jakob Hottinger habe darüber hinaus jedem den Bann angedroht, der nach der Taufe wiederum sündige. 174 Diese Praxis realisierte den im Müntzerbrief festgestellten ethischen Rigorismus und die starke Betonung der Gemeindezucht in der Gemeindelehre. Als historisch verzerrend wirkt sich m. E. die durch die revisionistische Forschung aufgestellte Gleichung aus, wonach alle Bemühungen der Täufer, die auf die Gewinnung von „Mehrheiten" bzw. großer Teile der Bevölkerung gerichtet waren, als „volkskirchliches" oder antisektiererisches Modell betrachtet und gegen die theologische Konzeption des Müntzerbriefes ausgespielt werden. Das in Ansätzen entwickelte ekklesiologische Programm sowie die radikale Sakramentsreform waren nach dem vorliegenden Quellenmaterial eben nicht von vornherein an der Vorstellung einer „Minderheitskirche" orientiert. Die vom corpus permixtum der Zürcher Kirche getrennte Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen war vielmehr aufgrund ihres missionarischen Bewußtsein und der tief empfundenen göttlichen Legitimation auf größtmögliche Ausweitung angelegt. Auch die später im angelsächsischen Raum ausgebildete und dezidiert freikirchliche Ekklesiologie führte unter günstigen politischen Bedingungen zu Kirchengründungen, die die Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen suchte, ohne dabei die theologischen Konstitutitva verändern zu wollen. In der auf die Sichtbarkeit der Kirche konzentrierten Lehrauffassung des frühen Täufertums und der diesem Verständnis korrespondierenden Umgestaltung der Sakramentspraxis lag die Wurzel des Separatismus. Die wahre Kirche sollte durchgesetzt werden, sei es durch die Gewinnung der öffentlichen Mehrheit oder durch eine schließlich leidende Minderheit der Gläubigen. Für den Fortgang der Untersuchung ist von entscheidender Bedeutimg, daß das frühe Schweizer Täufertum in Folge der ersten Gläubigentaufe und der durch sie ausgelösten Ereignisse in Zollikon fernerhin als religiöse Bewegung verstanden wird. Die enthusiastische und missionarische Bewegung basierte auf dem in den Lesekreisen herausgebildeten Kirchen- und Sakramentsverständnis, wie bereits dargelegt wurde.

173

Vgl. QGTS I, Nr. 56,65. 1 74 Vgl. ebd., Nr. 58,66.

9 Die zweite Täuferdisputation (März 1525) Die Dauer, der Teilnehmerkreis, der Verlauf sowie die Beurteilung der sogenannten zweiten Täuferdisputation sind in der Forschung umstritten. 1 Die Ausschreibung der Disputation für den 20. März 1525 auf Beschluß des Rates erwähnt auf täuferischer Seite nur Mantz und Blaurock, die sich in Haft befanden. 2 Sie sollten einzeln vor einem umfangreichen Disputationskollegium erscheinen und ihre Lehre öffentlich verantworten. Zur selben Zeit fanden jedoch auch Gespräche mit den erneut inhaftierten Täufern aus Zollikon statt, deren Prozeß erst am 25. März 1525 mit ihrer Entlassung und in den meisten Fällen mit Widerruf endete.3 Krajewski, der die widersprüchlichen Angaben Bullingers und Zwingiis analysiert, geht von der These aus, daß die zweite Disputation eher als Täuferprozeß mit verschiedenen Verhandlungspartnern und -lokalitäten denn als Lehrgespräch anzusehen sei.4 Die Anhörung von Blaurock und Mantz, die durch die Ausschreibung vom 18. März 1525 belegt ist, bildete demnach nur den Auftakt einer längeren Folge von Gesprächen und Verhören. Für die Interpretation der frühen Täuferbewegung sind die Ergebnisse und Aussagen der zweiten Disputation von größter Wichtigkeit, da sie die täuferische Deutung der Ereignisse in Zollikon sowie den Stand der Entwicklung genuin täuferischer Theologie widerspiegelten. Vor allem die Frage, ob die Praxis der Gläubigentaufe und das selbstverwaltete Abendmahl eine spezifisch täuferische Ekklesiologie konturierte, wäre forschungsgeschichtlich von großem Interesse. Über die Vorgänge liegt nur wenig Aktenmaterial vor, so daß man vor allem auf die Wiedergabe Zwingiis angewiesen ist. I n seinem Taufbuch vom Mai 1525 reflektiert er neben den Auseinandersetzungen seit dem Herbst 1524 auch das „letzte Gespräch" 5 , womit ohne Zweifel die zweite Disputation gemeint ist. Zurecht wird jedoch der historische Quellenwert von Zwingiis Taufbuch aufgrund seiner massiven inhärenten Polemiken von der normativen Täuferforschung vehement in Frage gestellt. Krajewski hält die „wenigen Bemerkungen" für ungeeignet, um Folgerungen daraus über den

1 Vgl. Krajewski, Mantz, 89 ff.; Blanke, Brüder, 67; Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 47. 2 Vgl. QGTS I, Nr. 62,70. 3 Vgl. ebd., Nr. 65,74. 4 Vgl. Krajewski, Mantz, 93,96. 5 Vgl. Ζ IV, 230: „in dem gespräch, das ein ersamer radt zum letzten inen gehebt hat".

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9 Die zweite Täuferdisputation

tatsächlichen Gesprächsverlauf abzuleiten.6 Yoder bewertet den Versuch, die Hinweise Zwingiis auf die einzelnen Gespräche zu beziehen und sie damit zu rekonstruieren, für nicht nützlich und gleichzeitig für undurchführbar. 7 Dennoch enthält Yoders Darstellung eine Auflistung der umfangreichen Anspielungen auf die Position der Täufer zu den verschiedenen Topoi der Tauflehre. 8 Weitere Autoren warnen ebenfalls davor, die Zwinglische Sicht zur Entstehung des Täufertums unkritisch zu übernehmen. 9 Zweifellos war Zwingli in der Auseinandersetzung mit dem Täufertum alles andere als ein objektiver Berichterstatter und verfolgte auch mit seinem Taufbuch viel eher die Absicht, die Täufer als Unruhestifter und Sektierer zu brandmarken. 10 Das Taufbuch ist, wie bereits angedeutet, eine polemische Schrift und enthält eine Fülle zorniger Ausbrüche gegen die einstigen Weggefährten des Reformators, die nach seiner Meinung jetzt - aufgrund von Streitigkeiten um äußere Dinge - die Einheit der Reformbewegung gefährdeten. Gleichzeitig enthält diese Kampfschrift Passagen, die die Atmosphäre sowie die inhaltliche und sprachliche Ausgestaltung der Gespräche so lebendig werden lassen, daß sich darin eine gewisse Authentizität nahelegt. Theologische Thesen des Reformators, die Widerrede der Täufer und weitere, von Zwingli festgehaltene Einwürfe durch Myconius und Jud vermitteln ein anschauliches Bild über die Auseinandersetzungen, das m. E. nicht übergangen werden darf. Wie alle historischen Quellen muß freilich auch das Taufbuch Zwingiis kritisch gelesen werden. Unter der Prämisse, daß das Taufbuch eine polemische Schrift zur Widerlegung der täuferischen Lehre darstellt, soll im folgenden versucht werden, die Äußerungen der Täufer in Korrelation zu den bereits analysierten Zeugnissen und theologischen Schriften zu untersuchen.

9.1 Zwingiis Taufbuch Auf eine vollständige Darlegung der im Taufbuch beschriebenen Tauflehre Zwingiis kann insofern hier verzichtet werden, da die Konstitutiva seiner Taufauffassung bereits an geeigneter Stelle reflektiert wurden. 11 Vielmehr geht es um die Fragen, welche charakteristischen Topoi täuferischer Lehre von Zwingli aufgenommen wurden, die bereits durch frühere Zeugnisse bekannt sind, und ob neue Gesichtspunkte, die aus der historischen Entwicklung 6

Vgl. Krajewski, Mantz, 96. Vgl. Yoder, Täufertum und Reformation in der Schweiz, 54 f. 8 Vgl. ebd., 55, Anm. 2. 9 Vgl. Fugel, Tauflehre, 272 (Fugel verweist dabei auf Muralt und Blanke). Vgl. ebd. 11 Das ist bereits in der Analyse der Protestation umfangreich geschehen. Vgl. Punkt 6.2 dieser Untersuchung. 7

9.1 Zwingiis Taufbuch

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nach der ersten Gläubigentaufe resultierten, in seinen Darlegungen feststellbar sind. Ein Vergleich mit der bereits eruierten täuferischen Taufauffassung scheint daher sinnvoll zu sein. In Zwingiis Taufschrift begegnen, ζ. T. mehrfach, viele der in der Protestation, dem Müntzerbrief und den wiedergegebenen Diskussionen des Jahres 1524 erwähnten tauftheologischen Themen und Positionen. Ausführlich nimmt Zwingli zum überaus wirksamen Argument der Täuferbewegung Stellung, mit dem Mantz seine Schutzschrift einleitete, wonach die Kindertaufe ihren Ursprung im Papsttum habe. 12 Die zentralen Bibelstellen der täuferischen Lehre zum Zusammenhang von Glaube und Taufe - M t 28 und M k 16 - werden ebenfalls wiederholt reflektiert. 13 Breiten Raum nimmt die Auseinandersetzung um die von den Täufern vertretene Korrelation von persönlicher Willensentscheidung zur Besserung des Lebens, Taufvollzug und Kirchenzucht ein, die innerhalb des Taufbuchs als Beweis für die Separationstendenzen des Täufertums gewertet wird. 1 4 Zwingli bezieht sich wiederholt, auch anhand von wiedergegebenen Diskussionsbeiträgen, auf das Schriftprinzip der Täufer, wonach das als verboten anzusehen sei, was nicht in einem klaren Schriftbeweis geboten ist. 15 Der Vorwurf eines formalistischen Schriftprinzips, das auf den Literalsinn und die vorgegebenen Satzkonstruktionen fixiert sei, durchzieht den gesamten Text des Taufbuches. Zwingli setzt sich mit den Hauptargumenten der Täufer auseinander und präzisiert gleichzeitig seine Tauflehre. Dabei läßt er sich trotz aller Polemik gegen den täuferischen „Biblizismus" häufig auf den hermeneutischen Ansatz seiner Gegner ein und versucht, sie in der akribischen Ausdeutung des buchstäblichen Schriftsinns zu übertreffen. Er läßt dabei keine Gelegenheit aus, mit Hinweisen auf die Unterlegenheit seiner Gesprächspartner die eigene Position zu profilieren. Seine Polemik verbindet sich mit dem Ehrgeiz, die theologischen Gegner mit scharfsinniger Exegese zu überwinden. So führt er einen Text aus Apg 10 an, den Mantz in seiner Protestation zum Beweis für die schriftgemäße Reihenfolge von Predigt, Annahme des Wortes und Taufe verwendet hatte, um die Unmöglichkeit zu belegen, daß Kindern, die doch Gott gehörten, die Taufe verweigert wird. 1 6 Es ist, bis auf einige Ausnahmen, nicht genau zu bestimmen, wer die Kontrahenten im einzelnen waren, mit denen sich Zwingli auseinandersetzte. Die theologischen Positionen von Mantz treten jedoch deutlich in den Vordergrund. Gleichzeitig werden die Rechtfertigungsversuche Blaurocks und seine

* 2 Vgl. Ζ I V , 229,278 ff., 318 ff. 13 Vgl. ebd., 211,258,293,315 f. 14 Vgl. ebd., 206 ff., 229 f., 245 f., 253 ff. 15 Vgl. ebd., 211,257,283,296 f., 302. 16 Vgl. ebd., 325.

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9 Die zweite Täuferdisputation

Anklagen gegen Zwingli transparent. 17 Der Reformator schreibt jedoch nur pauschal und anonym von „Taufleugnern" oder „Wiedertäufern". Die Verhöre der inhaftierten Täufer aus Zollikon sind m. E. ebenso in die Darstellung eingeflossen. Zumeist spürt man die auf hohem theologischen Niveau geführte engagierte Diskussion (wahrscheinlich mit Mantz), daneben werden aber auch naive Argumente, ζ. T. vorgeschobene Ausflüchte und für die Täufer beschämende Situationen berichtet (s. u.). Zwingli attestiert seinen Gegnern zum einen, daß sie schriftgelehrter seien als ein Rabbi, 18 zum anderen wirft er ihnen vor, daß sie nicht mit der Schrift umgehen könnten und ihre Weisheit aus sekundären Quellen, wie Traktaten, bezögen.19 Die Vielfalt der Begabungen und Kompetenzen in theologischen Fragen, die aus dem Taufbuch hervortreten, läßt sich am besten aus den unterschiedlichen Szenarien der Verhöre und Berichte erklären. Aber auch unrichtige Verdächtigungen mischen sich in den von Zwingli wiedergegebenen leidenschaftlichen Diskurs. Zwingli unterstellt den Täufern, daß sie zu Beginn der Auseinandersetzung von der Verdammnis der ungetauften Kinder ausgegangen wären, während sie erst in den letzten Gesprächen diese Annahme leugneten. 20 Mit diesem Hinweis apellierte er an die Gefühle seiner Leser, indem er den Stand der ungetauften Kinder als härter und „erger" bezeichnet als unter dem alten Bund. 21 Die o. g. Analyse des Müntzerbriefes belegte jedoch, daß die Täufer an der Seligkeit der Kinder aufgrund der kompensatorischen Kraft des Sühnewerkes Jesu Christi festhielten. 22 Unter Aufnahme der Zwinglischen Modifikation der Erbsündenlehre behaupteten die Täufer, daß der grundsätzlichen Unfähigkeit der Kinder zu glauben gleichzeitig eine Unfähigkeit zum schuldhaften Sündigen korrespondiere. Im Taufbuch treten neben allen bereits referierten Teilaspekten der Auseinandersetzung um die Zwinglische Taufanschauung im Gespräch mit den Täufern - wie das Verhältnis von Beschneidung und Taufe, Bedeutung der Johannestaufe, vierfacher Wortsinn des Begriffs „Taufe" im Neuen Testament sowie das Verhältnis beider Testamente zueinander - drei Hauptvorwürfe gegen die Täufer hervor. Sie werden des legalistischen Schriftgebrauchs beschuldigt und des Sakramentalismus' verdächtigt. Ferner unterstellte ihnen der Reformator schismatische Absichten. In diesen drei zentralen theologischen Anklagepunkten findet sich auch das einzige Material, das über die bereits aufgegriffenen täuferischen Argumentationen hinausweist. 17 18

w 20 21 22

Vgl. ebd., 286 ff. Vgl. Ζ I V , 325. Vgl. ebd., 305. Vgl. ebd., 315 f. Vgl. ebd., 315 ff. Vgl. Punkt 5.2.8 dieser Untersuchung.

9.1 Zwingiis Taufbuch

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9.1.1 Das buchstäbliche Schriftprinzip Wiederholt wurde in dieser Untersuchung bereits die hohe Bedeutung des von Karlstadt übernommenen radikalen Schriftprinzips der Täufer in Auseinandersetzung mit Zwingli erörtert und herausgestellt. Die Berufung auf das reformatorische Schriftprinzip hatte sich bereits in der Protestation als prototäuferische Legitimation für die fortgesetzte öffentliche Diskussion und Agitation erwiesen. Das Autoritätsmonopol der Schrift, für das Zwingli vehement eintrat, war die Grundlage seiner Reformbewegung, zu der der Magistrat seine Zustimmung gegeben hatte. Daher war das Schriftprinzip die Wurzel der Reformation und zugleich Ursache ihrer inneren Divergenzen. Besonders eindrucksvoll wird das an einem von Zwingli wiedergegebenen Dialog mit den Täufern deutlich, in dem der Reformator gegen ihr radikales Schriftprinzip mit impliziten Aussagen der Bibel (argumentum e silentio) vorging. Demnach würde z. B. im Neuen Testament zwar auch nichts über die Teilnahme von Frauen beim Abendmahl ausgesagt. Dennoch entspräche ihre Partizipation dem Willen Gottes. 23 „Hie schryend sy mordio über mich unnd sprechend: Du hast dich allweg gegen allen Bäpstleren erwert, was in gottes wort nit Grund hab, das solle nütz, und ietz sprichst, es stand vil nit in gottes wort, das denocht mit gott sye. Wo ist ietz das starck wort, damit du dem wychbischoff Faber und allen menschen yngeredt hast: ,Sy erend mich vergeben mit menschengebotten und -leeren Mt 15, Isa 29.' Antwurt: Was ich ye und ye geredt hab, das red ich noch bis in den tod; und wirt änderst nimmer me erfunden, dem das ich einerlei red." 24

Diese Dialogszene markiert die große Enttäuschung der ehemaligen Anhänger und die zornige Appellation an die gemeinsame Lehrgrundlage. Die Täufer warfen in den Verhören Zwingli Verrat an seinen eigenen theologischen Prinzipien vor. Zwingli setzte daher auch in seinem Taufbuch alle Kräfte daran, die biblische Argumentation für die Rechtmäßigkeit der Kindertaufe gegenüber semen früheren Gesinnungsgenossen auszubauen. Ihm lag viel daran, die Gefahren und Einseitigkeiten einer auf den bloßen Wortlaut und die Satzstruktur fixierten Exegese aufzuzeigen. Zwingli argumentierte für die Kindertaufe unter Zuhilfenahme einer hermeneutischen Vorentscheidung zugunsten der Einheit von Altem und Neuen Testament, der Annahme mehrfacher, kontextunabhängiger Semantiken sowie durch Konklusionen impliziter Textinhalte, wie u. a. die Interpretation der „Haustaufe" belegt. Dabei läßt er sich sogar auf die s. E. „spitzfindigen" Auslegungsmethoden seiner Gegner ein, um ihre biblischen Beweisführungen gegen seine Tauflehre ad absurdum zu führen. Die ausführliche Gegenwehr des Reformators zeigt, daß die Berufung der Täufer auf die Schrift, verbunden mit der Kritik an anderen Autoritäten der Lehre, die zentrale 23 24

Vgl. Ζ I V , 296. Ebd.

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Problematik des Streits berührte. Von der gemeinsamen theologischen Basis des Prinzips „sola scriptura" gelangten die reformatorischen Kräfte zu unterschiedlichen Konsequenzen in der Sakramentspraxis. Die Täufer vertraten ein radikalisiertes Schriftprinzip, das sie zu einer konsequenten und restriktiven Reform veranlaßte: „Was nicht geschrieben steht, darf nicht praktiziert werden." Anhand dieser Maxime, die selbst für eher schlichte Gemüter nachvollziehbar war und zudem von jedem des Lesens Kundigen überprüft werden konnte, stellten sie in der Tauffrage den Hauptreformator vor die Aufgabe, nach dem von ihm selbst aufgestellten theologischen Grundsatz zu verfahren. Der Erfolg des frühen Täufertums läßt sich m. E. auch durch diese transparente und jedermann einsichtige Hermeneutik begreifen. Sie entsprach den Erfahrungen innerhalb der Lesekreise, in denen jeder sich für kompetent hielt, um beurteilen zu können, was nach dem Gebot Gottes zu tun und zu lassen sei. Die Aporien des Schriftprinzips der Täufer offenbarten sich in den Gesprächen mit Zwingli. 2 5 Mit Hilfe ihres radikalen Schriftprinzips waren die frühen Täufer (u. a. Mantz) nicht in der Lage, dem eindrucksvollen holistischen Ansatz Zwingiis zur Einheit von Altem und Neuen Testament, Johannestaufe und Christustaufe sowie der daraus folgenden typologischen Auslegungsmethode zu begegnen. Eine christologische Konturierung ihres Schriftprinzips, wie sie der Müntzerbrief ζ. T. aufwies, wurde in der zähen Auseinandersetzung um einzelne Schriftstellen nicht erreicht.

9.1.2 Sakramentales Taufverständnis In der Untersuchung zum Müntzerbrief und zur Protestation wurde bereits festgestellt, daß die Täufer in der antisakramentalen Kritik an der Abendmahls· und Taufpraxis mit Zwingli übereinstimmten. 26 Ihre Tauflehre lag in der Konsequenz der Zwinglischen Sakramentskritik, die sie unter Aufnahme der Straußschen Terminologie von innerer und äußerer Taufe präzisierten. Zwingli bemerkt im Widmungsschreiben des Taufbuchs, daß die Täufer vor Beginn ihrer „Wiedertaufpraxis" analog zu seinem eigenen Verhalten den sogenannten „äußeren Dingen" zunächst keine Beachtung beigemessen hätten. 27 Erneut hält er ihre gemeinsame Frontstellung gegen ein effektives Sakramentsverständnis mit dem Verweis auf die Reformpostulate gegenüber der altgläubigen Praxis fest, die er ebenfalls unterstützt hatte. 28 Daraus ist er25

Vgl. ebd., 327 f. (Interpretation von Kol 2,10). Vgl. die Punkte 5.2 und 6.2 dieser Untersuchung. 27 Vgl. Ζ I V , 206: „Glych also sehend wir zû unseren zyten etlich, die unlang vor dem anhab des touffs by allen menschen geschruwen habend: ,Es ist nütz umb die usserlichen ding; sy vermögend nütz zur säligheit; hoffe nieman darin*, und redtend recht." 28 Vgl. ebd., 247.290 (vgl. bes. den Exorzismus, die Verwendung von Salz etc.). 26

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sichtlich, daß der Reformator zwar durchaus noch um die grundsätzliche Übereinstimmung in der Sakramentskritik wußte, daß er aber andererseits die Täufer in seinem Taufbuch des „Sakramentalismus'" beschuldigte. Er geht sogar so weit, sie aufgrund ihrer Tauflehre mit der katholischen Partei, den sogenannten „Päpstlern" zu identifizieren. Diese Etikettierung ist in der polemischen Situation der Reformbewegungen nicht ungewöhnlich und geschah auch in umgekehrte Richtung durch die Täufer. Dennoch müssen ihn nach Ausweis der Quellen bestimmte Aussagen der Täufer über die Bedeutung der „Wiedertaufe" bzw. des bewußt erlebten Taufvollzugs zu dieser Kritik bewogen haben. Ein Nachweis symptomatischer Neuerungen zu der bereits dargestellten täuferischen Position soll deshalb versucht werden. Als Begründung der erneuten Taufhandlung verwiesen die Täufer, wie bereits die Zeugenaussagen der Inhaftierten im Januar 1525 gezeigt hatten, auf die Taufe der Johannesjünger in Apg 19. Zwingli bewertet diese Textstelle als deren vorrangigen Beleg für die Rechtmäßigkeit der „Wiedertaufe". „Hie trennend sy den touff und touffend sich selbs widrum [ . . . ] " 2 9 Die Geschichte der Johannesjünger wurde von den Täufern wahrscheinlich als typologische Entsprechung zu ihrem eigenen Schicksal angesehen. Sie seien zuvor nicht „richtig" getauft gewesen und deshalb erneut von dem Apostel getauft worden. Diese Analogie zur neutestamentlichen Perikope gibt Zwingli in seiner Taufschrift wieder. „Also ouch ir sygind vormals in des bapsts touff getoufft; darumb wellind ir ietz ouch widrumb getoufft werden." 30 Dieses Votum verdeutlicht, daß das populäre Schlagwort - die Kindertaufe sei eine Erfindung des Papsttums - und eine damit verbundene Diskreditierung als antichristlicher Brauch durch die Verbindung mit der neutestamentlichen Belegstelle aus Apg 19 zu einer einsichtigen und griffigen Begründung für die „Wiedertaufpraxis" stilisiert worden war. Die intensive Beschäftigung Zwingiis mit der Widerlegung des kirchenhistorischen Beweises gegen die Kindertaufe zeigt an, daß hier ein zentrales Argument der Täufer vorlag, das wohl von vielen bereitwillig aufgenommen wurde. In unserer Untersuchung zur ersten Gläubigentaufe in Zürich waren wir zu dem Ergebnis gekommen, daß die Taufschrift Karlstadts mit der Erwähnung von Apg 19 die entscheidende biblische Legitimation zur Einführung der „Wiedertaufpraxis" gebildet hatte. 31 Das Problem der „Wiedertaufe" stand in den vorausgegangenen schriftlichen Zeugnissen der Täufer aus dem Jahr 1524 nicht zur Diskussion. Von daher beklagt sich Zwingli zu Recht darüber, daß die Taufreform nicht öffentlich diskutiert worden sei. 32 Erst in den Ge29

Ebd., 268. Ebd., 282. 31 Vgl. Punkt 7.2 dieser Untersuchung. 32 Vgl. Ζ I V , 208,254,256: „Sy habend inn by uns angehebt, eeund sy gheinen menschen ützid darvon habind anzeigt, ich gschwig, das sy inn offenlich vor der kilchen gepredget hettind."

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sprächen nach dem Vollzug der ersten Taufen in Zürich und Zollikon wird die Argumentation auf der Grundlage von Apg 19 greifbar, die sich in der Folgezeit zu einem konstitutiven Schriftbeweis für die „Wiedertaufe" entwickelte. 33 Im Taufbuch wird deutlich, daß Apg 19 als einziger Beleg für eine Taufwiederholung herangezogen wurde. Die genuine Tauflehre der Täufer baute dagegen auf einer breiten neutestamentlichen Basis auf, wobei die Einsetzung der christlichen Taufe durch den Auferstandenen und die unumkehrbare Reihenfolge von Predigt, Glaube, Willensbekundung zur Besserung des Lebens und Taufe als wichtigste Elemente hervortraten. Ein auf den ersten Blick skurriles bzw. naives Argument für die „Taufwiederholung" erwähnt der Reformator, um die Qualifikation seiner Gesprächspartner zu desavouieren. Er gibt die Meinung wieder, daß seine Gegner nicht wüßten, ob sie getauft worden seien oder nicht. 34 Zwingli versuchte sie nun mittels logischer Argumentation davon zu überzeugen, daß sie ihrer Taufe gewiß sein könnten. Er führt dabei die Namensgebung, die Taufpaten, den täglichen Vollzug von Kindertaufen und den allgemeinen Brauch der Kindertaufe als Indizien an. Trotzdem beharrten die Täufer seiner Meinung nach darauf, daß sie sich ihres Getauftseins nicht sicher wären. 35 Entweder handelte es sich dabei nur um ein vordergründiges Argument der Täufer, die sich nach der historischen Beweisführung Zwingiis über den Ursprung der Kindertaufe eines ihrer zentralen Motive gegen die Kindertaufe beraubt sahen, oder das bewußte Erleben der Taufe stand dominierend im Vordergrund der Bewegung. Daß dem so war, zeigen weitere Passagen des Taufbuchs, in denen Zwingli seinen Gegnern „Sakramentalismus" vorwirft. Zum einen entspricht dieser stereotype Vorwurf dem dualistischen Grundzug der Theologie Zwinglis, der den „äußeren" Dingen, wozu er auch den Gebrauch der Sakramente rechnete, keine wesentliche Bedeutung für den Glauben zumaß. Daher sah er die Auseinandersetzung um die Taufe als Streit um periphere Dinge und daher letztlich als überflüssig und die Sache des Evangeliums hindernd an. Wie sich die Täufer in dieser Hinsicht von Zwingli unterscheiden, wurde bereits wiederholt dargestellt. Im Taufbuch erscheint jedoch diese generelle Charakterisierung des Taufstreits nicht nur als sinnloser Kampf um „äußere Dinge." Die Anklage des Sakramentalismus beruht vielmehr auf Aussagen der betroffenen Täufer. Der Reformator beschwerte sich darüber, daß die Täufer in der Darlegung ihrer Tauflehre die Bedeutung der Taufe zum einen „lycht" gemacht hätten, womit ihr antisakramentales Taufverständnis gemeint sein könnte. 36 Stimmte Zwingli mit ihnen darin überein und behaftete er sie bei der relativen Bedeu33 34 35 36

Vgl. die Ausführungen zu Krüsis Taufbuch Punkt 11.4.1 dieser Untersuchung. Vgl. Ζ I V , 278. Vgl. ebd., 281 f. Vgl. ebd., 246.

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tungslosigkeit des äußeren Taufvollzugs, so machten seine Gegner andererseits den Taufempfang seiner Meinung nach „tür" (= teuer) und werteten damit die Taufe neuerlich auf. Viele Gläubiggetaufte hätten ihm gegenüber bezeugt, daß sie empfunden hätten, in der Taufe zu neuen Menschen geworden zu sein. 37 Zweifellos berichteten die Gefragten über ihre Tauferlebnisse, die sie mit Hilfe des Bildes vom „Anziehen des neuen Menschen" aus Eph 4,24 deuteten. Zwingli geht im Fortgang seines Schreibens erneut auf die Zeugnisse der verhörten Täufer ein, die behaupteten, während der Taufhandlung eine große Erleichterung oder Befreiung erlebt zu haben. 38 In diesem Zusammenhang erinnert er an einen Dialog zwischen Myconius, Jud und den Befragten, der die Atmosphäre der Gespräche besonders anschaulich macht. Bei der wiedergegebenen Szene, in deren Verlauf nach den Angaben Zwingiis mehrere Täufer anwesend waren, muß es sich um ein Verhör der Täufer aus Zollikon und nicht um die Einzelbefragung von Blaurock und Mantz gehandelt haben. Myconius versuchte während des Gesprächs, das bezeugte Tauferlebnis durch Parallelisierung mit den psychischen Erfahrungen während der Beichte gleichsam zu entmythologisieren. 39 Die Täufer gestanden dementsprechend ein, daß sie vor der Taufhandlung große Angst verspürt hätten, woraufhin Myconius das Erleben in der Taufe als psychische Reaktion und als „ein Verlassen der Angst" interpretierte. Zwingli berichtet in diesem Zusammenhang, daß die Täufer ausgesagt hätten, sie seien voller Angst gewesen, weil sie versprechen mußten, ein Leben ohne Sünde führen zu wollen. Hier ist vermutlich nicht die wahre Ursache der Angst vor der Taufe festgehalten, sondern Zwingiis stereotyper Vorwurf gegenüber den Täufern den Verhafteten in den Mund gelegt worden, daß sie sich selbst und ihre Gemeinschaft für sündlos hielten. 40 Die emotionale Erschütterung der Täuflinge, ferner Angstzustände bzw. Sündenangst lassen sich, wie gesehen, auch in den Ratsprotokollen nachweisen.41 Das durch die täuferische Predigt und die gemeinsame Schriftauslegung erweckte Bewußtsein der eigenen Schuld führte in vielen Fällen zum Taufbegehren. Es wurden bereits mehrere Beispiele dieser psychischen Erregung und der daraus folgenden spontanen Taufhandlungen dargelegt. Von daher ist es durchaus einsichtig, daß die Taufe als eine emotionale Befreiung erlebt wurde. Die Getauften deuteten dieses religiöse Erlebnis als Handeln Gottes an ihnen. 42 Die Reformatoren sahen sich in der Auseinandersetzung mit dem Argument der religiösen Erfahrung genötigt, die Erlebnisse rational zu deuten und ihre Relevanz für das Leben 37 38 39 40 41 42

[···]·"

Vgl. ebd. Vgl. ebd., 252 f. Vgl. ebd. Vgl. Punkt 4.1.4 und 10.2.3 dieser Untersuchung (sündlose Kirche). Vgl. Punkt 8.1 dieser Untersuchung. Vgl. Ζ I V , 253: „Und denn sprechend ir, es hab üch gott von nüwem etwas geton

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des einzelnen Christen zu nivellieren. Zwingli interpretierte daher selbst die Angst vor dem Taufvollzug als Reaktion des Gewissens, das um die Unrechtmäßigkeit der „Wiedertaufe" wüßte, die keinen Schriftgrund habe. 43 Trotzdem beharrten die befragten Täufer darauf, daß die Taufe eine Lebenswende für sie implizierte. Nach der Wiedergabe Zwingiis hätten sie bekannt: „Ich bin vormals ein Sünder gsin, ietz bin ich's nit mer." 4 4 Zwingli beschuldigte sie daher, in derselben Irrlehre wie das Mönchtum befangen zu sein. Er interpretierte ihr Bekenntnis zur Sündlosigkeit als ontologische Aussage, die der Taufe einen effektiven bzw. sündentilgenden Charakter zuschreibe. Daß die Täufer entgegen der polemischen Einschätzung des Reformators keineswegs an eine sündlose Existenz nach der Taufe glaubten - gleichsam als einen durch die Taufe verliehenen „character indelebilis" - , zeigt die Notiz über die Antwort der Verhörten. „Darumb hab ich mich lassen touffen daß, wenn ich glych Sünden wölt, so habend mich mine getoufften Brüder Gewalt und Glimpf darvon ze ziehen." 45 Die Gemeinschaft der Brüder hatte demnach die Pflicht und die Verantwortung, den Lebenswandel des Einzelnen zu prüfen und zu korrigieren. Das „Absterben der Sünde" durch das Bekenntnis der Schuld und den Willen zur Lebensbesserung, dem der Taufakt folgte, mußte nach dem Verständnis der Täufer in der Gemeinschaft der Glaubenden immer neu bewährt werden. Auch an anderer Stelle wiederholte Zwingli das Zeugnis der Täufer, sie hätten eine „grosse erkickung des gemüts" 46 während der Taufe erfahren. Er bestätigt in diesem Zusammenhang erneut die grundsätzlich antisakramentale Taufauffassung der Täufer, der er die Berichte über die speziellen Tauferlebnisse kontrastierend gegenüberstellt. Wenn sich - wie wohl in den Gesprächen vorgekommen - die Meinung durchsetzte, daß die Wassertaufe den Täufling erneuere, stärke und tröste, 47 sei seiner Meinung nach zugleich die Gefahr einer ständigen Wiedertaufe bzw. fortgesetzter Waschungen entsprechend der alttestamentlichen Praxis gegeben. I m Rahmen der Auseinandersetzung um den Glauben der Kinder kommt der Reformator in seinem Taufbuch erneut auf den quasi effektiven Charakter der „Wiedertaufe" der Täufer zu sprechen. 48 Nach seiner These bedarf der Christ, je verständiger und gläubiger er ist, desto weniger der „äußeren Dinge". Im Blick auf die Täufer urteüt er dementsprechend:

43

Vgl. ebd. Ebd. 45 Ebd., 253 f. 44

« Ebd., 284. 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. ebd., 325.

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„Darumb ist es ein gross wunder, das ir so geistlich sind; und empfindend aber, das der wassertouff so vil inwendig an üch würckt. Wie, das ghein prophet noch apostel nit sölchs empfunden hatt weder ir?" 49

Sicher darf die polemische Zuspitzung dieses Einwands nicht übersehen werden. Die drei genannten Einlassungen des Reformators zum Vorwurf des Sakramentalismus legen jedoch m. E. die Vermutung nahe, daß die verhörten Täufer sich tatsächlich auf übernatürliche Tauferlebnisse zur Legitimierung der „Wiedertaufe" beriefen. Diese emotionale und gleichzeitig theologische Deutung des Taufvollzugs läßt sich in die von uns als religiöse Bewegung bezeichnete Frühphase des Täufertums sehr gut integrieren. Die Ereignisse in Zollikon und die eruptive Kraft der frühen Bewegung ließen auch die einzelnen Taufakte für die Betroffenen als besonderen Kairos erscheinen. Entgegen der lehrmäßig festgelegten antisakramentalen Deutung der Taufe, beriefen sich die Getauften während der Verhöre apologetisch auf metaphysische Ereignisse, die i. E. die „Wiedertaufe" theologisch legitimierten. Es gäbe sicher einleuchtende psychologische Erklärungen für die subjektiven Erfahrungen, die schon von den Reformatoren jenseits aller psychologischer Methodenlehre logisch gefolgert worden waren. Die Scheu vor den Sakramenten, die sich auch bei Kommunikanten während der ersten Mahlfeier nach der Meßreform Karlstadts zeigte, 50 die gesteigerte emotionale Erwartungshaltung der Taufbewerber nach der Bußpredigt der Täufer sowie das Bewußtsein des Verstoßes gegen die staatliche und kirchliche Ordnung sind nur einige Motive für die angstvolle Erregung der Täuflinge und deren religiöse Befreiungserfahrungen während des Taufvollzugs. Die Frage muß jedoch unbeantwortet bleiben, ob nur die Erlebnisberichte der Getauften oder auch die gezielte Predigt der Täufer Zwingli zu dem wiederholten Vorwurf des Sakramentalismus' veranlaßten. Nicht ohne Berechtigung läßt sich jedoch vermuten, daß einzelne Propagandisten der Täufer - vielleicht der charismatische Redner Blaurock - mit dem Versprechen befreiender Erfahrungen oder dem Verweis auf eine erfahrbare Gegenwart Gottes für die „Wiedertaufe" warben. Der enthusiastische Zug der frühen Bewegung, der von der normativen Forschung absichtsvoll nivelliert wurde, um den traditionellen Vorurteilen gegen das sogenannte „Schwärmertum" begegnen zu können, tritt in den Zeugnissen der gefangenen Täufer aus Zollikon, wenn auch in der Wiedergabe durch den Reformator, deutlich zutage. Die Getauften hatten etwas erlebt. Sie bezeugten im Verhör ihre Befreiung von Sündenangst und ihre innerliche Erneuerung durch den Taufvollzug. Gleichzeitig sahen sie sich als Gesandte, die im Auftrag Gottes die erkannte Wahrheit verbreiten sollten. Der starke missionarische Impetus der Täuferbewegung ist vielleicht ohne die emotionale Betroffenheit der einzelnen Anhänger nicht hinreichend zu erklären. Die nach damaligem 49 50

Ebd. Vgl. Punkt 5.2.4 dieser Untersuchung.

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Verständnis ungelehrten Täufer aus Zollikon beriefen sich im Kreuzverhör der Reformatoren auf ihre Gotteserfahrungen während der Taufe und die direkte Geistesleitung bzw. -sendung.51 Auch wenn die bisherige Untersuchung eine strenge Ausrichtung an der Schrift und die Prägung der prototäuferischen Bewegung durch gemeinsames Schriftstudium nachgewiesen hat, dürfen im Blick auf die Ereignisse im Frühjahr 1525 die charismatischen, religiös-innovativen Erfahrungen der Täufer nicht unberücksichtigt bleiben. Die erst in Ansätzen formulierte Lehre der Täufer nahm in einer dynamischen Bewegung Gestalt an, in der nicht nur die dogmatische Richtigkeit oder die lückenlose Beweisführung anhand der Schrift im Vordergrund stand, sondern das religiöse Erleben einen großen Stellenwert erhielt. Der Fortgang der Untersuchung muß die Lehrauffassungen im einzelnen sowie ihre faktische Umsetzung als zwei zu unterscheidende Bereiche betrachten.

9.1.3 Die „Rotterei" der Täufer - der Vorwurf des Schismas Wie kein anderes Thema durchzieht der Vorwurf, die Täufer spalteten die Einheit der Kirche, trennten sich bewußt von ihr und bildeten eine Sekte oder „Sonderkirche" das Taufbuch Zwingiis. Bereits im Widmungsschreiben an den Rat von St. Gallen bezichtigt Zwingli die Täufer der Abspaltung von der Kirche. 52 Vor dem Taufstreit hätten sie ihn bereits mehrfach dazu ermahnt, eine „nüwe Kilchen" zu gründen. 53 Die vorliegende Untersuchung hat bereits ergeben, daß im Sommer 1523 mehrere Gespräche zwischen dem Reformator und seinen Anhängern geführt worden sind, die ihn zu Maßnahmen zugunsten einer klaren politischen Entscheidung drängten. Die Aufrichtung einer Kirche der Gläubigen, die sich in ethischer Lebensführung bewährte und sich von der „vermischten" Kirche (corpus permixtum) trennte, stand dabei im Mittelpunkt der theologischen Kontroverse. Die Anliegen seiner Anhänger interpretierte Zwingli später als eindeutigen Aufruf zur Separation und Gründung einer Sonderkirche der versammelten Gläubigen. I m Mai 1525 berichtete er über dieses Ansinnen seiner radikalen Freunde, die nun bereits zu Gegnern geworden waren. Ihr ekklesiologisches Modell bezeichnete er als „neue Kirche", Absonderung bzw. Gemeinde oder Versammlung. 54 Diese Terminologie verweist auf die sich bereits im Müntzerbrief andeutende kongregationalistische Ekklesiologie der Täufer, die sich vor allem an der sichtbaren Gestalt der Kirche Jesu Christi orientierte. 55 « Vgl. Ζ I V , 304,328. 52 Vgl. ebd., 206. 53 Vgl. ebd.; vgl. auch unter Punkt 4.1.4 (Plan einer neuen Kirche) in der vorliegenden Arbeit. 54 Vgl. Ζ I V , 206. 55 Vgl. Punkt 4.1.8 dieser Untersuchung.

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Im gleichen Zusammenhang führt Zwingli den zentralen Anklagepunkt an, den er später auch im Prozeß gegen Mantz vorbrachte, die Täufer wollten diejenigen zu einer Kirche versammeln, die ohne Sünde seien. 56 Hinter dieser polemischen Kritik des Reformators darf die Konzeption der sichtbaren Kirche vermutet werden, die ihre Reinheit - nicht ihre ontologische Sündlosigkeit - durch Kirchenzucht sicherstellte. Zwingli interpretierte im selben Kontext den gesamten Taufstreit, d. h. die Bekämpfung der Kindertaufe und die Einführung der „Wiedertaufe", als Mittel zur Sammlung und Gründung einer neuen Kirche. 57 Die Einführung der „Wiedertaufpraxis" im Januar 1525 verstand er als Initiationsgeschehen einer separierten täuferischen Kirche, 58 die ihre eigene Sündlosigkeit behauptete. Der den Täufern attestierte „Hochmut", den Zwingli in stereotypen sprachlichen Wendungen hervorhob, führte sie s. E. dazu, daß sie sich selbst für sündlos hielten und sich deshalb absonderten. 59 Ohne die polemischen Formulierungen des Reformators unkritisch übernehmen zu wollen, stellt sich die Frage, ob die eigenmächtig vollzogene Reform der Sakramentspraxis durch die Täufer für die Reformpartei eine dezidierte Absonderung bzw. ein Schisma implizierten. Die Kirchentrennung war nach Auffassung Zwingiis nicht nur eine Konsequenz der durch die „Wiedertaufen" geschaffenen Fakten, sondern entsprach s. E. geradezu der ursprünglichen Intention der Täufer. Im Kapitel über die Grundbedeutung der Taufe geht Zwingli im Rahmen seiner Exegese von Rom 6 noch einmal auf die Charakteristika der neuen Gemeinschaft ein. Paulus mahne in seinen Ausführungen dazu, ein christliches Leben zu führen, während die Täufer die Taufbewerber dazu verpflichteten. 60 Daher wirft Zwingli ihnen vor, sie übten ungebührlichen Zwang auf die Täuflinge in bezug auf ihre Lebensführung aus: „darumb, das welcher sich mit üch toufft, der müß also reden, leben, bkleidt sin uß üwrem pflicht; das ist sect und rott." 6 1 Zwingli unterstellte damit den Täufern, daß sie bis in Äußerlichkeiten hinein ihre Gemeinschaft konform organisierten. Die offenbaren Kennzeichen der Absonderung, wie Einheitlichkeit in der Lehre und Lebensführung bis hin zur Kleidung sowie die geforderte Lebensgemeinschaft aller Getauften werden in der zeitgenössischen Täuferforschung dagegen erst der Täuferbewegung nach Schieitheim zugeschrieben. 62 Haas und Stayer gehen an den Anzeichen eines frühen Protoseparatismus zwar nicht vorbei, ordnen diesen jedoch nur Grebel, Mantz, Blaurock und der 56

Vgl. Punkt 4.1.4 dieser Untersuchung; Ζ I V , 206. * 7 Vgl. ebd., 207 f. 58 Vgl. ebd. Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd., 245. 62

Ebd. Vgl. Goertz, Täufer, 21; ders., Bauern, 96.

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Gemeinde in Zollikon zu, während andere Zentren der Täuferbewegung wie z. B. St. Gallen, sich als Sozialrevolutionäre Massenbewegungen anders entwickelten und sich erst nach der Zerschlagung der Bauernunruhen dem sektiererischen Ideal des stadtzürcher Kreises angeschlossen hätten. 63 Dennoch wertet Stayer gegen die traditionelle (und seine eigene früher vorgetragene) Deutung die Einführung der Gläubigentaufe in Zürich nicht länger als separatistischen A k t , sondern als Vollendung der Gottesdienstreform, „von der man annahm, sie würde zweifellos bald von den reformierten Brüdern an anderen Orten nachgeahmt werden." 64 Stayer konstatiert für die Folgezeit der Täuferbewegung eine zunehmende Durchsetzung des „Protoseparatismus" der Lesekreise in Zürich in den Zürcher Landgemeinden. Ihnen gegenüber stellt er die Entwicklung in der Ostschweiz, in der die „kongregationalistische Form" der Prototäufer „ihre beste Fortsetzung fand". 65 Stayer geht davon aus, daß die gesamte frühe Täuferbewegung die Funktion der Gläubigentaufe als Mittel zur Separation zunächst nicht erkannt habe. Lediglich ihre Führergestalten, nicht aber die Bewegung als solche zeigten s. E. die Neigung zur Absonderung. 66 Stayer zieht daraus das Fazit, wonach die frühe Täuferbewegung zwar kongregationalistisch aber nicht separatistisch gewesen sei. 67 Dieser These widerspricht u. a. die oben dargestellte Behauptung Zwingiis, die Täufer zielten bereits 1523 und letztlich mit der eigenmächtigen Änderung der Sakramentspraxis im Januar 1525 eindeutig auf Separation von der traditionellen kirchlichen Gemeinschaft. Er berichtete sogar von äußeren Zeichen der Solidarität und einem ansatzweisen Konformismus der neuen Gruppe. Schon wenige Monate nach der Einführung der Gläubigentaufe ließen sich nach Auskunft des Reformators Normen und besondere Ordnungen der frühen Täufergemeinden feststellen. Auch Keßlers „Sabbata" bieten eine Fülle von Beispielen für die äußeren Kennzeichen der Täufergemeinschaft. 68 Man kann hierbei natürlich davon ausgehen, daß er in der 1533 verfaßten Chronik die nunmehr gefestigten äußeren Ordnungen der Täufer in den Anfang der Bewegung reprojizierte. Keßler ordnete jedoch die von ihm beschriebenen Kennzeichen der Täufer chronologisch dem Frühsommer des Jahres 1525 zu. Authentische Erinnerung und spätere Beobachtung mögen sich bei seiner Darstellung vermischt haben. 63 Vgl. Haas, Absonderung, 66 ff. Haas sieht in Grebel, Mantz, Blaurock und der Gemeinde in Zollikon eine Gruppe, die eine andere Identität suchte. Hier lag das Ideal einer abgesonderten Kirche vor, das sich allmählich herauskristallisierte. 64 Stayer, Anfänge, 39. 65 Vgl. ebd., 41. Vgl. ebd., 48 f. 67 Vgl. ebd.; vgl. auch Punkt 5.2.10 dieser Untersuchung. 68 Vgl. QGTS II, 608. Äußere Kennzeichen der neuen Gemeinschaft waren: Verzicht auf kostbare Kleider sowie auf gutes Essen und Trinken; grobe Bekleidung; Fllzhut; kein Tragen von Waffen oder Schmuck; Verweigerung des Eids etc.

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Zwingli berichtete im Blick auf Zürich und die Zürcher Landgemeinden von den äußeren Zeichen einer Konformität bereits im Mai 1525. Z u diesen Kennzeichen gehörte mit einiger Sicherheit auch die „Gütergemeinschaft". Zwingli erwähnte diese Neuerung bereits im Widmungsschreiben seines Taufbuches: „[...] etlich ouch mit der gemeinschafft, die da sagen wellend, man muß alle ding gemein haben [...]." 6 9 Stayer untersuchte eingehend die Einstellung der frühen Täufer zur Gütergemeinschaft. 70 Er hält es aufgrund des Berichts von Keßler für gesichert, daß in Zollikon zuerst Gütergemeinschaft praktiziert wurde. Mantz schreibt gleichermaßen einen Monat nach der ersten Gläubigentaufe in seinem Verteidigungsbrief an den Rat, daß sie die „gemeinschafft aller dingen" lehrten. 71 Zwingli warf seinen Gegnern mehrfach „Sektiererei" vor, deren verheerende Auswirkungen für den Fortgang der Reform er wie folgt beschrieb: „Denn so bald sich ein rott für ein kilchen ufwirfft, so ist es umb christlichen friden und einigheit bschehen." 72 Die Täufer sahen sich s. E. als eigene Kirche an, die sich bewußt von der altgläubigen wie auch von der reformierten Kirche getrennt hatte. Diese schismatische Tendenz und letztlich die Separation bildeten im Taufbuch seinen Hauptvorwurf gegen die Täufer. Diesem Sachverhalt könnte man nun zu Recht entgegenhalten, daß die polemische Deutung des Reformators dem Selbstverständnis der Täufer nicht gerecht wurde, mehr noch, daß Zwingli seine Gegner durch den Vorwurf der Häresie und Separation in der öffentlichen Meinung bewußt diskreditieren wollte. Die Forderungen nach Errichtung einer neuen Kirche aus dem Jahr 1523 widersprechen jedoch dieser These einer lediglich spekulativen oder tendenziösen Wiedergabe der täuferischen Konzeption durch den aufgebrachten Reformator. Weitere Glossen im Taufbuch, in denen Einwände und Meinungen der inhaftierten Täufer zitiert werden, lassen ebenfalls auf einen frühen separatistischen Impuls der Täuferbewegung schließen. I n der Auseinandersetzung um die Verantwortung der Gemeinde für die Lebensführung der Getauften, in der die Täufer sich dazu bekannten, daß die „Brüder" die Befugnis zu Korrektur und Strafe hätten, wirft Zwingli ein, daß nur die „Kirche" nicht aber die „Sekte der Wiedertäufer" das Recht zur Bannausübung habe. 73 Die Täufer antworteten nach Zwingli daraufhin: „Wir sind die kilch, unnd welicher in der unser kilchen nit ist, der ist nit Christ. Darumb haben wir die küchen anghebt, es was vorhyn ghein kilch." 7 4 Zwingli kommentierte diese Replik 69

Ζ I V , 211. J. M. Stayer , Neue Modelle eines gemeinsamen Lebens, in: H.-J. Goertz (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, München 1989,30 ff. 71 QGTS 1,49 f.; Stayer, ebd., 31. 72 Ζ I V , 295. 73 Vgl. ebd., 253 f. 74 Ebd., 254. 70

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mit dem Hinweis, daß diese Exklusivität und dieses separatistische Grundverständnis von Anfang an hinter der täuferischen Bewegung gestanden hätte, da sie generell dem Wesen der „Sektiererei" entspräche. Eingedenk der situationsbezogenen Polemik des Reformators kommt in diesem Text ein starkes Selbstbewußtsein der Täufer zum Ausdruck. „Wir sind die Kirche" könnte zum Motto der Radikalen geworden sein, nachdem durch die konsequente Ratspolitik und das Vorgehen gegen die Kindertaufgegner jedes weitere Gespräch seit dem Januar unmöglich geworden war. Die selbständige Übernahme der Sakramentspraxis auf der Grundlage der ekklesiologischen Prinzipien einer kongregationalistisch verfaßten Gemeinde der wahrhaft Gläubigen prononcierte demnach die Ausbildung eines exklusiv verstandenen Kirchenverständnisses. Nach Zwingiis Einschätzung entsprach die Separation bereits dem theologischen Ansatz der täuferischen Gemeindebildung. Zwingli faßte in seiner Taufschrift die kirchentrennende Tendenz der Täufer wiederholt zusammen. „Es ist by inen nieman ein Christ, denn der tût wie sy." 75 Der von Zwingli wiedergegebenen Selbsteinschätzung der Täufer als einzig „wahrer Kirche" korrespondierte die von ihnen vorgenommene Verunglimpfung ihrer reformierten Gegner. So hätten die Täufer sie als Antichristen und Ketzer bezeichnet. 76 Die diabolische Perhorreszierung des Gegners gehörte zwar zum Standardrepertoire reformatorischer Polemik, scheint aber in der frühen Täuferbewegung von identitätsstiftender Bedeutung gewesen zu sein. 77 So verboten die Täufer ihren Kindern, die Predigten von reformierten Predigern zu hören, die sich gegen die Wiedertaufe aussprachen. 78 Vielleicht ist in diesem Zusammenhang auch die sich bereits in den Lesekreisen entwickelnde Absonderungstendenz anzuführen. Die Teilnehmer distanzierten sich durch die Versammlung in diesen Kreisen von ihrem bürgerlichen Kontext und hielten sich u. a. von Gasthäusern fern. 79 Der gemeinsamen theologischen Arbeit folgte die Gemeinschaft bei Tisch. I n der Situation des Jahres 1525, vor allem im Blick auf die von der reformierten Kirche tolerierte obrigkeitliche Verfolgung und öffentliche Ablehnung verstärkte sich diese organisatorisch vorbereitete Isolation unter dem apokalyptischen Motiv des Kampfes gegen den Antichrist zur rigorosen Trennung.

75 76 77

Ebd., 289. Vgl. ebd., 206.

Vgl. ebd., 322: Zwingli beschreibt das Verhör von Blaurock, der sich vor dem Rat wegen seiner Beleidigungen gegen den Reformator verteidigen mußte. Blaurock hatte Zwingli wegen seiner Duldung der Messe und der Kindertaufe als Antichristen bezeichnet. „[...] ich sye ein kätzer, ein morder, ein dieb, der war Antichrist, velsche die gschrifft wirs, denn der bapst ye geton habe." Zum Prozeß gegen Blaurock vgl. auch QGTS I, Nr. 42b; 42e. 78 Vgl. Ζ I V , 330. 79 Vgl. Punkt 4.2 dieser Untersuchung.

9.1 Zwingiis Taufbuch

423

In der von Zwingli wiedergegebenen Diskussion hätten sie Zwingli die Autorität abgesprochen, über sie zu urteilen, 80 indem sie sich auf ihre von Gott gegebene Sendung81 und Geistbegabung82 beriefen. Nach diesen Hinweisen hätten sie den antichristlichen Reformatoren als die von Gott gesandten Boten gegenübergestanden. Die Trennung von der Einflußsphäre des Antichristlichen entwickelte sich zur logischen Konsequenz dieser dualistischen Unterscheidung. I m Vergleich mit den bereits untersuchten Briefen Grebels und anderer Zeugnisse der Prototäufer lassen sich die Vorwürfe Zwingiis nicht länger nur als subjektive Fehldeutungen und Unterstellungen gegen die täuferische Bewegung erklären. 83 Den Anklagepunkt, sie hätten eine eigene Kirche gegründet, präzisiert der Reformator mehrfach durch den Vorwurf, die Einführung der „Wiedertaufe" sei ohne Befragung der Kirche geschehen. Implizit wird damit die Frage nach dem „ius reformandi" gestellt. Die Täufer haben nach Zwingiis Ansicht ohne Rücksicht auf die „Schwachen" in der Gemeinde gehandelt. 84 Zwingli dagegen erkannte die alleinige Autorität zur Beurteilung einer Reform bzw. „Neuerung" der „Kilchöre" oder der „Kilch" zu. 85 Der Verlauf der Reformation in Zürich zeigt, daß damit die von der Obrigkeit legitimierten und nach öffentlicher Disputation vorgenommenen Reformen gemeint waren. Mit der autonomen Übernahme der Sakramentsreform ohne die vorherige Einwilligung des Rates und der Reformatoren beanspruchten die Täufer das „ius reformandi" für sich selbst und ihre Anhänger. Wie die Ereignisse von Zollikon zeigten, entschied nicht länger die gesamte Ortskirche über ihre Lehrfragen, sondern eine Schar von Gleichgesinnten. Als Begründung für das von ihm kritisierte eigenmächtige Verfahren gibt Zwingli folgende rhetorische Frage der Täufer wieder: „Zimpt mir aber nit nach dem gotswort ze leben?" 86 In diesem Votum tritt erneut die von den Täufern in radikaler Weise verstandene Autorität der Heiligen Schrift hervor, die auch in den Fragen der Gottesdienstreform und Lebenspraxis umgesetzt werden sollte. Die Reform sei so notwendig: „Man muß dennocht etwan ein ding dennen thun oder anheben, nun tuy's aber der gewalt nit." 8 7 Das bedeutete, daß das „ius reformandi" für die Täufer in den Händen der Gläubigen lag und nicht in denen der Obrigkeit. 88

8° Vgl. Ζ I V , 286. 81 Vgl. ebd., 304. 82 Vgl. ebd., 288. 83 Vgl. Punkt 4.1.6 dieser Untersuchung (Spaltung des reformatorischen Lagers). 84 Vgl. Ζ I V , 254 f. 85 Vgl. ebd. *

Ebd., 255. Ebd., 255 f. 88 Der separatistische Zug der täuferischen Lehre zeigte sich auch in weiteren Aktionen Zolliker Bürger während des Frühsommers 1525. Im Rahmen einer Predigtstörung rief Hans Hottinger dazu auf, die Kirche zu verlassen und sich vor den „falschen 87

424

9 Die zweite Täuferdisputation

9.2 Zusammenfassung Mit Zwingiis „Taufbuch" als einziger Quelle über die sogenannte Zweite Täuferdisputation liegt keine objektive Berichterstattung über die Verhöre und Gespräche mit den verschiedenen Täufern vor. Trotzdem spiegelt sich in der Darstellung des Reformators die Einschätzung der derzeitigen Situation und Lehrentwicklung der frühen Täuferbewegung wieder, weshalb das Taufbuch unter der Prämisse wissenschaftlicher Kritik als wichtige Quelle für eine Bestandsaufnahme der täuferischen Position ein halbes Jahr nach ihrem öffentlichen Aufbruch dient. I m Vergleich mit der bereits untersuchten Lehre der Täufer, deren Hauptargumentation im Taufbuch reflektiert wird, finden sich in drei Bereichen interessante Erweiterungen bzw. Präzisierungen des theologischen Programms. Die Berufung auf das Schriftprinzip durch die Täufer förderte auf seiten des Reformators den Legitimationsdruck für die biblische Begründung der Kindertaufe. Ausgehend von derselben theologischen Basis - dem Autoritätsmonopol der Heiligen Schrift - kamen die Reformkräfte zu unterschiedlichen Konsequenzen für die Sakramentslehre. Hierin lag für die Zürcher Reformation die eigentliche Gefahr des Taufstreits. Die Täufer erwiesen sich mit ihrer für jedermann verständlichen biblizistischen Hermeneutik als besonders erfolgreich bei den Laien, 89 konnten aber dem holistischen hermeneutischen Ansatz der Schriftauslegung Zwingiis keine vergleichbare Konzeption entgegensetzen. Als zentraler biblischer Beweis für die Legitimität der „Wiedertaufe" wurde auf Apg 19 verwiesen. Diesem Text kam in den vorausgegangenen Gesprächen und Zeugnissen bisher keinerlei Bedeutung zu. Erst die Einführung der Gläubigentaufe profilierte diese Bibelstelle zu einem Standardargument. Der in Übereinstimmung mit Zwingli schriftlich fixierten Sakramentskritik treten in der Darstellung des Taufbuchs Aussagen von Getauften gegenüber, die sich auf übernatürliche Erlebnisse während des Taufakts beriefen. Die Taufe wurde demnach emotional als A k t der Befreiung und gleichzeitig als Auftrag zur Sendung erlebt. I n diesen Zeugnissen, die ζ. T. einem effektiven Taufverständnis nahekommen, zeigt sich m. E. der enthusiastische Zug der

Propheten" in ihr zu hüten (QGTS 1, Nr. 73, 80). Ein Demonstrationszug von Täufern aus Zollikon rief über Zürich das „Wehe" aus (ebd., Nr. 74, 81). Dies sind Anzeichen dafür, daß die Sammlung der Gläubigen bereits zu diesem Zeitpunkt die radikale Trennung von den Altgläubigen und Reformierten implizierte. Analog zu diesen Vorgängen in Zürich wurde in St. Gallen die traditionelle Kirche bereits in der Frühphase der Bewegung als „haiden tempel" bezeichnet (Vgl. QGTS II, 606). Vgl. Punkt 10.2.3 dieser Untersuchung. 89 Haas kommt zu einem gegenteiligen Ergebnis, da er vermutet, daß die ländliche Bevölkerung die theologische Position des Täufertums in der Tauffrage nicht verstand. Vgl. dazu Haas, Absonderung, 68 f.

9.2 Zusammenfassung

425

frühen Täuferbewegung, der von der Forschung lange Zeit übersehen bzw. ignoriert wurde. Die bisher in wenigen Schriften fixierte Lehre wurde in einer dynamischreligiösen Bewegung umgesetzt. Dabei kam es zu Akzentuierungen, die in der prototäuferischen Phase nicht geplant bzw. vorausgesehen worden waren. In früherer Zeit profilierte Themen der Tauflehre traten in den Hintergrund, während neue Argumentationen sich aus der Zeitsituation und den Erfahrungen mit den ersten Gläubigentaufen entwickelten. Die argumentative Bekämpfung der Kindertaufe wurde mit der apologetischen Beweisführung für die Legitimität der Gläubigentaufe flankiert. Die veränderte Taufpraxis und die Erfahrungen der Getauften konturierten die Tauflehre der Täufer. Konzeptionen, die in früheren Schriften der Prototäufer reflektiert worden waren, wurden durch die Dynamik der Bewegung modifiziert. Alles im allem bietet die Taufschrift Zwingiis ein hinreichendes Potential für eine Beschäftigung mit der Fortentwicklung der täuferischen Lehre und Praxis angesichts veränderter Umstände nach der Jahreswende 1525. Zwingli interpretierte den gesamten Taufstreit als Mittel zur Errichtung einer neuen Kirche. Es stellt sich die Frage, ob entgegen der Annahme der revisionistischen Täuferforschung bereits zu diesem Zeitpunkt eine wie auch immer geartete Kirchentrennung (Separation) der damaligen Intention der Täufer gerecht wird. Dafür spricht, daß sich in einer Schrift des Reformators bereits ein halbes Jahr nach der autonomen Übernahme der Sakramentspraxis Normen und Ordnungen bis hin zu äußeren Zeichen täuferischer Konformität der Gemeinden nachweisen lassen. Zwingli referiert in diesem Zusammenhang das exklusive Kirchenverständnis der Täufer, die sich s. E. als Repräsentanten der einzig wahren Kirche verstanden. Nach den Ergebnissen der bisherigen Untersuchung und den Informationen von Zwingiis Taufbuchs scheint m. E. ein früher Impuls zum Separatismus für das Täufertum sehr wahrscheinlich. Die Separation entsprach ihrem theologischen Ansatz, der sich auf die Sammlung einer Gemeinde der Gläubigen konzentrierte, die in konsequenter Nachfolgeethik lebte. I m Jahr 1525 verschärfte sich diese Tendenz unter der apokalyptisch gedeuteten obrigkeitlichen Verfolgung und der kirchlichen Isolation zu einer rigorosen Trennung. Die Übernahme der Sakramentspraxis im Januar 1525 bedeutete demnach zugleich die offizielle Beanspruchung des „ius reformandi" und der Kirchenhoheit durch die Versammlung der Gläubigen, die nicht dekkungsgleich war mit der Ortsgemeinde. Die Aussagen des Taufbuchs veranschaulichen die Umsetzung der in den vorausgegangenen Jahren entwickelten Lehre der Täufer. Z u den konstitutiven Elementen, unter denen die ekklesiologische Konzeption der sichtbaren Gemeinschaft der Gläubigen besonders hervorragte, traten Zeugnisse religiöser Erfahrungen, die den dynamischen Charakter der Bewegung verdeutlichen. Der einfache hermeneutische Zugang zur Bibel, die Verwirklichung des

426

9 Die zweite Täuferdisputation

Priestertums aller Gläubigen, der ethische Rigorismus, der sich in einer Lebensgemeinschaft bewährte, sowie die religiösen Erfahrungen, die zur Aufwertung und zum Selbstbewußtsein der Laien beitrugen, müssen wohl als entscheidende Gründe für den großen Anfangserfolg der frühen Täuferbewegung angesehen werden.

10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung (1525-1527) 10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher Herrschaftsgebiet In den letzten Jahren sind mehrere Untersuchungen zur Verflechtung der Täuferbewegung mit den Bauernunruhen des Jahres 1525 erschienen. 1 Es gilt heute als Forschungskonsens, daß die Täufer in enger Verbindung zu den bäuerlichen Unruhen zu sehen sind, wobei die Übergänge zwischen bäuerlichen Forderungen und täuferischen Gruppierungen als fließend bezeichnet werden. Goertz bringt diese verbreitete These auf den Punkt, wenn er behauptet, daß das Täufertum „in, mit und unter" 2 der bäuerlichen Revolutionsbewegung entstanden sei. In der vorliegenden Untersuchung wurden bereits die wichtigsten Ergebnisse der sozialhistorischen Forschung zur Deutung der Ereignisse bis ins Frühjahr 1525 einbezogen. Trotz der zeitlichen Selbstbegrenzung dieser Studie soll an dieser Stelle aus Gründen der hohen inhaltlichen Relevanz der Fragestellung eine Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen zum Verhältnis von Täufertum und Bauernbewegung in der Zürcher Landschaft auch über den gesteckten chronologischen Rahmen hinaus erfolgen. Ein weitergehendes intensives Quellenstudium zu den gemeindlichen und bäuerlichen Unruhen bleibt ein Desiderat künftiger Forschungsarbeit. Goertz, aber auch Hui, beschreiben in ihren Veröffentlichungen eine umfassende bäuerliche Aufstandsbewegung in der Zürcher Landschaft, die 1525 ihren Höhepunkt gefunden habe. Die Landgemeinden führten demnach mit der Verweigerung des Zehnten und der Forderung nach freier Pfarrerwahl einen Kampf um ihre politische Autonomie gegenüber dem Zentralismus der Stadt.3 Die Bauernunruhen von 1525, in die führende Täufer verwickelt gewesen seien, werden u. a. mit Begriffen wie „kommunales Kampfmilieu" bzw. „revolutionäres Lager" charakterisiert. 4 Besonders Hui rekonstruiert aus den 1 Vgl. J. M. Stayer , Anabaptists and Future Anabaptists in the Peasants' War, in: MennQR 62,1988, 99-135; ders. , The German Peasants' War and Anabaptist Community of Goods, Montreal/Kingston 1991; H.-J. Goertz, Aufständische Bauern und Täufer in der Schweiz, in: MGB 1989,90-112; M. Hui, Vom Bauernaufstand zur Täuferbewegung. Entwicklungen in der ländlichen Reformation am Beispiel des zürcherischen Grüninger Amtes, in: MGB 46,1989,113-144. 2 Goertz, Aufständische Bauern, 93.108. 3 Vgl. ebd., 92. 4 Vgl. ebd., 97.

428

10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

Quellen das Bild einer kommunal-reformatorischen Massenbewegung, die über einen längeren Zeitraum hinweg gegen die obrigkeitlich geführte Reformation Zürichs gekämpft habe. „Die Menschen traten in dieser Breite wie vielleicht vor- und nachher nie in die Dynamik des Evangeliums ein. Für einmal machten sie Geschichte."5 Diese Deutung, die stark von den Vorstellung der ideologischen Revolutionen der Neuzeit geprägt scheint, bezieht die spezielle Entwicklung des Verhältnisses von der Stadt Zürich und ihrer Landschaft nicht ein, die sich bereits aus den Bauernunruhen 1489 und 1516 ergeben hatte.6 Fragt man dagegen nach den aus den Quellen erkennbaren Fakten zu den Bauernunruhen von 1525, kann von einer anhaltenden revolutionären Massenbewegung nicht die Rede sein. Die obengenannten Forscher übertragen m. E. die These der Gemeindereformation und die Situation des oberdeutschen Bauernkriegs undifferenziert auf die Zürcher Landschaft, ohne die gewachsene, gleichsam symbiotische Beziehung zwischen der Stadt Zürich und ihren Landgemeinden zu berücksichtigen. In seiner kenntnisreichen Studie zu den Bauernunruhen in Zürich und seinen Landgemeinden kommt Christian Dietrich zu dem Ergebnis, daß sich 1524/1525 vielmehr eine innenpolitische Solidarisierung zwischen Stadt und Land gegen den außenpolitischen Druck der altgläubigen eidgenössischen Orte ereignete. 7 Die Obrigkeit schützte die evangelische Bewegung und konnte dabei, wie eine Volksanfrage vom November 1524 in den Landgemeinden belegte, auf die Loyalität der Landschaft bauen. Dennoch kam es im Zuge der Klostersäkularisation, die nur der städtischen Armenpflege zugute kam und einen nicht unerheblichen Zuwachs des Machtpotentials der Stadt bedeutete, zu Spannungen mit den Landgemeinden.8 Die Zürcher Landschaft wurde von der seitens des Rates erlassenen Armenordnung, die aufgrund der Auflösung der Klöster möglich geworden war, weitgehend ausgeschlossen. Daher finanzierte die Landbevölkerung die städtische Armenfürsorge nach der Säkularisation der Klöster durch die beibehaltenen Abgaben. Bereits 1524 entstand im Rat die Besorgnis, daß die oberdeutschen Bauernunruhen auf die Zürcher Landschaft übergreifen könnten. Anlaß für die eigentliche Bauernunruhen des Jahres 1525 war schließlich der Sturm auf das Kloster Rüti in der Landvogtei Grüningen. 9 Die Vorgänge im Grüninger A m t wurden gerade im Blick auf den Zusammenhang von Täufertum und Bauernerhebung wiederholt analysiert. 10 Der heimliche Abtransport von 5

Hui, Bauernaufstand, 119. Vgl. C. Dietrich, Die Stadt Zürich und ihre Landgemeinden von 1489 bis 1525, Frankfurt a. M. 1985. 7 Vgl. Dietrich, Zürich, 250. « Vgl. ebd., 213. 9 Vgl. ebd., 228. 10 Vgl. Hui, Bauernaufstand, 117 ff. 6

10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher Herrschaftsgebiet

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Klostergut aus dem nicht säkularisierten Kloster durch den altgläubigen A b t führte zur Plünderung des Klosters Rüti und weiterer Klöster durch aufgebrachte Bauern. 11 Wie in früheren Verfahren richteten die Bauern aus Grüningen nach diesem Eklat einen Beschwerdebrief an den Rat, den dieser wohlwollend zu prüfen versprach. Es hatten sich bereits Verhandlungsmechanismen zwischen Stadt und Landschaft herausgebildet, die zur friedlichen und auf Interessenausgleich setzenden Konfliktlösung beitrugen. Nachfolgende Agitationen einzelner Bauernführer zur gewaltsamen Durchsetzung der Forderungen führten dagegen nicht zum Ziel. Dem Grüninger Beschwerdebrief schloßen sich weitere Landgemeinden aus fast allen nördlichen Landesteilen an, wogegen sich die wohlhabenden Gemeinden am Zürichsee aus dem Konflikt konsequent heraushielten. 12 Auch Zollikon, das Zentrum der Täuferbewegung, gehörte keineswegs zu den aufständischen Gebieten. Diese differenzierte Sicht der Ereignisse ist m. E. unerläßlich, um nicht vorschnell eine einheitliche ländliche Reformbewegung bzw. „Revolution" zu postulieren, die faktisch weder alle Landgemeinden umfasste, noch zur permanenten Gewaltanwendung führte. Der instruktive Vergleich der Beschwerdebriefe aus dem Zürcher Umland mit den 12 Artikeln der schwäbischen Bauern läßt keinen Zweifel daran, daß es keine literarische Verwandtschaft zwischen den beiden Zeugnissen bäuerlicher Forderungen gibt. 13 Die nachweisbaren Analogien lassen sich nach Dietrich eher aus vergleichbaren bäuerlichen Lebensverhältnissen erklären, als aus einer direkten Abhängigkeit. Diese notwendige komparative Analyse der Beschwerdeartikel unterbleibt bei Hui, der gleichwohl eine enge Verwandtschaft mit den 12 Artikel konstatiert. 14 Als zentrale Forderungen der Bauern nennt H u i die freie Pfarrerwahl, die Abschaffung des Zehnten und die Aufhebung der Leibeigenschaft. Diese Artikel stimmen zwar mit Blickles These der „Gemeindereformation" überein, entsprechen jedoch keineswegs den zentralen Anliegen der Beschwerdebriefe aus den Zürcher Landgemeinden. Die Grüninger Bauern bestätigten in ihrem Brief vielmehr zuerst die durch eine Volksanfrage zuvor versicherte Unterstützung der Zürcher Obrigkeit, die für sie als einzig legitim galt. 15 Hui wertet die Artikel dagegen als Ausdruck für die emanzipatorischen Interessen Grüningens, das sich von der zentralen Herrschaft Zürichs lösen wollte. In diesem Zusammenhang zitiert er eine Passage 11 Dietrich gibt hier die Zahl der aufständischen Bauern mit 1200 an. Vgl. Dietrich, Zürich, 228. 12 Vgl. EAk Nr. 743, 348: Unter dem Datum vom 11. Juni lehnte ζ. B. die für ihre Verquickung mit der Täuferbwegung berühmte Gemeinde Höngg die Beschwerdeartikel ab und unterstellte sich ganz den Entscheidungen des Rates. Hier ist von der aufrührerischen Predigt des Simon Stumpfs nicht mehr viel die Rede. 13 14 15

Vgl. Dietrich, Zürich, 230. Vgl. Hui, Bauernaufstand, 118. Vgl. Dietrich, Zürich, 231.

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10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

aus dem Beschwerdebrief, die aber gerade die Oberhoheit der städtischen Obrigkeit bejaht. 16 In der Auflistung der einzelnen Beschwerden finden sich im Gegensatz zu den 12 Artikeln kaum Anklänge an reformatorisch-theologische Begründungen und keinerlei Spuren, die auf täuferisches Gedankengut verweisen. Es wird lediglich fünfmal die zur Formel erstarrte Bezugnahme auf das „Wort Gottes" verwandt, dabei zumindest zweimal als Synonym für die reformatorische Bewegung. Die freie Pfarrerwahl kann in den Grüninger Artikeln nicht als vorrangig betrachtet werden, da sie erst an 26. Stelle von insgesamt 27 Beschwerdepunkten erscheint. 17 Auch die Zehntproblematik stand in Grüningen keineswegs im Vordergrund, die vielmehr differenziert thematisiert und laut Bescherdebrief ζ. T. in das Ermessen des Rates gestellt wurde, der allerdings gemäß dem Wort Gottes entscheiden sollte. I m Blick auf die bäuerlichen Artikel der Zürcher Landschaft war dagegen die Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft zentral. Die Artikelbriefe der Landgemeinden belegen, daß die Bauern vor allem versuchten, alte Forderungen aus den früheren Konflikten durchzusetzen. Für sie war die Abschaffung der obrigkeitlichen „Zwischengewalten" wie Vögte und Niedergerichtsherrschaften sowie die gemeindeautonome Verwendung des Zehnten und der Klostergüter von größtem Interesse. In einigen Beschwerdebriefen fehlt die freie Pfarrerwahl völlig. Die Artikel sind stark von lokalen Besonderheiten geprägt und bilden den in früheren Auseinandersetzungen erreichten Stand der Beziehungen zwischen Stadt und Land ab. Als Reaktion auf die völlig abschlägige Antwort des Rates auf die Beschwerdebriefe kam es am 5. Juni 1525 in Töss bei Winterthur zu der größten Bauernversammlung im Zusammenhang der aktuellen Unruhen. 18 Aufgrund der Inaussichtstellung eines Konvents der Abgeordneten aller Bauern am 15. Juni in Kloten seitens der vermittelnden Delegierten des Rates und des geschickten Taktierens der Stadt Winterthur gelang es schließlich, die Bauernversammlung aufzulösen und eine gewaltsame Eskalation zu verhindern. Die Ereignisse des entscheidenden „Tags von Kloten" lassen sich in den Quellen kaum nachweisen. Als Resultat wurde in den anschließenden Ratsmandaten zur Zehntfrage - trotz der aus Protest gegen die repressive Ratspolitik einberufenen Gemeindeversammlungen in Dürnten, Gossau, Hinwil (Grüningen) - die Situation zugunsten der Stadt entschieden. Frühere Aufstände hatten nach Dietrich die Stadt-Land-Beziehungen bereits geklärt und auf eine konstitutionelle Grundlage gestellt. 19 Damit unterschied sich Zürich s. E. entscheidend von den 16

Vgl. Hui, Bauernaufstand, 118. Vgl. EAk Nr. 702,318. Die Trägerkreise der Beschwerdeartikel müßten ebenfalls gründlich untersucht werden. Der Landvogt von Grüningen berichtete von inneren Differenzen zwischen den „schryger" und den Dorfehrbarkeiten. Vgl. dazu: E A k Nr. 798,380. 18 Vgl. Dietrich, Zürich, 235. Vgl. ebd., . 17

10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher Herrschaftsgebiet

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Machtverhältnissen in Oberdeutschland, wo erst der Bauernaufstand von 1525 eine vergleichbare Grundlage anstrebte. Die Aufstände in Zürich und Umgebung wurden 1525 durch den Rechtsweg friedlich beigelegt. Die am 11. September veranstaltete große Zürcher Kirchweihfeier belegte als gemeinsames Volksfest von Stadt und Land das Ende der Krise dieses Jahres. Die städtische Obrigkeit und ihr Reformator hatten sich durchgesetzt. Über diesen friedlichen und gewaltlosen Ausgang der Bauernunruhen von 1525 in der Zürcher Landschaft finden sich jedoch keinerlei Hinweise in den vorgenannten Arbeiten zur Verquickung von Bauernaufstand und Täuferbewegung. Dagegen ist von fortgesetzten massenhaften Zehntverweigerungen, Protestversammlungen und Gottesdienststörungen die Rede, die gegen die Ratspolitik gerichtet gewesen sein sollen. 20 So wird das Bild einer bäuerlichen Reformation in Grüningen konstruiert, die von der Breite der Bevölkerung getragen worden sei. Diese weitreichende Einschätzung hat jedoch keinen bisher erkennbaren Anhaltspunkt in den Quellen. Welche Rolle spielten die Täufer in diesen Bauernunruhen, die 1525 in einer spektakulären Gewaltaktion gegen das Kloster Rüti mit einer nachfolgenden weniger gravierenden Plünderung, der Abgabe von Beschwerdebriefen, einer Massenversammlung in Töss und den auf die enttäuschenden Mandate folgenden Gemeindeversammlungen bestanden? Weder eine von ihrer Seite erfolgte Einflußnahme auf die Bauernartikel noch auf den Tag zu Kloten ist nachweisbar. 21 Das einzige spektakuläre Auftreten der Täufer war ein Umzug aus Zollikon, bei dem die Täufer samt Frauen und Kinder im Juni 1525 im Büßergewand in die Stadt Zürich zogen, um ihr den bevorstehenden Untergang vorauszusagen. 22 Es ist gewiss nicht zu leugnen, daß die Täuferbewegung in den ländlichen Gebieten um Zürich Erfolg hatte. Auch in anderen Regionen der bäuerlichen Unruhen wie in Hallau und Schaffhausen lassen sich täuferische Einzelpersönlichkeiten und Gruppierungen aus den Quellen nachweisen. Nicht nachvollziehbar ist dagegen die Prämisse, die Täufer seien Sympathisanten oder gar die geistlichen Führergestalten der Bauernunruhen in Grüningen gewesen. Dies hat etwa Goertz behauptet, der sich in einer kritischen Rezension zu D. G. Lichdis Biographie über Grebel zu dessen Rolle in den Bauernunruhen äußert: „So bleibt [d. h. in dem rezensierten Lebensbild, Anm.] verborgen, wie genau, energisch und einfühlsam Grebel auf die Sorgen und Bedürfnisse der Aufständischen eingegangen ist, diese Menschen unterstützt und beflügelt hat. Er wird um die größte Resonanz gebracht, die 20

Vgl. Hui, Bauernaufstand, 119. Ähnlich steht es auch mit den Artikeln der Dörfer in Löhningen, in deren Forderungen keine täuferische Einflußnahme nachzuweisen ist. Auch die Forderung nach Pfarrerwahl, ebenso nach Glaubenstaufe wird nicht erwähnt. Wie kann das aber sein, wenn die Täufer an dieser Bewegung maßgeblich beteiligt sein sollten? Goertz, Aufständische Bauern, 103. 22 Vgl. QGTS I, Nr. 74,81. 21

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10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

er in seinem Leben je hatte. Von den Aufständischen fühlte er sich verstanden." 2 3 Auf der Suche nach Verflechtungen mit der frühen Täuferbewegung analysiert H u i vor allem die Akten zu den Grüninger Bauernunruhen von 1525.24 Dabei entsteht der Eindruck, als hätten weite Teile der Bevölkerung gegen die obrigkeitliche Reformation und für eine freie Predigt gekämpft. Fragt man danach, welche fortgesetzten Unruhen denn gemeint sein könnten, findet sich in der Studie Huis stets der Hinweis auf den Klostersturm von Rüti. Hui vermag zwar nachzuweisen, daß die Verhandlungsführer der Bauern in Rüti Hans Gyrenbader (Girenbader) und Hans Vontobel später mit den Täufer sympathisierten und schließlich als Täufer gefangengesetzt wurden. 25 Ist aber die spätere Zugehörigkeit dieser beiden Abgesandten der Bauern zur täuferischen Bewegung bereits ein hinreichender Beleg für die Korrelation der Täufer mit den sozial-emanzipatorischen Anliegen der Landgemeinden? Könnte es sich nicht auch um Konversionen aufgrund genuin religiöser Überzeugung handeln? Wie bereits ausgeführt, überinterpretiert H u i den Autonomiegedanken, wobei er die spezifische und historisch gewachsene Beziehung der Stadt Zürich zu ihren Landgemeinden gänzlich unberücksichtigt läßt. Man kann m. E. daher in keiner Weise davon ausgehen, daß die Grüninger Bevölkerung 1525 noch zu einem späteren Zeitpunkt für eine größtmögliche Autonomie gegenüber der Stadt gekämpft habe. Besonders weitgehend sind Huis Ausführungen zum Wirken der Täuferführer Grebel, Mantz und Blaurock in Grüningen. 26 Die Täufer seien dort aufständischen Volksmassen begegnet, wobei offen bleibt, wie der Autor dieses Bild einer revolutionären Bevölkerung zu belegen vermag. Zum Beweis zitiert er Bullingers Ausführungen, dessen pejorative Sicht der Täufer jedoch den Wert der Quelle mindert. H u i behauptet weiterhin, ohne nachweisbaren Anhalt an den Quellen, daß Grebel, Mantz und Blaurock Anschluß an die Aufständischen gesucht hätten. Das Wirken der Täufer hätte die „Grüninger und Grüningerinnen" ermuntert, ihre sozialpolitischen Ziele weiter zu verfolgen. Es ist erstaunlich welch weitreichende Folgerungen hier gezogen werden. Den missionarischen Erfolg des Täufertums deutet H u i als Übergang der bäuerlichen Protestbewegung - wie immer er sich diese auch real vorstellt - zur täuferischen Bewegung. Grebel soll sich selbst am Aufruhr gegen die Obrigkeit beteiligt haben. Als Beleg führt er an, daß viele Leute seine Predigt 23 H.-J. Goertz, Diether Götz Lichdi, Konrad Grebel und die frühe Täuferbewegung (Die Väter der Täuferbewegung, 2), Lage 1998, in: MGB 55,1998,114. Vgl auch die populäre Darstellung der Biographie Grebels zu seinen Aktionen in der Zürcher Landschaft 1525: H.-J. Goertz, Konrad Grebel. Kritiker des frommen Scheins 1498-1526. Eine biographische Skizze, Hamburg 1998,115 ff. 24 Vgl. Hui, Bauernaufstand, 119 ff. 25 Vgl. ebd., 120 f. 26 Vgl. ebd., 131.

10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher Herrschaftsgebiet

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gehört hätten, deren Inhalt jedoch weitgehend unbekannt ist. 27 Dabei ist zu berücksichtigen, daß die spärlichen Nachrichten über Grebel ausschließlich aus den Berichten seiner Gegner stammen - seien es Bullinger oder auch der Landvogt Jörg Berger aus Grüningen. Es fehlen dagegen intentionale Eigenzeugnisse der Täufer aus dieser Zeit. Die polemische Gleichsetzung täuferischer Predigttätigkeit mit dem Aufruf zum Aufruhr ergab sich aus der Sicht der Obrigkeit allein schon durch die Verletzung der Ratsmandate. H u i muß selbst eingestehen, daß die von einem Zeugen wiedergegebenen militanten Aussagen einer Predigt Grebels in Hinwil nicht verifizierbar seien. Immer wieder wird aus den Quellen deutlich, daß Grebel über die Taufe gepredigt und disputiert hat und dabei großen Anklang bei seinen Hörern fand. Die Aussage des im November 1525 inhaftierten Grebel belegt im Gegensatz zur Deutung Huis die in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeiteten Elemente der Ekklesiologie der Täufer. Grebel beharrte auf der Verwerfung der Kindertaufe und der ausschließlichen Anwendung der Glaubenstaufe. „Der kilchen halb seit er, wölcher ein gitler, wûcherer, spiler und annders wie dann die gschrifft das uß wißt, der solle nienderth under den christen sin, sonder mit dem ban ußgeschloßen werde." 28 Im Gegensatz zu H u i läßt sich aus dieser kurzgefaßten ekklesiologischen Anmerkung keineswegs die „Läuterung der ganzen Kirche, der ganzen Gesellschaft", 29 sondern eher das separatistische Gemeindeideal der sichtbaren Gemeinde der Gläubigen belegen, einschließlich der ihre Reinheit sicherstellenden Gemeindezuchtpraxis. Grebel wehrte sich in seinem Verhör jedoch nachdrücklich gegen die Beschuldigung, er habe gegen die Obrigkeit agitiert. Die Predigt Blaurocks in Hinwil, die er anstelle des rechtmäßigen Pfarrers auf der usurpierten Kanzel am 8. Oktober 1525 hielt, deutet H u i als Beleg für die These, daß es den Täufern um die Gewinnung ganzer Gemeinden gegangen sei. 30 Er unterstellt Blaurock damit eine volkskirchliche Ekklesiologie, die sich aber allein aus der Tatsache, daß er in einem reformierten Gottesdienst eigenmächtig predigte, nicht zwangsläufig ergibt. Blaurock versuchte vielmehr an exponierter Stelle für die täuferische Lehre zu wirken. Das weist auf sein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein hin, das auch an anderer Stelle in dieser Untersuchung belegt werden konnte. Landvogt Jörg Berger schrieb über die Legitimierung Blaurocks vor der Gemeinde: „Weß ist die stat, ist das die stat goteß, da man sol das gotßwort ferkünden, so bin ich hie ein gsenter vom fater zû ferkünden das wort goteß." 31 Der in den Predigtkonflikt involvierte Pfarrer Johannes Brennwald gab als strittigen Inhalt der Predigt die 27

Vgl. ebd., 132. QGTS I, Nr. 122,124. 29 Hui, Bauernaufstand, 133. 30 Vgl. ebd., 134. 3 1 QGTS I, Nr. 109,110. 28

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10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

Taufauffassung Blaurocks an. Als Brennwald die Rechtmäßigkeit der Kindertaufe verteidigte, beschuldigte ihn Blaurock, er sei der Antichrist. 32 Nach heftigem Streit wurde Blaurock daraufhin gefangengesetzt. Er verfügte über eine große Anhängerschaft, die ihm bei seiner Verhaftung nachlief. Der Landvogt schilderte dem Rat die aufgeregte Stimmung anläßlich der Gefangennahme,33 zumal sich über zweihundert Menschen in der Kirche versammelt hatten. Es wird deutlich, daß zahlreiche Sympathisanten Blaurocks die Verhaftung mißbilligten und ihren Unmut bekundeten, wobei es jedoch zu keiner gewaltsamen Aktion gegen die Vertreter der Obrigkeit kam. Die weitere Verfolgung der Täufer 1526/27 wird von H u i anhand der obrigkeitlichen Mandate beschrieben. Dabei interpretiert er die Aktivität von Grebel, Mantz und Blaurock als fortgesetzten Kampf innerhalb der Grüninger Bewegung, übersieht jedoch die fortgeschrittene Ausgrenzung der Täufer aus der bäuerlichen Gesellschaft. Die vom Tod bedrohten Täufer versammelten sich nach Ausweis der Quellen im Freien, obwohl ihre Zusammenkünfte von der Obrigkeit nicht toleriert, sondern radikal geahndet wurden. In der Zürcher Landschaft herrschte von jeher ein Versammlungsverbot, um Aufstände im Keim zu vermeiden. Die Versammlungen der Täufer deutet H u i als Ausdruck einer radikalreformatorischen bäuerlichen Bewegung in Grüningen, deren „Identifikationsfigur" Mantz bis zu seinem Tod gewesen sei. Weil der Landvogt nach dessen Hinrichtung erneut Kunde über eine geplante Täuferversammlung - diesmal in einer Kirche - erhielt, sieht H u i seine These bestätigt, wonach die Täufer eine Reformation im Rahmen der bestehenden Kirche befürworteten. Bei der vorausgegangenen Versammlung, die der Landvogt aufdeckte, waren 30 Personen anwesend, was gewiß nicht auf eine massenhafte Beteiligung der ländlichen Bevölkerung schließen läßt. 34 Aus den weiteren Berichten des Landvogts zeichnet sich vielmehr das Bild einer täuferischen Gruppierung, die sich in Häusern und Bauernstuben, aber auch im Freien versammelte, um gemeinsam in der Bibel zu lesen und zu beten. 35 H u i konstruiert dagegen eine „Gemeindereformation" im Grüninger A m t und den anderen Zürcher Landgemeinden, die sich anhand der wenigen historischen Fakten der bäuerlichen Unruhen von 1525 m. E. nicht halten läßt. Dagegen ist Dietrich recht zu geben, der im Blick auf die Zürcher Landschaft wesentliche Unterschiede zur politischen Lage der immer stärker entmündigten Bauernschaft in Oberdeutschland feststellt. 36 Zürich war s. E. bereits seit 1489 auf einen Interessenausgleich mit seinen Landgemeinden bedacht, weshalb es in Zürich und Umgebung nicht zu vergleichbaren gewaltsamen Kon32

Vgl. QGTS I, Nr. 399,388.

33

Vgl. QGTS I, Nr. 109,110. Vgl. QGTS I, Nr. 206,228.

34 35 36

Vgl. QGTS I, Nr. 207,229. Vgl. Dietrich, Zürich, 255.

10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher Herrschaftsgebiet

435

flikten kam. „Die patriachalisch, aber ,realpolitisch 4 geprägte Herrschaftsform der Stadt Zürich stellte demnach einen dritten Weg zwischen der urschweizerischen Landsgemeindedemokratie und den zum Absolutismus tendierenden fürstlichen Landesherrschaften dar." 3 7 Der von H u i postulierte Kampf um Gemeindeautonomie läßt sich mit der gewachsenen Beziehung zwischen der Stadt und ihren Landgemeinden dagegen nicht vereinbaren. Abschließend sei noch auf die Eingabe der Grüninger Täufer an den Landtag aus dem Jahr 1527 verwiesen, die Hui als besonders charakteristisch für die bäuerliche Bewegung nach 1525 betrachtet 38 und Goertz als Ausdruck einer Gemeinde verstanden wissen möchte, die um ihre kommunale Selbständigkeit ringt. 39 In der ausführlichen Schrift geht es um die Verteidigung der theologischen Position der Täufer. Sie bestreiten darin zunächst, daß die Mandate des Rates gegen die Täufer dem Wort Gottes entsprächen. In Rückgriff auf Apg 2,29 wollten sie deshalb eher Gott als den Menschen gehorchen. Sie seien nach eigenen Angaben auch schon vor dieser Verteidigungsschrift bereit gewesen, ihre Lehre mit der Heiligen Schrift zu beweisen. Der Kernpunkt der Auseinandersetzung war offensichtlich die Tauflehre, die auch als erstes eine biblische Begründung erfährt. Die Täufer verwendeten dabei bereits bekannte Argumente zur Taufe Christi und zur Johannestaufe, wonach Christus sich erst mit 30 Jahren von Johannes taufen ließ. Anläßlich seiner Taufe habe Christus von der Taufe als einer zu erfüllenden „Gerechtigkeit" gesprochen (Mt 3,15). Da der Taufe des Johannes eine Buße vorangegangen sei, solle auch die christliche Taufe erst nach vorheriger Umkehr zu Gott vollzogen werden. Daraus zogen die Täufer den Schluß, daß man keine Kinder taufen könnte, da diese weder bußfähig, noch -bedürftig waren und zudem die Taufe nicht als „Gerechtigkeit" und Rat Gottes begreifen könnten. Als zentraler Schriftbeleg für die Gläubigentaufe erscheint auch hier der Missionsbefehl Christi, der in einer textlichen Kombination aus M t 28,19 und M k 16,16 wiedergegeben wird. Damit war für die Täufer die umumkehrbare Reihenfolge von Lehre, Glaube und Taufe durch den Auftrag Jesu vorgegeben. Aufgrund von M k 10,14 vertraten die Täufer die Ansicht, daß die Kinder nicht verdammt seien, und deshalb auch nicht getauft werden müßten. Getauft werden sollte nur, wer auch zur Erkenntnis von Gut und Böse fähig sei. A n dieser Stelle lassen sich deutliche Parallelen zu den bisherigen täuferischen Zeugnissen nachweisen.40 Danach wandten sich die Täufer in ihrer Verteidigungsschrift gegen Zwingiis Argumentation, wonach die Taufe nur ein äußeres Zeichen sei. Den Reformator nannten sie dabei nicht namentlich, 37

Ebd. Vgl. Hui, Bauernaufstand, 137. 39 Vgl. Goertz, Aufständische Bauern, 96. 40 Vgl. die Ausführungen zum Müntzerbrief und zur Protestation in der vorliegenden Untersuchung (Punkt 5.2 und 6.2). 38

436

10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

sondern titulierten ihn als „falschen Propheten". Die Taufe sei dagegen von Christus als Gerechtigkeit und Rat Gottes bezeichnet und durch ihn befohlen worden. Wer also die Taufe nicht in dieser Weise vertrat, wandte sich nach Meinung der Täufer gegen den Ratschluß Gottes und sein Gebot. Die „falschen Propheten" würden, sofern sie nicht zur Buße fänden, vom Reich Gottes ausgeschlossen bleiben. Hier wird die deutliche Abgrenzung zur zwinglischen Reformation erkennbar. Neutestamentliche Beispiele für die Glaubenstaufe aus Apg 2,41 und Apg 8,36-38 wurden zur Begründung dieses Verdikts herangezogen. Die konstitutive Reihenfolge von Buße und Taufe sprach für die Verfasser eklatant gegen die Kindertaufe. Dabei leuchtet ihre biblizistische Auslegungsmethode in der Bemerkung (argumentum e silencio) auf, daß die 3000 Gemeindeglieder, die sich nach der Pfingstpredigt des Petrus taufen ließen, wohl durchaus auch ihre Kinder getauft hätten, wenn dies angemessen gewesen wäre. M i t den biblischen Belegstellen sei daher eindeutig die unumkehrbare Reihenfolge von Glaube und Taufe nachgewiesen, die auf Kinder nicht angewandt werden könnte. Interessant scheint der darauf folgende Hinweis auf Apg 19,1-7 und die „Wieder"-Taufe der Johannesjünger von Ephesus. Die Schlüsselfunktion dieser Erzählung für die Durchführung der ersten Gläubigentaufe in Zürich im Jahr 1525 wurde bereits dargelegt. 41 Auch die Täufer von Grüningen zogen diese Schriftstelle als Beweis für eine ungültige Taufe ohne Glauben heran: „Verstand, das die zwölf nit genügsam gelert sind den globen Cristi. Darumm so ist es kein touff gsin. Darumm so ist der kindertouff ouch nütt den ein valsche, tüfelische 1er, sydtmal er allenthalben wider das wort gottes ist." 4 2 Als weitere Schriftbeweise wurden Zitate aus Eph 4,5 und Rom 6,2-4.19 aufgeführt. Damit knüpften die Täufer an die ethische Auslegung der Tauflehre aus den früheren Zeugnissen der Bewegung an. Der unvertretbare Glaube und der Wille zur Besserung des Lebens waren für sie im Blick auf die Taufe verbindliche Voraussetzungen, weshalb eine Kindertaufe unter keinen Umständen in Betracht kommen konnte. Die Ekklesiologie ist das zweite, wesentüch kürzer verhandelte, theologische Thema, das sich an die ausführliche Argumentation zur Tauflehre anschließt. Zunächst wird M t 18,15-18 paraphrasiert. Auch in diesem Fall ist auf die Relevanz dieser Textstelle in den vorausgehenden täuferischen Schriften zu verweisen, wonach die Bannpraxis den Gläubigen bzw. den gläubig Getauften vorbehalten sei. Unter Hinweis auf Rom 8,4, wo von den Früchten des Heiligen Geistes die Rede ist, werden die Kennzeichen der wahrhaft Gläubigen aufgezählt, um dann mit der Konklusion zu schließen: „Die darinnen wandlent, die sind die gmeind Cristi und der lib Cristi und die kristenlich kilch. Nun verhoffend wir und sind des versicheret, das wir in der rechten kil41 42

Vgl. Punkt 7.2 und 8.1 dieser Untersuchung. QGTS I, Nr. 212,236.

10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher H e r r s c h a f t s g e b i e t 4 3 7

chen sind. Nun wottend si uns zwingen uß der cristenlichen kilchen in ein frömde kilchen." 43 Diese Sätze entsprechen ohne Zweifel den ekklesiologischen Vorstellungen der Täufer. Schwer zu deuten ist jedoch die Beurteilung ihrer derzeitigen Kirchenmitgliedschaft. Verstanden die Täufer zu Grüningen ihre angestammte Kirche, sofern sie ihre Auffassungen zu Taufe und Ekklesiologie teilte, als die wahre Kirche, von der sie sich nicht separieren wollten? Kann man daraus den Schluß ziehen, daß sie im Falle einer fehlenden gemeinsamen Lehrgrundlage in eine „fremde" und damit zur Gründung einer eigenen Kirche gezwungen würden? Oder war ihnen vielmehr ihre eigene Kirche fremd geworden, deren Taufauffassung sie nicht länger teilten, die i. E. von „falschen Propheten" geleitet wurde und den teuflischen Brauch der Kindertaufe praktizierte, in der sie nun durch die obrigkeitliche Verfolgung zum Verbleiben gezwungen werden sollten? Hätte daher die mit Gewalt erzwungene Rückkehr in die reformierte Kirche für sie einen Wechsel in eine fremde, nicht-christliche Kirche bedeutet? Die letztgenannte Deutung hat m. E. die größere Wahrscheinlichkeit für sich. Die Verfasser zogen derart markante Trennungslinien zwischen christlicher und antichristlicher Lehre, daß eine Kirche, die ihrer Meinung nach in der Tauffrage gegen das Wort Gottes handelte, für sie keinesfalls länger als die wahre christliche Kirche angesehen werden konnte. I m Anschluss daran wird in dem Schreiben jedoch die Diskussion um die Kindertaufe wieder aufgenommen, wobei sich die Täufer mit der Argumentation Zwingiis zur Gleichsetzung von Taufe und Beschneidung auseinandersetzten. Der Bundesschluß mit Abraham, dessen Zeichen die Beschneidung sei, gelte nur für Juden, aber nicht für sie, da sie aus dem Heidentum stammten. Mit Hinweis auf die in Christus erfüllte Verheißung wird die föderaltheologische Analogie von Taufe und Bescheidung bestritten. 44 Dabei wird die Unvergleichbarkeit von Taufe und Beschneidung interessanterweise auch mit dem Hinweis auf die Einbeziehung der Frauen in die Verheißung belegt, die von dem Bundeszeichen der Beschneidung im Alten Testament noch ausgeschlossen waren. Erneut wird zum Gehorsam gegenüber dem Gebot Christi (Mt 28,19) ermahnt, wobei die Autorität Christi durch Zitierung der göttlichen Bestätigung seiner Sohnschaft in M k 1,11 und M t 17,5 unterstrichen wird. Gegen den Rückgriff Zwingiis auf alttestamentliche Schriftstellen argumentieren die Verfasser mit der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Kommens Christi. „Cristus ist das euangelium, darumm so hat das gsatz nun wis gseit bis uff die zûkunfft Cristi, als dan der Paulus ouch spricht: Cristus ist des gesatz ennd. Und abermals spricht Paulus: Do Cristus ist kommen, do hebt er

43

Ebd., 237. Hier ist ein Fortschritt in der täuferischen Argumentation zu erkennen, wenn man sich deren hermeneutische Schwierigkeiten in den Taufgesprächen in Erinnerung ruft, die in Zwingiis Taufbuch reflektiert werden. Vgl. Punkt 9.1.1 dieser Untersuchung. 44

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10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

das erst uff, das er das ander insetze." 45 Ausführlich wird anschließend anhand der Selbstprädikationen („Ich-Bin-Worte") aus dem Johannesevangelium die exklusive Heilsbedeutung Christi hervorgehoben, um schließlich erneut die Zugehörigkeit der ungetauften Kinder zum Reich Gottes festzustellen. Die Kindertaufe sei dagegen nicht mit der Bibel vereinbar. Ihre Verfechter werden deshalb entsprechend der Bildworte aus Joh 10 in drastischer Weise als Diebe und Mörder Christi bezeichnet. 46 Die Schreiber dieser Rechtfertigungsschrift zielten auf die Abkehr der Verantwortlichen von der Kindertaufe, die sie als Umkehr aus der Finsternis zum Licht bezeichneten. Sie forderten die Adressaten auf, sie anhand ihrer „Frucht" zu beurteilen. In freier Anlehnung an den Lasterkatalog in Gal 5,19-21 zählten sie die Kennzeichen der christusfernen Finsternis auf, was zugleich für die Ekklesiologie der Verfasser von Bedeutung ist: Glieder der Kirche sollten nur diejenigen sein, an denen die Früchte des Geistes erkennbar seien, wogegen aus ihr ausgeschlossen werden sollte, wer ein eklatantes moralisches Fehlverhalten an den Tag legte. Z u den aufgezählten Lastern fügten die Täufer Mord, Ehebruch und Spielleidenschaft hinzu. Analog argumentierte auch Grebel, als er in seinem Verhör 1525 über sein Kirchenverständnis befragt wurde (s. o.). Durchaus selbstbewußt schloßen die Täufer ihre Schrift mit dem Hinweis ab, daß die Kindertaufe die eigentliche „Wiedertaufe" sei, während ihre Taufanschauung dagegen die wahre christliche Taufe sei, und baten, daß sie bei dieser Wahrheit bleiben dürften. Andernfalls erklärten sie ihre Bereitschaft zum Martyrium. Aus dieser Eingabe lassen sich, wie bereits dargelegt, vielfältige Parallelen zu den vorangegangenen Täuferschriften und ihren Aussagen in den Disputationen sowie in den Verhören ziehen. Die zentralen Bibelstellen, die Tauflehre, aber auch die Bedeutung des Banns und der Lebensführung der Gläubigen im Blick auf die Ekklesiologie treten klar hervor. Mögliche Analogien zu den bäuerlichen Forderungen bleiben allerdings unklar, trotz gegenteiliger Behauptungen in der Täuferforschung. Für H u i weist die Bezugnahme auf Rom 6 auf die bleibende Haltung „des tätigen Erwartens des Reiches Gottes" 4 7 hin, das die Bauernbewegung geprägt habe. Das theologisch legitimierte Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit deutet er in gleicher Weise. Zwar gesteht er zu, daß in dem Schreiben „auch" von der Glaubenstaufe und dem Bann die Rede sei, bestreitet aber die Existenz einer Sondergruppe. Überblickt man freilich den gesamten Text der Eingabe, so ist diese fast ausschließlich der Widerlegung der Kindertaufe bzw. der biblischen Rechtfertigung der Glaubenstaufe gewidmet. Das einzige Thema, das darüber hinaus noch be45

Ebd., 237 f. Dieselbe Beurteilung hatte auch schon Blaurock in einem Schreiben während seiner Gefangenschaft vorgenommen. Vgl. QGTS I, Nr. 123,125. 47 Vgl. Hui y Bauernaufstand, 137. 46

10.1 Täufertum und Bauernkrieg im Zürcher Herrschaftsgebiet

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rührt wird, sind die davon abgeleiteten ekklesiologischen Konsequenzen. Dagegen werden weder das Verhältnis zur städtischen Obrigkeit, noch die Zehntfrage oder anderen Abgaben, noch sonstige bäuerliche Forderungen auch nur mit einem Wort erwähnt. Goertz resümiert über die Eingabe der Grüninger Täufer: „Hinter diesem Gemeindeverständnis könnte sich schon der spätere freikirchliche Separatismus verbergen, aber ebensogut auch noch das kommunale Selbstverständnis der einst um Selbständigkeit ringenden Gemeinden im Zürcher Herrschaftsgebiet. Obwohl diese Gemeinden sich zwar unter ekklesiologischem Aspekt nicht als Freikirchen verstanden, befanden sie sich doch in einem separatistischen Prozeß gegenüber ihrer herkömmlichen Herrschaft. [...] Die Übergänge von einem kommunal-volkskirchlichen zu einem freikirchlichen Separatismus sind gleitend." 48 Auch diese Deutung kann nicht ganz überzeugen, da in der gesamten Eingabe die Emanzipation von der städtischen Herrschaft nicht thematisiert wird. Die Verfasser repräsentierten auch nicht eine geschlossene Dorf- oder Kirchengemeinde, sondern eine Gruppe von sechzehn inhaftierten Täufern. 49 Der einzige Hinweis darauf, daß sich die Täufer womöglich nicht als eigenständige „Kirche" verstanden haben könnten, belegt die mehrdeutige Aussage, derzufolge die Verfasser in der wahren Kirche sein und nicht in eine fremde Kirche gezwungen werden wollten (s. ο.). M. E. beweist aber gerade dieser Satz die Entfremdung der Täufer gegenüber ihrer angestammten Kirche und belegt deren selbstbewußtes Verständnis, die rechte christliche Kirche zu bilden. Überblickt man die Quellen zur Täuferbewegung in Grüningen in den Jahren 1525-1527, so lassen sich kommunale Zielsetzungen nur mit Mühe nachweisen. I m Vordergrund stehen theologische Auseinandersetzungen um die Taufe. Auch stößt man in den Quellen keineswegs auf fortgesetzte gewaltsamen Aktionen, die auf Initiative der Täufer zurückgingen. Die gesamte bäuerliche Bewegung im Zürcher Umland wird von der sozialhistorischen Forschung m. E. zu unkritisch und zu wenig differenziert mit den oberdeutschen Ereignissen parallelisiert, was zu einer Schieflage des historiographischen Interpretationsrahmens führt. Es gab kein revolutionäres Lager, das sich nach einer gescheiterten Erhebung enttäuscht dem Täufertum zuwandte, indem es die alten Forderungen a posteriori theologisch legitimierte. Vielmehr lassen sich Anzeichen einer genuin religiösen Bewegung aufzeigen, die zeitweise viele Anhänger in den verschiedenen Dörfern fand.

48 49

Goertz, Aufständische Bauern, 96. Vgl. EAk Nr. 1200,547; Nr. 1239,556.

4 4 0 1 0

Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung A n dieser Stelle soll nachfolgend und kursorisch das veröffentlichte Aktenmaterial zu den Jahren 1525-1527 unter der Fragestellung analysiert werden, ob und welche der bisher in der vorliegenden Untersuchung erarbeiteten Kennzeichen der frühen Täuferbewegung sich nachweisen lassen. Dabei werden verschiedene Beobachtungen unter synchronen Gesichtspunkten gebündelt. Es verdient alle Beachtung, daß es sich hinsichtlich der untersuchten Quellen ausschließlich um Verhörprotokolle bzw. Äußerungen im Zusammenhang mit offiziell sanktionierten Repressionen handelt, die von einer grundsätzlich negativ und pejorativ gegen die Täufer eingestellten Obrigkeit verfaßt und überliefert wurden. Die Antworten der Betroffenen sind durch die spezifischen Anklagepunkte, die gezielten Fragen und die Verfolgungssituation geprägt. M. a. W.: Es handelt sich keineswegs um intentionale Zeugnisse der Täufer und ihres Selbstverständnisses. Die Aussagen wurden ζ. T. unter Folter erzwungen und waren von schweren Haftbedingungen begleitet. Der große psychische Druck, der durch die zurückbleibenden Familien, die wirtschaftlich und gesellschaftlich in extreme Notsituationen gerieten, auf den Inhaftierten lastete, muß ebenfalls berücksichtigt werden.

10.2.1 Analogien zur theologischen Lehrentwicklung der Täufer Als sprechendes Beispiel für die Aufnahme täuferischer Lehre kann der Brief von Felix Mantz an den Rat in Zürich vom Februar 1525 gelten. 50 Mantz bezog sich gegenüber dem Rat zur Legitimierung seines Auftrag zu lehren und zu taufen auf die zentralen Bibelstellen der täuferischen Tauflehre (Mt 28,19; M k 16,16). Er schilderte anschließend die für die frühe Täuferbewegung bereits als typisch anzusehende Situation, daß ihn emotional erregte Menschen („etlich weinend") um die Taufe gebeten hätten, die ihnen dann von ihm gewährt worden sei. Dabei fällt auf, daß der Vorgang des Taufbegehrens schon formelhaft zusammengefaßt erscheint. 51 Die von ihm wiedergegebene Taufparänese enthält die für die Täuferbewegung bedeutsamen Gesichtspunkte der Bruderliebe und der Gütergemeinschaft nach Apg 2,42-47. Die in weiteren Akten wiedergegebenen Argumente gegen die Kindertaufe griffen ebenfalls auf bekannte Beweisführungen der bereits analysierten Täuferschriften zurück. So findet sich hier auch die bei den Täufern geläufige Formel, daß die Kindertaufe ihren Ursprung im Papsttum habe, wodurch ihre

50

Vgl. QGTS I, Nr. 42a, 49 f.; EAk Nr. 646, 288. Hier wird der Brief allerdings fälschlich Blaurock zugeschrieben. 51 Ähnliches wurde bereits in den Verhören zu den Ereignissen in Zollikon festgestellt.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

441

Illegitimität hinreichend bewiesen sei. 52 Blaurock ging noch einen Schritt weiter, indem er die Kindertaufe als Menschenwerk bezeichnete und sie gleichzeitig eines teuflischen Ursprungs bezichtigte. 53 Analoge Antworten zu diesen Aussagen Blaurocks finden sich auch im Verhör Grebels (9. November 1525 bis 7. März 1526). 54 Als zentrale Bibelstellen für die Glaubenstaufe werden immer wieder M t 28,19 und M k 16,16 angeführt. 55 Die typische Argumentation gegen die Kindertaufe im Blick auf das mangelnde geistige Verständnis der Kinder taucht ebenfalls wieder auf. 56 Grebel wiederholte in Diskussionen zur Tauflehre im Sommer 1525 seinen Standpunkt, wonach Kinder erst getauft werden sollten, wenn „si zû ir Vernunft kemind." 5 7 In dem umfangreichen Bericht über die Wirkung der täuferischen Predigt Grebels auf die Prädikanten in Grüningen vom März 1526 wird ebenfalls die Argumentation angeführt, daß man Kinder erst taufen sollte, wenn sie „zü iren tagen" gekommen seien, d. h. aufgrund ihres Lebensalters über die rationalen Fähigkeit zum Verständnis der Taufe verfügten und sofern sie zum Glauben gekommen seien. 58 Zusammenfassend berichtete Mantz im Verhör über die Tauflehre der Täufer: „[...] er wolle by der warheit belibenn, das der kinder touff nit uß gott, sonnder uß dem menschenn sige, und das das der recht touff sige, wölcher inn erkanntnuß gots sig und sich understands zû besserenn und ein junger Christi zû sind [.. .]." 5 9 Die ethische Komponente der Tauflehre, die bereits für andere täuferische Schriften nachgewiesen wurde, tritt hier unzweifelhaft hervor. Die Bedeutung der Ethik als Taufvoraussetzung läßt sich auch aus einer Zeugenaussage von Arbogast Finsterbach aus Oberwinterthur nachweisen, der über den Aufenthalt Grebels in seinem Haus und die von ihm vertretene Tauflehre berichtete: „Darzwüschent so were Cûnrat Grebel bi im zû Overwinterthur in sinem huß gesin unnd hette er in gefragt, was einer müßte thun, wann er wette laßenn touffenn. Antwurte im Grebel, einer müßte zûvor von ebrechen, spülen, suffenn und vom wuchzins stan." 60 Nikiaus Guidi beschrieb in einem Brief an seine Schwestern im Kloster zu Aarau aus dem November 1525 seine Taufpraxis: „Die da von mir begertten das waser der büß oder touff, damit mir in glibet sind worden in dem lib Christy, welches er unser hapt ist, got sy lob in

52

Vgl. QGTS I, Nr. 54,62. QGTS I, Nr. 124,126. 54 Vgl. QGTS I, Nr. 122,124. 55 Vgl. QGTS I; Nr. 60,68. 56 Vgl. QGTS I, Nr. 64,73. 57 QGTS I, Nr. 84,90. 53

58 Vgl. QGTS I, Nr. 174,183 ff. 59 QGTS I, Nr. 87,93. Das Verhör läßt sich nicht eindeutig den drei Gefangenschaften von 1525-1527 zuordnen. 60 Vgl. QGTS I, Nr. 98,101.

4 4 2 1 0

Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

ewigkait, amen." 61 Auch hier fällt das konstitutive Taufbegehren auf, und, als neuer Gedanke, die Eingliederung der Getauften in den Leib Christi. Seinen Schwestern gegenüber erwähnt Guidi, daß die Frau von Hans Dorman aus Zofingen durch die Taufe zu ihrer Schwester in Gott geworden sei. Hier erscheint die Taufe bereits als ein konnektives und zugleich diakritisches Zeichen, das die gläubig Getauften zu Schwestern und Brüder machte. Die in den Akten bezeugte Taufpraxis entsprach den bereits bekannten grundlegenden theologischen Einsichten, wonach die Reihenfolge von Glaube und Taufe für die Täufer konstitutiv war. 62 Wer um den Taufempfang bat, wurde folglich zunächst nach seinem Glauben befragt und anschließend unter Verwendung der trinitarischen Taufformel durch Besprengung getauft. 63 Entscheidend für den Taufvollzug war das „Taufbegehren" des einzelnen. 64 Eine Taufszene, die von Heini Merger in seinem Verhör geschildert wird, das wohl Ende 1525 stattgefunden hat, belegt die unabdingbaren Elemente der Taufpraxis. 65 Felix Leman aus Hirslanden etwa wollte von dem Angeklagten getauft werden. Er hatte zuvor bereits der Unterweisung durch Täufer aus Waldshut beigewohnt. Jetzt sei er „so wol bericht, das er von hertzen begerte getoufft werden, bette inn, das er inn touffte." 66 Obwohl er wußte, daß er gegen das Ratsmandat verstieß, war Merger unter der Bedingung der Geheimhaltung und dem erklärten Willen des Täuflings, sein Leben zu bessern, zur Spendung der Taufe bereit. Nachdem Leman damit einverstanden war, taufte er ihn mit Wasser unter Verwendung der trinitarischen Taufformel. Belehrung, Taufbegehren und der Wille, das der Taufe folgende Leben im ethischen Gehorsam zu führen, waren die erkennbaren Voraussetzungen für den Taufempfang. Ein weiteres Beispiel ist dem Verhör Heinrich Aberlis im Januar 1526 zu entnehmen, der ein Jahr zuvor auf einer gemeinsamen Reise nach Waldshut U l i Hottinger getauft hatte. 67 Die Taufszene weist klare Bezüge zur Geschichte des äthiopischen Kämmerers in Apg 8,26-40 auf, so daß eine Stilisierung Vgl. QGTS I, Nr. 119,118. Vgl. QGTS I, Nr. 60, 68. Hier bezieht sich Valentin Gredig auf Mk 16,16, um die grundsätzliche Reihenfolge von Glaube und Taufe zu belegen. 63 Vgl. QGTS I, Nr. 54,62; vgl. ebd., Nr. 59,67. 62

64

An vielen Stellen wird dieses Taufbegehren als Begründung für den Vollzug der Taufe genannt. Vgl. u. a. QGTS I, Nr. 55,63. Dort begründet Jörg Schad seine Taufpraxis mit dem Begehren von vierzig Täuflingen. Valentin Gredig gibt zu, eine Frau getauft zu haben, weil sie ihn darum gebeten hätte und er es ihr daher nicht abschlagen konnte. Vgl. ebd., Nr. 56, 64: Jakob Hottinger legitimiert seine Taufpraxis ebenfalls mit dem Taufbegehren. Vgl. ebd., Nr. 56,65: Hans Oggenfuß berichtete, daß Hottinger ihn um den Vollzug der Taufe gebeten habe. Vgl. ebd., Nr. 48,59: Murer beschreibt die Taufe nach einer Predigt Blaurocks. Etliche Anwesenden hätten weinend um die Taufe gebeten. 65 Vgl. QGTS I, Nr. 131,134 f. 66 Ebd., 134. 67 Vgl. QGTS I, Nr. 157,161.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

443

nach dem biblischen Vorbild wahrscheinlich ist. Als die beiden auf ihrem Weg an einem Brunnen vorbeikamen, habe Hottinger ihn gefragt, was ihn an der Taufe hindern könnte. Aberli fragte ihn daraufhin, ob er von Herzen glaubte. Hottinger bekannte seinen Glauben, fiel auf die Knie und bat ihn weinend um die Taufe. Im selben Verhör schilderte Aberli auch die Taufe einer weiteren Frau, die ihm zuvor bestätigt habe, daß sie genug über die Taufe erfahren hätte, um zu wissen, daß sie nicht getauft sei, womit zweifellos die Ablehnung ihrer Kindertaufe gemeint war. Sie knieten nieder und beteten gemeinsam, woraufhin sie ihn weinend um die Taufe bat. Die von Aberli beschriebenen Taufen weisen alle ein gefühlsbetontes und auf das Taufbegehren konzentriertes Element auf. Auffällig ist die wiederholt beschriebene suggestive Kraft der Predigt und die emotionale Atmosphäre innerhalb der Versammlungen. Die Schilderung einer Taufe in Zürich durch Anthoni Roggenacher kann diese Beobachtung verdeutlichen. 68 Er berichtete von einem jungen Paar, das zu ihm und seinen Mitbrüdern gekommen sei. Der junge Mann habe sich weinend hingekniet und sie gebeten, „das sy im wellint helffen gott bitten, das er ouch möchte ein brûder in christo werden." Als alle sich hinknieten und beteten, hätte sich der junge Mann selbst ins Gesicht geschlagen, bis er bewußtlos war. Nachdem er wieder aus seiner Ohnmacht erwacht sei, hätten sie ihn getauft. M i t der jungen Frau sei ebenfalls gebetet worden, woraufhin jene einen Schrei ausgestoßen habe und anschließend ebenfalls getauft wurde. Roggenacher interpretierte diesen Vorgang als einen erfolgreichen Exzorzismus. Das Abendmahl wurde von Mantz in seinem Brief aus dem Februar 1525 analog zu den Aussagen im Müntzerbrief als Gedächtnis- und Gemeinschaftsmahl beschrieben. Die Teilnahme am gemeinsamen Mahl vereine die Kommunikanten zu Schwestern und Brüder in Christus. 69 Als weiteres Kennzeichen des täuferischen Abendmahls wurde von Jörg Schad die konkrete Praxis gemäß der göttlichen Einsetzung genannt. 70 Hiermit war sicher die Orientierung der Abendmahlsfeier am neutestamentlichen Vorbild gemeint. Interessant ist, daß in mehreren Aussagen die Spontanität dieser Mahlfeiern zutage tritt. Anthoni Roggenacher bezeugte ein Glaubensgespräch zwischen Blaurock, Jakob Hottinger, Oggenfuß und ihm, das in ein gemeinsames Abendmahl mündete. „Da rettind sy sovil von gott, das sy zû letst des tisch gottes begertind, den nußind sy miteinanderen f...]." 7 1 Alle Täufer, aus welchem Beruf auch immer sie stammen, wußten sich von Gott legitimiert und gesandt zu taufen und auch das Mahl miteinander zu feiern. Dies belegt abermals die hohe Bedeutung der Laien in der Durchfüh68

Vgl. QGTS I, Nr. 157,161. 69 Vgl. QGTS I, Nr. 42a, 50. ™ Vgl. QGTS I, Nr. 55,63. 71

QGTS I, Nr. 50,60.

4 4 4 1 0

Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

rung der Sakramentsreform, die bereits die gesamte prototäuferische Bewegung gekennzeichnet hatte. Das Priestertum aller Gläubigen fand in diesen kontinuierlichen Tauf- und Abendmahlsfeiern durch weder obrigkeitlich noch kirchlich autorisierte Laien seinen sinnfälligen Ausdruck. Dabei fällt auf, daß die Betroffenen ihr Verhalten in der Tauffrage auf Befragen stets davon abhängig machen wollten, in welcher Weise Gott sie führe. Auf die provokative Frage, wer ihn dazu berufen habe, in fremden Pfarreien zu predigen, antwortete Mantz: „Christus hatt bekennet seinen vatter biß in tod, und welcher inne bekennen wirt vor den menschen, der wirt sein jünger sein und von im bekennt werden vor dem himelischen vatter. Nun frag ich, ob mir zimme Christum den crüzigten veijehen? Und habe das gethan, das inn der geheißenn habe, der inn gesent heige." 72 Zum Schriftverständnis wären etliche Stellen anzuführen, in denen die verhörten Täufern der Belehrung aus Gottes Wort die oberste Priorität in allen Angelegenheiten einräumten. Fast in jeder Zeugen- bzw. Verhöraussage läßt sich ein Rekurs auf das reformatorischen Schriftprinzip nachweisen, sei es als Appellationsinstanz, sei es als Begründung für die eigene Lehre und Praxis. Als Beispiel für den Biblizismus der Täufer soll ein Brief der Täufer aus Zollikon vom Spätherbst 1525 herangezogen werden, in dem sie den Rat um eine erneute öffentliche Disputation ersuchten. Zur notwendigen Orientierung an der Heiligen Schrift führten die Täufer aus: „Aber wir bitend üweri wissheid, das ir losind das götlich wort reyieren und sich selber richten. [...] Denn wir wend uns des götlichenn, heiteren und luteren und klaren wort goteß behelfen, an als meinen und dunken; denn was nit in der götlichen gschrift vervasent ist, des wend wir gar und ganz nit." 7 3 Hier lassen sich deutliche Parallelen zu den Ausführungen des Müntzerbriefes nachweisen.74 Auch die Ablehnung der Kindertaufe wurzelte letztlich im Schriftverständnis. Gefangene Täufer behaupteten wiederholt, daß die Kindertaufe nicht in der Bibel gelehrt würde bzw. man keine Stelle fände, durch welche die Kindertaufe im Neuen Testament belegt würde. 75 In den Aussagen zur Ekklesiologie überwiegen kurzgefaßte Formeln, die auf ein Kirchenverständnis hinweisen, das vom Gedanken der sichtbaren Gemeinde sowie der Gemeindezucht („Bann") geprägt ist. Über Ruotsch Hottinger wurde im März 1525 im Protokoll festgehalten: „ E r vermeint ouch, daß kein eebrecher, hûrer, gyttiger und wûchrer daß gotzword möge verstan." 76 Besonders aufschlußreich ist eine Aussage über die Bannpraxis von Hans Bichter vom März 1525: „Witer unnd wann einer das verheißen und gepott, so 7

2 QGTS I, Nr. 87,94.

73 74 75 76

QGTS I, Nr. 118,116. Vgl. Punkt 5.2.2 dieser Untersuchung. Vgl. QGTS I, Nr. 170,175; Nr. 170b, 179. QGTS I, Nr. 54,62.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

445

sy dennen, die sy touffent, gebint, überträtint, den entschließent sy von inen und thûyint in uß inen." 7 7 In einem weiteren Verhör nannte Bich ter Jakob Hottinger als denjenigen, der die Lehre vom Bann den anderen weitergegeben habe. 78 Hier wurden theologische Vorgaben, die sich im Müntzerbrief finden, bereits in der frühen Phase der Bewegung in die Praxis umgesetzt. Ein weiterer Hinweis auf die Bannpraxis ergibt sich aus den Zeugenaussagen über die Flucht der gefangenen Täufer im April 1526. Während die Gefangenen über das Ergreifen der Fluchtmöglichkeit berieten, gaben sie dem fluchtbereiten späteren Zeugen Wilhelm Exell die Anweisung, er solle sich von Lastern enthalten, „oder man wurde inn under der christenlichenn gmeind nit dolenn." 79 Grebel äußerte sich ebenfalls im Verhör zur Bannpraxis. „Der kilchen halb seit er, wölcher ein gitler, wûcherer, spiler und annders, wie dann die gschrifft das uß wißt, der solle nienderth under den christen sind, sonder mit dem ban ußgeschloßen werden." 80 Heini Hottinger bezeugte, daß sie in den Versammlungen nichts anderes getan hätten, als in der Bibel zu lesen und sich gegenseitig zu ermahnen, sich von den Lastern zu enthalten. 81 Dieselbe Formulierung für die ethische Ausrichtung der Versammlungen läßt sich auch bei Rudolf Hottinger im Verhör nachweisen. Von außen wurde diese A r t der Gemeinschaft als „verharrung der frommenn" bezeichnet. 82 Das Vorgehen gegen die Täufer in Zollikon, das zunächst durch die Erhebung und Eintreibung von Bußgeldern geprägt war, führte zum Widerstand der Betroffenen und ihrer Verwandten. Clein Hensy Buman, dessen Frau sich hatte taufen lassen, hielt die Bußgeldstrafe für ungerecht, weil „man die straffte, so gûts tätent und sych fromklich hieltend, die aber wider eyd, eer und recht handletint, liesse man ungestrafft etc." 83 In einem Brief an den Rat vom 19. August 1525 wehrte sich Rutsch Hottinger aus Zollikon gegen Gerüchte, wonach sie zum einen gelehrt hätten, daß sie ohne Sünde lebten, und zum zweiten, daß bestimmte sittüche Verfehlungen keine Sünde wären. 84 Hottinger wies die Vorwürfe als falsch zurück, bekannte sich aber gleichzeitig zur bleibenden Bedeutung der biblischen Aussagen von Rom 6-8 und der Johannesbriefe. Anhand seines Schreibens wird erneut die ethische Auslegung von Rom 6 deutlich, deren Wichtigkeit für die täuferischen Lehre bereits wiederholt festgestellt wurde. Roggenacher machte sogar die effektive Bedeutung der Taufe von dem Willen zur Besserung des Lebens seitens des Täuf77

QGTS I, Nr. 56,65. Vgl. QGTS I, Nr. 58,66. 79 QGTS I, Nr. 178,193. 80 QGTS I, Nr. 122,124. Datierung des Verhörs auf November 1526 bis März 1526. 81 Vgl. QGTS I, Nr. 104,106. 82 QGTS I, Nr. 120, 122. So äußerte sich ein Täufersympathisant aus Bern gegenüber Zwingli gegen Ende des Jahres 1525 oder etwas später. 83 QGTS I, Nr. 69,77. 84 Vgl. QGTS I, Nr. 99,101. 78

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10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

lings abhängig. „Den touff heig er für gerecht, welcher von sündenn stände und sich fliße, Christo nachzevolgenn, als viel im gott gnad gebe; sunst helff es nit, gott geb wie dick sich einer touffen laße, wenn er allweg wider inn den hopt sündenn verfarrenn und nit davon stan wolle." 8 5 Nach dem nicht eindeutig zu datierendem Verhör von Balthasar S toll aus Eglisau wurde die Bannpraxis der Täuferbewegung getreu der „Gemeinderegel" von M t 18 geübt. 86 „Unnd wellicher also widergetoufft wurde und aber sich nüt nach dem willenn gotes hielte, das derselb zweymal heymlich gewarnet werden solt, sich nach dem willen gotes zehalten. Und so er das tete, ließint sy in by inen pliben, wo aber nit, ließint sy in noch einmal (das were zum driten mal) warnen. U n wo er dann sich nit welts lassen underwysen unnd für und für in lästeren und sunden lebenn, allsdann schlüßent sy in von inen uß und hieltind in als ein heidenn, so lang und bis er sich bekerte." 87 Im Februar 1525 wurden Gerüchte aktenkundig, wonach Zwingli, weil er durch die Argumentation der gefangenen Täufer überzeugt worden sei, auch „dis götlich läben" 8 8 annehmen würde. Als Begründung für ihre Bewegung gab Jakob Hottinger in einem Brief an den Rat vom Oktober 1525 an, daß ihr vornehmliches Ziel die Besserung ihres Lebens gewesen sei. 89 Über ein Gespräch mit dem Täufer Marx Boßhart berichtete Hans Kaspar von Dürnten, daß er gebeten habe, „si söltind von Sünden und von irem fressen und trincken stan." 90 Die Ethisierung des Kerygmas in der frühen Täuferbwegung ließe sich durch eine Vielzahl weiterer Belegstellen noch unterstreichen. Zur Frage der Gewaltlosigkeit finden sich dagegen nur wenige Aussagen. Valentin Gredig antwortete im März 1525 auf die Frage, ob ein Christ Waffen benutzen dürfe: „Sagt er, setz es gott heim; dann er im in sinen gewallt nienen griffen welle." 91 Sebastian Hofmeister bezeugte, daß Mantz gelehrt habe, daß „kein Übung des schwertes" seien sollte. 92 Bereits in seinem Verhör um die Jahreswende 1525 bekannte sich Mantz zur Gewaltlosigkeit: „Der oberkeit halb spricht er, kein christ schlache mit dem schwert und widerstand ouch

85 QGTS I, Nr. 170,175 f. 86 Vgl. QGTS I, Nr. 391,382. Als Datierung wird entweder das Jahr 1529 oder 1525 angenommen. Der Sprachgebrauch und die klare Verfolgungssituation der Täufer, denen Unterschlupf gewehrt wurde, läßt eher auf die spätere Datierung schließen. 87 Ebd. 88 QGTS I, Nr. 43,53. 89 Vgl. QGTS I, Nr. 113,113: „Daraus, ob got wil, goteß lob und er gefürdret und unser leben gebesseret werde; denn allein in solichem fürsaz sölichß angevangen und verbracht ist und niemen zû verachten, sonder alle mentschen, obß got wolti, zû got ziehen, das wir miteinaderen leben in dem willen goteß."

*> QGTS I, Nr. 174,183. 91 Vgl. QGTS I, Nr. 60,68. 92 Vgl. QGTS I, Nr. 121,123. Aussage im Täuferprozeß zwischen 9.11.1525 bis 7.3.1526.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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dem bößen nit." 9 3 Im Prozeß gegen Ende 1526 bis Anfang 1527 äußerte er sich dahingehend, daß ein Christ weder ein obrigkeitliches A m t noch Schwertgewalt ausüben dürfe, weil es dafür keine biblischen Legitimation gäbe. 94 Zwei gefangene Täufer aus Waldshut, die in Grüningen getauft hatten, berichteten dem Landvogt, dass sie aus ihrer Heimatstadt vertrieben wurden, weil sie sich weigerten, bei der Verteidigung Waffen zu benutzen. 95 Über den Täufer Junghans Waldshuter wurde berichtet, daß er in einem Streitgespräch mit dem Prädikanten Johannes Ulimann auf die Frage, ob eine christliche Obrigkeit töten dürfte, geantwortet habe, daß kein Christ einen anderen Menschen töten sollte. 96 Täufer in Grüningen weigerten sich am 4. Dezember 1525, einen Eid zu schwören und wollten nach Auskunft des Landvogtes nur uneidlich aussagen.97 Wiederholt wurde von den Täufern und Täuferinnen ihre Bereitschaft zum Martyrium um der erkannten Wahrheit willen angekündigt. 98 Ein eindrückliches Zeugnis von der Martyriumsbereitschaft aber auch der damit verbundenen seelischen Nöte, ist der bereits erwähnte Brief Nikiaus Guldis an seine Schwestern und Hans Meyer aus Aarau. 9 9 Mantz und Blaurock erklärten sich in ihren Verhören im März 1526 bereit, ihrer Erkenntnis bis in den Tod bleiben zu wollen. 1 0 0 Desgleichen war auch Grebel im zeitgleichen Verhör bereit, um seines Glaubens willen zu leiden. Hans Oggenfuß antwortete: „Sidmal und nie dheiner kan sig, der uß altem oder nüwem testament darbracht heig, das man kinder touffenn solle, wolle er by der warheit belibenn und das mit sinem blût bezügenn, wie sin vorfar Christus, sunst wolle er minen herren ghorsam sin inn allen dingen." 1 0 1 Blaurock erklärte in einem Schreiben mit Hinweis auf Joh 10 ebenfalls seine Bereitschaft zum Martyrium. „Also ich och, min lib und leben und min seil setz ich och vir mine schaff, min lib im türm und leben im schwerdt oder für oder in der trotten uß trukken min blût vom fleisch wie Cristo am critz." 1 0 2 Nach dem Mandat des Rates vom März 1526, wonach den renitenten Täufern die Todesstrafe drohte,

93 94 95

QGTS I, Nr. 124,128. Vgl. QGTS I, Nr. 200,216; Nr. 203-204,222-225. Vgl. QGTS I, Nr. 107,108 f.

96

Vgl. QGTS I, Nr. 188,206 ff. Vgl. QGTS I, Nr. 143,144. 98 Vgl. QGTS I, Nr. 27,36 f.: „By der welend wir uns mit der gnad goteß bis in den dod vinden lassen, wie wir denn üch unseren gnedigen heren je und allweg zû geseid, unser lib und leben zû üweren gnaden und zû dem wort goteß und zû götlicher grechtikeid sezen." Vgl. dazu auch QGTS I, Nr. 170,174 ff. 99 Vgl. QGTS I, Nr. 119,117 ff. 97

«» Vgl. QGTS I, Nr. 170,174. Ebd., 176. 102 QGTS I, Nr. 123,125.

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10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

widerriefen jedoch viele der Inhaftierten, die sich zuvor noch standhaft geweigert hatten. 103 Das Thema der Gütergemeinschaft läßt sich in mehreren Verhören und Zeugenaussagen nachweisen. 104 Der Zeuge Heini Frei beschrieb im Februar 1525 diese Praxis, von deren Notwendigkeit er durch die Täufer überzeugt werden sollte. „[...] wie er by inen were, hettind sy inn schier überredt, das er sin gûttli sölti verkouffen und sich sines gwerbs began. Und wers dozemal ir meinung, das alle ding söltind gmein sin und zûsamen gschütt werdenn. Und was dann einem jettlichenn breschte und anlegte, sölte er da dannen vom huffen nemen das, so er zur notdurfft bruchenn mûste." 105 Diese Aussage muß allerdings hinsichtlich ihres Quellenwertes kritisch hinterfragt werden, da sie pejorativ gemeint ist und der Zeuge den Täufern anschließend auch die Suche nach reichen Sympathisanten unterstellte. Grebel wies im Verhör die Anschuldigung zurück, daß er die Gütergemeinschaft gelehrt habe. 106 Mantz lehnte später (Ende 1525 bzw. Anfang 1526) die Gütergemeinschaft ebenfalls ab, bekannte sich aber zur notwendigen Solidarität, wenn ein Gemeindeglied Mangel litte, 1 0 7 was auch Blaurock im zeitgleichen Verhör bestätigte. Die parallelen Aussagen lassen vermuten, daß sich die beiden Gefangenen im Blick auf die Gütergemeinschaft vorab verständigt hatten. In den analysierten Quellen von 1525-1527 lassen sich deutlich Parallelen zur bisher erarbeiteten Lehrentwicklung der frühen Täuferbewegung nachweisen. Die theologischen Topoi Taufe, Taufpraxis, Abendmahl, Beteiligung der Laien, Schriftverständnis, Ekklesiologie, Ethisierung des Kerygmas, Gewaltlosigkeit, Martyriumsbereitschaft und Gütergemeinschaft entsprechen präzise den Vorgaben der zuvor untersuchten Schriften. Eine durch die Verfolgungssituation sukzessiv veränderte Einstellung zu den genannten Themenfeldern ist dagegen nicht nachweisbar. Auch die vielfach in der Forschung behauptete gravierende Neuorientierung im Bereich der Ekklesiologie kann m. E. nicht belegt oder auch nur wahrscheinlich gemacht werden.

10.2.2 Der Vorwurf der Absonderung und Sektiererei Den Täufern wurden in ihren Verhören Anschuldigungen der Sektiererei, Rotterei bzw. der geplanten Errichtung einer eigenen Kirche vorgeworfen. Diese zentralen Anklagepunkte lassen sich vor allem aus Zwingiis Aussage im Täuferprozeß ab November 1525 nachweisen, die bereits analysiert wurde 103

Vgl. QGTS I, Nr. 173,181 f. 104 Vgl. QGTS I, Nr. 42a, 49 f.; vgl. ebd., Nr. 120,122. los QGTS I, Nr. 39,48. 106 Vgl. QGTS I, Nr. 122,124. 107 QGTS I, Nr. 200,216.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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(s. o.). Auch Sebastian Hofmeister bestätigte im selben Zeitraum den Vorwurf, wonach die Täufer eine eigene Kirche bzw. „Versammlung" zu errichten suchten. „Er habe ouch von inen ghört, das alle die, so sich widertouffind, on sünd lebind, und das alle die, so gricht und rat besitzind, die megind nit christenn sin. Er sagt witer, das im woll noch inn wussenn und ingedink sige, das sy ein eigne kilch und versamlung unnderstanden hetind uff zurichten." 108 Wie weit diese Aussage von Zwingiis Sicht geprägt war, läßt sich nicht mehr nachweisen. Die parallelen Formulierungen legen jedoch eine unmittelbare Abhängigkeit der beiden Stellungnahmen nahe. Diese Übereinstimmung kann aber auch durch die analoge Fragepraxis der Untersuchung hervorgerufen worden sein, die Zwingiis Einlassungen durch die Aussagen weiterer Zeugen wohl zu bestätigen suchte. Der Vorwurf der Separation begleitete die gesamte Bewegung von Beginn an, denn Valentin Gredig hatte auf Befragen bereits im März 1525 geleugnet, von einer solchen Planung zur Errichtung einer eigenen Kirche gehört zu haben. 109 Mantz begegnete im Verhör (November 1525 bis März 1526) den Vorwürfen mit der Schilderung eines Gesprächs mit Zwingli, bei dem es inhaltlich um die Kirchenzucht gegangen sei. 110 Er behauptete gegen Zwingli, daß die öffentlich sichtbare, brüderliche Liebe eine conditio sine qua non für die christliche Kirche sei. Die Gemeinde sollte sich durch Ausschluß von Mitglieder trennen, die offensichtlich in Sünde lebten. Mit denselben Anschuldigungen Zwingiis und Hofmeisters wurde Mantz auch in seinem Prozeß von Ende 1526 bis zum 5. Januar 1527 konfrontiert. Hier vertrat er mit Nachdruck ein separatistisches Kirchenverständnis. „Demnach der besonnderen kilchenn halb seit er, alß sich gedachter her doctor gegen im erklagt, wie sine oberen nit nachin weltind, hette er zû im gesagt sin meynung, nämlich das er, die sich Cristi weltind annemen unnd dem wort gehorsamen, oüch nach Cristo wandlen, züsamen weite sûchenn unnd sich mit denselbenn durch den touff vereynbaren unnd die anderen irs gloubenns lassenn plibenn." 111

Analog dazu gab auch Blaurock im zeitgleichen Verhör seine ekklesiologische Grundeinstellung wieder, die er nach seiner Ansicht von jeher vertreten habe. „[...] dann alle die, so für und für in ofnen lästeren und Sünden leptind, als namüch sufer, hûrr, ebrecher, spiler, rassler, wûcherer und derglichenn, von inen ußzeschließen unnd daß dieselben gar nit under die christen wandlen seltind. Wenn aber einer sellichs heymblich inn sinem hertzen trüge und nit öffnete, denselben liessint sy by inen pliben." 1 1 2 Sowohl im Entwurfstext

los QGTS I, Nr. 121,123. 109 no m il 2

Vgl. QGTS I, Nr. 60,68. Vgl. QGTS I, Nr. 124,127. QGTS I, Nr. 200,216. QGTS I, Nr. 200,217.

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Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

für das Urteil als auch im verkündeten Urteil über Mantz wurde noch einmal sein ekklesiologisches Leitbild deutlich. „Fürter hat er bekent und geredt, daß er und die sich Christi wollend annemmen und dem worth gehorsammen, auch nach Christo wandlen, zusammen wölte suchen und sich mit denselben durch den tauff vereinbahren und die anderen ihres glaubens bleiben laßen, damit er und seine anhänger sich von christenlicher gemeind gesönderet und eigene, selbs gewachsene sect, roht und versamlung, under der gestalt ein chistenlich versamblung und kilchen, aufgericht habend." 113

Mantz wurde zum Tode verurteilt, weil er gegen die Ratsmandate verstoßen hatte. Bei der Begründung des Urteils stand der Vorwurf der Sektiererei durch die Gründung einer eigenen Kirche und die durch sein Wirken ausgelöste Zerstörung des Friedens in Stadt und Landschaft im Vordergrund. Alle Aussagen der Urteilsbegründung unterstreichen das separatistische Gemeindeideal der Täufer, wie es bereits im Müntzerbrief im Ansatz vorhanden war.

10.2.3 Die Verweigerung des Kirchgangs und die Versammlung in Häusern Im Verhör vom März 1525 weigerte sich Hans Murer aus Zollikon, weiterhin in die Kirche zu gehen: „Unnd welle nit mehr in die kilchen, noch an keins pfaffen beredige gan; dann sy habint unns bißhar ferfûrt und thûyint es noch, sover man es inen nit warte. Unnd meint villicht uß der meynung, das er nit mehr an kein predige welle gan, diewyl man wol etlich under inen hette und finde, die nu begertind, das man sy an die pfaffen ließe, die inen antwurt gebint. Unnd diewyl das nit beschäche, so welle er an keins pfaffen bredige gan, doch so welle er keinen antzoigen."114

In diesem Zeugnis könnte es sich auf den ersten Blick um die Ablehnung altgläubiger Pfarrer handeln. Die Verweigerung des Kirchgang koinzidierte jedoch mit dem Besuch täuferischer Versammlungen, die in Murers eigenem Haus stattfanden. Auch Valentin Gredig wurde das Fernbleiben vom traditionellen Gottesdienst vorgeworfen. Er begegnete dieser Anschuldigung mit verschiedenen Ausreden, 115 aus denen dennoch ersichtlich wird, daß er sich offensichtlich mutwillig von den offiziellen Gottesdiensten fernhielt. So zog er beispielsweise die eigenständige Lektüre der Bibel dem Kirchgang vor. Blaurock hatte am 26. Februar 1525 nach Auskunft von Zeugen in Hans Murers Haus zur Zeit des üblichen Gottesdienstes, in dem der Pfarrer Nicolaus Billeter für die Predigt zuständig gewesen war, gepredigt. 116 Danach habe er am selben Tag noch einmal am selben Ort gepredigt und getauft. Die113 114 115

QGTS I, Nr. 203,222 f. QGTS I, Nr. 59,67. Vgl. QGTS I, Nr. 60,68. Vgl. QGTS I, Nr. 48,58.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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ses Verhalten weist auf eine erkennbare Konkurrenz zwischen den kirchlichen Gottesdiensten und den täuferischen Versammlungen in den Häusern hin. Z u einem Eklat kam es im Juni 1525 durch eine Predigtstörung Hans Hottingers. 117 Er rief während einer Predigt Nicolaus Billeters in der Kirche zu Zollikon der Gottesdienstgemeinde zu: „Gand ußhin, gand ußhin und hûttend üch vor dem valtschenn propheten." 118 Sicher könnte es sich hier in erster Linie um eine vehemente Kritik an der s. E. falschen Predigt des Pfarrers handeln. 119 Andererseits unterstreicht der Aufruf Hottingers zum Verlassen der Kirche die sich bereits abzeichnende Distanz zur traditionellen Gottesdienststätte. Seine Agitation belegt noch einmal eindrucksvoll das Sendungsbewußtsein der Täufer, die in der Manier der alttestamentlichen Propheten als Mahner und Warner des Volkes auftraten. Dementsprechend zogen sie auch in einem prophetischen Bußzug nach Zürich und warnten vor dem bevorstehenden apokalyptischen Untergang der Stadt. 120 Den Täufern wurde im Frühjahr 1526 zudem vorgeworfen, daß sie auch andere davon abgehalten hätten, zur Kirche zu gehen. 121 Rudolf Hottinger wies diese Anschuldigung zwar zurück, gab jedoch zu, daß sie anderen gegenüber die Befürchtung geäußert hätten, von den Predigern verführt werden zu können. Gleichwohl hätten sie niemanden mit Gewalt vom traditionellen Gottesdienst fernhalten wollen. Trotz der apologetischen Tendenz im Verhör wird die grundsätzliche Kritik und Distanz der Täufer zu den offiziell berufenen Pfarrern und ihrer Lehre deutlich. Die Weigerung, an einem Gottesdienst teilzunehmen, der die Befürchtung „falscher Lehre" in sich barg, lag gewiß nahe. Ein solches Verhalten war bereits im August 1525 Jakob Hottinger vorgeworfen worden. 122 In einem Brief befahl ihm der Rat, sich nicht länger mit anderen zusammenzurotten, sondern an den kirchlichen Versammlungen teilzunehmen. Sollte er dabei feststellen, daß die Wahrheit des göttlichen Wortes dort nicht gelehrt würde, so sollte er es umgehend dem Rat anzeigen. Hottinger antwortete daraufhin, daß die öffentliche Predigt in der Kirche bei allem pflichtgemäßen Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, für ihn ohne Nutzen sei, weil das Wort Gottes nicht richtig verstanden und ausgelegt würde. Sich selbst bezeichnete er dagegen als gelehrt in der Schrift. Hottinger hoffte, daß die Obrigkeit ihn nicht zum Kirchgang zwingen würde. Hier wurde die absichtsvolle Verweigerung des Kirchgangs offen eingestanden und mit der nicht schriftgemäßen Predigt begründet. Aus diesem Votum lässt sich m. E. nur die 117

Vgl. QGTS I, Nr. 73,80. Ebd. 119 Einen ähnlichen Fall von Predigtstörung, der sich gegen eine s. E. falsche Lehre von der Taufe richtete, wird von Conrat Winckler berichtet. Vgl. QGTS I, Nr. 72, 80; ebd., Nr. 75, 81 f. 118

120 121 122

Vgl. QGTS I, Nr. 74,81. Vgl. QGTS I, Nr. 171,180. Vgl. QGTS I, Nr. 101,102 f.

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Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

bereits vollzogene Absonderung von der Dorfgemeinschaft feststellen, aber keineswegs eine auf die Gewinnung der ganzen Kirchengemeinde zielende Intention, auch wenn Hottinger gleichzeitig den Vorwurf, eine Sekte gründen zu wollen, mit dem Hinweis zurückwies, daß er die Zusammenkünfte nicht bewußt initiierte. Dennoch mußte er das Abhalten von Versammlungen zugeben, obwohl er angesichts der Anklage betonte, daß dieses Verhalten nicht zur Übertretung der Mandate geführt hätte. In seinem Widerruf erklärte er sich später dazu bereit, die separaten Versammlungen aufzugeben und wieder am Kirchgang teilzunehmen. 123 Ihm wurde lediglich konzediert, daß er nach dem Gottesdienst, sofern nicht der Schrift gemäß gepredigt werde, mit dem Pfarrer reden dürfe. Hans Hirt, dem Müller in Oberglatt, wurde im August 1525 vorgeworfen, daß er zum Verlassen der Kirche und zur Versammlung auf dem Feld aufgerufen habe. 124 Hirt berichtete daraufhin, daß einige „Kuhhirten" ihn um das Vorlesen aus der Bibel auf dem Feld gebeten hatten, da sie aufgrund ihrer Tätigkeit selten am Gottesdienst teilnehmen könnten. Obwohl sich durch diese plausible Erklärung der Vorwurf erübrigte, belegen seine Inhaftierung und die anhaltende Beschuldigung den stereotypen Verdacht gegen die Täufer und ihre Sympathisanten. Ihnen wurde unterstellt, daß sie durch freie Lesestunden, Feldgottesdienste und Versammlungen den traditionellen Gottesdienst boykottierten. Dem entspricht auch der Vorwurf gegen Magret Hottinger, daß sie den Kirchgang verweigert habe, weil man die Täufer von der Kanzel herab beschimpfte und weil sie andere nicht angezeigt habe, die den Versammlungen ebenfalls fernblieben. 125 Hans Huiuff bezeugte am 23. Dezember 1525, daß Felix Hottinger am Sonntagmorgen in seinem Haus „vom touff kempft habe". 1 2 6 Demnach hielt er parallel zum Gottesdienst eine Versammlung ab. Huiuff selbst betonte in seinem Verhör, daß er am selben Tag zum Gottesdienst gegangen sei und deshalb nicht wüßte, ob in seinem Haus auch eine Versammlung stattgefunden habe. Der Prädikant zu Marthalen berichtete um den Jahreswechsel 1525/1526 von einem Täufer, Junghans Meyer, der gemeinsam mit seiner Frau dem Gottesdienst in der Kirche fernblieb. 127 Diesem Verhalten maß der Theologe eine negative Auswirkung auf die Dorfgemeinschaft zu. I m Ratsmandat vom März 1526 wurde als Konsequenz des Widerrufs verlangt, daß die Betreffenden weder tauften noch ihr Taufverständnis lehrten, sich vom Winkelpredigen enthalten sollten und „zuo kilchen gange in die rechten pfarr". 1 2 8 Der Besuch des traditionellen Gottesdienstes war für den 123

Vgl. QGTS I, Nr. 101,104. * 2 4 Vgl. QGTS I, Nr. 96,99. 125 Vgl. QGTS I, Nr. 133,137. ™ QGTS I, Nr. 148,150. 127 Vgl. QGTS I, Nr. 151,154. 128 EAk Nr. 937,445.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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Rat demnach ein Zeichen, daß sich die zum Widerruf bereiten Personen tatsächlich von den Täufern getrennt hatten. Die Täufer versammelten sich weiterhin in verschiedenen Häusern. Als zentraler Treffpunkt lassen sich aus den dokumentierten Aussagen u. a. die Häuser von Hans Murer und Heini Hottinger in Zollikon ausmachen, 129 aber auch das Haus von Felix Mantz in Zürich. 1 3 0 Als er im August 1525 verhört wurde, nannte Heini Hottinger noch weitere Versammlungsorte in Zollikon, in denen man sich abwechselnd traf: „[...] sins vatters huß, U l i Hottingers huß, in Murers huß oben im dorff, ins Ruhen huß, ins Murer huß am see." 131 Abendmahlsfeiern fanden auch im Freien statt. 132 In Zollikon und an anderen Orten wurde die zunächst in Zürich übliche „Lesepraxis" fortgesetzt. 133 Die Täufer versammelten sich in erster Linie in den Privathäusern, um gemeinsam auf die Verlesung der Schrift zu hören. 1 3 4 Hans Bichter sagte dementsprechend im März 1525 aus, daß sich die Täufer versammelten, lasen, predigten und gemeinsam das Mahl feierten. 135 Daß sich an dieses gemeinsame „Lesen" ein Aufruf zur Taufe anschließen konnte, bezeugte Jakob Schnider in seinem Verhör vom 7. August 1525. 136 Das A m t des Vorlesers wechselte, so daß bei den Versammlungen jeder beteiligt wurde, der des Lesens mächtig war. Die hohe Bedeutung dieses gemeinsamen „Lesens" wird aus mehreren Verhören und den Briefen der gefangenen Täufer deutlich. Die Gefangenen schrieben an die verbliebenen Brüder und Schwestern in Zollikon, daß sie zu Beginn ihrer Versammlungen darum beten sollten, daß Gott ihnen einen geeigneten „Leser" schicken sollte, der sie lehren und taufen könne. 137 Aus dieser Anweisung ist unschwer zu erkennen, daß die verhafteten Täufer eine Gemeinschaft zurücklassen mußten, die zeitweise ohne geistliche Führungspersonen auskommen mußte. Die Versammlungen konzentrierten sich auf das gemeinsame Bibelstudium, das ohne eine des Lesens mächtige Person nicht möglich war. Die bereits praktizierte Separation von der dörflichen Kirchengemeinde wird durch die geschilderte „Notsituation" damit eindeutig belegt. Den gefangenen Täufern und der zurück129 Vgl. QGTS I, Nr. 43,52; vgl. ebd., Nr. 48,58. Es werden auch andere Privathäuser genannt, in denen Taufen stattfanden, ζ. B. das Haus Aberlis (QGTS I, Nr. 50, 60) und Roggenachers (QGTS I, Nr. 50,59). 130 Vgl. QGTS I, Nr. 43,52. Gabriel Giger sei von St. Gallen in Mantz' Haus gekommen und dort getauft worden. 131 QGTS I, Nr. 104,106. 1 32 Vgl. QGTS I, Nr. 56,64. 133 Vgl. Punkt 4.2 der Untersuchung. 134 Vgl. QGTS I, Nr. 54, 62. Aberli habe als er zum ersten Mal nach Zollikon gekommen sei, der Lesestunde beigewohnt. 135 Vgl. QGTS I, Nr. 56,64. 136 137

Vgl. QGTS I, Nr. 93,97. Vgl. QGTS I, Nr. 61,70.

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gelassenen Gemeinschaft, die einen hohen Prozentsatz an Frauen aufwies, ging es um einen freien, eigenverantwortlich gestalteten Gottesdienst, in dessen Mittelpunkt das Bibelwort stand. Philipp Kym, der Kontakte zu den Täufern hatte, bezeugte, daß ihn zwei alte Frauen gebeten hätten, ihnen aus der Heiligen Schrift vorzulesen. 138 Als er sich weigerte, sandten sie sogar einen Boten in sein Haus, um ihn dennoch zu überreden, bis er schließlich zum „Lesen" auf ihrem Hof bereit war, zu dem viele Leute hinzukamen und zuhörten. Dieses Zeugnis belegt zweifelsfrei eine durch die beiden Frauen organisierte freie „Lesestunde" jenseits der Kirchenmauern, zu der eine größere Anzahl Menschen eingeladen wurde. Die hohe Bedeutung des Vorlesens aus der Bibel zeigte sich auch in der Aussage Jakob Schniders aus St. Gallen, der in seinem Verhör im Juni/Juli 1525 von verschiedenen Einsatzorten berichtete, an denen er auf mehrere Bitten hin vorgelesen habe. 139 Ähnliches berichtete auch Nikiaus Guidi aus St. Gallen, der im Frühsommer in Zollikon „Lesestunden" übernommen hatte. 140 Einen weiteren Hinweis auf die missionarische Dimension der Lesepraxis der Täufer stellt das Verhör von Rutsch Hottinger und Rudolf Rutschmann aus dem Juni 1525 dar. 141 Den Aussagen Hottingers kann man deutlich die apologetische Intention entnehmen, die Ereignisse als durchaus konform mit den Ratsmandaten zu erweisen. Rutschmann und Kienast hätten demnach an einem Sonntag den beklagten Hottinger gebeten, mit ihnen nach Nänikon zu kommen, wohl um dort an einer Versammlung teilzunehmen. Sie überredeten ihn zu diesem „Ausflug", obwohl er sich vorab geweigert habe, zu predigen und zu taufen. Als sie dort in einem Haus auf die Versammlung trafen, habe Rutschmann aus ein oder zwei Kapiteln der Bibel vorgelesen, wobei es aber nach seinen Angaben nicht zu einer Taufhandlung gekommen sei. Auf dem Rückweg trafen sie auf etliche Frauen aus Maur, die sie ebenfalls baten, ihnen aus der Bibel vorzulesen. Rutschmann ließ sich schließlich von ihnen überreden und las ein Kapitel über die Liebe Gottes vor. Die Versammelten holten anschließend ihren Ortspfarrer, der mit den Täufern einvernehmlich über die Taufe diskutiert habe. Rutschmann bestätigte in seiner Aussage diese Geschehnisse, wobei er aber weitere Hintergründe des Vorgangs preisgab. Er sei davon überzeugt gewesen, mit diesen sonntäglichen Lese- und Lehrstunden keinesfalls gegen das Ratsmandat verstoßen zu haben, das ihnen ja nur das Taufen verboten hätte. Der Anlaß für den Ausflug nach Waßberg war die dort an sie herangetragene Bitte, zwei Brüder aus Zollikon zum Verlesen der Bibel zu entsenden. Diesem Ansinnen hätten „ire brûder zû Zollikon" entsprochen, indem sie Rutschmann und Kienast dorthin geschickt hät138

Vgl. QGTS I, Nr. 60,69. Vgl. QGTS I, Nr. 78,84. "o Vgl. QGTS I, Nr. 71,79 f. 141 Vgl. QGTS I, Nr. 76,82 f. 139

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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ten. 1 4 2 Das gleiche wäre am darauffolgenden Sonntag auf Bitten hin in Nänikon geschehen. Auf dem Heimweg sei es zu der spontanen Lesestunde einschließlich der Taufdiskussion mit dem Ortspfarrer in Maur gekommen, die auf die Initiative einiger Frauen zurückzuführen sei. Das Zusammentreffen mit dem Pfarrer erklärte Rutschmann mit ihrer Weigerung, der Versammlung in Maur biblische Texte über die Taufe vorzulesen. Die Täufer wollten den Anwesenden zuerst nur Passagen über die Nächstenliebe vorlesen, da die Taufthematik ihnen nicht verständlich zu machen sei. Dagegen hätten die Dorfbewohner auf dem Wunsch beharrt, über die Taufe belehrt zu werden, und hätten ihren Geistlichen herbeigeholt, der die Tauflehre verstehen könnte. Daraufhin habe man gemeinsam Bibelstellen über die Taufe gelesen und sich im Lehrgespräch gütlich geeinigt. Anhand dieser Beispielen läßt sich die überregionale Wirkung der Täuferbewegung von Zollikon belegen. Die Gemeinde zu Zollikon sandte ihre Boten aus, um auch in anderen Dörfern freie Versammlungen abzuhalten und auf diese Weise ihre Lehre zu verbreiten. Auch die Taufhandlungen fanden im Rahmen dieser „Stubenversammlungen" statt, 143 wobei die Teilnehmerzahlen variierten. Murer bezeugte, daß bei der Predigt Blaurocks im Februar 1525 bis zu 200 Personen in seinem Haus in Zollikon zusammengekommen seien. 144 Die Täufer tauften einzelne Taufbewerber jedoch auch außerhalb der Versammlungen, sowohl im Freien als auch in Privathäusern. Selbst während der Verfolgungszeit wurde dieses „private" Taufen fortgesetzt. 145 Gegen die üblichen Versammlungen in den Häusern, in denen auch getauft wurde, berichtete der Zeuge Jacob Unholtz aus Zollikon im August 1525, daß Jörg Schad 40 Personen in der Kirche getauft habe. 146 In seinem Verhör, das sich wohl auf denselben Vorgang bezieht, gab Schad die Taufe der 40 Personen zu, ohne jedoch die Lokalität zu nennen. 147 I m August 1525 bestätigte er, daß er in mehreren Häusern an Versammlungen teilgenommen habe und in der Kirche 40 Personen getauft hätte. 148 A m selben Tag habe er abends in Heini Hottingers Haus ebenfalls getauft. Die zahlenmäßig große Taufe in der Kirche weicht von den sonst wiederholt beschriebenen Taufen in den Häusern und im Freien ab. Da nähere Aussagen dazu fehlen, kann man über Anlaß und Zeitpunkt dieser Taufe in der Kirche nur spekulieren. Allerdings be"2 Vgl. ebd., 83. 143 Vgl. QGTS I, Nr. 48,58. Aussage von Jacob Plüwler über Blaurocks Tätigkeit in Zollikon. 1 44 Vgl. QGTS I, Nr. 48,59. 145 Vgl. QGTS I, Nr. 200,216. Blaurock hat im März 1526 eine Frau in Embrach gelehrt, unterwiesen und getauft. ™ Vgl. QGTS I, Nr. 104,105. 147 Vgl. QGTS I, Nr. 55,63. 148 Vgl. QGTS I, Nr. 105,107.

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richtete auch U l i Merger über die Nutzung der Häuser und der Kirche für die Taufen. 149 Er kenne nur wenige Häuser, in denen man sich nicht versammelt, von der Taufe geredet und auch getauft hätte. Eine Frau habe Jörg Schad gar in der Kirche getauft. I m Blick auf die vielfach dokumentierten Zeugnisse sind die Versammlungen in den Häusern weitaus charakteristischer für die Täuferbewegimg als die nur sporadisch bezeugten Versammlungen in der Kirche. Dennoch fanden zumindest zeitweise Zusammenkünfte und Taufen auch in kirchlichen Räumen statt. Überblickt man die Quellentexte, dann überwiegen eindeutig die Versammlungen in den Privathäusern, in denen sich die Täuferbewegung von Beginn an organisierte. Dagegen läßt sich die These, daß der Kirchenraum noch bis Ende 1525 unbefangen benutzt worden sei, weil die Täufer zunächst eine angeblich „volkskirchliche" Reform im Sinn hatten, m. E. nicht halten. Vielmehr kam es bereits 1525 zur Verweigerung des traditionellen Kirchgangs, zu kontinuierlichen Zusammenkünften in den Häusern, anläßlich derer gepredigt, getauft und auch das Abendmahl gefeiert wurde. Das sporadische Treffen in kirchlichen Räumen könnte auch den pragmatischen Gesichtspunkten Tribut zollen, daß die Kirchengebäude für Zusammenkünfte einer größeren Anzahl von Menschen besonders geeignet waren. Der Landvogt von Grüningen kündigte im Februar 1527 dem Rat eine Täuferversammlung an, die in einer Kirche abgehalten werden sollte. 150 In der Phase konsequenter Verfolgung, die nicht in der zeitlichen Nähe zu den Bauernunruhen anzusetzen ist, war die Nutzung kirchlicher Gebäude bei den Täufern anscheinend nicht tabuisiert. Dabei muß allerdings auch die Möglichkeit erwogen werden, daß der Landvogt durch das Gerücht einer geplanten Versammlung in der Kirche die besondere Schwere des Vergehens gegenüber dem Rat hervorheben wollte. Die tatsächlich von ihm entdeckte und aufgelöste Versammlung der Täufer fand dagegen in einer „Stube" statt. 151 10.2.4 Das Verhältnis zur Obrigkeit I m Verhör und Urteil über Mantz im Februar 1525 wurden die eigenverantwortliche Sakramentspraxis der Täufer durch die Obrigkeit als in ihren Konsequenzen für das Gemeinwesen äußerst gefährlich eingeschätzt. „Darzü sol min her bürger(meister) im vor den deinen oder grossen räten gnûg sagen, daß er [Mantz] hinfür von söllichem touffen, brot brechen und derglychen handlungen und uff wysen, heimlich practicierens, dadurch grosser schaden und blûtvergiessen erwachsen möcht, stan solle, sich deß nit mehr üben etc." 152 149

Vgl. QGTS I, Nr. 105,107. ι » Vgl. QGTS I, Nr. 206,228. 151 Vgl. QGTS I, Nr. 207,229. !52 QGTS I, Nr. 42c; vgl. EAk Nr. 646,289.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

457

Als Kommentar zur Aussage von Mantz findet sich der für die gerichtliche Instanz bedrohliche Satz: „Man wolle ouch den touff nit hören noch haben, dann er legge zû letst die oberkeit nyder." 1 5 3 In seiner Aussage im Täuferprozeß etwa um das Jahresende 1525 oder etwas später erwähnte Zwingli einen Brief aus Bern von einem Sympathisanten der Täufer, dem ihre Haltung zusagte, wonach es keine Obrigkeit geben müsse. 154 Ebenso bezeugte auch Sebastian Hofmeister zur selben Zeit, daß Mantz in Schaffhausen gelehrt habe, daß die Obrigkeit entbehrlich sei. 155 Gegen diesen Vorwurf wehrte sich Mantz vehement, 156 und auch Grebel wies die Anklage, sich gegen die Obrigkeit ausgesprochen zu haben, im Verhör zurück. 157 Andere Täufer wurde ebenfalls nach ihrem Verhältnis zur Obrigkeit gefragt. Valentin Gredig antwortete im März 1525, daß er keine obrigkeitsfeindlichen Ansichten vertrete. 158 Auf welchen präzisen theologischen Sachverhalt sich diese Hinweise beziehen und wie zutreffend sie im Blick auf die Einstellung der Täufer einzuschätzen ist, muß angesichts der konfrontativen und durch Polemik charakterisierten Situation offen bleiben. I m Beschluß des Rates vom 11. März 1525 bezeichnete man die renitenten Täufer, die trotz der Mandate weiterhin lehrten und tauften als „unrüwig". 1 5 9 Ihr „unrüwig weßen" brachte man mit der Praktizierung der Taufe und anderer „nüwen dingen" in Verbindung, jedoch nicht mit sozialen Forderungen. Im Juni 1525 wurden in der Urfehde von Rudolf Rutschmann und Rutsch Hottinger die „Lesestunden" der Täufer, die auf Anfrage von Zollikon aus in verschiedenen Dörfern durchgeführt wurden, als „unrüw" und als Anstiftung zu „widerwertig hendel" beschrieben. 160 Im Täuferprozeß, der zeitlich von November 1525 bis März 1526 anzusetzen ist, beschuldigte Heinrich Brenwald, Propst des Chorherrenstifts zu Einbrach, Blaurock der Anstiftung zum Aufruhr unter den Bauern von Zollikon. 1 6 1 Dieser Vorwurf ging auf eine Begegnung des gefangenen Blaurock mit einem jungen Mann aus Zollikon zurück, der ihn besuchen wollte. 1 6 2 Die verhörten Zeugen gaben an, daß Blaurock den Besucher fragte, wie es „da ußen" - gemeint war wohl die Situation in Zollikon - stünde und in welchem numerischen Verhältnis Gegner und Befürworter der täuferischen Bewegimg 153

QGTS I, Nr. 42 f., 51; vgl. EAk Nr. 646,289 f. 154 Vgl. QGTS I, Nr. 120,122. 155 Vgl. QGTS I, Nr. 121,123. 156 Vgl. QGTS I, Nr. 87,93. 157 Vgl. QGTS I, Nr. 122,124. ι 5 « Vgl. QGTS I, Nr. 60,68. 159 Vgl. QGTS I, Nr. 51,60. 160 Vgl. QGTS I, Nr. 77,83. ι « Vgl. QGTS I, Nr. 121,124; vgl. ebd., Nr. 120,122. 162 Vgl. QGTS I, Nr. 121,124.

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sich zueinander verhielten. Der junge Mann, später wird er als Mitglied der Familie Hottinger identifiziert, habe Blaurock informiert, daß die Mehrheitsverhältnisse derzeit für die Täufer nicht günstig seien. Daraufhin ermutigte Blaurock ihn zur Standhaftigkeit, selbst wenn die Obrigkeit gegen sie vorgehen sollte. Manche Aussagen dieses Gesprächs im oder vor dem Kerker einschließlich einzelner Formulierungen zum „Überziehen mit dem Banner" bzw. der „Fahne" sind unklar, lassen aber insgesamt die später wiederholte Anschuldigung bezüglich der Anstiftung zum Aufruhr durch Zwingli und Hofmeister wenig glaubhaft erscheinen. 163 Blaurock lehnte diesen Vorwurf in mehreren Verhören in den Prozessen von 1525-1527 stets rundweg ab. 1 6 4 Die Täuferin Magret Hottinger leugnete im Verhör (November 1525 bis März 1526), etwas über Bündnisse, Planungen zum Aufruhr oder von separatistischen Tendenzen gehört zu haben. 165 Die Versammlungsform der Täufer in Privathäusern mag sicherlich den Verdacht eines geheimen Bündnisses geschürt haben. Nach verdächtigen nächtlichen Versammlungen befragt, sagte Mantz aus, daß gut beleumundete Personen sich in seinem Haus getroffen hätten, um den Lesestunden - zunächst in hebräischer Sprache - beizuwohnen. 1 6 6 In diesem Zusammenhang wehrte er sich gegen den Vorwurf, antiobrigkeitliche Versammlungen abgehalten zu haben. I m Brief des Landamtmanns von Appenzell an den Landvogt von Grüningen vom 11. Januar 1526 berichtete jener, daß man gegen die „rotten und gesellschafften" vorgehen wollte, in denen gemeinsame Lesestunden abgehalten würden. 167 Die sich entwickelnden organisatorischen Strukturen der Täufer, die durch die Verfolgungssituation immer stärker aus der Öffentlichkeit verdrängt wurden, waren der Obrigkeit suspekt. So richteten sich die obrigkeitlichen Maßnahmen nach dem Mandat vom 7. März 1526, das die Todesstrafe androhte, besonders gegen die Versammlungen der Täufer. I m Mandat vom 19. November 1526 hieß es entsprechend: „Über das kömmpt unser herren glouplich für, das etlich inn ir herschafft Grûningen unnd anderschwo tags unnd nachts zûsamen ganngint, groß versamlûngen machind und das hanndlind, practicierint und anschlachind, so gmeinen regiment und oberkeit ouch christennlichem wäsenn zû grossem nach teil reiche [...]." 1 6 8 163

In späteren Verhören Blaurocks wird auf dieses Gespräch nicht mehr zurückgegriffen. Der Aufruf zum Widerstand soll in einem Brief Blaurocks gestanden haben, der aber nicht nachweisbar ist. In den nachfolgenden Wiedergaben der Anschuldigungen läßt sich eine fortschreitende Verzeichnung der eigentlichen Anliegen der Täufer feststellen. Auch zur Ekklesiologie werden die von Zwingli gemachten Aussagen zu Mantz immer stärker vergröbert und dadurch teilweise unkenntlich. 164 Vgl. QGTS I, Nr. 200,217. Vgl. QGTS I, Nr. 124,126. i « Vgl. QGTS I, Nr. 124,127. Vgl. QGTS I, Nr. 154,157. 168 QGTS I, Nr. 192,210. 167

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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Die Todesstrafe wurde für diejenigen bestätigt „so also sych gfarlicher wiß zûsamen rotent und in wincklenn und besondern husernn und ortenn mit irem predigen, lerenn und irrigen weßen groß versamlungen mâchent [.. .]." 1 6 9 Nur wenige Aussagen in den Verhören beziehen sich auf die Zehntthematik, was Rückschlüsse darauf zuläßt, daß der Zehnte bei den Befragungen keine dominierende Rolle spielte. Valentin Gredig bekannte sich zur Gültigkeit der traditionellen Zehntordnung, wobei er das Motiv der Nächstenliebe als ausschlaggebend benannte. 170 Dies wird wohl auf die durch die Reformatoren eingeforderte Verwendung des Zehnten für die Armenfürsorge zu beziehen sein. Mantz wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe gelehrt, man sei den Zehnten nicht schuldig, was er zurückwies. 171 In einem Verhör, das zeitlich vor dem 7. März 1526 anzusetzen ist, erklärte Rudolf Hottinger, daß die Täufer sich immer ermahnt hätten, der Obrigkeit gehorsam zu sein, Zinsen und Zehnten zu geben. 172 Im Entwurfstext zum Urteil über Blaurock aus dem Januar 1527 stand der Vorwurf, er habe gelehrt, nur wenn der Bürgermeister und der Rat ihm und seinen Anhängern Glauben schenkten und ihnen nachfolgten, sei man weiterhin bereit, Zins- und Zehntgaben zu leisten, andernfalls aber nicht. 1 7 3 Diese Aussage Blaurocks soll im Zusammenhang einer Konfrontation mit Zwingli zum Jahreswechsel 1525/26 erfolgt sein. 174 Allerdings findet sich diese in der Anklage enthaltene Beschuldigung im endgültigen Urteil nicht mehr, in dem er zwar des Aufruhrs gegen die Obrigkeit schuldig befunden wird, aber die Zehntthematik völlig fehlt. 175 Das ist umso erstaunlicher, als sonst bis in die Formulierungen hinein der Entwurfstext der Anklagen in die Urteilsbegründung übernommen wurde. Fest steht, daß die Täufer, zumindest bis zum Mandat vom März 1526, auch nach wiederholten Inhaftierungen, Haftzeiten, Verurteilungen und Bestrafungen an der grundsätzlichen Bereitschaft zu weiteren Taufhandlungen nach vorherigem Taufbegehren festhielten. Diese proklamierte Offenheit für das Wirken Gottes führte sie in den faktischen Widerstand gegen die Mandate der Obrigkeit, auch wenn das Widerstandsrecht von ihnen nicht grundsätzlich oder unter dieser Bezeichnung reflektiert wurde. Immer wieder findet sich in den Verhören die Aussage, daß sich die Täufer zwar gemäß der obrigkeitlichen Bestimmungen weiteren Taufens enthalten wollten. Dies stünde jedoch unter dem Vorbehalt, daß sie sich gemäß der Clausula Petri (Apg 5,29) in anderer Weise von Gott geführt sähen und jemand sie um die Taufe bäte. Dieses 169 170 171 172 173

1 74 175

Ebd. Vgl. QGTS I, Nr. Vgl. QGTS I, Nr. Vgl. QGTS I, Nr. Vgl. QGTS I, Nr. Vgl. QGTS I, Nr. Vgl. QGTS I, Nr.

60,68. 87,94. 171,180. 203,223. 123,126. 205,227 f.

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bedingte Zugeständnis an die Autorität des Rates barg in sich das eigentliche Recht auf Widerstand. Dementsprechend beendete Blaurock nach der Verlesung des Urteils um die Jahreswende 1526/27 seine Vernehmung selbstbewußt mit den Worten: „Aber so einer zû im kemme und getoufft und gelert begert ze werdenn, demselbenn wolle er nit vorsin, sonnders denselben teuffenn und leren und darumb niemans ansehenn, dann man got me schuldig sig dann dem mentschen."176

Der bedingte Gehorsam gegenüber der Obrigkeit läßt sich auch im Verhör Jakob Hottingers vom August 1525 nachweisen. 177 Dort bekannte er sich zur Loyalität gegenüber den Anordnungen des Rates, „die dem wort gotes unverletzlich syen". 178 Zur Lehre über die Obrigkeit führte er selbstbewußt aus: „Von wegenn einer oberkeit, ob die sin und das wort gotes hanndhabenn sölt, seit er, das er vermeynt, wie min herrenn und ire predicanten der oberkeit me zu gebint, als aber sin sol te; dann dheiner oberkeit zûstannde, das gots wort mit irem gwalt zû handhaben, diewil doch dasselbig fryg sige."179

Hottinger verwahrte sich gegen das von Zwingli legitimierte Recht und den Auftrag der Obrigkeit, das Wort Gottes und damit den konkreten Reformprozeß mit politischen Maßnahmen oder sogar mit militärischen Mitteln zu schützen. Der Freiheit des Wortes sollte auch die Freiheit derjenigen entsprechen, die sich durch ihre Erkenntnis von der offiziellen Kirche und damit auch von der sie schützenden Obrigkeit distanzierten. In Hottingers Votum zeigt sich m. E. ein individualisiertes Verständnis persönlicher Glaubenserkenntnis und ein frühes Plädoyer für Religions- und Gewissensfreiheit. „Unnd bit min herrenn, da sy in nit von sinem fürnemen und gloubenn trängen, sonders darby plibenn lanssenn wellint, so welle er mitt einem yeden christenn gern früntlich und brüderlich wanndien und lebenn und niemans durhächtenn, wie dann ein christ dem andern zethûnd schuldig sig." 180

Auch Grebel berief sich in einem Streitgespräch mit dem Pfarrer von Hinwil, Hans Brennwald, auf die vorrangige Gehorsamspflicht Gott gegenüber. Als Brennwald sich auf das Ratsmandat berief, antwortete Grebel nach den Aussagen des Zeugen: „Bistu der man, du solt weder mine herren noch niemant ansechen und solt alein thûn, was dich gott geheißen hatt und waß de mund gotz geredt hat, demselbigen solt nach gan." 1 8 1 Das Wirken der Täufer wurde von der Obrigkeit vorrangig nicht als politischer Aufruhr bezeichnet, sondern als „Unruhe" und Anlaß zur „Zwie176 177 178 179 180 181

QGTS I, Nr. 200,217. Vgl. QGTS I, Nr. 101,103. Ebd. Ebd. Ebd. QGTS I, Nr. 84,89.

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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tracht". Ein Beleg dafür ist etwa der Begleitbrief zur Auslieferung von Felix Mantz von Chur an Zürich am 18. Juli 1525. 182 Dort heißt es über den Einfluß von Mantz: „Der hatt under den unnsern viel widerwertigkait und zwytracht gemacht mit dem widertoffen der alten lütten und mit den winckel predigen, dermassen das wir inn ainmal von unser statt habend haissen gon." 1 8 3 Auch im Urteil gegen Marx Boßhart aus dem August 1525 wurde seine Predigttätigkeit als „unrüw" machen bezeichnet. 184 Anläßlich der Verhaftung von Marx Boßhart, Felix Kienast, Frydli Schûmacher und Hans Oggenfuß im Juli 1525 gaben die Verantwortlichen als Grund der Bestrafung an: „Darmit man söllicher predigern, töffern und liegern abkomme." 185 Die Vorwürfe bezogen sich demnach auf die missionarische bzw. propagandistische Tätigkeit und nicht auf eine politische Dimension der Bewegung. Der Prädikant Johannes Ullmann zu Marthalen schrieb an den Landvogt auf Kyburg über die Auswirkung täuferischer Lehre auf seine Gemeinde. 186 Weil ein zugezogener Täufer verbreitet habe, die traditionelle Lehre über die Taufe sei nicht recht, sehe er die potentielle Gefahr einer Spaltung seiner Kirchengemeinde. „Dadurch ein unwil gegen mir und zerdrennung einer ersamen gmeind hett wellen erwachsen." 187 Das Mißtrauen der Bevölkerung gegen den Prädikanten nahm s. E. in der Folgezeit zu, was er auf das heimliche Wirken der Täufer zurückführte. Als es zu einer direkten Konfrontation mit den Täufern kam, bezeichnete er sie nach intensivem Streit als Ketzer im Sinne von „zertrenner oder rotter". 1 8 8 Die divergenten Lehrauffassungen führten dazu, daß man dem Prädikanten unterstellte, nicht die Wahrheit zu predigen, was einen inneren Differenzierungsprozeß in der Gemeinde auslöste. Die große Zahl der Getauften in Grüningen im Jahr 1525 und ihr eindrücklicher Appell um Gerechtigkeit gegenüber den regionalen Rechtsinstanzen, beunruhigte den zuständigen Zwölferrat derart, daß er um Weisungen aus Zürich nachsuchte. A m Brief des Landvogts läßt sich die gespannte Situation ablesen: „Uff das fiengent etlich unnder inen an weinen und rûftend überus treffenlich und battend umm recht, und so hoch, das die zwölf gantz bestanden sind, wan si besorgend wo si inen söltind abschlan ir pitt und fürschlag, wurd inen nachteil dadurch erwachsen, wan der nüw touften sind vil, achten ungfar bi dryßgen, und hand unns gseit, si wellind touffen, wer si bitt." 189 182 183 184 185

1 86 i»7 188 189

Vgl. QGTS I, Nr. 86,92. Ebd. Vgl. QGTS I, Nr. 91,96. QGTS I, Nr. 83,89. Vgl. QGTS I, Nr. 151,153 f. Ebd., 154. Ebd. QGTS I, Nr. 107,108.

4 6 2 1 0

Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

Die Bewegung der Täufer, die um ihr Recht kämpfte und sich dabei auf die Heilige Schrift berief, brachte Unruhe in die Dörfer. Ihr Postulat, dem göttlichen Willen die oberste Priorität einzuräumen, löste gleichzeitig eine Autoritätskrise der obrigkeitlichen Gewalten aus. Eine Täuferversammlung, die vom Landvogt in Grüningen ermahnt wurde, nicht länger gegen die Ratsmandate zu verstoßen, antwortete entsprechend: „Aber sy Seiten mir, sy wetten niemen nöten, aber wer sy bet, den wetintz toffen unnd darvon nüt lan, untz man sy mit der helgen götlichen gschrift einß besern brichte." 1 9 0 In diesem Zusammenhang verdient der Hinweis besondere Beachtimg, daß alle Zeugnisse, die vom Vorwurf des Aufruhrs oder der Unruhe sprechen, keine sozialpolitischen Forderungen der Täufer erkennen lassen. In den Urteilen von 1527 über Mantz und Blaurock wurde vielmehr die Unbelehrbarkeit in der Tauffrage als eigentliches Zeichen des Aufruhrs gegen die Obrigkeit bezeichnet. 1 9 1 Aus dieser renitenten Haltung sei die Zerstörung der Einheit des Gemeinwesens erwachsen. Angesichts der in der Forschung immer wieder behaupteten engen Verflechtung von Täufer- und Bauernbewegung muß überraschen, daß die verfolgende Obrigkeit den Konnex zwischen den religiösen Anliegen der Täufer und den politischen Forderungen der Bauern nicht herstellte. Der Rat und die untergeordneten Instanzen in der Zürcher Landschaft unterschieden vielmehr klar zwischen den Täufern und den Verantwortlichen für die bäuerlichen Unruhen. Gleichwohl läßt sich gelegentlich eine personelle Überschneidung zwischen späteren Täufersympathisanten und Teilnehmern an der Bauernversammlung in Töss nicht leugnen. 192 Arbogast Finsterbach aus Oberwinterthur, der Schwager von Marx Boßhart, war in Zollikon gewesen und hatte dort an einer Versammlung der Täufer teilgenommen. Er gab zu, auch in Töss dabei gewesen zu sein, wurde aber nach einer Entschuldigung gegenüber dem Rat unter Auflage einer Geldbuße freigelassen. Denselben Tatbestand bezeugte auch Hans Müller, der ebenfalls entlassen wurde. 193 Der im Klostersturm Rüti aktive Hans Girenbader Schloß sich später den Täufern in Grüningen an, die auch nach der Novemberdisputation standhaft bleiben wollten. 1 9 4 Der Vogt fragte im Rat an, wie er mit diesem bekannten Unruhestifter verfahren sollte. 195 Dabei unterschied er die Aktionen Girenbaders im Zusammenhang des Klostersturms und in den Versammlungen der Bauern von seinem jetzigen Engagement bei den Täufern. 196

190

Vgl. QGTS I, Nr. 109 f. Vgl. QGTS I, Nr. 203-205,222-228. 192 Vgl. QGTS I, Nr. 98,101; Nr. 92,96. 193 Vgl. QGTS I, Nr. 97,100. 194 Vgl. QGTS I, Nr. 132,135. 195 Vgl. QGTS I, Nr. 132,135. i * Vgl. QGTS I, Nr. 155,158. 191

10.2 Charakteristika der Täuferbewegung

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10.2.5 Das Selbstverständnis der Täufer Schon früh begegnet in den Mandaten und Protokollen die Bezeichnung „Täufer" für die Bewegung, was auf die obrigkeitliche Identifizierung einer eigenen Gruppenidentität hinweist, die sich in einer erkennbaren Weise nahelegen mußte und von anderen devianten Gruppierungen unterscheidbar war. Bereits im März 1525 wurde Valentin Gredig mit dem Beinamen „der töuffer" versehen. 197 Die Täufer identifizierten sich dagegen weniger mit dieser Fremdbezeichnung, sondern nannten sich nach Ausweis der Akten eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern. 198 Belege dafür finden sich in vielfacher Weise. Hans Hottinger überbrachte den im Dorf zurückgebliebenen Angehörigen Nachrichten von den gefangenen Täufern. Er grüßte dabei von den „Brüdern" im Gefängnis und bezeichnete die Anwesenden ebenfalls als „Brüder". 1 9 9 Die Täufer in Zollikon erkundigten sich bei Hottinger, wie es um ihre gefangenen „Brüder in Christus" stünde. 200 Mantz beschrieb in seinem oben genannten Schreiben an den Rat die Wirkung des Abendmahls als Bewußtmachung der Gemeinschaft der Schwestern und Brüder in Christus. 201 Jakob Hottinger nannte in seinem Verhör im März 1525 die gefangenen Täufer von Zollikon ebenfalls seine Brüder, von denen er andere Gefangene unterschied. 202 Auch jene Täufer, die zu ihnen nach Zollikon gekommen waren, bezeichnete Felix Kienast im Verhör als „Brüder in Christus". 203 In diesem Zusammenhang verdient auch ein Brief der gefangenen Täufer von Zollikon Beachtung, der vor der Novemberdisputation 1525 geschrieben wurde. Z u Beginn des Schreibens heißt es: „Wir brûderen und schwesteren von Zollikon und unser brûderen in diser gegni üwer undertan." 204 Auf der einen Seite belegt diese Selbstvorstellung die Identität der Täufergemeinde bzw. -bewegung in Zollikon als brüderliche und auch schwesterliche Gemeinschaft; zugleich wird die überregionale Kohäsion durch die Nennung der „Brüder" in benachbarten Gegenden deutlich. I m Brief eines gefangenen Täufers vom März 1525 wurden die Adressaten ebenfalls als Brüder und Schwestern zu Zollikon bezeichnet. 205 Das Schreiben selbst ähnelt in Stil und Sprache den neutestamentlichen Briefen des Apostel Paulus. Die in der Frei197

Vgl. QGTS I, Nr. 60,68. Der klassisch gewordene Buchtitel von Fritz Blanke „Brüder in Christo" entspricht daher durchaus dem Selbstverständnis der Täufer. 199 Vgl. QGTS I, Nr. 43,53. 200 Vgl. ebd. 198

201 202 203 204 205

Vgl. QGTS I, Nr. 42 a, 50. Vgl. QGTS I, Nr. 56,64. Vgl. QGTS I, Nr. 48,59. QGTS I, Nr. 118,116. Vgl. QGTS I, Nr. 61,69.

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10 Die Entwicklung der Täuferbewegung in Zürich und Umgebung

heit zurückgebliebenen Brüder und Schwestern wurden darin zur Standhaftigkeit ermahnt. Ebenso schrieb Jakob Hottinger um Mitte Oktober 1525 an den Rat über die Beratung der „lieben brûder und schwesteren". 206 Gabriel Giger richtete zwischen März und Mai 1525 einen Brief an die Brüder und Schwestern in Zollikon, in dem er sie über den großen Erfolg der Täufer in St. Gallen und Appenzell informierte. 207 Nikiaus Guidi aus St. Gallen schrieb im bereits genannten Brief vom November 1525 an seine Schwestern im Kloster zu Aarau, 2 0 8 er sei zu seinen Schwestern und Brüdern nach Zürich gegangen, um sich auf der öffentüchen Disputation, die vom 6. bis 8. November stattfand, mit ihnen für die Wahrheit einzusetzen. Er klagte über die Verspottung, die den Täufern anläßlich der Disputation widerfahren sei. Guidi sei ins Haus der Mutter von Feüx Mantz gegangen, in dem sich Schwestern aus Grüningen, aus Chur und aus Zofingen versammelt hätten. Es fällt auf, daß Guidi in seiner Schilderung konsequent die Anrede „Schwestern" verwendet. Guidi hat offensichtlich dort an Ort und Stelle auch getauft. Wiederum gleicht der Briefstil bis in Formulierungen hinein den apostolischen Briefen des Neuen Testaments. In seinem gleichzeitigen Schreiben an Hans Meyer berichtete er wieder von der Disputation, an der er und andere „brüderen in gott" teilgenommen hätten. In ihrem Verhör im Juni 1525 benannten Rutsch Hottinger und Rudolf Rutschmann einige Leumundszeugen 2 0 9 Ihre namentliche Erwähnimg im Protokoll endet mit den charakteristischen Worten: „und ander von iro der brüderen gmeynd." In seinem Widerruf verpflichtete sich Jakob Hottinger, „sin mitbrûderen" auch von dem Irrtum der „Wiedertaufe" zu überzeugen. 210 Die Gemeinde der Brüder (und Schwestern) war zu diesem Zeitpunkt demnach bereits ein feststehender Begriff. Die Täufer verstanden sich als eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, die unabhängig von ihrer lokalen Beheimatung zusammengehörten. Die überregionale Verbundenheit der Täuferbwegung läßt sich damit ohne weiteres aus den Akten rekonstruieren. Jörg Schad bekannte, daß er im März 1525 vierzig Personen, von denen viele aus Zollikon, Höngg und Küßnacht stammten, getauft habe. 211 Der verhörte Täufer Hans Bichter gab zu, daß er etwa 30 Personen „frömbd und heimbsch" 212 getauft habe. Dabei werden von ihm die Dörfer Zwytälikon und Untzingen genannt. I n anderen Verhören

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Vgl. QGTS I, Nr. 113,113. Vgl. QGTS I, Nr. 66,75. XX Vgl. QGTS I, Nr. 119,117. 2