Dracontius: De raptu Helenae: Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar [Bilingual ed.] 3515122168, 9783515122160

An der Schwelle vom 5. zum 6. Jahrhundert prägte der Anwalt und Dichter Dracontius die literarische Landschaft im vandal

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Dracontius: De raptu Helenae: Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar [Bilingual ed.]
 3515122168, 9783515122160

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT
I EINLEITUNG
1. DER DICHTER DRACONTIUS
1.1 Leben und Werk
1.2 Kultur im vandalischen Afrika
2. DAS EPYLLION ‘DE RAPTU HELENAE’
2.1 Anlage und Interpretation
2.2 Die Gattung Epyllion
2.3 Sprachgebrauch und Stilistik
3. STRUKTURELLE UND STOFFLICHE VORBILDER
3.1 Allgemeines
3.2 Der antike Roman als ein strukturelles Vorbild
3.3 Der Doppelbrief Paris – Helena [Ov.] epist. 16. 17
3.4 Die ‘Acta diurna belli Troiani’ des Dares Phrygius
3.5 Die Ἁρπαγὴ Ἑλένης des Kolluthos
3.6 Die mythologische Tradition des Raubs der Helena
3.7 Der Umgang des Dracontius mit dem Mythos
4. ÜBERLIEFERUNG
4.1 Handschriftenbeschreibung
4.2 Entstehung des Codex N
4.3 Die Wiederentdeckung des Codex und die modernen Editionen
II EDITION MIT ÜBERSETZUNG
CONSPECTUS SIGLORUM
DE RAPTU HELENAE (ROMUL. 8)
III KOMMENTAR
PROOEM 1–60
HAUPTTEIL I: 61−212 VOM IDA NACH TROJA
HAUPTTEIL II: 213–384 DIE SALAMISGESANDTSCHAFT
HAUPTTEIL III: 385–434 DER SEESTURM
HAUPTTEIL IV: 435–585 HELENA UND PARIS – DER „RAUB“
HAUPTTEIL V: 586–647 ANKUNFT IN TROJA
EPILOG 648–655 IN EPITHALAMIENGESTALT
IV BIBLIOGRAPHIE
1. HILFSMITTEL, STANDARDWERKE UND FRAGMENTSAMMLUNGEN
2. EDITIONEN, KOMMENTARE UND ÜBERSETZUNGEN ZU DRACONTIUS
3. EDITIONEN UND KOMMENTARE (ZU ANDEREN AUTOREN)
4. SEKUNDÄRLITERATUR
V INDICES
1. INDEX LOCORUM
2. INDEX NOMINUM ET RERUM

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Katharina Pohl

Dracontius: De raptu Helenae Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar Klassische Philologie Franz Steiner Verlag

Palingenesia 114

Katharina Pohl Dracontius: De raptu Helenae

PALINGENESIA Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft Begründet von Rudolf Stark Herausgegeben von ChrIStoPh SChubErt Band 114

Katharina Pohl

Dracontius: De raptu Helenae Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT

Coverabbildung: Phönix in einem Mosaik aus Antiochia am Orontes, jetzt im Louvre. Fondation Eugène Piot, Monuments et Mémoires, publ. par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 36, 1938, 100. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12216-0 (Print) ISBN 978-3-515-12243-6 (E-Book)

CARISSIMIS PARENTIBUS

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ...................................................................................................... 9 I EINLEITUNG .............................................................................................. 11 1. Der Dichter Dracontius .......................................................................... 11 1.1 Leben und Werk ........................................................................... 11 1.2 Kultur im vandalischen Afrika ..................................................... 17 2. Das Epyllion ‘De raptu Helenae’ ........................................................... 21 2.1 Anlage und Interpretation ............................................................ 21 2.2 Die Gattung Epyllion ................................................................... 48 2.3 Sprachgebrauch und Stilistik ....................................................... 52 3. Strukturelle und stoffliche Vorbilder ..................................................... 58 3.1 Allgemeines ................................................................................. 58 3.2 Der antike Roman als ein strukturelles Vorbild ........................... 60 3.3 Der Doppelbrief Paris – Helena [Ov.] epist. 16. 17 ..................... 61 3.4 Die ‘Acta diurna belli Troiani’ des Dares Phrygius ..................... 62 3.5 Die Ἁρπαγὴ Ἑλένης des Kolluthos .............................................. 64 3.6 Die mythologische Tradition des Raubs der Helena .................... 64 3.7 Der Umgang des Dracontius mit dem Mythos............................. 71 4. Überlieferung ......................................................................................... 75 4.1 Handschriftenbeschreibung .......................................................... 75 4.2 Entstehung des Codex N .............................................................. 84 4.3 Die Wiederentdeckung des Codex und die modernen Editionen 91 II EDITION MIT ÜBERSETZUNG .............................................................. 93 Conspectus Siglorum ................................................................................. 93 De raptu Helenae (Romul. 8) ..................................................................... 94 III KOMMENTAR ....................................................................................... 139 Prooem 1–60 ............................................................................................ 140 Hauptteil I: 61−212 Vom Ida nach Troja ................................................. 187 Hauptteil II: 213–384 Die Salamisgesandtschaft ..................................... 277 Hauptteil III: 385–434 Der Seesturm ....................................................... 363 Hauptteil IV: 435–585 Helena und Paris – Der „Raub“ .......................... 397 Hauptteil V: 586–647 Ankunft in Troja ................................................... 494 Epilog 648–655 in Epithalamiengestalt ................................................... 528

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Inhaltsverzeichnis

IV BIBLIOGRAPHIE................................................................................... 533 1. Hilfsmittel, Standardwerke und Fragmentsammlungen ....................... 533 2. Editionen, Kommentare und Übersetzungen zu Dracontius ................ 534 3. Editionen und Kommentare (zu anderen Autoren) .............................. 535 4. Sekundärliteratur .................................................................................. 537 V INDICES ................................................................................................... 549 1. Index locorum ...................................................................................... 549 2. Index nominum et rerum ...................................................................... 568

VORWORT Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn. (Kolosser 3,17)

Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Dezember 2016 von der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal angenommen wurde. Die Disputation fand am 11. Juli 2017 statt. Daß die Dissertation zu einem Abschluß finden konnte, ist das Verdienst vieler Menschen. Jeder einzelne weiß besser, als es diese Zeilen fassen, was „mein Dracontius“ ihnen verdankt. Da aber die Menschen ohne Gott nichts vermögen, steht für mich an erster Stelle der Dank an den Herrn Jesus Christus. Von Herzen danke ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Stefan Freund für die Betreuung der Dissertation, seine großzügige Förderung und Hilfe, seine Geduld, die Freiheit, die er mir in allen Entstehungsphasen des Buches gewährt hat, und die ertragreichen Stunden, in denen er mit mir über Dracontius diskutiert hat. Ohne ihn hätte diese Arbeit nicht zustande kommen können. Herrn Prof. Dr. Christoph Schubert (Erlangen) sage ich ganz herzlichen Dank für die Übernahme des Zweitgutachtens, für seine geduldige Unterstützung, für die vielen klugen Hinweise und Ratschläge, für seinen philologischen Blick, für die Aufnahme der Arbeit in seine „Palingenesia“ und seine Argusaugen bei der Lektüre des Manuskripts. Den übrigen Mitgliedern der Prüfungskommission Prof. Dr. Jochen Johrendt, Prof. Dr. Elisabeth Stein und Prof. Dr. Konrad Vössing (Bonn) danke ich für die Durchführung des Promotionsverfahrens, die mutmachenden Gespräche und hilfreichen Anmerkungen. Meinem Hallenser Lehrer Herrn Prof. Dr. Rainer Jakobi danke ich für alles, was ich von und bei ihm während des Studiums lernen durfte, für seine wohlwollende Förderung, die Anregung zum Thema und die Betreuung in den ersten Monaten. Als Freunde und Kollegen hatten Oliver Humberg, PD Dr. Meike Rühl, Jun.Prof. Dr. Stefan Weise und in unschätzbarer Weise Elisabeth Lösch immer ein offenes Ohr, freie Zeit, aufmunternde Worte und inspirierende Ideen für mich. Besonderer Dank gebührt Dr. Marcus Beck (Halle / Saale) für seine Zeit, in der er mit mir die Überlieferung des Dracontius diskutiert hat, und sein unbestechliches philologisches Urteil. Prof. Dr. Otto Zwierlein (Bonn) hat mit mir einen herzlichen Austausch und Kontakt gepflegt. Die Früchte seiner Arbeit konnte ich großzügigerweise bereits vor ihrer Publikation genießen, wofür ich ihm von Herzen Dank sage. Prof. Dr. Michael D. Reeve (Cambridge) hat dankenswerterweise den Neapolitanus einer

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Vorwort

genaueren Prüfung unterzogen und mir freigebig seine Ergebnisse zukommen lassen. Für manch diskutierte Stelle danke ich Herrn PD Dr. Thomas Riesenweber. Die Teilnehmer des Wuppertaler Forschungskolloquiums haben in fast jedem Semester mit mir bereitwillig über ‘Kritisches und Exegetisches’ diskutiert: Dr. Robert Cramer, Dr. Donato De Gianni, Alina Hund, PD Dr. Nina Mindt, Sven Rohde, Laura Schleicher (die mir dankenswerterweise auch große Teile des Korrekturlesens abnahm), Dr. Hedwig Schmalzgruber (Potsdam), Martin Schmidt, Katrin Schürmann und Jun.-Prof. Dr. Monika Vogel. Besonders gedankt sei Prof. Dr. Thomas Gärtner (Köln), der stets zu den Sitzungen anreiste und mir Manuskripte zu seinen Dracontiana zur Verfügung stellte. Ein großer Dank geht an die VG Wort für die freundliche Übernahme der Druckkosten sowie an Katharina Stüdemann und Sarah-Vanessa Schäfer vom Franz Steiner Verlag für ihre Hilfe bei der Erstellung des Buches. Ebenfalls gedankt sei den Mitarbeitern der Biblioteca nazionale di Napoli für die unkomplizierte Bereitstellung der Handschriftenscans sowie ihre freundliche Hilfe bei meinem Besuch im März 2015. Den liebsten Dank sage ich meinen Eltern für ihre Unterstützung, ihre Fürsorge und dafür, daß sie mir ein Studium meiner Wahl ermöglicht haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Wuppertal, am Reformationsfest 2018

Katharina Pohl

I EINLEITUNG Die hier vorliegende Einleitung zum Kommentar zu ‘De raptu Helenae’ des Dichters Dracontius diskutiert kurz das Umfeld, in dem das Gedicht entstanden ist, strebt jedoch keine neuen Hypothesen zu Datierungsfragen oder zum Leben im vandalischen Nordafrika an. Als Einleitung zum Kommentar will sie in Kombination mit diesem das bisher noch nicht (ausführlich) kommentierte1 und in deutscher Sprache erschlossene Gedicht erklären und einem interessierten Fachpublikum zugänglich machen. Dazu versucht sie, in knapper Form die aus der Beschäftigung mit Romul. 8 hervorgegangenen Erkenntnisse zu bündeln. 1. DER DICHTER DRACONTIUS 1.1 Leben und Werk2 Der Dichter Dracontius hat im vandalischen Afrika an der Schwelle vom 5. zum 6. Jahrhundert die literarische Landschaft entscheidend geprägt – aber über sein Leben ist kaum etwas bekannt. Er lebte im von den Vandalen beherrschten Karthago,3 gehörte zur römischen Oberschicht der afrikanischen Provinz und arbeitete dort als Anwalt für den Prokonsul (togatus fori proconsulis).4 Letzteres

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Der verdienstvolle Kommentar zu Romul. 8, den ÉTIENNE WOLFF 1987 als Teil seiner Dissertation verfaßt hat, ist inzwischen wegen der Publikation als Microfiche leider sehr schwer zugänglich. Unzugänglich waren mir die offenbar ungedruckten Arbeiten NICOLÒ SILVIO GAVUGLIO: Il De raptu Helenae di Draconzio. Edizione critica, traduzione e commento, Milano 2012 (zitiert in BISANTI 2017) und PAOLA TEMPONE: Il De raptu Helenae di Draconzio (Romul. 8). Introduzione, testo, traduzione e commento, Umbertide 2018, worauf mich DONATO DE GIANNI aufmerksam macht. Für einen Überblick über die bisherige Forschung s. BISANTI 1983, BIANCA MARIA MARIANO in CASTAGNA 1997, 36ff. und STOEHR-MONJOU 2015–2016. Mit der ‘Satisfactio’, die an den Vandalenkönig Gunthamund gerichtet ist, dessen Regierungszeit die Jahre zwischen 484 und 496 umfaßt (VÖSSING 2014, 207), ist ein Dokument überliefert, das eine ungefähre zeitliche Eingrenzung ermöglicht. In der unten, Anm. 5, abgedruckten subscriptio wird er als uir clarissimus beschrieben (für die Bezeichnung s. KIRSTEN GROSS-ALBENHAUSEN: Vir clarissimus, DNP 12/2, 241).

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I Einleitung

geht aus der subscriptio, die sich in der Handschrift N hinter Romul. 5 (f. 11r) befindet, hervor.5 Von seinem Grammatiklehrer, der wohl auch gleichzeitig sein Rhetoriklehrer war, wissen wir zumindest den Namen, Felicianus.6 Ihm widmet der Dichter sein Werk, ihn preist er als Förderer und Inspirationsquelle seiner dichterischen Fähigkeiten.7 Hauptsächlich eine Episode seines Lebens ist bekannt:8 Dracontius mußte viele Jahre in Haft verbringen, da er wohl – so kann man satisf. 93f. entnehmen – einen fremden Herrscher in einem nicht erhalten gebliebenen Gedicht gepriesen hatte. Aber auch dies liegt in seinen Details im Dunkeln.9 5

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Exp.(licit) Controversia statuę viri fortis quam dixit in Gurgulianis (Gargilianis corr. VON DUHN) thermis Blossius emilius Dracontius vir clarissimus et togatus Fori pro consulis armae (almae corr. VON DUHN) Karthaginis apud pro consulem Pacidegium (Pacideium corr. VON DUHN) (N, f.11r). Diese subscriptio ist das einzige Zeugnis für den vollen Namen des Dichters und seinen Rang. Die Amtsbezeichnung togatus weist auf seine Tätigkeit als Anwalt hin (gegen Ende des vierten Jahrhunderts ist diese Bedeutung belegt, s. ARTUR STEINWENTER: Togatus, RE 6 A 2, 1666f.; für Dracontius ist sie umstritten: Neben ‘Anwalt’ [FRIEDRICH VOLLMER: Dracontius, RE 5, 2, 1635–1644, WEYMAN 1926, 142, ROMANO 1959, 10, PIERRE LANGLOIS: Dracontius, RAC 4, 252], wurde „juge“ [COURTOIS 1955, 258, Anm. 5], „Jurist“ [OVERBECK 1973, 67], „abodago, fiscal o procurador“ [DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 45] vorgebracht. S. für eine ausführliche Untersuchung SCHETTER 1989, der auch überzeugend den Vorschlag MOUSSYs 1985, 16, Dracontius sei später Richter geworden, als Spekulation zurückweist). Auch nimmt der Dichter hier und da selbst Bezug auf seinen Beruf: laud. dei 3,630f. 654–657. 659f.: gegen Romul. 7,123 als Beleg wendet sich ZWIERLEIN 2017, 85–87. Die Handschrift N überliefert ihn im Titel zu Romul. 1 (Prefatio Dracontij discipuli ad grammaticum Felicianum, ubi dicta est metro Trochaico cum fabula ylae). Für die „Personalunion von grammaticus und rhetor“ s. KAUFMANN 2006 (a), 16 und Anm. 37, VÖSSING 1997, 572. Laut der communis opinio sind die beiden Praefationes (Romul. 1 und 3) die Widmungsgedichte zum jeweils folgenden Werk (also zu Romul. 2 und 4; dies legen auch die Überschriften des Codex nahe). Die Anlage der Handschrift macht es aber nicht besonders wahrscheinlich, daß uns die Sammlung vollständig und in der von Dracontius beabsichtigten Weise vorliegt (s. die Handschriftenbeschreibung, wo auch aufgrund bestimmter Indizien erwogen wird, daß die Vorlage vielleicht gar keine Überschriften besaß). Daher kann es vielleicht nicht ausgeschlossen werden, daß der Dichter seinem Lehrer all seine kleineren Werke in der Form widmen wollte (man vergleiche die unterschiedlichen ‘Praefationes’ des Ausonius). Aufgrund der schlechten Überlieferungslage können kaum weitere Aussagen über das Leben des Dichters getroffen werden. Für eine Zusammenstellung der Versuche, Beziehungen zu verschiedenen Inschriften und anderen Zeugnissen herzustellen, vgl. BODELÓN 2001. Immer wieder gab es Versuche, den Adressaten des Gedichts zu identifizieren, doch ist eine endgültige Klärung bisher nicht gelungen. Vorgebracht wurden bereits der oströmische Kaiser Zenon, der um Intervention in Nordafrika hätte gebeten werden können (dies vermuteten VOLLMER, COURTOIS 1955, 208, ROMANO 1959, 20f.). KUIJPER 1958, 11ff., der ebenso wie PROVANA 1913, 29ff. Kritik an dieser These übt, da solch ein Vergehen wohl eher mit dem Tod bestraft worden wäre, schlägt dagegen Theoderich vor. MOUSSY (MOUSSY / CAMUS 1985, 29) und DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 65ff. sprechen sich hingegen für Odoaker aus. Auf große Gegenliebe (z. B. bei STEINACHER 2016, 278) stößt der Vorschlag von WOLFF 1998 und MERRILLS 2004 (ohne Erwähnung WOLFFs), die vermuten, daß die Bestrafung des Dichters mit der Nachfolge des Vandalenkönigs Hunerich zusammenhänge. So habe er möglicherweise Hunerichs Sohn Hilderich ein Gedicht gewidmet (so WOLFF; Hunerich wird von MERRILLS als Adressat bevorzugt), der aber die Herrschaft gar nicht übernommen habe; diese ging 484 an Gunthamund (für Rivalitäten unter den Vandalen s. auch BOCKMANN 2012, 34ff.). Problema-

I Einleitung

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Dracontius hat sowohl christliche als auch kleinere profane Gedichte verschiedenster Gattungen, teilweise mythologischen Inhalts, verfaßt. Zu den christlichen Gedichten gehören die ‘Laudes dei’, ein Lobgedicht auf Gott in drei Büchern. Außerdem ist die ‘Satisfactio’ dazu zu zählen, ein Rechtfertigungsgedicht des Dichters an den Vandalenkönig Gunthamund mit der Bitte, wieder aus der Haft entlassen zu werden. Die paganen Gedichte sind zum einen zu den sogenannten ‘Romulea’ zusammengestellt, zum anderen findet sich das davon unabhängig überlieferte Epyllion ‘Orestes’10 sowie zwei kleine Gedichte (‘De mensibus’ [24 Verse] und ‘De origine rosarum’ [14 Verse]). Kenntnis haben wir zudem von einem verlorenen Gedicht auf Thrasamund.11 Die unter dem Titel ‘Romulea’ auf uns gekommenen Gedichte sind die folgenden: Romul. 1 ‘Praefatio ad grammaticum Felicianum’ Das erste Gedicht ist als Widmung an und Lob für den Lehrer Felicianus gestaltet. Es umfaßt 21 Verse, in denen der Lehrer für seinen gemeinsamen Unterricht von Vandalen und Römern herausgehoben und als Inspirationsquelle des Dichters benannt wird. Romul. 2 ‘Hylas’ Diese Gedicht umfaßt 163 Verse und behandelt den Hylas-Mythos in einer innovativen Art und Weise, indem es ihn vom Argonautenmythos abkoppelt. Daß die Nymphen sich in Hylas verlieben, ergibt sich als Rache der Venus, weil Clymene über deren Stelldichein mit Mars geplaudert hatte. Romul. 3 ‘Praefatio ad grammaticum Felicianum’ In diesem Widmungsgedicht von 20 Versen an den Lehrer Felicianus wird die Fruchtbarkeit der Erde, die durch Bewässerung ermöglicht wird, als Gleichnis für die dichterische Produktion nach der Ausbildung bei Felicianus durchgeführt. Romul. 4 ‘Verba Herculis cum videret Hydrae serpentis capita pullare post caedes’ tisch bleibt dabei aber die Formulierung ignotus dominus, da man davon ausgehen kann, daß die Vandalenherrscher dem Dichter bekannt sein dürften, und so doch der Kaiser Zeno (ohne die Bitte um Intervention) Adressat gewesen sein könnte (so VÖSSING, mündlich). Trotz aller Unsicherheit ist das Ereignis doch ein wichtiges Zeugnis für den unerbittlich durchgreifenden Umgang des Königs Gunthamund mit Verfehlungen und damit für seinen Charakter (OVERBECK 1973, 69). Zwei verschiedene Gefängnisaufenthalte postuliert WOLFF 2004, 124f. 10 Für den Titel s. ROSSBERG 1878, 3f. 11 Bezeugt bei Bernardino Corio, in seiner ‘Patria historia’. Hinzu kommen zwei Verse, die Tristano Calco in seiner ‘Historia patriae’ zitiert, die aber keinem heute bekannten Gedicht zugeordnet werden können (s. auch Kap. 4.2 zur Überlieferung). Außerdem überliefert das Florilegium Veronense (fol. 1r) Verse, die in keinem anderen Gedicht begegnen. Schließlich verweist Dracontius selbst satisf. 93f., wie oben S. 12 erwähnt, auf ein Preisgedicht für einen fremden Herrscher.

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I Einleitung

In der Fiktion des rhetorischen Gedichts von 53 Versen wendet sich Herkules klagend an Jupiter im Angesicht der Hydra, deren Köpfe beständig nachwachsen. Romul. 5 ‘Controversia de statua viri fortis’ Diesem poetisch-rhetorischen Stück von 329 Versen liegt folgender Fall zugrunde: Für seine Verdienste erhält ein Reicher eine Statue und das Asylrecht für sie. Er wünscht sich außerdem den Tod seines inimicus, eines Armen. Der flüchtet sich nun zu der Statue. Romul. 6 ‘Epithalamium in fratribus dictum’ Dracontius dankt in diesem Gedicht, das 122 Verse umfaßt, dem Victor für seine Hilfe bei der Haftentlassung; großes Thema ist die Hochzeit von dessen Söhnen mit zwei Schwestern. Romul. 7 ‘Epithalamium Ioannis et Vitulae’ Das aus 159 Versen bestehende Gedicht verfaßt Dracontius während seiner Haft. Er bittet um Hilfe für seine Entlassung und schreibt das Epithalamium, das er dem Brautpaar widmen würde, wenn er anwesend sein könnte. Romul. 8 ‘De raptu Helenae’ In diesem Epyllion behandelt Dracontius in 655 Versen die Vorgeschichte des trojanischen Krieges. Romul. 9 ‘Deliberativa Achillis, an corpus Hectoris vendat’ Bei diesem poetisch-rhetorischen Stück handelt es sich eher um eine Suasorie denn um eine Deliberatio. Dem Achill wird in 231 Versen geraten, den Leichnam Hektors herauszugeben. Romul. 10 ‘Medea’ Der Mythos um Medea wird in 601 Versen ausgeführt. Die Besonderheit der dracontianischen Gestaltung liegt zum einen darin, den klassischen Tragödienstoff in ein Epyllion zu kleiden, zum anderen, seine Medea-Gestalt in die Hexen- und Zauberinnentradition zu stellen. Herausragende Stücke in diesem Corpus sind der ‘Raptus Helenae’ und die beiden anderen Epyllia, eine dichterische Form, die im vandalischen Africa einen besonderen Höhepunkt erreichte.12 Die Blüte des Epyllions wird heute beinahe ausschließlich13 durch die Dichtungen des Dracontius repräsentiert, dessen Oeuvre als einziges der zeitgenössischen Dichter nahezu vollständig erhalten geblieben ist.

12 S. dazu BRIGHT 1987. 13 In sein Umfeld gehören etwa auch die ‘Aegritudo Perdicae’ und Reposians ‘Concubitus Martis et Veneris’.

I Einleitung

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Dies kann ein Hinweis auf die hohe Bedeutung und Wertschätzung seiner Werke sein.14 Gerade das Nebeneinander von christlichem und traditionell paganem Dichten macht den Autor generell und speziell für seine Zeit zu einem besonders interessanten Forschungsgegenstand. Es zeigt, wie präsent beide Kulturelemente waren und unabhängig voneinander wirkten.15 Wie unten (s. Kap. 4. Überlieferung) näher ausgeführt wird, besitzen wir die Sammlung der profanen Gedichte in nur einer einzigen Handschrift, dem Neapolitanus N. Der heute im allgemeinen über diese gesetzte Titel ‘Romulea’ ist in einer Veroneser Handschrift, dem Florilegium Bibl. cap. CLXVIII (155), überliefert, die aus dem achten und neunten Gedicht wenige Verse zitiert. VOLLMER16 und SCHMIDT17 halten dies für den Originaltitel.18 Zweifel daran sowie an der Zusammenstellung der Sammlung durch Dracontius sind freilich angesichts der Überlieferungslage angebracht.19 Für den Titel böte sich als neutrale Alternative die von DIAZ DE BUSTAMANTE genutzte Bezeichnung ‘Carmina profana’ an, die damit auch einen Gegensatz zu den christlichen Gedichten ausdrückte. Unter die ‘Carmina profana’ des Dracontius sind jedoch zusätzlich der ‘Orestes’ und die kleinen Gedichte ‘De mensibus’ und ‘De origine rosarum’ zu subsumieren, so daß die 10 in N überlieferten Gedichte nur einen Teil davon ausmachen.20 Der Konvention folgend sei in dieser Arbeit jedoch weiterhin von ‘Romulea’21 gesprochen. 14 QUARTIROLI 1946, 170; AGUDO CUBAS 1978, 264. Eine augenfällig zu belegende Wirkung seiner Gedichte auf die ihn umgebende Literatur, wie sie etwa ansatzweise in der Anthologia Latina faßbar wird, ist bisher nicht gefunden worden (vgl. HELEN KAUFMANN: Dracontius im Kontext der nordafrikanischen Dichtung der Spätantike [erscheint 2019]). 15 Mit diesem Thema hat sich besonders SIMONS 2005 auseinandergesetzt. S. auch unten Kap. 3.7. 16 FRIEDRICH VOLLMER: Dracontius, RE 5, 1905, 1635–1644, hier 1639. 17 SCHMIDT 1984, 695. 18 SCHMIDT 1984, 694ff. versucht die ursprüngliche Zusammenstellung und Reihenfolge der Sammlung zu rekonstruieren und kommt zu dem Schluß, daß Dracontius bewußt nach bestimmten inhaltlichen und formalen Kriterien die Gedichte angeordnet habe (unter Hinzunahme des Panegyricus auf Thrasamund sowie des Monats- und des Rosengedichts). M. E. muß solch ein Versuch immer Spekulation bleiben – es ist zu wenig über den Dichter und die Gedichte überliefert. Daß die Sammlung, wenn sie überhaupt als Sammlung gedacht war, nicht vollständig ist, wie sie uns überliefert ist, scheint sehr wahrscheinlich. Der Neapolitanus N wirkt so zusammengestückt, daß an eine Abschrift einer insgesamt überlieferten Sammlung kaum zu glauben ist. S. dazu auch unten Kap. 4.1 Handschriftenbeschreibung. 19 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 121f. beispielsweise glaubt, der Titel habe einmal eine Sammlung von Gedichten bezeichnet, die Roms Vorgeschichte als großes Thema gehabt hätten, da im Florilegium Veronense nur Verse aus dem achten und dem neunten Gedicht, die direkt mit dem Trojamythos in Verbindung stehen, überliefert sind (sowie ein Fragment, das keinem der heute bekannten Werke zugordnet werden kann). Kritik wurde an dieser Idee schon oft geübt, besonders weil die Texte des Florilegiums wahrscheinlich aus anderen Exzerptsammlungen gewonnen wurden (vgl. jetzt ZWIERLEIN 2017, 8f.; s. auch WEBER 1995, 51, KAUFMANN 2006 [a], 28ff.). 20 S. ZWIERLEIN 2017, 3. 21 Über die möglichen Bedeutungen dieses Titels wurde bereits viel nachgedacht (vgl. z. B. WEBER 1995, 50f., KAUFMANN 2006 [a], 26ff., BUREAU 2006), wobei sich als wahrscheinlichstes

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I Einleitung

Stets in der Diskussion und aufgrund der Quellenlage mit Unsicherheiten behaftet ist die relative Chronologie der Werke.22 Mehrheitlich werden Romul. 1–4 als Frühwerke bezeichnet, da es sich hierbei um Widmungen an den Lehrer samt den gewidmeten Gedichten, die eine Nähe zur Literaturproduktion der Schule aufweisen, handelt. Während der Zeit im Gefängnis sind die ‘Satisfactio’ und Romul. 7 entstanden, vielleicht auch einige Teile der ‘Laudes dei’.23 Danach ist Romul. 6 mit dem Dank für die Hilfe bei der Haftentlassung anzusetzen.24 Romul. 8 und 10 sind wohl eher als reifere Werke anzusehen.25

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Erklärungsmodell herauskristallisiert hat, daß darunter Gedichte zu verstehen sind, die sich an die klassische römische Dichtung anlehnen und damit auch einen Gegensatz zu den „Barbaren“ aufzeigen können, denen diese (kulturell-mythologische) Tradition fehlt (LANGLOIS 1959, 255, SCHMIDT 1984, 691, Anm. 43). S. dazu jetzt auch ZWIERLEIN 2017, 39f. Die Zweifel an der Existenz einer Sammlung mit dem Titel, oder falls es sich um eine Sammlung handelt, an ihrer Vollständigkeit, liegen hauptsächlich in der Konstitution der Handschrift begründet. S. dazu auch unten Kap. 4.1 und 4.2. Eine feste Datierung der Werke ist wegen fehlender Lebensdaten des Autors ohnehin ausgeschlossen. In Romul. 7,25f. wird die Haft thematisiert. Für die Datierung der ‘Laudes dei’ s. MOUSSY / CAMUS 1985, 26ff. Romul. 6,37–40. Problematisch ist bei der Chronologie ohne äußere Anhaltspunkte immer das Empfinden des jeweiligen Wissenschaftlers. Harte Kriterien, wie Sprachgebrauch und Metrik, konnten bisher keinen wirklichen Aufschluß geben (WOLFF 1987, 43, BOUQUET / WOLFF 1995, 27, s. auch dort für eine Auseinandersetzung mit den Thesen von LOHMEYER 1891, PROVANA 1913, ROMANO 1959; s. für die berechtigte Kritik an BRIGHTs 1990 Versuch, der auf unhaltbaren Ergebnissen der Untersuchung von Selbstzitaten beruht, SIMONS 2005, 10f., Anm. 31).

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1.2 Kultur im vandalischen Afrika Im Jahre 429 fallen etwa 80.00026 Vandalen27, angezogen von dem Reichtum und der kulturellen Blüte der dortigen Provinzen,28 nach ihrem Zug durch Mittel- und Westeuropa über die Straße von Gibraltar in Nordafrika ein. Sie erobern nach und nach das römische Territorium und, im Jahre 439, schließlich auch die Metropole Karthago, die von da an ihr Herrschersitz wird. Auch wenn die Vandalen dem Land, seinen Bewohnern, deren administrativen und kulturellen Einrichtungen keinesfalls eine solch verheerende Zerstörung zufügen, wie das von ihnen abgeleitete Fremdwort vermuten läßt,29 sind die Auswirkungen dieses Migrationsprozesses erst im politischen, ökonomischen und religiösen, dann auch im sozialen und kulturellen Bereich doch enorm gewesen.30 Die vandalischen Eroberungen wirken vor allem auf zweierlei Weise auf das römische Afrika und letztlich auf das spätantike Römertum insgesamt: Sie bedrohen, ja stürzen das alte Ordnungsgefüge, andererseits richten sie die Aufmerksamkeit auf die Bewahrung des Tradierten, die, da eine bloße Fortschreibung nicht möglich erscheint, durch letztlich adaptive und damit produktive Transformationsprozesse erfolgt.31 Beides wird in verschiedenen Bereichen sichtbar. Es kommt zu einer Umwälzung der politisch-administrativen Situation: Die Vandalen gelangen zur Herrschaft und werden auch von Westrom in Verträgen anerkannt.32 Damit wird eine Fremdherrschaft über Römer und auf ehemals römischem Gebiet legitimiert; trotzdem bleibt die römische Identität erhalten. Denn obwohl Vandalen und Römer insgesamt eher getrennt voneinander leben, übernehmen 26 Für die Zahl der Einfallenden und Weiteres s. FRANCOVICH ONESTI 2002, 28ff., VÖSSING 2014, 39. 27 Besonders in den letzten Jahren hat die Forschung zu den Vandalen einen Aufschwung erlebt (VÖSSING 2014, STEINACHER 2016). Einige Fragen sind bisher unbeantwortet geblieben oder werden zumindest kontrovers diskutiert (Woher genau kommt das Volk? Wie ist seine Ethnogenese zu beschreiben? In welcher genauen Beziehung steht es zum römischen Imperium?). Die Quellenlage ist insgesamt recht unbefriedigend; die lateinischen Autoren (Victor von Vita, Salvian, Prokop) bieten entsprechend gefärbte Informationen. An dieser Stelle sollen nur zur Illustration des kulturellen und politischen Umfelds, in dem sich Dracontius bewegte, einige Informationen zusammengetragen werden. 28 Auch die Forschung zum römischen Afrika erfreut sich immer größerer Beliebtheit, man denke nur z. B. an die jüngst erschienenen Bände, J. PATOUT Jr. BURNS / ROBIN M. JENSEN (Hrsgg.): Christianity in Roman Africa. The Development of its Practices and Beliefs, Michigan / Cambridge 2014; JEAN-MARIE LASSÈRE: Africa, quasi Roma. 256 av. J.-C. – 711 apr. J.-C., Paris 2015. 29 Der Terminus ist in der Zeit der französischen Revolution geprägt worden. Die Zerstörungen der französischen Revolutionäre wurden mit denen der Vandalen beim Überfall auf Rom 455 verglichen (FRANCOVICH ONESTI 2002, 12). 30 VÖSSING 2014. 31 S. z. B. CLOVER 1988. 32 Es handelt sich hierbei besonders um den, wegen der unzureichenden Quellenlage umstrittenen, Vertrag von 442, bei dem die Vandalen als foederati anerkannt wurden, ein eigenes Territorium erhielten und de facto unabhängig wurden (FRANCOVICH ONESTI 2002, 36ff., CASTRITIUS 2007, 97, VÖSSING 2014, 50ff.).

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die Römer doch – unter der Vorherrschaft der Vandalen – gemeinsam mit diesen wichtige Ämter. So läßt sich der vandalische König von römischen Beratern umgeben oder teilt ihnen Führungspositionen innerhalb der Verwaltung zu.33 Dennoch sind im an sich multiethnischen nordafrikanischen Raum erstmals nach Jahrhunderten nicht mehr die römische Kultur und die lateinische Sprache die Attribute der Führungsschicht. Eine ähnliche Veränderung zeigt sich innerhalb des Sozialgefüges, wo sich die Verfügungsgewalt über die ökonomischen Ressourcen zugunsten der neuen Herren verschiebt und es im Rahmen der Eroberungen zu Zerstörungen kommt.34 Eine religiöse Dimension erhält der im Kern ethnisch-politische Konflikt dadurch, daß die Vandalen einer suborditianistischen Form des Christentums anhängen, die Römer dem nizänischen Credo.35 Es kommt zu regelrechten Verfolgungen, die weit über die früheren Konflikte mit den Donatisten und Pelagianern hinausgehen und eher, wenn man Victor von Vita folgt, an die vorkonstantinische Zeit erinnern.36 Auf der Ebene der Kultur und Bildung kann bemerkt werden, daß die neuen Herrscher beiden Aspekten eine hohe Achtung entgegenbringen.37 Der in Gedichten geschilderte Bau von Thermen (Anth. 210–214 R. = 201–205 Sh.-B.),38 Münzprägungen nach römischem Vorbild,39 der Gebrauch der lateinischen Sprache sowie die Begräbnispraktiken weisen auf eine Offenheit gegenüber der römischen Kultur zusammen mit der Bereitschaft zur Übernahme praktischer kultureller Errungenschaften hin.40

33 OVERBECK 1973, 73. Zu weiteren Untersuchungen über die römischen Eliten in der Vandalenzeit s. BOCKMANN 2012, 68ff., CONANT 2012, 130ff. 34 CASTRITIUS 2007, 100ff. 35 Vgl. nur YVES MODÉRAN: Le christianisme africain à l’époque vandale e byzantine, in: C. LANDES : Catalogue de l’éxposition Tunisie: du christianisme à l’Islam, IVe-XIVe siècle, Lattes 2001, 31–36; JOHANNES VAN OORT / WOLFGANG WISCHMEYER (Hrsgg.): Die spätantike Kirche Nordafrikas im Umbruch, Leuven u. a 2011; WOLFGANG SPICKERMANN: Arianische Vandalen, katholische Provinzialrömer und die Rolle kirchlicher Netzwerke im Nordafrika des 5. Jh. n. Chr., in: DANIEL BAUERNFELD / LUKAS CLEMENS: Gesellschaftliche Umbrüche und religiöse Netzwerke. Analysen von der Antike bis zur Gegenwart, Bielefeld 2014, 65–86. 36 Vgl. Victor von Vita. Kirchenkampf und Verfolgung unter den Vandalen in Africa. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von KONRAD VÖSSING, Darmstadt 2011. 37 Dieses Forschungsfeld ist aufgrund ungenügender (und oft tendenziöser) Quellenlage recht umstritten. 38 S. dazu u. a. STEPHAN BUSCH: Versus Balnearum. Die antike Dichtung über Bäder und Baden im römischen Reich, Stuttgart / Leipzig 1999, 240ff. Zu sonstigen Vergnügungsgebäuden s. BOCKMANN 2012, 60ff. 39 RALF BOCKMANN: Die Repräsentationen der vandalischen Herrscher: Prestige und Konflikt im Königshaus von Karthago, in: BIRGIT CHRISTIANSEN / ULRICH THALER (Hrsgg.): Ansehenssache. Formen von Prestige in Kulturen des Altertums, München 2012, 263–278, hier 267; s. auch BOCKMANN 2013, 29ff. 40 All diese kleinen Puzzleteile tragen dazu bei, daß viele Forscher von einer ‘Romanisierung’ (mit den Problemen, die dieser Begriff, besonders diachron betrachtet, mit sich bringt) der Vandalen ausgehen (CONANT 2012, 5ff.).

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Das empfundene Kulturgefälle gilt als wichtiger Faktor, der die Migration nach Nordafrika attraktiv erscheinen läßt. Freilich divergiert die Hochschätzung der antiken römischen Kultur bei den einzelnen Vandalenherrschern, sie ist keine Konstante des politischen Selbstverständnisses mehr. So lassen sich beispielsweise auch recht früh schon die Vandalen in lateinischen Gedichten preisen, die Anspielungen auf Klassiker enthalten.41 Dies spricht dafür, daß die Adressaten die Kunstfertigkeit auch zu goutieren wissen. Der Lehrer des Dracontius, Felicianus, wird dafür gepriesen, römische und vandalische Schüler gemeinsam unterrichtet zu haben – und damit einen Weg zu beschreiten, die Vandalen in die römische Bildungstradition aufzunehmen (Romul. 1). Durch diese Einbeziehung der Vandalen erhält, auch das ist Teil des Lobs des Felicianus, die Stadt Karthago ein Stück ihres alten Glanzes aus der Zeit zurück, als sie noch ein Teil des römischen Reiches und Bildungszentrum war. Mit einem konkreten Blick auf die überlieferte, im vandalischen Afrika entstandene Literatur kann dieses Zeugnis bestätigt und ergänzt werden – wenn auch die Anzahl der auf uns gekommenen literarischen opera nicht groß ist. So besitzen wir das gelehrte Werk des Martianus Capella,42 der in ansprechender Weise enzyklopädisches Wissen zusammenträgt. Er nennt Karthago die beata … urbs Elissae, knüpft also an ihre klassisch-mythische Vergangenheit an und scheint dadurch auch eine Verbindung zwischen Rom und Karthago, zumindest implizit, herzustellen.43 Die in der ‘Anthologia Latina’ und vor allem im Codex Salmasianus überlieferten Gedichte geben einen Eindruck von der dichterischen Literaturproduktion vandalischer Zeit.44 Zu nennen sind darunter insbesondere das ‘Pervigilium Veneris’, Reposians ‘Concubitus Martis et Veneris’, die ‘Aegritudo Perdicae’, Florentinus und Luxorius45. Besonders Florentinus und Luxorius nehmen direkten Bezug auf das Leben unter vandalischer Herrschaft und tragen daher zur Schärfung des Bildes bei.46 Es entsteht anders als noch bei Dracontius eine regelrechte Hofpoesie.47 Interessant ist der Ansatz CONANTs, auch für die Autoren der Vandalenzeit literarische Zirkel anzunehmen, in denen sie sich schriftstellerisch betätigten und einander ihre Kunst widmeten.48 Als Ausgangspunkt für diese Überlegungen nimmt er die Widmung des Coronatus an Luxorius49 und weist Dracontius und Martianus Capella einer gemeinsamen Gruppe zu. Solch ein Verhältnis unter den Dichtern ist 41 42 43 44 45 46 47 48 49

S. allgemein zur kulturellen Situation MERILLS / MILES 2010, 204ff. Für das Problem seiner Datierung s. SHANZER 1986, 5ff. Mart. Cap. 9,999. BOCKMANN 2013, 72. S. dazu: Épigrammes Latines de l’Afrique Vandale. Établies, traduites et annotées par INGRID BERGASA avec la collaboration d’ÉTIENNE WOLFF, Paris 2016. Zu ihm und seinem Verhältnis zu den Vandalen s. besonders ROSENBLUM 1961, HAPP 1986. S. besonders die Untersuchungen von CONANT 2012 und BOCKMANN 2012, 72ff. Daß die Informationsgewinnung über Realien aus literarischen Texten problematisch ist, versteht sich von selbst und es ist daher behutsam vorzugehen. Vgl. etwa Anth. 203 R. = 194 Sh.-B., 210–214 R. = 201–205 Sh.-B., 215 R. = 206 Sh.-B., 304 R. = 299 Sh.-B., 332 R. = 327 Sh.-B., 369 R. = 364 Sh.-B., 376 R. = 371 Sh.-B., 387 R. = 382 Sh.-B. CONANT 2012, 135f. ROSENBLUM 1961, 259.

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sicher nicht ausgeschlossen, muß jedoch nicht zuletzt aufgrund der Unsicherheit einer festen Datierung sämtlicher Autoren der Zeit Spekulation bleiben. Ein Aspekt, der das Leben und die Bildung des Dracontius im vandalischen Afrika betrifft und immer wieder diskutiert wurde, ist die Frage nach den Griechischkenntnissen50 des Dichters, die besonders für die Beurteilung seiner Quellen von großer Bedeutung ist. Für Romul. 8 stellt sich die Frage insbesondere deshalb, da der Autor Romul. 8,12 Homer namentlich nennt und sich mit seinem Gedicht in eine Reihe mit dem großen Epiker stellt. Die Beantwortung muß angesichts des Fehlens direkter Nachrichten in den allgemeinen Gegebenheiten der Zeit gesucht werden, in der der Griechischunterricht mehr und mehr zurückging.51 Kann der Dichter in einer solchen Zeit noch Griechisch gekonnt haben, oder war dies wegen fehlender Voraussetzungen unmöglich? Ist seine Behauptung also topisch zu verstehen oder konkret? Grundsätzlich scheinen die äußeren Bedingungen eher dagegen zu sprechen, wenn man bedenkt, daß Griechischkenntnisse zu einem besonderen Privileg geworden waren, da die Sprache wohl nicht mehr zur Grundausbildung in der Schule gehörte52 und mehr und mehr ins Private verlegt worden war.53 Bei einigen Autoren der Zeit lassen sich gleichwohl Kenntnisse im Griechischen nachweisen. So spricht Fulgentius von Ruspe wohl selbst davon,54 und die von Martianus Capella gewählten Themen führen ebenfalls zu diesem Schluß.55 Hier kann auch Luxorius mit seinen Epigrammen eingereiht werden, die einen Eindruck von seinen Kenntnissen geben.56 Hinzu kommen Gedichte aus der ‘BeauvaisAnthologie’, die auf griechische Texte zurückgreifen und damit deren Kenntnis voraussetzen.57

50 Zur Bildung im vandalischen Afrika allgemein s. VÖSSING 1997, DE GAETANO 2009. 51 S. dazu VÖSSING 1997, 177f., DE GAETANO 2009, 27 und Anm. 3. 52 VÖSSING 1997, 626. Daß Dracontius die Sprache in der Schule erlernt habe, hält VÖSSING 1997, 626, Anm. 2108 für wahrscheinlich, ebenso DE PRISCO 1977, 293 und BRIGHT 1994, 133. 53 Der Beleg dafür ist Vita Fulg. Rusp. 1 p. 11–13. Außerdem war Karthago eine blühende Handelsstadt, in der die verschiedensten Sprachen gesprochen wurden, wie Salvian schreibt (gub. 7,68). COURCELLE 1969, 208f. wiederum führt dies allein auf die reisenden Händler zurück, so daß sich der Eindruck einer multilingualen Stadt relativiere. 54 Stellenangabe wie oben. COURCELLE 1969, 221; 223 zweifelt hingegen an echten Griechischkenntnissen des Fulgentius und nennt dessen Bildung „bookish“. 55 VÖSSING 1997, 626, Anm. 2108. Dagegen COURCELLE 1969, 213: Dracontius hätte nicht selbst das Griechische lesen müssen oder es hätte lateinische Übersetzungen geben können. 56 VÖSSING 1997, 626. HAPP 1986, Band I, 106–109; 114, Anm. 1. 57 So haben wir ein Gedicht als Paraphrase eines Menander-Stücks (Anth. 712 R. Vgl. SEBASTIANA NERVEGNA: Menander in Antiquity: The Contexts of Reception, Cambridge 2013, 117 und Anm. 278), sowie zwei weitere, die eine Nähe zur ‘Anthologia Palatina’ aufweisen (708. 709).

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So könnte man auch diesem Dichter Griechischkenntnisse zutrauen,58 ohne jedoch einen handfesten Beweis erbringen zu können.59 2. DAS EPYLLION ‘DE RAPTU HELENAE’ 2.1 Anlage und Interpretation Das Epyllion über den Raub der Helena kann insgesamt als das am deutlichsten in der Tradition des Epos stehende Gedicht des Dracontius gelten. Zu diesem Eindruck tragen neben dem Prooem, das sich an die großen epischen Vorgänger Homer und Vergil anlehnt, weitere typische Elemente des Epos bei: Gleichnisse (z. B. 350ff.), ein Seesturm (385ff.), Prodigien (z. B. 72ff.), eine Art Held (zu seiner parodistischen Anlage vgl. die folgende Interpretation)60, typisch epische Hexameterformeln und epische Sprache (besonders an Vergil angelehnt), Götter (s. dazu auch unten „Das Götterbild“) und Reden (passim).61

2.1.1 Gliederung Das Gedicht läßt sich, wie oft beobachtet, in fünf große Teile gliedern.62 Keine übereinstimmende Ansicht findet sich über die Abgrenzung des Prooems63 und auch des Schlusses vom Hauptteil des Gedichts.64 Die Handlung des Gedichts setzt sogleich nach dem Prooem ein.

58 MOUSSY (/ CAMUS) 1985, I 14. 59 S. dazu die Untersuchungen SCHETTER 1985, 52ff., WEBER 1995, 221, KAUFMANN 2006 [a], 44. Einen interessanten Ansatz verfolgte CLERICI 1973, 125f., indem er grammatische Phänomene in der Syntax des Dracontius findet, die er auf griechische Vorbilder zurückzuführen versucht. Noch weiter ging RAPISARDA 1955, der Griechischkenntnisse des Dichters für unerläßlich hält, um all die verschiedenen Mythen und Mythenvarianten kombinieren zu können. Die Kultur sei seiner Meinung nach trotz aller Umbrüche zweisprachig geblieben. BRUGNOLI 2001 hingegen negiert Griechischkenntnisse gänzlich und hält alle Anklänge an Homer für Übernahmen aus der ‘Ilias Latina’. S. auch die Zusammenstellung BODELÓN 2001, 32. An Romul. 8 macht DE PRISCO 1977 die Kenntnis des Griechischen wahrscheinlich (z. B. an Worten wie Musagenes 23), aber sein bemerkenswerter Versuch, den endgültigen Beweis über Übernahmen aus Kolluthos zu geben, ist doch zu unsicher (Zweifel hegt ebenfalls SANTINI 2006, 13, der aber zumindest einen Austausch zwischen dem vandalischen Afrika und dem byzantinischen Ägypten für möglich erachtet). 60 In die Richtung eines epischen Helden führen ihn seine Eigenschaften als junger Mann, der auf Reisen ist, eine Kriegsunternehmung plant und schließlich mit einer Frau heimkehrt. 61 Für eine Verwandtschaft mit dem Theater, besonders dem Mimos, die immer wieder postuliert wurde, s. AGUDO CUBAS 1978, 268 und besonders WASYL 2011. Nach unserem Verständnis des Gedichts überstrahlt jedoch das Epos alle potentiellen Anklänge an die übrigen Gattungen. 62 Z. B. BRIGHT 1987, 135, GALLI MILIĆ 2016, 197. 63 S. zur Diskussion den Kommentar S. 145. 64 WOLFF 2011, 100. S. den Kommentar S. 521.

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Prooem 1–60 1–30 Eng gefaßtes Prooem 1–10 Themenvorstellung 1–6 Konkrete Themenstellung 7–10 Exkurs über die Rolle der Mutter bei der Befruchtung 11–30 Homer und Vergil und Dracontius 11–21 Homer und Vergil als Inspirationsquellen, thematisch und sprachlich 22–30 Verhältnis des Dichters zu Homer und Vergil 22–23 Der uilis uates gegen die Musagenes 24–27 Gleichnis zur Verdeutlichung des Verhältnisses 28–30 Bitte um Inspiration 31–60 Erweitertes Prooem 31–48 Das Parisurteil und seine Folgen 31–39 Das Parisurteil und seine Problematik 40–48 Die Folgen für Paris, seine Familie, seine Stadt und ganz Griechenland 49–54 Die Hochzeit von Peleus und Thetis und die verweigerte Rückgabe der Hesione als mögliche Kriegsgründe 55–56 Schmerz und Zorn der Götter als möglicher Kriegsgrund 57–60 Die fata als Kriegsgründe Hauptteil I: 61−212 Vom Ida nach Troja 61−77 Der Weg des Paris nach Troja 61–71a Verlassen der bukolischen Welt und Weg nach Troja 71b–77 Schlechte Vorzeichen bei der Ankunft in Troja 78–212 Paris in Troja 78–118 Anagnorisisszene 78–88 Opferszene 89–103 Rede des Paris 104–118 Reaktionen der Eltern und Verbreitung der Nachricht 119–133 Rede des Helenus 120b–121 Anrede an die Eltern und invektivische Fragen 122–124a Ursache und Ankündigung des kommenden Unglücks 124b–130 unmittelbares Bevorstehen und Ausführung des Unglücks an Einzelbeispielen (Ankunft griechischer Schiffe, Lärm im Lager, Achill und Hektor, Tod des Troilos [124b–127a auf Seiten der Griechen, 127b–130 auf Seiten der Trojaner]) 131–132 Resignation 133 Hinnehmen des eigenen vorhergesehenen Schicksals 134–182 Rede der Kassandra 135–136 Invektivische Fragen 137–151 Verhalten der Mutter gegenüber Paris und daraus resultierendes Unglück 139–142 Hektors Schicksal (bezogen auf das Verhalten der Mutter)

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143–144a eigenes Schicksal 144b–146 Priamus, Hekabe, Astyanax 147–149a Paris 149b–151 Taten des Pyrrhus im Krieg 152–154 Schuld des Priamus65 155–159a Aufruf an Troilos und Hektor endet mit Resignation 159b–161 Aufruf an die Umstehenden zum Handeln 162–182 Notwendigkeit, Paris zu töten; Priesteramt als Lohn 183–187 Übergang und Einführung Apolls 188–210 Rede Apolls 188–189 Invektivische Fragen an die Priester-Seher 190–203 Die ‘Pläne’ der fata 190–199a die große Zukunft Trojas, die mit der Aufnahme des Paris beginnt 199b–203 direkte Anrede an die Seher, die dem fatum nicht entgegenstehen dürfen; Paris als persönlicher Schützling der Parzen 204–205 Aufforderung, Paris königlich zu kleiden 206–210 Apoll als Hirte bei Admet und Alkestis Hauptteil II: 213–384 Die Salamisgesandtschaft 213–245 Plan und Vorbereitung 213–219 Entwicklung des Paris nach seiner Aufnahme in Troja 220–229 Erste Rede des Priamus 221–222 Anrede und Frage nach Vorhaben des Paris 223 Hinweis auf Frieden im Königreich 224–228a Problem des Paris und Lösung des Priamus 228b–229 Ehe als erhofftes Nebenprodukt der Ausfahrt 230–245 Reaktion des Paris, zweite Rede des Priamus, Abfahrt nach Salamis 246–258 Fahrt nach und Ankunft auf Salamis 259–368 Verhandlungen auf Salamis 259–284 Die Gesandtschaftsrede des Antenor 261–264 Ankündigung, über den Grund der Gesandtschaft zu berichten 265–270a Auftraggeber (Priamus) und Auftrag der Gesandtschaft (Hesione zurückholen) 270b–273 1. argumentativer Aspekt: Troja wird sich nicht wieder vollständig erholen, solange Hesione nicht zurück ist (angebliche persönliche Ansicht des Priamus) 274–278 2. argumentativer Aspekt: Ein Krieg wäre der öffentlichen Meinung nach für einen König in dieser Situation angemessen 279–284 3. argumentativer Aspekt: Die öffentliche Meinung wird Priamus zum Krieg zwingen (wobei diese Konsequenz unausgesprochen bleibt) 285–326 Reaktion und Rede des Telamon 65 GUERRIERI 2016, 12 faßt größere Abschnitte. Er gliedert 152–159 und 159–182.

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285–291 Innere Erregung des Telamon 292–299a Einleitung der Rede mit Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit der Forderung und das Fehlverhalten der Trojaner 299b–326 Eigentliche Antwort und Mitteilung an Priamus 299b Einleitung mit Auftrag 300–304a Exempel: Besiegter spricht zum Sieger 304b–308a Exempel: Aufforderung an einen Ehemann 308b–310 Realebene 311–315 Forderung einer Mitgift 316–326 Präsentation der neuen Heldengeneration in Katalogform 316–318 Einleitung 319–320 Ajax 321–323 Achill (mit Patroklos 323) 324–326 Weitere Helden 327–348 Die Rede des Polydamas 328–330 Anrede an den König und Aufruf zur Beruhigung 331–332a Anpassung der Haltung an die neuen Verhältnisse 332b–340a Hesione als Exemplum für den dauerhaften Herrschaftsanspruch des trojanischen Geschlechts 332b–336a konkrete Situation der Hesione 336b–340a Verallgemeinerter Bezug auf das trojanische Geschlecht insgesamt 340b–348 Preis des Telamon ob seiner Güte als Sieger im Krieg 349–368 Reaktion Telamons (mit Löwengleichnis). Fest 369–384 Ende der Salamisepisode mit Rede des Aeneas 369–371 Epischer Sonnenaufgang 372–379 Rede des Aeneas; Abschied 380–384 Abfahrt Hauptteil III: 385–434 Der Seesturm 385–402a Beginn des Seesturms 402b–424 Rede des Paris 402b–419 Lob des Hirtenlebens 402b–404a Vorspruch 404b–405 fehlende Gefahren des Landlebens 406–419 Freuden des Landlebens in seinen verschiedenen Facetten 406–413 Blick auf Landschaft und Leben des Kleinviehs (Ziegen, Schafe) 414–417 Melken und Käseherstellung 418–419 Kampf der Stiere 420–424 Probleme und Gefahren eines Lebens als nauta und dux 425–434 Zweiter Teil und Ende des Seesturms mit Landung des Paris auf Zypern

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Hauptteil IV: 435–585 Helena und Paris – der „Raub“ 435–452 Paris’ erste Schritte auf Zypern 435–443 Zypern, das Venusfest und die Ankunft des Paris 444–452 Kontaktaufnahme der Helena mit Paris 453–480 Prodigium und Reaktionen 453–461 Prodigium 459–469 Rede des Sehers 470–480 Die Reaktion des Paris 481–539 Begegnung und Plan des „Raubs“ 481–489 Die Kleidung des Paris (und seiner Gefährten). Gang zum Tempel 490–539 Innere und äußere Annäherung zwischen Helena und Paris 490–493 Helena mustert (gedanklich?) Paris 494–507a Auswirkungen der Verliebtheit auf Helena und ihr Verhalten 502–507a Helena faßt sich ein Herz und spricht den begehrten Paris an 507b–529a Gedankenwelt und Worte des Paris 516b–529a Direkte Rede des Paris 516b–526a Schönheitsbeschreibung der Helena 526b–529 Kritik an Menelaos 529b–539 Reaktion der Helena 531b–534 Anknüpfung an die Worte des Paris und Aufruf zur Vereinigung und zum gemeinsamen Handeln 535 Die fata und Jupiter als unwiderlegbares Argument 536–539 Menelaos 540–567 Flucht 540–543 Weg zum Strand. Verfolger 544–550 Angstrede des Paris 551–556 Antwort der Helena 556–567 Das Europa-Jupiter–Helena-Paris–Gleichnis und Abfahrt 568–585 Reaktion der Zyprioten und des Menelaos (mit Tiger-Gleichnis 577–585) Hauptteil V: 586–647 Ankunft in Troja 586–596 Ankunft der Gesandtschaft 597–614 Totenklage und Begräbnis des vermeintlich umgekommenen Paris im Kenotaph 615–619a Ankunft von Paris’ Schiff 619b–637 Begrüßung und Reaktionen (darunter 632–637 Schattengleichnis) 638–647 Hochzeitszug 648–655 Epilog in Epithalamiengestalt

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2.1.2 Narratologische Struktur: Gedankenführung, Szenenverknüpfung und Spannungsentwicklung (I) Die Erzählung beginnt an der Stelle, an der Paris des Hirtenlebens überdrüssig wird und, im Bewußtsein, auserwählt zu sein, da er ja über Göttinnen zum Richter bestellt worden war, beschließt, sich in Richtung Troja aufzumachen. Dracontius ändert schon an dieser Stelle den herkömmlichen Verlauf des Mythos. Denn er läßt Paris von seiner Amme über seine königliche Abkunft unterrichtet sein. Dessen Ankunft in Troja ist begleitet von unheilvollen Vorzeichen, die ihn allerdings nicht berühren. In Troja angekommen, trifft Paris auf seine Familie, die gerade ihr jährliches Opferfest anläßlich des Wiederaufbaus der Stadt feiert. Er platzt in die Prozession, erzählt kurz seine Geschichte, zeigt seine crepundia und will wieder Teil der Familie werden. Seine Eltern sind gerührt, weinen, fallen dem verlorenen Sohn um den Hals und wollen ihn sogleich wieder in die Familie aufnehmen. Dies ruft die Geschwister des Paris und zugleich Apollonpriester Helenus und Kassandra auf den Plan, die eindringlich auf die drohende Gefahr, die ihr Bruder mitbringt, hinweisen. Kassandra fordert schließlich sogar den Tod des Paris als einzig vernünftige Lösung. Seinen beiden Priestern nimmt aber der Gott Apoll, der nach Art eines deus ex machina auftritt, die Glaubwürdigkeit, weist sie in die Schranken und prophezeit Troja eine glänzende Zukunft. Nach dem Auftritt des Gottes schweigen die Seher – Paris wird wieder als Königssohn eingesetzt. (II) Dies ist ihm aber schon nach kurzer Zeit zu wenig und er sinnt auf heldenhafte Taten: Ihm schwebt eine Eroberungsfahrt übers Meer vor. Sein friedliebender Vater hat dafür wenig Verständnis und überredet ihn zu einer friedlichen Mission: Mit einer Gesandtschaft soll er die Schwester des Priamus, Hesione, aus Salamis von König Telamon zurückholen, der sie nach der Zerstörung Trojas durch Herkules als Sklavin erhalten hatte. Dem stimmt Paris zu. Er bekommt mit Antenor, Polydamas und Aeneas ein Trio erfahrener Männer an die Seite gestellt, mit denen zusammen er die Gesandtschaft bildet und nach Salamis segelt. Nach der Ankunft wird schon vor der ersten Rede, die Antenor halten wird, auktorial verdeutlicht, daß die folgenden Reden einiges an Zündstoff enthalten und durchaus zu einem Krieg führen könnten, wenn dies nicht das Gastrecht verböte: nam dicta tenebant, / quae possent armare uirum, nisi iura uetarent / hospitii (256–258). Nach diesem Vorlauf hält Antenor die erste Rede, in der er unter Kriegsdrohung Hesione für Troja und für Priamus zurückfordert. König Telamon kann seinen Zorn schwer zügeln und antwortet seinerseits mit einer heftigen Kriegsdrohung, in der er alle jungen Krieger Griechenlands aufzählt. Zudem erfährt die trojanische Gesandtschaft von seinen derzeitigen Familienverhältnissen: Hesione ist nämlich nicht mehr seine Sklavin, sondern seine rechtmäßige Ehefrau. Polydamas, der zweite in der Gesandtschaft, versucht daraufhin, die Wogen zu glätten und Telamon zu beruhigen. Dies gelingt ihm. Nach einem Gastmahl verabschiedet Aeneas sich und die Gesandtschaft mit einer kurzen Rede. (III) Auf der Rückfahrt gerät die Gruppe in einen für das Epos typischen Seesturm. Dieser trennt die Schiffe und Paris wird allein an den Strand von Zypern

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gespült, wo sich gerade am Festtag der Venus auch die Zeustochter Helena befindet – die Begegnung von Paris und Helena geschieht also eher zufällig. (IV) Die beiden treffen aufeinander, verlieben sich sogleich ineinander und Helena selbst verlangt, entführt zu werden. Beide können nicht mehr aufgehalten werden, der abwesende Menelaos kann nur noch von den Tatsachen in Kenntnis gesetzt werden. (V) Dracontius blendet im folgenden zurück nach Troja, wo der Rest der Gesandtschaft inzwischen gelandet ist und alle davon ausgehen, daß Paris im Sturm umgekommen sein muß. Aus diesem Grund wird Trauer gehalten und ein Kenotaph errichtet.66 Mitten in diese Trauer hinein kommt Paris mit seiner neuen Flamme. Erneut von seinen Eltern leidenschaftlich begrüßt, sehen die Brüder seine Rückkehr skeptisch. Paris führt seine Frau cum sorte sinistra (638) in die Ehe. Die Musik, die zur Hochzeit erklingen soll, ist einerseits Hirtenmusik (iam rustica fistula carmen / pastorale canit; 642f.), andererseits handelt es sich um Töne, die den Krieg einläuten: bucina bella minatur (644); aere canoro / increpat arma duces clipeos et mille carinas (645f.). Man kann sie als schlechte Vorzeichen deuten und so einen Bogen zur ersten Ankunft des Paris in Troja ziehen. Die letzten Verse sind als auktorialer Kommentar67 gestaltet. Statt üblicher guter Wünsche für das Brautpaar, wirft Dracontius ihm die Schuld am unverdienten Tod vieler Menschen vor. Mit ihrer verderblichen Liebe haben Paris und Helena die vorausgesagte Fackel entzündet. Daraus ergab sich der Krieg mit seinen gravierenden Folgen für Götter und Menschen: crimen adulterii talis uindicta sequatur (655). Bei der Szenenverknüpfung und zur Spannungsentwicklung lassen sich klare Gestaltungsmittel erkennen. Grundsätzlich ist festzustellen, daß Dracontius die rein erzählenden Passagen, besonders diejenigen, die einen Ortswechsel zum Gegenstand haben, auf ihren bloßen Informationsgehalt reduziert.68 So umfaßt der Weg des Paris vom Ida nach Troja gerade einmal einen halben Vers (Troianum carpebat iter, 71a), die Seefahrt von Troja nach Salamis etwa drei Verse (246–248), die Reise der Gesandten nach dem Seesturm zurück nach Troja wird lediglich nach einem mit interea angekündigten blockartigen Szenenwechsel konstatiert (586f.). Es kann also festgehalten werden, daß bei der Verknüpfung von Szenen mit Ortswechseln nur auf das nötigste reduzierte Informationen geboten werden.

66 Damit setzt Dracontius strukturell ein Leichenbegängnis für Paris, das nach der gewöhnlichen Gestaltung des Mythos zu Beginn der Geschichte vor der ersten Ankunft des Paris steht, ans Ende zu seiner zweiten Ankunft in Troja. 67 Da sich der Autor im Prooem als derjenige zu erkennen gibt, der die Geschichte von Paris und Helena erzählt, können Autor- und Erzählerkommentar im folgenden synonym verwendet werden. 68 Dies läßt sich beispielsweise auch in Romul. 10 finden, wo der Raub des goldenen Vlieses, der Aufbruch von Colchis und die Ankunft in Korinth in sieben Versen abgehandelt werden (360– 366).

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Verknüpfungen schafft der Dichter nicht nur über Orte, sondern auch über die Figuren. Das Prooem und der Beginn der Handlung des Hauptteils werden durch die Figur des Paris verbunden, jedoch unterbrochen durch den Schlußabschnitt des Prooems (40b–60).69 Ein Übergang zwischen der Aufnahme des Paris in Troja und der Vorbereitung der Salamisgesandtschaft fehlt weitgehend (zwischen 212 und 213). Gerade noch wurde der Leser über die Reaktion auf die Rede Apolls in Kenntnis gesetzt, als im nächsten Vers der frischgebackene Königssohn schon mit seiner neuen Stellung unzufrieden ist. Erklären läßt sich diese blockartige Aneinanderreihung mit einer in diesem Punkt minimalistisch-manieristischen Kompositionsweise des Dichters, der zugunsten der Figurencharakterisierung rein erzählende Passagen und Übergänge zurücknimmt. Ein leicht abweichendes Bild ergibt sich, wenn man die Überleitung zwischen dem zweiten und dem dritten Hauptteil betrachtet. Denn die Vorbereitung auf die Abfahrt und diese selbst werden in fünf Versen ausgebreitet; im Anschluß daran folgt die intensiv ausgestaltete Schilderung des Seesturms.70 Die Breite der Darstellung erklärt sich in diesem besonderen Fall wohl daraus, daß der Seesturm mit der Rede des Paris einen wichtigen Beitrag zu seiner Charakterisierung enthält und daneben zusammen mit seinen vorbereitenden Versen auch grundsätzlich für das Dichtungsverständnis des Dracontius von Bedeutung ist. Denn Seestürme sind eines der wichtigsten Standardelemente eines Epos, das der Dichter hier als Gattungskonstituente ausführlich bedient. Der folgende Szenenwechsel ist ähnlich gestaltet wie der anfängliche Übergang vom Ida nach Troja. Leser und Erzähler folgen Paris bis zur Grenze, dann wechselt die Perspektive und man empfängt ihn zusammen mit den bereits Anwesenden, wobei der Perspektiven blockartig nebeneinandergelegt werden (432 und 435). Insgesamt ist demzufolge zu konstatieren, daß der Dichter im allgemeinen eine ausführliche Gestaltung von Übergängen und narrativen Partien zugunsten anderer Elemente, die der Figurencharakterisierung dienlich sind, zurückstellt; daß er aber an Stellen, die sein Selbstverständnis als Dichter verdeutlichen sollen, umfassende Beschreibungen integriert. Die Spannungskurve des Gedichts besteht aus sich immer wieder erhebenden Spannungswellen, die nach ihrem Höhepunkt abflachen und danach erneut aufgebaut werden. Ein kurzer Durchgang durch das Gedicht mag die Mittel zum Spannungsaufbau und ihre Wirkung verdeutlichen. Die Spannung entsteht vor allem durch den gezielten Einsatz retardierender Momente, die jedes Mal den Eindruck vermitteln, Paris könnte an der einen oder anderen Stelle sterben oder außer Gefecht gesetzt werden, so daß der trojanische 69 Bei einem Text dieses Themas ist die Kopplung über die Hauptperson sicher nicht verwunderlich, aber es hätte vielleicht die Möglichkeit gegeben, das Geschehen ausschließlich aus der Sicht der Trojaner zu betrachten, wie es ab 78 auch geschieht, und wie es am Ende des Gedichts zu finden ist, wo die Rückkehr des Paris aus der Perspektive des Priamus und seiner Familie sowie der Bewohner der Stadt gesehen wird (612ff.). 70 Zu seinen Funktionen s. genauer den Kommentar S. 365.

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Krieg nicht durch ihn ausgelöst werden muß.71 Das erste dieser Elemente ist die Rede des Helenus (119–133), an die mit der Rede der Kassandra das zweite sogleich angeschlossen ist (134–182). Danach ist der Höhepunkt der ersten Spannungswelle anzusetzen, die jedoch mit der Rede Apolls (188–210) sofort beendet wird. Als weiterer Höhepunkt einer Spannungswelle ist die Rede des Telamon innerhalb der Gesandtschaft in Salamis zu bewerten (292–326), da sie mit einer offenen Kriegsdrohung endet. Diese Welle wird ebenfalls mit einer Rede, nämlich der des Polydamas (327-348) entschärft. Die größte Kraft als retardierendes Moment besitzt schließlich der Seesturm (385–434), in dem Paris dem Tode ganz nahe zu sein scheint, oder wenn man als Kenner literarischer Seestürme davon ausgehen darf, daß ihm vermutlich am Leibe nichts geschehen wird, zumindest seine Rede (402b–424) das Gefühl vermittelt, er wolle aufgeben und sich wieder ganz dem Leben als Hirte widmen. Doch spätestens die Einladung der Helena (444ff.) beendet diese Spannungswelle, da sich eine persönliche Begegnung nicht mehr vermeiden läßt. Mit der Lesererwartung spielt der Dichter, wenn er vor dem Zusammentreffen überraschend auch noch ein Prodigium samt Auslegung einfügt (453–469), dessen potentielle Wirkung Paris aber durch seine eigene Reaktion vereitelt (470–480). Schließlich geht von Paris selbst eine weitere Spannungswelle aus, wenn er völlig verzweifelt auf die Verfolgerschar reagiert (545–550), die ihn und Helena von der Flucht nach Troja abhalten will. Doch die klare Zielsetzung der Helena, die ihn zur Eile antreibt und ermahnt, die Zeit nicht mit Gerede zu verschwenden, macht auch diese Welle unwirksam. Zuletzt tritt eine bisher nicht angewandte Form der Spannungserzeugung auf. Sie operiert damit, daß der Leser über bestimmte Details im Ungewissen gelassen wird. Priamus errichtet in der festen Überzeugung, sein Sohn sei bei dem Seesturm ums Lebens gekommen, ein Kenotaph und bereitet das Totenopfer vor (597–614). Der Leser weiß zwar, daß Paris im Seesturm nichts zugestoßen ist, aber er besitzt noch keine Informationen über den Verbleib von Paris und Helena nach ihrer Abreise aus Zypern. Daß dabei ein Unglück geschehen sein könnte, ist noch immer möglich. Gewißheit und gleichzeitig einen Abfall der Spannungswelle erhält man schließlich mit dem Erscheinen des Schiffes (614). Wie sind diese Beobachtungen einzuordnen? Dracontius spielt in extenso und in immer wieder neuen Anläufen mit dem epischen Phänomen der ‘Beinahe-Episoden’, die „einer epischen Erzählung ein erhebliches zusätzliches Maß an Farbigkeit und Spannung verleihen“72 können. An insgesamt sieben Stellen, also im Schnitt alle 94 Verse des Gedichts, hätte die Vorgeschichte des trojanischen Krieges ein Ende haben und der Krieg selbst verhindert werden können. Mit dieser hohen Dichte an ‘Beinahe-Episoden’ besitzt der ‘Raptus Helenae’ ein enormes

71 Für diese „Beinahe-Episoden“ s. grundlegend NESSELRATH 1992. 72 NESSELRATH 1992, 3.

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Spannungspotenzial,73 das gewiß zum Lesen und zur Auseinandersetzung mit dem Thema anregen kann.74

2.1.3 Interpretatorische Aspekte Das Gedicht ‘De raptu Helenae’ wird hier als ein einzelnes, alleinstehendes Epyllion interpretiert, auch wenn es in einer Sammlung überliefert ist, innerhalb derer man durchaus, trotz ihrer Heterogenität, Verbindungslinien ziehen kann: So lassen sich als erstes die ‘Praefationes’ an den Lehrer Felicianus, die Gedichte 1 und 3, nennen. Zu einer zweiten Gruppe sind die beiden Epithalamia, die Gedichte 6 und 7 zu zählen. Weiterhin finden sich drei Gedichte, die im weitesten Sinne einem poetisch-rhetorischen Kontext angehören und nach Art der Deklamationen ein Thema erörtern. In diese Gruppe sind die Gedichte 4, 5 und 9 zu rechnen. Schließlich bleiben die drei Epyllia, die Gedichte 2, 8 und 10, die sich aber gleichzeitig deutlich voneinander unterscheiden. Hierzu kann auch das vierte Kleinepos, der separat überlieferte ‘Orestes’ gezählt werden. Neben der Zusammenstellung nach diesen eher formalen Kriterien sind auch andere Gruppierungen möglich. So ist etwa der trojanische Sagenkreis in Romul. 8 und 9 behandelt, die formal voneinander verschiedene Dichtungen darstellen (in den Kreis des Trojamythos kann dann auch der ‘Orestes’ eingeordnet werden). Auch eine Gruppe von Gedichten, in denen perfide Herren eine bedeutende Rolle spielen und die ebenfalls über die Beschreibung eines nefas zu definieren wären, läßt sich zusammenstellen: Aegisth (Orest.), Iason (Romul. 10), Paris (Romul. 8). MIRYAM DE GAETANO eröffnet in ihrer umfassenden Untersuchung einen Blick auf das Problembewußtsein des Dichters, der die Schwierigkeiten der Herrscher und des freien Willens bespreche.75 Ein nefas wird auch im Prooem von Orest. angekündigt, ganz genau wie in Romul. 8. Erwähnt wird der Raub der Helena übrigens auch Orest. 468–470 und 952.76 Auch das Thema der Liebe und des Ehebruchs ist in den der Gruppe der Epyllia zuzurechnenden Gedichten immer wieder greifbar.77 DE GAETANO78 zeigt, daß einige weitere Parallelen nur durch eine leichte Änderung der traditionellen Mythenversionen erreicht werden (so z. B. daß auch Aegisth ein Hirte ist; ein Vergleich z. B. zwischen Paris und Aegisth sei schon seit Stat. Ach. 1,61–70 vorgenommen worden, könne also gut als Weiterführung einer

73 Zum Vergleich sei angeführt, daß in der ‘Ilias’ 46 (NESSELRATH 1992, 8), also im Schnitt alle 341 Verse ‘Beinahe-Episoden’ auftreten, die damit in dieser Hinsicht ungleich spannungsärmer ist; in der ‘Aeneis’ sind es mit einer absoluten Zahl von 20 im Verhältnis sogar noch weniger (NESSELRATH 1992, 75). 74 S. dazu auch zum Kap. 2.1.5. 75 DE GAETANO 2009. 76 Vgl. BARWINSKI 1888, 13. 77 BOUQUET / WOLFF 1995, 39. 78 DE GAETANO 2009, 138; 142.

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Tradition verstanden werden). Es kann jedoch für Romul. 8 festgestellt werden, daß sämtliche Variationen des Mythos voll und ganz dem Gedicht selbst dienen. Es lassen sich also durchaus Vergleichsmomente innerhalb des paganen Gedichtcorpus des Dracontius finden und gewisse Linien feststellen. Trotzdem bleiben die Stücke eigenständig und jedes besitzt seinen eigenen Charakter. Als wichtiges Argument für eine gesonderte Betrachtung des ‘Raptus Helenae’ kommt der Zustand der Handschrift hinzu, die den Eindruck vermittelt, sie sei aus verschiedenen Einzelteilen zusammengestückelt (s. Kap. 4 Überlieferung). Dies macht die Annahme hochproblematisch, daß die auf uns gekommene Sammlung vom Autor selbst vorgenommen wurde, so daß eine Interpretation, die sich hierauf stützen wollte, auf unsicherem Grund stünde. 2.1.3.1 Die parodistische Anlage des Helden Im folgenden soll, ausgehend vom Raub der Helena selbst, der Schlüsselszene des Gedichts, der Versuch einer Gesamtinterpretation von Romul. 8 unternommen werden.79 In der Situation des Raubes und in den Ereignissen, die sich um ihn gruppieren, zeigt sich ein ebenso charakteristischer wie überraschender Grundzug des Gedichts: Die Lächerlichkeit des Helden Paris. Seine ironisch-komische Behandlung steht nicht im Gegensatz zu den ernsten Untertönen, die sich hier und da zeigen, und die als moralische Stimme im Gedicht schon oft gehört worden sind.80 Denn Satire und Ironie bringen diese zuweilen mit sich.

79 BRETZIGHEIMER 2011, 361 betont die Vielfalt an „Tonarten“ und „konträren Motiven“, die der Dichter verarbeite und die zu unterschiedlichen Deutungen führten. Ausgeschlossen werden soll an dieser Stelle die Möglichkeit einer politischen Bedeutung des Epyllions, wie sie RASCHIERI 2014 (in seinem teilweise fehlerhaften Aufsatz: So spricht beispielsweise nicht Paris, wie er S. 267 schreibt, die Abschiedsworte der Salamisgesandtschaft, sondern Aeneas; so sieht Paris in Troja keine Schiffe und plant daraufhin eine Reise, sondern rüstet sie selbst aus [S. 269]) postuliert, daß Dracontius die Kritik an Reise und Piraterie im ‘Raub der Helena’ als den Haupteigenschaften der Vandalen als Kritik an diesem Volk und seinen Königen darstellt; es lassen sich dafür überhaupt keine Anhaltspunkte im Text finden. Die Gestaltung des Mythos findet ausschließlich auf literarischer Ebene statt, Dracontius hat nicht vor, ihm einen neuen inneren Sinn zu verleihen. Einen politisch-religiösen Interpretationsansatz legt DE GAETANO 2010 in ihrem Aufsatz vor, der voller interessanter Einzelbeobachtungen steckt (s. den Kommentar besonders zum Prodigium 453–480), dessen Grundannahmen (wie etwa die Überzeugung, daß politische und christliche Aussagen in Romul. 8 und besonders im Prodigium erkennbar seien) jedoch m. E. nicht haltbar sind. 80 Daß besonders im Prooem und im Epilog kritische Stimmen gegenüber der Moralität der Protagonisten aufscheinen, läßt sich nicht leugnen. Sie führen jedoch nicht zu einer moralischen Grundintention des Gedichts, die sich m. E. tatsächlich an keiner Stelle belegen läßt (so auch BOUQUET / WOLFF 1995, 45); dazu sind die übrigen Verse zu spielerisch gestaltet. Bisher haben sich, ausgehend von der Äußerung meliore uia im Prooem, besonders PROVANA 1912, 64ff., BERTINI 1974, 90 (der das Gedicht im allgemeinen für wenig gelungen hält) und ROMANO 1959, 34ff. (zumindest im Prooem) für eine moralische Lesart entschieden. Vgl. auch

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Paris ist am Plan des Raubes zunächst nicht beteiligt. Denn es ist Helena, die sagt: pariter tua regna petamus, / sis mihi tu coniunx et sim tibi dignior uxor (533f.). Beide brechen daraufhin auf zur Küste; als Paris Verfolger wahrnimmt, wird er von heftiger Angst ergriffen, sein erstes Wort ist occidimus (545). Als Helena, deren Rolle schon 544 in pointiertem Ausdruck als comitans rapina charakterisiert wurde, ihn anfährt und fragt, warum er seine Zeit mit Reden vertut, statt zu handeln, nimmt der Trojaner sie auf die Schultern (rapitur per colla 556) und dient als bloßes Transportmittel.81 Noch deutlicher tritt die Schwäche des Helden im folgenden Gleichnis hervor, dem Raub Europas durch Jupiter. Paris ist in völligem Gegensatz zu dem starken Stier gestaltet. Während sich Jupiter über die Last auf seinem Rücken freut und nichts von einer Erschöpfung spüren läßt (561), kommt Paris exhaustus cursu uel pondere lassus, / qui gratum portabat onus (564f.) auf dem Schiff an.82 In dieser Episode ist Paris lächerlich und gänzlich unheroisch. Der Dichter läßt deutlich spüren, daß er viel zu feige ist, um ernsthaft Helena zu rauben. Spätestens beim Anblick der Verfolger hätte er sie zurückgelassen. Ausgehend von dieser Schlüsselszene lassen sich auch im übrigen Gedicht weitere Indizien für die Lächerlichkeit der Figur des Paris ausmachen, die kurz zusammengestellt werden sollen: Im ersten Teil des Gedichts ist der häufige Rekurs des Paris auf sein Urteil über die Göttinnen augenfällig, mit der er u. a. den niedrigen Stand, den er als Hirte besitzt, aufwerten möchte. Daß dies Arroganz gegenüber den Göttern und Prahlerei mit Befugnissen, die ihm nicht zustehen, bedeutet, begreift er nicht.83 Damit in engem Zusammenhang steht der Wunsch des Paris, kaum daß er in Troja angekommen ist, schon auf große Eroberungsfahrt gehen zu wollen. In der offensichtlich sehr kurzen Zeit (eine genaue Angabe fehlt) kann sein Wissen über Politik, Seefahrt, Regierung nicht sonderlich gewachsen sein und so bildet denn auch die stehende Bezeichnung pastor einen dauernden Gegensatz zum Leben und Agieren im Königspalast. Als direkte Folge dieses Mißverhältnisses kann sein Verhalten bei der Salamisgesandtschaft angesehen werden, während der er völlig in den Hintergrund tritt und kein einziges Wort äußert. Der neue Königssohn ist der

GUALANDRI 1974, 886. Neuerdings auch wieder BISANTI 2010, 206f. und CICHÓN 2016 (Dracontius wird von ihr als „christian moralist“ bezeichnet). 81 Freilich wird das Wortfeld ‘Raub’ ausführlich bedient (rapina 544, rapitur 556, das Gleichnis von Europa und dem Stier 557–562, raptor 563), weil es die Tradition dieses Mythos so mit sich bringt, und weil es aus der Sicht der Verfolger genauso aussieht. Vgl. für die dominante Rolle der Helena an der Stelle auch BRIGHT 1987, 127f. 82 S. z. St. im Kommentar für eine ausführliche Besprechung der intertextuellen Bezüge, namentlich exhaustus cursu als lucanische Junktur (8,3) cornipedem exhaustum cursu, die dort eindeutig ein Pferd, also ein reines Lasttier bezeichnet, so daß sich dieses Bild auch für unsere Stelle aufdrängt. Gratum onus und pondere lassus stehen einander ironisch gegenüber. Die Erschöpfung scheint über die Freude zu siegen. 83 Ironie und Komik findet auch WASYL 2011, 79 besonders in der Episode, in der Paris mit seiner Familie zusammentrifft.

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brenzligen politischen Situation – so darf man schließen – einfach nicht gewachsen.84 Direkt im Anschluß erhebt sich, während der geplanten Rückfahrt nach Troja, ein Seesturm,85 in dessen Folge das Schiff des Paris von dem der übrigen Gesandten getrennt wird, und er mitten im Sturm auf sich allein gestellt ist. Hier nun beginnt er zu sprechen und eine lange Klagerede zu halten, deren Hauptthema das Lob des Hirtenlebens ist. Daß dies seinem bisherigen Handeln diametral entgegensteht und besonders seinem hochmütigen Verlassen der bukolischen Welt, bedarf keiner Erläuterung. Es zeigt Paris aber auch auf andere Weise als unfähig und unzulänglich. Denn obwohl er nominell der Leiter der Expedition ist, mit der ihn sein Vater auf seine Initiative hin betraut hat, kümmert und sorgt er sich nicht um seine Gefährten. Nach seinem Nicht-Auftritt während der Verhandlungen scheint dies nicht weiter verwunderlich, bestätigt aber nochmals seine Haltung und seinen Charakter. Zum zweiten zeigt die Rede auch die ständige Unzufriedenheit des Paris mit sich selbst und seiner Lage. Als Hirte wäre er lieber König und Anführer; als Königssohn – in schwierigen Situationen – wäre er lieber wieder Hirte, je nachdem was ungefährlicher beziehungsweise prestigeträchtiger ist. Dies zeigt sich sehr deutlich im folgenden Abschnitt, in dem Paris auf Zypern anlandet und sich dort in prächtigem Ornat zeigt (481ff.). Ganz abgesehen von der für Gedicht und Situation unerheblichen Frage, wie Paris nach dem Seesturm an so feine Kleidung kommt, zeigt der Umstand doch, daß schon wieder ein Gesinnungswechsel stattgefunden haben muß. Die Aussicht auf ein Treffen mit Helena, die ihn übrigens von vornherein für eine äußerst bedeutende Persönlichkeit hält (444ff.), läßt ihn offensichtlich erneut die Vorteile der Königssohnschaft erkennen und ausnutzen. Das der Raub-Szene vorgeschaltete Gespräch zwischen Helena und Paris, bei dem Paris ganz zum elegischen Liebhaber avanciert, wirkt durch die Brechung ebenfalls komisch-ironisch. Denn der Aufbau einer elegischen Stimmung trägt auch zur Entwicklung elegischer Erwartungen beim Leser bei. Um nichts in der Welt würde ein elegischer Liebhaber von seiner Geliebten ablassen (höchstens in sehr schlimmen Fällen der Enttäuschung). Doch Paris ist beim kleinsten Problem sofort dazu bereit.86 Welche Schlüsse können aus der ironischen Darstellung der Paris-Figur gezogen werden? Zunächst einmal ist offensichtlich, daß eines der wichtigsten Elemente des antiken Epos, die Anlage rund um eine Heldenfigur, umgedeutet, ja parodiert wird. Denn Paris ist in keiner Hinsicht ein Held.87 Allerdings ist er auch kein böser

84 Unterstützt wird dieses Verständnis durch die Reduktion des Paris auf seine Rolle als Sohn des Priamus, wenn er das einzige Mal in Erscheinung tritt und Hesione auf seine Ähnlichkeit mit dem Vater aufmerksam macht (368). S. auch zu dieser Stelle ausführlich den Kommentar zu 366–368. 85 S. ausführlich für die Tradition und die Einbettung ins Gedicht den Kommentar zu 385–434. 86 WASYL 2011, 57. 87 Dies betont auch WASYL 2011, 84. Interessant ist ihr Vergleich von Dracontius als Dichter selbst mit dem Protagonisten. Während der Dichter weiß, daß er kein Homer und kein Vergil

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Antiheld, wie er z. B. im lucanischen Caesar begegnet, da ihm zu jeglicher Form des Heldentums der Mut fehlt. Dieser Gedanke kann noch weiter ausgeführt werden. Denn daß es sich bei Paris als der Hauptfigur des Gedichts nicht um einen epischen Helden handelt, kommt in der zugrundeliegenden Gattung Epyllion auch nicht gänzlich unerwartet,88 da hier häufig Antihelden oder ganz andere Figuren zu Hauptakteuren werden. Dennoch erhält die Gestalt in unserem Gedicht eine spezielle Färbung der Lächerlichkeit, indem sie sich selbst andauernd widerspricht und moralisch unzulänglich handelt, sich in schwierigen und gefährlichen Situationen einerseits schwächlich, andererseits egoistisch verhält. Insofern variiert und verstärkt der Dichter spielerisch das in der Gattung selbst grundsätzlich angelegte Rollenbild einer Hauptfigur, indem er Paris durch und durch als ‘Witzfigur’ wirken läßt, die komische Züge trägt.89 Diese Lesart der Figur wird durch ihre dauerhafte Bezeichnung als pastor, auch wenn diese inhaltlich nicht paßt, unterstützt.90 Der Hirtenstatus hängt ihm immer an.91 Insofern erscheint auch die Ankündigung eines pastorale ausum im Prooem bedeutungsvoll. Denn der Ausdruck könnte schon darauf hinweisen, daß die Tat des Paris, zumindest in der Form, in der Dracontius sie darstellt, kein echtes Schurkenstück, sondern nur das Wagnis eines Hirten ist, also sogar für ein richtiges Verbrechen völlig unzureichend. Die immer wieder beobachtete moralisch problematische Haltung des Paris fügt sich ins Konzept der parodischen Heldenfigur ein. Denn es gehört zum Wesen sämtlicher komischer Textgattungen auch teils unbequeme Wahrheiten zu transportieren und hinter der heiteren Fassade schwierige Themen anzusprechen. Im Falle des Paris wären dies eine fehlende Reflexion über die Folgen des eigenen Handelns insbesondere in einer Führungsrolle mit Blick auf die angehörenden Personen, ein ausgeprägter Egoismus, sowie fehlendes Durchhaltevermögen und Zielstrebigkeit.92 Hinzu kommt seine leichte Manipulierbarkeit, sei es durch bedrohliche Situationen, sei es durch andere Personen, wie etwa in der Verfolgungssituation oder durch Helena. Aus diesem Grund stehen auch das durchaus ernste Prooem und der Epilog des Gedichts nicht gegen eine solche Interpretation, sondern müssen und

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werden wird, versucht Paris dauernd in die Rolle eines zweiten Aeneas zu schlüpfen; daß er dazu unfähig ist, wird ihm nicht bewußt. S. unten zur Gattungsfrage. Kap. 2.2. Es sei dabei noch einmal festgehalten, daß es sich nicht um eine grundsätzliche Epos-Parodie handelt, da das Thema des Gedichts durchaus das eines Epos, oder zumindest eines Epyllions ist, sondern einzelne Elemente, in der Hauptsache eben der Hauptakteur, parodistisch gefärbt herausgezogen werden. Darunter ist beispielsweise die von BRETZIGHEIMER 2010, 388 betonte „komische Diskrepanz zwischen den angestrebten Zielen fama, uiuaces laudes und den realisierten Ruhmestiteln praedo, raptor, adulter“ zu fassen, die allerdings, was BRETZIGHEIMER übersieht, auch wieder ironisch gebrochen werden, dadurch daß Paris schließlich seinen Raub gar nicht verübt, sondern Helena ihn drängt. SIMONS 2005, 223 u. ö., WASYL 2011, 55. Sicher ist auch für Dracontius ein pastor nicht grundsätzlich etwas Negatives. Paris wird zur problematischen Figur, weil er mit diesem Beruf und diesem Leben so unzufrieden wird, aber seine innere Haltung an die von ihm erwünschte Stellung nicht anpassen kann. Dies wird auch von SIMONS 2005, BRETZIGHEIMER 2010 und WASYL 2011 betont.

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können auf einer anderen Ebene verstanden werden als die Narration des Hauptteils.93 Abschließend sei auf die immer wieder geäußerte Ansicht hingewiesen, Dracontius greife in diesem Gedicht Themen auf, die die Menschen seiner und wohl aller Zeiten bewegt haben mögen: bestechliche Richter, Ehebrecher, Schuld, Vorbestimmung.94 Dabei handelt es sich um Themen, die dem Epos an sich bereits inhärent sind, die aber auch in der Bibel zu finden sind.95 Daß sich der Dichter gegen eine Geschichte aus der Bibel und für den paganen Mythos entscheidet, dürfte seinen Grund in der römischen literarischen Tradition finden, die Dracontius bedienen möchte. Sich auf der Ebene der kunstvoll gestalteten Literatur mit diesen Themen auseinanderzusetzen und sie neu und anders darzustellen, sich auf diese Weise selbst, aber auch seine Zeit und seine Leser an die bedeutende Literaturproduktion der Vergangenheit anzuschließen, ist das wahrscheinlichste Ziel des Dichters.96 2.1.3.2 Verhältnis des Prooems zum übrigen Gedicht Wie sich die Ankündigung des Inhalts im Prooem zu diesem aus der Durchführung gewonnenen Verständnis des Gedichts, besonders zur Rolle des Paris verhält, soll im folgenden betrachtet werden.97 Zumindest auf den ersten Blick bietet sich im ersten Teil des Prooems ein ganz anderes Bild: Der Dichter vermittelt den Eindruck, das Gedicht werde die ernste Angelegenheit von Raub und Ehebruch (raptor … adulter, 11) behandeln, ein echtes Verbrechen (nefas, 11) sei Gegenstand der folgenden Verse.98 Ganz anders stellt sich die Situation in der oben als Schlüsselszene gedeuteten tatsächlichen Konstellation des Raubes dar.99 Spätestens dort wird deutlich, daß der Dichter mit der Erwartung seiner Leser spielt. Sowohl durch diese Themenankündigung, als auch durch den direkten Anschluß an Homer und Vergil baut Dracontius im Prooem eine gewisse Erwartungshaltung auf und läßt an die

93 Dafür spricht insbesondere die bedeutende Rolle des Zufalls, die die Ereignisse des Gedichts vorantreibt. Das fatum wirkt zwar auf eine Weise, aber den Anstoß, besonders zum Raub der Helena, gibt der Zufall. Auf diese Weise wird Paris nicht von seiner Tat entlastet; er handelt selbstbestimmt. 94 Zuletzt WASYL 2011, 34f.; 39 und GALLI MILIĆ 2016, 195f., die dies aus einem Interesse des Dichters, das von seinem Beruf herrührt, ableitet. 95 Man denke an David und Bathseba, Sprüche 17,23 (bestechlicher Richter), Judas. Gleichermaßen finden sich grausame Kriege. 96 Es ist ein anderes Vorgehen als das vieler anderer christlicher Dichter, die biblische Themen in (zumindest teilweise) paganes Wortmaterial kleiden (was Dracontius auch in den ‘Laudes dei’ tut). Es ist eine bewußte Entscheidung eben auch den Mythos – als Geschichte (fabula) – für darstellenswert zu erachten. 97 Zu allen anderen Punkten des Prooems s. den Kommentar. 98 Immer wieder wurde die moralische Kritik an Räuber und Ehebrecher im Prooem herausgestellt, zuletzt von WASYL 2011, 33. 99 Die Diskrepanz beschreibt auch BRETZIGHEIMER 2011, 363.

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großen klassischen Epen, in keinem Fall jedoch an ein Spiel denken.100 Diese Diskrepanz, die sich im Laufe des Gedichts an der Figur des Paris immer deutlicher zeigt, ermöglicht bei fortschreitender Lektüre den Schluß, daß der Dichter das Motiv des epischen Helden parodistisch bedient.101 Daß die Frage nach den causae für den trojanischen Krieg102 im zweiten Teil des Prooems einen bedeutenden Platz einnimmt, ist oft bemerkt worden. M. E. wird hier aber noch keine Vorentscheidung getroffen, welche der möglichen causae am ehesten zutrifft. Der weitere Verlauf der Handlung bleibt offen. Die ausführliche Einbeziehung des Parisurteils in diesem Abschnitt des Prooems hat ihre Ursache in der Grundanlage des Gedichts, das auf Paris ausgerichtet ist und dementsprechend auch die Vorgeschichte der Vorgeschichte berücksichtigt.103 Unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zum übrigen Gedicht muß erwähnt werden, daß dieses Urteil über die Göttinnen für Paris zum ersten Antrieb wird, überhaupt nach Troja zu gehen (64–66). Es ist außerdem eines seiner Hauptargumente, die für die Aufnahme in der Stadt sprechen sollen und ihn als überaus verdienstvoll charakterisieren (98f.). Schließlich stärkt es seinen Drang, sich in weiteren Aktionen in seiner Stellung als Königssohn zu beweisen (213–216). Die Hochzeit von Peleus und Thetis erhält in der Vorgeschichte dieser Ereignisse ihren berechtigten Platz, ebenso wie die Erwähnung der Hesione, die dem Priamus nicht zurückgegeben wurde. Diese Geschichte ist auch in der Tradition mit dem Raub der Helena eng verknüpft, wie wir sie zumindest bei Dares noch fassen können.104 Wenn sie innerhalb der Gedichthandlung tatsächlich nur zufällig dafür sorgt, daß Helena und Paris aufeinander treffen, so tut sie dies eben gerade doch und der Raub hätte ohne sie nicht geschehen können. Dracontius läßt die Verknüpfung zwischen beiden Episoden auf Zufall beruhen, gleichwohl handelt es sich um eine Verknüpfung. Die Verantwortung der Götter für den trojanischen Krieg scheint nach der Schilderung des Parisurteils, wo es noch heißt heu nescia mens est, / quae mala circumstent ausum dare iura Mineruae (37f.), völlig ausgeblendet zu sein, der Fokus auf dem Menschen Paris zu liegen. Dabei muß auch beachtet werden, daß von einer geplanten Rache der verschmähten Göttinnen keine Rede ist; das Verhalten des Paris gegenüber diesen ist erneut ganz auf ihn und seine Person konzentriert. Wir dürfen vielleicht davon ausgehen, daß der Einfluß der Götter zum einen darin 100 Ausgehend vom Anruf an die großen Epiker im Prooem bilden deren Texte eine ständige Hintergrundfolie, die an bestimmten Stellen, wie etwa den epischen Gleichnissen besonders hervortritt. Vgl. besonders STOEHR-MONJOU 2014 und 2015 (a). 101 Das Phänomen ordnet BRETZIGHEIMER 2011, 363f. in ein poetologisches Konzept des Dichters ein, der mit Hilfe der im Prooem aufgebauten Erwartungshaltung, die er im Lauf der Handlung enttäuscht, das Bewußtsein für seine Änderungen des bekannten Mythos erst wecken wolle. Dagegen dürfte sprechen, daß gerade, weil der Mythos so bekannt ist, die Abweichungen ohnehin aufgefallen wären. 102 Die Betonung einer Trennung zwischen causae raptus und causa belli, wie sie BRETZIGHEIMER 2010, 369ff. vornimmt und konsequent einzuhalten versucht, scheint mir nicht nötig, da im Gedicht stets gezeigt wird, wie eng beides miteinander verquickt ist. 103 S. ausführlich dazu den Kommentar. 104 SCHETTER 1987, 214ff. (= 1994, 298ff.).

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besteht, das Drama nicht zu verhindern, also tatsächlich alle Verantwortung dem Paris zu überlassen, zum anderen später in ihrem Eingreifen in den Krieg selbst, wie es bei Homer geschildert ist.105 Aber da in Romul. 8 so gut wie keine Götter und göttliches Wirken begegnen, darf auch hinter sic dolor exsurgit diuum, sic ira polorum / saeuit et errantes talis uindicta coercet? (55f.) ein Fragezeichen, wie dies die meisten Editionen tun, gesetzt werden. Das Agieren des einzigen auf der Handlungsebene auftretende Gottes, Apolls, der nur indirekt mit dem Raub zu tun hat, aber durch seine Intervention, die zur Aufnahme des Paris in Troja führt, dennoch einen wichtigen Beitrag leistet, kann als eindeutig positive Antwort dieser Frage verstanden werden, da sein Schmerz und Zorn – in der Darstellung des Dracontius – zu seinem Verhalten führen. Damit steht der Auftritt Apolls in direktem Zusammenhang mit dem Prooem.106 Abschließend sei das Prooem noch einmal unter einem anderen Aspekt betrachtet. Die Diskrepanz gegenüber der parodistisch angelegten Hauptfigur des Gedichts wurde bereits herausgestellt. Daher muß gefragt werden, ob das Prooem auch – zumindest teilweise – selbst parodistische Züge trägt. Dafür in Frage kommende Stellen wären insbesondere der kurze Exkurs über die Vererbung, der auf den ersten Blick merklich übertrieben wirkt. Hinzu kommen vielleicht auch das Gleichnis von den Füchsen oder die dramatisch anmutende Beschreibung des fatum. Doch sind dem Text keine Anzeichen zu entnehmen, die eine Deutung in dieser Richtung erlauben könnten, und auch insgesamt wirkt das Prooem auf ein ernstes Thema ausgerichtet. Erklären läßt sich dieser Fakt dadurch, daß der Raub der Helena, also die Zerstörung der Ehe, ein wirkliches Problem und eine ernste Angelegenheit ist, wie sowohl aus dem Prooem als auch aus dem Epilog hervorgeht. Dracontius scheint darauf in einer aufgelockerten Form im Laufe des Gedichts Bezug zu nehmen. Daß der Grundkonflikt nicht unerheblich ist, macht er zu Beginn und am Ende des Gedichts deutlich. 2.1.3.3 Götterbild Zu dem von Dracontius insgesamt ganz in die antik-pagane Tradition gestellten Gedicht gehört das entsprechende Götterbild.107 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dieser Thematik kann für Romul. 8 nur sehr begrenzt erfolgen, weil die 105 Vgl. zu diesem Thema auch den Epilog, in dem die Verantwortung für den Krieg in der Schuld des Ehebruchs liegt, nicht im göttlichen Eingreifen (655). Für die spätere Beteiligung der Götter am Krieg selbst dürften auch die Äußerungen der Kassandra in ihrer Rede sprechen, die deren Besänftigung fordert (166–168). Sie ist vielleicht als Reaktion auf ein an ihnen verübtes Unrecht zu verstehen (dafür spricht der Satz litem facit ipse suam 35 und auch das damnatur … Paris 40). Aber auch dies geschieht eher implizit – im Fokus steht der Mensch. DE GAETANO 2009, 147 glaubt, der Raub der Helena und alles Folgende ist auf den Zorn der Göttinnen Iuno und Minerva zurückzuführen, was sich jedoch nicht explizit aus dem Text ergibt. 106 Für das Götterbild in Romul. 8 s. das folgende Kapitel der Einleitung 2.1.3.3. 107 BRETZIGHEIMER 2010, 372 und Anm. 36. Vgl. dagegen SIMONS 2005, 288ff., die die Darstellung aus christlicher Sicht für distanziert und polemisch hält.

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direkte Beteiligung der Götter am Handlungsverlauf sich, wie schon erwähnt, im wesentlichen auf den Auftritt Apolls beschränkt. Seine Darstellung als nachtragender Gott, der gewillt ist, auch an der nächsten Generation Rache zu üben, ist eine typische Vorstellung antik-paganer Götter.108 Die übrigen zornigen Götter, Iuno und Minerva, werden nicht als direkt Handelnde oder Strafende gezeigt; man wird jedoch von ihrem Wirken im Hintergrund ausgehen dürfen, wie oben schon vermutet (s. oben zum Prooem), das geradewegs zum Ausbruch des Krieges führt, der dann als große, allumfassende Strafe auf gänzlich unschuldige Personen ausgreift (vgl. 37f. heu nescia mens est …, 40ff. die lange damnatur-Passage).109 2.1.3.4 Die Rolle der fata Für dieses Gedicht immer wieder kontrovers diskutiert wird die Rolle des fatum, d. h. eigentlich der fata, da das Wort in Romul. 8 nur im Plural begegnet. Die bisher vorgebrachten Deutungen konnten nicht oder nur zu einem gewissen Teil überzeugen; sie sollen hier als Grundlage der Diskussion kurz zusammengestellt werden.110 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 124ff. weist den fata eine grundlegende Bedeutung für das Gedicht zu und baut seine Interpretation darauf auf. Ausgehend von der Rede Apolls111 – die er ganz sicher zu Unrecht als echte, ernst- und gutgemeinte Vorhersage ansieht –, in der das fatum einen erstrebenswerten Ausgang bereithalte, nämlich ein imperium sine fine (199), so daß also ein Gang vorgezeichnet sei, der schließlich mit der Herrschaft Roms ende, will er zeigen, daß die im Prooem angekündigte melior uia (3) sich genau auf diese Ausdeutung der fata beziehe.112 Der

108 BRETZIGHEIMER 2010, 373, die Anm. 38 auf Iuno als klassisches Beispiel verweist. S. auch Apoll ihn ausführlich den Kommentar zu 183–210. 109 BRETZIGHEIMER 2010, 372f. Gut greifbar ist das Götterbild der Kassandra, das auch aus ihrer Rede hervorgeht. Dazu sei an dieser Stelle auf den Kommentar S. 233 verwiesen. 110 Ausgewählt sind die prominentesten, zu denen weitere Äußerungen treten, die aber jeweils meist am Rande gemacht worden sind, wie AGUDO CUBAS 1978 oder EDWARDS 2004. BRIGHT 1987, 86f. setzt ein von Dracontius selbst unbeabsichtigt inkonzinnes Fatumverständnis an: Er nutze für das Prooem und hier und da im Gedicht das klassische Bild und beschuldige Paris aber davon unabhängig trotzdem. 111 Bei der Behauptung, Apoll widerspreche seinen beiden Priestern gar nicht, sondern habe nur ein anderes Ziel vor Augen, übersieht DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 195f. die Dramatik der Situation und die Hinterhältigkeit des Gottes, der, wie 186f. angekündigt, seinen persönlichen Rachefeldzug zu Ende bringt. 112 Damit in engem Zusammenhang steht auch seine Theorie von der Sammlung der ‘Romulea’ überhaupt: Das ‘Florilegium Veronense’, aus dem allein dieser Titel bekannt ist, zitiert nur aus dem Raub der Helena und aus der ‘Deliberativa Achillis’, woraus DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 121f. schließt, daß er sich bei der Sammlung ursprünglich um eine Zusammenstellung von Gedichten gehandelt habe, die in irgendeiner Form die Vorgeschichte der Gründung Roms zum Thema haben, zu der dementsprechend von den erhaltenen Gedichten auch nur die beiden genannten gehört hätten. An dieser These wurde heftige Kritik geübt (s. die Übersicht bei SIMONS 2005, 291, Anm. 219).

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Dichter habe zwar durchaus Mitleid mit den Toten im Krieg, blicke aber auf ein höheres Ziel und nehme dafür das Unvermeidliche in Kauf.113 Diesem Verständnis steht einerseits entgegen, daß der Dichter besonders im Prooem und im Epilog, aber auch in den Seherreden von Helenus und Kassandra – hier allerdings vielleicht weniger gewichtig, da die beiden ihr persönliches Schicksal vor Augen haben – die heftige Dramatik und das große Leid Unschuldiger betont.114 Andererseits spricht der beständige Fokus auf die Menschen, insbesondere Paris, gegen eine große Wirkmacht der fata.115 SIMONS 2005, 293ff. stellt fest, daß die fata Paris und Helena zunächst einmal nicht von ihrer Verantwortung befreien. Sie sieht nach eingehender Prüfung in den fata stets eine Vorhersage über die Zukunft, die aus dem Orakelwesen hervorgeht. Daß sie außer in Vers 68 nur in Reden begegnen und zur Manipulation genutzt werden, beschreibt sie ausführlich (ebd. 295f.). An diese Überlegungen schließt sie auch 67f. moenia quaerere Troiae / mens et fata iubent an, was sie als Beschreibung der inneren Gedankenwelt des Paris interpretiert.116 Paris hätte den Spruch der Venus, ihr Versprechen, er werde eine Frau finden, die so sei wie sie (64f.), als fatum, als Götterspruch über die Zukunft verstanden und handele nun willentlich danach.117 Insgesamt betrachtet sie den Einsatz der fata im Gedicht als Ausdruck der christlichen Polemik gegen den Schicksalsglauben.118 In diese Überlegungen bindet sie auch die Rolle der Prodigien ein, die sie nicht als Vorhersagen einer festgelegten Zukunft, sondern als warnende Zeichen versteht, die zur Umkehr und Neuausrichtung aufrufen.119 Eine anti-pagane Polemik dürfte aber von Romul. 8 fernzuhalten sein, da das Gedicht ganz in der antik-paganen Tradition steht, auch wenn hier und da mit ihr gespielt wird,120 und spezifisch christliche Trennlinien (z. B. Polemik gegen das Prodigienwesen, Polemik gegen den Fatalismus) nirgends sichtbar werden. Der Sicht DIAZ DE BUSTAMANTEs schließt sich im Großen und Ganzen DE GAETANO 2009, 152ff. an, die ebenfalls die Unausweichlichkeit des fatum betont, gegen das keine Vorhersagen und Vorzeichen helfen.121 Die ständige Präsenz der ‘Aeneis’ in Anspielungen und Andeutungen sei als Hinweis auf die fatum-Deutung zu verstehen, die DIAZ DE BUSTMANTE postuliert hatte: Dem großen Ziel der Gründung Roms müsse alles dienen und untergeordnet sein, auch die verübten Verbrechen.122 113 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 126; 196. 114 Vgl. auch SIMONS 2005, 293, die hervorhebt, daß, sollten die ‘Romulea’ die Grundlagen der Gründung Roms beschreiben, dieser Anfang umso verwerflicher sei. 115 S. dazu genauer unten. Vgl. auch SIMONS 2005, 293. 116 SIMONS 2005, 295. 117 SIMONS 2005, 296f. 118 SIMONS 2005, 297. 119 SIMONS 2005, 297. 120 Daß das antik-pagane Verständnis die Grundlage für das Gedicht des Dracontius ist, betont zu Recht AGUDO CUBAS 1978, 270. 121 DE GAETANO 2009, 149. 122 Sie fügt eine Deutung für die Verwendung des Plurals hinzu (2009, 149f.): Die beiden möglichen Bedeutungen des Wortes fatum seien durch den Plural zusammengefaßt, eine aktive

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BRETZIGHEIMER 2010, 377f. sieht eine feste fatum-Konzeption, die sich von der Kindheit des Paris bis zum Epilog des Gedichts, in dem die Erfüllung des Traums der Hekabe thematisiert wird (648–650), durchziehe. Dies beginne damit, daß der Schiedsspruch über die Göttinnen in Paris den Drang wecke, etwas Größeres zu werden und zu erreichen, die Göttinnen auf diese Weise also das fatum auslösten. Dabei betont sie die unterschiedlichen Perspektiven: Während im Prooem die Geschichte „unter dem Gesichtspunkt Schuld-Sühne“ betrachtet werde,123 erführen wir danach, wie sich das Erlebnis auf die Psyche des Paris ausgewirkt habe. Dagegen ist jedoch einzuwenden, daß die Ereignisse nicht einfach auf Paris einwirken, sondern daß er eine bewußte Entscheidung getroffen haben muß, den Urteilsspruch zu erteilen, und auch, sich bestechen zu lassen. Daß weiterhin die Katastrophe des Kriegs unabwendbar ist, will BRETZIGHEIMER zeigen, wenn sie auf die Reden von Helenus und Kassandra und deren Detailreichtum verweist, wobei jedoch übersehen wird, daß zumindest die Seherin von einer Abwendbarkeit des Schicksals ja gerade überzeugt ist. Eine erneute Betrachtung von Gebrauch und Wirkung der fata in Romul. 8 soll weitere Verständnismöglichkeiten ausleuchten. Die fata begegnen gleich zu Beginn des Gedichts, am Ende des Prooems, wo sie in einer der Fragen nach den Ursachen für Krieg und Raub begegnen.124 Die dort gezeichnete fatum-Konzeption ließe sich gut mit der der ‘Aeneis’ verbinden.125 In der hier gebotenen Textfassung ist der Satz allerdings aus doppeltem Grund als Frage aufgefaßt, wodurch auch die fatum-Konzeption ihre Verbindlichkeit einbüßt. Zum einen entspricht es einer natürlichen Auffassung der Stelle, hier drei Fragen anzusetzen und nicht etwa den Ursachen dolor und ira deorum (55) zweifelnd zu begegnen, und das fatum als determiniert danebenzustellen. Hinzu kommt, daß die Frage nach den Ursachen des Raubes, die den ersten Teil des Prooems abgeschlossen hatte, an dieser Stelle natürlicherweise um die Frage nach den Ursachen des Krieges (und des Raubes) erweitert wird. Zum anderen – dies wird im Anschluß ausführlich erklärt – ergibt sich im Verlauf des Gedichts, daß jeder Protagonist sein eigenes Verständnis von den fata hat, so daß neben das zweifelnd eingeführte fatum des Prooems weitere Alternativen treten. Doch betrachten wir nun die Indizien, die auf ein je eigenes fatum-Verständnis der auftretenden Figuren hindeuten: Wie SIMONS 2005, 295 völlig zu Recht betont, begegnet der Begriff fast ausschließlich in den Reden und wird dort, allerdings nur zum Teil, manipulativ eingesetzt. Gleich die ersten beiden Beispiele, die Reden von Bedeutung, das Naturgesetz, dem Götter und Menschen gehorchen müssen, und eine passive, die von fari abgeleitet wird, die dicta diuina, das von den Göttern Gesprochene (darin sei das Schicksal Roms inbegriffen). 123 BRETZIGHEIMER 2010, 379. 124 Ich setze als Konsequenz der Erkenntnis, daß das Prooem in weiten Teilen an das Prooem der ‘Aeneis’ angelehnt ist, Fragezeichen auch hinter diesen Absatz, und folge damit SIMONS 2005, 230. Die Fragen nach den Ursachen schließen damit sowohl den ersten als auch den zweiten Teil des Prooems ab und verdoppeln so das vergilische. 125 S. den Kommentar zu 56–60. Auch Apoll bedient in seiner Rede das vergilische fatum-Konzept (imperium sine fine 199); doch ist die Figur des Gottes eine negative und diskreditiert so auch ihre fatum-Vorstellung.

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Helenus und Kassandra, sind Gegenbeispiele gegen einen manipulativen Gebrauch, die aber gleichzeitig je eine andere Konzeption des fatum haben. Helenus resigniert vor dem fatum126 und versteht es als unausweichlich und feststehend. Ganz anders wirken die Äußerungen der Kassandra, deren Vorstellung vom fatum nicht im Sinne eines großen, unumgänglichen, vorherbestimmten Schicksals anzusehen ist.127 So sieht sie zwar, was geschehen kann, ist aber davon überzeugt, daß das grausame Schicksal durch geeignete Handlungsschritte aufzuhalten und zu verändern ist. Rhetorisch und manipulativ setzen demnach nur Apoll und Helena selbst das fatum ein. Dabei muß unterschieden werden zwischen Apoll, der die gesamte Zukunft kennt, aber trickreich nur das Angenehme erwähnt, und Helena, die, um Paris zu überzeugen, ohne rechte Grundlage Jupiter und das fatum bemüht, die ihr Schicksal, zwei Männer zu haben, vorgezeichnet hätten (535).128 Beide haben gemeinsam, daß sie eine unbedingte fatum-Gläubigkeit bei den Trojanern voraussetzen, die daraufhin in ihrem Sinne handeln. Schließlich fällt in Vers 68 mens et fata iubent auf, daß eben die fata nicht allein verantwortlich sind, sondern in Gemeinschaft mit der mens zum Handeln treiben. Dies ist auch nur folgerichtig, da erst das Wissen um seine Herkunft Paris die Richtung nach Troja einschlagen (68–71) läßt, so daß wir hier ein Zusammenspiel von eigener Entscheidung und Vorbestimmung konstatieren können.129 Gerade die letzte Stelle (in Verbindung mit dem beobachteten Hang des Dracontius in diesem Gedicht zum Spielerischen) kann zu einer zweiten Schicht führen, die unter der Oberfläche der Gedichthandlung verborgen liegt. Denn dadurch, daß bei Paris das fatum ausdrücklich nicht ohne seine mens wirkt, und dadurch, daß die übrigen Protagonisten ihr eigenes Verständnis des fatum konstruieren, im Gedicht also kein einheitliches vorliegt, wird der Schluß nahegelegt, daß Dracontius auch hier spielt. Für seine Geschichte, die Romul. 8 als Grundlage dient, ist ein unausweichliches Ziel bereits festgelegt, da der Mythos nicht verändert werden kann.130 Dennoch fügt er, wie oben beschrieben, über den ganzen Text spannungsreiche 126 quid fata ueto, quid fixos arceo casus, 131. 127 S. auch den Kommentar S. 232. 128 Für eine Lüge der Helena an dieser Stelle sprechen sich auch SIMONS 2005, 273; 295 und PROVANA 1912, 68 aus. Von Wahrheit sprechen AGUDO CUBAS 1978, 304 und DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 211. Für Überlegungen in beide Richtungen s. BRETZIGHEIMER 2010, 385, die jedoch 393f. doch davon auszugehen scheint, daß es sich um eine echte Prädestination der Helena handelt. GALLI MILIĆ 2016, 211 hingegen interpretiert diese Haltung der Helena als „une auto-conscience de sa condition littéraire“ und betont, daß diese ohne zu klagen, das ihr bestimmte Schicksal auf sich nehme. Von einem Orakel hinsichtlich der Hochzeit der Helena erfährt man auch bei Isokrates in dessen Enkomion auf sie, woraus allerdings nichts über den Inhalt der Vorhersage hervorgeht. Andere Quellen wissen nicht von einem solchen Orakel (ZAJONZ 2000, 159). 129 Gegen SIMONS 2005, 296f. ist nicht „die Beschreibung eines inneren Vorgangs in Paris“ für diese Stelle anzunehmen, sondern mit BRETZIGHEIMER 2010, 379 und Anm. 63 ein äußerer Hinweis des Erzählers. Die Stelle wird von WASYL 2011, 38 ebenfalls herausgegriffen, um auf den immer noch vorhandenen freien Willen des Protagonisten zu verweisen. 130 AGUDO CUBAS 1978, 266 betont die Beibehaltung des antik-paganen Mythos.

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‘Beinahe-Episoden’ ein, die jeweils fast dazu führen, daß der Weg des Paris anders verläuft und der Krieg doch nicht ausbrechen muß. Außerdem betont der Dichter den freien Willen der Protagonisten, besonders des Paris und der Helena, die an mehreren Stellen des Gedichts zumindest theoretisch die Möglichkeit haben, anders zu handeln.131 Aber genau an dieser Stelle setzt das Spiel ein – könnte nicht das fatum auf einer spielerisch-parodistischen Ebene des Gedichts den durch Mythos und literarische Werke vorbestimmten Verlauf der Geschichte meinen, um den Dracontius seine Version kunstvoll drapieren kann? Denn seine Zeichnung des Paris, dessen Bild an allen Orten des Gedichts negativ erscheint, wirkt nur, wenn er nicht durch Vorbestimmung vollständig entlastest wird. So verknüpft der Dichter fatum und eigenen Willen132 und entwirft innerhalb der Handlung ein Gegenbild zu den als unausweichlich erscheinenden fata des Prooems.133 Diese Sicht wird zudem vom immer wieder betonten Zufall (fors, forte) unterstützt, der seinerseits auf der Handlungsebene, also der Oberfläche, ein durch ein fatum bestimmtes durchgängiges Telos gedanklich außer Kraft setzt.134 Wie SIMONS 2005, 297 zu Recht unterstreicht, sind auch die Prodigien in diesem Zusammenhang zu sehen. Entgegen ihrer Annahme kann aber davon ausgegangen werden, daß diese in allen ihren Aspekten genau denen des antik-paganen Verständnisses entsprechen und in diesem Sinne die oben formulierte Lesart von der Verknüpfung der freien mens mit den von außen gegebenen unabänderlichen Zwängen des Mythos bestätigen. Denn natürlich ist die Vorhersage des Prodigiums (453–469) unabänderlich und wird genau so geschehen, ganz egal, was Paris tun wird. Indem die Reaktion des Paris auf das Prodigium in seiner mens frei ist, kann der Dichter diese zur Charakterisierung der Figur nutzen: Paris will gern den positiven Teil des Prodigiums erfüllt sehen, den negativen nicht, unternimmt aber weder innerlich noch äußerlich irgendeinen Versuch, die negativen Vorbedeutungen des

131 Auch die Rede Apolls führt nur zu einer punktuellen Determinierung der Handlung (Aufnahme des Paris in Troja), ohne die weiteren Aktionen von Paris und Helena im Einzelnen festzulegen. 132 Diese Verbindung erkennt BRETZIGHEIMER 2010, 379 zumindest für den Anfang der Geschichte, den Weg des Paris nach Troja. 133 Einen möglichen Hinweis des Dracontius auf das von ihm angelegte Verständnis des fatum erhalten wir bei der Ankunft des Paris in Troja, die eine der am augenfälligsten vergilisch gestalteten Szenen des Gedichts ist. Sie ist in deutlichen strukturellen Punkten an das Entgegennehmen des hölzernen Pferdes im zweiten Buch der vergilischen ‘Aeneis’ angelehnt. Bei der Gegenüberstellung der Figuren (s. zum Abschnitt S. 188) fällt sogleich das kleine Ungleichgewicht ins Auge: Dem einen Laokoon stehen bei Dracontius Helenus und Kassandra gegenüber, dem einen Apoll stehen bei Vergil mindestens die Schlangen, aber funktional auch Sinon gegenüber. Auch wenn zugegebenermaßen die Rede des Helenus so viel Resignation enthält, daß sie kaum noch als Anti-Paris-Rede wahrzunehmen ist, so beginnt sie doch mit einem heftigen ‘nein’ gegen das neue Familienmitglied. Es fällt also auf, daß der Autor der ‘Aeneis’, der von einem unausweichlichen Fatum ausgeht, ein Übergewicht auf der „pro fato“-Seite zu verzeichnen hat, der Dichter, dem zwar das vergilische fatum-Konzept bekannt ist, im Gedicht aber doch die meisten Ereignisse auf den Zufall zurückgehen läßt, in dieser Episode auf die „contra fatum“- Seite das Übergewicht legt. 134 Zur Rolle des Zufalls s. auch zur Verwandtschaft mit dem Roman, Kap. 3.2.

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Prodigiums zu verhindern.135 Somit wird er in dieser Darstellung nicht zu einem tragischen Helden, sondern zu einem (schwächlichen) selbstbestimmten.136 2.1.3.5 Charakter der (Haupt-)Figuren137 Da in unserem Gedicht die handelnden Figuren von besonderer Bedeutung sind, sei zumindest eine umrißhafte Charakterisierung der wichtigsten Protagonisten, Paris, Helena und Priamus, versucht.138 Hierbei sollen für Paris, dessen Gestalt im ersten Teil dieses Kapitels schon als Träger der Interpretation ausführlich behandelt wurde, an dieser Stelle nur noch einmal die wichtigsten Punkte zusammengefaßt werden. 2.1.3.5.1 Paris Das auf Paris innerhalb des ganzen Gedichts am ehesten zutreffende Attribut ist ‘lächerlich’, da er beständig weder seinen eigenen Vorstellungen noch denen seiner Umgebung gerecht wird und nicht einmal als Verbrecher wirklich erfolgreich ist. Unterstützt wird diese Wirkung durch seine fehlende Zielstrebigkeit bei gleichzeitigem ungerechtfertigtem Selbstbewußtsein, die sich im Verlauf des Gedichts immer wieder zeigt. So beginnt er seinen Weg mit dem Gedanken an die von Venus in Aussicht gestellte Frau (talem iam pastor anhelat, 65); in Troja aufgenommen sinnt er auf große Taten (215f.); nachdem er in Salamis nichts ausrichten konnte und selbst völlig passiv geblieben ist, scheint sein Blick auf Zypern wieder zurück zum ursprünglichen Plan und der Suche nach einer Frau zu gehen. Beständiger Begleiter auch in dafür ganz ungeeigneten Situationen ist die Bezeichnung pastor, die Paris als einen Menschen zeigt, der zu Unrecht über das hinaus will, was gut für ihn gewesen wäre.139 Mit einer Betonung der positiven Konnotation eines Hirten aus einer gewissen defensiven Haltung heraus erwähnen Paris selbst und der Gott Apoll diese Tätigkeit (98. 206–210). Auffällig ist neben dem pastor-Motiv, das Motiv des iudex, das Paris zu seiner Selbstcharakterisierung einsetzt und damit auch die Fremdwahrnehmung steuert. Stolz berichtet er selbst 98f. ego iugia diuum / compressi, nam lite caret me iudice caelum. Auch Apoll erwähnt das Parisurteil in einem Vers (200). Als Reaktion darauf dürfte die Anrede des Priamus an Paris mit den Worten bonus arbiter Idae (221) gedeutet werden.

135 Ein mythologisches Beispiel für einen entgegengesetzten Umgang mit den Vorhersagen wäre Ödipus, der sein Schicksal nicht vermeiden konnte, obwohl schon seine Eltern es mutig versucht haben. 136 S. oben auch die Interpretation unter 2.1.3. 137 Für eine Untersuchung der Nebenfiguren s. GALLI MILIĆ 2016, 198–201. 138 Für die Charakterisierung nur einmal auftretender Personen, wie der Teilnehmer der Gesandtschaft, s. direkt den Kommentar. 139 SIMONS 2005, 223 u. ö., BRETZIGHEIMER 2010, 390, Anm. 99, WASYL 2011, 55, GALLI MILIĆ 2016, 206ff.

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2.1.3.5.2 Helena Helena begegnet zum ersten Mal, nachdem Paris nach dem Seesturm auf Zypern landet, wo gerade ein Venusfest stattfindet, zu dem sich auch Helena eingefunden hat (440f.). Sie ist allein, ihr Mann befindet sich aus ungenannten Gründen auf Kreta (441); ob sie darüber unglücklich ist, ob sie sich vereinsamt fühlt, ob sie vielleicht auch allein sein möchte oder muß, wird nicht mitgeteilt. Sobald Helena erfährt, daß Paris auf der Insel gelandet ist, sucht sie den Kontakt zu ihm, und zwar wegen seines Standes als Königssohn, dem sie als Königin eine Unterkunft geben müsse (446f.). Auch hier bleibt unklar, ob dieser Grund nur ein Vorwand ist, um sich dem jungen Mann zu nähern, oder ob es wirklich ihre tiefe Überzeugung ist, aus Anstand so handeln zu müssen. Als Helena den Paris zum ersten Mal sieht (sei es bloß in ihrer Vorstellung, sei es tatsächlich am Tempel)140, verliebt sie sich sogleich in ihn, von Amors Pfeil getroffen. Diese echte Liebe, die zudem von außen an sie herangebracht wird, scheint ihr Verhalten und ihren Wunsch, mit Paris zu sprechen (503ff.), zu entschuldigen. Diesem Eindruck zuträglich ist auch der ausdrückliche Hinweis, daß Paris ihre fragiles sensus (508) bemerkt und ausnutzt, um sie u. a. durch die Beschuldigung ihres Ehemanns (512–514) und das Lob ihrer Schönheit (516ff.) an sich zu binden, was denn auch gelingt: Tyndaridis faciles quatiunt suspiria sensus (530). Doch wenn Helenas Handeln bisher noch durch die Umstände oder ihre innere Verfassung hätte entschuldigt werden können (es bleibt trotzdem der bittere Beigeschmack, daß sie ihre Ehe im Grunde völlig verdrängt), wandelt sich das Bild im Folgenden drastisch. Denn in ihrer Rede (531–539) nimmt sie das Heft in die Hand und beschließt, mit Paris zu gehen und mit ihm die trojanische Königsherrschaft zu übernehmen. Dafür benutzt sie sogar die fata und Jupiter, die ihren Lebensweg angeblich so beschlossen hätten, und beendet ohne inneren Konflikt die Ehe mit Menelaos.141 Diese Haltung setzt sich bis zum Ende des Gedichts fort: Paris handelt auf Drängen der Helena, sie treibt ihn an (551ff.), als er vor Angst aufgeben will (545ff.), sie macht den Begriff ‘Raub’ zum Spott. In letzter Konsequenz ist Helena selbst diejenige, die das von Paris begangene Verbrechen zu einem wirklichen Ende führt. Die gemeinsame Schädlichkeit von Paris und Helena erfährt im Epilog schließlich ihre Zusammenfassung (648ff.). Es kann also festgehalten werden, daß die Figur der Helena zwar am Anfang ihres Auftritts noch ambivalent wirkt, also ihre traditionelle literarische Zeichnung erhält,142 schließlich aber als dezidiert negativer Charakter modelliert wird.143 2.1.3.5.3 Priamus Der Vater des Paris ist nach diesem selbst die zweite Figur, die im Hauptteil des Epyllions auftritt. Er fungiert als Leiter der Opferzeremonie, die stattfindet, als 140 141 142 143

Zur Problematik von Text und Verständnis von 490ff. s. den Kommentar z. St. S. dazu S. 41 Anm. 128. GALLI MILIĆ 2016, 211. Direkte Andeutungen auch außerhalb des Epilogs unterstützen dieses Verständnis, z. B.: praestat Bellona nurus (147), Priami cum clade nurus (557).

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Paris in Troja ankommt. Dort erhält er als charakterisierendes Adjektiv infelix (79), das in zwei unterschiedliche Richtungen gedeutet werden kann: In prädikativer Funktion kann es die Sinnlosigkeit des Unterfangens, den als ingrati bezeichneten Göttern ein Opfer zu bringen, und dies auch noch am Jahrestag der im Grunde überflüssigerweise wiedererrichteten trojanischen Mauern, oder in attributiver Funktion das ganze insgesamt unglückliche Leben des Priamus samt dessen Vorgeschichte bezeichnen.144 Freudige Erregung kommt durch die Rückkehr des Sohnes in das Unglück, kombiniert mit einem Schuldbekenntnis und einer Bitte um Vergebung an Paris (108). Daß sich der Vater dabei allzu sehr von seinen väterlichen Gefühlen leiten läßt, daß er das Wohl seiner Stadt vergißt und aus den Augen verliert, warum Paris ausgesetzt worden war, prangern Helenus und Kassandra in ihren Reden an, die den Vater ebenfalls als impius (120) und infelix (136) charakterisieren. Seine Gottesfürchtigkeit, die schon in der ersten Szene beim Opferzug offenbar geworden ist, zeigt sich erneut – allerdings in tragischer Weise getäuscht und fehlgeleitet – bei seiner Reaktion auf die Erscheinung Apolls: Phoebum Priamus summissus adorat / et grates securus agit (211f.). Die wichtigste Aufgabe der Figur des Priamus ist die Grundlegung der SalamisEpisode, indem er die Pläne seines Sohnes von kriegerischen zu friedlichen lenkt und eine Gesandtschaft nach Salamis zur Rückforderung der Hesione schickt. Es gelingt ihm an dieser Stelle, einen Ausgleich zu schaffen zwischen der Liebe zum Sohn und der Sorge um die Bewahrung seiner Stadt und deren Bewohner, indem er Paris seinen Wunsch erfüllt, eine Großunternehmung zu starten, sie aber unkriegerisch gestaltet und gleichzeitig erfahrene Begleiter als Katalysatoren jugendlichen Übermuts mitfahren läßt, um die Bürger nicht in Gefahr zu bringen. Priamus zeigt sich hier als perfekter Herrscher und Vater.145 Er begegnet schließlich im letzten Teil des Gedichts erst wieder, als die Gesandtschaft zurückkehrt und von den Erlebnissen berichtet (586ff.), wo erneut, und das bis zum Schluß des Epyllions, die Vaterrolle des Priamus deutlich hervortritt, der die von Paris ausgehende Bedrohung vergißt oder sie übersehen will. In seiner echten Trauer über das Fehlen des Sohnes wird er als Gegenbild all derer gezeichnet, die sich an die Seherreden erinnern (608) und die Paris’ Unzulänglichkeit in jeder Hinsicht erkannt haben (599ff.). Als Paris am Ende doch zurückkommt, wiederholen sich die Reaktionen auf seine erste Ankunft in Troja, einschließlich der unbändigen Freude der Eltern (619ff.). Die Figur des Priamus, so läßt sich konstatieren, ist keine negative, sondern eine tragische.146 Er verhält sich typisch für einen Vater und stellt – wohl unwissentlich, denn wo er das Unglück kommen sieht, will er es verhindern – das Wohl 144 S. auch den Kommentar z. St. 145 Liebe kennzeichnet das Verhältnis von Priamus zu Paris (redux pietatis amor 221), auch Bewunderung wegen des Parisurteils (bonus arbiter Idae 221), wobei die Sorge um den Frieden im Reich den Priamus trotzdem einen ernsten Ton anschlagen läßt (sermone uerendo 220, dic 222). Damit ergibt sich wohl ein typisches Vater-Sohn-Verhältnis, das doch zum Besten des Kindes Wünsche lenkt oder unter Umständen ganz abschlägt. 146 Dies stellt auch GALLI MILIĆ 2016, 204f. fest, die die Tragik allerdings nur an der ersten Ankunftsszene des Paris festmacht.

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des Sohnes über das der Bürger seiner Stadt. Die Tragik seiner Figur wird dadurch unterstützt, daß er von einem Gott getäuscht wird – denn einem Gott selbst mehr zu glauben als dessen Priestern, ist untadelig. Getäuscht wird er in gewisser Weise auch von Paris; während alle anderen Personen sehen, daß dieser ein Blender und feiger Taugenichts ist (599ff.), verschließt Priamus davor die Augen – auch dies ist in seiner Rolle als Vater ein verständlicher Zug.

2.1.4 Der Titel und sein Verhältnis zum Gedicht Der Titel in der Handschrift N lautet Dracontij Opus de raptu Helenae. Ob er vom Dichter selbst stammt, ist fraglich, denn beim ersten Blick auf das Prooem fällt gleich im ersten Vers das Stichwort raptus ins Auge. Auch wenn dieses an sich gleichberechtigt neben iter steht, führt der Gang des Verses Troiani praedonis iter raptumque Lacaenae automatisch auf raptus Lacaenae hin. Vorausgesetzt, die Gedichte des Dracontius wurden in Bobbio titellos aufgefunden147, oder die postulierte Vorlage von N führte keine Titel, könnte dieser leicht aus dem ersten Vers extrahiert worden sein, und zwar ohne daß das ganze Gedicht hätte intensiv gelesen werden müssen. Den mutmaßlichen Erfinder hätte zusätzlich die Vermutung leiten können, es mit einem der in der lateinischen Literatur verbreiteten Titelsätze zu tun zu haben. Ein ähnlicher Fall wenig gelungener Titelerfindung liegt auch bei Romul. 9 vor, das mit Deliberatiua Achillis an corpus Hectoris uendat überschrieben ist, obwohl es sich bei dem Gedicht um eine Suasoria handelt, die ein unbekannter Sprecher an Achill hält.148 Auch unter der Voraussetzung, daß Dracontius selbst für den Titel verantwortlich ist, wurde dessen Angemessenheit in Zweifel gezogen. So wurde schon oft auf den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Titel des Gedichts und dem Gang der Handlung aufmerksam gemacht. Der eher zufällige Raub der Helena, der zudem einen eher kleinen Teil (ein knappes Drittel) im Vergleich zum Rest des Textes einnimmt, verbunden mit der langen, für die Handlung auf den ersten Blick fast unerheblichen Salamisgesandtschaft, wurden kritisiert.149 Dennoch spricht der Inhalt des Gedichts für die Richtigkeit des Titels. Zum einen findet sich zu Beginn des Prooems der Hinweis auf Paris als Zerstörer der Ehe und Feind des Gastrechts (3ff.). Zum anderen laufen die Ereignisse auf den Raub der Helena zu – durch die vom Autor mit Bedacht konstruierten Zufälle (s. auch Kap. 2.1.3). Schließlich ist der eigentliche Raub die Schlüsselszene zum

147 Die Bibliothekskataloge geben stets nur „Dracontii varium opus“ o ä. für die paganen Werke des Dichters an, s. MAX MANITIUS: Handschriften antiker Autoren in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen, Leipzig 1935, 275, GUSTAV BECKER: Catalogi Bibliothecarum antiqui, Bonn 1885, 69. 148 WOLFF 1996, 41 hält den Titel für echt, DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 343 die ersten beiden Worte. Aber sollte nicht ein Rhetoriker die Termini kennen? Und sollte er sie tatsächlich anders verwenden, ist zumindest das an sehr fragwürdig verglichen mit dem tatsächlichen Inhalt. 149 QUARTIROLI 1946, 183, AGUDO CUBAS 1978, 276f., BRIGHT 1987, 102f.; 105; 115.

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Verständnis der Paris-Figur, so daß der Titel jedenfalls geeignet ist. Seine Echtheit wird sich freilich nicht sichern lassen.

2.1.5 Sitz im Leben Den Lehrer Felicianus preist der Dichter für seine Verdienste um die Erziehung junger Vandalen und Römer sowie um die literarische Produktivität Karthagos. Davon ausgehend scheint die Vorstellung, daß Dracontius selbst in diese Fußstapfen treten möchte, plausibel. Er konnte wohl persönlich die positive Wirkung der Ausbildung auch auf die Vandalen erfahren150 und mag möglicherweise selbst Strategien entwickelt haben, die „barbarischen“ Mitbürger zu inkulturieren.151 In diesem Sinne lassen sich mehrere Strategien zur Steigerung der literarischen Attraktivität in Romul. 8 finden, die gerade auf ein eiliges und eher durchschnittlich gebildetes Publikum wirken können. Dazu gehört zunächst die relative Kürze des Textes im Vergleich zum großen Nationalgedicht der Römer, das vielleicht für einen Vandalen nicht mehr zumutbar war.152 Gleichzeitig ist unser Epyllion im wesentlichen monothematisch und beschränkt sich auf eine recht begrenzte Zahl von Personen.153 Weiterhin spielt Dracontius in Romul. 8 an vielen Stellen mit der Spannung, die er in rhetorischer Manier aufbaut, um sie wieder fallen zu lassen.154 Stärkstes Mittel neben dem Spannungsaufbau aber sind die komischen Elemente, die sich immer wieder feststellen lassen.155 Beides zusammen reizt zum Lesen und zur Beschäftigung mit dem Text – einerseits mit dem des Dracontius, andererseits aber auch mit dem vieler Klassiker, indem der späte Dichter Zitate und Reminiszenzen aus der älteren Literatur einfließen läßt. Ob auch grundsätzliches Interesse der Zeitgenossen an Fragen der Gerechtigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln und die Wirkung auf andere der Grund für die Themenwahl gewesen sein könnten, ist möglich, muß aber Spekulation bleiben.156 Gleichzeitig bietet das Epyllion auch einer verwöhnten Leserschaft die attraktive Möglichkeit, die eigenen Kenntnisse anzuwenden und daraus eine gewissermaßen elitäre Genugtuung zu beziehen. Dem gebildeten römischen Leser, der es zu 150 Vgl. Romul. 1 für eine gemeinsame Ausbildung von Römern und Barbaren. 151 An einen „sense of mission“ denkt auch WASYL 2011, 16. 152 Man bedenke nur, daß auch das Gedicht Reposians, sowie die ‘Aegritudo Perdicae’ u. ä. eher kürzeren Umfangs sind. 153 Dies soll freilich nicht heißen, daß der Dichter keine Vorkenntnisse verlangt. Ein Grundgerüst an mythologischer Kenntnis sollte zum Verständnis des Textes vorhanden sein. Diese Notwendigkeit zeigt sich besonders beim Parisurteil, das sehr voraussetzungsreich behandelt wird. 154 Vgl. dazu Kap. 2.1.2. 155 Der Einsatz delektierender Komik zur Unterstützung der Wissensvermittlung wäre in der Zeit kein Einzelfall – sie ist beispielsweise auch bei Martianus Capella zu fassen (s. dazu GERTH 2013, 130ff.). 156 Dieses Interesse hält WASYL 2011, 34f. für einen Grund dafür, daß besonders die Auswirkungen des Parisurteils, für das der Protagonist verantwortlich ist, so breit und drastisch ausgeführt werden.

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erkennen und zu goutieren vermag, steht ein Kunstwerk zur Verfügung, das mit Vorbildern spielt, Traditionen verwebt und allenthalben Gelehrsamkeit präsentiert.157 Es interpretiert den Mythos nicht neu, sondern belebt die vergangene Tradition durch eine neue Darstellung. Wie jede gelungene künstlerische Arbeit kann auch dieses Epyllion auf verschiedenen Ebenen gelesen, interpretiert und verstanden werden.158 2.2 Die Gattung Epyllion Inwiefern die größeren mythologischen Gedichte des Dracontius als Epyllien zu bezeichnen sind, wird in der Forschung seit langem kontrovers diskutiert.159 Der größte Kritikpunkt besteht in dem grundsätzlichen Problem, daß ‘Epyllion’ keinen antiken Gattungsbegriff darstellt, sondern im 18. Jahrhundert erstmals im klassischphilologischen Kontext im modernen technischen Sinne gebraucht wurde.160 Auch wenn sich der Terminus tatsächlich in der Antike auch im Zusammenhang mit Literatur belegen läßt, kann er dort gerade nicht als einheitlicher antiker Gattungsbegriff gefaßt werden.161 So verwendet ihn Aristophanes für euripideische Verse,162 Ausonius für angebliche Liebesgedichte Platons.163 Der einzige Bezug zur epischen Dichtung, dem pseudohomerischen ‘Epikichlides’, wohl einem komisch-erotischen Gedicht, läßt sich bei Athenaeus belegen (2,65b). Leicht ist daraus die Breite an Texten zu ersehen, die unter den Terminus gefaßt werden kann, deren einzige Gemeinsamkeit ihre Kleinheit zu sein scheint.164 In Anbetracht dieser Problematik des Begriffs soll hier eine kurze Charakterisierung der Gattung gegeben werden, um zu beurteilen, ob der moderne 157 Als typisch für diese Zeit bewertet es MALAMUD 1993, 157. 158 Vgl. etwa das Postulat von Dichterkreisen u. ä. CONANT 2012, 135f. S. auch für eine Untersuchung von intellektuellen Kreisen im vandalischen Nordafrika TIZZONI 2014. 159 Gebraucht wurde die Bezeichnung für die Gedichte des Dracontius fast seit dem Beginn der Beschäftigung (WEBER 1995, 228, Anm. 2). Probleme der Gattungszuweisung bestehen nicht nur bei diesen Gedichten, sie ist auch bei den übrigen ‘Romulea’ zu einem großen Teil umstritten, s. BUREAU 2006, 1f. Neben WEBER 1995, 228ff. entscheiden sich auch SIMONS 2005, 9f. Anm. 29, KAUFMANN 2006 (a), 35f. und BRETZIGHEIMER 2011, 362 gegen den Begriff ‘Epyllion’ und für die Gattungsbezeichnung ‘Kleinepos’. 160 In der Edition der homerischen Hymnen K.D. ILGENs 1796 (TILG 2012, 34ff.). Vor TILG ging man davon aus, daß sich erstmals 1855 MORITZ HAUPT für Catulls carm. 64 und 1817 FRIEDRICH AUGUST WOLF für das ‘Scutum’ des Terminus’ bedient haben. T ILG zeigt außerdem, daß der Begriff seit der Renaissance im literarischen Kontext in Gebrauch war. Für den Blick in die Antike s. besonders WOLFF 1988. 161 TILG 2012, 29. 162 Ach. 398, Pax 531, Ran. 942. Dies ist freilich kein ausreichender Beleg dafür, daß es die Gattungsbezeichnung in der Antike überhaupt nicht gab, BAUMBACH / BÄR 2012, IX. 163 Im prosaischen Ende des ‘Cento nuptialis’ heißt es Platonis Symposion composita in ephebos epyllia continere und in Gryph. praef. 43 primum eiusmodi epyllia, allerdings von einem ganz verschiedenen Werk (GREEN 1991, 448; 525). 164 Die sowohl negativ, wie im Falle des Aristophanes, oder als Ausdruck der Bewunderung, wie im Falle des Ausonius, verstanden werden kann, TILG 2012, 29.

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Gattungsbegriff ‘Epyllion’ für Romul. 8 des Dracontius tatsächlich ungeeignet ist. Im Allgemeinen wird das Wort, als Ableitung von ‘Epos’, für kleinere hexametrische Dichtungen verwendet, meist mit dem Fokus auf einer einzelnen mythologischen Figur. Nach der gängigsten Forschungsmeinung stellt das Epyllion einen Gegenbegriff zum homerischen Epos dar, um die alexandrinische Kleindichtung zu charakterisieren.165 Diese ist als nicht-homerisch zu kennzeichnen, als experimentierfreudig auf dem Gebiet der Abgrenzung von den Großepen, in Hinblick auf Thematik, auf Protagonisten und Struktur. Dennoch werden nicht alle Neuerungen für die Gattung konstitutiv, sondern können immer wieder zurückgenommen, entfernt oder variiert werden.166 Die dennoch vorhandene Verwandtschaft zum Epos zeigt sich am augenfälligsten in der Verwendung des Hexameters als des bestimmenden Metrums; der Deminutiv kündigt die Kleinheit an.167 Auch das Vorhandensein eines Protagonisten ist dem Epos vergleichbar. Die Figuren sind jedoch ganz anders gestaltet als in der ‘Heldendichtung’. Es handelt sich nicht um die klassischen epischen Helden, sondern um Frauen oder eine Art von Antihelden. Als Hauptfiguren dienen Personen, die oft in sonst weniger bekannten, in den Großepen nicht verarbeiteten Episoden des Mythos vorkommen.168 Für Romul. 8 läßt sich dieses Phänomen gut zeigen: Der Dichter sucht im Prooem den Anschluß an die großen Epen Homers und Vergils und wählt sich ein dort nicht behandeltes Thema aus (22ff.). Sein Protagonist ist das parodistische Gegenbild eines Helden, aber auch eines großepischen Antihelden und wird in allem als lächerlich gezeigt.169 Die gleiche Tendenz zeigt sich darin, daß gern Liebesgeschichten in den Fokus eines Epyllions geraten, oder zumindest solche Episoden, die in die Psyche der Personen einen Einblick geben.170 Mit Einschränkungen kann dies auch Romul. 8 zugestanden werden. Die Liebesgeschichte als solche ist zwar vorhanden, aber nicht besonders ausgestaltet. Gleichwohl kann sie mit dem sich daraus entwickelnden Raub der Helena als Höhepunkt in der Charakterzeichnung des Paris angesehen werden.171 Charakteristisch für die Gattung ist auch die kommentierende Stimme eines Erzählers in der dritten Person, die immer wieder Gefühlseindrücke mitteilt und

165 Es ist gut möglich, daß es auch archaische und klassische Vorläufer gegeben hat, BAUMBACH / BÄR 2012, IX. S. für diese Epyllia auch GUTZWILLER 1981. 166 PERUTELLI 1979, 28; 117. 167 Dies ist natürlich ein dehnbares Maß und so gehen auch die Angaben zum Umfang weit auseinander. Außerdem ist es auch abhängig vom Vergleichspunkt – wirken doch im Verhältnis zu Homers Dichtungen auch andere Epen eher kurz, BAUMBACH / BÄR 2012, XIff. 168 MERRIAM 2001, 2f. und 6f., WASYL 2011, 16. 169 S. die Interpretation Kap. 2.1.3.1. 170 WASYL 2011, 19f. 171 Dagegen BOUQUET / WOLFF 1995, 39f. Eine Vereinheitlichung der Epyllia des Dracontius unter dem Oberthema Liebe scheint nur partiell möglich, da allein der von ihnen in diesem Zusammenhang genannte ‘Hylas’ die Liebe der Nymphen zum Hauptgegenstand hat. Zu Recht weisen BAUMBACH / BÄR 2012, XIVf. auf die Problematik inhaltlicher Kriterienkataloge für die Bestimmung der Gattung hin. Sie bestimmen inhaltliche Aspekte als „weiche“ Faktoren.

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wertende Hinweise zum Verständnis bestimmter Stellen und Ereignisse gibt.172 In Romul. 8 ist ein solcher allenthalben anzutreffen.173 Auch die Gattungsmischung oder Kreuzung der Gattungen ist eines der zentralen Elemente, unter denen sich die dem Epyllion zugerechneten Werke fassen lassen. In gewisser Weise zeigt sich auch hier wieder eine Verwandtschaft zum Epos, das stets auf eine Universalität abzielt.174 Wie WASYL zu Recht ausführt, darf nicht schon die Beobachtung der Gattungsmischung zum Schluß führen, einen Text unter den Begriff ‘Epyllion’ zu fassen.175 Konstituierend sei eine systematische Nutzung anderer Gattungen, etwa die Fokussierung auf bestimmte Szenen zugunsten anderer und die Entwicklung dramatischen Potentials, wie es beispielsweise für das Drama typisch ist.176 Ob das Drama in Romul. 8 eine ernstzunehmende Rolle spielt, ist allerdings fraglich. Der Spannungsbogen ist jedenfalls dem des Dramas nicht vergleichbar, da er wellenartig ausfällt (s. Kap. 2.1.2); die Fokussierung auf bestimmte Szenen und die Auslassung rein erzählender Passagen sprächen indes dafür.177 In Bezug auf die Kontamination mit anderen Gattungen ist für Romul. 8 in jedem Fall besonders der Roman als grundlegend festzuhalten (s. unten Kap. 3.2).178 Die typischen Gattungsmerkmale in der Geschichte der Gattung, insbesondere die beiden wichtigsten Aspekte des Epyllion, Kleinheit und Nähe zum Epos, finden sich ganz offensichtlich in Romul. 8 so augenfällig und programmatisch wieder, daß das Gedicht der Gattung Epyllion klar zugeordnet werden kann. Hinzu kommt der Protagonist, der allerdings auch nicht als Antiheld bezeichnet werden sollte, sondern in parodistisch-ironischer Weise das Gattungskonzept erweitert. Auch dazu ist das Epyllion, wie wir es fassen wollen, fähig: Es ist offen für Spielereien mit seiner großen Schwestergattung.179 172 PERUTELLI 1979, 69ff. (vgl. auch den Titel seines Buches „La narrazione commentata“), BAUMBACH / BÄR 2012, XIII. Dadurch passen alle möglichen Zielsetzungen von Texten unter diesen Gattungsbegriff: Belehrung, Unterrichtung, Erheiterung. 173 Oft sind es kleine wertende Zusätze, die in die eine oder andere Richtung weisen (ab 599 spricht überraschenderweise kein Protagonist mehr, sondern nur noch der Erzähler). Aus der Fülle der Beispiele seien einige beigebracht: 254ff. 291. 507. 556f. 638. S. die ausführlichen Untersuchungen dazu bei WOLFF 2011, WASYL 2011, 29ff. 174 PERUTELLI 1979, MERRIAM 2001, 3, DE GAETANO 2009, 123, Anm. 2. WASYL 2011, 20f. benennt die Kreuzung des Epyllions mit Lyrik und Drama als häufigste. 175 WASYL 2011, 20f. 176 WASYL 2011, 21f. 177 So weit wie der dafür zu Recht von SCHETTER 1991, 215 kritisierte BRIGHT 1987, 135 sollte man nicht gehen und Romul. 8 als fünfaktiges Drama mit dem Autor selbst als Pro- und Epilogsprecher ansehen. 178 Bukolische und elegische Einlagen sind dagegen als motivisch-stoffliche Bezugnahmen und nicht im Sinne einer echten Gattungsmischung zu verstehen (WEBER 1995, 245). 179 Diese Möglichkeit nutzt etwa der Verfasser des ‘Culex’. WOLFF 1996, 117f. ersieht aus der Invocatio des Dichters an Homer und Vergil, daß dieser keinen Unterschied zwischen der großen Gattung des Epos und seinem Gedicht macht. Dagegen scheint aber dem Dichter selbst bewußt zu sein, daß er thematisch den letzten Rest behandelt (24ff.), und so scheint er auch seine Form an das kleinere Thema und die weniger heroische Hauptfigur angepaßt zu haben und durchaus einen Unterschied zwischen Epos und Epyllion zu sehen (gegen die Ansicht WOLFFs auch WASYL 2011, 22, Anm. 86).

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Solange also der Begriff inhaltlich offen gehalten wird,180 scheint er m. E. sehr geeignet für Romul. 8 zu sein. Mit der Bezeichnung ‘antiker Roman’ ist auch für die Verwendung eines modernen Gattungsbegriffs als Beschreibung einer antiken Gattung ein Präzedenzfall geschaffen worden.181 Für das Gedicht kann ein weiterer Grund für die Gattungszuordnung gefunden werden: Wie bereits mehrfach erwähnt und gesehen, schließt sich der Dichter mit Romul. 8 dezidiert an die großen klassischen Epen an, um das dort Fehlende zu behandeln. Mit dem spielerischen Deminutiv gesellt er diesen großen Epen ein Gedicht im Umfang von etwa einem Buch hinzu, das er, der Wortspiele liebte, gewiß ‘Epyllion’ genannt hätte.182 Kurz einzugehen ist noch auf die These vom Epyllion als einer Art „Krisengattung“. Für die Entstehungszeit des alexandrinischen Epyllions wird immer wieder auf eine krisenhafte Situation verwiesen, in der sich Gesellschaft und Politik befunden haben sollen und auf die die Dichtung reagierte, ebenso wie zur Zeit des Untergangs der Republik, als Catulls carm. 64 entstand.183 Das Eindringen der Vandalen und ihre Etablierung als neue Herren könnte nun als Wiederholung des Krisenszenarios verstanden werden und zu einer Rückbesinnung auf diese Gattung geführt haben. Bei solch einer Überlegung stellt sich die Frage, inwieweit es ein bewußter Schritt der Autoren war, das Epyllion in einer „Krise“ großen Werken einer „Blütezeit“ entgegenzustellen. Die alexandrinischen Epyllia geben sich als Gegenbild zu Homer auch aus Gründen des künstlerischen Anspruchs, etwas Neues schaffen zu wollen. In einer Phase wie der, in der sich Dracontius befunden haben muß, in der eine Fülle an Literatur schon vorlag und es sich im Zuge der aemulatio anbot, mit dem Vorhandenen zu spielen, darf davon ausgegangen werden, daß ein Dichter sich das Geeignetste unabhängig von Krise oder Blüte aussuchte. Für seine Zwecke (also möglicherweise die Tradierung alter Traditionen, die ansprechende Gestaltung bekannter Geschichten) bot sich wohl die kleine Gattung an.

180 BRETZIGHEIMER 2011, 362 Anm. 3 kritisiert die von BOUQUET / WOLFF 1995, 37f. vorgebrachten Merkmale, beachtet dabei aber nicht, daß die Gattung auch für die unstrittig dazugehörigen Gedichte nicht einheitlich ist (wie schließlich kaum eine Gattung). Der Dichter spielt mit den Konventionen wie jeder Dichter, der etwas Neues gestalten möchte. So gehört auch die Salamisepisode (die BRETZIGHEIMER als Beispiel dafür bringt, daß der Fokus zu selten auf einer einzigen Person liege), auch wenn Paris dort kein einziges Mal auftritt, zur Fokussierung auf ihn: es ergibt sich aus seinem Fehlen eine Charakterisierung ex negativo. 181 DANIEL L. SELDEN: Genre of Genre, in: JAMES TATUM (Hrsg.): The Search for the Ancient Novel, Baltimore / London 1994, 39–64, CONSUELO RUIZ-MONTERO: The Rise of the Greek Novel, in: GARETH SCHMELING (Hrsg.): The Novel in the Ancient World, Boston / Leiden 2 2003, 29–85. 182 Recht vernünftig scheint GUTZWILLER 1981, 3 das Begriffsproblem zu umgehen, wenn sie sich an die gängige Praxis anschließt, das Wort zu gebrauchen und sich nicht mit Problemen der Nomenklatur auseinandersetzen möchte, wo doch die Begriffe ‘Epyllion’ und ‘Kleinepos’ im Grunde dasselbe meinten. 183 WASYL 2011, 15f. PERUTELLI 1979, 29f, ANNEMARIE AMBÜHL: Krieg und Bürgerkrieg bei Lucan und in der griechischen Literatur, Berlin u. a. 2015, 166.

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2.3 Sprachgebrauch und Stilistik184 Eine umfassende sprachliche und stilistische Analyse des Dichters haben WESTHOFF 1883 und MAILFAIT 1902185 vorgelegt. Eine vergleichbare Arbeit neueren Datums existiert noch nicht und kann auch hier nicht geleistet werden. Dennoch sollen knapp die für Romul. 8 wichtigsten sprachlichen und stilistischen Tendenzen zusammengestellt werden, die im Kommentar eine ausführlichere Betrachtung erfahren.186 Gelegentlich irritierend und oftmals spektakulär ist der Tempusgebrauch des Dichters. Hin und wieder mischt er die Tempora so stark, daß eine imitierende Übersetzung nicht mehr möglich ist.187 Er nutzt dieses Mittel zur Spannungserzeugung an besonders dramatischen Stellen exzessiv aus und scheint auf diese Weise die Verwendung von historischem Präsens und die künstlerische Tempusmischung im Epos zu einem neuen Höhepunkt zu führen. Einige Beispiele seien genannt: 45 spannungsreiches Präsens damnatur 126 petent als einziges Futur innerhalb einer Präsensumgebung mit futurischem Charakter 173 gnomisches Futur 228 dum mit Präsens bei einer futurischen Vorstellung 374 Präsens lacessit anstelle eines Vergangenheitstempus 444 historisches Präsens nach ut 611 putes statt putares für den Potentialis der Vergangenheit Aus anderen Epikern bekannte Konstruktionen verkompliziert Dracontius hin und wieder durch seine Wortstellung. So setzt er etwa 414 den Infinitiv mulcere zwei Verse vor den übergeordneten Ausdruck quantus amor (416); die Konstruktion ist 184 Auf eine Betrachtung der Metrik wird wegen der neuen Publikationen von CHARLET 2015 und WOLFF 2016, 183–190 zu diesem Thema verzichtet, die wichtige Eigenheiten derselben in den ‘Romulea’ bzw. in Romul. 8 untersuchen. Gelegentlich wirkt sein Versbau etwas monoton (vgl. die beiden ersten Verse des Gedichts, die den gleichen Aufbau aufweisen, CHARLET 2015, 146), dann aber auch wieder kunstvoll an den Inhalt angepaßt. Elisionen und Synaloephen vermeidet der Dichter durch gezielte Wortwahl so gut es geht und entspricht damit dem Geschmack seiner Zeit (CHARLET 2015, 146f. und Anm. 5, WOLFF 1993; nur ein einziger Vers in Romul. 8, nämlich 44, weist zwei Synaloephen auf). Anders als Claudian jedoch erlaubt er sich gelegentlich die Elision eines einsilbigen Wortes, was für die Zeit untypisch ist (WOLFF 1993, 99; vgl. auch GIARRATANO 1906, 21ff.). 185 Auf sie sei auch für Fragen nach Besonderheiten des Sprachgebrauchs verwiesen, wie beispielsweise die häufige Nutzung von Plural statt Singular, oder der freie Gebrauch von Präpositionen. Im Kommentar wird bei Bedarf darauf Bezug genommen. 186 Ähnlich gehen WEBER 1995, 223 und KAUFMANN 2006 (a), 36ff. für Romul. 10 vor. Eine intensive Gesamtuntersuchung könnte besonders aufschlußreich für die Verbindung zwischen christlichen und paganen Gedichten auch auf stilistischer Ebene sein. Für eine exemplarische Analyse des dracontianischen Stils auch im Hinblick auf ihn umgebende Literatur s. ROBERTS 1989, 34–37. 187 S. dazu auch WESTHOFF 1883, 10f. Für die Zeit ist dies nicht allzu untypisch, vgl. H-S 552.

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eine Variatio des vergilischen tantus amor mit Infinitiv (Verg. Aen. 2,10; 6,133f.; mit Abweichungen auch 12,282). Eine umfangreiche Konstruktionsmischung findet sich 592–594, wenn man nicht mit ZWIERLEIN BT einen NcI bei refert annehmen möchte.188 Auch in den Versen 492b–493 ([sc. effigiat] qua lanugine malas / umbret et in roseo prorumpat flosculus ore) ist die Konstruktion nicht recht klar. Vielleicht ist flosculus schon Subjekt zum ersten Teil des Satzes (als leichtes ὕστερον πρότερον, wenn man annehmen mag, daß der Bartwuchs erst hervorbrechen muß, um die Wangen dann zu umschatten). Qua lanugine ließe sich vielleicht als Ablativus qualitatis verstehen. S. dazu genauer den Kommentar. Verwiesen sei noch auf zwei kleinere Erscheinungen: Das Verb coniurare (124 coniurat in arma) ist bei Dracontius ausnahmsweise mit in in der Bedeutung ‘zu’, nicht wie üblich ‘gegen’ konstruiert. Ungewöhnlich, aber ebenso unproblematisch ist die Konstruktion von obrigescere 398 mit per und einem Substantiv (hier membra), die sonst nirgendwo begegnet. Dracontius scheint eine gewisse Vorliebe für knappe Ausdrücke zu haben, die den Sinn verdichten. So finden sich etwa in Romul. 8 12 Mal post mit Akkusativ anstelle eines Temporalsatzes (17 post fata, 54 post bella, 66 post iurgia, 79 post … arma, 214 post caeleste tribunal, 296 post bella, 312 post ignes … meos, 347 post bella, 428 post signum, 433 post aequora, 498 post sacra, 539 post thalamos). Im Umgang mit den Präpositionen ist Dracontius recht frei, hebt sich darin allerdings nicht deutlich von der allgemeinen Tendenz des spätantiken Sprachgebrauchs ab. Besonders de entwickelt sich zu einer Art Ersatz- und Füllpräposition, die gelegentlich sogar den eigentlich bloßen Ablativus instrumentalis verdrängt.189 So gebraucht Dracontius de in Romul. 8 etwa beim Ablativus originis 464f., beim Instrumentalis 167 de morte … placate und 172f. salutem / membrorum de parte dabit. In einem erweiterten Spektrum nutzt der Dichter auch die Präposition per: 143 per templa für in templo und 218 per litora für in litore; 160 wird es fast statt circum verwendet. Hin und wieder finden sich im Gedicht ungewöhnliche und anderswo selten oder gar nicht zu belegende Wortbedeutungen. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das Verständnis des Dracontius von minari 361 (ueniale minatus) in einem positiven Sinne, das er so auch laud. dei 2,496 caelestis pietas ueniale minatur und satisf. 121 qui inimicorum culpis ueniale minaris anlegt. Aber auch die Verwendung von contundere im Zusammenhang mit säugenden Tieren erfordert wohl eine Bedeutungsverschiebung. In 112 findet sich lambere in der eher ungewöhnlichen Bedeutung ‘küssen’. In die Kategorie der Wortbedeutungen fällt im weitesten Sinne auch die Wortschöpfung. In unserem Gedicht finden sich mit blandifluus (13) und Musagenes

188 ignarus quid de pastore procella / fecerit aut iuuenis classem si merserit unda / nescius ore (esse BAEHRENS) refert. 189 S. z. B. H-S 262f.

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(23) solche ἅπαξ λεγόμενα. Auch substantiviertes Cythereus (364) nutzt nur Dracontius. Viel beachtet worden ist auch der häufige Gebrauch von juristischem Vokabular,190 das die Tätigkeiten des Dracontius als Dichter und als Anwalt miteinander verknüpft. Das herausragende Beispiel in Romul. 8 ist die Passage über das Parisurteil (31–38), in der Begriffe der römischen Gerichtsbarkeit in den Kontext des Mythos gestellt werden. Dracontius gebraucht auch gern ‘composita pro simplicibus’ und vice versa, etwa 73 ingemere statt gemere, 156 repetere für petere, 275 ferre für auferre, 360 temnere für contemnere, 394 extundere für tundere,191 405 temnere für contemnere.192 Von ihm neu geschaffene Junkturen und Wortverbindungen lassen sich grob in zwei Klassen unterteilen: Junkturen der ersten Klasse scheinen das Ergebnis einer (gelegentlich spielerischen) Variation einer bekannten (Klassiker-)Verbindung; Junkturen der zweiten Klasse sind von unserem Dichter ganz eigenständig und ohne (bekanntes) Vorbild gestaltete Ausdrücke. Für die erste Gruppe seien folgende Beispiele herausgehoben: Die Verbindung ingemit … tellus (73) zeigt sich als Variation der häufigen Wendung dat gemitum tellus (z. B. Verg. Aen. 9,709; 12,713, Stat. Theb. 6,527, u. ö.) oder gemit tellus (Sil. 4,96. 294). Die Junktur Iliacae puppes (218) variiert Verg. Aen. 4,46 Iliacas … carinas; optime Troiugenum (231) dürfte in Anlehnung an Verg. Aen. 8,127 optime Graiugenum gebildet sein. Die Verbindung successit in armis (317) ist vielleicht unter dem Einfluß von Verg. Aen. 2,317 succurit in armis als Versschluß und ohne inhaltliche oder grammatische Übereinstimmung entstanden. Als eine Weiterentwicklung von Calp. ecl. 5,6 lasciuo … morsu kann lasciuis dentibus (410) in einem bukolischen Kontext verstanden werden. Die Junktur caseus albens (416) entsteht gewiß unter dem Einfluß von Ov. fast. 4,371 candidus … caseus und Calp. ecl. 2,69 niueus … caseus. Aus der schon existenten Formulierung Lucan. 4,767 quantus Bistonio torquetur turbine, puluis konnte Dracontius pulueris extorti (543) bilden. Vielleicht unter dem Einfluß von Stat. Theb. 9,338 adiuuat unda fidem konnte sich die Junktur famulantibus undis (560) ergeben. Zu diesen Beispielen kann auch die Umdeutung bekannter Junkturen gezählt werden. Dracontius gibt den Wendungen in einem neuen Zusammenhang eine neue Bedeutung. Dafür ließe sich die Verbindung litora tangere anführen, die normalerweise von Schiffen, die anlanden, gebraucht wird; Dracontius verwendet es auch für Menschen, die zum Strand gehen (380). In der zweiten Gruppe sind als kleine Auswahl Fälle wie blandifluo … palato (13), uilis … uates (23), Graecia sollers (45), pauido … Polite (84, wenn man nicht mit ZWIERLEIN BT pariter für pauido zu schreiben hat), fata canunt (162), festiuas … faces (308), Patroclo populante (323), sequente uolatu (456) zu fassen. 190 Vgl. die Untersuchung SANTINI 2006. 191 Ein anderes Verständnis wäre an dieser Stelle aber auch möglich, s. den Kommentar zu 394. 192 Vielleicht auch 61 horrere für abhorrere.

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Der epische Stil, den für das Lateinische Vergil und in seiner Nachfolge Ovid, Statius und Lucan, sowie Silius Italicus, Valerius Flaccus und Claudian hauptsächlich geprägt haben, besitzt für Dracontius in Romul. 8 als dem wahrscheinlich epischsten seiner Gedichte einen besonderen Stellenwert. Der Kommentar vollzieht die Übernahmen und Reminiszenzen an die Vorgänger des Dracontius Vers für Vers nach. Neben dem Standardrepertoire des epischen Stils, wie etwa dem Plusquamperfekt zu Beginn eines neuen Abschnitts oder einer Überleitung mit interea oder iam, typisch epischen Hexameterschlüssen und Wendungen (z. B. sic fatus 379; substantiviertes Adjektiv mit davon abhängigem Substantiv im Genitiv Plural, festa dierum 460; fata für mors), finden sich viele Beispiele für einen kreativen Umgang mit vorgeprägtem epischem Inventar. Es geht dabei um eine dichterische Auseinandersetzung mit den Vorgängern, die tiefer geht und weiter ausgreift, als oben für die Junkturen gezeigt. Besonders eindrucksvoll ist die klangliche Imitation von Verg. Aen. 2,406 lumina, nam teneras arcebant in Vers 473 numina mille tenens, artes. Gestützt wird diese Beobachtung dadurch, daß es sich an beiden Stellen um Gebetssituationen handelt. Bei Vergil versucht die gerade gefangengenommene Kassandra mit ihrem Blick zum Himmel ein letztes verzagt-demütiges Gebet an die Götter zu richten – vergeblich; sie trägt gerade die Folgen des von Paris verursachten Krieges. Bei Dracontius wendet sich Paris, ebenfalls ein Trojaner, er aber mit großem Selbstbewußtsein und Egoismus, an Venus – doch auch sein Gebet ist letztlich vergeblich.193 In 321f. Thessalus Emathia fratris nutritus Achilles / emicat klingt die Lucanstelle 6,350f. Emathis aequorei regnum Pharsalos Achillis / eminet an. Der schon bei Lucan verkünstelte Ausdruck mag unserem Dichter zugesagt haben, so daß er für seinen Vers die Struktur und den Satzbau übernommen hat. Thematisch passen die beiden geographischen Bezeichnungen, die jeweils nach Thessalien weisen, zusammen; Achill befindet sich jeweils am Ende des Verses und über ein Enjambement verbindet sich das Prädikat zu Beginn des nächsten Verses mit dem Rest des Satzes. Die Prädikate sind zudem einander in Bedeutung und Klang ähnlich.194 Dennoch drückt Dracontius einen völlig anderen Sachverhalt aus. Direkt im Anschluß variiert der Dichter eine Stelle aus Statius auf eine ganz andere Weise: In Vers 323 ist die Klausel Centaurica lustra herausgelöst aus Centaurica reddam / lustra (Stat. Ach. 1,266f.; s. dazu MOUSSY 1989, 427), so daß eine Versklausel aus einem Versbruchstück des vorbildhaften Autors gestaltet wird, die dort noch nicht als Klausel diente. Der Kommentar vollzieht weiterhin jeweils im Einzelnen den Umgang des Dracontius mit seinen Prätexten nach. Als Recherchehilfsmittel dienten dabei der ThLL, die Library of Latin Texts (LLT-A) und Poetria Nova (Paolo Mastandrea / Luigi Tessarolo: Poetria Nova: A CD-ROM of Latin Medieval Poetry [650–1250 A.D.] with a Gateway to Classical and Late Antiquity Texts, Florenz 2001).

193 S. auch den Kommentar z. St. 194 S. außerdem den Kommentar z. St.

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Der Umgang des Dracontius mit dem epischen Stil der Vorgänger, aus dem sich sein eigener epischer Stil ergibt,195 zeigt in den angeführten Beispielen einen gewissen Hang zum Spielerischen. Für diese Richtung lassen sich weitere besondere Stil- und Gestaltungsmittel finden.196 Insgesamt besonders beliebt, in Romul. 8 allerdings eher sporadisch verwendet, sind asyndetische Reihungen von Substantiven (congeries), teils auch Verben und Adjektiven, die oft einen ganzen Vers einnehmen – einige Beispiele seien aufgezählt:197 61f. fontes casa pascua siluae / flumina rura 286 pietas affectus amor concordia proles 325 Nestoris Antilochus Palamedes Teucer Vlixes 646 arma duces clipeos Als auffälliges Element des Versbaus lassen sich die ‘versus aurei’ nennen, die der Dichter in Romul. 8 nicht häufig, aber gezielt einsetzt.198 Es sind die Bauarten, bei denen ein Prädikat von zwei Adjektivattributen am Anfang eines Verses und zwei Substantiven als Bezugsworten in der gleichen Reihenfolge wie ihre entsprechenden Adjektive am Ende des Verses gerahmt wird. Diese Form tritt in Romul. 8 in Vers 13 und mit Abwandlungen und Variationen in 14. 200. 400. 618 auf. Beim in der Antike üblichen lauten Lesen sehr wirkungsvoll ist auch der Einsatz von Reimen, aus denen hier ebenfalls eine Auswahl präsentiert werden soll.199 62f. dulcis amatur / … turpis habetur 73f. ingemit et … / concidit et 118 ostendi regni 123 regnumque parentum 125–127 Graecia tota (dolens) … / litora nostra petent … / Dorica castra fremunt 158 raptoris habetis 191 fata uetant, quae magna parant. stant 244f. regia; cognoscunt proceres und nec mora, conscendunt puppes 315f. si Troia … / … si Graia

195 Flankiert wird das Epische freilich, abhängig vom Thema, auch von bukolischen (z. B. in der Parisrede im Seesturm 402–424) und elegischen (z. B. bei der Begegnung zwischen Helena und Paris 490–540) Elementen. 196 Es versteht sich von selbst, daß auch in Romul. 8 solche stilistische Mittel auszumachen sind, die sozusagen zum festen Repertoire der Dichtung gehören, und die deshalb nicht gesondert aufgeführt sind. 197 S. für dieses stilistische Mittel, das auch bei anderen Dichtern des späten Lateins beliebt wird, ROBERTS 1989, 59f. 198 KAUFMANN 2006 (a), 39f. 199 Auch in den anderen Gedichten ist Vergleichbares zu finden, z. B. Romul. 5,91 fugax … audax, 104 seruare pios seruare modestos.

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425f. uenit unda grauis … / … percussit aquis (auch wenn die Quantitäten nicht übereinstimmen) 467f. uolucrem / … rapacem (jeweils am Versende) Eine bisher unentdeckte Spezialität, die noch einer eingehenden Untersuchung standhalten muß, sind Akrosticha im Werk des Dichters.200 Trotz der Probleme, die dieses Thema mit sich bringt, sollen die ersten Funde hier präsentiert werden. Sie können, wenn sie sich als haltbar erweisen, das schon durch den Haupttext entstandene Bild vom spielerischen Stil des Dichters stützen und bestätigen. 61–65 ERRAT als Telestichon Die bewußte Gestaltung und nicht zufällig entstandene Existenz dieses Akrostichons scheint sicher. Es befindet sich an einer exponierten Stelle am Anfang des Hauptteils und deutet außerdem auf die Verfehlungen des Paris, die im folgenden ausgeführt werden, hin.201 Genau an der Stelle, an der Paris den Weg von seinem alten Hirtenleben nach Troja aufnimmt, kann der vorausschauende und allwissende Autor-Erzähler einen Hinweis geben, daß der Protagonist des Gedichts schon hier nicht richtig handelt. Mit errare ist damit sowohl auf das Zurücklegen des Weges nach Troja, als auch auf das zukünftige Fehlverhalten des Protagonisten angespielt. 444–447 AMOR202 als Akrostichon Auch dieses Akrostichon befindet sich an einer exponierten Stelle, nämlich dort, wo Helena von der Anwesenheit des Paris erfährt und entsprechende Maßnahmen ergreift, um ihn zu sich einzuladen. Es ist damit der erste Schritt zur Begegnung der beiden getan, aus der sich die Liebe und gemeinsame Flucht ergibt. Angesichts des hin und wieder ungewöhnlichen Stils und des zusätzlichen Problems, daß die ‘Romulea’ codice unico überliefert sind, gilt ein besonders behutsamer und abgewogener Umgang mit dem auf uns gekommenen Text. Während es kurz nach Bekanntwerden der Handschrift „in“ war, viel zu konjizieren (besonders von RIBBECK und BAEHRENS), hat schon SCHENKL 1873 gemahnt, nicht vorschnell den Text zu ändern. Völlig zu Recht macht er auf das Problem aufmerksam, das man mit dem Stil des Dracontius haben muß: „Bei der Willkür, womit er die 200 Zur Problematik insbesondere lateinischer Akrosticha GREGOR DAMSCHEN: Das lateinische Akrostichon. Neue Funde bei Ovid sowie Vergil, Grattius, Manilius und Silius Italicus, Philologus 148, 2004, 88–115. 201 S. den Kommentar z. St. 202 Gesehen wurde dieses Akrostichon von CHRISTOPH SCHUBERT. Erwähnt sei nur, daß die Anfangsbuchstaben der vorangehenden Verse 440–443 das Wort CUNA ergeben, für das sich jedoch bisher keine offensichtlichen Verbindungen zum Haupttext ergeben haben. Die Anfangsbuchstaben des letzten Verses (655) ergeben aneinandergereiht das Wort CATUS. Ohne vergleichbare Funde in anderen Gedichten oder an anderen Stellen in Romul. 8 läßt sich die Absichtlichkeit im Moment nicht sicher feststellen. In jedem Fall paßt das Wort aufgrund seiner Seltenheit und seiner Semantik ausgezeichnet zum Epyllioncharakter des Gedichts.

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Sprache behandelt, womit er die bunten Lappen, die er überall aufgelesen hat, zusammensetzt, bei seiner gespreizten, verkünstelten und schwülstigen Ausdrucksweise, seinem Haschen nach Neuem und Ungewöhnlichem weiss man oft wahrlich nicht, was man ihm noch zutrauen darf oder schon absprechen muss.“203 Freilich ist SCHENKL hierin nicht zuzustimmen, daß Dracontius willkürlich dichtet. Der Dichter ist durch Eigenständigkeit sowohl im Umgang mit dem Inhalt als auch im Umgang mit der vorgeprägten Sprache gekennzeichnet. Am grundsätzlichen Problem ändert dies aber ebenso wenig wie an der Vorsicht, die man beim Konjizieren und Emendieren walten lassen muß. 3. STRUKTURELLE UND STOFFLICHE VORBILDER204 3.1 Allgemeines Traditionell ist Vergil einer der wirkmächtigsten Autoren in seinem Einfluß einerseits auf Inhaltliches, andererseits auf Formal-Strukturelles und Sprachliches, was den Bereich des Epos betrifft. Unter seinen Werken ist es daher die ‘Aeneis’, die sich besonders in Romul. 8 niederschlägt. Dies macht Dracontius zum einen ganz direkt deutlich, indem er sich im Prooem an eben jenes Werk anschließt, zum anderen wird es in Anspielungen, Reminiszenzen und wörtlichen Übernahmen dem Leser indirekt vermittelt (s. Kap. 2.3 oben und den Kommentar passim). Am auffälligsten ist dabei sicher die Konstruktion des Paris als Anti-Aeneas bei seiner Ankunft in Troja205 und später die Gestaltung des Seesturms, der sich an den vergilischen anlehnt.206 203 SCHENKL 1873, 514. 204 Ausgespart bleibt hier die sicher lohnenswerte Überlegung, ob sich die Quellen sämtlicher Epyllia des Dracontius vielleicht auf Tragödien zurückführen lassen (die Frage betrifft nur das Inhaltliche; zu Recht wurde von SCHETTER 1991, 215 die These BRIGHTs 1987, 135; 139f., die Gedichte seien allesamt in Hexameter gegossene Tragödien, heftig kritisiert. S. für diese Auseinandersetzung auch WEBER 1995, 242ff.). Recht deutlich ist dies bei der ‘Medea’ und dem ‘Orestes’ zu zeigen. Für Romul. 8 können hier und da (vielleicht zufällige?) gedankliche Anklänge an den ‘Alexander’ des Ennius oder des Sophokles gefunden werden. Der fragmentarische Erhaltungszustand dieser Stücke macht eine Überprüfung nicht eben leichter. So soll die Frage zunächst einmal als Forschungsfrage offengelassen werden. Überhaupt stellt das hier Gebotene natürlich nur eine Auswahl sämtlicher möglicher Untersuchungen dar. Diese Auswahl ist einerseits anhand der Relevanz für das Gedicht selbst, andererseits anhand der Relevanz vorangegangener Forschungen getroffen worden. 205 S. den Kommentar S. 203. 206 S. den Kommentar zu 385–434. Besonders interessant sind die Paris-Aeneas-Ausgestaltungen vor dem Hintergrund, daß Aeneas in der ‘Aeneis’ hin und wieder mit Paris verglichen und gleichgesetzt wird (von Iuno 7,321; von Lavinias Mutter 7,363f.). Die fiktive Interaktion dieser beiden Figuren auf textueller Ebene, die sie im weitesten Sinne zu Gegenspielern um die Sache Trojas macht, kann gut mit der „Interfiguralität“ beschrieben werden. S. für dieses intertextuelle Phänomen MÜLLER 1991, FREUND 2013. Für den Einfluß Vergils und Lucans auf Dracontius s. besonders die Untersuchungen von DE GAETANO 2009. Sie bezieht sich insgesamt eher auf gedankliche Parallelen.

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Da Dracontius sich anschickt, die Vorgeschichte des trojanischen Krieges zu erzählen, die – mit einem erneuten Blick auf die Aussagen des Prooems – im lateinischen Bereich in die Geschehnisse der vergilischen ‘Aeneis’ mündet, ist dieses große Epos auch auf diese Weise dauerhaft präsent. Die Vorhersagen von Helenus und Kassandra, sowie die Rede des Apoll und Teile der Rede des Telamon geben Durchblicke auf die ‘Aeneis’. Am Ende des narrativen Teils und im Epilog sind schon die Kriegsgeräusche zu hören, der trojanische Krieg steht unmittelbar bevor und damit die Ereignisse, die in der ‘Ilias’ und im Rückblick in der Aeneis behandelt werden.207 Wichtig sind weiterhin Ovid, Lucan und Statius, sowie die ‘Ilias Latina’208. Diese Autoren und Texte stehen zu einem großen Teil mit einzelnen Wendungen Pate, dienen aber auch zur Vermittlung von situativen Stimmungen und gelegentlich als strukturelle Vorbilder.209 Aber auch der Epiker Silius, sowie Horaz lassen sich als Vorbilder ausmachen.210 Anklänge an Ennius könnten auf einen direkten Zugriff verweisen, doch muß dies Spekulation bleiben. Zu leicht ließen sie sich durch die Vermittlung von Zwischenquellen erklären.211 Interessant und spannungsgeladen bleibt die Frage nach dem Einfluß oder der Beeinflussung etwa zeitgenössischer Autoren wie Martianus Capella und Reposianus. Ersterer ist in Romul. 8 nicht präsent,212 während Themen und Junkturen von letzterem durchaus zu finden sind.213 Datiert man ihn in die Vandalenzeit,214 ist die 207 CHRISTINE SCHMITZ: Warum der Trojanische Krieg stattfindet – Dracontius’ perfomative Aktualisierung des ‘Raptus Helenae’ (im Erscheinen). 208 S. für eine ausführliche Auseinandersetzung BRUGNOLI 2001. S. auch den Kommentar, etwa zu 50. 93. 128. 204f. Die Tatsache, daß die bei Dracontius auftretenden Stellen, die inhaltlich und gedanklich auf Homer zurückgehen könnten, stets eine Übereinstimmung mit dem Text der ‘Ilias Latina’ aufweisen, führt BRUGNOLI zu der Annahme, daß Dracontius Homer nicht im Original kannte; er schließt infolgedessen auf fehlende Griechischkenntnisse des Dichters. Es lassen sich jedoch in zwei Richtungen Überlegungen anstellen, die diese Schlußfolgerung als nicht zwingend erscheinen lassen. Zum einen werden in der lateinischen ‘Ilias’ sehr wirkmächtige Teile der griechischen ‘Ilias’ auf engstem Raum zusammengetragen, Teile, die auch für Dracontius bedeutend gewesen sein könnten. Zudem hat er in seiner Auswahl der Referenzen keinen unbegrenzten Spielraum, da er die Vorgeschichte, nicht den Krieg selbst beschreibt. Diese Einschränkung führt sogleich zum zweiten Punkt: Auch die Möglichkeiten der lateinischen Sprache sind begrenzt, gleiche Dinge verschieden auszudrücken. So können Übereinstimmungen auch auf die konkret in den jeweiligen Zusammenhängen nötigen Termini zurückzuführen sein – doch solche Überlegungen müßten im Einzelfall überprüft werden. 209 S. den Kommentar. Erwähnt seien für Lucan ebenfalls der Seesturm, für Statius (thematisch bedingt besonders die ‘Achilleis’) s. zu 322ff. und vgl. MOUSSY 1989, für Ovid besonders die aus der ‘Ars amatoria’ übernommenen Gedanken über das rechte Maß an gemeinsamer Zeit zweier Liebender, die sich in der Rede des Paris an Helena finden (s. die Einleitung zu 516b– 529a). 210 Für Silius s. besonders das Vogelprodigium (453–469). 211 S. für das grundsätzliche Problem HERBERT PRINZEN: Ennius im Urteil der Antike, Stuttgart / Weimar 1998; für Dracontius 246, Anm. 4. 212 S. zur Prioritätsfrage im Blick auf die anderen Gedichte der ‘Romulea’ SHANZER 1986, 17–21. 213 S. z. B. zu 168. 214 Dies tut überzeugend LANGLOIS 1973.

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Prioritätsfrage zu stellen, die erneut nur spekulativ zu beantworten ist, da fast alle Reminiszenzen auf gemeinsame Quellen zurückgehen könnten.215 Die Kenntnis von Autoren wie Paulinus von Nola und Prudentius oder anderer bedeutender später christlicher Autoren darf sicher vorausgesetzt werden, auch wenn die Reminiszenzen in unserem Gedicht uneindeutig sind und unbewußt entstanden sein könnten. Dies ließe sich mit der Anlage des Gedichts, das sich bewußt in die pagane Tradition stellt, begründen, insofern Dracontius Zitate aus christlichen Autoren nicht absichtlich integriert hat, sondern auswendig behaltene Texte einen unbewußten Einfluß ausübten. 3.2 Der antike Roman als ein strukturelles Vorbild Ein ausgeprägtes Merkmal der spätantiken Dichtung ist die vielfach angewandte Gattungsmischung, ein Produkt der produktiven Rezeption, die sich auch in diesem Gedicht widerspiegelt und zu einer eigenen Färbung beiträgt.216 Völlig zu Recht bemerkt ÉTIENNE WOLFF die Nähe der dracontianischen Gedichte, besonders der Epyllia, zum Roman.217 Er erkennt, daß sich drei romanhafte Hauptelemente finden lassen: Eine Liebesbeziehung, die Betrachtung einer Einzelperson und eine Vorliebe für Schreckensszenarien und -schilderungen.218 Diese lassen sich leicht in unserem Gedicht wiederfinden: Eine Liebesbeziehung entwickelt sich zwischen Helena und Paris.219 Das Gedicht behandelt zudem das Verhalten und den Weg des Paris, der zwar von anderen Personen gesäumt und begleitet ist, aber doch sein ganz persönlicher und nicht an eine bestimmte Gruppe gebunden ist.220 Das dritte Element, die Schilderung grausamer Szenen, läßt sich in unserem Gedicht an den unglückverheißenden Prophezeiungen des Helenus und der Kassandra festmachen,221 aber vielleicht auch schon an der ausführlichen Benennung grausamer Kriegsschicksale im Prooem (41ff.). 215 LANGLOIS 1973. Eine Ausnahme ist 168, wo ich eine Priorität des Reposianus für wahrscheinlich halte, aber auch dies kann rein zufällig entstanden sein. Die ausführliche Untersuchung von ARENA 1951, 123 führt zum sehr glaubhaften Ergebnis, daß sämtliche Übereinstimmungen der beiden Autoren auf gemeinsame Quellen zurückzuführen sind. 216 Neben dem hier ausführlich behandelten Roman kommen bukolische und elegische Elemente hinzu, die allerdings eher als motivische Bezugnahmen an thematisch passenden Stellen zu verstehen sind. S. auch BOUQUET / WOLFF 1995, 43. 217 WOLFF 2003. Ähnliche Beobachtungen macht NICOLA NINA DÜMMLER (Musaeus, Hero and Leander: Between Epic and Novel, in: BAUMBACH / BÄR [Hrsgg.] 2012, 411–446) zum Epyllion des Musaeus. 218 WOLFF 2003, 70. 219 Ebd. Er betont besonders das typisch romanhafte Detail, daß die beiden einander am Tempel der Venus während eines Venusfestes begegnen (s. aber den Kommentar zu 435–452). Spezifizierend kann auch die ‘Liebe auf den ersten Blick’, ganz deutlich auf Seiten der Helena, hinzugefügt werden (494f.). 220 WOLFF 2003, 71. 221 WOLFF 2003, 73. Zu der Prophezeiung der Kassandra kommt ihre ausdrückliche Forderung, den Bruder zu töten (177f.).

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Zu diesen prägnanten und auffälligen Romanelementen, lassen sich jedoch bei genauerem Hinsehen noch einige andere hinzufügen, die das Gedichtgeflecht zu einem großen Teil beeinflussen. Auffällig ist und angemerkt wurde bereits222 die Bedeutung des Zufalls für das Geschehen und den Fortgang der Ereignisse (forte / fors 78. 435. 460. 516; hinzu kommt der Seesturm, der Paris nach Zypern und zu Helena führt), der zum typisch epischen fatum einen Gegensatz bildet. Da τύχη und fortuna im antiken Roman dauerhaft präsent sind, ist also auch dieser in die Reihe der Romanelemente einzubeziehen (freilich nicht als Gottheit und auch in der Wortwahl variiert, aber als prägnantes Moment des Romans). Ebenfalls über die Gattung Roman können die unvermittelt auftretenden Figuren der Amme, die Paris über seine Herkunft aufklärt (68b–70a), und des Sehers (459–469) verstanden werden. Denn auch für bestimmte Situationen benötigte Personen, die weder eingeführt werden, noch später eine bedeutende Rolle spielen, sind typisch für den Roman.223 Weiterhin läßt sich in diese Gattungskategorie die Anagnorisis durch Erkennungszeichen einordnen (102f.), die ebenso typisch wie (wenn auch nicht nur auf diese Gattung beschränkte) Schönheitsbeschreibungen unter besonderer Erwähnung von göttlicher Schönheit (516ff.) sind. Schließlich, und dies hat bereits einige Fragen nach der Konzinnität des Epyllions aufgeworfen, fallen die verschiedenen Handlungsorte und -szenen ins Auge, die teilweise unabhängig voneinander sind. So besitzen der Anfang, die Ankunft und Aufnahme des Paris in Troja, sowie die Gesandtschaftsreise nach Salamis kein gedankliches Ziel im Raub der Helena auf Zypern. Auch dies ist in die Gattung des Romans einzuordnen, in dem die unterschiedlichsten Szenen und Orte nur lose miteinander verknüpft werden. 3.3 Der Doppelbrief Paris – Helena [Ov.] epist. 16. 17224 Ob der thematisch einschlägige Doppelbrief auf Dracontius gewirkt hat, läßt sich schwer beantworten, da fast keine wörtlichen Übereinstimmungen zu konstatieren sind, die nicht auch in anderen Texten, die der Dichter fraglos genutzt hat (wie Vergil, Ov. met. und ars) zu belegen sind. Dennoch seien für einen Überblick die strukturellen Parallelen (und dabei sichtbare Unterschiede), die sich aus der Thematik an sich ergeben haben können, kurz zusammengetragen. Im Brief des Paris erhält sein Urteil über die Göttinnen breiten Raum, es wird aber anders als bei Dracontius in der traditionellen Version mit den drei Versprechen der drei Göttinnen geschildert und der Entscheidung des Paris für Helena. Seine Aufnahme als Königssohn in Troja wird möglich durch Erkennungszeichen, 222 Besonders von AGUDO CUBAS 1978. 223 Z. B. der Greis Philetas im zweiten Buch oder die Frau Lycaenion im dritten Buch des griechischen Romans ‘Daphnis und Chloe’ Das Motiv der Aufklärung über die Eltern eines Kindes findet sich beispielsweise in der ‘Historia regis Apollonii’ 29. 224 Vgl. für den Doppelbrief MICHALOPOULOS 2006.

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durch die er als zur Familie gehörig bestätigt wird (per rata signa, epist. 16,90), die bei Dracontius als certa crepundia (102) benannt werden. Ebenfalls in beiden Gedichten thematisiert wird die Unzulänglichkeit der Oenone, als Paris nach einer Frau, so schön wie Venus, lechzt (epist. 16,97–100, Romul. 8,63–65). Im Brief des Paris findet sich, recht bald nach seiner Heimkehr nach Troja, ein Aufbruch zu Schiff, allerdings mit dem konkreten Ziel, zu Helena zu gelangen (epist. 16,107ff.); anders in Romul. 8, wo die Fahrt einem allgemeinen Ziel, dem Erreichen eines Erfolgs, dienen soll. In der Anlage des Briefes aus der Sicht des Paris begründet liegen dürfte die nur kurze Erwähnung der Versuche, seine Abfahrt zu verhindern (Hekabe und Priamus werden genannt, sowie eine zwei Verse umfassende wörtliche Rede der Kassandra, epist. 16,119–124), die Dracontius gar nicht hat, dafür das Gespräch zwischen Priamus und Paris, das die geplanten Aktivitäten in eine friedliche Gesandtschaft umlenkt (Romul. 8,220–245). Wegen der unterschiedlichen Ausgangslage der Protagonisten und der unterschiedlichen Gattungen haben sich die strukturellen Parallelen damit bereits erschöpft. Erwähnenswert ist trotzdem noch das vielleicht auch von Dracontius genutzte Motiv, daß die Liebenden sich den Geliebten zunächst nur im Geiste vorstellen. Im Brief des Paris ist dies sehr eindeutig ziemlich zu Anfang ausgedrückt: ante tuos animo uidi quam lumine uultus, / prima fuit uultus nuntia Fama tui. / nec tamen est mirum, si, sicut oportet, ab arcu / missilibus telis eminus ictus amo (epist. 16,37– 40). In Romul. 8 begegnet dieser Gedanke aus Helenas Sicht, die sich, ebenso wie Paris beim Pseudo-Ovid, in dieses Bild, von Amors Pfeil getroffen, verliebt, nachdem sie von der fama von der Ankunft des schönen Mannes gehört hatte (Romul. 8,442–444. 490f.).225 Der Antwortbrief der Helena (epist. 17), in dem sie um eine Entscheidung als Antwort auf das Angebot des Paris ringt, findet in Romul. 8 keine Entsprechung, da Helena die dominante Rolle übernimmt. 3.4 Die ‘Acta diurna belli Troiani’ des Dares Phrygius Für die Beziehung zwischen Dares und Dracontius wurde immer wieder auf die Salamisgesandtschaft Bezug genommen, zunächst von SCHISSEL VON FLESCHENBERG 1908, der eine Abhängigkeit des Dares von Dracontius postuliert. Diese ist zu Recht von SCHETTER 1987 zurückgewiesen worden, jedoch unter Feststellung des umgekehrten Abhängigkeitsverhältnisses. Grund für beide Annahmen war sicher die zeitliche Nähe der beiden Autoren und natürlich die thematische Verwandtschaft. SCHETTER will die verschiedenen Anstößig- und Unstimmigkeiten226 im

225 So versteht ZWIERLEIN 2017, 113–117 den Text. S. auch den Kommentar z. St. 226 Die plötzliche Idee des Priamus, seine Schwester zurückzufordern; die falsche Voraussetzung, unter der die Gesandtschaft auf den Weg gebracht wird, nämlich die Kriegsgefangenschaft der Hesione; der rein zufällige Beitrag der Gesandtschaftsreise zum Treffen zwischen Helena und Paris und damit zum Raub der Helena, SCHETTER 1987, 221f. (= 1994, 304f.).

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Gedicht des Dracontius mit der unaufmerksamen Verwendung des Dares als Vorlage erklären. Schlüssig wurden die Thesen SCHETTERs bereits von GÄRTNER 1999 (b) widerlegt, der seinen Ausführungen die Beobachtung zugrunde legt, daß beide Werke thematisch anders fokussiert sind, weshalb aus grundsätzlichen Unterschieden ein Abhängigkeitsverhältnis zu konstruieren auch methodisch schwierig sei.227 Seine Argumente seien kurz referiert. Daß bei Dracontius Paris die treibende Kraft ist und nicht Priamus, wie bei Dares, wo der Laomedonsohn die ganze Zeit über den Plan verfolgt, seine Schwester zurückzuholen, ergibt sich aus dem von Dares verschiedenen Fokus des Dracontius in Romul. 8, in dem Paris und nicht Priamus der Protagonist ist.228 Die von SCHETTER aus den zwei verschiedenen Dares-Gesandtschaften (zuerst Antenor allein, dann Paris, Polydamas und Aeneas) postulierte Zusammensetzung der Dracontius-Gesandtschaft229 führt GÄRTNER auf „eine in der ihm vorschwebenden mythischen Version wohl unabhängige Gesandtschaft der drei Trojaner Antenor, Polydamas und Aeneas auf Betreiben des Priamus“ zurück, die dieser „mit Hilfe einer recht komplexen Konstruktion in die Aktivitäten des Paris (auf die seine Darstellung von vornherein konzentriert war) eingegliedert hat.“230 Die Konstruktion SCHETTERs ließe sich, so GÄRTNER, nur begründen, sähe man ein konkretes Ziel des Dracontius in dieser Dreiergesandtschaft, die doch eher wie „mythologischer Ballast“ wirke.231 GÄRTNER gibt weiterhin zu bedenken, daß SCHETTERs Versuch, die Ehe der Hesione mit Telamon und ihre Mutterschaft für Ajax jeweils auf spezifische Quellen zurückzuführen,232 übersehe, daß zur Zeit des Dracontius noch mehr Quellen verfügbar gewesen sein könnten, als uns heute zugänglich sind. Wenn man annehmen dürfe, daß für die Kombination aus beiden auch ein Traditionsstrang vorhanden gewesen sei, der heute nur noch sehr sporadisch zu fassen sei, könne solch einer auch für die Salamisgesandtschaft nicht ausgeschlossen werden. GÄRTNER kann insgesamt überzeugend zeigen, daß die beiden Autoren nicht direkt voneinander abhängen müssen, sondern auf gemeinsame – heute nicht mehr gut greifbare – Quellen zurückzuführen sein könnten.233

227 GÄRTNER 1999 (b), 405. 228 GÄRTNER 1999 (b), 405. 229 SCHETTER 1987, 222 (= 1994, 305). Dares läßt zunächst eine Gesandtschaft, die nur aus Antenor besteht, zu den Teilnehmern des Herakles-Feldzuges reisen, aus der sich, so SCHETTER, auch ergebe, daß Antenor und nicht Paris die Hesione in einer Rede zurückfordere. Aus der zweiten Gesandtschaft, die aus drei Herren, darunter Paris, besteht, ergebe sich die Dreizahl und die Teilnahme des Paris. 230 GÄRTNER 1999 (b), 406. 231 GÄRTNER 1999 (b), 407. 232 Die Ehe auf Verg. Aen. 8,157 und die Mutterschaft auf Homer. 624 und Dares 19. 233 Eine gemeinsame Quelle postuliert schon BERTINI 1974, 90, vgl. auch SIMONS 2005, 262.

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3.5 Die Ἁρπαγὴ Ἑλένης des Kolluthos Eine Abhängigkeit des Dracontius von Kolluthos’ Epyllion Ἁρπαγὴ Ἑλένης postulierte besonders DE PRISCO 1977, der damit auch die Frage nach den Griechischkenntnissen des Dichters eindeutig zu beantworten suchte (s. dazu auch oben Kap. 1.2). Eine gewisse, auch strukturelle Parallelität zwischen beiden Werken wird man nicht gut verleugnen können, die sich vielleicht aber auch schlicht auf das gemeinsame Thema und gemeinsame Vorlagen zurückführen läßt.234 Ähnliches gilt für die von DE PRISCO konkret herausgefilterten Junkturen und Aussagen.235 In gleicher Weise lassen sich ebensogut Belege beibringen, die die beiden Gedichte voneinander abgrenzen.236 Grundsätzlich bleibt bei der Gegenüberstellung die Prioritätenfrage ein ungelöstes Problem. Denn weder Kolluthos noch Dracontius lassen sich in ihren Lebensdaten ganz sicher festlegen, so daß auch von diesem Punkt aus gesehen Vorsicht geboten ist.237 3.6 Die mythologische Tradition des Raubs der Helena238 In diesem Kapitel soll ein kurzer – rein deskriptiver – Streifzug durch den Mythos von Helena und Paris in der antiken Literatur unternommen werden. Da er als Teil 234 So ist beiden ein Seesturm gemeinsam (bei Kolluthos eher kurz und unspektakulär, 206–209), und das vorangegangene Parisurteil, welches Kolluthos aber weit ausführlicher und intensiver ausgestaltet. Vielleicht ist auch der Hinweis auf eine schmeichelnde Rede des Paris beim ersten Treffen zwischen ihm und Helena vergleichbar (Kolluthos 277). 235 Ein eindeutiges Beispiel sei angeführt. So vergleicht DE PRISCO die Fragen der Helena an Paris bezüglich seiner Herkunft miteinander (Kolluthos 266, Drac. Romul. 8,503f.), die einander sehr ähnelten. Dies ist ohne Frage eine wertvolle Beobachtung. Doch sind diese Fragen typisch epische Fragen beim Treffen einander noch unbekannter Personen. Beide Autoren stehen in dieser Tradition und haben dies gewiß nicht voneinander übernommen (s. den Kommentar z. St). 236 S. STOEHR-MONJOU 2015 (c), 97f. für die jeweils verschiedene Reaktion auf den Raub der Helena. 237 BERTINI 1974, 90 ist sich der Priorität des Kolluthos ganz sicher. Mahnend-kritisch zeigt sich völlig zu Recht SANTINI 2006, 13f. 238 Neben den Lexikoneinträgen in Roscher und RE sind HOMEYER 1977 und neuerdings EDMUNDS 2016 als einschlägige Titel zu diesem Themengebiet zu nennen. Hingewiesen sei auch auf die Publikationen J.-L. BACKES: Le mythe d’Hélène, Clermont-Ferrand 1985; MATTHIAS BECKER: Helena. Ihr Wesen und ihre Wandlungen im klassischen Altertum, Straßburg 1939; FRANҪOIS RIPOLL: Réécriture d’un mythe homérique à travers le temps: le personnage de Pâris dans l’épopée latine de Virgile à Stace, Euphrosyne 28, 2000, 83–112; FRANK-JOACHIM SIMON: Eros als Faszinosum und Skandalon: Die Beurteilung der Helena in der griechischen Literatur, in: GERHARD BINDER / BERND EFFE (Hrsgg.): Liebe und Leidenschaft. Historische Aspekte von Erotik und Sexualität, Trier 1993, 163–187. Ausgespart wird ein Blick auf die Verortung des Helena-Mythos im „realen“ Griechenland der Antike, s. dazu GABRIELE BOCKISCH: Helena und ihre lakonischen Verwandten, in: VASILE LICA: Philia. Festschrift für Gerhard Wirth zum 80. Geburtstag am 9. Dezember 2006 von seinen Schülern, Freunden und Kollegen dargebracht, Galaţi 2006, 31–60.

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des trojanischen Sagenkreises zu den bekanntesten und am weitesten verbreiteten Mythen der griechisch-römischen Antike gehört und entsprechend häufig bearbeitet wird, kann hier nur ein kleiner Überblick gegeben werden.239 Auch die oben (Kap. 3.3 bis 3.5) besprochenen Autoren und Texte werden hier der Vollständigkeit halber nochmals berücksichtigt. In der Ilias erfahren wir vom Raub der Helena selbst nur am Rande, er wird nicht zu einem Hauptgegenstand erhoben, auch wenn er durchaus als Auslöser des Krieges gekennzeichnet wird.240 Zu betonen ist dabei, daß in den homerischen Dichtungen stets Paris die Schuld am Raub und somit auch am Krieg zukommt, weil ein Raub eben eine unrechtmäßige Aneignung fremden Gutes ist und die Frage nach der Freiwilligkeit der Helena nicht gestellt wird,241 während Helena selbst sich die Schuld, zumindest anteilsmäßig, zuschreibt.242 Als ganz und gar der Aphrodite ausgeliefert erscheint sie im dritten Buch der ‘Ilias’, als die Göttin sie zwingt, mit Paris zusammen zu sein.243 Die wenigen explizit negativen Äußerungen über Helena sind dennoch so deutlich, daß sie als ambivalente Figur innerhalb der ‘Ilias’ bewertet werden kann.244 Eine ähnliche Ambivalenz ergibt sich aus der Odyssee. Dort äußert sich Odysseus zornig über die Frauen Helena und Klytaemestra, von denen die eine sämtlichen Männern, die andere dem Agamemnon besonderes Unheil gebracht hat.245 Aber auch dies scheint neutralisiert zu werden in einer Rede der Penelope, die der Helena keine Böswilligkeit unterstellt.246 Die nur noch in der Zusammenfassung des Proklos und damit in einer für sichere Aussagen über bestimmte inhaltliche Phänomene sehr problematischen Überlieferungslage erhaltenen Kyprien247 enthielten sowohl das Parisurteil als auch den 239 Die Auswahl orientiert sich einerseits an wirkmächtigen Werken, die den Mythos zum Hauptgegenstand haben, andererseits an denen, die Dracontius vielleicht besonders beeinflussen, auch wenn Helena und Paris nur am Rande begegnen. Vgl. zusätzlich BRETZIGHEIMER 2010, die das ‘Excidium Troiae’ und dessen Version der Vorgeschichte des trojanischen Krieges in die Betrachtung von Romul. 8 einbezieht. 240 Vgl. in diesem Zusammenhang im Prooem des Dracontius Romul. 8,22ff. 241 Il. 3,28. 165; 11,385ff. 242 Il. 3,172–176. 180. 404; 6,344–358. Priamus hält sie ausdrücklich nicht für schuldig, Il. 3,164f. 243 S. dazu OTTO LENDLE: Paris, Helena und Aphrodite. Zur Interpretation des 3. Gesanges der Ilias, A&A 14, 1968, 63–71, der hier eine Spiegelung der Ereignisse vor dem Raub durch Paris sieht, so daß Helena auch dort ganz einem notwendigen, erzwungenen Schicksal erlag. 244 Vgl. besonders die Worte Achills bei seiner Trauer um Patroklos Il. 19,325, sowie den Wunsch der alten Trojaner, sie nach Hause zu schicken, Il. 3,156–160. Vgl. ZAJONZ 2000, 12f., MICHAEL REICHEL: Die homerische Helenagestalt aus motivgeschichtlicher und motivvergleichender Sicht, in: JOHN N. KAZAZIS / ANTONIOS RENGAKOS (Hrsgg.): Euphrosyne. Studies in Ancient Epic and its Legacy in Honor of D. N. Maronitis, Stuttgart 1999, 291–308. S. auch CALAME 2009, 646f. sowie BLONDELL 2013, 53–72. 245 Od. 11,436–439, vgl. auch 14,68f. 246 Od. 23,218–224. Vgl. weiterhin für das Helenabild in der Odyssee ULRICH SCHMITZER: Die Bändigung der schönen Helena in Homers Odyssee, Gymnasium 110, 2003, 23–40 und BLONDELL 2013, 73–95. 247 Wahrscheinlich waren sie zur Zeit des Dracontius schon verloren. Man kann dennoch davon ausgehen, daß der gelehrte Dichter den Inhalt gut kannte, zumal es gerade in seiner Zeit beliebt

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Raub der Helena als Teile der Vorgeschichte des trojanischen Krieges in einiger Ausführlichkeit.248 Laut Proklos ist dort Aphrodite die treibende Kraft, die Paris zum Bau einer Flotte anregt und schließlich Helena mit Paris zusammenbringt. Ob man aus den Sätzen καὶ Ἕλενος περὶ τῶν μελλόντων αὐτοῖς προθεσπίζει, καὶ ἡ Ἀφροδίτη Αἰνείαν συμπλεῖν αὐτῷ κελεύει. καὶ Κασσάνδρα περὶ τῶν μελλόντων προδηλοῖ (Procl. Chrest. 91–94 [Severyns]) tatsächlich deuten kann, daß Aphrodite sich gezielt gegen die beiden Seher stellt,249 scheint sehr unsicher. In Sparta weigert Helena sich nicht und fährt, nachdem sie wertvolle Güter geraubt hatten, zusammen mit Paris nach Troja.250 Wir lassen in unserem Durchgang die frühgriechische Lyrik beiseite, in der zwar hin und wieder das Thema faßbar wird, die grundsätzlich aber nicht auf eine Auseinandersetzung mit dem Raub der Helena ausgelegt ist,251 jedoch nicht ohne auf Stesichoros und seine Schmähung der Helena bzw. deren ‘Palinodie’ zu verweisen. Seine dann zwar widerrufene und auch kaum erhaltene, aber dennoch wirkmächtige Darstellung der Schuld von Paris und Helena am Krieg durch ihren Ehebruch war die erste ihrer Art und zusammen mit dem Widerruf prägend für die Folgezeit.252 Noch bedeutender sind wohl die Tragödien, die sich thematisch auch ganz konkret dem trojanischen Sagenkreis widmen.253 Darunter ist als erstes der ‘Agamemnon’ des Aischylos zu nennen, in dem Helena als Verursacherin des Todes vieler Menschen gesehen wird (61f.), aber als unter dem Einfluß der Götter Eris und Eros stehend eine Entschuldigung erfährt (1454ff.). Paris dagegen trifft die Schuld voll und ganz; als Räuber und Dieb habe er sich rundweg böse verhalten (u. a. 532ff.). Die Tragödien des Euripides254 sind zu einem ganz bedeutenden Teil thematisch im trojanischen Sagenkreis angesiedelt, jedoch außer im nur fragmentarisch erhaltenen ‘Alexandros’255 stets mit Blick auf die Zeit nach dem Krieg. Es fällt auf, daß Helena in allen diesen Stücken als hauptverantwortlich für den Krieg

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gewesen zu sein scheint, diese Themen in literarischen Werken zu behandeln (GUERRIERI 2016, 21). S. Procl. Chrest. 80ff. (Severyns) und Apollod. epit. 3,2 (WEST 2013, 73ff.). GUERRIERI 2016, 21. Procl. Chrest. 100–102 (Severyns). Für eine Sichtung und Zusammenstellung der wichtigsten Stellen s. HOMEYER 1977, 13ff. und BLONDELL 2013, 96–122. S. HOMEYER 1977, 18f S. HOMEYER 1977, 22ff. Sophokles kann hier außer Acht gelassen werden, da die erhaltenen einschlägigen Stücke nur bekanntes Gedankengut transportieren, die übrigen einschlägigen Stücke allesamt nicht erhalten geblieben sind (BERNHARD ZIMMERMANN, HGL 1, 2011, 579). Es spricht einiges dafür, daß Dracontius zumindest den Inhalt der Tragödie noch kannte; es lassen sich einige inhaltliche Parallelen ziehen, die natürlich nicht zwingend auf Euripides zurückgehen müssen (Hochmut des Paris, seine Jugendgeschichte, Parisurteil, [postulierter] Angriff gegen Paris durch Kassandra und [postulierte] Verhinderung desselben durch einen deus ex machina, vgl. dazu NESSELRATH 1992, 139f., Anm. 231, SIMONS 2005, 239f. und Anm. 65; für das Stück s. COLLARD / CROPP / GIBERT 2004). Da der größere Teil dieser Elemente wohl auch Teil der gleichnamigen Tragödie des Ennius gewesen ist, könnte eine Rezeption auch über dieses Stück verlaufen sein.

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charakterisiert wird, wobei ihre angebliche Männersucht als hauptsächlicher Grund angeführt wird. In sehr wenigen Fällen wird eine Unterscheidung zwischen der göttlichen und der menschlichen Ebene aufgemacht.256 Für die Vorgeschichte und den Raub der Helena überhaupt sind diese Texte wenig ergiebig; sie werden allerdings dort interessant, wo sie Rückblenden einführen und die Bewertung der Kriegsursachen thematisieren.257 Herodot zählt in seinem Prooem eine Reihe von Frauenraubepisoden auf, die schließlich im Raub der Helena als Ursache für den trojanischen Krieg münden (Her. hist. 1,1.2). Paris hätte sich an die Tradition des Frauenraubs angeschlossen und nicht damit gerechnet, Strafe zahlen zu müssen, da zuvor sämtliche Ereignisse dieser Art zwischen Griechen und Barbaren straflos ausgegangen waren.258 In der Lobrede des Isokrates auf Helena finden das Parisurteil und die Angebote der drei Göttinnen Kap. 41 Erwähnung, darunter das Versprechen der Aphrodite, die Ehe mit Helena zu veranlassen. Dies wählt er schließlich aus, um Schwiegersohn des Zeus zu werden (Kap. 42), was wiederum eine lange Erklärung nach sich zieht, die diese Wahl, der Tendenz der Rede entsprechend, als optimal bewertet.259 Im dritten Jahrhundert verfaßt Lycophron ein Gedicht mit dem Titel ‘Alexandra’, das eine im Orakelton gehaltene Prophezeiung der Kassandra vor dem Aufbruch des Paris nach Sparta enthält.260 Ganz klar ist im Abschnitt über den Raub der Helena (86–143) Paris als ein brutaler Räuber dargestellt, der wie ein Wolf die Vogelmutter ihren Kindern entreißt; dafür wird er bestraft werden und bringt schließlich nur ein Trugbild nach Troja zurück. Mit dem ‘Alexander’261 des Ennius steht schon ganz am Anfang der lateinischen Literatur ein Stück, das sich mit dem Mythos des Paris beschäftigt. Die wenigen erhaltenen Fragmente zeigen einen hochmütigen Paris, der großen Wert auf seinen Stand legt, der über Göttinnen im Parisurteil richtet; auch die Konstellation,

256 Beispielsweise in der ‘Hekabe’, 640ff., vgl. KJELD MATTHIESSEN: Euripides „Hekabe“: Edition und Kommentar, Berlin / New York 2010, 335. 257 Besonders Euripides wendet in seinen Tragödien das Helenabild drastisch, indem sie zur vollen Verantwortung gezogen wird als eine, die willentlich so handelt; sie erfährt keine Entschuldigung durch Schicksalsbestimmung oder Götterwirken; vgl. PALLANTZA 2005, 267ff. S. auch BLONDELL 2013, 182–221. 258 S. für das Interpretationsproblem dieser Stelle PALLANTZA 2005, 131ff. Vgl. auch CALAME 2009, 650ff. 259 Aus der Gattung der Lobrede ergibt sich, daß der trojanische Krieg als etwas Positives dargestellt wird, da er der Krieg um die Tochter des Zeus ist (Kap. 53). S. auch CALAME 2009, 653f. und BLONDELL 2013, 222–246 für die Darstellung insgesamt. 260 KONRAT ZIEGLER: Lycophron, RE 13, 2316–2381, CHARLES ANTHONY MCNELIS / ALEXANDER SENS: Trojan Glory. „kleos“ and the survival of Troy in Lycophron’s „Alexandra”, TiC 3, 2011, 54–82, DORIS MEYER: Lykophron, HGL 2, 2014. 261 35–38 V. = 23–73 Jocelyn = 15–22. 151. adesp. 76 TrGF. Vgl. neuerdings auch KARAMANOU 2017.

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daß Kassandra gegen ihn spricht (und das Kommen der Helena prophezeit, die als Furie bezeichnet wird), während ein Gott sich für Paris einsetzt, ist greifbar.262 In Vergils ‘Aeneis’ haben Helena und Paris keinen exponierten Platz, aber ihre Geschichte wird vorausgesetzt und an einigen Stellen aufgerufen.263 So wird das Parisurteil gleich im Prooem (Verg. Aen. 1,27) mit einer expliziten Schuldzuweisung an Paris erwähnt. Im zweiten Buch befindet sich die umstrittene Helena-Episode, die hier außer Acht gelassen werden kann, da sie für die Vorgeschichte unerheblich ist. Interessant ist die Rede der Venus an Paris, mit der sie ihn von seinem Plan, Helena umzubringen, abhalten möchte und als Gründe für die fehlende Berechtigung anführt, die Spartanerin sei nicht schuld am Krieg, ebenso wenig dürfe Paris und sein Verbrechen herangezogen werden, sondern allein die Götter hätten den Gang der Ereignisse so beschlossen (601–603). An einigen Stellen in der zweiten Hälfte der ‘Aeneis’ erfährt Aeneas eine Gleichsetzung mit Paris und seinem Raub der Helena. So nennt ihn Iuno den venusgeborenen Paris alter (7,321) und Lavinias Mutter vergleicht das „Eindringen“ des Aeneas in Latium mit dem des Paris in Sparta: at non sic Phrygius penetrat Lacedaemona pastor, / Ledaeamque Helenam Troianas uexit ad urbes? (Verg. Aen. 7,363f.). Properz bedient sich der Geschichte von Paris und Helena ebenfalls, auch Horaz, der besonders in carm. 3,3 diesen Mythos als Vorgeschichte des trojanischen Krieges und damit auch Roms behandelt.264 Hervorzuheben ist außerdem carm. 1,15, das hautpsächlich aus einer Prophezeiung des Nereus besteht, der ein äußerst negatives Bild des Paris zeichnet. Der Raub wird kurz erwähnt und ist Voraussetzung für die Charakterisierung des Paris. Augenfällig ist auch der in seiner Echtheit umstrittene Doppelbrief ([Ov.] epist. 15.16), der eine psychologisierende Sehweise der Verbindung zwischen Helena und Paris zeigt (zum Verhältnis dieses Doppelbriefs zu Dracontius vgl. oben 3.3.2). Paris schildert in seinem Brief, den er als Gast im Hause des Menelaos verfaßt, wie es zur Begegnung mit Helena kommen konnte: Daß Venus sie ihm versprochen hatte, daß diese ihn auf seinem Weg geführt habe (15f.). Er berichtet von seiner Kindheit, von seinem Richtspruch über die Göttinnen auf dem Ida (52ff.), daß er in Troja als Königssohn aufgenommen wurde (89ff.), wie er die Reise vorbereitete und zunächst von seinen Eltern und Kassandra am Aufbruch gehindert wurde, schließlich lossegelte und Menelaos ihn freundlich aufnahm (107ff.). Die folgenden Verse sind voller Liebesschwüre und Berichte über die Qualen, die Paris ertragen mußte, als er Helena mit Menelaos zusammen sah. Ihre potentiellen Bedenken als verheiratete Frau versucht er zu zerstreuen. Danach berichtet Paris von der Abfahrt des Menelaos, der ihn und Helena zurückläßt (301ff.). Nun sei die günstige Gelegenheit zu nutzen, Paris werde sie mit nach Troja nehmen und alle Versprechen einlösen (377f.). 262 Es gilt als gesichert, daß Ennius die gleichnamige Tragödie des Euripides imitiert, JOYCELYN 1969, HOMEYER 1977, 65f. (vgl. für den Bezug zu Dracontius SIMONS 2005, 239f.) 263 Vgl. auch SCHMIT-NEUERBURG 1999, 181ff. und 200ff., wo die Parallelisierung von Turnus und Paris behandelt wird. 264 HOMEYER 1977, 71f.

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Der Brief der Helena ist die direkte Antwort auf den vorangegangenen Brief des Paris und das darin formulierte Angebot. Er thematisiert das beständige Ringen um das richtige Verhalten, entweder weiterhin die keusche Ehefrau zu bleiben oder der Liebe nachzugeben und mit Paris zu gehen. Auf diese Weise finden sich kaum erzählende Passagen,265 die eine Handlung vorantreiben. In der ‘Ilias Latina’ treten Helena und Paris gemeinsam auf, nachdem er als Unterlegener aus dem Zweikampf mit Menelaos zurückkommt; sie verhält sich wie eine sorgende Gattin, die während des Kampfes Angst um ihren Mann hat (320ff.).266 Die ‘Achilleis’ des Statius beginnt nach dem Prooem mit der Rückkehr des Paris aus dem von ihm geplünderten Sparta nach Troja. Schauplatz ist das Meer, auf dem er segelt, wo Thetis düstere Vorahnungen plagen (Stat. Ach. 1,30ff.). Lukian von Samosata267 verfaßt im 2. Jahrhundert n. Chr. seine ‘Göttergespräche’, in denen das Parisurteil auf komische Weise thematisiert wird. Venus kritisiert des Paris Verbindung mit einem Bauernmädchen, verspricht ihm Helena und gibt genaue Anweisungen, wie er vorgehen muß, um sie zu bekommen (8,20). Über die Ursachen des trojanischen Krieges diskutieren Aiakos, Menelaos, Paris und Protesilaos in Lukians ‘Totengesprächen’ (10,19); nach den Angaben im Werk Περὶ Ὀρχήσεως sei die Kenntnis der mythologischen Geschichten, so auch des Raubs der Helena, die Grundlage für die richtige Ausübung dieser Tätigkeit (40). In den ‘Posthomerica’ des Quintus Smyrnaeus ist, dem Thema geschuldet, die Vorgeschichte des trojanischen Krieges nicht behandelt, klingt jedoch an einigen Stellen an. Herausgegriffen sei die Reaktion der Nymphen auf den Tod des Paris, wenn sie ihn für einen Verbrecher halten, da er seine Ehefrau Oenone verlassen hatte, um durch die Verbindung mit Helena Unheil über Troja zu bringen (10,471ff.). Bei Triphiodor, dessen ‘Einnahme Trojas’ wohl im dritten Jahrhundert n. Chr. entstanden ist,268 erhält der Raub der Helena als Vorgeschichte keinen eigenen Raum, wird jedoch an einigen wenigen Stellen vorausgesetzt. So wird das Holz, mit dem das trojanische Pferd gezimmert wird, damit kommentiert, daß es dasselbe sei, aus dem auch Paris für seine Reise die Schiffe gebaut hätte, die schließlich der Auslöser des Unheils gewesen seien (59ff.). Menelaos brennt darauf, beim Betreten des Pferdes denjenigen zu treffen, der Helena als Zweiter geraubt hatte (163f.). Auch Kolluthos soll in dieser Reihe noch einmal genannt werden. Ganz auf den Raub der Helena ist sein Epyllion ausgerichtet. Das Urteil des Paris, die Wahl der Aphrodite zur Schönsten wegen ihres Versprechens, Helena ihm zur Frau zu geben, umfassen nach dem Auslöser auf der Hochzeit von Peleus und Thetis den ersten Teil des Gedichts. Gleich danach (ab 192), ohne einen Umweg über Troja, baut 265 Spiegelbildlich zum Parisbrief wird der Flirt am Tisch erwähnt (75ff.) sowie die Abreise des Menelaos (155ff.). 266 HOMEYER 1977, 75f. 267 HOMEYER 1977, 54f. 268 Für die Probleme der Datierung s. DUBIELZIG 1996, 9ff., MIGUÉLEZ-CAVERO 2013, 4ff.

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Paris Schiffe und fährt nach Sparta, betrachtet Stadt und Tempel und trifft Helena am Palast des Atriden. Sie holt ihn hinein, fragt nach seiner Herkunft (265ff.), er antwortet ihr (278ff.), berichtet auch vom Urteil über die Göttinnen und fordert Helena auf, mit ihm zu kommen, da Aphrodite den Befehl für ihr Zusammensein gegeben habe (296). Helena ist bereit, sich Paris anzuschließen, da sie die von Göttern gemachten Mauern Trojas sehen möchte (308ff.), schließlich auch, um der Liebesgöttin Genüge zu tun (313). Die Trauer der Hermione und ihr Traum, in dem ihr die Mutter mitteilt, der räuberische Mann hätte sie weggeführt, bilden den letzten Teil des Gedichts (334ff.), bevor es mit Trauergesten der Kassandra (389f.) und der Ankunft von Helena und Paris endet. Der angebliche Bericht eines Augenzeugen des trojanischen Krieges, Dares, den wir nur in einer lateinischen Fassung vorliegen haben,269 gibt der Vorgeschichte einen breiten Raum. Nachdem Antenor von einer Gesandtschaftsreise, deren Ziel es war, Hesione zurückzuholen, um die zerstörerischen Taten des Herkules zu rächen, erfolglos und geschmäht zurückgekehrt ist, schickt Priamus, unter der Führung des Paris (der hatte das Urteil über die Göttinnen in einem Traum erlebt und fühlt sich daher von ihnen in seinem Tun bestätigt und unterstützt) und gegen die Warnungen des Helenus, ein Heer nach Griechenland, um wirkungsvoll gegen die Griechen aufzutreten (Kap. 6–8). Paris segelt nach Kythera und trifft dort auf Helena, die am Heiligtum der Artemis und des Apoll ein Opfer bringen will, während ihr Mann auf dem Weg nach Pylos ist. Die beiden treffen einander, verlieben sich ineinander und Paris raubt in der Nacht Helena vom Heiligtum, die sich jedoch nicht dagegen wehrt, zusammen mit kostbaren Schätzen und Gefangenen, die er, als sie ihn am Raub hindern wollten, überwältigt hatte (Kap. 9f.). Wieder in Troja angekommen, berichtet Paris von der Reise, so daß Priamus von Hoffnung auf eine baldige Einsicht der Griechen und Rückgabe der Hesione erfüllt wird. Die explizit als maesta beschriebene Helena erhält zum Trost den Paris zum Mann, während die Unheil voraussagende Kassandra eingeschlossen wird (Kap. 11). Vom Dictys Cretensis gibt es ebenfalls eine etwa zur gleichen Zeit entstandene, nur in lateinischer Sprache vorliegende Prosaschrift über den trojanischen Krieg in vier Büchern.270 Der Raub der Helena wird dort kurz erwähnt, als unerhörte Tat dem abwesenden Menelaos gegenüber, der Paris und seine Leute gastfreundlich aufgenommen hatte (1,3). Neben Helena rafft Paris auch Schätze zusammen und transportiert sie ab. Bis es schließlich zum Krieg kommt, werden noch einige Fahrten unternommen und Verhandlungen geführt, als Ursache aber bleibt der schändliche Raub bestehen. In der lateinischen Dichtung der Spätantike ist es erst wieder Dracontius, der sich der Vorgeschichte des trojanischen Krieges widmet.

269 Für die Problematik und Datierung einer griechischen Vorlage s. GARBUGINO 2011, 5ff., BESCHORNER 1992, 231ff.; 250ff., SCHETTER 1988, 107. Für die Diskussion einer Abhängigkeit von Dracontius oder vice versa s. Kap. 3.4. Vgl. allgemein auch USENER 1994. 270 S. auch USENER 1994.

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3.7 Der Umgang des Dracontius mit dem Mythos 3.7.1 Allgemeines Im Laufe der Spätantike lösen sich dezidiert römische Bildung und Literatur nach und nach fast vollständig von jedem ethnisch-religiösen Bezug: Die (römisch-griechischen) Götter des Mythos werden reine Denkfiguren, die klassische Antike wird zunehmend vom identitätsstiftenden Besitz einer politisch definierten Gemeinschaft – hier der Römer – zum verfügbaren Allgemeingut. Damit werden namentlich die Mythologie und die Literatur mit ihren Stoffen und klassischen Texten einer ihrer Aufgaben und Leistungen, nämlich der nationalen und religiösen Identitätsstiftung, beraubt.271 Auf diese Weise eröffnen sich umgekehrt neue Möglichkeiten, die römische Bildungswelt als eine Art Leitkultur auch anderen, bisher unbeteiligten Gruppen zugänglich zu machen272 und sie, freigeworden von kanonischen Verstehensschemata, völlig neu zu verwenden. So lassen sich Strukturen von Aktualisierung und Adaption in den Gedichten des Dracontius erkennen: Es zeigt sich beispielsweise, daß zu deren Verständnis die Kenntnis der gesamten antiken Kulturund Bildungstradition nicht mehr nötig ist, sondern sich delectatio auch durch naives Lesen einstellt. Mythologie wird zur (Märchen-)Geschichte, zur Erzählung ohne religiös konstituierten Bezug und auf diese Weise für Unterhaltung von jedermann in dieser neuen multiethnischen Gemeinschaft geeignet.273 Bei Dracontius stehen in einer für die antike lateinische Dichtung einzigartigen Weise christliche Werke neben mythologischen. Hierbei wurde in der Forschung stets die Trennung zwischen Paganem und Christlichem beleuchtet und gefragt, inwieweit sich Christliches nicht doch im Paganen durchsetzt oder umgekehrt der pagane Rahmen, der sich allein aus der Tradition der poetischen Form und Sprache ergibt, nicht doch die Darbietung des Christlichen beeinflusst. Dazu konnte SIMONS 271 SCHETTER 1985, 49. Damit hat Dracontius (und sicher seine ganze Zeit) eine weitere Stufe der Integration des Mythos in ein christliches Weltbild erreicht. Christliche Dichter vor ihm nutzten ihn oft, um gegen die pagane Götterwelt zu polemisieren (SIMONS 2005, 103 und Anm. 125). Dracontius kann sowohl christlichen als auch paganen Stoff bei sich vereinen – eine Entscheidung für eine einzige Ausrichtung ist nicht mehr nötig (wie beispielsweise bei Ausonius oder Paulinus von Nola). 272 Wie eben den Vandalen, die politisch schon Teil des römischen Reiches geworden waren und so auch Anteil an der kulturellen Tradition erhalten können. Die Bestrebungen, solche Einheit zu erreichen, sind gewiß sowohl auf römischer als auch auf vandalischer Seite von Zeit zu Zeit unterschiedlich gehandhabt und unterschiedlich gefördert worden. Aber für Dracontius, von dem uns mit der vielzitierten Stelle (Romul. 1,13f. qui fugatas Africanae reddis urbi litteras, / barbaris qui Romulidas iungis auditorio) ein Lob solcher Integration überliefert ist, können wir eine Befürwortung sicher annehmen. 273 Die Präsenz des Mythos in der Zeit ist jedoch nicht nur für die Literatur zu konstatieren, sondern natürlich auch für die bildende Kunst. Schon SCHETTER 1985, 48f. verweist auf die zur öffentlichen Dekoration ausgestellten Götterstatuen (vgl. die Erwähnung von Musenstatuen Anth. 320 R. = 315 Sh.-B.), die mit mythologischen Motiven verzierten Gebrauchsgegenstände. Erwähnt werden können auch die ausgestalteten Sarkophage oder die mit Mosaiken reich ausgestatteten Fußböden (DUNBABIN 1978). Allgemein für die Präsenz des Mythos in Kunst und Literatur der Spätantike s. HANFMANN 1980, LEPPIN 2015.

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2005 weitreichende Ergebnisse vorlegen, die zeigen, daß Mythen für den Dichter „ein Kulturgut wie anderes paganes philosophisches Gedankengut auch, das integriert ist in ein christlich bestimmtes Weltbild“, darstellen.274 Dieser mit vielen Beispielen untermauerten These läßt sich für die christlichen Gedichte des Dracontius vollständig zustimmen. SIMONS zeigt überzeugend, wie in den ‘Laudes dei’ der Mythos275 auf zwei verschiedene Weisen genutzt wird. Einerseits steht der Mythos als negatives Gegenbeispiel dem christlichen Leben gegenüber, andererseits erhält er die Funktion als positiver Verstärker christlich-biblischer Phänomene.276 In welche Kategorie ein Mythos jeweils eingeordnet wird, hängt von diesem selbst und der im neuen Kontext geforderten Funktion ab.277 So findet sich auf der Seite der verachteten und mit christlichem Gedankengut unvereinbaren Göttermythologie die Geschichte von Saturn, dem Menschenopfer dargebracht werden und dem so die Geschichte von Abraham als positives Beispiel entgegengestellt wird.278 Die grundsätzlich als positiv anzusehenden Taten des Herkules werden andererseits „nur“ als unglaubwürdig und zweifelhaft behandelt, indem sie Dracontius auf eine Tat, den Sieg über den nemeischen Löwen reduziert, ohne diesen als sonderlich gefährlich zu qualifizieren (laud. dei 3,210–214). Durch diese Art der Gestaltung fällt die Geschichte gegenüber Daniel in der Löwengrube (laud. dei 3,191–214), in deren Kontext die Verse über Herkules eingebettet sind, deutlich ab.279 Von den christlichen Gedichten des Dracontius sind die paganen Inhalts abzugrenzen.280 Die ‘Romulea’ sind sowohl thematisch als auch gedanklich der antikpaganen Tradition verhaftet, so daß zunächst kein Grund ersichtlich ist, warum christliches Gedankengut in den Gedichten gesucht werden sollte.281 Immerhin könnten die christlichen Gedichte des Autors, die hier und da mit dem Material des Mythos arbeiten, zu dem Umkehrschluß Anlaß geben, daß ein christlicher Hintergrund für die paganen Gedichte erwartbar wäre. Zwei mögliche Szenarien, die diese Lesart favorisieren könnten, seien genannt.282 Erstens: Dracontius übt Kritik am 274 SIMONS 2005, 368. 275 Allerdings oft nicht allein, sondern gemeinsam mit historischen Exempla (SIMONS 2005, 120f.). 276 SIMONS 2005, 67ff. (Kap. III). Sie betont dabei, daß die Mythologie aus der Sicht des Dracontius grundsätzlich, weil sie nicht vom wahren Gott inspiriert ist, eine Lüge sein müsse. Ohne jede Ausnahme gelte dies für die Göttermythen; den übrigen könnte auch eine historische Wahrheit zugrunde liegen (95). 277 SIMONS 2005, 70. 278 Laud. dei 3,118–122. 126–130, SIMONS 2005, 79ff. 279 SIMONS 2005, 96–98. 280 Gegen eine Interpretation des einen Werkteils im Licht des anderen sprechen sich auch BOUQUET / WOLFF 1995, 45 aus. 281 So auch EDWARDS 2004, 152. 282 Der von SELENT 2012 verfolgte Ansatz, allegorische Mythenerklärung auch bei Dracontius festzumachen, scheint mir für die Epyllia grundsätzlich problematisch, da das Ziel des Dichters nicht die Erklärung der Mythen ist, sondern ihre Neu- und Umgestaltung als literarische aemulatio (völlig berechtigt dagegen der Forschungsansatz für Romul. 1, wo Felicianus mit Orpheus verglichen wird; angewandt von ANNICK STOEHR-MONJOU: Structure allégorique de Romulea 1: La comparaison Orphée-Felicianus chez Dracontius, VChr 59, 2005, 187–203).

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Mythos. Daß dies in dieser Zeit nicht mehr nötig ist, weil der Mythos seiner religiösen Bedeutung ohnehin schon beraubt war, ist oben bereits deutlich geworden. Einen Anlaß für diesen potentiellen Angriff fände man demnach außerhalb der Perpetuierung topisch gewordener Kritik kaum.283 Zweitens: Dracontius illustriert christliche Werte vor einer Negativfolie, die dadurch umso positiver und erstrebenswerter erscheinen. Dazu ist festzuhalten, daß dezidiert christliche Werte nirgendwo in den paganen Gedichten Thema werden, und vor allen Dingen, daß christliche Beispiele nicht leuchtend den paganen gegenübergestellt werden. Für die ‘Romulea’ und den ‘Orestes’, die der paganen Tradition verschrieben sind, kann eine Integration in ein christliches Weltbild, wie SIMONS es fordert,284 nicht bestätigt werden. Es kann dagegen festgehalten werden: „Sein katholischer Glaube und die fiktionale mythologische Kunstwelt waren anscheinend für ihn keine einander ausschließenden Gegensätze“.285 Dieser Teil des dracontianischen literarischen Schaffens versucht, im Anschluß an die großen paganen Dichter, ohne ein christliches Weltbild auszukommen.286 Der Mythos dient ihm als kulturell-konstitutives Narrativ, das gewandelt, angepaßt, bearbeitet, wieder mit Leben gefüllt werden287 und mit dem gespielt werden darf, aber weiterhin im paganen Rahmen.288

283

284 285 286

287 288

Für Romul. 8 wurde der Versuch bisher nicht unternommen, so daß er für unsere Betrachtungen außer Acht gelassen werden kann. Die Kritik, die berechtigterweise festgestellt wurde, wie etwa an der Unbarmherzigkeit der Götter oder falscher religio in Romul. 10 oder auch am Ehebruch im ‘Orestes’ und in Romul. 8, ist keine spezifisch christliche, sondern läßt sich seit frühester Literaturproduktion greifen. Für Christliches in den ‘Romulea’ s. PROVANA 1912, 33ff, RAPISARDA 1955, KLEIN 2001, für rein paganes Gedankengut s. ROMANO 1959, 31ff., AGUDO CUBAS 1978, 266, SCHETTER 1980. 1985. SIMONS 2005, 368. Betont sei an dieser Stelle auch nochmals, daß das Prodigienverständnis in Romul. 8 durchweg dem paganen entspricht, gegen SIMONS 2005, 297. S. genauer das Kapitel über die fata. SCHETTER 1985, 50. Ich schreibe „versucht“, da vielleicht an einigen Punkten der Einfluß der christlichen Kultur nicht ausgeschlossen werden kann (wie etwa dem Standort des Altars im Tempel, z. B. Romul. 8,488, s. auch dort). Dabei handelt es sich aber um eine unbewußte Einwirkung, die sich aus der den Dichter umgebenden Gesellschaft erklärt. Eine Neuinterpretation vor einem christlichen Hintergrund, wie sie u. a. auch KLEIN 2001, 229 postuliert, läßt sich nicht belegen. Eher eine Verlebendigung, ein Bewußtmachen dieser traditionellen Linie. Vielleicht kann diese Art, mit traditionellen Texten umzugehen, am ehesten mit der Behandlung unserer Märchen und Sagen verglichen werden, die beide dezidiert unchristliche Texte sind (und zumindest die Sagen hatten – wie die Mythen – zunächst eine religiöse Bedeutung); aber gerade als solche werden sie literarisch behandelt, können der ethischen Erziehung dienen oder auch parodistisch verarbeitet werden. Daran, daß sie keinen christlichen Hintergrund besitzen, nimmt niemand Anstoß, sie werden in ihrem Selbstwert erkannt. Vgl. aus der unfaßbaren Zahl an Märchenbearbeitungen z. B. IRING FETSCHER: Wer hat Dornröschen wachgeküsst? Düsseldorf 1972. Eine Trennung des Werks in verschiedene Schaffensperioden des Dracontius o. ä., wie ROMANO 1959 forderte, soll damit auf keinen Fall postuliert werden. Gezeigt werden soll nur, daß der Dichter sich der Tradition der paganen Vorgänger ganz bedenkenlos auf literarischer Ebene nähert, eine Integration des christlichen Weltbildes in den Mythos überhaupt nicht vonnöten

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3.7.2 Innovation in ‘De raptu Helenae’289 Bekanntermaßen erfordert es neue Ideen, Innovation, Kreativität und rhetorisches Geschick, eine allseits bekannte Geschichte in ein neues, wieder unbekanntes und interessantes Gewand zu kleiden.290 Dracontius verbindet in der für die Spätantike charakteristischen Arbeitsweise der produktiven Rezeption unterschiedlichste Mythenvarianten und -elemente zu einem neuen Ganzen.291 Die Neuerungen bewegen sich aber allesamt auf dem literarischen Gebiet; Ziel des Dichters ist es nicht, dem Mythos eine neue Deutung zu geben.292 Auf der Handlungsebene sind vielleicht die deutlichste Neugestaltung die im Prinzip zufällig zustande kommenden Voraussetzungen für den Raub, begünstigt vom an dieser Stelle ebenfalls neu eingeführten Seesturm. Von der Tradition weicht auch das Fehlen eines Agons in Troja ab, aus dem Paris siegreich hervorgeht und wieder als Sohn aufgenommen wird,293 während seine zweite Ankunft bei Dracontius der traditionellen ersten viel eher entspricht. Auch die Reden von Helenus und Kassandra samt der Gegenrede Apolls können hier genannt werden, wobei besonders Apoll in den erhaltenen Versionen des Mythos an dieser Stelle nie auftritt. Auf der Ebene der Personencharakterisierungen ist am auffälligsten die in der Tradition

289 290

291

292

293

ist, da beide nebeneinander stehen können. Gut trifft es auch BOUQUET / WOLFF 1995, 45 „Dracontius se situe comme un spectateur de la conception païenne du monde“. Ich fasse nur die wichtigsten Punkte zusammen. Vgl. die Arbeiten von MORELLI 1912, 93–112, QUARTIROLI 1946, 177–187, AGUDO CUBAS 1978, 289–306, BRIGHT 1987, 85–137, SCHETTER 1987, WOLFF 1996, SIMONS 2005, 221–236. Die Bekanntheit des raptus Helenae läßt sich beispielsweise an bildlichen Darstellungen festmachen, wo er zu beliebten Motiven, zu den ersten für uns faßbaren, wenn auch nicht mehr in Nordafrika gehört (DUNBABIN 1978, 2). Doch zumindest das Parisurteil, das in unserem Gedicht eine prominente Stellung einnimmt, kann als mosaizierte Darstellung in der Provinz belegt werden (DUNBABIN 1978, 254). Als Pantomimus scheinen der trojanische Krieg und die ihn umgebenden Mythen in vandalischen Nordafrika ebenfalls beliebt gewesen zu sein. Wir erfahren davon Lux. Anth. 310 = Anth. 310 R. = 305 Sh.-B., wo eine Pantomima Andromache und Helena spielt (s. HAPP II 1986, 207ff.). Gerade der Mythos als recht offenes Gebilde eignet sich in besonderer Weise für solche Veränderungen, sei es auf interpretatorischer Ebene, sei es auf der Erzählebene (RATKOWITSCH 2012, 5). Vgl. auch die Beobachtungen am Werk des Dracontius von BOUQUET / WOLFF 1995, 41f. Daher sind die Versuche, politische Zeichen hinter der Bearbeitung des Mythos zu sehen, auszuschließen, wie RASCHIERI 2014 sie fordert und WASYL 2011, 17f. im Anschluß an GUALANDRI 1999, 67f. zumindest erwägt. Das Gegenteil dazu ist aber nicht die Vorstellung, daß die Mythen längst vergessene unrealistische, nur für einen Elfenbeinturm zugängliche Geschichten sind (so WASYLs Überlegungen 2011, 17), sondern ihre Präsenz als Teil der römischantiken Kultur und Tradition, die auch den neuen Herren angeboten werden kann. Der Troja-Mythos hängt in besonderer Weise mit dem Gefühl von kultureller Zusammengehörigkeit unter den Römern zusammen. Mit diesem weit in die Vergangenheit zurückreichenden Mythos haben die Römer spätestens seit Augustus ihren Herrschaftsanspruch geltend gemacht und mit der translatio imperii auch die Franken einen Strang im Troja-Mythos konstruiert, um ihren Herrschaftsanspruch zu sichern (RATKOWITSCH 2012, 5). WOLFF 1996, 124f.

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bereits angelegte Person des Feiglings Paris,294 der bei Dracontius zu einer rundweg lächerlichen Figur weiterentwickelt wird. Gleichermaßen, aber nur an einer Stelle wirklich greifbar (nämlich bei der Raub-Szene), ist die Umgestaltung der Helena in eine aktiv ihren eigenen Raub befördernde. Die Fokussierung auf die Personen selbst, auf ihre Entscheidungen und ihr Handeln, bei gleichzeitigem, aber davon dennoch unabhängigem fatum, ist eine innere Neuordnung der Geschichte, die hauptsächlich der Charakterisierung des Paris dient.295 4. ÜBERLIEFERUNG 4.1 Handschriftenbeschreibung Die in den ‘Romulea’ zusammengefaßten Gedichte des Dracontius296 sind nur in einer Handschrift auf uns gekommen, die mit dem Siglum N bezeichnet wird und unter der Signatur IV E 48 in der Nationalbibliothek zu Neapel liegt.297 Der Codex ist mit seinen nur 58 Folia eher ein schmales und unscheinbares Bändchen. Gebunden ist er in helles Schweinsleder, das sehr fleckig und abgegriffen ist. Am hinteren Einband befinden sich außerdem kleine schadhafte Stellen. Auf dem Innendeckel ist fleckiges und eingerissenes Papier eingeklebt, das die Signatur der Bibliothek aufweist. Ein Titelblatt existiert nicht, vorn befindet sich auch kein Vorsatzblatt; es wird wohl herausgerissen sein, denn am Ende des Codex befindet sich eines. Ein Inhaltsverzeichnis ist nicht vorhanden. Das Beschreibmaterial ist Papier von gelblich weißer Farbe, es lassen sich auf jeder Seite sieben „Spalten“ ausmachen, an den Rändern innen und außen jeweils eine halbe. Gebunden ist der Codex in einem Quaternio und fünf Quinionen, wobei 16v bis 18v (das Ende des ersten Quinios) und 38v (das Ende des dritten Quinios) frei geblieben sind.298 Die Gedichte der sogenannten ‘Romulea’ sind im Codex wie folgt angeordnet: 1r 1r–4r 4r–4v

Praefatio Hylas Praefatio ad Felicianum

294 Seit Homer Il. 3,161ff. 295 In diesem Punkt, der Konzentration auf die Personen und ihr Verhalten, kann von einer „Rationalisierung des Mythos“ gesprochen werden, wie BOUQUET / WOLFF 1995, 41f. postulieren, zu deren Gunsten der Einfluß der Götter zurückgedrängt wird, die, wenn sie auftreten, ganz menschlich wirken (BOUQUET / WOLFF 1995, 42). Daß statt ihrer jedoch das fatum an Bedeutung gewinnt, kann für unser Gedicht nicht bestätigt werden. 296 Für die Überlieferung der übrigen nicht-christlichen Gedichte s. ZWIERLEIN 2017, 3f. 297 Im März 2015 ist sie von mir vor Ort angeschaut worden. Vgl. zur Handschrift die Untersuchungen von VOLLMER MGH XXXff., FERRARI 1970, FERRARI 1973, DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 245ff., ZURLI 1998. 298 Daß die leeren Seiten mit einem Schreiberwechsel zusammenfallen, könnte auf eine geplante Arbeitsteilung der Schreiber für den Auftraggeber hindeuten, wie MARCUS BECK und FEDERICO BIDDAU (brieflich) überlegen.

76 4v–5r 5v–11r 11v–13v 13v–16r 19r–32v 33r–38r 39r–48v 49r–58r

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Verba Herculis Controversia Epithalamium in fratribus dictum Epithalamium Ioannis et Vitulae De Raptu Helenae Deliberativa Achillis Medea Medea

Der Codex weist eine Fülle unterschiedlicher Wasserzeichen auf: Folio 1: Siegeslamm Folio 2: Siegeslamm Folio 3: ohne Wasserzeichen Folio 4: Siegeslamm (kopfüber beschrieben und eingebunden) Folio 5: ohne Wasserzeichen Folio 6: Siegeslamm Folio 7: ohne Wasserzeichen Folio 8: ohne Wasserzeichen

Q4

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Folio 9: Siegeslamm Folio 10: ohne Wasserzeichen Folio 11: ohne Wasserzeichen Folio 12: ohne Wasserzeichen Folio 13: Siegeslamm Folio 14: ohne Wasserzeichen Folio 15: Siegeslamm Folio 16: Siegeslamm Folio 17: Siegeslamm (kopfüber beschrieben und eingebunden) Folio 18: ohne Wasserzeichen Folio 19: ohne Wasserzeichen Folio 20: ohne Wasserzeichen Folio 21: Baum Folio 22: Baum Folio 23: ohne Wasserzeichen Folio 24: Meerjungfrau299 (kopfüber beschrieben und eingebunden) Folio 25: ohne Wasserzeichen Folio 26: ohne Wasserzeichen Folio 27: Baum Folio 28: Baum Folio 29: Hund Folio 30: Hund Folio 31: Hund Folio 32: ohne Wasserzeichen Folio 33: ohne Wasserzeichen Folio 34: Hund Folio 35: Hund Folio 36: ohne Wasserzeichen Folio 37: ohne Wasserzeichen Folio 38: ohne Wasserzeichen Folio 39: ohne Wasserzeichen Folio 40: ohne Wasserzeichen Folio 41: ohne Wasserzeichen Folio 42: Schlange, zweikonturig Folio 43: ohne Wasserzeichen Folio 44: Schlange, einkonturig Folio 45: ohne Wasserzeichen Folio 46: Schlange, zweikonturig Folio 47: Schlange, zweikonturig Folio 48: Schlange, einkonturig 299 Bisher unbeachtet, soweit ich sehe.

Q51

Q52

Q53

Q54

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Folio 49: Sonne Folio 50: Sonne Folio 51: ohne Wasserzeichen Folio 52: Meerjungfrau Folio 53: ohne Wasserzeichen Folio 54: Meerjungfrau Folio 55: ohne Wasserzeichen Folio 56: Sonne Folio 57: ohne Wasserzeichen Folio 58: ohne Wasserzeichen

Q55

Die Textzeilen im Schriftspiegel weichen gelegentlich innerhalb eines Quaternios bzw. Quinios um ein bis drei Zeilen voneinander ab; im fünften Quinio divergieren sie deutlich: 1r 2r 3r 4r 5r 6r 7r 8r 9r 10r 11r 12r 13r 14r 15r 16r 17r 18r 19r 20r 21r 22r 23r

28 + 2 Überschrift + 1 expl. inc 29 29 27 + 2 expl. inc 28 + telos 29 29 29 29 29 23 + 5 subscriptio 30 30 28 28 23 + 3 expl. 0 0 30301 23 23 23 23

1v 2v 3v 4v 5v 6v 7v 8v 9v 10v 11v 12v 13v 14v 15v 16v 17v 18v 19v 20v 21v 22v 23v

29 29 29 27 + 2 expl. inc 22 + 6 Überschrift 29 29 25 + 4 quaestiones300 27 + 2 quaestio 29 29 + Überschrift 31 26 + 3 expl. inc. Numerierung 28 28 0 0 0 30 23 23 23 23

300 Die erste quaestio ist etwas oberhalb des Zeilenspiegels angesetzt. 301 Das Folio 19 ist in mehrfacher Hinsicht auffällig. Es enthält sowohl r als auch v sieben Verse mehr als die übrigen Folia dieses Quinios, die Zeilen sind also viel niedriger (ca. 0,7 cm im Vergleich zu ca. 1 cm auf den anderen Folia). Der linke äußere Rand auf 19v umfaßt nur 3 cm und damit ziemlich genau die Hälfte der folgenden verso-Seiten. Die Überschrift findet sich außerhalb des Zeilenspiegels.

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24r 25r 26r 27r 28r 29r 30r 31r 32r 33r 34r 35r 36r 37r 38r 39r 40r 41r 42r 43r 44r 45r 46r 47r 48r 49r 50r 51r 52r 53r 54r 55r 56r 57r 58r

23 23 23 23 23 23 22 (+ ein ausradierter) 23 23 23 + Überschrift 23 23 23 23 5 + 2 expl. 31 30 30 30 30 30 30 30 30 30 35302 33 36 30 31 31 30 35 29 23 + telos + subscriptio

24v 25v 26v 27v 28v 29v 30v 31v 32v 33v 34v 35v 36v 37v 38v 39v 40v 41v 42v 43v 44v 45v 46v 47v 48v 49v 50v 51v 52v 53v 54v 55v 56v 57v 58v

23 23 23 23 23 23 23 23 21 + telos 21 + 2 quaestio 21 + 2 quaestio 23 23 23 0 30 30 30 30 30 30 30 30 30 30 + telos 33 33 35 31 32 31 30 33 30 0

Es läßt sich also sagen, daß der erste Kopist (N1) durchschnittlich etwa 29 Zeilen, der zweite (N2) 23 Zeilen und Galbiato 30 Zeilen pro Seite schreibt. Nur bei der Kopie der zweiten ‘Medea’ scheint sich der Schreiber an keine festen Zeilenzahlen zu halten. Das Papier unterscheidet sich in seiner Dicke und seinem Aussehen sehr. So scheint es ab 19r dicker, aber fleckiger zu sein; eine ähnlich dunkle Tinte, wie sie auf den 302 DIAZ DE BUSTAMANTE zählt 36.

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Folia zuvor nur für die Überschriften verwendet wurde, wird ab hier sowohl für die Überschriften als auch für den Haupttext genutzt, sie scheint diffus und nicht klar durch. Dieses fleckige Papier wird nach 28v (der einzigen Stelle, wo sich unten ein Kustode befindet. Zu lesen ist quae cycnus, die Anfangsworte des nächsten Foliums, vertikal in Minuskeln geschrieben, im Gegensatz zum Folgenden ist das quae im Kustoden ausgeschrieben) abgelöst durch etwas reineres und dünneres Papier. Am dünnsten und feinsten ist das Papier des vierten Quinios, auf dem sich ‘Medea’ I befindet. Die Foliierung des Codex ist in Bleistift vorgenommen worden und wird ziemlich sicher modern sein, also von keinem der Kopisten stammen. Die Paginierung scheint von der Hand vorgenommen worden zu sein, die auch die Numerierung der Gedichte, die Verszählung und die Überschrift ‘Epithalamium’ (11v) eingetragen hat (wohl von Angelo Mai; neben der vergleichbaren Handschrift scheint auch die verwendete Tinte übereinzustimmen). Für die Überschriften hat wohl nur der erste Kopist einen gewissen Platz gelassen; dennoch beginnen viele oberhalb des Zeilenspiegels, so daß einige sehr weit am oberen Rand stehen. Die ersten sieben Gedichte des Codex sind direkt hintereinander geschrieben, teilweise befinden sich explicit und incipit in einer Zeile.303 Es sei eine kurze Übersicht mit Ausschnitten aus dem Codex gegeben:

1r

1r

Es ist zu erkennen, wie weit an den oberen Rand die Überschrift gedrängt ist, und wie sich die Tinte von der des Haupttextes unterscheidet. Am Ende des ersten Gedichts fällt auf, daß das explicit desselben in der gleichen Zeile steht, wie das incipit des nächsten, wobei die Nummer des folgenden Gedichts (II) vor beide Angaben gesetzt ist. Gleiches läßt sich auch für die beiden nächsten Gedichte feststellen:

4r 303 Dies könnte eventuell ein Hinweis darauf sein, daß in der Vorlage die Überschriften fehlten.

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4v

Anders verhält es sich ab dem fünften Gedicht, das auf einer ganz neuen Seite (5v; Romul. 4 endet auf 5r mit τελος in der gleichen Schrift und mit der gleichen Tinte wie der Haupttext) beginnt und dem eine lange einleitungsartige Überschrift vorangestellt ist; für diese ist ganz offensichtlich Platz gelassen worden:

5v

Die quaestiones, die in diesem Gedicht immer wieder eingeschoben sind, werden mit der gleichen dunklen Tinte präsentiert wie die Überschrift. Das explicit ist als lange subscriptio gestaltet mit den einzigen Informationen über den Autor, die der Codex bietet. Zum Vergleich mit den übrigen sei noch die Überschrift über Romul. 6 abgedruckt, die zwar in einer dunklen Tinte, aber mit einer anderen Schrift gesetzt wurde (s. unten).

11v

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Eine deutliche Trennung von explicit und incipit findet sich 13v als Übergang zu Romul. 7:

13v

Das Ende von Gedichten, von bestimmten Abschnitten304 oder von incipit und explicit werden mit dem Zeichen :~ markiert. Anfangsbuchstaben der Gedichte und gelegentlich auch Anfangsbuchstaben eines neuen Abschnitts sind teilweise aus der Zeile in Richtung Rand herausgehoben (ἔκθεσις), teilweise nur größer. Eine Rubrizierung findet sich nirgendwo, allerdings läßt sich auf 2r ein Fleck roter Tinte ausmachen, der leicht nach rechts unten gewischt ist, und zumindest auf die Verwendung von Farbe im Umkreis des Codex hinweisen kann.305 Der Codex ist ein dünner Folio-Band mit den äußeren Maßen 21,5 x 29 x 1,5 cm. Der Seitenspiegel ist mit 21 x 28,3 cm kaum kleiner. Der Schriftspiegel ist unterschiedlich innerhalb des Codex, für die Folia von Romul. 8 beträgt die Höhe 22,5 cm, der Abstand zum linken Rand 7 cm auf der verso-Seite, ca. 2,3 auf der rectoSeite; zum rechten Rand sehr unterschiedlich. Auch die Zeilenhöhe variiert deutlich: 1r ff. 0,8–0,9 cm, 19r/v 0,6–0,7 cm, ab 20r 1 cm, ab 39r 0,8 cm, ab 49r 0,7 cm. Wenn eine Linierung noch zu sehen ist, handelt es sich um eine kalte, auch der Schriftspiegel ist kalt angedeutet, was man noch gut auf den leeren Folia 16v–18v sehen kann. Deutlich unterscheiden kann man zwischen verschiedenen Tintenarten, einer eher dunkel schwarzen und eher hell-wäßrig braun-schwarzen. Letztere wurde für f. 1r–16r im Haupttext verwendet, während die dunkle für Überschriften, Zwischenüberschriften und die incipit und explicit genutzt wurde (ausgenommen das explicit und die subscriptio zu Romul. 5; wenn ein τελος den Abschluß bildet, ist es auch zumeist in der hellen Tinte geschrieben). Ab 19r bis 38r findet sich durchgängig die dunkle Tinte; leicht hellere, aber vermutlich eine andere als für f. 1r–16r, läßt sich ab 39r feststellen und wieder etwas hellere ab 49r.

304 Solche Abschnitte finden sich in Romul. 5 und 9, wo sie durch ἐκθέσεις und Zwischenüberschriften bzw. Marginalnoten als solche gekennzeichnet sind: 5,52 vor narratio, 5,167 vor quaestio, 5,182 vor quaestio, 5,223 vor quaestio, 5,259 epilogi, 9,36 vor quaestio, 9,77 vor quaestio, 9,141 vor epilogus. Das Zeichen ist auch Romul. 10,31 am Versende gesetzt. In G folgt danach ein Seitenumbruch, in N eine Leerzeile. 305 Ebenso wie die Tatsache, daß auf fol. 44r Platz gelassen wurde für eine fehlende Initiale.

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Mit der Verwendung unterschiedlicher Tinte gehen auch Schreiberwechsel einher. Es müssen nach der communis opinio mindestens drei Schreiber an diesem Codex beteiligt gewesen sein: einer für die Gedichte 1–7 (ff. 1r–16r) und ‘Medea’ II (ff. 49r–58r), einer für 8 und 9 (ff. 18r–38r),306 der auch für die incipit und explicit der ersten sieben Gedichte verantwortlich ist (außer für die subscriptio zu 5), der außerdem die ἐκθέσεις des fünften und neunten Gedichts schrieb, schließlich Galbiato, der ‘Medea’ I abschrieb. Außerdem wird eine letzte spätere, vierte Hand angenommen, die die Überschrift ‘Epithalamium’ (11v), die römischen Ziffern vor den Gedichten und die Verszählung vorgenommen hat.307 Diese letzte Hand hat VOLLMER MGH XXXI Angelo Mai zweifelnd zugeschrieben („fortasse A. Mai“). Rasuren finden sich einige im Text, besonders auffällig ist dabei die Rasur eines ganzen Verses in Romul. 8 am Ende von f. 30r (nach v. 542). Entfernt wurde der Vers 565, der sich (mit seiner richtigen Position) am Ende von f. 30v befindet. Diese Rasur mag einen Hinweis auf die Konstitution der Vorlage geben: So könnte der Text des jetzigen Folio 30 auf einer Doppelseite der Vorlage gestanden haben. Der Vers 565 muß auf der rechten Seite gestanden haben und könnte fehlerhaft gewesen sein oder ganz gefehlt haben, so daß eine Korrektur nötig wurde, die wahrscheinlich ziemlich in der Mitte der Doppelseite nachgetragen wurde. Der Abschreiber wird sie dann der falschen Seite zugeordnet haben. Dies muß ihm rechtzeitig aufgefallen sein, denn auf der nächsten Seite, wo der Vers korrekt steht, findet sich keine Spur einer Korrektur. Im Codex lassen sich einige verschiedene Korrekturen und Korrekturzeichen feststellen: So sind zu korrigierende oder zu ersetzende Wörter unterpungiert (z. B. 12r Vers 42), so dienen zwei Schrägstriche (//) dazu, das Einsetzen von am Rand nachgetragenen Wörtern bzw. Versen anzuzeigen (Romul. 2,10 und 2,50). Auch Durchstreichungen sind vorhanden (z. B. 12r Vers 46). Am auffälligsten sind jedoch die recht oft verwendeten drei, in Form eines Dreiecks angeordneten Pünktchen (∴), die meist zu Beginn eines Verses gesetzt sind, wenn er offensichtlich fehlerhaft ist (z. B. auch bei unkorrigierten metrischen Fehlern) oder korrigiert werden muß (dann auch in Verbindung mit Ersetzungszeichen);308 sie finden sich aber auch direkt über fehlerhaften Worten. Außerdem gibt es noch ein großes R mit einem schrägen Strich durch die rechte Haste (℞), das für require steht und sich stets neben dem Text am rechten oder linken Rand befindet und offensichtlich die gleiche Funktion übernimmt wie ∴309. VOLLMER und DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 250 gehen davon aus, daß dieses Korrekturzeichen aus der Vorlage übernommen sein

306 VON DUHN verweist in seiner Edition (S. 30) zwar auf die Andersartigkeit des Papiers, hält den Schreiber aber für den gleichen wie den der übrigen Gedichte. 307 VOLLMER MGH XXXI geht davon aus, daß der gesamte ‘Romulea’-Text von nur einer Hand geschrieben wurde und die Farbunterschiede allein auf die unterschiedliche Qualität des Papiers zurückzuführen sind. Dagegen hat sich DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 249 sehr heftig ausgesprochen. 308 S. auch ZWIERLEIN 2017, 16f. und Anm. 66. 309 S. auch ZWIERLEIN 2017, 17.

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muß, weil es auf Folio 3v zu Vers 126 offensichtlich zu ‘Cy’ verschrieben wurde. Schließlich läßt sich gelegentlich auch eine Crux finden.310 All diese Zeichen finden sich in den ersten sieben Gedichten und in den beiden ‘Medea’-Abschriften in großer Zahl. Eine deutlich geringere Zahl an Korrekturzeichen findet sich hingegen in den Gedichten acht und neun. So konnte ich in Romul. 8, außer dem als Glosse (wenn auch mit Ersetzungszeichen gekennzeichnet) identifizierten Troia zu Vers 44 kein Zeichen feststellen, in Romul. 9 nur sehr vereinzelte (die drei Punkte ∴ über absumit in 83, über certe in 105 und über rapiter in 114311). 4.2 Entstehung des Codex N Sicher ist, daß die Handschrift N in irgendeiner Form auf einen Bobiensis zurückgehen muß, der im 15. Jahrhundert im Zuge des letzten großen humanistischen Handschriftenfundes im Kloster Bobbio entdeckt worden ist.312 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 251ff. macht anhand bestimmter Fehler (z. B. zusätzliches ‘a’, fehlendes ‘a’, fehlendes ‘u’, Verschreibungen von ‘a’ zu ‘e’ und umgekehrt, Verschreibungen von ‘b’ zu ‘d’ und umgekehrt) eine Handschrift in jüngerer Kursive als Vorlage für den Bobiensis aus; besonders für die Gedichte 8–10 postuliert er weiterhin eine von dieser kursiven abhängige insulare Vorlage (aufgrund von Fehlern wie Verschreibung von ‘a’ zu ‘o’ und umgekehrt, zusätzliches und fehlendes ‘i’, Verschreibung von ‘n’ zu ‘m’, von ‘r’ zu ‘i’, von ‘r’ zu ‘n’, von ‘r’ zu ‘p’ und Vertauschung von ‘s’ und ‘p’ sowie Dittographien). Neben diesen Fehlern gibt es ein weiteres kleines, wenn auch unsicheres Indiz für die Provenienz einer Vorlage des Bobiensis aus dem irischen Bereich: Der Gründer des Klosters Bobbio, Columban, stammt aus Irland und kennt erwiesenermaßen zumindest die ‘Satisfactio’ des Dracontius, ist also mit diesem Autor nicht unvertraut.313 Freilich gehört die ‘Satisfactio’ zu den weit besser überlieferten christlichen Gedichten des Dracontius und muß deshalb natürlich in vielen Punkten anders behandelt werden, doch kann eine Vermittlung durch Columban vielleicht nicht völlig ausgeschlossen werden.314

310 311 312 313

ZWIERLEIN 2017, 17 und Anm. 68. ZWIERLEIN 2017, 7. FERRARI 1970; 1973, SCHMIDT 1984, 681f. (= 2000, 73). In der Versepistel an Sethus zitiert Columban in den Versen 62–70 Verse aus der ‘Satisfactio’ des Dracontius (alle stammen aus dem Zeitexkurs 215–264), teilweise leicht verändert, weil Dracontius in Distichen schreibt, Columban aber ausschließlich in Hexametern, vgl. LUDWIG TRAUBE: Rezension zu „Geschichte der christlich-lateinischen Poesie bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts von M. Manitius“, ZfdA 36, 1892, 203–213, hier 208f. Vgl. auch LUDWIG BIELER: Adversaria zu Anthologia Latina 676. Mit einem Anhang über die Columbanus-Gedichte, in: RUDOLF HANSLIK / ALBIN LESKY / HANS SCHWABL: Antidosis. Festschrift für Walther Kraus zum 70. Geburtstag, Wien u. a. 1972, 41–48. 314 Für die Idee und gleichzeitig die berechtigten Zweifel daran vgl. auch FERRARI 1973, 39f.

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Auch wenn die Beobachtungen DIAZ DE BUSTAMANTEs gewiß auf großer Kenntnis verschiedenster Handschriften beruhen, wird man letztlich bei einem codex unicus ohne Vergleichsmöglichkeit nie zu einer vollständigen Sicherheit kommen.315 Daß bei den vielen bedeutenden Grammatikerfunden, die im Kloster Bobbio gemacht worden sind, auch Werke des Dracontius ans Licht traten, läßt sich der Liste entnehmen, die Giorgio Galbiato angefertigt hatte. Der Mailänder Sekretär Giorgio Merulas, der in dessen Auftrag das Kloster Bobbio besuchte und dem im Jahre 1493 der große Fund gelungen ist, schickte die Liste an seinen Vorgesetzten; diese ist in der Vorrede zur Druckausgabe des Terentianus Maurus greifbar.316 Für die Fragen der Datierung des Codex N findet sich als sicherer Anhaltspunkt, als terminus ante quem der Entstehung, nur die subscriptio unter der „zweiten“ ‘Medea’ Antonij Seripandi ex Iani Parrhasij testamento, die deshalb auch stets ein Ausgangspunkt für weitere Forschungen gewesen ist.317 Demnach war der Codex also im Besitz von Aulo Giano Parrasio und ging nach dessen Tod (1522) mit vielen weiteren Büchern in die Bibliothek von Antonio Seripando über. Danach ist der Weg recht leicht zu rekonstruieren, weil man über das Schicksal der Bibliothek Seripandos sehr genau Bescheid weiß: Nach dessen Tod ging die Bibliothek und damit auch unser Codex an seinen Bruder Hieronymus Seripando und wurde schließlich über eine Station im Kloster S. Giovanni a Carbonara in die Bestände der heutigen neapolitanischen Biblioteca nazionale aufgenommen.318 Weit problematischer und nach dem jetzigen Kenntnisstand auch nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten, sind die Fragen, wie aus dem Bobiensis N entstehen konnte und wie N in die Hände von Parrasio gelangt ist. Hinweise auf Abschriften aus einem Bobiensis,319 die in die Zeit nach Galbiatos Fund datieren, finden sich zwei, die aber jeweils keines der Gedichte nennen, die wir heute noch in N lesen können. Zunächst ist das Zeugnis des Tristano Calco in seiner ‘Historia patria’ (1503) zu nennen, der schreibt (Buch 3):

315 SCHMIDT 1984, 687f., Anm. 31 (= 2000, 77, Anm. 31) wirft DIAZ DE BUSTAMANTE vor, „seine weitreichenden Folgerungen auf unbelegte Generalisierungen zu stützen“. Auch wenn dieser Vorwurf zu weit geht, bleibt die Möglichkeit, daß nur der Schreiber, der im Bobbienser Scriptorium kopierte, insularer Herkunft gewesen sein könnte. 316 SCHMIDT 1984, 686 (= 2000, 76): Dracontii uarium poema (s. auch MORELLI 1989, 22). Zu weiteren Listen, die einen anderen Wortlaut, aber das gleiche Ergebnis bieten, s. SCHMIDT 1984, 686, Anm. 22 (= 2000, 76, Anm. 22) und FERRARI 1970, 140f. 317 So beginnt etwa DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 245 seine Ausführungen über die Handschrift mit dieser Notiz. 318 SCHMIDT 1984, 689 (= 2000, 78). 319 Beide Zeugnisse thematisieren die schwierige Lesbarkeit der Handschrift, die in „langobardischen Buchstaben“ verfaßt sei. Nach SCHMIDT 1984, 687f. (= 2000, 77) haben beide dasselbe Manuskript vor Augen, eine Handschrift aus dem 7./8. Jahrhundert in vorkarolingischer Minuskel; DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 261f. datiert diese Vorlage dagegen ins 9. Jahrhundert (entsprechend vermutet er auch eine andere Schrift).

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I Einleitung Dracuntius quoque Vandalorum temporibus non incultus uersificator, cuius opus, quamuis alius sibi gloriam arroget, nos tamen ex Bobiensi penetrali retulimus exque barbaricis caracteribus in consuetas transscribendum formas dedimus, sic scripsit:      sericus in uentos gemmato lumine serpens      tenditur, et rutilas uibrat per nubila cristas

Die beiden Verse über Schlangen finden sich in keinem der heute bekannten Werke des Dichters.320 Das zweite Zeugnis stammt von Bernardino Corio, der über eine Abschrift des Giovanni Christoforo Daverio Zugang zu den nicht-christlichen Gedichten des Dracontius hatte, allerdings offenbar nicht nur zu den Gedichten der sogenannten ‘Romulea’, die wir heute zu diesem Corpus zählen, sondern zu den beiden Gedichten ‘De mensibus’ und ‘De origine rosarum’; zudem gibt er einen Hinweis auf ein Gedicht, das die Lobpreisung des Thrasamund zum Gegenstand gehabt haben muß.321 Daß beide auf ein und denselben Bobiensis rekurrieren, der dann entsprechend mehr Gedichte enthalten hat, als uns heute in N vollständig vorliegen, ist gemeinhin anerkannt.322 Um weitere Erkenntnisse über die Entstehung von N zu erhalten, muß erneut ein Blick in die Handschrift geworfen werden. Auffällig ist die doppelte Fassung der dracontianischen ‘Medea’ im Codex. Seit FERRARI ist es communis opinio, daß die als erste eingebundene ‘Medea’ (G)323 von der Hand Giorgio Galbiatos geschrieben wurde.324 Die Frage, in welchem Verhältnis diese Abschrift zur zweiten ‘Medea’ (N)325 steht, hat zuletzt ZWIERLEIN 2017 wieder aufgeworfen, der zu dem Schluß kommt, daß G und N unabhängig voneinander auf den Codex aus Bobbio oder eine Abschrift von diesem zurückgehen.326 Dem widerspricht ZURLI 2018 320 FERRARI 1973, 35f. Wen man als alius, der sich mit fremden Federn schmücke, zu identifizieren hat, wird in der Forschung uneindeutig beantwortet: So gehen FERRARI 1973, 37, SCHMIDT 1984, 687 (= 2000, 77) und MESCHENI 2009, 40, Anm. 29 davon aus, daß Bernardino Corio gemeint sein muß; dieser behauptet seinerseits in seiner ‘Patria historia’ (FERRARI 1973, 36), die Handschrift gefunden zu haben, die Daverio dann in lesbare lateinische Buchstaben übertragen habe. KAUFMANN 2006 (a), 26 hingegen meint, Calco wende sich hier gegen Galbiato, der sich zu Unrecht anmaße, den Dracontius in Bobbio entdeckt zu haben, und zu Unrecht in seine Liste aufgenommen habe. Es gibt jedoch meines Wissens kein Zeugnis darüber, daß Calco vor 1493 schon in Bobbio Handschriften gefunden haben soll (erst später, wie er selbst in seiner Praefatio mitteilt, vgl. FERRARI 1970, 37). Jedenfalls dürfte es als kaum widerlegbar gelten, daß Galbiato den Text des Dracontius in Bobbio entdeckt hat (FERRARI 1973, 37). Corio und Calco dürften beide in ihren Werken versucht haben, sich an diesem Sensationsfund einen Anteil zu verschaffen (ZWIERLEIN 2017, 5f., Anm. 27). 321 S. dazu BAEHRENS 1873, 313–316. 322 SCHMIDT 1984, 686f. (= 2000, 77). 323 Für die Siglenbezeichnung s. ZWIERLEIN 2017, 6 und Anm. 31: „„G“ ersetzt also die bisher üblichen Siglen n (DIAZ DE BUSTAMANTE, WOLFF, KAUFMANN) bzw. N (DUHN, BAEHRENS, VOLLMER).“ 324 FERRARI 1970, 151. S. auch dort die Handschriftenproben. 325 Die zweite ‘Medea’ ist direkt hinter der von Galbiato als letztes Stück, ohne Titulus, in den Codex eingebunden. Der Schreiber ist mit dem der ersten sieben Gedichte identisch. 326 ZWIERLEIN 2017, 6–8. DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 254 postuliert G und den Bobiensis als Vorlagen für N; VON DUHN (Praefatio seiner Edition III), VOLLMER MGH XXXI, SCHMIDT

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heftig und bestimmt auch fraglos die Lesarten des Codex richtig, wo er von ZWIERLesungen abweicht, wie ebenfalls M. REEVE (brieflich) bestätigt. Mit Blick auf die beiden ‘Medea’-Abschriften ist zum einen zweifelsfrei festzuhalten, daß beide wegen der Vielzahl an gemeinsamen Fehlern auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen, zum anderen, daß N nicht als Vorlage von G angesehen werden kann, worauf etwa die Lücken in N V. 105 oder V. 207 hinweisen. Geht man weiterhin mit ZURLI davon aus, daß N aus G abgeschrieben wurde, so sind alle Abweichungen in N als Sonderfehler bzw. als das Richtige restituierende Konjekturen des Schreibers zu bewerten. Nimmt man dagegen mit ZWIERLEIN an, daß G und N unabhängig voneinander auf dieselbe Vorlage zurückgehen, so sind die Fehler als Trennfehler anzusehen. Wie ZURLI zu Recht bemerkt, ist es möglich, an all jenen Stellen, an denen N gegenüber G den richtigen Text bietet, eine Humanistenkonjektur anzunehmen.327 Folgen kann man ihm auch darin, daß sich eine Reihe von Fehlern in N als Verschreibungen schwer lesbarer G-Stellen erklären läßt.328 Dies dürfte allerdings wohl nicht für alle Verschreibungen von N gelten: So läßt sich etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, kaum nachvollziehen, wie das in V. 40 in G klar erkennbare nuntius von N zu Mutius (mit einer Majuskel am Wortanfang) hätte verschrieben oder grundlos konjiziert werden sollen.329 Illustrativ für die Problematik sind auch die beiden Verdrängungsfehler durch Augensprung, die Gac in den Vv. 301f. (tristis abit; delubra tacent, nutrix tamen atria tantum / sanguine templa carent, nutrix tamen atria tantum) und 534f. (affectu petit ipsa necem mucrone parentis / quaerit inops, passura necem uel sponte pericla) überliefert. N bietet diese Fehler nicht, sondern hat denselben Text wie Gpc (301f. tristis abit; delubra tacent, sacraria maerent, / sanguine templa carent, nutrix tamen atria tantum, 534f. affectu petit ipsa necem uel sponte pericla / quaerit inops, passura necem mucrone parentis). Zweifellos kann N die Korrektur in G richtig interpretiert und übernommen haben, wie ZURLI330 meint. Dennoch lassen beide Stellen für sich betrachtet auch die Annahme zu, daß N eine gemeinsame Vorlage richtig las, während Galbiato zwei Verdrängungsfehler durch Augensprung produzierte. N wäre nur dann zwingend von G abhängig, wenn Gac die Vorlage von G wiedergäbe, die Galbiato zu Gpc korrigiert hätte. Dies läßt sich jedoch nicht beweisen; vielmehr wird der Augensprung in 301f. mit hoher Wahrscheinlichkeit Galbiato selbst zuzuweisen sein, ließe sich doch sonst die interlineare Korrektur sacraria maerent kaum erklären. LEINs

327 328 329 330

1984, 688 (= 2000, 77f.) und ZURLI 1998, 373–376 sowie 2018 gehen nur von G als Vorlage aus. KAUFMANN 2006 (a), 27 hält beides für möglich. Herzlich danke ich MARCUS BECK für die kontroverse Diskussion der im Folgenden besprochenen problematischen Stellen. ZURLI 2018, 202–204. Dies gesteht ZWIERLEIN 2017, 8 für die überwiegende Zahl der Fälle ebenfalls zu, bei den übrigen ist mit ZURLI anders zu lesen. ZURLI 2018, 204f. So auch ZWIERLEIN 2017, 8 und Anm. 41. An den anderen Stellen dieser Kategorie ist m. E. wohl eher ZURLI 2018, 204f. Recht zu geben. ZURLI 2018, 208f.; ZWIERLEIN 2017, 7f., Anm. 37.

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Schwer entscheiden läßt sich des weiteren die Frage, wie es in N zu der Abtrennung des ‘Medea’-Prooems (nach V. 31) von der eigentlichen Erzählung durch eine Leerzeile gekommen ist. N und G bieten (nach V. 31) das übliche Zeichen für Abschnittsende (:~), der Beginn des Hauptteils ist durch ἔκθεσις von ‘D(ives)’ gekennzeichnet. Die Leerzeile von N fehlt in G, stattdessen endet das Prooem dort unten auf f. 39r, die Erzählung setzt oben auf f. 39v ein. ZWIERLEIN glaubt, die Leerzeile habe sich in der Vorlage von N gefunden, womit G nicht die Vorlage von N gewesen sein könne.331 Denkbar wäre aber ebenso, daß der Seitenumbruch in G die Leerzeile in N verursacht hätte (so auch REEVE, brieflich). Denn in G, der stets streng eine Zeilenzahl von 30 pro Seite einhält, finden sich ausschließlich auf der ersten Seite (f. 39r) einmal 31 Zeilen, so daß der Übergang vom Prooem zum Hauptteil ganz sicher nicht zufällig mit dem Seitenwechsel zusammenfällt, sondern darin eine Gliederungsabsicht offenbar wird. Vielleicht hätte N diese Gliederung überdeutlich anzeigen wollen und zusätzlich zur ἔκθεσις eine Leerzeile eingefügt. Denn in N begegnet die ἔκθεσις in Romul. 5 und 9 an Neueinsätzen nie ohne eine zusätzliche Kennzeichnung, die dort in Form von Zwischenüberschriften oder die Gliederungshilfen in margine erscheint (auch wenn sie dort freilich dem Declamationsaufbau geschuldet sind332). Die von ZURLI 2018 kaum gewürdigten Beobachtungen ZWIERLEINs 2017, 16f. und Anm. 66 zu dem aus drei Punkten bestehenden Korruptelzeichen müssen in die Betrachtungen einbezogen werden: Gehen die in N und G vorhandenen Zeichen auf den Bobiensis zurück333 oder sind sie von N und G bzw., im Falle einer Abhängigkeit, von G ergänzt worden? Sehr viel spricht sicher für ZWIERLEINs These, daß die Korruptelzeichen im Bobienser Exemplar zu finden gewesen sein müssen.334 Für alle Stellen muß dies jedoch nicht zwingend zutreffen. So wäre es theoretisch denkbar, daß N und G das vorgefundene Zeichen nicht nur aus ihrer Vorlage übertragen, sondern auch eigenständig gesetzt haben könnten. Zu klären wäre in diesem Zusammenhang etwa, ob N in Romul. 10,563 die berechtigterweise vor den Vers gesetzten, in G allerdings nicht vorhandenen, Punkte in seiner Vorlage fand oder sie selbst ergänzte. Standen sie in der Vorlage, trennte dies N von G.335 Letzte Sicherheit läßt sich freilich auch hier nicht gewinnen und es bleibt nur die Problemanzeige. 331 332 333 334

ZWIERLEIN 2017, 7. ZWIERLEIN 2017, 14f. Das Zeichen ist auch sonst mittelalterlich belegt, vgl. ZWIERLEIN 2017, 17, Anm. 66. ZWIERLEIN 2017, 7; 16 und Anm. 64. Sein Hauptargument ist das Vorhandensein der Korruptelzeichen in den Gedichten 1–7, in denen eine Vorlage Galbiatos nicht zur Verfügung gestanden habe. Zudem müsse es an den Stellen, an denen es nur in N zu finden sei (Romul. 10,9. 563) auf die Vorlage zurückgehen, da es G nicht habe. 335 Ob es sich bei der zu Romul. 10,9 ebenfalls nur in N vorhandenen Markierung aus den drei Punkten um ein Korruptelenzeichen handelt, für das sich die gleiche Frage stellte, läßt sich wohl aus mehreren Gründen bezweifeln: Es besitzt keine erkennbare Berechtigung und ist ganz ungewöhnlich unter der Zeile eingetragen. Außerdem wirkt es bei weitem nicht so akkurat und klar gesetzt wie die vergleichbaren Zeichen. Möglicherweise handelt es sich bei mindestens einem der Punkte um Reste einer nicht ganz sauber ausgeführten Cauda des ‘q’; man vergleiche auch die unmotiviert erscheinenden Punkte um das Wort substinet Romul. 10,148.

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Soviel bzw. sowenig an dieser Stelle zu der schwierigen Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis von G und N. Ich belasse es derzeit bei einem non liquet. Hingewiesen sei nur noch auf einen Fund, der möglicherweise dafür sprechen könnte, zumindest den zweiten und dritten Quinio und damit auch die Bindung der Handschrift um einige Jahre später als bisher getan zu datieren.336 Auf den Folia 29–31 (Romul. 8,475–611) und 34f. (Romul. 9,45–134) läßt sich als Wasserzeichen ein Hund ausmachen, der dem in einem Papier aus Florenz von 1522 sehr ähnlich zu sein scheint.337 Er unterscheidet sich nur in der Höhe des angewinkelten Beines um wenige Millimeter, aber leichte Verbiegungen des Drahtes, mit dem das Wasserzeichen hergestellt wird, sind durch beständigen Gebrauch ganz natürlich.338 Für unsere Handschrift ist das Jahr 1522 terminus ante quem der Entstehung, da in diesem Jahr Parrasio, der Besitzer des Codex, starb. Da aber gewöhnlich ca. fünf Jahre als Maß angesetzt werden, in denen das Papier mit ein und demselben Wasserzeichen verbraucht wird, stünde auch dies einer späteren Datierung nicht grundsätzlich im Wege (das Papier könnte also auch um 1517 entstanden sein).339 Wenn es tatsächlich möglich wäre, die Handschrift sicher später zu datieren als bisher getan, dann wäre die Wahrscheinlichkeit weiterer Zwischenstufen noch um einiges höher, was vielleicht auch für das Verhältnis von N und G Bedeutung haben könnte.340 Aber auch hier bleibt es nur, einen Hinweis und eine Anregung für eine spätere erneute Untersuchung der Frage zu geben. Nicht völlig abwegig dürfte die Überlegung sein, daß Galbiato einmal eine vollständige Abschrift des Bobiensis angefertigt hätte, die die Vorlage für N gewesen sein könnte.341 Dagegen ist von SCHMIDT eingewandt worden, daß eine ganze Abschrift von Galbiato sicher als solche überliefert worden wäre, was gewiß plausibel ist, aber nicht zwingend. Weiterhin wandte er ein, daß sich sonst keine Spur eines solchen Exemplars findet, und fragt, wo der Rest geblieben sei. Dies kann freilich

336 G muß vor Galbiatos Tod 1497 entstanden sein; das gesamte Manuskript wird gemeinhin nicht viel später datiert, vgl. SCHMIDT 1984, 689 (= 2000, 78). 337 http://www.piccard-online.de/detailansicht.php?klassi=015.013.008&ordnr=86675&sprache= (16.03.2016, 20:44 Uhr). 338 GERARDY 1969, HAIDINGER 2004. 339 In diesem Fall ist ein „Übergabeszenario“ der Handschrift an Parrasio über Inghirami in Rom deutlich nach 1514 am wahrscheinlichsten; s. dazu unten. 340 Wenn der „Lemmatist“ (N2) mit N1 zusammengearbeitet hat, wofür einiges spricht, da sie zusammen die Gedichte 1–10 abgeschrieben haben, dann dürfte ihre gemeinsame Arbeitszeit in eine spätere fallen als die Galbiatos (es ist mir jedoch bisher nicht gelungen, die übrigen Wasserzeichen auf dem Papier von N1 zu datieren, um das Postulat zu beweisen). Sollte es sich so verhalten, dann könnte die potentielle spätere Datierung gegen eine Abhängigkeit N.s von G sprechen, da ja für eine Zusammenstellung der Gedichte die ‘Medea’ durch Galbiatos Abschrift bereits vorhanden war. Diese könnte N1 und N2 erst später bekannt geworden sein, als ihr Projekt schon abgeschlossen war. Gegen ein Publikationsvorhaben der zweiten ‘Medea’ spricht freilich, wie MARCUS BECK betont, die uneinheitliche Zeilenzahl. 341 So vermutete schon VOLLMER MGH XXXI, wobei er noch glaubte, die Abschrift sei von Parrasio getätigt worden.

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kein überzeugendes Argument sein, zumal ja auch andere offensichtlich vorhanden gewesene Kopien verschollen sind.342 SCHMIDT343 hält es für wahrscheinlich, daß der Codex N zusammen mit anderen heutigen Neapolitani, von denen sicher bekannt ist, daß er sie aus dem Bobbio-Fund hatte, in den Besitz von Tommaso Fedro Inghirami, als dieser 1496 bis 1497 in Mailand war, gelangte. Der Philologe bedenkt ebenfalls die Möglichkeit, daß der Codex im Auftrag Inghiramis entstand und erst später, nach 1514, als Geschenk bei einem Treffen in Rom,344 an Parrasio übergeben wurde.345 Letzterer hielt sich in Mailand erst 1499 auf, als dort schon fast keine Handschriften aus Bobbio mehr vorhanden waren346 – womit der Kreis zum sicheren Besitzvermerk im Codex geschlossen wäre. Ohne die Zwischenstation über Inghirami könnte Parrasio theoretisch auch bei seinem eigenen eben genannten Mailandbesuch 1499–1506 die Handschrift in Auftrag gegeben und von Tristano Calco erhalten haben.347 DIAZ DE BUSTAMANTE schlägt vor, die Handschrift N nur als vorläufige Abschrift einer besonders schwer lesbaren Vorlage („littera longobarda“) zu erklären.348 Er argumentiert mit der üblichen, sonst immer zu belegenden Praxis Parrasios, in all seine Bücher Datum und Ort der Anschaffung zu schreiben, was in N auffälligerweise beides fehlt. Dagegen spricht jedoch, daß die Schriften flüssig aussehen, als hätte jemand leicht übertragen, was er leicht lesen konnte. Dennoch ist die Beobachtung DIAZ DE BUSTAMANTEs, die Handschrift mache den Eindruck einer vorläufigen Abschrift, richtig. Das Manuskript zeigt sich aber auch im Ganzen als sehr kunstlos und zusammengestückelt; es ist gut vorstellbar, daß hier nur eine Gedichtauswahl zusammengestellt wurde und die Handschrift nicht vollständig das enthält, was der Bobiensis geboten hat. Zum kunstlosen Eindruck tragen auch die verschiedenen Schreiber, die daraus resultierenden leeren Seiten, die uneinheitliche Seitenaufteilung und ein fehlendes Titelblatt bei. Auch die subscriptio unter Gedicht 5 wirkt ein wenig fehl am Platz, wenn man glauben wollte, daß hier eine vollständige Abschrift einer Sammlung vorliegt.349 Warum sollte gerade mitten im Codex die einzige Information über den Autor stehen statt an einer exponierten Stelle vorn oder wenigstens ganz am Ende? Dazu kommen sämtliche, oben angerissene Unklarheiten, was die Provenienz des Codex und seinen Besitzerwechsel angeht. 342 S. oben zu den Abschriften von Calco und Daverio, bei denen freilich nicht zu klären ist, was sie enthielten. 343 SCHMIDT 1984, 686; 689 (= 2000, 75; 78). 344 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 248. S. zu diesem „Szenario“ auch KAUFMANN 2006 (a), 27. 345 SCHMIDT 1984, 689 (= 2000, 78). In der subscriptio auf f. 58r findet sich der Hinweis Antonii Seripandi ex Iani Parrhasii testamento, der damit der einzig sichere Besitzvermerk ist. 346 SCHMIDT 1984, 684f. (= 2000, 75). 347 Dieses „Szenario“ bei FERRARI 1973, 36, vgl. auch KLEIN 1987, 29, Anm. 4; dagegen SCHMIDT 1984, 689, Anm. 37f. (= 2000, 78, Anm. 37f.). Es spräche allerdings gegen eine Spätdatierung der Handschrift. 348 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 254. S. auch FERRARI 1970, 151 zur Vorlage von N. 349 So auch FERRARI 1973, 36. Die subscriptio bezieht sich zwar direkt auf die ‘Controversia’, doch enthält sie zusätzlich so allgemeine Informationen, die man eigentlich an einem exponierteren Ort erwarten dürfte.

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Die beobachteten flüssigen Schriften, sowie das kunstlose, zusammengestückelte Erscheinungsbild und das oben erwähnte Wasserzeichen, welches vielleicht auf eine spätere Datierung der Handschrift deutet, könnten dafür sprechen, daß N nicht direkt auf eine Vorlage in Bobbio zurückgeht. Wenn der Eindruck stimmt, dann kann postuliert werden, daß die Handschrift aus vier zusammenhängenden Teilen besteht (Romul. 1–7, Romul. 8–9, Medea 1 und Medea 2). Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte die Vorlage für Romul. 1–9 eine im Allgemeinen gut lesbare, aber nicht identifizierbare Humanistenkopie des Bobiensis gewesen sein (vielleicht doch eine vollständige Kopie von Galbiato?), für Galbiatos Medea der Bobiensis selbst oder ein Abkömmling von diesem und für die zweite Medea entweder die Abschrift Galbiatos oder dessen Vorlage. Alles zusammen genommen ergibt sich tendenziell, daß dieser Codex nicht als besonders repräsentatives Exemplar eines wichtigen Textes gedacht war. Wir müssen es wohl als ausgesprochenen Glücksfall der Überlieferung ansehen, daß wir überhaupt eine Ahnung von den nicht-christlichen Gedichten des Dracontius haben dürfen. Auch wenn man in der Äußerung Calcos durchaus Stolz verspüren kann, einen unbekannten Dichter wiederentdeckt und zugänglich gemacht zu haben, der auch nicht der schlechteste ist, so scheint sich das Interesse letztlich doch weniger auf Dracontius als auf die anderen in Bobbio entdeckten Texte gerichtet zu haben.350 4.3 Die Wiederentdeckung des Codex und die modernen Editionen Sensationell war die Wiederentdeckung des Codex N durch CATALDO IANNELLI, den Bibliothekar der Nationalbibliothek Neapel, zu Beginn des 19. Jahrhunderts.351 Fast schon tragisch ist hingegen die Geschichte seiner Erstedition der Gedichte ‘Raptus Helenae’ und ‘Medea’. Kränkelnd und unter größten Anstrengungen – so berichtet sein Neffe ANTONIO IANNELLI in einem Brief an FRIEDRICH VON DUHN352 – konnte er eine Edition der beiden genannten Gedichte und einen Kommentar bis zum August 1813 vorlegen und beides in einem Brief JUAN ANDRÉS, dem Praefekten der Bibliothek, widmen. Bis zum geplanten Druck sollte es aber noch bis 1816 dauern, als bereits ein neuer Praefekt, ANGELO ANTONIO SCOTTI, über die Veröffentlichung zu bestimmen hatte. Der hielt das Vorhaben IANNELLIs wohl aus Neid für lächerlich und zeichnete sich so lange durch Verzögerungen und Nichts-Tun aus, bis das Projekt in Vergessenheit geriet. ANGELO MAI, der berühmte Finder und Herausgeber des bedeutenden De-republica-Palimpsests, hat auch Anteil an unserem Wissen über Dracontius und den Raub der Helena. Er hat den unabhängig überlieferten und damit zunächst schwer zuschreibbaren ‘Orestes’ unseres Dichters zusammen mit dem Raub der Helena 350 KLEIN 1987, 29 betont Parrasios wahrscheinlich recht großes Interesse an Dracontius, da er in seinem ‘Epikedion’ auf Ippolita Sforza die ‘Laudes dei’ zitiert. 351 S. auch LUCERI 2007, 21ff. 352 VON DUHN VIf.

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herausgegeben, um einen Vergleich zwischen beiden Texten zu ermöglichen. So kommt er zu dem Schluß, der bis heute gilt, daß auch der ‘Orestes’ von Dracontius stammt.353 Durch MAIs Ausgabe gelangte der Sensationsfund, den CATALDO IANNELLI gemacht, in seinem Katalog beschrieben354 und auch zu edieren begonnen hatte, überhaupt an die Öffentlichkeit. Der Neffe IANNELLIS, ANTONIO, hat MAI Zugang zu den von IANNELLI aus dem Codex N erstellten Texten verschafft. Nun war das Interesse der Philologenwelt an den bisher unbekannten Werken geweckt und die eifrige Beschäftigung mit dem Wortlaut der Handschrift konnte beginnen. Kurios, aber für diese Zeit wohl typisch Philologe (frei nach dem berühmten Motto homo homini lupus, femina feminae lupior, philologus philologo lupissimus) ist das Aufsatzgefecht, das zwischen FRIEDRICH VON DUHN und EMIL BAEHRENS in den Jahren 1873 und 1874 geführt wurde. VON DUHN, zu dieser Zeit noch Bonner Student und von seinem Lehrer BÜCHELER zu dieser verdienstvollen Aufgabe angeregt,355 war BAEHRENS mit seiner Ausgabe der ‘Romulea’ zuvorgekommen und konnte daher für sie den Titel ‘Dracontii carmina minora plurima inedita ex codice Neapolitano’ beanspruchen. In seiner Rezension dieser Edition läßt BAEHRENS seinen Zorn über den nur wenige Monate früher als er selbst in Neapel die Handschrift studierenden VON DUHN spüren, dem er diese Erstlingsarbeit (in doppelter Hinsicht) nicht zutraut. Bestätigt fühlt er sich schließlich, weil der Lehrer BÜCHELER seinem Schüler VON DUHN alle problematischen Textstellen gelöst habe.356 Folgende Editionen der ‘Carmina profana’ des Dracontius sind seitdem bis heute erschienen: Die erste Gesamtedition der christlichen und der paganen Gedichte des Dichters hat 1905 FRIEDRICH VOLLMER vorgelegt, der sie, leicht verändert, auch noch einmal 1914 in den PLM abdruckte. Eine Gesamtedition der ‘Romulea’ mit umfassenden Untersuchungen konnte 1978 DIAZ DE BUSTAMANTE herausbringen. 1995 und 1996 erschienen die beiden Bände der Collection Budé, herausgegeben von WOLFF und BOUQUET, die die nichtchristlichen Gedichte des Dracontius enthalten. Seitdem sind Einzeleditionen zu Romul. 2 (WEBER 1995), Romul. 6 & 7 (LUCERI 2007, GALLI MILIĆ 2008) und Romul. 10 (KAUFMANN 2006 [a]) jeweils mit Kommentaren vorgelegt worden. Seiner Übersetzung der ‘Romulea’, die im Jahre 2015 erschienen ist, hat der Herausgeber ANTONINO GRILLO ebenfalls eine Edition beigegeben, die an WOLFF / BOUQUET orientiert ist. Jüngst hat OTTO ZWIERLEIN einen neuen kritischen Text der ‘Carmina profana’ ediert (2017) und ihnen einen umfangreichen kritischen Kommentar beigegeben (2017).

353 MAI 1871, 1. 354 CATALDO IANNELLI: Catalogus Bibliothecae Latinae veteris et classicae manuscriptae quae in Regio Neapolitano Museo Borbonico adservantur, Neapoli 1827, 172f. 355 BAEHRENS 1873, 265. 356 Vgl. die streitschriftenartigen Aufsätze des Jahres 1873 in den Jahrbüchern für Klassische Philologie.

II EDITION MIT ÜBERSETZUNG1 CONSPECTUS SIGLORUM N Nac Npc V

1

Codex Neapolitanus IV E 48, s. XV / XVI 19r–32v Codex Neapolitanus ante correctionem Codex Neapolitanus post correctionem Florilegium Veronense (Bibl. capitul. CLXVIII [155])

Es wird versucht, an besonders problematischen Stellen das Textbild der Handschrift im Apparat mitzuliefern, um die Möglichkeit eines direkten Zugriffs darauf bereitzustellen. Um eine bessere Lesbarkeit zu gewähren wird nur eine kleinere Auswahl an bisher vorgeschlagenen Konjekturen geboten; einige weitere werden im Kommentar diskutiert.

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II Edition mit Übersetzung

DE RAPTU HELENAE (ROMUL. 8) 1

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Troiani praedonis iter raptumque Lacaenae et pastorale scelerati pectoris ausum aggrediar meliore uia. nam prodimus hostem hospitis et thalami populantem iura mariti, foedera coniugii, consortia blanda pudoris, materiem generis, subolis spem, pignora prolis: nam totum de matre uenit, de matre creatur quod membratur homo; pater est fons auctor origo, sed nihil est ‹sine› matre pater: quota portio patris omnis constat homo? mater fit tota propago. ergo nefas Paridis, quod raptor gessit adulter, ut monitus narrare queam, te grandis Homere – mollia blandifluo delimes uerba palato; quisquis in Aonio descendit fonte poeta, te numen uult esse suum; nec dico Camenae te praesente ‘ueni’: sat erit mihi sensus Homeri, qui post fata uiget, qui duxit ad arma Pelasgos Pergama Dardanidum uindex in bella lacessens; et qui Troianos inuasit nocte poeta, armatos dum clausit equo, qui moenia Troiae perculit et Priamum Pyrrho feriente necauit: numina uestra uocans, quidquid contempsit uterque scribere Musagenes, hoc uilis colligo uates. reliquias praedae uulpes sperare leonum laudis habent, meruisse cibos quos pasta recusant uiscera, quos rabies iam non ieiuna remisit exultant praedamque putant nuda ossa ferentes. Attica uox te, sancte, fouet, te lingua Latina commendat: uulgate, precor, quae causa nocentem fecit Alexandrum raptu spoliare Amyclas.

f.19r

hoc carmen inscribitur DRACONTII OPUS DE RAPTU HELENAE. fortasse titulus non genuinus est.

1 Lacaenae Iannelli : laceae N 2 pastorale N : pastoralem Iannelli 9 ‹sine› Duhn Baehrens (om. N) : prae Iannelli 10 mater N : matris Zwierlein 12 narrare Iannelli : narrarem N te N : tu Iannelli 13 delimes Prisco : delimas N : delibas Zwierlein : delibes Iannelli : delimans Weber : delibans Baehrens : defundas Duhn : defingas Giarratano 16 praesente Iannelli : praesenti N 20 armatos Bücheler : armato N 23 colligo Iannelli : collego N 24–27 parenthesin facit Zwierlein 30 spoliare N : spoliaret Vollmer : ‹ut› spoliaret Duhn : spoliareque Loewe

II Edition mit Übersetzung

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Die Reise des Räubers aus Troja und den Raub der Spartanerin und damit das Hirtenwagnis eines verruchten Herzens will ich auf bessere Weise in Angriff nehmen. Denn ich entlarve einen Feind des Gastfreunds und des Ehebetts, der die Rechte des Ehemanns zerstört, (5) die Ehebünde, die angenehme Gemeinschaft der Keuschheit, die Grundlage für ein Geschlecht, die Hoffnung auf Nachkommenschaft, die Garantie für Nachkommen: Denn alles kommt von der Mutter, wird von der Mutter geboren, was sich als Mensch ausgliedert. Der Vater ist Quelle, Urheber und Ursprung, aber ein Vater ist nichts ohne die Mutter. Zum wievielten Teil (10) besteht der ganze Mensch aus Vater? Die Mutter wird der ganze Keimling. Damit ich also die Untat des Paris, die er als räuberischer Ehebrecher verübte, inspiriert erzählen kann, dich, berühmter Homer – mögest du liebliche Worte mit sanft strömendem Gaumen aufpolieren. Jeder Dichter, der in die aonische Quelle herabsteigt, (15) will, daß Du seine Inspirationsgottheit bist. Auch ich sage nicht zur Camena „Komm!“, wenn Du anwesend bist: Der Geist Homers wird mir genügen, der nach seinem Tod lebt, der die Pelasger in den Krieg führte und als Rächer für die Dardaner Pergamon zum Krieg reizte. Und der Dichter, der in der Nacht die Trojaner angriff, (20) indem er bewaffnete Männer in einem Pferd einschloß, der die Mauern Trojas einriß und den Priamus, indem Pyrrhus ihn erschlug, tötete. Ich rufe Eure Inspirationsmacht an, und das, was die beiden Musengeborenen zu schreiben vernachlässigten, sammle ich, ein geringer Dichter. Die Füchse halten (25) es für Ehre, auf die Reste der Beute der Löwen zu hoffen; sie frohlocken, daß sie Nahrung bekommen, die der gesättigte Bauch verschmäht, die die nicht mehr hungrige Wildheit zurückließ, und halten sie für Beute, obwohl sie bloße Knochen wegtragen. Dich, Verehrungswürdiger, unterstützt die griechische Sprache, dich empfiehlt die lateinische Zunge: Bitte breitet aus, welcher Grund dafür sorgte, (30) daß der verderbenbringende Alexander Amyclae in einem Raubzug plünderte.

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II Edition mit Übersetzung

 caelicolum praetor iam sederat arbiter Idae: iam gremium caespes, iam surgens herbida tellus stabat et aetherium fuerant herbosa tribunal. soluerat Iliacus caeli uadimonia pastor et litem facit ipse suam: laudata recedit contempta Iunone Venus. tunc uirgo decore uicta dolet, nam tristis abit: heu nescia mens est, quae mala circumstent ausum dare iura Mineruae. iudicis Idaei pretio sententia fertur damnaturque Paris; nec solus pastor habetur ex hac lite reus: damnantur morte parentes, damnantur fratres, et quisquis in urbe propinquus aut cognatus erat, cunctos mors explicat una. atque utinam infelix urbs tantum morte periret! damnantur gentes, damnatur Graecia sollers heu magnis uiduanda uiris; orbatur Eous Memnone belligero, damnatur Thessalus heros et Telamone satus, pereunt duo fulmina belli. pro matris thalamo poenas dependit Achilles (unde haec causa fuit), forsan Telamonius Aiax sternitur inuictus, quod mater reddita non est Hesione Priamo; sic est data causa rapinae, cur gentes cecidere simul, cum sexus uterque concidit, infanti nullus post bella pepercit? sic dolor exsurgit diuum, sic ira polorum saeuit et errantes talis uindicta coercet? compellunt audere uirum fata, impia fata, quae flecti quandoque negant, quibus obuia nunquam res quaecunque uenit, quis semita nulla tenetur obuia dum ueniunt, quibus omnia clausa patescunt?

f.19v

31 praetor N : pastor Bücheler Ribbeck Idae Iannelli : idem N : Ida Bücheler 33 stabat N : pascua Baehrens fort. recte 34 Iliacus Iannelli : iliacas N 35 et N : set Ribbeck 36 decore Peiper : decora N 37 abit Iannelli : abijt N 42 in urbe Duhn : in morte N : in orbe Peiper : in arce Rossberg : morte Iannelli 44 atque utinam N sed nota non usitata : Troiaque ut Bücheler Duhn ex glossa in margine addita coniecerunt tantum N : tanta Bücheler periret Iannelli : perriet N

49 dependit Iannelli : depondit N 51 sternitur inuictus Iannelli : stermtur in uictus N 52 Hesione Iannelli : esto ne N 53 cur N : qua Zwierlein cum N : cur Iannelli  54 pepercit Iannelli : perpepercit N 56 coercet Npc : coercit Nac 57 fata N : facta Rossberg Baehrens 59 tenetur N : negatur Zwierlein : tuetur Bücheler : uetatur Baehrens

II Edition mit Übersetzung

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Schon hatte sich der Praetor vom Idagebirge als Schiedsrichter der Himmlischen zu Gericht gesetzt: Schon war da ein Rasenstück als Richterstuhl, schon ein sich erhebendes grasgrünes Stückchen Erde und so hatten in der Tat die grünen Flächen einen Gerichtsort unter freiem Himmel ergeben. Der Hirte vom Ida hatte die Gerichtssumme ausbezahlt und macht selbst den Streit zu seinem eigenen: Iuno hat er verschmäht und Venus geht (für ihre Schönheit) gepriesen fort. Dann schmerzt es die Jungfrau, weil sie von der Schönheit besiegt wurde, und sie entfernt sich gekränkt. Ach, der Verstand weiß nicht, welche Übel den umfangen, der es wagt, über Minerva Recht zu sprechen! Um einen Lohn wird der Schiedsspruch des Richters vom Ida gesprochen (40) und dadurch verurteilt sich Paris. Und nicht allein der Hirte wird wegen dieses Streites als Angeklagter betrachtet: Es werden die Eltern zum Tode verurteilt, die Brüder und jeder Nachbar oder Verwandte in der Stadt – sie alle umfängt dieselbe Todesursache. Ach wenn allein die unselige Stadt im Tode untergegangen wäre! (45) (Aber) Völker werden zum Tode bestimmt, das kunstfertige Griechenland fällt dem Tode anheim, indem es, ach, seiner großen Männer beraubt wird; Aurora wird des streitbaren Memnon beraubt, der thessalische Held und der Sohn des Telamon müssen sterben, es gehen zwei Blitze des Krieges unter. Achill zahlt Strafe für die Hochzeit seiner Mutter (50) (woraus sich diese Streitsache ergab), vielleicht wird der unbesiegbare Ajax, Sohn des Telamon, niedergestreckt, weil seine Mutter Hesione dem Priamus nicht zurückgegeben wurde. Ist so ein Grund für den Raub gegeben worden, ein Grund, warum die Völker zugleich fielen, dadurch, daß beide Geschlechter starben, daß nach dem Kriege keiner ein Kind schonte? (55) Erhob sich so der Schmerz der Götter, wütete so der Zorn der Himmelsmächte und züchtigt eine solche Strafe die Irrenden? Zwangen die Fata den Mann (dies) zu wagen, die unheilvollen, die es immer verweigern umgelenkt zu werden, denen niemals etwas entgegenkommt, die keinen Weg einhalten, während sie entgegenkommen, denen alles Geschlossene offen steht?

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II Edition mit Übersetzung

 iam grex horretur, fontes casa pascua siluae flumina rura pigent nec fistula dulcis amatur; non placet Oenone, sed iam prope turpis habetur, ex quo pulchra Venus talem promisit in Ida, qualis nuda fuit: talem iam pastor anhelat. sordent arua uiro post iurgia tanta dearum, Pergama sola placent et moenia quaerere Troiae mens et fata iubent. monitus Paris omnia norat blandita nutrice puer, quo sanguine cretus, qui genus, unde domus; rapiensque crepundia pastor Troianum carpebat iter. uix uiderat arcem lassus, et intactae procumbunt culmina turris, ingemit et tellus, muri pars certa repente concidit et Scaeae iacuerunt limina portae; tunc Simois siccauit aquas, crystallina Xanthi fluminis unda rubet, sudat pastore propinquo Palladium uel sponte cadunt simulacra Mineruae.  forte dies sollemnis erat, quo Pergama rector infelix Priamus post Herculis arma nouarat: annua persoluens ingratis munera diuis Laomedontiades capitolia celsa petebat reddere uota Ioui, laturus sacra Mineruae. ad dextram genitoris erat fortissimus Hector, Troilus ad laeuam pauido comitante Polite; cetera natorum turba stipata subibat. reginam interea natarum turba coronat et nuribus comitata uenit pia uota ministrans: rex Helenum sequitur, Cassandrae mater adhaeret.

f.20r

f.20v

62 amatur Iannelli : armatur N 63 Oenone sed iam Duhn : oenones iam N : Oenone quae iam Iannelli

66 iurgia Iannelli : urigia N 70 qui N : quod Iannelli domus N : domo Peiper 73 certa N : celsa Rossberg Zingerle : uersa Schenkl 74 limina Iannelli : lumina N 78 sollemnis Nac : solemnis Npc 79 nouarat Bücheler : nouerat N : nouata Iannelli 80 persoluens Iannelli : per soluens N 83 ad dextram Iannelli : addextram Npc : addetrtram Nac 84 pauido N : pariter Zwierlein fortasse recte 85 stipata Baehrens Ribbeck : stipatus N subibat Baehrens Ribbeck : abibat N : adibat Schenkl

II Edition mit Übersetzung

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(61) Schon wird vor der Herde zurückgeschaudert, schon bereiten die Quellen Überdruß, die Hütte, die Weiden, Wälder, Flüsse und das Land und die süße Hirtenflöte wird nicht mehr geliebt. Es gefällt die Oenone nicht, sondern wird schon fast für häßlich gehalten, seitdem die schöne Venus ihm auf dem Ida eine solche versprochen hat, (65) wie sie selbst nackend war: Nach so einer giert nun der Hirte. Vor Schmutz starrt für den Mann das Land nach dem so großen Zank der Göttinnen, allein Pergamon gefällt ihm und die Stadtmauern Trojas aufzusuchen, befehlen sein Inneres und das Schicksal. Informiert von seiner Amme, da sie ihm schmeicheln wollte, hatte Paris schon als Knabe alles erfahren, aus welchem Blut er abstammt, (70) von welchem Geschlecht er kommt, woher sein Haus. Und so riss der Hirte seine Erkennungsmerkmale an sich und legte den Weg nach Troja zurück. Kaum hatte er erschöpft die Burg erblickt, als die Spitze eines Turmes herabfiel, obwohl er nicht baufällig war, und die Erde widerhallte, ein gewisser Teil der Mauer plötzlich einstürzte und der Türsturz des scäischen Tores da lag. (75) Da trockneten die Wasser der Simois aus, die kristallfarbene Woge des Flusses Xanthos färbt sich rot, das Palladium schwitzt, als sich der Hirte nähert, und von selbst fallen Kultbilder der Minerva um. Es war gerade der Feiertag, an dem der unselige Herrscher Priamus Pergamon nach den Waffentaten des Herkules wieder aufgebaut hatte. (80) Die alljährlichen Gaben brachte der Laomedonsohn den mißgünstigen Göttern dar und bestieg das hohe Kapitol, um dem Jupiter seine Gebete zu verrichten, um der Minerva Opfer zu bringen. Zur Rechten des Vaters stand der überaus tapfere Hektor, Troilos zur Linken, wobei ihn der furchtsame Polites begleitete; (85) die übrige Schar der Söhne folgte dicht gedrängt. Währenddessen umringt die Schar der Töchter die Königin, und von den Schwiegertöchtern begleitet kommt sie, um fromme Gebete darzubringen: Der König folgt Helenus, die Mutter geht zusammen mit Kassandra.

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II Edition mit Übersetzung

dum pergunt et templa petunt, prorumpit in agmen pastor et attonitos elata uoce salutat: ‘sis felix, princeps, omnes saluete sodales aut fratres, ut uera feram: tu fortior Hector, culmen et urbis apex, et uiribus indolis almae Troile: frater ego, fratrem cognoscite uestrum! germanus sum uester ego Priamique propago, Hecuba mi genitrix, abdicor crimine nullo: paruus Alexander pastor nutritur in Ida. nec pastor sit uile, Phryges: ego iurgia diuum compressi, nam lite caret me iudice caelum. si credis, germana manus, nec cetera regis conscia corda negant nec mater pignus abhorret, noscite depositi uel certa crepundia, fratres.’ dixerat et testes generis proiecit in arce.  uera fides pietas quatiunt mox corda parentum, admissumque nefas generosa mente fatetur fusus in ora rubor. Paridis mox colla lacertis alligat et natum fletu gaudentis inundat conuictusque pater ueniam de prole rogabat. obstupuere omnes. mater gauisa recurrit (dat celeres pietas gressus, quos denegat aetas), mox iuuenem complexa tenet: per colla, per ora oscula diffundunt et lambere membra parentes insistunt iuuenis certatim, sed pius ardor adfectus dispensat, agens alternat utrique et uicibus cara Paridis ceruice fruuntur.  nuntius interea totam compleuerat urbem: fama uolat per templa deum, quod pastor ab Ida se uelit ostendi regni de stirpe creatum.

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93 almae N : alme Baehrens  94 cognoscite Iannelli : cognioscite N 97 nutritur N : nutritus Ribbeck Duhn 100 si N : ni Vollmer 102 fratres N : fratris Bücheler 104 uera N : uerba Ribbeck mox Iannelli : mors N 106 Paridis Iannelli : pallidis N 108 rogabat Iannelli : negabat N 112 parentes Bücheler : parentis N 113 iuuenis Bücheler : iuuenes N 114 agens Duhn : agnes N : auens Bücheler : acres Iannelli 118 ostendi Iannelli : ostendit N

II Edition mit Übersetzung

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Während sie weitergehen und auf den Tempel zusteuern, stürzt (90) der Hirte in die Prozession und grüßt die Erschütterten mit überheblichen Worten: „Sei glücklich, Herrscher, all ihr Freunde, seid gegrüßt, oder vielmehr Brüder, um das Richtige zu sagen: Du recht tapferer Hektor, Spitze und höchste Zierde der Stadt, und Troilos, von segenspendender Anlage, gemessen an deinen Kräften: Ich bin der Bruder, erkennt euren Bruder! (95) Ich bin euer leiblicher Bruder und Nachkomme des Priamus, Hekabe ist meine Mutter, ich werde verstoßen, obwohl ich kein Verbrechen begangen habe: Der kleine Alexander wird als Hirte auf dem Ida erzogen. Und es ist nicht schändlich, daß er Hirte ist, Phryger: Ich habe einen Streit unter Göttern beendet, denn weil ich der Richter war, herrscht im Himmel nun kein Streit mehr. (100) Wenn ihr (das) glaubt, Schar der Geschwister, und das um das Übrige wissende Herz des Königs nicht leugnet und die Mutter nicht vor dem Kind zurückschreckt, erkennt die Babyrasseln des ausgesetzten Kindes und damit den sicheren Beweis, Brüder!“ So sprach er und warf sie als Zeugen seiner Abstammung in die Stadt. Der echte Beweis und die Elternliebe erschüttern sogleich die Herzen der Eltern, (105) und die Röte, die sich über das Gesicht ergießt, gesteht edelmütig das zugelassene Unrecht ein. Der Vater umfaßt bald den Hals des Paris mit den Armen und benetzt den Sohn mit dem Weinen eines (Menschen), der sich freut, und, überführt, erbittet er Vergebung vom Sohn. Alle standen erstaunt. Die Mutter lief freudig zurück (110) (die Mutterliebe erlaubt schnelle Schritte, die das Alter ihr [eigentlich] versagt), dann hält sie den jungen Mann umfangen: die Eltern verteilen Küsse über Hals und Gesicht und drängen um die Wette darauf, die Glieder des jungen Mannes zu liebkosen, aber die tiefe Elternliebe teilt die Liebesbeweise ein, dies betreibend, wechselt sie bei beiden ab (115) und je nacheinander erfreuen sie sich am lieben Hals des Paris. Inzwischen hatte die Nachricht die ganze Stadt erfüllt: Das Gerücht fliegt zu den Tempeln der Götter, daß ein Hirte vom Ida wolle, daß man ihn als Nachkommen der Königsfamilie darstellt.

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II Edition mit Übersetzung

tunc Helenus uates templum dimisit et aram et procul exclamat: ‘pater impie, pessima mater, quid pietas crudelis agit, quid perditis urbem? haec est illa tuo fax, mater, prodita somno, quae simul incendet Troiam regnumque parentum; in sortem dabit illa nurus. coniurat in arma Graecia tota dolens raptum punire Lacaenae, litora nostra petent Danai cum mille carinis, Dorica castra fremunt, iam Pergama uexat Achilles, iam pugnant Danai, iam cernimus Hectora tractum, Troile, iam per bella furis, iam sterneris audax ante annos, animose puer, uirtute proteruus. sed quid fata ueto, quid fixos arceo casus, cum nihil aduersis prosit prudentia signis? me fortuna potens expectat Pyrrhus et ingens!’  dum loquitur, Cassandra uenit furibunda sacerdos et matrem complexa canit: ‘quid, mater iniqua, quid, pater infelix, quid funera nostra paratis? immemor heu pietas! uni pia mater haberis pastoremque foues, sed multis impia constas regibus, Hectoreum supplex emptura cadauer per montes per saxa datum; nec uenditur Hector integer et lacerum retines pro pignore corpus funeris Hectorei pretio maiore redemptum. me stuprum per templa manet, me pessimus Aiax inuadet pereunte domo. iam Troia crematur, sed flammis, rex, ipse cares; iamque Hecuba latrat, Astyanax Danais muro iactatur ab alto. sic praestat Bellona nurum, gener ipse Tonantis Idaeus sic pastor erit capietque triumphum, sed post ipse cadet. ueniet mox Pyrrhus ad arma, qui scindat muros, qui damnet Pergama flammis, qui Priamum gladio feruens obtruncet ad aras.

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130 animose puer Duhn : animos et puer N : animis puer et Iannelli 131–132 habet V fol. 8r 131 fixos N : flexos fixos V 133 me fortuna potens exspectat Pyrrhus et ingens Iannelli : me fortuna potens et Pyrrhus ingens exspectat N : me exspectat fortuna potens epirus et ingens Baehrens : me exspectat fortuna potens et regia pyrrhi Bücheler : me expectat fortuna potens uos pyrrhus et ignis Vollmer 141 et N : en Baehrens retines Baehrens : retinet N : rediet Bücheler 147 praestat Iannelli : perestat N 148 Idaeus Iannelli : Ideus N 150 scindat Npc : stindat Nac

II Edition mit Übersetzung

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Da verließ der Seher Helenus Tempel und Altar (120) und ruft von fern: „Verantwortungsloser Vater, schlimmste Mutter, was treibt da grausame Elternliebe, warum verderbt ihr die Stadt? Das ist jene Fackel, die in deinem Traum, Mutter, angekündigt wurde, die zugleich Troja anzünden wird und die Herrschaft der Eltern; jene wird die Schwiegertöchter in die Verlosung geben. Es verschwört sich zu einem Waffengang (125) das ganze Griechenland, empfindlich getroffen, um den Raub der Spartanerin zu bestrafen, die Danaer werden unsere Küsten ansteuern mit tausend Schiffen, die dorischen Lager lärmen, schon quält Achill Pergamon, schon kämpfen die Danaer, schon sehe ich, daß Hektor geschleift wird, Troilos, schon rast du durchs Kriegsgeschehen, schon wirst du, weil du so kühn bist, (130) vor der Zeit niedergestreckt, mutiger Knabe, ungestüm durch deine Tapferkeit. Aber was rede ich gegen das vorbestimmte Schicksal, was will ich festgesetzte Schicksalsschläge fernhalten, wo doch Vorauswissen nichts nützt, wenn die Anzeichen dagegen stehen? Mich erwartet das mächtige Schicksal und der gewaltige Pyrrhus.“ Während er noch redet, kommt Kassandra herbei, die rasend-wütende Priesterin, (135) packt ihre Mutter und weissagt: „Warum, Mutter, ungerechte, warum, Vater, Unglück bringender, warum sorgt ihr für unseren Untergang? Ach, elterliche Liebe verdrängt die Erinnerung: Einem einzigen nur gegenüber gibst du dich wie eine liebende Mutter und ziehst den Hirten vor, aber den vielen jungen Herrschern gegenüber bist du verantwortungslos, so daß du bittflehend den Leichnam Hektors erkaufen wirst, (140) der über Berge, über Felsen hingegeben wurde; und Hektor wird nicht unversehrt verkauft und du hältst anstelle des Kindes den obwohl zerfetzten, so doch für einen höheren Preis (als für einen Toten gerechtfertigt) zurückgekauften Körper des toten Hektor fest. Mich erwartet die Schändung im Tempel, mich wird Ajax vergewaltigen, der unsagbar üble Kerl, während unser Haus untergeht. Schon brennt Troja, (145) aber du selbst, König, entbehrst des Feuers (auf dem Scheiterhaufen); und schon bellt Hekabe, die Danaer werfen Astyanax von der hohen Stadtmauer. So stellt Bellona eine Schwiegertochter, so wird der Hirte vom Ida sogar Schwiegersohn Jupiters und wird einen Triumph erreichen, aber danach wird sogar er fallen. Bald wird Pyrrhus zum Krieg kommen, (150) um die Mauern einzureißen, um Pergamon dem Flammentod zu weihen, um Priamus wütend mit seinem Schwert am Altar niederzumetzeln.

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II Edition mit Übersetzung

sed quid uana cano? iam consocer esse Tonantis uult genitor patriamque premit natosque nefandus odit et Andromachen quaerit uiduare marito. Troile, quid cessas? quid parcis, fortior Hector? uos repetunt mortes, in uos mala fata feruntur, uos petit Aeacides, saeuum uos fulmen Achilles amputat, insontes poenam raptoris habetis.  prouida non credor. uos saltem surgite, ciues, rumpite complexus, quos dant per colla parentes infausto iuueni, muris depellite fratrem! ‹hic› hostis quem fata canunt, qui mortibus urbem congeret et Priamum faciet non esse sepultum. pectore Cisseo rapiatur pignus acerbum macteturque nefas et Pergama nostra pientur, placetur Iuno, placetur uirgo Minerua, sacrilegi de morte Iouem placate Tonantem; cuius postponens Vulcani laudat amorem. urbibus in multis mos est donare salutem mortibus insontum, sed uos mactate nocentem, ut liceat seruare pios. augere dolores ut resecet medicina solet membrisque salutem membrorum de parte dabit; nam corporis aegri fit iactura salus, et uires passio praestat quas auferre solet. hoc ‹hoc› assumite fratres, hoc ciues audite mei, laudate parentes: dicite pastorem gladio pietatis obire, fraterno mucrone cadat. si forte profanus hunc feriet quicumque reum, sit in urbe sacerdos: cedo; loco si forte meo pius esse recusat, pontifices Helenus Laocon, sacrata potestas, cedent oranti uel mysticus exstat uterque.’

f.22r

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152 quid Iannelli : qui N esse Iannelli : esset N 153 uult Iannelli : uulti N 154 odit Iannelli : obit N 162 ‹hic› hostis Bücheler : hostis N : hostilem Iannelli 163 congeret N : conteret Ribbeck 166 placetur Iannelli : placitur N 167 placate Iannelli : placete N 172 resecet N : releuet Bücheler : recreet Giarratano 174 salus Iannelli : solus N 175 hoc ‹hoc› Peiper : hoc N : ‹uos› hoc Iannelli : hoc ‹uos› Duhn : hoc ‹o› Baehrens 177 dicite N : ducite Bücheler 178 profanus Iannelli : profamus N 180 esse Iannelli : esset N recusat Iannelli : recucasat N 181 laocon N   182 cedent Iannelli : ced et N : cedit et Kuijper uel mysticus Iannelli : uelamysticus N : nec mysticus Baehrens : quia mysticus Bücheler exstat N: extet Iannelli : exstet Baehrens

II Edition mit Übersetzung

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Doch warum weissage ich wirkungslose Dinge? Schon (jetzt) will doch der Vater Gegenschwäher Jupiters sein und drückt die Heimatstadt nieder und haßt schändlich die Söhne und will Andromache ihres Mannes berauben. (155) Troilos, was zögerst du, recht tapferer Hektor, was hältst du dich zurück? Euch fordern eure Todesarten ersatzweise (für Helena), euch ereilen schlimme Tode, der Aeacide verfolgt euch, der wilde Blitz Achill schlägt euch den Kopf ab, obwohl ihr unschuldig seid, erhaltet ihr die Strafe, die dem Räuber bestimmt ist. Obwohl ich (das) vorhersehe, glaubt man mir nicht. Ihr Bürger wenigstens erhebt euch, (160) schlagt die Umarmung auseinander, die die Eltern dem Unglück bringenden jungen Mann um den Hals geben, treibt den Bruder aus unseren Mauern! Das ist der Feind, den die Vorzeichen ankündigen, der eine Stadt aus Toten aufhäufen und bewirken wird, daß Priamus nicht begraben wird. Der grausame Sohn soll von der Brust Hekabes weggerissen werden, (165) dieses Scheusal soll geopfert werden und so möge unser Pergamon gesühnt werden, Iuno besänftigt, die Jungfrau Minerva besänftigt werden, besänftigt Jupiter Tonans durch den Tod des Frevlers; seine (Jupiters) geliebte Frau stellt er (Paris) hintan, während er die geliebte Frau des Vulkan ehrt. In vielen Städten ist es üblich, Rettung zu geben (170) durch den Tod von Unschuldigen, ihr aber, opfert den Schädling, damit die Frommen bewahrt werden können! Die Medizin pflegt die Schmerzen zu vergrößern, um sie zu erleichtern, und wird den Gliedern Gesundheit bringen aus einem Teil der Glieder; denn der Verlust des kranken Fleisches bringt Gesundheit, und das Leiden schenkt Kräfte, (175) die es (eigentlich) zu verbrauchen pflegt. Dies, dies nehmt auf, Brüder, hört dies, meine Mitbürger, stimmt dem zu, liebe Eltern: sagt, daß der Hirte durch das Schwert der Verantwortung sterben soll, er soll durch den Dolch der Brüder fallen. Wenn vielleicht irgendein Ungeweihter diesen Schuldigen erschlagen wird, soll er Priester in der Stadt sein: (180) ich trete zurück. Wenn er aber vielleicht ablehnt, an meiner Statt Priester zu sein, werden die Priester Helenus und Laocoon, geweihte Macht, dem (zukünftig) Betenden weichen und sogar beide Priesterdiener sein.“

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II Edition mit Übersetzung

 dum canit infelix gemitus Cassandra futuros, uisus adest cunctis Phrygibus Thymbraeus Apollo, qui mercede carens conclusit Pergama muro et genus ingratum poenas persoluat auari exoptat: stupuere Phryges, tacet ipsa sacerdos. effatur: ‘quid uirgo canit? cur inuidus alter exclamat? Helenus deterret Pergama uerbis. pellere pastorem patriis de sedibus umquam fata uetant, quae magna parant. stant iussa deorum: magnanimum Aeacidem solus prosternet Achillem. Troianos regnare placet, qua solis habenae ostendunt tolluntque diem, qua uertitur axis frigidus et zona flammatur sole corusco. Troianis dabitur totus possessio mundus, tempore nec paruo Troum regnabit origo. fata manent, conscripta semel sunt uerba Tonantis, ‘imperium sine fine’ dabit. cohibete furorem. mortali diuum periet quo iudice iudex? nec hoc fata sinunt. pudor est uoluisse nocere et non posse tamen pigeat! iam nemo minetur, quem Clotho, quem Lachesis, quem uindicat Atropos ingens. scindite pellitas niueo de pectore uestes, murice Serrano rutilans hunc purpura uelet. nec pudeat, quod pauit oues: ego pastor Apollo ipse fui domibusque canens pecus omne coegi, cum procul a uilla fumantia tecta uiderem; Alcestim sub nocte pauens deus ubera pressi, Admetus intrantes haedos numerabat et agnos.’ dixerat, et Phoebum Priamus summissus adorat et grates securus agit, tacet optimus Hector.

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183 gemitus Iannelli : genitus N 184 Thymbraeus Iannelli : Thymbrens N 186 persoluat Iannelli : per soluat N ipsa Iannelli : ipse N 188 effatur N : affatus Baehrens : effera tu Ribbeck : effrenis Bücheler 192 prosternet Npc : prosterneret Nac 194 tolluntque N habet tque (tq;) in rasura 197 regnabit Iannelli : regnabi N 200 periet N : paret Iannelli 202 post tamen distinxerunt Vollmer Rossberg Diaz de Bustamante Wolff Zwierlein 203 quem ante Lachesis del. Peiper 205 rutilans Iannelli : rutulans N 207 canens N : carens Iannelli 209 Alcestim Zwierlein : Alcestam N : Alcestis Iannelli

II Edition mit Übersetzung

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Während die unglückliche Kassandra den künftigen Jammer weissagt, kommt, für alle Phryger sichtbar, Apoll Thymbraeus, (185) der ohne Lohn Pergamon mit einer Mauer umschloß und daher wünscht, daß das undankbare Geschlecht des Geizhalses Strafe zahlt: Die Phryger standen erstaunt, es schweigt selbst die Priesterin. Er spricht: „Was weissagt denn da die Jungfrau? Warum schreit der andere neidisch? Helenus erschreckt Pergamon (nur) mit Worten. (190) Die Vorsehung, die Großes vorhat, verbietet es, jemals den Hirten von seinem Familiensitz zu vertreiben. Die Befehle der Götter stehen fest: Er allein wird den mutigen Aeaciden Achill niederschlagen. Es ist beschlossen, daß die Trojaner herrschen, wo die Zügel der Sonne den Tag sichtbar machen und wegnehmen, wo der Himmel (195) kalt sich dreht und wo die Weltgegend von der gleißenden Sonne verbrannt wird. Den Trojanern wird die ganze Welt zum Besitz gegeben werden, und innerhalb einer nicht unbedeutenden Zeit wird das Geschlecht der Troer herrschen. Die Vorsehung bleibt, festgeschrieben sind ein für alle Mal die Worte Jupiters, er wird ‘eine Herrschaft ohne Ende’ geben. Gebietet eurem Rasen Einhalt. (200) Unter welchem sterblichen Richter wird der Richter über Götter sterben? Das läßt die Vorsehung auch nicht zu. Eine Schande ist es, schaden zu wollen, und es soll (euch noch) an die Nieren gehen, es doch nicht zu können. Es soll niemand mehr demjenigen drohen, den Clotho, den Lachesis, den die gewaltige Atropos für sich beanspruchen. Reißt die Pelzkleidung von seiner weißen Brust, (205) Purpur, rot schimmernd von der Purpurschnecke aus Saranum, soll ihn umhüllen. Und sich dafür zu schämen, daß er Schafe hütete, ist nicht angebracht: ich, Apoll, war selbst Hirte und habe singend alle Tiere in die Ställe getrieben, als ich fern vom Gut rauchende Dächer sah; als ich in der Nacht vor Alkestis Ehrfurcht hatte, habe ich, ein Gott, die Euter gemolken, (210) Admet zählte die eintretenden Böcke und Lämmer.“ So hatte er gesprochen und Priamus betete Phoebus gesenkten Hauptes an und dankte ihm von Sorgen befreit, es schweigt der überaus treffliche Hektor.

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II Edition mit Übersetzung

 iam regno non impar erat, sed sceptra tiaram imperium trabeas iam post caeleste tribunal totum uile putat, solam cupit addere famam maiorum titulis, uiuaces quaerere laudes, ut celet quod pastor erat. uix uiderat aulam regis, et Iliacas quaerit per litora puppes; Aegaeum sulcare fretum iam mente parabat. sic pater alloquitur iuuenem sermone uerendo: ‘nate, redux pietatis amor, bonus arbiter Idae, dic, ubi uis armare rates, ubi carbasa tendis? nusquam bella paro, regnum sub pace guberno. sed si torpor iners pudor est et turpe uacare credis, Alexander, certe legatus adesto et Telamona ducem conuentum exposce sororem Hesionem mox, nate, meam: captiua tenetur me regnante soror! dum Dorica regna peragras, dat Venus uxorem, faciet te diua maritum.’ tunc iuuenis gauisus ait ‘paremus ouantes, optime Troiugenum, nihil est quod iussa recusem.’ laetatur senior tali moderamine nati. effatur ‘tua uota, Paris, di iusta secundent, hoc tantum supplex genitor rex, nate, precatur: Iliacos proceres tres tecum pergere saltem imperio concede meo: ueneranda senectus praecipitem frenat monitis per cuncta iuuentam. egregios comites praestem, tria lumina gentis Hectore praelato, cui tota potentia cedit: Antenor, Polydamas erunt iuuenisque Dionae Aeneas cognatus adest.’ sic fatus, et omnes ut ueniant rex ipse iubet properante ministro. cum ducibus redit ipse uolans ad tecta satelles regia; cognoscunt proceres quo uela parantur. nec mora, conscendunt puppes et litora linquunt.

f.23v

f.24r

213 tiaram Iannelli : tiara N 217 celet Iannelli : cele N 222 ubi carbasa N : quo carbasa Peiper 223 bella Iannelli : bello N 226 Telamona Iannelli : talamona N conuentum Bücheler : conuentam N 227 Hesionem Iannelli : esionem N 229 dat N : det Baehrens te N : teque Iannelli diua Zwierlein : uno Npc : une Nac : una Iannelli : Iuno Duhn

233 effatur N : et fatur Iannelli 235 tecum Iannelli : te cum N 237 frenat N : frenet Schenkl iuuentam Iannelli : uiuientam N 238 tria Baehrens : tua N : tibi Bücheler 240 Dionae Iannelli : Dione N : Diones Rossberg 243 redit Iannelli : redi N 244 uela Bücheler Baehrens : bella N

II Edition mit Übersetzung

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Schon war er in ungeschmälert königlicher Stellung, aber alles, Szepter, Tiara, Herrschaft und Trabea hielt er schon nach dem Gericht über die Göttinnen (215) für wertlos, er begehrte allein eine Ruhmestat den Ehrentiteln der Vorfahren hinzuzufügen, unvergängliches Lob zu suchen, um zu vertuschen, daß er ein Hirte war. Kaum hatte er den Königspalast gesehen, da sucht er schon am Ufer nach trojanischen Schiffen; er hegte schon den Plan, das ägäische Meer zu durchfurchen. (220) So spricht der Vater den jungen Mann mit ehrwürdiger Rede an: „Sohn, zurückgekehrter Liebling des Vaters, gerechter Richter vom Ida, sprich, zu welchem Ziel willst du die Schiffe bewaffnen, wohin wendest du die Segel? Nirgends rüste ich zum Krieg, ich lenke mein Königreich in Frieden. Aber wenn untätiger Müßiggang dich beschämt und du es für schändlich erachtest, keine Aufgaben zu haben, (225) Alexander, dann sollst du mich wenigstens als Gesandter unterstützen und du sollst von Herrscher Telamon, wenn du ihn getroffen hast, alsbald meine Schwester Hesione zurückfordern, mein Sohn. Ich bin König, aber meine Schwester wird als Gefangene gehalten! Während du die dorischen Königreiche durchreist, gibt dir Venus eine Ehefrau, wird dich die Göttin zu einem Ehemann machen.“ (230) Darauf spricht fröhlich der junge Mann: „Freudig gehorche ich dir, bester Trojaner, es gibt keinen Grund, warum ich mich deinen Befehlen widersetzen sollte.“ Da freut sich der alte Mann, daß sein Sohn sich so maßvoll verhielt; er spricht: „Die Götter, Paris, mögen deine rechten Wünsche zu einem guten Ende führen; das Folgende nur erbittet demütig, mein Kind, dein Vater, der König: (235) Gib meinem Befehl statt, daß sich wenigstens drei trojanische Fürsten mit dir aufmachen: Das ehrfurchtgebietende Alter zügelt mit seinen Mahnungen die bei jeder Gelegenheit überstürzte Jugend. Ich will dir hervorragende Begleiter geben, die drei Leuchten des Volkes, wenn man Hektor einmal beiseite läßt, dem das gesamte Ansehen zufällt. (240) Es werden Antenor und Polydamas sein, außerdem ist Aeneas, Sohn der Dione, als Verwandter dabei.“ So sprach der König und befiehlt selbst, daß sie alle kommen sollen; und schon eilte ein Diener los. Schnell kommt dieser Diener mit den Helden zum Königspalast zurück; die Fürsten erfahren, zu welchem Ziel man die Segel vorbereitete. (245) Und ohne Verzögerung besteigen sie die Schiffe und lassen das Ufer hinter sich.

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II Edition mit Übersetzung

 Dardana iam Tenedon classis transibat, Abydon et Seston dimisit aquis †uouas†que Maleas; iam Salamina uident Telamonia regna petentes. ut portum tetigere rates, mox ancora mordet litus et inuentas ferrum pertundit harenas. puppibus adnexis terram Troiana iuuentus et proceres petiere simul, sed regis ad aulam linquentes mox litus eunt. quos suscipit heros hospitio Telamon. ramos frondentis oliuae portantes ad tecta ducis sub imagine pacis non pacem, sed bella gerunt; nam dicta tenebant, quae possent armare uirum, nisi iura uetarent hospitii, quae nemo parat uiolare modestus.  rege salutato postquam legatio Troiae sedit, et Antenor placida sic uoce profatur: ‘Troiugenas proceres et regis pignus ad aulam, rex Telamon, uenisse tuam quae causa coegit, insinuare decet: [et] si iusseris ipse, loquentur consortes nunc ore meo uel regia proles. Dardanides Priamus, gentis reparator et urbis, quam uestras populasse manus meminisse fatemur, iussit ab Iliaco delectos pergere regno ad tua regna, potens, germanam regis ut, heros, bellorum quam iure tenes, in pace refundas: posceris Hesionem. iacet ingens Troia fauillis excidii compressa sui, nec Pergama ductor surrexisse putat, nisi iam, rex magne, sororem reddideris regi, quae nunc captiua tenetur. turpe ducis seruire genus crimenque putatur, si non bella dabunt regi quod bella tulerunt. si pax hoc optata negat – pro rege rogaris: te repetisse puta Priamo retinente sororem; non dolor armaret, si non daret ille rogatus?

f.24v

246 iam Tenedon classis Iannelli : iam tenedon iam classis N : iam classis Tenedon Duhn Abydon Iannelli : ahdon N 247 uouasque N : cruces adposuit Gärtner : curuasque Iannelli : nocuasque Baehrens : raucasque Diaz de Bustamante : saevasque Duhn : scaeuasque Brakman : raucisque Löwe 250 inuentas N : inuitas Bücheler : umentes Rossberg : inmensas Ribbeck

256 tenebant N : gerebant Ribbeck : ferebant Baehrens 259 salutato Iannelli : solutato N 260 sedit et N : sederat Duhn : sedit ita Baehrens sic N : sub Baehrens 262 Telamon Iannelli : Talamon N 263 decet [et] si Iannelli iusseris Iannelli : uisseris N 268 potens N : petens Baehrens heros Iannelli : heios N 270 posceris Duhn : posteris N : quod potes Iannelli 272 nisi iam N (-isi iam in rasura) 276 si N : sed Vollmer pro Iannelli : por N 278 ille Iannelli : illi N

II Edition mit Übersetzung

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Schon segelte die dardanische Flotte an Tenedos vorbei, überließ Abydos und Sestos ihren Gewässern und das Vorgebirge Maleae. Schon sehen sie Salamis auf ihrer Fahrt zum Königreich Telamons. Sobald die Schiffe den Hafen erreicht haben, verkeilt sich gleich der Anker (250) an der Küste und das Eisen bohrt sich in den sandigen Grund, auf den es gestoßen ist. Nachdem sie die Schiffe vertäut hatten, machten sich die trojanische Jugend und die Fürsten zugleich auf zum trockenen Land, aber sie verließen sogleich den Strand und gingen zum Königspalast. Der Held Telamon nahm sie gastfreundlich auf. Zweige des grünenden Ölbaumes (255) trugen sie zum Haus des Helden – nur zum Schein als Zeichen des Friedens – jedoch brachten sie keinen Frieden, sondern Krieg. Denn sie hatten Worte im Kopf, die einen Mann zu den Waffen greifen lassen können, wenn dies nicht die Vorschriften des Gastrechts verböten, die kein maßvoll Vernünftiger sich anschickt zu verletzen. Man grüßt den König. Nachdem die trojanische Gesandtschaft sich gesetzt hatte, (260) sprach Antenor so mit sanfter Stimme: „Es ist nun an der Zeit dir, König Telamon, mitzuteilen, aus welchem zwingenden Grund die edlen Trojaner und sogar der Sohn des Königs zu deinem Königshof gekommen sind. Wenn du selbst es erlaubst, werden die Begleiter und sogar der Königssohn jetzt durch meinen Mund sprechen. (265) Priamus, der Dardanussohn, Erneuerer des Volkes und der Stadt, die – so sagen wir offen, daß wir uns erinnern – eure Hände verwüstet haben, befahl, daß sich ausgewählte Männer vom trojanischen Königreich zu deinem aufmachen, mächtiger Herrscher, damit sie fordern, daß du die Schwester des Königs, die du, Held, nach dem Kriegsrecht festhältst, in Frieden zurückgibst. (270) Kurz: Hesione fordert man von dir zurück. Das erhabene Troja liegt darnieder, hinabgedrückt von der Asche seines Untergangs, und der König glaubt nicht, daß Pergamon wiedererstanden ist, wenn du nicht, großer König, dem König die Schwester zurückgibst, die jetzt als Gefangene festgehalten wird. Schändlich ist es, wenn ein Führergeschlecht dient, und für einen Schimpf hält man es im allgemeinen, (275) wenn ein König nicht im Krieg sich zurückholt, was ihm kriegerische Auseinandersetzungen genommen haben. Wenn dich der Wunsch nach Friede dies ablehnen läßt, bedenke, daß du anstelle eines Königs (für den das gilt) von uns gebeten wirst. Stell dir vor, du fordertest eine Schwester zurück, die Priamus festhielte: Bewaffnete nicht auch dich der Schmerz, wenn jener Mann auf deine Bitten hin sie nicht herausgäbe?

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II Edition mit Übersetzung

quod peteris, Telamon, scelus est et fama pudoris. nascitur inuidia, Priamo regnante sororem Graiugenis seruire suam, liuor malus inde creditur: “Iliacas potuit reparare ruinas” murmur erit Phrygibus, “consortem sanguinis unam non ualuit” dicent “rector de rege mereri”.’  dixerat. at Telamon mentes armabat in iras; nam pietas affectus amor concordia proles accendunt motus in pectore fellis amari. conubium regni, thalami consortia casti scindere poscebant, et, quod mens nulla tulisset, Aiacis haec mater erat! sic incipit ore turbidus Aeacides iusta succensus in ira: ‘si pudor Iliacis aut mentibus esset honestas, excidium Troiae si pectora uicta dolerent, Herculeos comites Priami gens, praeda Pelasgum, non magis auderent in bella lacessere Graios semideum post bella ducum, quibus Ilios ingens uicta iacet. placuitne Phrygis periuria gentis soluere uos iterum? sic dudum parua luistis supplicia? Priamo, Troes, mea dicta referte: uictori quis uictus ait: “te bella gerente me maneat uirtutis honos, me praeda sequatur, praemia me laudis, me praemia cuncta triumphi expectent, sterili victor sed laude potitus et ieiunus eat”? quis regi quisue marito uel misero sic ausus ait tum uoce proterua:

f.25r

282 creditur N : oritur Iannelli : editur Rossberg : traditur Schenkl : proditur vel poscitur Ribbeck 284 mereri Iannelli : meieri N 287 accendunt Iannelli : accedunt N 290 incipit Iannelli : incipiat N (-iat in rasura) 293 uicta dolerent Iannelli : iucta dolorent N 297 placuitne Iannelli : placuit ne N periuria Iannelli : per iuria N 298 sic Ribbeck : si N

305 misero Iannelli : misericois N : modico Ribbeck tum N : cum Duhn : tam Ribbeck

II Edition mit Übersetzung

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Allein die Tatsache, daß du (noch immer) aufgefordert wirst und wir hierher kommen mußten, ist ein Verbrechen und erzeugt einen schlechten Ruf. (280) Es entsteht Mißgunst darüber, daß, obwohl Priamus König ist, seine Schwester den Griechen als Sklavin dienen muß; man glaubt daher übler Nachrede. Unter den Phrygern wird man hinter vorgehaltener Hand flüstern: ‘Er konnte Ilions Trümmer wieder aufbauen, seine Schwester’ so werden sie sagen ‘sein einzig eigen Blut, konnte der Herrscher nicht von einem König zurückerhalten’.“ (285) So hatte er gesprochen. Aber Telamon stachelte sein Inneres zum Zorn an. Denn die Gedanken an seine Verantwortung, seine Gefühle, seine Liebe, sein bisheriges Streben, für Harmonie zu sorgen, und an seine Kinder entzünden in seinem Herzen Regungen von herber Bitterkeit. Sie forderten von ihm, das königliche Eheversprechen, die anständige Eheverbindung zu zerreißen, und dabei, was überhaupt kein menschliches Herz ertragen hätte, (290) war sie die Mutter des Ajax! So begann der Aeacide aufgebracht, von gerechtem Zorn erregt: „Wenn die Trojaner Schamhaftigkeit oder ein Ehrgefühl in ihren Herzen verspürten, wenn die Besiegten in ihrem Innersten Schmerz über den Untergang Trojas empfänden, wagte das Volk des Priamus, das Beuteziel der Pelasger, (295) es nicht weiter, die Griechen, die Mitstreiter des Herkules, zu Kriegen zu reizen, nach den Kriegen, die halbgöttliche Helden angeführt haben, durch die das gewaltige Ilion geschlagen daliegt. Hat es euch gefallen, ein zweites Mal den Meineid des phrygischen Volkes zu bezahlen? Habt ihr damals eine so leichte Strafe bezahlt? Dem Priamus, ihr Troer, sagt meine Worte an: (300) Wer spricht besiegt zum Sieger ‘Auch wenn du den Krieg (sc. siegreich) führst, soll mich Ehre für meine Tapferkeit erwarten, soll ich Beute erhalten, sollen mich als Preis Lob, als voller Lohn ein Triumph erwarten, der Sieger jedoch leeren Lobpreis erhalten und armselig von dannen ziehen’? Wer spricht dann kühn mit herausfordernder Stimme so zu einem König, oder wer zu einem Ehemann (305) von sogar (nur) niedrigem Stand:

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II Edition mit Übersetzung

“conubium rescinde tuum, rumpatur honesto foedere iuncta domus, thalami damnentur amantum, festiuas extingue faces’? quis uicit, ut istud audiat Aeacides, patriam qui perculit hostis? quando tamen uictor uicti sub lege tenetur? si Priami recidiua domus manet illa tyranni post ignes reparata meos, si pendit amorem germanae rex ipse suae, pro dote sorori uel regni pars iusta detur, ne uindicet Aiax quod matri donasset auus, si Troia maneret. temporibus soceri senuit si Graia iuuentus, quam nostis per bella, Phryges – successit in armis bellipotens ducibus cunctis optata propago: est mihi bellipotens non uilis pignoris Aiax: eminet et quaerit, de qua iam gente triumphet; Thessalus Emathia fratris nutritus Achilles emicat et toruos exercet in arma biformes Patroclo populante simul Centaurica lustra; Tydides Sthenelusque fremunt Aiaxque secundus; Nestoris Antilochus Palamedes Teucer Vlixes exultant quod Troia redit, quod Pergama surgunt.’

f.25v

307 damnentur Iannelli : damnetur N (-e- in rasura) 309 Aeacides Baehrens : Alcides N perculit Iannelli : perculis N hostis Iannelli : hosti N 311 si N : sic Bücheler 312 si N : sic Bücheler 314 detur N : datur Bücheler 316 si N : sic Bücheler 317 quam N : quae Iannelli nostis Vollmer : nostris N 320 eminet N : imminet Vollmer 321 Thessalus Iannelli : Thassalus N 326 surgunt Iannelli : surgant N

II Edition mit Übersetzung

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‘Trenne deine Eheverbindung, das durch einen ehrenhaften Bund vereinigte Haus soll wieder auseinander gerissen werden, die Betten der Liebenden sollen verdammt werden, lösche die Hochzeitsfackeln aus’? Wer hat gesiegt, daß der Aeacide sich das anhören muß, der doch dem Feind die Heimat zerrüttet hat? (310) Wann jedoch begibt sich ein Sieger unter das Gesetz des Besiegten? Wenn jenes wiedererstandene Haus des Herrschers Priamus bestehen bleibt (und weiter bestehen bleiben soll), wiederaufgebaut, nachdem ich es in Brand gesetzt habe, wenn der König selbst die Liebe zu seiner Schwester bedenkt, dann soll im Sinne einer Mitgift der Schwester wenigstens ein angemessenes Stück des Königreiches gegeben werden, damit Ajax nicht das für sich als Erbe beansprucht, (315) was der Großvater seiner Mutter geschenkt hätte, wenn Troja bestehen geblieben wäre. Wenn auch die griechische Jugend, die ihr in den Kriegen kennengelernt habt, seit den Zeiten meines Schwiegervaters alt geworden ist, ihr Phryger – es ist in den Waffen eine kriegstüchtige, von allen Helden ersehnte Nachkommenschaft gefolgt. Ich habe als Sohn von nicht geringer Zukunftsbedeutung den kriegstüchtigen Ajax: (320) Er ragt hervor und fragt, über welches Volk er schon triumphieren könnte; es leuchtet der Thessaler Achill hervor, im Emathien meines Bruders erzogen, und reizt die wilden Kentauren zum Kampf, zugleich mit ihm verwüstet auch Patroklos die Höhlen der Kentauren; der Tydide und Sthenelus und der andere Ajax schnauben (vor Kampfeslust); (325) Nestors Sohn Antilochos, Palamedes, Teucer und Odysseus jauchzen, daß Troja zurückkommt, daß Pergamon sich erhebt.

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II Edition mit Übersetzung

 tunc Polydamas ait summissa uoce profatus: ‘belliger armipotens, animarum iudicis heres, rex cui de nostris est gloria summa ruinis, temperet inuidia, frangat dolor, ira quiescat. captiuam repetit, reginam frater honorat, nos et adoramus. non sic, si Troia maneret, nuberet Hesione: regnum captiua meretur, fit felix de sorte mala, fit praeda potestas, imperium de clade tenet, diadema tiaram qui tulit ipse dedit. quae sit gens Dardana, rector, exhinc nosce precor: nescit seruire subacta, quam melius regnare decet; haec imperat Argis, per quos uicta perit; dominam sibi Graecia uictrix, non famulam quaesiuit ouans. miranda per orbem mens generosa ducis, quae non uult regna grauare, cum ruerint uirtute tua: releuare iacentes et reges regnare iubes regesque creare, dum possent seruire tibi. sors cassa duelli te moderante uacat nec possunt bella nocere te uincente, potens. quis nolit uictus in armis sorte tua post bella capi? qui uicerit hostis, seruiet, et uicti melius te praesule regnant’.

f.26r

333 meretur Iannelli : meietur N 342 ruerint uirtute tua Bücheler : ruerint uritur tua N : ruerint: potitur sua Iannelli 343 creare N : creari Iannelli 344 seruire Iannelli : seruite N 346 post uincente grauiter distinxit Iannelli 347 uicerit Iannelli : cicerit N

II Edition mit Übersetzung

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Daraufhin spricht Polydamas mit verhaltener Stimme und sagt: „Waffenmächtiger Heerführer, Sohn des Seelenrichters, König, dem aufgrund unserer Trümmer höchste Ehre zuteil geworden ist. (330) Möge sich der Haß legen, möge der Schmerz brechen, möge sich der Zorn beruhigen. Als Gefangene fordert der Bruder (Hesione) zurück, aber als Königin ehrt er sie, und wir verehren sie. Und so würde Hesione nicht heiraten, wenn Troja noch bestünde: Als eine Gefangene erhält sie ein Königreich, sie wird glücklich aus tragischem Schicksal, sie wird von der Beute zur Macht, (335) sie erhält die Herrschaft aus einer Niederlage, derjenige, der ihr selbst noch die Tiara weggenommen hat, gab ihr das Diadem. Hieraus sollst du bitte erfahren, Herrscher, welch eine Familie die Dardaner sind: sie weiß nicht zu dienen, obwohl sie unterworfen ist; Herrschaft ziemt sich eher für sie. Diese herrscht über Argos, von dem besiegt sie eigentlich untergegangen ist. Das siegreiche Griechenland suchte (obschon) triumphierend (340) für sich eine Herrin, keine Sklavin. Bewundernswert ist der edle Charakter eines Helden über den Erdkreis hinweg, der die Reiche nicht beschweren will, wenn sie durch deine Kriegstüchtigkeit zusammengestürzt sind: du befiehlst, die darniederliegenden (Könige) aufzurichten, daß die Könige regieren und Könige hervorbringen, obgleich sie dir dienen könnten. (345) Wenn du regierst, geht der nichtige Kriegserfolg ins Leere und Schlachten können keinen Schaden anrichten, wenn du siegst, mächtiger Herrscher. Wer will nicht besiegt im Krieg von deinem Erfolg nach der Schlacht gefangen genommen werden? Der siegreiche Feind wird Sklave sein, aber die Besiegten werden, wenn du Herrscher bist, eher noch zu Regenten.“

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II Edition mit Übersetzung

haec legatus ait. regis iam corda tepescunt, quae fuerant accensa nimis. sic magna leonis ira fremit, cum lata procul uenabula cernens uenantis crispare manu iam uerbera caudae †naribus† incutiens spargit per colla per armos erecta ceruice iubas, iam tenditur altus dentibus illisis et pectus grande remugit (flumina tunc resonant, montes et lustra resultant): ast ubi uenator reiecta cuspide sollers sponte cadit pronusque iacet, perit ira leonis turpe putans, non dente suo si praeda iacebit, (temnit praedo cibos, quos non facit ipse cadauer, ignoscens feritate pia ueniale minatus, uenator si cesset iners): sic rector Achiuus frangitur et Phrygibus conuiuia laeta parari per septem iubet ipse dies. Cythereus et Aiax colloquium commune tenent, duo fulmina belli; regis Alexandrum iuuenem regina Pelasgum Hesione complexa fouet, germana parentis: uultibus in Paridis Priami laudatur imago.  octauo ueniente die iam sidera Phoebus elatis condebat equis, iam cuncta ruebant oceano nudante rotas stridentibus undis; tunc Anchisiades sublimi uoce profatur: ‘rex inuicte armis, felix in pace senesce, quamuis nemo ducum uos umquam in bella lacessit, ex quo Troia perit, nec uester creuerat Aiax. at modo, rex, ter cuncta domans, ter cuncta reuellens murus erit sociis, aries metuendus in hostes Aiax, magne, tuus! Priamo tua dicta loquemur.’ sic fatus. dixere ‘uale’ regemque salutant. tunc iter ad portum uertunt et litora tangunt. conscendere ratem, subducitur ancora mordax, uela leuant nautae, proras a litore torquent; puppibus incumbit uentus, mox carbasa tendit. dum fluctus scindunt, et prospera flamina crescunt.

f.26v

f.27r

350 nimis N : minis coni. Bücheler fortasse recte 352 manu N : manum Iannelli 353 naribus N : cruces adposui : natibus Iannelli : cruribus Peiper : artibus Rossberg : clunibus Duhn

360 praedo Npc : praeda Nac 361 minatus Rossberg : uenatus N : reatus Iannelli : precatus Vollmer 362 Achiuus N (u altera in rasura) : Achiuum Peiper 368 laudatur Iannelli : laudatu N 370 ruebant N : rubebant Baehrens Ribbeck 373 inuicte Iannelli : iniuncte N 374 lacessit Schenkl : lacesset N 376 post 318 transtulit Ribbeck 377 erit Bücheler : eris N sociis Npc : sotiis Nac 378 tuus N : tuos Iannelli 382 nautae Iannelli : nauae N

II Edition mit Übersetzung

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Das war die Rede des Legaten. Das Gemüt des Königs beruhigte sich schon, (350) das aufs heftigste erregt gewesen war. So faucht der große Zorn eines Löwen, wenn er, weil er in der Ferne die breiten Jagdspieße in der Hand des Jägers schwingen sieht, die Schwanzpeitsche gegen die … schlägt und, aufgerichtet der Nacken, die Mähne über Hals und Schultern schüttelt, wenn er sich in die Höhe hebt, (355) die Zähne gefletscht, und seine Brust tiefes Grollen ertönen läßt (daraufhin hallen Flüsse wider, Berge und Wälder tönen wider): Aber sobald der verschlagene Jäger, nachdem er den Spieß hat sinken lassen, von sich aus zu Boden geht und vornüber geneigt daliegt, verliert sich der Zorn des Löwen, weil er es für schändlich erachtet, wenn die Beute nicht durch seinen eigenen Biß sterben wird. (360) Es verachtet der Räuber die Nahrung, die er nicht selbst zum Kadaver macht, und verzeiht aus frommer Wildheit, indem er Gnade walten läßt, wenn der Jäger kraftlos (von ihm) abläßt: so läßt sich der König der Achiver erweichen und befiehlt selbst, daß für die Phryger ein reiches Gastmahl für sieben Tage bereitet wird. Der Sohn der Venus und Ajax, zwei Lichtgestalten des Krieges, führen ein Zwiegespräch; den Königssohn, Alexander, umhegt und umarmt die Königin der Pelasger, Hesione, die Schwester des Vaters: Man äußert sich lobend über die Ähnlichkeit des Priamus im Gesicht des Paris. Der achte Tag brach an und Phoebus (370) verbarg schon die Sterne, als er die Pferde hochgefahren hatte, schon verschwanden alle Sterne, als der Ozean die Räder freigab und das Wasser zischte; da sprach der Sohn des Anchises mit erhabener Stimme: „Im Krieg unbesiegter König, altere in Frieden glücklich, obwohl (ohnehin) euch niemand von den Helden jemals zum Krieg reizte, (375) seitdem Troja untergegangen ist; und euer Ajax war noch nicht erwachsen. Aber jetzt, König, wird er, dreifach alles unterwerfend, dreifach alles vernichtend, den Gefährten eine Mauer sein, ein furchtbarer Rammbock gegen die Feinde, dein Ajax, großer König. Wir werden Priamus deine Worte mitteilen.“ So sprach er. Sie sagten ‘Lebewohl’ und grüßten den König. (380) Dann wendeten sie die Schritte zum Hafen und erreichten das Ufer. Sie bestiegen das Schiff, der gezähnte Anker wird hochgezogen, die Seemänner setzen die Segel, sie wenden die Schiffsbuge vom Ufer weg; der Wind greift am Heck an, dann spannt er das Segel. Während sie die Fluten durchschneiden, schwellen die günstigen Winde an.

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II Edition mit Übersetzung

 Africus interea ueniens comitante procella turbidus occurrit, mox sparsit in aequore classem. gurgite curuato rapiuntur ad astra liburnae et suspensus aquis per nubila nauta cucurrit nauigium uectante salo. dum summa ceruchis sidera tacta putant et nil superesse fatentur montibus aequoreis, malo uenit altior unda naufragiumque diu ratibus suspensa minatur desuper intentans pelago ueniente ruinam. iam uentus subduxit aquas, extundit harenas pressa carina solo; murus stat celsior unda circumfusa rati, uastarum turris aquarum pendet et elati percellunt carbasa fluctus. obriguit per membra Paris, transire parabat ad legatorum propria de naue carinas. ast ubi dispersos longo uidet aequore Troas, soluitur in gemitus lacrimosae uocis amaros et sic orsus ait: ‘felici sorte creati pastores, quos terra capit, quos nulla procella concutit! haud ponti metuunt super aequora fluctus et rabidum pelagus temnunt latrantibus undis, sed celso de monte uident ut in arce sedentes pascua rura nemus fontes et flumina prata, per campos gestire pecus, pendere capellas praerupta de rupe procul dumeta sequentes: ut uirides tondent lasciuis dentibus herbas! ubera lactantes contundunt frontibus agni, dum cauda crispante tremunt mollique palato exultant potare cibos atque edere potus. mulcere balantum depressis ubera mammis decedente die noctis uenientibus umbris quantus amor, cum lacte nouo iam caseus albens formatur manibusque premit lac pastor ad orbem! candida summittit feruentes bucula tauros committitque duces armata fronte iuuencos.

f.27v

387 rapiuntur Npc : rapijntur Nac 389 summa ceruchis Baehrens : summa ceruicis N : uertice summo Iannelli 393 ueniente Iannelli : uenientem N 395 murus N : muro Baehrens : muris Bücheler 397 percellunt Baehrens : per coelum N 404 haud Iannelli : aut N 405 pelagus Iannelli : palagus N 410 ut Ribbeck : et N tondent Iannelli : tundent N 411 contundunt N : contendunt mauult Wolff 414 mulcere N : mulgere Iannelli mammis N : palmis Iannelli 415 die Iannelli : diem N

II Edition mit Übersetzung

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(385) Inzwischen kam der Africus, stürmisch eilte er heran, ihn begleitete ein Sturm, gleich zersprengte er die Flotte auf dem Meer. Durch die wogenden Wellenkämme werden die Schiffe hin zu den Sternen gerissen und, vom Wasser in die Höhe gehoben, eilt der Seemann durch die Wolken; das Fahrzeug wird von der Salzflut befördert. Als sie schon glauben, daß die Brassen die (390) Sterne ganz hoch oben berührt haben und sie eingestehen, daß nichts in den Wellenbergen überlebe, kommt eine Welle, höher als der Mast, und droht, lange dräuend, den Schiffen Schiffbruch an, kündigt von oben herab bedrängend den Untergang an, dadurch daß das Meer näher kommt. Schon blies der Wind die Wasser weg, (395) der auf den Grund gestoßene Kiel schlägt den Sand; als Mauer steht das Wasser allzu hoch und umspült das Schiff, ein Turm aus unermeßlichen Wassermassen droht von oben herab und die hochgehobenen Fluten rütteln an den Segeln. Paris erstarrte an seinen Gliedern, er schickte sich versuchsweise an, mit seinem eigenen Schiff zu denen der Gesandten hinüberzufahren. (400) Aber sobald er die auf dem weiten Meer verstreuten Trojaner sieht, ist er ganz aufgelöst in bitteren Seufzern seiner weinerlichen Stimme und beginnt so zu sprechen: „Unter einem glückverheißenden Stern sind die Hirten geboren worden, denen die Erde festen Halt gibt, die kein Sturm erschüttert. Sie brauchen die Wellen des Meers über der glatten Fläche nicht zu fürchten (405) und gleichgültig kann ihnen das wütende Meer mit seinen bellenden Wellen sein, sondern sie schauen vom hohen Berg, als säßen sie in einer Burg, auf Weideland, Feld, Wald, Quellen, Flüsse und Wiesen, sie sehen das Vieh auf dem Feld übermütig springen, wie die Ziegen über dem abschüssigen Felsen hängen, weil sie fernab den Sträuchern folgen: (410) Wie sie mit ihren Zähnen ausgelassen die grünen Gräser abfressen! Die Milchlämmer stoßen mit der Stirn gegen die Zitzen, während mit zuckendem Schwanz sie sich zitternd bewegen und sich freuen, ihre Speise mit dem weichen Gaumen zu trinken und ihren Trank zu essen. Welch ein großes Verlangen, die Euter der blökenden Schafe auszustreichen, wobei die Zitzen herunter gezogen werden, (415) wenn der Tag sich neigt und die Schatten der Nacht sich zeigen, wenn dann aus frischer Milch schon weißer Käse geformt wird und der Hirte mit seinen Händen die Milch zu einem Laib presst! Eine weiße Kuh macht sich liebestolle Stiere gefügig und läßt junge Stiere, die Leittiere mit behörnter Stirn einen Kampf austragen.

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II Edition mit Übersetzung

nam grauis est regnare labor, metus excutit ingens corda ducum, ne bella ruant, ne tela minentur exitium crudele: necis timor omnis ubique est: nam gladios tellure pauent pelagoque procellas formidant nec plena datur ducis hora quieti.’  dum loquitur, uenit unda grauis resonatque fragore et puppim percussit aquis: sublata carina tollitur et Cypro classi depulsa resedit. post signum uenere rates recidente procella et Cyprum tenuere simul. legatio sola defuit, una fretis et fluctibus acta negatur puppis in Ionium rabidis collisa procellis; Aegaeo nam pulsa caret. mox pastor harenis Dardanus exsiluit tremulis post aequora plantis et se cum sociis tacta tellure refouit.  Cypro festa dies natalis forte Dionae illa luce fuit. ueniunt ad sacra Cytheres reddere uota deae quidquid capit insula Cypros, quod nemus Idalium, quod continet alta Cythera, quod Paphon exornat, tacitas quod lustrat Amyclas. candida praeterea Iouis alitis Helena proles uenerat, absentem retinet dum Creta maritum. nuntia fama ducis totam repleuerat urbem, aduenisse Parin Troiano sanguine cretum. audit ‹ut› aduentum iuuenis Spartana decori, mox iubet et famuli ueniunt, mandante Lacaena: hospitio speratus eat, nam turpe uideri, regina praesente Paris ceu nauita uilis litus harenosum teneat. tunc hospes ad aulam peruolat Atridis socia comitante caterua. praeceptum dum carpit iter festinus ad urbem respicit ad templum Veneris, cui turba precantum uel conuentus erat; mox uertit iturus ad aras.

f.28r

f.28v

420 est labor regnare labor N 421 corda Iannelli : cordax N 422 exitium Iannelli : exitum N necis Bücheler : neci N : neces Iannelli 424 quieti Iannelli : queti N 425 fragore Npc : flagore Nac 427 classi Schenkl : classis N resedit N : recedit Bücheler 428 recidente Peiper : residente N 430 negatur N : uagatur Baehrens Ribbeck 435 Dionae Duhn : dione N : Diones Iannelli 436 Cytheres Zwierlein : Cythere N : Cytherae edd. 439 Paphon Bücheler : Paphos N lustrat N : lustret conieci 444 audit ‹ut› Rossberg : audit N : audiit Iannelli 449 peruolat Iannelli : per uolat N caterua N : catena Iannelli 450 praeceptum Bücheler : perceptum N : inceptum Bücheler 451 cui N : ubi Vollmer precantum Iannelli : precatum N 452 uertit iturus Bücheler : uertit iter N : uertit ut iret Morelli : īter uertit Iannelli

II Edition mit Übersetzung

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(420) Denn eine schwere Last ist es, als König zu regieren, eine gewaltige Angst erschüttert die Herzen von Herrschern, daß Kriege losstürzen, daß Waffen einen grausamen Untergang androhen. Überall ist die ganze Furcht vor dem Tod gegenwärtig. Denn auf dem Festland müssen (die Befehlshaber) sich vor Schwertern fürchten und auf dem Meer haben sie Angst vor Stürmen und keine volle Stunde eines Anführers ist der Ruhe gewidmet.“ (425) Während er noch spricht, kommt eine gewaltige Welle, tönt von ihrem Krachen und trifft mit voller Wucht das Heck mit ihren Wassermassen: Emporgetrieben erhebt sich das Schiff und landet, von der Flotte abgetrieben, auf Zypern. Nach einem Zeichen kamen die übrigen Schiffe, während der Sturm sich legte, und hielten gleichzeitig Kurs auf Zypern. Allein die Gesandtschaft (430) fehlte, ein einziges Schiff, von den Strömungen und Fluten getrieben, wurde von diesen (den übrigen) verweigert und war von den wütenden Stürmen ins ionische Meer verschlagen worden; denn es war, abgetrieben, nicht mehr in der Ägäis. Bald sprang der dardanische Hirte auf den Strand, nach der Zeit auf dem Meer zitterten ihm noch die Füße, und er erquickte sich mit den Gefährten daran, den Erdboden zu berühren. (435) Auf Zypern war gerade zufällig an jenem Tag das Geburtstagsfest der Dione. Man kommt zum Heiligtum der Cythera, um der Göttin als Weihgeschenke zu überbringen, was die Insel Zypern, was der Idalische Hain hergibt, was die hohe Insel Cythera enthält, was Paphos schmückt, was das schweigende Amyclae sühnt. (440) Außerdem war die strahlend schöne Helena gekommen, die Tochter des geflügelten Jupiter, während Kreta ihren abwesenden Mann zurückhält. Fama hatte mit der Nachricht von einem hohen Herrn die ganze Stadt erfüllt: Paris sei gekommen, der Nachkomme des trojanischen Geschlechts. Sobald die Spartanerin von der Ankunft des schönen Jünglings erfährt, (445) befiehlt sie sogleich und die Diener kommen, als die Lakonierin mitteilen läßt: Er möge kommen und werde mit Gastfreundschaft erwartet, denn schändlich scheine es, wenn ein Paris, während eine Königin da ist, sich wie ein einfacher Seemann am Sandstrand aufhalte. Dann eilt der Gast zum Palast des Atriden, begleitet von der Schar seiner Gefährten. (450) Während er schnell den vorgegebenen Weg zur Stadt nimmt, blickt er zum Tempel der Venus, die dort eine Schar oder eine Zusammenkunft von Betern hatte; sogleich wandte er sich, um zu den Altären zu gehen.

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II Edition mit Übersetzung

 interea niuei uolitant per litora cycni flumine contempto, placidas hinc inde columbas molliter intendunt omnes per inane uagari; quas insanus agit rapidusque sequente uolatu miluus insontes cunctas clamore fatigat, quas super accipiter uolitans grauis imminet alis. tunc sollers augur cretus de gente Melampi, quem fors ad Cyprum dederat per festa dierum ‹…………………………………………………› et sic orsus ait prorumpens uoce sagaci: ‘te oblatiua petunt auium responsa uolantum: conubium spondent praefulgens ore decoro Idaliae uolucres, de gente Tonantis olores promittunt genitam, sed miluus horrida fata: Ditis enim signatur auis, licet hora peracta tertia quippe sinat Phoebo candente uolucrem uera per immensum praesagia ferre rapacem; Martius accipiter dotem fera bella minatur.’  tunc Paris ad caelum tendens cum lumine palmas numina magna uocat puerum matremque Dionen: ‘aurea siderei proles, Venus alma, Tonantis, numina mille tenens, artes cui mille fauendi dat pater et natus supplet simul, omina firma, quae cycnus genitoris agit, quae uestra columba prodidit. infaustos opus est cohibere uolatus: Martis et inferni uolucres raptoris obuncas aufer aberrantes sacris, quibus imperat auctor Troius ille puer Ganymedes, conditor artis, et Polles, cui pinna loquax dat nosse futura.’

f.29r

453 cycni Iannelli : cycmi N 456 rapidusque Iannelli : rapidosque N 458 alis Gärtner : ales N post 460 lacunam statuit Duhn 461 et sic orsus N : sic exorsus Baehrens : is sic orsus Ribbeck 464 uolucres Iannelli : uolucies N 466 peracta Iannelli : per acta N 466–468 Hos versus intra parenthesin posuit Zwierlein 471 Dionen Zwierlein : Dionem N 474 omina Iannelli : omnia N 476 prodidit Bücheler : proddit N : procidit Iannelli 478 aufer scripsi : augur N aberrantes N : auerrunces Bücheler

II Edition mit Übersetzung

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Inzwischen fliegen weiße Schwäne über die Küste hin, den Fluß haben sie verachtet; sie nehmen wahr, daß sanfte Tauben bald von hier, bald von dort (455) allesamt ruhig durch die Luft streifen. Die jagt ein tobender Milan und rasend im Verfolgungsflug ermüdet er unter Geschrei alle, obwohl sie nichts getan haben. Über ihnen fliegend, bedroht sie mit seinen Flügeln ein unheilvoller Habicht. Da beginnt ein gewandter Vogelschauer, aus dem Geschlecht des Melampus stammend, (460) den der Zufall an den Festtagen nach Zypern gebracht hatte ‹…› so zu sprechen, wobei er mit scharfsinnigen Worten hervorbricht: „Auf dich zielen die ungefragt dargebotenen Prodigien des Vogelflugs: Eine aufgrund ihres hübschen Gesichts strahlende Ehefrau versprechen die Vögel der Venus, die Schwäne (465) verheißen, daß die Dame von Jupiter abstammt, aber der Milan kündigt grausigen Tod an, denn er wird als Vogel des Dis interpretiert, weil ja die dritte Stunde, mag sie auch gerade durch sein, es doch, obwohl die Sonne schon hell scheint, zuläßt, daß er als Raubvogel durch die Luft wahre Vorhersagen bringt; der Habicht, Vogel des Mars, droht als Mitgift wilde Kriege an.“ (470) Da hebt Paris zusammen mit den Augen die Hände zum Himmel und ruft die großen Gottheiten an, den Sohn und die Mutter Dione: „Goldene Tochter des himmlischen Donnerers, nährende Venus, die du über tausend Götter Macht hast, der ihr Vater tausende Möglichkeiten gibt zu unterstützen und der ihr Sohn sie zugleich erfüllt, bekräftige die Zusagen, (475) die der Schwan des Vaters betreibt, die eure Taube angezeigt hat. Die unheilvollen Flüge müssen aufgehalten werden: Nimm die (an Schnabel und Krallen) gekrümmten Vögel des Mars und des Unterweltsräubers, die sich von den heiligen Vögeln (in ihrer Botschaft und in ihrem Auftreten) unterscheiden, weg, denen Ganymed, jener trojanische Knabe, gebietet, Erfinder und Begründer der Kunst, (480) und Polles, dem es die ‘sprechende Feder’ (des Vogelflugs) erlaubt, die Zukunft zu kennen.“

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II Edition mit Übersetzung

 pauca precatus erat supplex et templa subibat uestibus indutus Tyriis et murice regni. Persarum chlamys ipsa fuit, quam purpura fulgens flammabat diffusa umeris; hanc fibula mordax iungit, et ornatus iuueni plus admouet aurum, quo distincta micat radians per stamina uestis. cetera turba comes Phrygio succincta decore fulgebat. delubra petens intrauit ad aras pastor et in sese cunctorum lumina uertit.  aspicit hunc errans oculis ornata Lacaena, effigiat per cuncta uirum, quibus ille decorus uestibus incedat uel qua lanugine malas umbret et in roseo prorumpat flosculus ore. laudat amans mirata uirum flammata Lacaena ignibus Idaliis; nam dudum flammiger ales matre iubente puer telo candente medullas Ledaei partus furtim iaculatus amorem usserat. at pastor repetit post sacra Dionae hospitium. regina uenit pallente rubore, nam flammis perfusa genas pallentibus ibat: fusus uterque decor manifestum uulgat amorem. pastorem pudibunda petit cohibente pauore hortaturque uirum feruens, qua stirpe creatus indicet, et fuerit qua iam uexante procella ad Cyprum pulsus. medio sermone Lacaena iam tacet et quaerit, iuuenem quibus appetat ardens dictorum uerbis. sed pastor, perfidus hospes, ut sensit fragiles mulieris pectore sensus, incipit Iliacus non quo sit sanguine cretus nec quibus excussus uentis ad litora Cypri uenerit effari – trepidus iam uoce remissa reginam laudabat amans, culpare maritum coeperat absentem, quod iam pulcherrima coniux a tepido deserta uiro neglecta uacaret, sacra Dionaeae matris uel templa petisset,

f.29v

482 indutus Npc : indutis Nac murice Npc : natrici Nac 483 Persarum scripsi : persa N : persa tamen Iannelli : perspicua Vollmer : uersicolor Bücheler : perfusa Diaz de Bustamante  485 admouet aurum Iannelli : admonet aurium N 486 quo Iannelli : quod N 490 errans Iannelli : erran N 491 decorus Npc : decoris Nac 493 et in N : ut in Ribbeck : et ut Baehrens 494 mirata Iannelli : intrata N 498 usserat Iannelli : uesserat N Dionae Duhn : dionem N : Diones Iannelli 501 decor N : color Bücheler Baehrens 506 ardens Npc : arce Nac 511 effari Duhn : et fari N : at fari Iannelli 515 templa N : tempta Bücheler

II Edition mit Übersetzung

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Weniges hatte er unterwürfig gebetet und näherte sich nun von unten dem Tempel, angetan mit tyrischen Kleidern und mit der königlichen Purpurgewandung. Er trug sogar einen persischen Mantel, den die glänzende purpurne Farbe, über die Schultern gleitend, rot strahlen ließ; diesen hält eine stechende Fibel (485) zusammen, und das Gold, durch das die Kleidung, strahlend durch die eingewebten Fäden, besonders leuchtet, gibt dem jungen Mann noch mehr an Schmuck dazu. Die übrige Schar, die ihn begleitete, angetan mit phrygischem Schmuck, glänzte hervor. Der Hirte machte sich auf zum Tempel, er näherte sich dem Altar und zog aller Augen auf sich. (490) Diesen erblickt die herausgeputzte Spartanerin, mustert ihn genau in allen Teilen, mit den Augen umherblickend: mit welcher Kleidung geschmückt er hereinkommt, oder mit welchem Flaum der blümchenhafte erste Bart seine Wangen umschattet und auf dem rosenfarbigen Gesicht hervorsprießt. Liebend, voll (verliebter) Bewunderung und entflammt vom Feuer der Venus preist die Spartanerin schwärmerisch den Mann; (495) denn gerade hatte der Flammenträger, der geflügelte Knabe auf Befehl seiner Mutter das Mark der Tochter Ledas heimlich mit einem glühenden Pfeil getroffen und hatte die Liebe zum Brennen gebracht. Der Hirte aber strebt wieder, nach dem Ende der Dione-Feier, in Richtung der Unterkunft. (500) Die Königin kommt, abwechselnd erbleichend und errötend, denn sie ging, an den Wangen mit weißen Flammen übergossen: Beide überfließende Zierden zeigen die offensichtliche Liebe deutlich. Schändlich-verschämt geht sie auf den Hirten zu, obwohl ihre ängstlich bebende Erregung sie zurückhält, und ermuntert den Mann, vor Liebe brennend, daß er ihr erzählt, aus welchem Geschlecht er stammt und von welchem heftig peitschenden Sturm (505) er eben nach Zypern getrieben worden war. Inmitten der Rede verstummt die Spartanerin schon und sucht nach den Worten, die sie sprechen und sich so, vor Begierde brennend, dem jungen Mann nähern könnte. Aber der Hirte aus Ilion, der gemeine Gast, begann, sobald er die zerbrechlichen Gefühle im Herzen der Frau spürte, nicht zu erzählen, welchem Geschlecht er entstammt, (510) und von welchen Winden er verschlagen an die Küste Zyperns gekommen sei; schon aufgeregt, mit gedämpfter Stimme pries er verliebt die Königin, begann ihren abwesenden Ehemann zu beschuldigen, daß seine überaus schöne Ehefrau, von ihrem wärmenden Ehemann schon unbeachtet verlassen, Zeit habe, (515) das Heiligtum der Mutter Dione und den Tempel zu besuchen,

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II Edition mit Übersetzung

adiungens: ‘si talis erit, quam forte merebor uxorem, sic blanda genis, sic ore modesto, sic oculis ornata suis, sic pulchra decore, candida sic roseo perfundens membra rubore, sic flauis ornata comis, sic longior artus et procera regens in poplite membra uenusto: tali semper ego dignatus coniuge felix non desim: famuler supplex et iussus adorem, conubio seruus ueniam sub lege mariti nocte dieque pauens quidnam uelit illa iubere quae specie fulgente micat. Menelaus oberrat numine contempto non dicam, coniuge pulchra, quamuis numen adest ueniens de stirpe Tonantis, unde genus duco.’ mox haec est uerba locutus, Tyndaridis faciles quatiunt suspiria sensus et sic orsa refert: ‘quae sit tua, pulcher, origo, te reticente magis dudum cognouimus omnes. est commune genus: pariter tua regna petamus, sis mihi tu coniunx et sim tibi dignior uxor. hoc nam fata iubent uel nos hoc Iuppiter urguet: uiuere me gemini iussit sub sorte mariti. conferet Atridi quisquis me duxit amator, ut uiuum linquam non iam moriente marito, post thalamos primi cui debent fata secundum.’  dixit et egressi puppes et litora poscunt. dum portus classemque petunt, respexit ad urbem pastor et ingentem uidit consurgere nubem pulueris extorti, mouit quam turba sequentum. tunc Paris adloquitur comitantem praedo rapinam:

f.30r

f.30v

516 erit Npc : erat Nac 520 ornata N : onerata Zwierlein fort. recte 521 uenusto Rossberg : uenusta N 524 mariti N : marito Iannelli : maritae Baehrens 525 quidnam N : quid iam Duhn 526 oberrat Npc : oberret Nac 529 mox N : vix Duhn Baehrens 534 sis Iannelli : sic N tibi Duhn : tui N : tua Iannelli 537 conferet Iannelli : confer et N  quisquis Iannelli : quisque N post 542 errore ut videtur versus 565 huc transpositus postea erasus est  543 extorti N : exorti Iannelli mouit Iannelli : mouet N 544 Paris Iannelli : patris N comitantem Iannelli : comitante N

II Edition mit Übersetzung

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und fügte hinzu: „Wenn es eine solche sein wird, die ich zufällig als Ehefrau verdienen werde, so reizend an ihren Wangen, so verführerisch durch ihren milden Mund, so geschmückt durch ihre Augen, so herrlich durch ihre Schönheit, an ihren so strahlend weißen Gliedern von Rosenröte überströmend, (520) so geziert mit blondem Haar, so an den Gliedmaßen länger und die schlanken Glieder in der hübschen Kniekehle lenkend, dann will ich, der ich immer einer solchen Ehefrau würdig bin, (dadurch) glücklich ihr Genüge tun: Unterwürfig will ich dienen und auf Befehl will ich anbeten, als Sklave will ich durch die eheliche Verbindung unter das eheliche Gesetz kommen, (525) nachts und tags ehrfürchtig erwartend, was denn jene befehlen will, die durch ihr glänzendes Gesicht strahlt. Menelaos hat einen Fehler gemacht, weil er, ich will nicht sagen eine Gottheit, aber eine schöne Ehefrau verachtet hat, wenn auch eine Gottheit anwesend ist, die von Jupiter herkommt, von dem ich meine Abstammung herleite.“ Sobald er diese Worte gesprochen hat, (530) rühren seine Seufzer die geneigten Gefühle der Tyndareustochter und sie begann so zu antworten: „Woher du kommst, schöner Mann, haben wir, obwohl du darüber schweigst, dennoch alle längst erfahren. Wir sind aus der gleichen Familie: Laß uns auch zusammen dein Königreich aufsuchen, sei du mir Ehemann und ich will dir eine noch würdigere Ehefrau sein. (535) Denn dies befiehlt das Schicksal und sogar Jupiter drängt uns dazu: Er hat bestimmt, daß ich unter dem Schicksal von zwei Ehemännern lebe. Welcher Liebhaber auch immer mich dem Atriden entführt, er wird seinen Beitrag dazu leisten, daß ich ihn (den Atriden) lebendig verlasse, also wenn er, mein Ehemann, noch nicht tot ist, ich, der das Schicksal nach der ersten Ehe einen zweiten Ehemann schuldet.“ (540) So sprach sie und beide verließen den Ort und eilten zu den Schiffen und zum Strand. Während sie den Hafen und das Schiff eilig zu erreichen suchten, blickte der Hirte zur Stadt zurück und sah, daß sich eine riesige Wolke von aufgewirbeltem Staub erhebt, die eine Schar Verfolger verursacht. Da spricht Paris, der Räuber zu seiner Beute, die ihn freiwillig begleitet:

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II Edition mit Übersetzung

‘Occidimus, regina, pares, nos Graia iuuentus insequitur; gladio uestigia nostra sequaci captatum peruenit iter quicunque satelles coniugis Atridis, subnixus et hospite turma, mox armatorum rapiens ad bella cohortes: et mecum fortasse cades, si tela sequentur.’ tunc Spartana refert: ‘iuuenis, quid nostra retardas pectora colloquiis? Phrygibus tamen arma capessant, rex dilecte, iube, gressus celerare ministros imperio compelle tuo. properemus ad aequor, dum uacat emissis concurrens turba ministris.’ sic effata uolens rapitur per colla tyranni iam Priami cum clade nurus: sic terga iuuenci Europam rapuere dei, cum Iuppiter ipse taurus Olympiaca produxit cornua fronte; fulmineus uector subolem famulantibus undis gaudet Agenoriam caelestia colla grauantem, cum Cadmi cognatus aquas, freta magna, secaret. ergo ubi peruenit raptor turbatus ad aequor et licet exhaustus cursu uel pondere lassus, qui gratum portabat onus, tamen ipse Lacaenam litore non posuit, media sed puppe locauit; nautae uela leuant et remis castra mouentur. adueniunt collecta manus iam classe remota et quatiunt omnes palmis in litore frontes, nunc galeas, nunc tela simul clipeosque tonantes proiciunt. uenit ipse uolans per rura maritus sudanti praeuectus equo, quem nuntius horrens fregerat ad Cyprum uenientem sacra dicare; ut conspexit amans sulcari puppibus undas et thalamos gestare suos, collisus harenis ingemit et flauos extorquet uertice crines.

f.31r

545 regina Iannelli : regna N 547 iter N : iet Bücheler : item Schenkl quicumque Iannelli : quiccunque N 548 Atridis Iannelli : aridis N : Atrides Bücheler 550 cades Ianneli : cade N 551 retardas Duhn : retardes N 554 properemus Iannelli : properamus N 555 dum (Ribbeck secutus) uacat emissis concurrens Baehrens : et uacate iussis concurrens N et uacat e iussis concurrens Vollmer : dum uacat et missis concurrit Zwierlein

556 sic effata Baehrens : sic fata N : et sic fata Iannelli tyranni Iannelli : tyrrani N (r altera in rasura) 557 nurus Npc : murus Nac 561 grauantem Duhn : grauentem N : grauare Iannelli 563 peruenit Iannelli : peruemit N turbatus Iannelli : turbatur N 570 tonantes Duhn : tonantis N : sonantes Iannelli 571 proiciunt Iannelli : puociunt N uenit ipse Iannelli : tunc uenit ipse N : tunc ipse Vollmer 572 praeuectus Giarratano : peruectus N : prouectus Bücheler 574 amans Duhn : amens N

II Edition mit Übersetzung

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(545) „Wir sterben, Königin, gemeinsam, uns verfolgen Griechenlands Männer; alle möglichen Anhänger deines Ehemanns, des Atriden, haben sich auf den Weg gemacht, um uns zu fangen, mit einem Schwert, das unseren Schritten folgt, und unterstützt werden sie von einer befreundeten Heeresmacht, bald ziehen sie die bewaffneten Truppen (mit sich) zum Krieg: (550) und vielleicht wirst auch du mit mir fallen, wenn (uns) die Schußwaffen verfolgen.“ Da antwortet die Spartanerin: „Junger Mann, warum hältst du die Erfüllung unserer Herzenswünsche mit deinem Gerede auf? Mein geliebter König, befiehl doch den Phrygern, daß sie zu den Waffen greifen, und bring die Diener mit deinem Befehl dazu, ihre Schritte zu beschleunigen: Laß uns zum Meer eilen, (555) während die Schar der Verfolger mit den Dienern, die du losgeschickt hast, zusammenstößt und leer ausgeht.“ So sprach sie, nun schon verderbenbringende Schwiegertochter des Priamus und läßt sich willentlich auf dem Rücken des Tyrannen rauben: So raubte der Rücken des göttlichen Stiers Europa, als Jupiter selbst als Stier sich an seiner olympischen Stirn Hörner wachsen ließ. (560) Der Blitze schleudernde Träger, den die Fluten unterstützen, freut sich, daß die Tochter des Agenor seinen göttlichen Hals belastet, während er als Schwager des Cadmus die Wasser, das große Meer zerteilte. Sobald also der Räuber aufgewühlt zum Meer gelangt ist, setzte er, obwohl sowohl vom Lauf erschöpft, als auch matt vom Gewicht, (565) er, der eine willkommene Last trug, die Lakonierin nicht gleich am Ufer ab, sondern stellte sie mitten aufs Schiff. Die Seeleute hissen die Segel und mit den Rudern wird die schwimmende Festung bewegt. Die versammelte Schar kommt heran, als die Flotte sich schon entfernt hat, und am Ufer schlagen alle mit den Händen an die Stirn, (570) jetzt werfen sie ihre Helme, jetzt zugleich ihre Waffen und tönenden Schilde hin. Es kommt der Ehemann selbst eilend übers Land, indem er auf einem schwitzenden Pferd voranreitet, den die schreckliche Nachricht niedergedrückt hatte, als er gerade nach Zypern kam, um zu opfern; sobald er in Liebe sah, daß das Meer von Schiffen durchfurcht wird (575) und seine Ehe dahin trägt, da klagt er, wirft sich auf den Sand und rauft seine blonden Haare vom Scheitel.

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II Edition mit Übersetzung

Hyrcanae sic saepe solent per deuia tigres affectu stimulante rapi; cum pignora mater perdit et elusa feritas pietate nocentis raptoris sectatur iter, uestigia sollers insequitur praedonis equi, sessoris anheli; ast ubi torua parens transacto flumine natos secerni conspexit aquis, redit orba dolore et gemit infrendens amissum nobile pignus: Atrides sic maestus erat de coniuge rapta.  interea Aeneas rediens legatio Troiam uenerat et Priamo Telamonis dicta reportat. sed Paridem genitor postquam non uidit amatum, plangit et albentes immundat puluere canos. Antenor Priamo pelagi narrare labores iam fletu manante genis et mille pericla coeperat: ignarus quid de pastore procella fecerit aut iuuenis classem si merserit unda nescius ore refert; hoc tantum nosse fatetur, quod pelagi rabies subuerso gurgite ponti sparserit Iliacas in tempestate carinas.  his dictis gemit aula ducis sed luctibus atris: moenia iustitio foedant et plangitur urbe, sexus uterque gemit. non pro uirtutis honore aut quod talis erat qui posset bella subire aut ingesta pati uel summis uiribus hostem frangere et ensiferas acie iugulare cohortes (quamuis Alexander si uiribus Herculis esset aemulus aut certe Meleagrum aut Thesea fortes aequaret uirtute potens, tamen Hectore magno sospite nemo Parin lugeret corde dolenti), sed regis quia natus erat, fit planctus in urbe. nam quicumque memor Heleni mox dicta tenebat, laetatur gaudens et tantum uoce dolebat.

f.31v

577 Hyrcanae Iannelli : hu canae (vel) hic canae N 578 stimulante Npc : stimulanti Nac 579 nocentis Ribbeck : nocenti N 580 sollers Npc : solers Nac 581 sessoris Iannelli : sessori N 582 transacto flumine Duhn : transactos lumine N : transiecto flumine Peiper 583 aquis Duhn Baehrens : quis N : equis Iannelli 584 pignus N (pig- in rasura) 590 Antenor Iannelli : Anteno N (-n- prior in rasura) 594 ore N : esse Baehrens 597 sed N : sub Peiper 602 acie Iannelli : aciem N 603 quamuis Iannelli : quam uis N 606 parin Npc : parim Nac 609 et Baehrens : sed N

II Edition mit Übersetzung

133

So pflegen sich oft die Tigerinnen Hyrcaniens abseits gebahnter Wege hinzustürzen, wenn sie ihre Liebe dazu treibt; wenn die Mutter ihre Kinder verliert, und die Wildheit, die von der betrogenen Mutterliebe herrührt, (580) den Weg des schädlichen Räubers verfolgt, folgt sie eifrig den Pferdespuren des Räubers, des atemlosen Reiters; aber sobald die finster dreinblickende Mutter bemerkte, daß ihre Kinder von ihr durch Wasser getrennt sind, nachdem der Räuber über den Fluß gesetzt ist, kehrt sie, nun kinderlos, aus Schmerz um und seufzt knirschend über das verlorene, edle Kind: (585) So war der Atride traurig über den Raub seiner Frau. Inzwischen war Aeneas, der Gesandte, zurückgekehrt und nach Troja gekommen und überbringt dem Priamus die Botschaft des Telamon. Aber nachdem der Vater seinen geliebten Paris nicht erblickt hat, beklagt er ihn laut und beschmutzt die weißen Haare mit Staub. (590) Antenor hatte schon begonnen, dem Priamus von ihrer Mühsal auf dem Meer und den unendlich vielen Gefahren zu berichten, während ihm Tränen über die Wangen strömten: Er erzählte, daß er nicht wisse, was der Sturm mit dem Hirten gemacht hat, oder ob das Meer das Schiff des jungen Mannes verschlungen habe, wisse er auch nicht. Er gibt zu, nur dies eine zu wissen, (595) daß das Wüten des Meeres, nachdem der Abgrund des Meeres nach oben gekehrt wurde, die Schiffe aus Ilion in einem Seesturm verstreut habe. Nach diesen Worten seufzt der Königspalast, aber von verderblichen Klagen: Die Mauern sind beschmutzt von der öffentlichen Trauer und man klagt in der Stadt, Männer und Frauen jammern. Nicht aus Ehrenbezeugung gemäß seiner Tapferkeit (600) oder weil er einer war, der gegen ihn geführte Kriege auf sich nehmen oder sie ertragen konnte oder mit größter Kraft einen Feind überwältigen und mit der Schärfe des Schwerts waffentragende Truppen erdolchen (jedoch, selbst wenn Alexander den Kräften des Herkules ebenbürtig wäre oder doch wenigstens den tapferen Meleager und Theseus (605) als Herrscher an Tüchtigkeit gleichkäme, beweinte dennoch niemand den Paris mit schmerzvollem Herzen, solange der große Hektor unverletzt ist), sondern weil er der Sohn des Königs war, erhebt sich ein Klagen in der Stadt. Denn wer immer sich an Helenus erinnerte und dessen eben gesprochene Worte im Gedächtnis behielt, freute sich jetzt jubelnd und klagte nur mit der Stimme.

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II Edition mit Übersetzung

tunc pater absenti tumulum formabat inanem, ut iacuisse putes praesenti morte cadauer. dum parat inferias genitor mactare sepulchro, non ubi corpus erat uel nil satiare cruore, per freta conspiciunt notam de litore classem. prima ratis iuuenis regali praedita signo apparet, quam serta ligant; ornata rosetis candida pepla uolant et carbasa sericus ornat, et Veneris celsa spectatur ab arbore myrtus, quam sponsus defixit ouans. occurrit ad undas Hecuba cum Priamo populi comitante caterua, suscipiunt sponsam, dat cunctis oscula pastor et patrem Priamum gaudens matremque salutans; dulcia colla tenent et uultibus oscula figunt. non inuitus adest, nec gaudet fortior Hector, quem Troilus sequitur non inuitus tamen aeger, non membris sed mente grauis; praesagia sensus concutiunt animosque [in] uiri: Mors ore cruento inter Troianas discurrit saeua cateruas, heu quantos raptura uiros, quae fata datura aut quantas per bella nurus uiduare parata! Troile, sectatur uestigia uestra Polites: sic solet umbra sequax hominem larualis imago muta sequi nec membra mouet, nisi mouerit ille quem sequitur; si cesset homo, cessabit imago uel quodcumque mouens si sederit, illa sedebit motibus et falsis ueras imitata figuras, nil faciens quasi cuncta facit: sic quoque Polites.

f.32r

f.32v

614 conspiciunt Iannelli cospiciunt N 616 ligant Iannelli : legant N ornata N : enata Bücheler 617 sericus Iannelli : seriens N 622 et conieci : at N : ad Bücheler gaudens N : gradiens Bücheler fortasse recte 624 non inuitus N : at inuitus Schenkl nec Iannelli : nen N : non Vollmer 625 non Iannelli : nec (-ec in rasura) N tamen Iannelli : attamen N : liuidus at tamen Duhn : inuidus ac tamen Baehrens 626 presagia N (-agia in rasura) 627 concutiunt Npc : congutiunt Nac [in] uiri Iannelli : in uiri Npc (ultima i in rasura) mors ore Iannelli : morsore N 628 Troianas cateruas Duhn : troianos caterua N 629 quantos Iannelli : quanto N raptura N (-ura in rasura) quae Ribbeck : atque N : et Iannelli : quot Rossberg 633 muta Bücheler : multa N

II Edition mit Übersetzung

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(610) Da errichtete der Vater für den Abwesenden einen leeren Grabhügel, so daß man hätte glauben können, daß ein Leichnam aufgrund eines aktuellen Sterbefalls dort liege. Während der Vater sich anschickt, für das Grab Totenopfer zu schlachten, wo kein Leichnam war, und nichts mit Blut zu sättigen, sieht man vom Ufer aus übers Meer die bekannte Flotte. (615) Als erstes erscheint das Schiff des jungen Mannes, versehen mit königlichem Zeichen, das Kränze umwinden; die strahlend-weißen, mit Rosen geschmückten Segel fliegen und Seidenstoff schmückt das Segeltuch; und vom hoch aufragenden Mastbaum (hängend) kann man den Myrtenkranz der Venus sehen, den der Bräutigam jubelnd anbrachte. Zum Meer eilt (620) Hekabe mit Priamus, wobei sie eine Volksmenge begleitet, sie nehmen die Braut in Empfang, der Hirte gibt allen Küsschen, während er sich über seinen Vater Priamus und seine Mutter sowohl freut als sie auch begrüßt; sie halten den geliebten Hals und drücken dem Gesicht Küsse auf. Nicht unwillig ist der sehr tapfere Hektor da, aber er freut sich nicht, (625) dem Troilos nicht unwillig, aber doch bekümmert folgt, gewichtig nicht aufgrund seines Körpers, sondern aufgrund seines Sinnes: Vorahnungen erschüttern Gefühle und Gedanken des Mannes: Der Tod eilt mit blutigem Maul wütend zwischen der trojanischen Scharen hin und her; ach wieviele Männer wird er dahinraffen, welches Verderben wird er anrichten (630) und wieviele Schwiegertöchter im Krieg zu verwitwen ist er bereit! Troilos, euren Spuren folgt Polites. So pflegt der stets folgende Schatten, ein gespensterhaftes Bild, stumm einem Menschen nachzufolgen und bewegt nicht die Glieder, außer derjenige, dem er folgt, bewegt sie; wenn der Mensch aufhört, sich zu bewegen, wird (auch) das Bild aufhören, sich zu bewegen, (635) oder wenn er sich, irgendeine Bewegung ausführend, niedersetzt, wird es sich setzen und wird mit unechten Bewegungen echte Figuren nachahmen. Es tut nichts, so als ob es alles machte: So auch Polites.

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 duxerat uxorem pastor cum sorte sinistra; iam muros, iam tecta petunt, iam regis ad aulam intratur sponsamque tegunt sua flammea pulchram, iam thalamis ornata sedet. saltatur in urbe, tympana iam quatiunt, iam rustica fistula carmen pastorale canit. lituus nil dulce remugit, fescennina silent et bucina bella minatur; nec molles tuba rauca sonos dedit, aere canoro increpat arma duces clipeos et mille carinas; classica Tydidis committere bella putares.  ite pares sponsi, iam somnia taetra probastis matris et ornati misero flammastis amore ostensam sub nocte facem, qua Troia cremetur, qua Phryges incurrant obitum sine crimine mortis. sanguine Troiano dabitur dos, clade Pelasgum ditetur Ledaea fugax per castra propago, orbentur superi, caelum gemat et mare plangat: crimen adulterii talis uindicta sequatur.

638 duxerat Iannelli : dixerat N 640 intratur Iannelli : intratu.ri Npc : intrati.ri Nac 642 tympana Iannelli : typana N rustica Npc : fistula Nac 648 somnia Baehrens : omina N 649 matris Rossberg : martis N ornati N : armati Iannelli 650 ostensam Duhn Baehrens : ostensa N : obtenta Iannelli post 655 τέλος N

II Edition mit Übersetzung

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Unter unheilvollem Los hatte der Hirte seine Frau geheiratet. Schon suchen sie die Mauern und die Häuser auf, schon (640) betritt man den Königspalast und ihr feuerroter Brautschleier bedeckt die schöne Braut, schon sitzt sie geschmückt auf dem Ehebett; man tanzt in der Stadt, schon schlägt man die Tamburine, schon läßt die ländliche Flöte ein Hirtenlied ertönen. Das Signalhorn läßt keinen süßen Ton erklingen, die fröhlichen Lieder schweigen und die Trompete droht Krieg an. (645) Auch gibt die dumpftönende Tuba keine weichen Klänge von sich, mit klingendem Metall ruft sie Waffen, Heerführer, Schilder und tausend Schiffe tönend herbei. Man hätte glauben können, daß die Kriegstrompete des Tydiden zum Kriegsbeginn bläst. Geht nur gleich beide als Brautpaar, ihr habt schon die grauenhaften Träume der Mutter bestätigt und habt, geschmückt mit elender Liebe, (650) die in der Nacht (im Traum) gezeigte Fackel entzündet, mit der Troja verbrannt werden soll, mit der die Phryger dem Untergang anheimfallen ohne ein todeswürdiges Verbrechen begangen zu haben. Ein Hochzeitsgeschenk wird mit trojanischem Blut gezahlt werden, mit dem Verderben der Pelasger soll die mit dem Kriegsschiff geflohene Tochter der Leda beschenkt werden, Götter werden ihrer Kinder beraubt, der Himmel weint und das Meer trauert: (655) So eine Strafe folgt auf das Verbrechen des Ehebruchs.

III KOMMENTAR Der vorliegende Kommentar schließt eine der größten noch verbliebenen Lücken in der Erschließung des dracontianischen Corpus, indem er sich das längste und als einziges bisher unkommentiert gebliebene Epyllion des Dichters zur Grundlage nimmt. Daher will er (auch mit Hilfe der beigegebenen Übersetzung) einen Zugang zum ‘Raptus Helenae’ bieten, der auf verschiedenen Ebenen verläuft. Zunächst soll das grammatische und lexikalische Verständnis gesichert, sowie eine Erklärung der Realien gegeben werden. Das Beibringen von Vorbild- und Parallelstellen soll dazu dienen, den Dichter in der Literaturtradition zu verorten und wird an vielen Stellen seinen einfallsreichen Umgang mit der vor ihm entstandenen Literatur anzeigen.1 Dabei sind solche intertextuellen Anspielungen (oder Reminiszenzen) zu unterscheiden von Junkturen, die bloßes Formelgut zu sein scheinen und die Dracontius als gebildeter Autor im Kopf hatte, so daß sie ihm auch unbewußt in die Feder geflossen sein können.2 Die Kommentierung ist so angelegt, daß fast jedem Abschnitt eine kleine Einleitung vorangestellt ist, in der – abhängig von der Relevanz – Traditionslinien eines Motivs oder Kurzinterpretationen des Textstücks gegeben werden. Die jeweilige Einzelkommentierung und diese Einleitung sind als Einheit zu verstehen und sollen auch gemeinsam rezipiert werden. Grundsätzlich mögen sich hier und da von Abschnitt zu Abschnitt Dopplungen ergeben, die jedoch der Funktionalität des Kommentars geschuldet sind, der oft nur zu bestimmten Stellen konsultiert werden wird.

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Anders als KAUFMANN 2006 (b) zu zeigen versucht, spielt Dracontius sehr wohl mit Bedacht auf seine Vorbilder an und übernimmt nicht gedankenlos Junkturen von ihnen. Wird eine bewußte intertextuelle Anspielung vermutet, wird diese inhaltlich meist kurz ausgeführt.

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III Kommentar

PROOEM 1–60 Das Prooem kann folgendermaßen gegliedert werden:3 1–30 Eng gefaßtes Prooem 1–10 Themenvorstellung 1–6 Konkrete Themenstellung 7–10 Exkurs über die Rolle der Mutter bei der Befruchtung 11–30 Homer und Vergil und Dracontius 11–21 Homer und Vergil als Inspirationsquellen, thematisch und sprachlich 22–30 Verhältnis des Dichters zu Homer und Vergil 22–23 Der uilis uates gegen die Musagenes 24–27 Gleichnis zur Verdeutlichung des Verhältnisses 28–30 Bitte um Inspiration 31–60 Erweitertes Prooem 31–48 Das Parisurteil und seine Folgen 31–39 Das Parisurteil und seine Problematik 40–48 Die Folgen für Paris, seine Familie, seine Stadt und ganz Griechenland 49–54 Hochzeit von Peleus und Thetis und Verweigerung der Hesione als mögliche Kriegsgründe 55–56 Zorn der Götter als möglicher Kriegsgrund 57–60 Die fata als Kriegsgründe Das Prooem dieses Gedichts, das mit seinen 60 Versen4 und damit fast einem Zehntel des Gesamtwerks eine erstaunliche Länge einnimmt, beginnt mit einer Themenvorstellung. Zunächst wird ganz knapp, in zweieinhalb Versen, das Vorhaben des Dichters umrissen: Er will sich die Reise des trojanischen Räubers und den Raub der Helena zum Gegenstand nehmen. Daß Troiani praedonis iter zuerst genannt wird und erst danach raptum Lacaenae (1), kündigt die Gewichtung an, die sich im Gedicht zeigen wird: Hauptsächlich wird es um die Reise des Paris gehen, der Raub der Helena ist davon ein kleiner Teil.5 In einer Spezifizierung des Themas wird der 3

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5

Zur besseren Orientierung wird die Gliederung vor jedem Abschnitt erneut geboten. Für die Gesamtgliederung des Gedichts s. S. die Einleitung Kap. 2.1.1. Der für diese Stelle einschlägige Aufsatz GABRIELA ANDREA MARRÓN: Análisis del proemio del De raptu Helenae de Draconcio. Inserción genérica y programa poético, in: FLORIO, RUBÉN: Varia et diversa. Épica en movimiento: sus contactos con la Historia, Santa Fe 2018, 176–206 konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. ZWIERLEIN 2017, 98, WOLFF 2011, 100 und 2016, 179, DE PRISCO 1992, 223, GRILLO 1988, 115 lassen das Prooem nach 30 Versen enden. Ich folge SIMONS 2005, 222 und BRETZIGHEIMER 2010, die sich für ein 60-Verse-Prooem aussprechen. S. auch unten zur Gegenüberstellung mit dem ‘Aeneis’-Prooem S. 145 und S. 40, Anm. 124. Ab der guten Mitte (385) beginnt der Seesturm, der Helena und Paris zueinander führt, aber erst 220 Verse vor Ende des Gedichts erreicht Paris Zypern.

Prooem 1–60

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Protagonist des Gedichts als Feind jeglicher ehelicher und familiärer Verbindungen dargestellt,6 den es zu überführen (prodimus, 3) gilt. Das Problematische am Raub einer Frau wird in den folgenden vier exkursartigen Versen (7–10) deutlich gemacht: Die Mutter ist Grundlage der menschlichen Fortpflanzung und Generationenfolge.7 Mit ergo (11) eingeleitet wendet sich der Blick zurück auf das Thema, das nefas Paridis, das darzustellen nur mit Hilfe möglich ist (ut … narrare queam, 12). Daher wendet sich der Dichter an den großen Homer, der für jeden Dichter zur Inspirationsgottheit werden soll (14f.); die Muse muß dabei hintanstehen. In einem Relativsatz (17f.) nennt der Dichter einen kleinen Teil des Inhalts der ‘Ilias’: Die Zusammenführung der beiden Parteien zur kriegerischen Auseinandersetzung. In einem weiteren Relativsatz (19–21) wird auf Vergil angespielt – allerdings ohne namentliche Nennung, sondern allein aus dem Inhalt seines Epos ersichtlich: Ausschließlich aus dem zweiten Buch werden zwei Szenen der ‘Iliupersis’ angeschnitten (das hölzerne Pferd und der Tod des Pyrrhus). In einem letzten Abschnitt (22–27) stilisiert der Dichter sein eigenes Verhältnis zu den beiden großen Epikern, zunächst durch Musagenes auf der einen und uilis uates auf der anderen Seite, dann etwas breiter ausgeführt in einem Gleichnis von Löwen und Füchsen, die sich an den übriggebliebenen Brocken der großen Raubtiere gütlich tun.8 Schließlich werden beide Dichter anstelle einer Muse um Hilfe angesichts des gestellten Themas gebeten (uulgate, precor, 29). Am Anfang der zweiten Prooemhälfte steht eine von juristischen Termini durchsetzte, voraussetzungsreiche Schilderung des Parisurteils und seiner Folgen (31–48), von dem zwei Verse auf eine Ekphrasis der Lokalität fallen (32f.). Nach dem Prozeß jedenfalls geht Paris selbst als schuldiger Angeklagter hinaus, weil er ein Urteil über Göttinnen gesprochen hat (die zu zwei Dritteln verachtet und zornig verschwinden) und dazu noch um ein Bestechungsgeld (39). Doch nicht nur Paris, sondern seine Eltern, Brüder und Familie, ganz Troja, und noch weiter, ganz 6 7 8

Zu beachten ist die Menge juristischer Termini, wie etwa iura (4), foedera (5), consortia (5) (SANTINI 2006, 33ff., WASYL 2011, 33). Auch hier dürfte es sich um eine Art juristischer Aussage handeln (SANTINI 2006, 36). STOEHR-MONJOU 2014, 84 spricht ihm, im Gegensatz zu AGUDO CUBAS 1978, 278f. den Gleichnischarakter ab und nennt es „un récit allégorique“, weil ein das Gleichnis einleitender Ausdruck fehle. Aber schon in der Antike wird (gerade in der Rhetorik, aus der Dracontius letztlich kommt) zwischen vom Autor explizit an den Sachzusammenhang angeschlossenen (also durch Zusatz irgendeines Vergleichswortes) und eher locker angefügten Gleichnissen unterschieden (Quint. inst. 8,3,77 similitudo libera et separata und similitudo cum re conexa). So mag sich vielleicht der Vergleich der Füchse und Löwen formal nicht als homerisch charakterisieren lassen, aber doch als Gleichnis (der „forte dimension métapoétique“, die STOEHR-MONJOU betont, tut dies freilich keinen Abbruch). Denn eine der Hauptfunktionen, die Verdeutlichung der inneren Verfassung (PATZER 1996, 118; 121), erfüllt dieses Gleichnis ganz sicher. Hinzuweisen ist zur Illustration außerdem auf das Gleichnis, das in der Kassandra-Rede verwendet wird und ebenfalls ohne Einleitewort auskommt (171; STOEHR-MONJOU erwähnt es gar nicht). Für die Verortung in der rhetorischen Praxis bietet STOEHR-MONJOU 2014, 85 sogleich selbst ein Argument, indem sie die in Romul. 8 stets verwendete „banale“ Einleitung mit sic auf den Gebrauch in der Rhetorik zurückführt (sie betont den „Signalcharakter“).

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III Kommentar

Griechenland würden in den Streit hineingezogen und müssen für ein zunächst sehr fremdes Problem büßen (40–48). Kurz angerissen werden nun die Hochzeit von Peleus und Thetis (49–50a) und Hesione (50b–52a), die ihrem Bruder nicht wieder zurückgegeben wird. Es folgen mit sic als Anapher eingeleitete Fragen (52–60) nach den Gründen für Raub und Krieg. Zu den schon genannten Möglichkeiten treten der Zorn der Götter und die fata. Diese werden im letzten Teil des Prooems ausführlich charakterisiert, als unaufhaltsam und nicht zu bändigen (57–60). Prooemientypisch sind die programmatischen Aussagen über das Selbstverständnis des Dichters und das Verständnis seines Werkes: Schon die Themenstellung iter raptumque (1) ‘Reise und Raub’ erinnert mit ihren beiden Akkusativen deutlich an das ‘Aeneis’-Prooem arma uirumque und deutet damit ein Werk in der Tradition des großen lateinischen Epikers an, wie der Dichter später noch konkret ab V. 19 ausführt. Die erste direkt ausgesprochene programmatische Aussage findet sich in Vers 3 mit aggrediar meliore uia.9 Dracontius zeigt sich darin also gleich zu Beginn des Gedichts selbstbewußt, indem er angibt, sein Thema methodisch besser zu behandeln. Die Erklärung und Begründung folgt sogleich im Anschluß: prodere ist das Wort, auf das es ankommt; also nicht ein einfaches canere, was in dieser Situation an die Tradition anschließend üblich wäre, sondern ein deutlich juristisch10 gefärbter Terminus, der das Verhältnis des Dichters zu seinem Protagonisten herausstellt.11 Für die Programmatik des Gedichts bedeutet dies, daß Dracontius keine neutrale Rolle einnimmt, wie es die Grundhaltung eines epischen Erzählers wäre, sondern von Anfang an seine Haltung dem Stoff, insbesondere dem Protagonisten und seinem Verhalten gegenüber, klar herausstellt.12 In diesen Zusammenhang gehört auch die Qualifizierung der Tat des Paris als pastorale scelerati pectoris ausum (2) und als nefas (11). Damit liegt eigentlich kein epischer Stoff mehr vor. Weder ein Held noch eine Heldentat sind Gegenstand des Gedichts, sondern ein Verbrechen.13 Die zweite programmatische Aussage bezieht sich auf Tradition und Vorbilder des Dichters. Als Inspirationsquelle ruft Dracontius nicht die Musen an, sondern Homer, der ihm bei der Ausformung der Worte und der Ausformulierung beistehen soll (12–16)14. Daß er sich an den Archegeten des Epos und damit an den 9 Zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten s. den Kommentar zu Vers 3. 10 S. den Kommentar zu Vers 3. 11 Später auch das einigermaßen unübliche narrare 12. Vgl. zur Unterstützung der Beobachtung auch den Anfang der ‘Medea’ (Romul. 10), wo es uulgare und monstrare heißt (1 und 2). 12 Für diese Vorgehensweise als Element des Epyllions s. zur Gattungsfrage die Einleitung 2.2. 13 Die erste Hälfte des Gedichts ist mit iter recht neutral zusammengefaßt. Könnte man auch nach dieser Themenstellung meinen, Dracontius konstruiere eine Art Antihelden, jemanden der sein Schurkenstück heldenhaft ausführt, so wird sich doch im Laufe des Gedichts erschließen, daß Paris nicht einmal dazu fähig ist. 14 Zu den textkritischen Problemen und einer ausführlicheren Einleitung zum Abschnitt s. z. St. im Kommentar. Sprachlich sieht Dracontius zwischen seiner Kleinform und dem großen Epos offensichtlich keinen Unterschied – die Feinheit der Diktion, die in blandifluus gehört werden

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Archegeten einer epischen Sprache wendet, tritt 14f. offen zutage. Denn dort verallgemeinert er sein dichterisches Programm auf alle Dichter, die in die aonische Quelle hinabsteigen15, also zu dichten beginnen, daß sie sich aus diesem Grund Homer als Inspirationsgottheit erwählen. Wenn auch nicht weit ausgeführt, so klingt darin doch das Motiv einer Dichterweihe an. Dracontius stellt sich so in die pagane Tradition der Dichterinitiation, die mit Hesiod beginnt.16 Diese allgemeine Aussage bezieht der Dichter, zurück in der ersten Person, auf sich mit einer entschiedenen Leerstelle des Musenanrufs: nec dico Camenae / te praesente ‘ueni’ (15f.).17 Der Geist Homers wird ihm genügen. Dieser Satz bildet genau die Mitte des elf Verse umfassenden (und damit längsten) Abschnitts des engeren Prooems. Er erhält auf diese Weise eine prominente Stelle und muß so als besonders deutlich programmatisch gelesen werden: Dracontius schließt sich an die hohe Epik an, an den ersten Epiker, der zum Vorbild für alle folgenden geworden ist.18 Ob aus diesem Bescheidenheitstopos, der die auch jetzt noch greifbare Lebendigkeit Homers (qui post fata uiget, 17) betont, hauptsächlich der Wunsch klingt, selbst solch einen Nachruhm zu erhalten, ist schwer zu sagen.19 Fest steht in jedem Fall, daß die Präsenz Homers

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kann und die eher der alexandrinischen Dichtung anzugehören scheint, gesteht der Dichter auch Homer zu, dessen Diktion grundsätzlich sehr beliebt gewesen ist (BRETZIGHEIMER 2010, 367). Bei der aonischen Quelle handelt es sich entweder um Aganippe oder um Hippocrene, deren Unterscheidung aufgrund der Uneinigkeit verschiedener Autoren schwerfällt, die aber doch beide häufig mit der epischen Dichtung in Verbindung gebracht werden. Es spricht einiges dafür, daß es sich bei Dracontius um die Quelle Hippocrene als für die epische Dichtung zuständig handelt (vgl. Prop. 3,3,1ff.; s. für eine ausführliche Auseinandersetzung KROLL 1924, 29, KAMBYLIS 1965, 203 und besonders RIESENWEBER 2007, 273ff.). Hes. Theog. 22–35. Für die Dichterweihe s. KAMBYLIS 1965. Die Absage an die Musen ist m. E. anders geartet als die Pers. prol. 1–7, die BRUGNOLI 2001, 73 zusammen mit Ov. Pont. 4,2,45–50 als Vorbildstelle postuliert. Denn bei Persius wird das Bild vom Trinken aus der Quelle gänzlich ironisiert. Dagegen ist es bei Dracontius ein Bild für das Dichten. Dracontius sagt, anders als Persius, den Musen nicht als semipaganus ab, sondern weil er eine bessere, hilfreichere Inspirationsquelle besitzt. BRUGNOLI 2001, 72f. (s. auch BRUGNOLI 1998, 196f., der weitere Parallelen beibringt, die jedoch keine wörtlichen Reminiszenzen sind: Ps. Claud. carm. min. app. 2,1–6, Sidon. epist. 8,9,5 vers. 1–4, Sidon. epist. 9,13,5 vers. 96–99) und WASYL 2011, 33 und Anm. 86 postulieren eine recusatio der großen epischen Tradition, indem Dracontius voller Selbstbewußtsein seinen eigenen Weg geht. Von einer Ablehnung der Dichtertradition kann aber keine Rede sein. Jeder, schreibt er, der sich in die aonische Quelle begibt, ruft Homer an. Damit ist die Quelle ein Motiv für das Dichten an sich und zwar das Dichten in der Tradition, die von Homer angeführt wird. Daß damit natürlich Selbstbewußtsein verbunden ist, wurde schon erwähnt. Bei dieser recusatio der Muse gegenüber handelt es sich aber sicher auch nicht um einen Ausdruck der Gattungswahl, wie sie BRETZIGHEIMER 2010, 364 vorschlägt, denn warum sollte dann nicht eine explizit für das Epos zuständige Muse genannt worden sein? Der Dichter spielt mit den epischen Gattungskonventionen, zu denen ein Musenanruf gehört: Statt auf die göttliche Inspiration zu hoffen, wendet er sich an die Archegeten des Epos, also die „Handwerker“ auf diesem Gebiet. Zum Problem, ob Dracontius Griechisch konnte, und damit, ob er Homer im Original gelesen hat, s. die Einleitung Kap. 1.2. Vom Verlangen nach diesem Ruhm geht BRETZIGHEIMER 2010, 365 aus. Das Oszillieren zwischen Bescheidenheit und Ruhmstreben betont WASYL 2011, 32.

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III Kommentar

den Dichter in diesem konkreten Moment unterstützen kann. Der Anschluß an die traditionsreiche epische Dichtung, die aus dem Epyllion allenthalben aufscheint, ist von größter Wichtigkeit. Aufscheinen mag aber im Vorzug Homers gegenüber den Musen auch das ‘Annalen’-Prooem des Ennius, wo dieser von einem Traum berichtet, in dem Homer ihm seine Inkarnation in ihm offenbart. Den Sinn dieses Traumes sieht SUERBAUM20 in einem „Bekenntnis zu Homer und daneben“ dem „Ausdruck eines hohen dichterischen Selbstbewußtseins“. Dracontius würde sich, indem er nur den sensus des griechischen Epikers beanspruchen würde, deutlich geringer einordnen, schlösse sich aber wiederum selbstbewußt an Ennius, den eigentlichen Begründer des römischen Epos an.21 Ebenfalls richtungsweisend für den sich anschließenden Text ist die Leerstelle, die sich nach dem stichwortartigen Inhaltsumriß der Dichtungen Homers und Vergils ergibt (17b–21, Beginn und Ende des trojanischen Krieges), nämlich eine Beschäftigung mit den Ursachen für diese heftige kriegerische Auseinandersetzung. Dies wird sogleich in einen Bescheidenheitstopos22 gekleidet und als ‘Rest’ gekennzeichnet (quidquid contempsit uterque / scribere Musagenes, hoc uilis colligo uates, 22f.). So wie es sich stets für den Topos der affektierten Bescheidenheit feststellen läßt, ist er auch hier auf zweierlei Arten zu verstehen. Auf der Ebene der reinen Wortbedeutung stellt sich Dracontius weit hinter seine Vorbilder (contemnere, uilis uates gegenüber Musagenes) und läßt sein Werk weit geringer erscheinen als das der beiden großen Epiker. Andererseits schließt er sich aber ihnen auch direkt an, vervollständigt sozusagen die noch nie in der Gesamtheit behandelte Geschichte um den trojanischen Krieg, und reiht sich ganz vorn direkt hinter den ‘Großen’ ein.23 Mit einem Gleichnis (24–27) als typisch epischem Element exemplifiziert der Dichter das Verhältnis zwischen sich und seinen Vorbildern. Dracontius stellt sich den Füchsen gleich, die sich freudig über die übriggebliebenen Knochen von Raub und Fraß der Löwen hermachen. Der Stoff wird dabei als nuda ossa (27) qualifiziert, also tatsächlich als so ziemlich das Wertloseste. Dennoch ist die Freude auf Seiten der Füchse groß, die auf diese Weise immerhin überhaupt zu etwas Essbarem kommen, denn an den Knochen kann man zumindest herumnagen. So ist auch hier wieder das doppelte Verständnis offensichtlich: Einerseits ist der Rest nur übriggelassen und auf den ersten Blick nichts wert, andererseits sind es die Überbleibsel der gefährlichsten und erhabensten Raubtiere überhaupt, denen die Füchse des Gleichnisses am nächsten stehen.24 20 21 22 23

SUERBAUM 1968, 101f. BRETZIGHEIMER 2010, 365f. Für die affektierte Bescheidenheit s. CURTIUS 81973, 93ff. Anders WASYL 2011, 33, die meint, Dracontius sei so selbstbewußt, daß er eine Imitation der Großen nicht nötig habe. Er nenne nur ihre Namen als Zeichen der früheren Bedeutung ihrer Kultur. 24 WOLFF 2009, 138f. (s. auch AGNÈS ROUVERET: Histoire et imaginaire de la peinture ancienne, Rom 1989, 353 Anm. 144 und 395) verweist auf ein ähnliches Motiv, das der griechische Maler

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Als letztes deutliches Zeichen im ersten Teil des Prooems dafür, daß Homer25 und Vergil für den Dichter die traditionelle Funktion der Musen übernehmen, erfolgt die Bitte an beide, Gründe für den Raub der Helena offenzulegen. Im erweiterten Prooem fehlt weitgehend eine offene Programmatik. Die Anklagehaltung gegenüber Paris, die sich zu Beginn des Gedichts gezeigt hatte, entwickelt sich hier aus der Schilderung des Parisurteils heraus (35. 40a). Als sekundär, weil nicht explizit ausgedrückt, programmatisch könnten die vielen Rechtstermini gelten, die sich im Prooem zu Hauf, mal gedrängter, mal weniger gedrängt finden. Das schon erwähnte prodere (3), die iura mariti (4), die foedera coniugii (5) stimmen den Leser schon gleich zu Beginn auf eine rechtliche Angelegenheit ein. Mit den programmatischen Aussagen wird das Gedicht, wie gesehen, nach mehreren Seiten hin vorbereitet, unter denen der Anschluß an die epische Tradition hervorragt. Insgesamt betrachtet kann das Prooem zu Romul. 8 in der Tradition epischer Prooemien verortet werden. Strukturell ist es recht nahe an das vergilische ‘Aeneis’Prooem angelehnt.26 Dort findet sich in den Versen 1–11 das engere Prooem, das wiederum in Themenstellung (1–7) und Musenanruf (8–11) unterteilt werden kann, und darauf folgend 12–33 das erweiterte Prooem mit einem Blick auf die Vorgeschichte. Diese Struktur ist der unseres Prooems vergleichbar; es wird durch Zerdehnung erweitert, und zwar sowohl in Bezug auf die Länge, als auch in Bezug auf Galaton der Überlieferung nach (Aelian var. hist. 13,22) auf einem Bild festgehalten hatte, auf dem dargstellt war, wie sich die Dichter Inspiration aus dem holen, was Homer erbricht (anders als bei Dracontius ist dies aber sehr viel drastischer und sicher auch kritischer zu verstehen; CARL ROBERT: Galaton, RE 7, 1, 559). GALI MILIĆ 2010, 183 und Anm. 12 verweist auf die Überlegungen bei Aischylos über tragische und epische Dichtung (Athen. 8,347e = test. 47, Aesch. ed. Wilamowitz 1914, 16). 25 Ihm scheint insgesamt der Vorrang gegenüber Vergil eingeräumt zu werden (STOEHR-MONJOU 2015, 231), was sich an mehreren Dingen ablesen läßt: Er wird zuerst und dazu noch namentlich genannt. Er erhält zweimal ein qualifizierendes Adjektiv (grandis und sanctus). Zunächst unerheblich, ob absichtlich oder unbewußt, nimmt Dracontius teil an einer der größten literarischen Auseinandersetzungen der Antike und der Folgezeit – dem ‘Homer-Vergil-Vergleich’. Bis um das Jahr 1500 folgte man dem Urteil des Quintilian, der Homer den knappen Vorrang vor Vergil zugestand: utar enim uerbis isdem, quae ex Afro Domitio iuuenis excepi, qui mihi interroganti, quem Homero crederet maxime accedere: secundus, inquit, est Vergilius, propior tamen primo quam tertio (inst. 10,1,86). S. auch das besterhaltene Zeugnis für diese Auseinandersetzung in der Antike, das fünfte Buch der Saturnalien des Macrobius. Vgl. GREGOR VOGTSPIRA: Homer-Vergil-Vergleich, DNP 14, 516–523 und die ausführliche Untersuchung zum Thema von WEISS 2017. Die gemeinsame Nennung von Homer und Vergil zeigt, wie sehr die beiden auch in der Spätantike noch als die bedeutendsten Vertreter der griechischen bzw. lateinischen Epik untrennbar miteinander verbunden sind, eine Verbindung, die sich seit Prop. 2,34,65f. belegen läßt (MCGILL 2005, XVI; 155, Anm.16). 26 Mit Blick auf die spezielle Würdigung Homers für seine Sprache ist die indirekte Würdigung Vergils in der Prooemiumstruktur vielleicht als „ausgleichende Gerechtigkeit“ zu betrachten (BRETZIGHEIMER 2010, 368). Dies spricht auch für die Abtrennung des Prooems nach 60 Versen.

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III Kommentar

inhaltliche Aspekte. Unterschiede gibt es hinsichtlich der gesamten Länge des Prooems und seiner einzelnen Teile, sowie in der Variation, die Dracontius vornimmt, indem er die typischen Fragen sowohl an das Ende des ersten als auch an das Ende des zweiten Teils stellt.27 Zur Struktur kommen noch Parallelen in einigen Gestaltungsdetails: 1. Die beiden Akkusative im ersten Vers als Umriß des Themas (arma uirumque und iter raptumque). 2. Die Frage nach dem Zorn der Götter als Ursache für die Ereignisse (Verg. Aen. 1,11. 25f. [Verbindung von ira und dolor] und Romul. 8,55f. [ebenso Verbindung von ira und dolor]). 3. Das Parisurteil (Verg. Aen. 1,27 und Romul. 8,31ff.). Mit diesem Prooem begibt sich Dracontius offen in die Nachfolge und Tradition Homers sowie ohne namentliche Nennung, dafür deutlicher in Struktur und Sprache in die Vergils. Daß er den Topos der Bescheidenheit ergänzt, liegt in genau diesem Selbstverständnis begründet, mit dem er sich direkt an die großen Epiker anschließt. In solch einer Situation gehört sich ein Rekurs auf die eigene Minderwertigkeit. 1–30 Eng gefasstes Prooem 1–10 Themenvorstellung 1–6 Konkrete Themenstellung 1 Troiani praedonis iter raptumque Lacaenae Mit einem Paukenschlag setzt das Prooem und damit das ganze Gedicht ein: Es wird im Folgenden um Räuber, Reise, Raub gehen. Dracontius kündigt genau das an, was er zeigen wird. Reise und Raub, im Verlauf des Gedichts verknüpfte Handlungsstränge, die auch hier in der Ankündigung miteinander verbunden werden. Zwei prägnante Objekte im ersten Vers eines Prooems lassen den Leser sogleich an das Eposprooem schlechthin denken: arma uirumque, Worte, die mit dem iter raptumque die Silbenzahl und die Anordnung der Worte teilen. Dracontius übernimmt die bekannte Wortfolge und variiert in Metrum und Wortwahl (GALLI MILIĆ 2016, 194 erkennt Vergil in praedonis iter). Die beiden Hauptpersonen im Genitiv in einer Periphrase sind nicht namentlich genannt, sondern nur über ihre Herkunft zu identifizieren. Sie rahmen den Vers, der als Chiasmus gestaltet ist. Für die auffällige metrische Gestaltung des Verses (Trithemimeres, κατὰ τρίτον τροχαῖον und Hephthemimeres) vgl. CHARLET 2015, 150. Für den Gebrauch von praedo ist Verg. Aen. 7,362 zu vergleichen, wo Amata den Aeneas so bezeichnet und ihn schließlich mit Paris hinsichtlich seiner Tätigkeit als Frauenräuber parallelisiert. Vgl. auch 544 tunc Paris adloquitur comitantem praedo rapinam und 581. Praedonis iter findet sich 580 in raptoris … iter variiert. Formen von Lacaena begegnen seit Verg. Aen. 2,601 häufig am Versende; bei Dracontius zehnmal, davon sieben in Romul. 8. Raptum Lacaenae noch 125; vgl. auch Orest. 468 rapta Lacaena. 27 Dies ist freilich abhängig von der Textgestaltung. Einige Herausgeber setzen keine Fragezeichen hinter die letzten Sätze des Prooems. S. 40, Anm. 124 und den Kommentar zu 57–60.

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BUREAU 2015, 292 macht zu Recht auf Claud. rapt. Pros. 1,1 inferni raptoris equos afflataque curru … aufmerksam; Dracontius schließt sich mit seinem dem Raub der Proserpina ähnlichen Thema auch an Claudian an, gestaltet es aber anders, indem er gleich scelerati pectoris ausum anfügt. Die gleiche Stelle ruft Dracontius auch 447 auf. 2 et Für das Verständnis von diesem et ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder führt es zu iter und raptus eine dritte Komponente des Inhalts ein (so übersetzt WOLFF 1996, z. St.), oder es ist explikativ zu beidem (vielleicht auch nur zu raptus) zu verstehen. Da jedoch außer Reise und Raub keine weitere prominente Handlung des Paris geschehen wird, ist es leichter, das et explikativ zu verstehen. So werden die Taten des Paris sogleich als negativ und aus einer schlechten inneren Haltung kommend qualifiziert. pastorale scelerati pectoris ausum Hier kündigt sich ein Motiv an, das das gesamte Gedicht durchziehen wird (SIMONS 2005, 223): Paris ist ein Hirte und an keiner Stelle wird er über diese Rolle hinauskommen (vgl. 34. 40. 65. 70. 90 u. ö.; s. auch die Einleitung Kap. 2.1.3.5.1, S. 43). Dieses Motiv hat seine Vorbilder sowohl in der griechischen (z. B. [Bion] 2,10 Gow ἅρπασε τὰν Ἑλέναν ποθ’ ὁ βωκόλος, KIESSLING / HEINZE 101960, 76), als auch in der lateinischen Literatur (z. B. Verg. Aen. 7,363f. at non sic Phrygius penetrat Lacedaemona pastor, / Ledaeamque Helenam Troianas uexit ad urbes?). Die Junktur scelerati pectoris zeigt, daß Paris in der Darstellung des Dracontius aus einer verdorbenen inneren Haltung handelt. Kritik an der Tat des Paris findet sich z. B. auch Dict. 1,3 indignissimum facinus perpetrauerat. Das Adjektiv pastoralis vertritt die Rolle eines Genitivattributs; für weitere Beispiele s. VOLLMER MGH 437. Die Junktur sceleratum pectus noch Paul. Nol. carm. 16,54 (4,5,54 DOLVECK) immisitque suum scelerata in pectora uirus, die Idee vielleicht aus Ov. trist. 3,6,25 si nullum scelus est in pectore nostro. Ausum hier in negativer Konnotation (s. dazu ThLL II 1258,66ff.). Vgl. für die Junktur Orest. 339 ausu pastoris iniqui. 3 aggrediar meliore uia Via wird hier in der Bedeutung ‘Art und Weise’ verwendet (OLD s. v. 2053, 10). Selbstbewusst beginnt Dracontius sein Werk mit dem Prädikat ‘besser’, ohne allerdings deutlich zu machen, wen oder was er sich als Vergleichspunkt setzt. Daher sind diese drei Worte in ihrer Interpretation auch sehr umstritten, wobei drei Stoßrichtungen der Erklärung festzustellen sind, die aber auch untereinander kombiniert werden. So ist zuerst das Verständnis als ein Hinweis auf den literarisch-künstlerischen Anspruch zu nennen, das BARWINSKI 1888, 5–7 favorisiert. Die sprachliche und inhaltliche Neugestaltung des Mythos erlaubten diese Ankündigung.28 Weiterhin ist vorgebracht worden, Dracontius beschreibe in seinem Gedicht eine rationale Version des Mythos und erkläre dies für melior (dies postuliert ebenfalls BARWINSKI 1888, 8f.). Schließlich hat sich eine letzte 28 Als zu wenig erachtet dies WEBER 1995, 235, Anm. 37. Daß es ein Ausdruck der inhaltlichen Neugestaltung sei, meint CICHÓN 2016, 160f.

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III Kommentar

Interpretationsmöglichkeit herauskristallisiert, die einen moralischen Aspekt in der Darstellung des Mythos (als Kritik am Ehebruch) entdeckt und den Instrumentalis meliore uia in dieser Richtung versteht. Vorreiter dieser Interpretation ist PROVANA 1912, 43–67. Es ist jedoch immer wieder festgestellt und kritisiert worden, daß eine wirkliche moralische Auseinandersetzung mit dem Verbrechen des Ehebruchs nur in Prooem und Epilog stattfindet.29 WOLFF 1996, 115 und 2009, 140f. bietet zwei weitere Interpretationsmöglichkeiten, die über das bis dahin Vorgeschlagene und von ihm zu Recht als ungenügend Beurteilte30 hinausgehen. Zum einen bietet er als Erklärung an, daß der Dichter ausdrücken wolle, der von ihm eingeschlagene Weg sei besser als der des Paris, der parteiisch über die Göttinnen geurteilt habe. Zum anderen schlägt er vor, es als Ausdruck der Poetologie des Dracontius zu verstehen, der bisher Gedichte von weniger großer Bedeutung geschrieben habe und sich nun der Gattung Epyllion zuwendet. Damit habe die Junktur die gleiche Bedeutung wie Nemesians meliore lyra (cyn. 63f. mox uestros meliore lyra memorare triumphos / accingar). Genau dies konjiziert BAEHRENS auch für unsere Stelle, was wiederum MAILFAIT 1902, 63 kommentarlos in seiner Darstellung der Sprache des Dracontius abdruckt. Es ist gut möglich, daß Dracontius in seiner Formulierung auf Nemesian rekurriert (man betrachte nur die lautliche Ähnlichkeit von accingar und aggrediar; auch die Situation, die Ankündigung eines Gedichts, ist ähnlich), der mit diesen Worten ein Preisgedicht auf die Herrscherfamilie (das nie geschrieben wird, weil die Herrscher kurz danach versterben) ankündigt.31 Trotzdem ist ein Eingriff in die Überlieferung an dieser Stelle ungünstig, weil auf diese Weise die Wegmetapher, die sich so passend an den verderblichen Weg (iter 1) des Paris anschließt, zerstört wird und die Junktur auf eine unpassende wörtliche Anspielung heruntergebrochen wird.32 Aber auch die bloße Gleichsetzung der Junktur mit der Nemesians, wie WOLFF sie vornimmt, scheint nicht so recht zu passen, da der Dichter sich auch mit dem chronologisch früher als Romul. 8 anzusetzenden Romul. 2 bereits dem Epyllion hingegeben hatte.33 So erklärt ZWIERLEIN34 die Junktur zuletzt am überzeugendsten als intertextuellen Verweis auf das Prooem der vergilischen ‘Georgica’, wo der Dichter sich anschickt, ein neues Thema zu wählen und die vielbehandelten, wie beispielsweise den Hylas (!) hinter sich zu lassen. Vergil schreibt dort (georg. 3,8f.) temptanda uia est, qua me quoque possim / tollere humo uictorque uirum uolitare 29 ROMANO 1959, 34f., während sich QUARTIROLI 1946, 179 ganz gegen eine moralische Interpretation wendet, ebenso wie WOLFF 1996, z. St. Vgl. auch die Zusammenfassungen bei SIMONS 2005, 286f. und 292f., BRETZIGHEIMER 2010, 366. 30 Die oben referierten Vorschläge dürften alle am fehlenden ganz klaren Vergleichspunkt scheitern (moralisch besser als wer? gestalterisch besser als wer? Zur Beantwortung gäbe es zwar verschiedene Ansatzmöglichkeiten, aber diese erscheinen zu vage). 31 Eine Rekurrierung vermutet auch ZWIERLEIN 2017, 95. Vgl. für die Stelle bei Nemesian und ihren Bezug zu Vergil JAKOBI 2014, z. St. 32 So auch ZWIERLEIN 2017, 93. 33 ZWIERLEIN 2017, 93. 34 ZWIERLEIN 2017, 94f.

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per ora. Indem sich der uilis uates Dracontius dem neuen, noch nicht behandelten Thema, nachdem er auch bereits ein Gedicht über den vieltraktierten Hylas verfaßt hatte, widmet, und dies ebenfalls mit uia, nämlich meliore uia ankündigt, kann er wie Vergil auf seine Erhebung hoffen.35 Aggredi als Bezeichnung für den Beginn mit einem Thema ist eher prosaisch (synonym zu ingredior und incipio, vgl. ThLL I 1319,24) z. B. Sen. epist. 95,4, Prisc. inst. 7,85. Zu verweisen ist noch auf den Beginn des ‘Hylas’, wo ebenfalls ein ‘besser’ begegnet: Fata canam pueri Nympharum uersa calore / in melius (Romul. 2,1f.), s. BUREAU 2015, 290. nam Begründung der melior uia: Der neue Stoff ist in dieser Form (in einem ganz ihm gewidmeten Epyllion) noch nicht bearbeitet worden. prodimus Kann einerseits recht neutral vom Aufdecken einer verborgenen Sache verwendet sein (ThLL X 2,1620,35ff.), aber auch in einem konkret juristischen Kontext, im Sinne von ‘einen Beweis führen’ (ThLL X 2,1620,5ff.). Beide Varianten mögen hier verbunden sein, so daß sich ‘entlarven’ als Bedeutung ergibt. Gesetzt ist prodere statt eines üblicherweise zu erwartenden canere, wie es sich etwa im ‘Hylas’ findet (fata canam 1, auch wenn hier natürlich bald deutlich wird, daß es sich beim Thema des Gedichts nicht um klassischen epischen Stoff handelt, s. auch WEBER 1995, 234). Auch die ‘Medea’, für die ebenso ein nefas angekündigt wird, beginnt Dracontius auffälligerweise nicht mit einem canere, sondern mit uulgare und monstrare. Der Dichter wählt also mit Bedacht eine im Epos unübliche Diktion (wie auch unten 12 narrare), um die Andersartigkeit seines Stoffes herauszustellen.

35 Mit dieser überzeugenden Erklärung ZWIERLEINs kann auch die Konjektur RIBBECKs 1873, 462, als unnötig zurückgewiesen werden: Er konjiziert maiore mit Verweis auf Vergils Binnenprooem im 7. Buch der ‘Aeneis’ (45 maius opus) und begründet, Dracontius würde mit nam anschließend den bedeutenden Stoff ausführen, für dessen ‘würdige Bearbeitung’ er Homer und Vergil um Hilfe anrufe. Weniger überzeugend, aber dennoch erwähnenswert ist ein Erklärungsmodell mit Bezug auf Statius: Stat. silv. 5,1,71–74 Sed meliore uia dextros tua uota marito / promeruere deos, dum nocte dieque fatigas / numina, dum cunctis supplex aduolueris aris / et mitem genium domini praesentis adoras (DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, z. St., MOUSSY 1989, 429, Anm. 21; WOLFF 1996, 115). In dieser ‘Silve’ preist Statius in Form eines Epicedions die verstorbene Ehefrau von Abascantus, Priscilla. Sie habe, so heißt es, große Gefahren auf sich genommen, um ihrem Mann Gunst bei den Göttern zu erwirken, aber sie habe es mit Gebet und Flehen geschafft, in einer melior uia. Die Brücke zum Werk des Dracontius wäre über das zwischenmenschliche Verhalten zu schlagen: Während Paris (der übrigens wenige Verse zuvor von Statius ebenfalls genannt wurde, als einer, der eine solche Liebe auch nicht hätte verderben können: 57 illum nec Phrygius uitiasset raptor amorem) die Ehe missachtet, achtet Priscilla sie in selbstloser Weise. An dieser Stelle würde Dracontius nach dieser Interpretation einsetzen und behaupten, Paris und seine Taten ‘besser’, richtiger zu schildern, bzw. juristisch anzuzeigen (prodere), und ihn als Feind der Gemeinschaft und Zerstörer von Familienzusammengehörigkeit darzustellen und das alles in einer neuen, leicht parodisierenden Form (s. dazu die Interpretation in der Einleitung Kap. 2.1.3, S. 30).

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III Kommentar

3f. hostem / hospitis et thalami Wortspiel mit hostis und hospes, das über die Versgrenze hinaus besonders wirkungsvoll scheint (die Worte laden dazu ein, so daß sich ein solches Wortspiel natürlicherweise schon früher findet: z. B. Plaut. Bacch. 253 tun hospitem illum nominas hostem tuom?, Ov. fast. 2,787 hostis ut hospes init penetralia Collatini, Liv. 1,58,8 über Sextus Tarquinius hostis pro hospite, Rufin. hist. 4,15,14 apponi mensam hostibus quasi hospitibus iubet). Die beiden Genitivattribute zu hostem (anders konstruieren SANTINI 2006, 33, WOLFF 1996, z. St. und GUALANDRI 1974, 886, die mariti als Adjektiv auf thalami beziehen; die bei Dracontius übliche Verwendung von maritus als Substantiv, zumal als Versklausel, spricht zusätzlich zur deutlichen Verbindung der beiden Substantive durch et und zur metrischen Gestaltung, der Penthemimeres nach thalami, gegen die communis opinio) sind klimaktisch angeordnet. WOLFF 1996, z. St. verweist für die Beschreibung des Paris überzeugend auf laud. dei 3,328f., auch über Sextus Tarquinius, von dem es heißt: post regale nefas, quod castae ingessit adulter, / iure maritali genialis praedo pudoris. 4–6 Die Ehe und ihre Aspekte werden in der langen Aufzählung akkumuliert zusammengefasst. Während die ersten Junkturen bis Vers 5 ganz sicher die Ehe bezeichnen, ist die Forschung über die folgenden Verbindungen uneins (materiem generis, subolis spem, pignora prolis): Sollen sie allgemeiner die Ehe (WOLFF, VOLLMER) illustrieren und damit eher auf die Salamisepisode bezogen werden? Oder ist Helena direkt dahinter zu verstehen (GUALANDRI 1974, 886, SANTINI 2006, 33 mit Verweis auf den folgenden Exkurs 7–10)? Das nam in Vers 7, das den „Mutterexkurs“ einleitet, gibt einen deutlichen Hinweis, wie die Zusammenstellung der Substantive zu lesen ist. Sie meinen die Aspekte und Ausprägungen einer Ehe, die nur zu zweit funktionieren, so daß nam alle Elemente erklärt, die durch den Entzug der Frau unmöglich werden. Damit sollten sie, wie auch der gesamte Mutterexkurs, eher auf Helena bezogen werden, auch wenn freilich die Problematik der Salamisepisode mitschwingen wird. Aber Telamon hat schon ein Kind mit Hesione, Menelaos mit Helena in der Version des Dracontius nicht. Diese Stelle zeichnet sich durch eine Vielzahl juristischer Termini aus, was zum Beruf des Dichters gut paßt. Das Thema der Ehe, auch in juristischer Anschauung, zieht sich durch sämtliche Werke des Dracontius (vgl. SANTINI 2006 passim). 4 populantem Rahmt mit hostem die Genitive; löst die folgende Reihe der Akkusative aus. Populo mit abstraktem Objekt ist singulär (ThLL X 1,2710,62f.). Bei jedem Teil der Aufzählung ist gedanklich „weil er die Frau geraubt hat“ zu ergänzen, um das Verständnis zu gewährleisten. iura mariti Gemeint ist das Recht, das ein Ehemann an seiner Frau hat, wie beispielsweise mit ihr Kinder zu zeugen, auch wenn es sich in dieser Form nicht um einen bekannten Rechtsterminus handelt (das Argument SANTINIs 2006, 34 ein ius mariti sei in Rechtstexten die Verpflichtung des Ehemannes, seine Frau bei Ehebruch anzuzeigen, was die Verbindung unwahrscheinlich mache, so daß dann mariti als Adjektiv zu thalami zu lesen sei, ist nur ein Scheinargument. Es handelt sich hier nicht um einen expliziten Rechtstext, sondern um ein poetisches Werk und der

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Dichter, wie SANTINI selbst zugibt, geht recht frei mit der Kombination der Worte um). Vgl. für den Versschluß Hor. ars 398 dare iura maritis, Ov. ars 2,381, Repos. 24 iura mariti. Für maritus s. auch oben zu 3f. 5 foedera coniugii Vgl. Prud. tituli 125 (von der Hochzeit zu Kana). Zu der juristischen Komponente der Junktur s. SANTINI 2006, 34f. consortia blanda pudoris Der Begriff consortium begegnet eher selten und findet sich hauptsächlich bei christlichen Autoren (ThLL IV 488, 78ff.). Dracontius nutzt es noch 288 für die Ehe thalami consortia casti und laud. dei 1,363 in der Verbindung consortia blanda für das Zusammenleben von Adam und Eva (vgl. auch SANTINI 2006, 36 und Anm. 87). Pudor begegnet in Romul. 8 noch weitere viermal (201. 224. 279. 292), davon dreimal in der Salamisepisode vielleicht als leitmotivisch erneuerter Hinweis auf die Amoralität der Hauptfigur. 6 materiem generis Singuläre Junktur (vielleicht klingt Mar. Victor aleth. 3,612 mater erit generis an). Die Ehefrau wird als Grundlage der Nachkommen bezeichnet. Vgl. GUALANDRI 1974, 887, die auf Isid. orig. 9,5,6 mater dicitur, quod exinde efficiatur aliquid. Mater enim quasi materia, nam causa pater est und Gramm. suppl. 238,27 mater quod materiam praebeat nascentibus verweist. Vgl. auch ThLL VIII 1,2,63,25ff., der die Junktur mit „Helenam genus propagaturam“ glossiert. S. auch oben den Eintrag zu 4–6. subolis spem Für den im späteren Latein auftretenden Ausdruck vgl. Iuvenc. 1,66 Vnde igitur subolem mihimet sperabo uenire? (Maria spricht bei der Ankündigung der Geburt Jesu), Ambr. dist. 11 (übertragen) Aetherium spectare polum patriarcha iubetur / stellarumque modo subolem sperare micantem, Ser. med. 604 nec subolis spes est, Paul. Nol. carm. 6,35 Spem … omnem subolis transacta excluserat aetas (von Elisabeth, der Frau des Zacharias und Mutter des Johannes). pignora prolis Für die juristischen Implikationen von pignus s. SANTINI 2006, 37. Die hier geforderte Bedeutung ‘Garant / Garantie’ kann auch für 319 est mihi bellipotens non uilis pignoris Aiax gelten. 7–10 Exkurs über die Rolle der Mutter bei der Befruchtung Im diesen vier exkursartig gestalteten Versen wird, anschließend an die Verse zuvor, in denen schon angeklungen ist, daß mit dem Raub einer Frau auch die Grundlage für die Nachkommenschaft geraubt wird, festgehalten, daß die Bedeutung der Mutter für die Vererbung als überaus hoch anzusetzen ist. Die in der Antike vorherrschenden Vererbungslehren,36 die hier als Grundlage anzusetzen sind, hat SIMONS37 zusammengestellt: Grundsätzlich gibt es die Lehre des Hippokrates, der die Rolle von Mann und Frau als gleichwertig betrachtet (genit. 7f., nat. pueri 12, victu 1,29–31) und die des Aristoteles, der die Rolle der Frau ab-, die des Mannes hingegen aufwertet (gen. an. 765b; 727b), die aber gelegentlich auch vermischt werden 36 S. zu den antiken Vorstellungen ERNA LESKY: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, Wiesbaden 1950. 37 SIMONS 2005, 224ff. S. dort ausführlich.

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und in der Spätantike gleichermaßen Wirkung gezeigt haben38. In die Reihe der Rezeption der Vererbungslehren kann auch Dracontius gestellt werden, wobei als Besonderheit hervorzuheben ist, daß bei ihm die Rolle der Frau viel höher angesetzt wird als die des Mannes.39 Die Mutter ist vollständig für die Ausformung des Menschen zuständig (9a, 10b), der Vater ausschließlich Grundlage des Entstehungsprozesses (8).40 Umstritten ist die Frage, ob dieser Exkurs innerhalb des Gedichts eher auf Hekabe, Helena oder auf Hesione zu beziehen ist. Weil Dracontius die Mutterschaft der Helena nicht erwähnt und keine Hermione in seinem Gedicht auftreten läßt, mit dem Raub der Helena dem Ehemann Menelaos also jegliche Möglichkeit entzogen wird, mit seiner Frau, die dafür die Grundlage bildet, ein Kind zu zeugen, müssen sich die Verse auf sie beziehen.41 Daß freilich auch Telamon ähnliche Gedanken über seine Ehefrau hegt (285ff.) steht dem nicht entgegen, sondern zeichnet ein insgesamt konzinnes Bild der Ehe. 7 nam Begründet die Unsäglichkeit der Ehezerstörung: Ohne die Gemeinschaft von Mann und Frau gibt es auch keine Nachkommen. Der Leser kann die Verse sowohl auf die Salamisepisode mit der Rückforderung Hesiones (ihre Mutterschaft wird in 290 thematisiert) beziehen, als auch auf den Raub der Helena (ihre Mutterschaft wird nicht ausdrücklich thematisiert, ergibt sich aber zumindest theoretisch aus ihrer Ehe mit Menelaos) selbst, s. auch SIMONS 2005, 225, Anm. 12. 7f. totum de matre uenit, de matre creatur / quod membratur homo Der Entstehungsprozeß in und die Geburt aus der Mutter sind hier impliziert. Vgl. dazu laud. dei 2,78f. qui nasci dignatus homo est membratur in aluo / sanguine femineo concretus spiritus almus; 691f. donec uentris onus bis quinis mensibus actis / fundatur de matre puer sub sorte beata. Der quod-Satz ist von totum abhängig zu machen (alternativ kann man auch totum zu de matre uenit und den Relativsatz zu de matre creatur verstehen, so daß sich eine chiastische Stellung ergibt; VON DUHNs quo ist daher unnötig). Homo ist als Prädikativum zu verstehen. Venire und creari sind synonym aufzufassen. De mit Ablativ bei creare steht entweder als Ersatz für einen Ablativus auctoris mit ab (WOLFF 1996, z. St. mit Verweis auf Orest. 431 incolumi uiduata uiro de paelice Glauce) oder als seltener auftretendes de beim Ablativus originis (in der Dichtersprache seit Ovid, s. H-S 104f.). Creari findet sich häufig in der Bedeutung nasci (ThLL IV 1159,23ff.). Membrare begegnet sehr selten und ausschließlich im Passiv für die Entstehung eines Lebewesens (Cens. 11,7 quinque et triginta diebus infans membratur, laud. dei 38 SIMONS 2005, 224f., Anm. 9, die Lact. opif. 12 und Isid. orig. 11,1,145 anführt. 39 SIMONS 2005, 225. 40 In den mittelalterlichen ‘versus amatorii’ 11,55f. dagegen findet sich die Gleichsetzung von Mann und Frau als gleichermaßen unverzichtbar: Quomodo de patre prius est natus sine matre, / quomodo de matre fit factus homo sine patre. Vgl. auch den Gedanken laud. dei 2,189 Sic fit mater humus qua germina cuncta creantur. 41 So auch GUALANDRI 1974, 887, Anm. 52.

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1,264 [sc. oua auium] pennantur membrata globis, animantur, anhelant, 1,337f. limus … membratur in artus / corporeus, species hominis, ThLL VIII 633,65ff., WESTHOFF 1883, 47). Vgl. für die Formulierung Homer. 624 Hesiona de matre uides Telamone creatum. 8 fons auctor origo Vgl. für den Versschluß laud. dei 2,1 omnipotens aeterne deus, fons auctor origo, was aber m. E. inhaltlich nicht miteinander in Beziehung zu setzen ist, wie es SIMONS 2005, 225, Anm. 10 mit Bezug auf den „makrokosmischen Schöpfungsprozeß“ tut. Dagegen spricht, daß Gott die Ursache ist, die Materie aber hervorbringt; stets ist in den zitierten Stellen, laud. dei 2,1 und 3,1–3, nur von Gott die Rede, es wird kein Unterschied zwischen ihm und einer natura creatrix aufgemacht. Vgl. auch Romul. 10,129 (Venus zu Cupido). Der Versschluß findet sich auch 10,588 auctor origo. pater est … origo Vgl. Orest. 38 origo paterna. 9 nihil est matre pater Sine ist eine metrisch und inhaltlich zwingende und überzeugende Ergänzung VON DUHNs (vgl. Anth. 798a R.,9 non sine matre puer, non est sine uite Lyaeus, ZWIERLEIN 2017, 96, Anm. 300). Die gedanklich wichtigsten Worte, mater und pater, sind in diesem Versteil direkt nebeneinander gestellt. Nihil steht sowohl in seiner Kürze als auch in seiner Bedeutung in deutlichem Gegensatz zu fons auctor origo. quota portio patris Die Formulierung fragt nach der Bedeutung des Vaters, genauer nach der Maßangabe seiner Beteiligung an der menschlichen Vermehrung. Vgl. für die Junktur quota portio, die in der Dichtung nur viermal vor Dracontius (erstmals Iuv. 3,61) zu finden ist, auch laud. dei 3,556 quota portio rerum. 10 omnis Das Wort ist nicht eindeutig zu beziehen: Es ist zum einen möglich, es über das Enjambement mit patris zusammenzunehmen (wodurch sich in tota mater eine Analogie ergäbe, wobei freilich auch tota nicht eindeutig bezogen werden kann, s. unten), zum anderen kann es auch mit homo verbunden werden. Letzteres ist vielleicht wegen der Ausgeglichenheit der Wortzahlen (drei quota portio patris und drei omnis constat homo) vorzuziehen. constat homo Constare im Sinne von esse wie auch Romul. 8,138; 9,180, laud. dei 3,583, Lucr. 1,507, Plin. epist. 3,13 (ThLL IV 530,39ff.; ROSSBERG 1887 [a], 47; MAILFAIT 1902, 74). Die Frage quota portio … homo? ist als rein rhetorisch zu verstehen, als schon durch alles Vorhergehende beantwortet. Vor dem folgenden Halbvers wäre also gedanklich ein ‘zu keinem Teil’ zu ergänzen. mater fit tota propago Der Bezug von tota ist uneindeutig – entweder auf mater oder auf propago. Setzt man es zu mater, ergäbe sich eine Entsprechung zu quota portio patris im Vorsatz, wenn zu propago, dann wäre die Junktur analog zu omnis homo zu verstehen. Auffällig die Parallelität zwischen pater est fons auctor origo und mater fit tota propago, die nach der überschriftartigen Prämisse 7–8a die kurze Erklärung rahmen. Dies legt es nahe, daß der letzte Halbvers keine Antwort auf die rhetorische Frage ist, sondern als Zusammenfassung des bisher zu diesem Thema

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III Kommentar

Gesagten aufzufassen. Dabei scheinen sich zwei Ebenen zu ergeben. Auf der einen Ebene wird mitgeteilt, daß das Kind in der Mutter heranwächst, man es zunächst nicht sieht, also der ganze Keimling Mutter ist. Auf der anderen Ebene könnte in der weiteren Bedeutung von propago (ThLL X 2,1943,43ff., Prud. c. Symm. 2,223f. duplex … sexus / gignere amat subolem generisque propagine gaudet) für die Fortpflanzung an sich ausgedrückt sein, daß die ganze Verantwortung für die Fortpflanzung bei der Mutter liegt. Für mater statt der Konjektur ZWIERLEINs 2017, 96 matris spricht sich auch THOMAS GÄRTNER in seiner im Erscheinen begriffenen Rezension (EdK) im Sinne einer „plakativeren und vergröbernden“ Aussage aus. 11–30 Homer und Vergil und Dracontius 11–21 Homer und Vergil als Inspirationsquellen In den folgenden 20 Versen verwendet der Dichter den Topos des Musenanrufs, den er aber nicht an die Musen, sondern an die epischen Dichter Homer und Vergil richtet. In die Prädikation Homers bettet Dracontius die Erwähnung eines Aonius fons: quisquis in Aonio descendit fonte poeta / te numen uult esse suum (14f.). Die Erwähnung einer Quelle42 ist seit der Dichterweihe Hesiods auf dem Helikon (Theog. 22–35) ebenso typisch für ein Prooem. Vielleicht geht Dracontius ein Stück weiter als die Dichter vor ihm, die aus der Quelle getrunken haben, und versenkt sich ganz in ihr. Wenn Dracontius schreibt nec dico Camenae / te praesente „ueni“: sat erit mihi sensus Homeri (15f.), dann macht er deutlich, daß er Homer über die Musen stellt. Hier scheint Dracontius das Annalenprooem des Ennius zu evozieren (1–16 V. = [mit leichten Abweichungen] 1–12 Sk.).43 Dracontius charakterisiert Homer im Folgenden aus seinem Werk heraus im „Er“-Stil der relativen Prädikation, der aus Hymnen und Invocationes bekannt ist44: qui duxit ad arma Pelasgos / Pergama Dardanidum uindex in bella lacessens (17f.). Es kommt hier wohl das gestalterische Mittel zum Tragen, daß der Dichter in seinem Werk stets selbst das tut, wovon er singt, also selbst die Geschehnisse in seiner Dichtung zu lenken im Stande ist.45 Ebenso verfährt Dracontius auch mit Vergil, dessen Namen er aber nicht einmal nennt (19−21), den zu erkennen er seinen Lesern also allein aus den angedeuteten Szenen des zweiten ‘Aeneis’-Buches zumutet: et qui Troianos inuasit nocte poeta, / armatos dum clausit equo, qui moenia Troiae / perculit et Priamum Pyrrho feriente necauit. Die Einnahme Trojas, die durch das hölzerne Pferd möglich gemacht wurde, nimmt fast das gesamte zweite Buch der ‘Aeneis’ ein. Die herausgehobene Episode, die Ermordung des Priamus durch Pyrrhus, den Sohn Achills, findet sich konkret in Verg. Aen. 2,526–558. An die Invocatio schließt sich die nicht minder topische affektierte Bescheidenheit an. Was die beiden Musengeborenen Homer und Vergil in ihren Werken jeweils verachteten und ausgelassen haben – den Raub der Helena breiter auszuführen 42 43 44 45

Vgl. S. 143, Anm. 15. S. dazu die Einleitung zum Abschnitt S. 144. NORDEN 71996, 163ff. LIEBERG 1982, 1ff.

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– daran will sich Dracontius nun versuchen. Die Tatsache, daß er nur das übriggebliebene Stück für sich beanspruchen kann, illustriert er mit einem Gleichnis, das so in der lateinischen Literatur singulär ist (24–27): Füchse freuen sich über das von Löwen Übriggelassene und halten das für Beute, das in Wirklichkeit nur bloße Knochen sind. Der Dichter selbst beschreibt sich also als einen, der zwar einerseits schlau sich Nahrung völlig ohne Anstrengung sichert, andererseits aber auch mit weniger ansprechendem Material vorlieb nehmen muß. Die wahrhaft großen epischen Stoffe um Helden und Kriegstaten sind schon von anderen vor ihm behandelt worden. Andererseits sind Füchse stets als schlaue Tiere stereotypisiert,46 was sich auch hier greifen läßt. Denn das Nahrungsangebot zu nutzen, auch wenn es nicht von bester Qualität ist, scheint in jedem Fall besser, als nichts zu fressen zu haben. Auf das Dichten übertragen hieße dies, daß das Thema des Dracontius weniger prominent ist als das von Homer und Vergil, aber es sich um einen Stoff handelt, der ihn immerhin in die Nähe der großen Epiker stellt. Ursprünglich stammt die Herabsetzung der eigenen Person in der affektierten Bescheidenheit aus der Rhetorik als Teil der captatio benevolentiae; sie wurde aber bald auf andere Gattungen übertragen.47 Mit ihrer Hilfe wollen Dichter ihre Leser sich selbst und dem verfaßten Werk geneigt machen. So setzt sich Dracontius kontrastiv als uilis uates (23) gegenüber den beiden Musagenes herab, so stellt er seinen Stoff als nuda ossa (27) unter die praeda (24. 27). Er bietet jedoch gerade mit letzterem eine Variation der schon seit Cicero genutzten Einleitung in ein Werk: Meist geben die Autoren an, der Stoff oder das Thema ginge über ihre Kräfte, ihr ingenium sei dazu nicht in der Lage.48 Dracontius hingegen setzt nicht nur seine Person, sondern auch seinen Stoff gegenüber den großen Epikern herab – eine Neuerung des Topos.49 Den Abschluß der Invocatio bildet eine Bitte um Inspiration: uulgate, precor, quae causa nocentem / fecit Alexandrum raptu spoliare Amyclas (29f.). Die Ursachen für den Raub der Helena sind es, nach denen der Dichter zuerst fragt. Auch hier läßt sich die Anlehnung an das klassische Prooem wie etwa zu Vergils ‘Aeneis’ gut zeigen. Am Ende des engeren Prooems fragt auch Vergil nach den Ursachen: Musa, mihi causas memora, quo numine laeso … (Verg. Aen. 1,8ff.).50 Neben der thematischen Nähe findet sich außerdem ein ganz technischer Grund für den Anruf der großen Epiker. Von Homer wünscht Dracontius sich mollia blandifluo delimes51 uerba palato (13). Dabei ist zu bedenken, daß in der antiken Poetik (und im Griechischen noch mehr als im Lateinischen) jeder Gattung ihre

46 47 48 49

KELLER 1887, 178ff. CURTIUS 81973, 93. CURTIUS 81973, 93f. Vgl. für die Auswahl eines bisher unbehandelten „Nischenthemas“ auch Stat. Ach. 1,3b–5a, wo Statius deutlich macht, daß er für seine Darstellung des achilleischen Lebens die Bereiche auswählt, die in den homerischen Gesängen bisher nicht vorkamen (SCHMITZ 2017, 15). 50 S. auch oben die Einleitung zum Prooem, S. 140. 51 Für das textkritische Problem s. den Eintrag im Kommentar.

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III Kommentar

bestimmte Sprache zugewiesen ist – und Homer ist der Erfinder epischer Diktion.52 Um die richtigen Worte für einen epischen Stoff finden zu können, wendet sich Dracontius an Homer, den Begründer dieser Gattung. Er kann Homer, den ersten Dichter eines Epos, bitten, ihm auch bei der sprachlichen Ausarbeitung seines Werkes zur Seite zu stehen, ebenso wie er einige Verse später Vergil in die Invocatio einbezieht und schließlich feststellt: Attica uox te, sancte, fouet, te lingua Latina / commendat (28f.). So können wir festhalten, daß Dracontius Homer als den Archegeten des Epos grundsätzlich und später Vergil für das lateinische Epos im Besonderen anruft. Da Dracontius Homer nicht nur als ersten, sondern auch als einzigen mit Namen nennt, stellt er ihn offensichtlich über seinen lateinischen Nachfolger Vergil. Diese Ansicht deckt sich mit dem seit Quintilian belegten Urteil inst. 10,1,8653. Für die Spätantike speziell postuliert ANTONIE WLOSOK „ein gestuftes Nebeneinander von großem Vorbild und gelungenem Abbild“54. Beide zusammen, Homer und Vergil, gelten auch in dieser Zeit noch, wenn nicht sogar als die bedeutendsten Dichter überhaupt, so doch zumindest als die Archegeten der Epik beider Sprachen.55 11–18 Die Struktur und die Syntax dieses Abschnitts sind nicht ganz klar. VOLLMER MGH druckt in seinem Text eine über sechs Verse reichende Parenthese (13–18), bei der man zusätzlich zu dieser extremen Ausdehnung vor ihr auch noch ein gedachtes uoco (zu 12 te, grandis Homere, WOLFF 1996, z. St.) annehmen muß (und vermutlich ist ebenso zu 19 et qui ein et te uoco, qui gedanklich zu ergänzen). Schwierig zu deuten ist außerdem besonders Vers 13 in seiner überlieferten Form mollia blandifluo delimas uerba palato. Homer ‘schleift’ die Worte mit sanftfließendem Gaumen, damit sie weich, vielleicht angemessen werden (mollia ist proleptisch oder resultativ; schleifen mit [oder in] sanftfließendem Gaumen wirkt auf den ersten Blick ein wenig absurd, läßt sich aber wohl als eine gesuchte Bildermischung erklären).56 Das heißt also, daß sich diese Aussage entweder auf Homer selbst bezieht, er also selbst mit seinem Gaumen die Worte schleift, also formt. Oder daß er es bei jemandem anderen tut. Letzteres scheint jedoch mit dem Indikativ merkwürdig; zum einen, weil dem Anruf dann keine Bitte folgen würde (wo doch üblicherweise mit einem Musenanruf auch eine Bitte geäußert wird), zum anderen, weil es normalerweise nicht die Tätigkeit eines Homer ist, für einen anderen Dichter die Worte vorzuformen. Die erste Verständnisversion wiederum, also daß Homer selbst mit seinem Gaumen für sich Worte formt, wirkt hier zu Beginn des Prooems, wo programmatische Aussagen gemacht werden, doch sehr banal. So kann also der Text der Überlieferung nur beibehalten werden, wenn man die 52 LEUMANN 1947, 116: „Im dichterischen Kunstwerk, am eindeutigsten im lyrischen Gedicht, sind Gehalt und Gestalt ineinander gegenseitig eingegangen und untrennbar verschlungen“. 53 Vgl. S. 145, Anm. 25. 54 Zur Geltung und Beurteilung Vergils und Homers in Spätantike und früher Neuzeit, in: Eberhard Heck und Ernst A. Schmidt (Hrsgg.): Res humanae – res divinae. Kleine Schriften. Heidelberg 1990, 483. Vgl. auch WEISS 2017, 13. S. auch Seite 145. 55 S. auch oben die Einleitung zum Prooem, S. 140. 56 S. dazu auch den Kommentar zu 12f.

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Parenthese annimmt und mit WOLFF 1996, z. St. aus uocans (22) ein uoco für 12 generiert. Außerdem müßte man in 13 den geringen Informationsgehalt zugestehen. Diese Zugeständnisse und Verständnisschwierigkeiten zumal an einer so exponierten Stelle des Gedichts lassen an der Richtigkeit des überlieferten Textes zweifeln, so daß geprüft werden soll, an welchen Punkten eine Emendation sinnvoll erscheint. Zum einen könnte eine Lücke nach Vers 11 angenommen werden, in der ein nun fehlendes Wort des Anrufens enthalten gewesen sein könnte, sowie weitere Informationen, die Vers 13 entweder hinsichtlich anderer Dichter erklären, oder hinsichtlich Homers selbst nicht mehr so banal erscheinen lassen. Dagegen spricht jedoch eindeutig die Ausgewogenheit der Verszahlen im Prooem mit zweimal 30.57 Ein fehlendes Wort des Anrufens ließe sich vielleicht ersetzen, wenn man überliefertes te (12)58 zu monitus (12) zieht und ausnahmsweise a te versteht,59 wobei aber die Worte durch die Zäsur voneinander abgetrennt wirken und man dem Dichter diese harte Konstruktion kaum zutrauen mag (s. auch ZWIERLEIN 2017, 98, Anm. 309). Ohne eine Konjektur am delimas (13) zu einem Imperativ oder einem optativen Konjunktiv wird inhaltlich nicht auszukommen sein; es bleibt eine Bitte erforderlich, die ut narrare queam (12) rechtfertigt.60 Besonders für überliefertes delimas wurde eine Vielzahl an Vorschlägen gemacht, die entweder die Wortbedeutung und Modus betreffen (delibes IANNELLI, defundas DUHN, defingas GIARRATANO), oder Wortbedeutung und Wortart (delibans BAEHRENS), nur den Modus (delimes PRISCO) oder nur die Wortart (delimans WEBER), während GRILLO ebenso wie VOLLMER und WOLFF den Text der Handschrift beibehält. Als eine Art Aposiopese ist der Abbruch von Vers 13 bereits anerkannt (vgl. die Textgestaltung bei VOLLMER MGH und ZWIERLEIN BT). Ein Verb des Anrufens, wie es später in 22 mit uocans aufgenommen ist, dürfte hier gedanklich nicht schwer zu ergänzen sein (vgl. auch ZWIERLEIN 2017, 98, Anm. 309). Te wird zudem durch die beiden folgenden te (15f.) gestützt, die zudem das Ende der anakoluthischen Passage anzeigen. Doch wünscht man sich bei der Anrufung Homers eine Bitte des Dichters, einen Grund, warum er sich gerade an den Archegeten des Epos wendet. Daher dürfte sich ein Konjunktiv statt dem Indikativ delimas anbieten. DE PRISCO konjiziert delimes (und übernimmt das von IANNELLI bereits früher gedruckte tu im Vers zuvor). In der Handschrift N werden die Buchstaben ‘a’ und ‘e’ gelegentlich vertauscht, was an dieser Stelle anzunehmen wäre (DE PRISCO 1977, 292). Anstoß genommen wurde auch an der Bedeutung des Wortes delimare, das ‘feilen, abschaben’ bedeutet. Mit sermo wird es in der Bedeutung expolire verwendet (s. unten für die Stellen). Diese im Konjunktiv ausgedrückte Bitte um Unterstützung bei der Wortfindung scheint angemessen, um sie an den Archegeten des 57 Freilich mag man einwenden, der Dichter müsse nicht für vollständige Symmetrie sorgen. Dem kann leicht entgegnet werden, daß dieser Teil des Prooems in sich gewollt symmetrisch ist. S. dazu zur Einleitung des Abschnitts, S. 143. 58 In der Handschrift heißen die Verse 12f. ut monitus narrarem queam te grandis Homere / mollia blandifluo delimas uerba palato. 59 So konstruieren GRILLO 1988, 122f. und WASYL 2011, 32 Anm. 83. 60 S. auch den Kommentar z. St.

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III Kommentar

griechischen, wie später an den des lateinischen Epos zu richten, die das epische Vokabular in der jeweiligen Sprache geprägt haben. Der Dichter bittet den großen Homer, die richtigen Worte zu formen und ihm einzugeben (monitus 12). Das Thema der Sprache des Epos rahmt fast das Prooem, wenn es am Ende heißt: Attica uox te, sancte, fouet, te lingua Latina / commendat (28f.), während dazwischen die Prädikation der beiden Epiker und das Verhältnis des Dracontius zu ihnen ihren Platz finden. Gerade im Bereich der Formulierung scheint sich der Dichter von Homer und Vergil Unterstützung zu erhoffen. ZWIERLEIN 2017, 96–98, der delibas schreibt, erinnert an das Prooem des Lukrez im ersten Buch, wo ebenfalls Anrufung an Venus und Prädikation miteinander verwoben sind. Die Bitte des Prooems sieht er in 29f. uulgate, precor …, so daß Dracontius ausschließlich Hilfe bei der inhaltlichen Ausgestaltung von den TrojaEpikern wünscht. S. für Weiteres und Genaueres den Lemmakommentar. 11 ergo Schließt den Exkurs der Verse 7–10 ab und läßt gedanklich beim Verbrechen des Paris wieder einsetzen. nefas Paridis, quod raptor gessit adulter Auch hier kann (ähnlich 7f.) der Relativsatz von nefas abhängig gemacht werden, oder als zweites Objekt auf narrare bezogen werden. Gerere in eine Verbindung mit einem Wort für ‘Verbrechen’ zu stellen, ist seit Sen. Phoen. 453f. belegt; bei Dracontius noch laud. dei 2,475f., Orest. 370, außerdem laud. dei 3,592 (facinus) und satisf. 148 crimina (in der Dichtung sonst eher selten, ThLL VI 2,1938,24ff.). Vgl. für die Ankündigung eines nefas im Prooem besonders Romul. 10,1 fert animus uulgare nefas und Orest. 15 da ualeam memorare nefas laudabile nati. Adulter (mit Blick auf 508ff. mag die Bedeutung des Wortes auch in Richtung ‘Verführer’ gehen, vgl. SANTINI 2006, 32) für Paris auch Romul. 9,59 hoc agit et pugnam thalamis exercet adulter. Wie es Dracontius gern macht, verbindet er in raptor und adulter zwei Substantive miteinander, statt Substantiv und Adjektiv (vgl. etwa 557f.). 12 monitus Hier im Sinne von doctus durch Musen bzw. die Inspirationsquelle verwendet (ThLL VIII 1409,63ff., vgl. auch WOLFF 1996, z. St., der zu Recht „inspiré“ übersetzt). Vgl. auch Romul. 2,2 sic Musa mones. Um die Überlieferung zu halten, zieht GRILLO 1988, 122f. und ihm folgend WASYL 2011, 32, Anm. 83 te mit monitus zusammen und versteht einen auktorialen Ablativ ohne a, was grammatisch recht schwer möglich ist (s. auch ZWIERLEIN 2017, 98, Anm. 309). Problematisch erscheint zudem die Wortstellung (te mit seiner Stellung direkt hinter der Hephthemimeres wirkt doch sehr abgetrennt). narrare S. zu prodimus 3. Dracontius verwendet narrare üblicherweise, wenn es um das wirkliche Erzählen von Taten geht, weniger um das inspirierte Dichten, wie satisf. 21 qui facta ducum possem narrare meorum. 12f. te grandis Homere – / mollia blandifluo delimes uerba palato Viele Konjekturen sind für die seltene Vokabel delimare vorgebracht worden. M. E. ist es aber nicht vonnöten, die gesuchte Formulierung zu ändern, sie ist Teil des Kunstprogramms, das der Autor seinem Epyllion zugrunde gelegt hat. Sicher fügt sich

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eine Form von delimare nicht völlig rund in eine Metapher, die von palatum bestimmt wird, aber es darf wohl eine Metaphernmischung angenommen werden, die durchaus verständlich ist. Der überlieferte Indikativ delimas, der von VOLLMER MGH und WOLFF 1996 in den Text übernommen wurde, bedarf hingegen tatsächlich einer Emendation. Die fehlende Bitte soll mit dem von DE PRISCO konjizierten Konjunktiv delimes hergestellt werden. Daß hier ein Modus der Aufforderung zwingend erforderlich ist und der Satz nicht zur bloßen Beschreibung des homerischen Stils dient, läßt sich folgendermaßen erhellen: Zum einen ist deutlich, daß Homer hier als Ersatz für die Musen angerufen wird, die sonst den Dichter inspirieren und ihm die Worte in den Mund legen. Freilich findet sich eine solche Aufforderung am Ende der ersten Hälfte des Prooems mit uulgate precor (das Problem der Parenthese ist schon angeklungen). Jedoch ist auch an dieser Stelle eine solche Bitte erforderlich wegen der antithetischen Verbindung nefas narrare: Dracontius will etwas erzählen, was unaussprechlich ist (dies ist noch ein wenig wirkungsvoller als das uulgare nefas aus Romul. 10,1, weil narrare von Hause aus ein Verb des Sagens ist). Dazu ist die Hilfe des großen Vorbilds nötig. Und dazu paßt ganz wunderbar die Bitte um das Ausfeilen der Worte im Gaumen, zumal in der Sprache des Epos. Denn um Unaussprechliches zu sagen, ist die Hilfe ganz am Anfang der Wortproduktion nötig. grandis Homere Singuläre Junktur. Selten und nach Mart. 7,72,5 ausschließlich für die Spätantike zu belegen ist der Bezug von grandis auf eine Person in der Bedeutung ‘berühmt, mächtig’ (ThLL VI 2,2186,50ff.). BRUGNOLI 2001, 72f. und STOEHR-MONJOU 2015 (a), 232f. verstehen in grandis hingegen eine Charakterisierung des rednerischen Stils einer Person. 13f. Die beiden Verse sind als „goldene Verse“ gestaltet, also der Form nach ‘a b Verb A B’, bzw. in 14 mit der Abweichung ‘B A’, eine Versform, die sich in unserem Gedicht nur gelegentlich findet, die Dracontius aber insgesamt gern gebraucht (KAUFMANN 2006 [a], 39f.). 13 blandifluo … palato Gesuchter singulärer Ausdruck, der (mit delimes in einer Bildermischung) die besonnene Behutsamkeit betont, mit der die Worte geformt werden; nicht mit einer harten Feile, sondern mit einem sanften Gaumen. Palatum als am Sprechakt beteiligtes Organ ist seit Catull. 55,21 zu belegen (ThLL X 111,11ff.). Das palatum unserer Stelle wird im ThLL unter „respicitur munus loquendi“ eingeordnet, aber mit dem Zusatz „cum attributo, quod spectat potius ad facultatem loquendi“, was nahelegt, blandifluus dem Sinn nach auch noch auf uerba zu beziehen und von einer Enallage auszugehen (in der Übersetzung ist der grammatische Bezug beibehalten). Blandifluus begegnet bei Dracontius noch rosa blandifluas rutilans nectebat habenas (Romul. 6,76). Das Adjektiv, das nach homerischem Muster neu gebildet ist (für eine Zusammenstellung der Neuschöpfungen des Dichters s. WESTHOFF 1883, 52f.), ist implizit auf den Dichter selbst, nicht auf Homer zu beziehen (STOEHR-MONJOU 2015 [a], 233; dagegen BRETZIGHEIMER 2010, 367f., die zudem auf Boeth. cons. 5 carm. 2,3 melliflui canit oris Homerus verweist).

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III Kommentar

BRUGNOLI 1998, 195f. verweist (als Argument für die Konjektur des Partizips delimans) auf Prud. apoth. 979f., wo es heißt obtumesce, furor; linguam canis improbe, morde / ipse suam, lacero consumens uerba palato. Hier ist allerdings klar ein Verb im Aufforderungsmodus vorhanden, das bei Dracontius zunächst fehlt; es ergibt sich also kein Argument für die Konstruktion. delimes Wenn sich auch üblicherweise bei einem Musenanruf ein Imperativ an die Gottheit findet, so sind doch auch Konjunktive zu belegen (z. B. Claud. 22, 5 incipiat … Musa). Übertragene Bedeutung im Sinne von expolire (ThLL V 458,1, s. auch WOLFF 1996, z. St.) wie auch Novell. Iust. 61,1,3 et multo potius haec in dote ualebunt, si quid dotis aut alienetur aut supponatur: iam enim haec sufficienter delimata atque sancita sunt, Pass. coron. 1 artifices … coeperunt artis huius delimare sermonem, Lib. pontif. p.117,18 delimato sermone. uerba palato Vgl. für den Versschluß Hor. sat. 2,3,274, Ov. am. 2,6,47, Pers. 1,35, Prud. apoth. 980 (s. auch ZWIERLEIN 2017, 97). 14 in Aonio descendit fonte Es klingt die Tradition der Dichterweihe an, die seit Hesiod am Berg Helikon angesiedelt ist.61 Hier metaphorisch für den Anfang einer Dichtung. Aonia ist eine Landschaft in Böotien, deren vermutlich bedeutendster Ort der Helikon mit seinen beiden Quellen Aganippe und Hippocrene ist, die auch beide die Bezeichnung Aonius fons erhalten können. Hier handelt es sich in jedem Fall um die für die epische Dichtung zuständige Quelle (vgl. S. 143, Anm. 15). In mit Ablativ muß hier im Sinne von in mit Akkusativ verstanden werden und drückt eine Richtungsangabe aus (ThLL V 643,34. 78f.). Solch eine Verwendung der Präposition in begegnet häufiger bei Dracontius. Eine Stellensammlung bietet VOLLMER MGH 360 (überhaupt, auch bei anderen, eher späteren Autoren s. ThLL V 1,643,73ff.). Das bekannte dichterische Bild ist hier leicht überzeichnet, indem der Dichter eben nicht nur, wie üblicherweise, einen Schluck aus der Quelle nimmt, sondern sich ganz in ihr versenkt. Ein Bindeglied zwischen diesen beiden Vorstellungen mag in Proba cento 20 Castalio sed fonte madens vorliegen, wenn der Text so richtig ist (vgl. aber für die textkritisch umstrittene Stelle die Edition von ALESSIA FASSINA und CARLO M. LUCARINI, BT 2015, die †Castalio sed fonte magis …† drucken). Für die Bedeutung des Wassers in der Dichterweihe s. KAMBYLIS 1965, 23ff. Rein sprachlich-metrisches Vorbild für descendit fonte mag Sil. 8,179 descendens fonte sein. 15 te numen uult esse suum Numen als Inspirationsquelle auch 22 numina uestra uocans (s. auch den Eintrag dort) und Romul. 3,19 tu mihi numen eris. Camenae Die Camenen waren frühe römische Göttinnen, vermutlich Quellnymphen, die schon Livius Andronicus (uirum mihi, Camena, insece uersutum Liv. 61 Vgl. auch Romul. 3,15–17 qua praeduce cultor / antistesque tuus de uestro fonte, magister, / Romuleam laetus sumo pro flumine linguam / et pallens reddo pro frugibus ipse poema, wo der Lehrer Felicianus – ebenfalls ein Mensch – zur Inspiration angerufen wird.

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Andr. carm. frg. 1) und Naevius (immortales mortales si foret fas flere, / flerent diuae Camenae Naeuium poetam, Epitaph. Naev. Gell. 1,24,2,1f.) in der gleichen Bedeutung wie die griechischen Musen verwendet haben, also als Inspirationsgottheiten für die Dichtung.62 Vgl. auch Enn. ann. 2 V. = 487 Sk. Musas quas memorant nosce nos esse Camenas. 16 te praesente Das überlieferte praesenti ist, auch wenn diese Form auf -‘i’ im Ablativ gelegentlich begegnet (NEUE / WAGENER 2, 100f.), aus metrischen Gründen nicht haltbar. sensus Homeri Gemeint sein dürfte für sensus eine Mischung aus ‘Verstand’ und ‘Geschmacksempfindung’ (wegen der Bitte um die rechte Ausformulierung der Worte). 17 post fata uiget Oxymoron, das den Topos bedient, Dichter lebten in ihren Werken auch nach dem Tod fort.63 Fata in der typisch epischen Bedeutung mors (ThLL VI 1,359,22; vgl. auch Orest. 471 u. ö., Romul. 5,191, und besonders 322f. magnus cum Castore Pollux / semidei post fata uigent, Anth. 389 R. = 385 Sh.-B., 33 uitam de morte petit, post fata uigorem). Die Wendung post fata begegnet bei Dracontius insgesamt 14 Mal. 17–21 Dracontius läßt die beiden Dichter, Homer und Vergil, hier als die Handelnden auftreten. Sie selbst sind es, die zum Krieg rufen (wodurch Homer sogar selbst zum Rächer des Unrechts wird; auf diese Weise deutet Dracontius ihn schon in seine eigene Richtung, da er ja das nefas bedichten will), nachts einmarschieren, die Mauern niederreißen und töten. Diese Beschreibung ist von dem gestalterischen Mittel beeinflußt, daß der Dichter in seinem Werk stets selbst das tut, wovon er singt (LIEBERG 1982, 1ff.). Mit Blick auf Vergil wird das Verfahren gesteigert, wenn der Dichter sich einer seiner Figuren bedient (Pyrrhus), um die Geschehnisse in seinem Werk auszuführen (LIEBERG 1985, 42).64 Inhaltlich nimmt Dracontius bei beiden Dichtern nur einen jeweils winzigen Ausschnitt ihrer Werke in den Blick, aus denen sich der Anfang der Kämpfe um Troja (bei Homer), und deren Ende (bei Vergil) ergeben. 17 qui Relativsätze im Sinne der relativen Prädikation, die inhaltlich Ausschnitte aus den Epen präsentieren. 62 EMIL AUST: Camenae, RE 3, 1, 1427f. 63 Vgl. z. B. Ov. am. 1,15,40–42, Mart. 5,10,11f. u. ö., s. ROBERTO GUERRINI: „Post fata vivam“. Dipinti di Macrino d’Alba con iscrizioni latine. Ricerche sulla tradizione classica, Fontes 4–5, 2001–2002, 303–313; von Homer schreibt Ov. am. 1,15,9f. uiuet Maeonides, Tenedos dum stabit et Ide, / dum rapidas Simois in mare uoluet aquas, Lucan. 9,980ff., Anth. 417 R. = 415 Sh.-B.,9f. carmina sola carent fato mortemque repellunt; / carminibus uiues semper, Homere, tuis; das Oxymoron z. B. auch Plin. epist. 6,16,5. 64 Ähnlich verfährt Properz mit Vergil, wenn er 2,34,63f. schreibt: qui nunc Aeneae Troiani suscitat arma / iactaque Lauinis moenia litoribus. Vgl. auch MCKEOWN 1998, 11f. zu Ov. am. 2,1,11f. und 387f. zu 2,18,2.

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duxit ad arma Pelasgos Für die Junktur vgl. Prop. 3,3,40 nec te fortis equi ducet ad arma sonus. Es findet sich in statt ad Prop. 2,1,18 ut possem heroas ducere in arma manus, Manil. 5,352 ducet in arma. Formen von Pelasgus sind seit Enn. ann. 17 V. = 14 Sk. am Hexameterende zu belegen. Seitdem steht Pelasgi im lateinischen poetischen Sprachgebrauch für die Griechen allgemein (für uns ganz besonders deutlich in Vergils ‘Aeneis’ fassbar, s. DOMENICO MUSTI: Pelasgi, EV 4, 6f.), während griechische Autoren den Volksstamm selbst mit ihrem Namen bezeichnen (bei Homer sind die Pelasger Unterstützer der Trojaner; SKUTSCH 1985, 170). 18 Dardanidum uindex Der Dichter wird selbst zum Rächer der Griechen. Rache ist im Zusammenhang mit dem trojanischen Krieg ein bedeutsames Thema. So findet sich beispielsweise Claud. 15,484f. sic Agamemnoniam uindex cum Graecia classem / solueret oder Anth. 934 R.,2 Graeciae uindex capit arma mundi. Vgl. für die Wortbedeutung bei Dracontius z. B. Orest. 369 mare uindice Troiae). Die Form Dardanidum noch Verg. Aen. 2,242; 5,622; 10,4, Homer. 743, Avien. orb. terr. 1342, Orest. 138 (s. auch NEUE / WAGENER 1, 31; 35). in bella lacessens Der Versschluß noch Heptateuchdichter iud. 186, Romul. 8,374; 9,73 (vgl. auch 9,60); die Junktur Manil. 5,192; Romul. 8,295. 19 qui … poeta Bezugswort poeta ist in den Relativsatz hineingezogen. Gedanklich ist ein sensus poetae zu ergänzen, von dem der Relativsatz abhängig ist, parallel zu 14f. sensus Homeri, / qui … Troianos inuasit Für transitives inuadere bei Personen vgl. z. B. Sall. Iug. 49,3 signo dato Romanos inuadere (in der Dichtung insgesamt seltener mit direkten Personenbezeichnungen, eher mit abstrakten Personengruppen, wie etwa gens, turba, s. ThLL VII 2,109,56ff.). inuasit nocte Ebenso an gleicher Versposition auch laud. dei 3,280. Dort folgt eine Beschreibung des schrecklichen Kampfes in der Nacht unter Leonidas an den Thermopylen. Einem Leser, der beide Stellen kennt, mag sich das Drama der Schlacht auch ohne weitere Schilderung aufdrängen. 20 dum In der Bedeutung ‘indem’, hier mit Perfekt in strenger Gleichzeitigkeit zum übergeordneten Satz (H-S 613). armatos … clausit equo Bei Vergil heißt es Aen. 2,237f. scandit fatalis machina muros / feta armis, 258 inclusos utero Danaos, 259 laxat claustra Sinon; in 258 und 259 steht das Moment des Einschließens im Vordergrund, in 237f. die Waffen. Beides verknüpft Dracontius zu einem Ausdruck. 20f. moenia Troiae / perculit Die Mauern Trojas werden schon beschädigt, als das hölzerne Pferd in die Stadt gezogen wird (Verg. Aen. 2,234), ganz zerstört sind sie erst nach dem Kampf (3,2f. ceciditque superbum / Ilium et omnis humo fumat Neptunia Troia). Moenia Troiae erscheint seit Verg. Aen. 5,811 als beliebter Versschluß. Percellere mit moenia als Objekt ist singulär. Ähnlich aber Sil. 12,564 perculsae moenia Romae.

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21 Priamum Pyrrho feriente necauit Die Schilderung von der Ermordung des Priamus durch Pyrrhus, den Sohn Achills, findet sich in Verg. Aen. 2,526–558. Der Ablativus absolutus Pyrrho feriente dürfte eine instrumentale Konnotation besitzen: Vergil führt die Tat in seiner Dichtung aus, läßt sie aber durch Pyrrhus geschehen. 22–23 Der uilis uates gegen die Musagenes 22 numina uestra uocans Numen für einen Menschen, seinen Lehrer Felicianus, verwendet Dracontius auch Romul. 3,19f. in einer Anrufung: tu mihi numen eris, si carmina nostra leuaris; / nam tua sint quaecumque loquor, quaecumque canemus. Vom Verständnis dieser Stelle ist auch die Frage abhängig, ob Homer und Vergil hier als vergöttlicht vorgestellt sind, oder ob numen ausnahmsweise die Inspiration einer Person, insbesondere eines Dichters meinen kann. Zumindest bei der Stelle aus Romul. 3 wird deutlich, daß Dracontius seinen Lehrer nicht vergöttlicht, sondern ihn anstelle einer Inspirationsgottheit verwendet (tu mihi numen eris), der die Funktion einer Muse übernimmt (nam tua sint quaecumque loquor, quaecumque canemus). An unserer Stelle mögen die Dinge ein wenig anders liegen, und zwar durch das Possessivpronomen uestra, das den Dichtern selbst ein numen zuweist. Vielleicht ist es an dieser Stelle daher nötig, die Bedeutung des Wortes etwas weiter zu fassen, als es mit klassischen Stellen zu belegen wäre, und ‘Inspirationskraft’ zu verstehen (so auch WEBER 1995, 234). Für die Junktur numen uocare s. Lucan. 6,523f. nec superos orat nec cantu supplice numen / auxiliare uocat, Stat. silv. 5,1,164f. nunc magni uocat exorabile numen / Caesaris, Theb. 9,548–550 ades o mihi, dextera, tantum / tu praesens bellis et ineuitabile numen, / te uoco, Min. Fel. 29,5 sic eorum (sc. regum et hominum) numen uocant. 22f. quidquid contempsit uterque / scribere Musagenes S. die Einleitung zum Abschnitt für den Topos der Bescheidenheit. Der heftige Wechsel zwischen der 2. Person Plural in numina uestra und der 3. Person Singular bzw. Plural in contempsit uterque Musagenes mutet zunächst sehr hart an. Er läßt sich jedoch als Ausdruck einer Abgrenzung im Sinne der Bescheidenheit von den beiden großen Epikern erklären. Aus Zurückhaltung traut sich Dracontius nicht, offen anzuschließen, „was ihr nicht behandelt habt“, sondern wechselt dann in die dritte Person. Ein ähnliches Phänomen findet sich schon 16, wenn der Dichter eben noch Homer in der 2. Person Singular anruft (te praesente ‘ueni’), dann aber in die dritte Person wechselt (sat erit mihi sensus Homeri). Die Bedeutung von contemnere geht in Richtung ‘außer Acht lassen, wenig Interesse für etwas zeigen’ (SCHETTER 1987, 229f. = 1994, 311f.; DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 131); dagegen nimmt DE GAETANO 2009, 127 die Bedeutung ‘verschmähen, geringachten’ an. Letzteres läge näher, so DE GAETANO, weil Dracontius das gleiche Wort benutze, um anzugeben, wie Paris mit der unterlegenen Göttin Iuno (contempta Iunone 36, im Gegensatz zu laudata Venere 35f.) im Schönheitswettstreit umgehe. Doch scheint diese Gleichsetzung zu pauschal. Denn die Dichter Homer und Vergil haben nicht in einem Prozess entschieden, dieses Thema

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sei gut, jenes schlecht, sondern die Sache schlicht nicht behandelt. Unterstützt wird dieses eher ‘positive’ Verständnis von contemnere auch durch das anschließende Gleichnis, in dem es heißt cibos quos pasta recusant / uiscera, quos rabies iam non ieiuna remisit (25f.). Übersättigung ist der Grund für das Übriglassen der Reste, nicht zwingend eine Geringschätzung. 23 hoc uilis colligo uates Dem Hauptsatz sind über eineinhalb Verse eine Partizipialkonstruktion und ein verallgemeinernder Relativsatz vorgeschaltet. Vilis uates (eine singuläre Junktur) steht im Gegensatz und in Abgrenzung von grandis Homere (12) und Musagenes. Colligere greift als poetologisch genutzter Begriff schon auf das Gleichnis mit Fuchs und Löwe voraus, indem es das Zusammenbringen der übriggebliebenen Geschichten andeutet. Es ist nicht ausgeschlossen, die Stelle parodistisch zu verstehen: Hier könnte eine Art Selbstironie und eine Ironie des klassischen Dichterverständnisses als göttlich inspirierter Mensch offenbar werden. Dann wäre Dracontius kein Dichter, den die Musen berufen haben, ihm reiche ein Blick in seine Homer- oder Vergil-Ausgabe, um zu sehen, worüber er noch schreiben könne. Das wäre ein bißchen „billig“ und eigentlich gegen die Berufsehre, auch gehörte der übrige Stoff nicht mehr zu den Reißern (nuda ossa, 27), trotzdem ginge er gewitzt und schlau wie ein Fuchs damit um. Musagenes … uilis … uates Das Wort Musagenes ist singulär in der erhaltenen lateinischen Literatur: „ad instar vocum graecarum velut νυμφαγενής formatum ex μοῦσα et -γενής. i. q. ex musa natus, musae filius“ ThLL VIII 1695,19f. (vielleicht auch in Anlehnung an das Patronymikon Homers – Melesigenes; das kurz gemessene ‘a’ erklärt sich durch den freien Umgang des Dracontius mit den Quantitäten mythologischer Eigennamen, s. VOLLMER MGH 443). Die Musensöhne sind Dracontius lieber als die Musen selbst, wobei diese Sicht im Vers weniger von Bedeutung ist, als vielmehr der Gegensatz zum uilis uates. Schon uates steht auf einer weit niedrigeren Stufe als Musen, oder Musensöhne, weil er deren Hilfe zum Dichten benötigt. Die Hinzusetzung des Epithetons uilis verdeutlicht die Diskrepanz um ein weiteres Stück (der Gebrauch dieses Attributs könnte vielleicht eine direkte Verbindung zum Gleichnis darstellen. Denn in Anth. 390 R. = 386 Sh.-B.,19, wo Fuchs und Löwe gemeinsam genannt sind, heißt es altaque iungatur uili cum uulpe leaena). Dennoch ist das Wort uates, wenn auch mit uilis abgeschwächt, ein selbstbewußt gewähltes, da ein uates die Wahrheit kennt, inspiriert ist und auf dieser Grundlage sein Gedicht künden kann. Somit oszilliert diese Junktur zwischen Bescheidenheit und Selbstbewußtsein (zur Topik der Bescheidenheit s. CURTIUS 8 1973, 93–95, vgl. auch WEBER 1995, 234 und oben die Einleitung zum Abschnitt S. 140). 24–27 Gleichnis Auch wenn in der Literatur gelegentlich Löwe und Fuchs miteinander interagierend begegnen, so besonders in der Fabel, aber auch in Gleichnissen,65 läßt sich ein 65 Vgl. dazu KELLER 1887, 182f.

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direktes Vorbild für diese Zusammenstellung nicht eruieren. 66 Ob dies mit dem Verlust so vieler Werke zu erklären ist oder mit der Eigenständigkeit des Dracontius, läßt sich nicht sagen. Löwe und Fuchs erhalten in diesem Gleichnis keine ihrer stereotypen Attribute (kampfestüchtig und schlau), die aber trotzdem in der Wahrnehmung mitwirken. So schätzt man die Füchse automatisch als schlau ein, auch wenn die Formulierung dagegenspricht (laudis habent sperare, praedam … putant nuda ossa ferentes) und eher meinen läßt, daß sie sich für schlau halten. Aber dies ist freilich eine Strategie des Bescheidenheitstopos. Im Grunde sind die Füchse doch den Löwen überlegen oder zumindest ebenbürtig, weil sie eben keine Anstrengung auf sich nehmen müssen, aber trotzdem satt werden, vielleicht nicht vom besten Fleisch, aber überhaupt von Fleisch.67 Die Löwen spielen kaum eine Rolle, sie treten in ihrer gewöhnlichen Funktion als Raubtiere auf, mit den Füchsen aber in keine Interaktion.68 Auf der Realebene oszilliert die Wirkung des Gleichnisses zwischen deutlicher Bescheidenheit und großem Stolz auf die Nähe zu den großen Dichtern. 24 reliquias praedae … sperare Reliquias praedae ist eine singuläre Junktur (reliquias wird aber mit einem Genitiv gemeinsam häufig als Versanfang gebraucht, bei Dracontius noch laud. dei 3,368, Romul. 5,7). Das re- von reliquias wird wie auch an den beiden anderen Stellen gelängt (WOLFF 1996, z. St.). Praeda und sperare begegnen gemeinsam Ov. trist. 1,11,29, Sil. 10,24. 25 laudis habent An sämtlichen Stellen, an denen laudis habere begegnet, kann der Genitiv von einem übergeordneten Wort abhängig gemacht werden. Der bloße Genitiv scheint singulär zu sein. Er läßt sich hier grammatisch am ehesten als finaler Genitiv auffassen, wie er etwa auch Romul. 5,253 laudis erit und Romul. 9,58 quod laudis habetur begegnet (s. H-S 71f., BOUQUET [/ WOLFF] 1995, 272). meruisse cibos Cibus läßt sich für menschliche wie tierische Speise gleichermaßen verwenden (ThLL III 1042,1ff.). Meruisse cibos kann als Umschreibung für das folgende praeda verstanden werden, da in mereri häufig die Aktion, mit der man etwas verdient oder erhält, gedanklich mitschwingt. 25f. quos pasta recusant / uiscera, quos rabies iam non ieiuna remisit Variatio derselben Aussage: rabies iam non ieiuna entspricht pasta uiscera; remisit entspricht recusant. Die Substantive und die jeweils dazugehörigen Attribute sind chiastisch gestellt. Es klingt Hier. epist. 9,3 ubi uero sanguine pasta feritas uiscera distenta compleuerit an (WOLFF 1996, z. St.). 66 S. den Eintrag im Kommentar zu Vers 23 für Anth. 390 R. = 386 Sh.-B.,19, wo Fuchs und Löwe nebeneinander begegnen und der Fuchs durch uilis abgewertet wird (s. zur Bewertung des Tieres KELLER 1887, 182). 67 In reliquiae praedae (24) wird deutlich, daß durchaus noch etwas Essbares unter den Resten sein muß, auch wenn nuda ossa (27) das Gegenteil aussagen mag. Letzteres scheint zur Unterstreichung ein wenig übertrieben zu sein. 68 Es verhält sich hier wie mit allen Gleichnissen, die nie in allen Punkten auf die Realebene angewendet werden können.

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pasta … / uiscera Für die Junktur vgl. Prud. cath. 4,1 pastis uisceribus (vom Menschen nach dem Essen). Hier meint uiscera im Sinne einer Synekdoche den Löwen. S. VOLLMER MGH 385 für pastus in der Bedeutung ‘gesättigt’. rabies iam non ieiuna Rabies ist Synekdoche für den Löwen (dagegen WOLFF 1996, z. St., der ‘Hunger’ versteht), wie auch Romul. 5,311 praedam rabies contempsit fulua iacentem (für diese metonymische Verwendung von rabies s. auch ThLL XI 2,11,48ff.). Vgl. für das Wortmaterial satisf. 269 quando fames rabidi quamuis ieiuna leonis. 27 exultant Die Konstruktion mit bloßem Infinitiv ist eher ungewöhnlich (ThLL V 2,1950,83ff., VOLLMER MGH 436), scheint jedoch von Dracontius standardmäßig verwendet zu werden, da er auch 413 so konstruiert (dort ebenfalls von Tieren) und laud. dei 3,552. Romul. 8,326 gebraucht er quod. nuda ossa Gehört grammatikalisch und gedanklich sowohl zu praedam putant als auch zu ferentes. Nuda verstärkt den Gegensatz zwischen praeda und ossa. Für die Junktur vgl. Ov. am. 2,9,14, Sen. Tro. 894, Stat. Theb. 12,568, Comm. apol. 143 (ossa nudata), nach Dracontius noch Coripp. Ioh. 6,322. ferentes Konzessiv-adversativ gefärbtes Partizip. 28–30 Bitte um Inspiration 28 Attica uox te … te lingua Latina Was Dracontius in der Anrufung schon angedeutet hat, indem er Homer um die Formung der für epische Dichtung passenden Worte gebeten hat, wird hier explizit verdeutlicht, und beide Epiker werden ihren Sprachen zugeordnet. Diese Aufteilung zugrunde legend wird der Dichter, was die Sprache angeht, nun Vergil folgen. Versanfang und Versklausel ergeben eine chiastische Anordnung der Worte, eine gespiegelte Wortstellung. Vox hier in der Bedeutung ‘Sprache’ (OLD s. v. 2104, 9). Atticus anstelle von Graecus (WOLFF 1996, z. St.). In Verbindung mit der lateinischen Sprache auch Auson. 5,9f. GREEN sermone impromptus Latio, uerum Attica lingua / suffecit culti uocibus eloquii. Vgl. auch Diom. gramm. I 335,2 (sc. Homerus) Atticae linguae cultor.69 sancte Dracontius mag im Anschluß an Ennius (frg. 19 V. = Op. inc. 19 Sk. sancti poetae; auch wenn Ennius nicht mehr selbst greifbar war, ist er über Zitate vermittelt worden: Cic. Arch. 18 suo iure noster ille Ennius sanctos appellat poetas, quod quasi deorum aliquo dono atque munere commendati nobis esse uideantur), sich mit seinem Werk in die pagane Tradition stellend, Homer mit sancte ansprechen. In diese Richtung weist auch die Anrede sancte an den Lehrer Felicianus Romul. 1,12 (auch die Christen gebrauchen sanctus für Personen, denen sie eine hohe Achtung entgegen bringen, ohne religiöse Konnotation, z. B. Min. Fel. 1,3). Vgl. für diese Verwendung für Dichter auch noch Ov. fast. 6,539f. tanto / sanctior et tanto, quam modo, maior erat. fouet In übertragener Verwendung mit der Bedeutung ‘unterstützen’, jedoch mit ungewöhnlichem Subjekt der Sache (erst seit Auson. 10,4,27 GREEN zu belegen, s. ThLL VI 1,1223,22ff.). 69 Vgl. für die Stelle auch STOEHR-MONJOU 2015 (a), 232.

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29 commendat In der Bedeutung ‘empfehlen’ (ThLL III 1844,26f. 1848,22f.). Der Gedanke ist fein: Dinge können normalerweise nur mittelbar empfehlen, die Stimme und die Sprache aber, wie die Menschen, auch mit Worten. uulgate, precor Die Verbindung ist singulär. Vulgare ist üblich für das Verbreiten von Information (FORCELLINI s. v.); in dieser Bedeutung gebraucht es Dracontius auch Romul. 10,1 und 16. Precor nutzt er Romul. 10,416 da ueniam, Medea precor bei einem Anruf an eine Göttin (Medea an Diana). 29f. quae causa nocentem / fecit Alexandrum raptu spoliare Amyclas Daß Paris Helena schließlich gar nicht aus Sparta entführt, ist kein Widerspruch zu dieser Anfangsfrage. Denn aus ihrer Heimat und von ihrem Ehemann aus Sparta ist sie geraubt, auch wenn der Vorgang selbst an einem anderen Ort stattfindet (s. dazu auch die auffällig vielen Hinweise auf Sparta in der Szene auf Zypern, s. 435ff.; der Vorwurf der Unachtsamkeit darf dem Dichter nicht gemacht werden, wie es BRIGHT 1987, 123 tut). Der Name Alexander anstelle von Paris begegnet in der lateinischen Literatur eher selten (WOLFF 1996, z. St.; ThLL I 1531,72f.), Dracontius verwendet den Namen nur noch vier weitere Male, sämtlich in diesem Gedicht, stets an gleicher Versposition (97. 225. 366. 603).70 Der Indikativ im indirekten Fragesatz begegnet gelegentlich bei „mit Imperativen verbundenen Erkundigungsfragen“ (H-S 538), so daß eine Emendation des fecit nicht notwendig ist; vgl. Catull. 69,10 admirari desine, cur fugiunt. Außerdem findet diese Lizenz bei Dracontius offensichtlich großen Gefallen, eine umfangreiche Stellensammlung bietet der Index bei VOLLMER MGH 434f. Problematischer ist der überlieferte Infinitiv spoliare. Wegen des entstehenden Hiats schrieb VOLLMER für das spoliare des Codex spoliaret (von WOLFF 1996 in den Text übernommen), was aber ebenfalls Schwierigkeiten mit sich bringt.71 Die lateinische Regelgrammatik erlaubt freilich einen bloßen Konjunktiv nach Formen von facere, er begegnet jedoch relativ selten, wenn es sich dabei nicht um Imperative handelt (K-S II 228, H-S 530). Bei Dracontius findet sich die Konstruktion laud. dei 1,731f.: qui facit aeternam mortalia lege latenti / membra tegant animam uento spirante loquaci. Die Emendation VON DUHNs (raptu ut spoliaret Amyclas) sollte vielleicht wegen der sich daraus ergebenden unschönen metrischen Gestaltung (nämlich einen langen Vokal vor einem kurzen zu elidieren, CRUSIUS 81967, 14f.) nicht in den Text gesetzt werden (zugegebenermaßen verwendet der Dichter eine solche Elision Orest. 577 poena sit haec matri, ut prostrato uiuat Egisto, wie ZWIERLEIN BT z. St. zitiert, der VON DUHNs Konjektur in den Text setzt). BAEHRENS ordnet: ut raptu spoliaret Amyclas und nimmt eine andere unschöne Elision 70 Ob Dracontius neben der Variatio eine weitere Absicht verfolgt, ist schwer auszumachen. Die für Homer postulierte Unterscheidung zwischen einem ‘göttlich’ genutzt und konnotierten Namen und einem ‘menschlichen’ läßt sich nicht übernehmen (vgl. IRENE J. F. DE JONG: Paris/Alexandros in the Iliad, Mnemosyne 40, 1987, 124–128, MICHAEL LLOYD: Paris/Alexandros in Homer and Euripides, Mnemosyne 42, 1989, 76–79, ANN SUTER: Language of Gods and Language of Men: The Case of Paris/Alexandros, Lexis 7/8, 1991, 13–25). 71 Vgl. für die Stelle ausführlich GRILLO 1988, 118ff.

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in Kauf. Die bei allen drei Lösungen zwei verschiedenen von facere abhängigen Konstruktionen sind unproblematisch. Die insgesamt sprachlich und metrisch nicht völlig überzeugenden Emendationen raten zu der Prüfung, ob mit der Überlieferung, also einem Infinitiv nach facere und damit einem Hiat, vielleicht doch durchzukommen ist. Grundsätzlich sind Hiate, wenn auch zumeist vermieden, möglich, gerade bei griechischen Eigennamen (CRUSIUS 81967, 19), der mit Amyclas an unserer Stelle vorläge. Zudem ist ein Hiat bei Amyclae schon bei Lucilius 957f. zu belegen: nam scio Amyclas tacendo periisse. Vor einem griechischen Eigennamen und in einer Senkung findet sich auch bei Dracontius ein möglicher Hiat: niueam cum Iasone Glaucen (Romul. 10,426, wenn man nicht Jason lesen muß, s. auch VOLLMER MGH 442; weitere Hiate bei Dracontius z. B. laud. dei 1,431; 2,60). Auch und gerade der Infinitiv nach facere spricht für die Annahme des Hiats. Denn besonders im Spätlatein erlebte facere mit AcI als kausativer Ausdruck einen Aufschwung, seit der Vetus Latina und seit Tertullian in der Prosa (H-S 354; THIELMANN 1885, 185ff.). Auch bei Dracontius scheint sich diese Konstruktion einiger Beliebtheit zu erfreuen: laud. dei 2,246. 735; 3,169f. 341, satisf. 13. 217, Romul. 8,163 (die Konstruktion mit bloßem Konjunktiv oder ut mit Konjunktiv ist weniger häufig zu belegen). Dies spricht insgesamt dafür, die Überlieferung zu halten (auch GRILLO 1988, 120 entscheidet sich dafür). Für die Konstruktion des AcI ergibt sich, daß nocentem (in der Bedeutung ‘schuldig’ s.v. OLD 1183, 2a) als proleptische attributive Ergänzung zu Alexandrum zu verstehen ist, was gemeinsam den Akkusativ bildet. 30 Amyclas Eine kleine Stadt in der Nähe von Sparta; mit diesem Namen wird in der Dichtung häufig Sparta bezeichnet (ThLL I 2028,15f.; PERIN s. v. 110). Die Verwendung von Amyclae für Sparta an dieser Stelle, sowie die Idee des Verses dürfte von Statius beeinflußt sein: Dardanus incautas blande populatus Amyclas (Ach. 1,21). Vgl. auch Sidon. carm. 9,121f. hospitales / raptor depopulatus est Amyclas. S. auch zu 439 tacitas quod lustrat Amyclas. 31–60 Erweitertes Prooem 31–48 Das Parisurteil und seine Folgen In der ‘Aeneis’ und in der ‘Ilias’, deren Vorgeschichte zu erzählen sich Dracontius anschickt, erfährt das Parisurteil zumindest eine Erwähnung:72 In der ‘Aeneis’ gleich im Prooem innerhalb der Archäologie (Verg. Aen. 1,27),73 wo sogleich deutlich gemacht wird, daß Paris ein Unrecht begeht, indem er die Schönheit zweier Göttinnen zurückweist: spretae … iniuria formae. In der ‘Ilias’ im letzten Gesang

72 Ausführlich wurde es in den ‘Kyprien’ behandelt (F 5 Ath. 682 d–f, s. WEST 2013, 75–79), vgl. E. BETHE: Parisurteil und Kyprien, Hermes 66, 1931, 239f., MARTINA HIRSCHBERGER: Kyklische Epen, in: ANTONIOS RENGAKOS / BERNHARD ZIMMERMANN: Homer-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart / Weimar 2011, 150–155. 73 Zu Vergils Archäologie s. VON ALBRECHT 1999, 89.

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(24,27–30)74, wo auf die Kränkung der beiden verschmähten Göttinnen verwiesen wird. Dracontius knüpft also direkt dort an, wo zumindest Vergil auch die Ursachen des Krieges sucht (bei Homer erscheint das Urteil des Paris zwar auch als Ursache für den Haß der Göttinnen und damit für den Krieg, aber diese Beurteilung ergibt sich nur nebenbei, als Begründung, warum Hera und Athene gegen die Schändung Hektors nichts unternehmen wollen). Scheinbar steigt der Dichter nun in die Erzählung der Handlung ein, nachdem er nach der Ursache für den Raub der Helena gefragt hatte (29f.).75 Erst später wird offenbar, daß sich hier erst der zweite Teil des Prooems ankündigt. Die im Vergleich zum übrigen Prooem ausführlichere Erwähnung und Ausgestaltung des Paris-Urteils ergibt sich notwendigerweise für den Dichter, weil es sich dabei um den Auslöser für die verderbenbringenden Ereignisse handelt, der mit seiner Hauptperson zusammenhängt. Die Betonung liegt stets auf der Verantwortung des Paris für die kommenden Ereignisse. Er ist zwar unwissend (nescia mens 37), aber dadurch eben auch unvorsichtig, egoistisch und überheblich, was für sein Versagen keine Entschuldigung ist.76 Die Darstellung des Parisurteils selbst ist sehr minimalistisch angelegt, was die Erzählung der Handlung angeht.77 Vom eigentlichen Ablauf der ‘Gerichtsverhandlung’ erfährt man hier fast nichts. In einem Vers wird die Situation zusammengefaßt (31, der Richter vom Ida saß über Göttinnen zu Gericht), zwei Verse umfaßt die Ekphrasis des Handlungsortes (32f.), und danach ist nur noch vom Ergebnis die Rede: zunächst nur mit Blick auf Paris und die Göttinnen (34–40a), dann auf Troja und ganz Griechenland (41ff.). Dieser Befund ist umso beachtlicher, als eben gerade der gleichsam rhetorische (oder zumindest rhetorisch vorstellbare) Teil völlig ausgelassen wird. Von Bedeutung ist nur das Endergebnis und die dadurch mögliche Charakterisierung des Protagonisten. Passend zum pastor, aber völlig unpassend für einen iudex erhebt sich ein locus amoenus vor dem Auge des Betrachters. Daß er von juristischen Vokabeln durchsetzt ist (tribunal, uadimonium, lis), zerstört seine Unberührtheit und das üblicherweise schadlose Leben eines Hirten. Das bukolische Leben wird so in einen Zusammenhang gestellt, in den es nicht gehört – Konflikte dieser Art werden in der Bukolik normalerweise nicht ausgetragen. Indem Paris zum Richter wird (und nicht nur innerhalb eines kleinen Sängerwettstreits, wie ihn die Hirten gelegentlich untereinander austragen), hebt er sich über die Grenzen des Hirtenlebens hinaus und fällt tief.78 74 Wenn die Verse nicht für unecht zu halten sind, vgl. ANTON BIERL / JOACHIM LATACZ (Hrsgg.): Homers Ilias. Gesamtkommentar, Band VIII. 24. Gesang, Faszikel 2: Kommentar von CLAUDE BRÜGGER, Berlin / New York 2009, 25f. 75 Zunächst wirkt es wie ein abrupter Einstieg in die Handlung. Ein harter Übergang vom Prooem zur Handlung findet sich auch Romul. 2,4; s. WEBER 1995, z. St. 76 WASYL 2011, 34. 77 S. dazu auch die Einleitung 2.1.2. 78 Die Einschätzung, daß das Urteil eines Menschen über Götter ein Verbrechen gegen die Gottheit darstellt, findet sich auch Ov. epist. 5,40 constitit esse nefas.

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III Kommentar

Durch die wenigen Worte zum Handlungsablauf wird ein schnelles Voranschreiten der Handlung ermöglicht, woraus sich wiederum eine größere Betonung der Diskussion über das Ergebnis, bzw. ein umfassendes Ermessen sämtlicher Folgen ergibt. Die vergleichsweise hohe Zahl an Gedichten der ‘Anthologia Latina’, die das iudicium Paridis zum Thema haben oder anklingen lassen, auf das auch sonst in der antiken Literatur allenthalben angespielt wird,79 spricht für einen hohen Bekanntheitsgrad dieser Geschichte in der Zeit des Dracontius, die aus diesem Grund, obwohl nur kurz angerissen und ganz grob skizziert, verständlich ist. Am auffälligsten sind sicher die auf den ersten Blick fehlenden traditionellen Bestechungsversuche der Göttinnen, von denen dann nur Venus’ Versprechen 64f. Erwähnung findet. Doch mit pretio (39) dürfte auch diese Information zumindest im Hintergrund präsent sein. Der Fokus wird auf die Bestechlichkeit des Richters gelenkt, unabhängig von der Eingenommenheit eines jungen Mannes für die Liebe, wie es in der Tradition begegnet.80 Die folgenden Verse sind wegen der Fülle anachronistisch eingesetzter juristischer Vokabeln, die jedoch nicht immer in ihrer Terminologie durchsichtig verwendet sind, besonders problematisch und inhaltlich schwer zu erfassen (insbesondere der Aufbau des Gerichtsschauplatzes 32f.).81 Die offensichtlich beabsichtigten Anachronismen lassen die Veranstaltung wie eine römische Gerichtsverhandlung wirken, die aber in der Umgebung des Mythos und der bukolischen Welt komisch wirkt. Sie stellen damit ein Beispiel für den gezielten Einsatz komischer Elemente innerhalb des Gedichts dar.82

79 Anth. 4 R. = Sh.-B. 3; 40 R. = 27 Sh.-B.; 164 R. = 153 Sh.-B.; 863a R. Erwähnt seien hier noch [Ov.] epist. 16 und 17, wo auf das Parisurteil hier und da rekurriert wird. Für die große Bekanntheit spricht auch der lange Abschnitt, der diesem Mythos im Werk des Hygin gewidmet wird, das sich doch durch besonders kurze Textstücke auszeichnet. Einen messbaren Einfluß auf Dracontius dürfte auch die Schilderung eines Parisurteils in Theaterform bei Apuleius (10,33f.) gehabt haben (s. zu 37. 39; für das dort herausgearbeitete Thema des korrupten Richters s. BRETZIGHEIMER 2010, 374). Wie es sich mit den möglichen griechischen Vorbildern (z. B. dem fragmentarisch erhaltene Stück ‘Alexandros’ des Euripides [vgl. THOMAS CHARLES WARREN STINTON: Euripides and the Judgement of Paris, London 1965] oder Lukian, Göttergespräche 20, auch dem ‘Raub der Helena’ des Kolluthos) verhält, läßt sich schwer sagen (vgl. die Einleitung Kap. 3). Lukian legt einen spürbar anderen Fokus auf die Geschichte, indem er sie dramatisch ausgestaltet und die Frage nach der Schuld des Paris nicht stellt (es wird im Gegenteil häufig betont, wie sehr Paris seines Amtes würdig sei). Ausführlich deutet Fulgentius (myth. 2,1) das Parisurteil christlich-allegorisch, der damit jedoch in einer anderen Tradition als Dracontius steht. Das Thema des Parisurteils behandelt ganz kurz auch ein weiteres Gedicht aus der ‘Anthologia Latina’ (166 R = 155 Sh.-B.): dat Veneri malum formae pro munere pastor; / cum Iunone dolens uicta Minerua redit. Wörtliche Übereinstimmungen mit der Version des Dracontius finden sich nur in der Reaktion der unterlegenen Göttinnen mit dolens, uicta und redit (vielleicht als Anklang an recedit). Für eine Zusammenstellung s. auch WITEK 2013. 80 WASYL 2011, 34f. Die von ihr geäußerte Idee, Dracontius könnte die Richter, mit denen er täglich zu tun gehabt hatte, im Hinterkopf gehabt haben, ist denkbar, aber bei der Quellenlage eine bloße Vermutung. 81 S. dazu ausführlich SANTINI 2002, 34f. 82 S. auch die Einleitung Kap. 2.1.3.

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31 caelicolum Das Wort wird seit Ennius für die Götter gebraucht; der Genitiv Plural erscheint fast immer in der synkopierten Form (NEUE / WAGENER 1, 31f.). Hier mit arbiter zu verbinden. praetor … arbiter Dracontius verwendet für Paris zwei Berufsbezeichnungen aus dem juristischen Bereich, die normalerweise nicht synonym verwendet werden, sondern unterschiedliche Ämter meinen (SANTINI 2002, 260f.): Ein praetor (ein Wort, für das es wenige Belege in der Dichtung gibt; bei Dracontius in der Grundbedeutung laud. dei 3,429) ist für die Organisation des Prozesses und auch die Bestimmung der iudices und arbitres verantwortlich und für gewöhnlich nicht mit ihnen identisch. In der traditionellen Mythenversion wäre Paris der arbiter und vielleicht Jupiter am ehesten der praetor. Man darf sicher annehmen, daß Dracontius, ein Mann, der mit Rechtstermini mehr als vertraut gewesen sein muß, die Worte mit Bedacht beide unterschiedslos auf Paris setzt, ohne sie synonym zu verwenden (synonym versteht sie WOLFF 1996, z. St.): Dessen Perfidie steigert sich deutlich, wenn er in der Darstellung als einer erscheint, der sich selbst zum Richter gemacht hat (ähnlich SANTINI 2002, 263; so ist denn auch die zunächst naheliegende Konjektur BÜCHELERs [verteidigt auch von BRUGNOLI 1998, 197–199], nämlich pastor, unnötig und zerstört die Pointe; s. auch GRILLONE 2006, 92). Geht man von diesem Doppelamt des Paris aus, dann sollte praetor das Subjekt sein, aus Gründen der Chronologie, und arbiter Idae prädikativ zu verstehen sein (anders WOLFF 1996, z. St. und ihm folgend SANTINI 2002, 259). iam sederat arbiter Idae Sedere ist als Terminus der Gerichtssprache zu verstehen; es sitzen diejenigen Magistrate (auf der sella), die eine Auseinandersetzung zu entscheiden haben. Vgl. für dichterische Belege Ov. Pont. 3,5,23f., besonders Prop. 3,19,27 (Minos sedet arbiter Orci), Sen. Herc. f. 731. Das Plusquamperfekt in Verbindung mit dem temporalen Adverb iam verdeutlicht den Neuansatz im Text, hier den Übergang zum zweiten Teil des Prooems mit der eingelegten Schilderung des Parisurteils (dagegen ROSSBERG 1887 [b], 839f., der in iam die Datierung eines Ereignisses sehen möchte und in surgens herbida tellus die Andeutung einer Jahreszeit). Der Ida ist ein Berg in der Nähe von Troja, wo das Parisurteil in der Tradition häufig stattfindet (PERIN I 781). Der Versschluß auch 221 bonus arbiter Idae. 32f. Diese beiden Verse umfassen die Ekphrasis des Gerichtsortes. Auch hier sind die Begrifflichkeiten teils problematisch, teils unklar, und so sind bereits verschiedene Erklärungen vorgebracht worden für das Verständnis der Lokalität (s. auch WOLFF 1996, z. St.). ROSSBERG 1887 (b), 839f. entwickelt für gremium eine neue Bedeutung (in Weiterführung einer Idee von LOUIS HAVET) und will für iam gremium caespes … stabat „schon stand das gras so hoch, dasz man es zu gebunden fassen konnte“ (sic!) verstehen. VOLLMER MGH 157 sieht in gremium den Standplatz der Göttinnen. Surgens herbida tellus ist nach seiner Auffassung ein Hügel, der sich in einer Art Einfassung des Platzes nach oben erhebt und mit herbosa, dem Tribunal als Sitz des Richters abschließt. Dies deckt sich fast vollständig mit dem Verständnis SCHENKLs 1873, 515, der nur auch surgens herbida tellus zum Tribunal zieht. ELLIS 1874, 257 (und ihm folgend DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 390) versteht, daß sich ein Rasenstück (caespes und herbida tellus) zu einem laubenartigen

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Gebäude (gremium) erhebt, und ein rasenbedeckter Platz als Ort für das Gericht über die Göttinnen diente (so auch WOLFF 1996, z. St. und in der Übersetzung, außer daß er für gremium die Bedeutung ‘Gerichtsort’ annimmt). Die einleuchtendste Erklärung haben bisher GUALANDRI 1974, 883 und anschließend präzisierend SANTINI 2002, 263 gefunden, indem sie dem Wort gremium die Bedeutung ‘Richterstuhl’ zuweisen. Diese kann mit vergleichbaren Stellen belegt werden; sie verweisen auf Plin. paneg. 64,1f. consulis sellam … imperator … stetit ante gremium consulis, wo gremium den Sitz eines Konsuls bezeichnet, und auf Cassiod. var. 12,5,6 adulter gremium iudicis intremiscat (ebenso als Synonym zu sella), wo gremium die Sitzgelegenheit eines Richters meint.83 Gestützt wird die Auffassung von gremium als Richterstuhl des Paris zudem durch SANTINIs Argument, daß in diesen Versen Paris das Thema und die handelnde Figur ist. Schon 31 geht es allein um seine Ämter. Die Göttinnen werden bisher kein einziges Mal erwähnt (höchstens implizit in caelicolum). Da ist es ganz natürlich, daß auch gleich im Anschluß weiterhin auf Paris Bezug genommen wird und sein Platz (nicht der der Göttinnen) innerhalb des Gerichtortes als erster genannt wird („es war ein Rasenstück als Richterstuhl da“; zu stabat s. z. St.). Dann erklärt surgens herbida tellus das Wort caespes näher („ein sich erhebendes grasgrünes Stückchen Erde“), wofür auch die Anapher iam spricht. Tribunal und herbosa beschreiben verallgemeinernd den ganzen Platz: „und so hatten in der Tat die grünen Flächen einen Gerichtsort für die Göttinnen ergeben“. 32 gremium In der seltenen Verwendungsweise für den Sitz eines Beamten oder Richters, belegbar bei Plin. paneg. 64,2, Iuvenc. 4,588f., Cassiod. var. 12,5,6, (ThLL VI 2,2324,33ff., GUALANDRI 1974, 883; SANTINI 2002, 262f., so auch ZWIERLEIN 2017, 99 und Anm. 311; SCHENKL 1873, 515 versteht dagegen gremium als Platz vor dem Tribunal, wo die Göttinnen stehen sollten). herbida tellus Die Junktur noch Romul. 2,130 herbida quod uitreum tellus perfuderat antrum (so auch ZWIERLEIN 2017, 99, Anm. 313). 33 stabat Die bisher vorgebrachten Konjekturen RIBBECKs iam stabula (1873, 462) und BAEHRENS’ pascua, geben einen Eindruck vom problematischen Verständnis dieser Stelle. Hier soll neben dem Versuch von SCHENKL 1873, 515, der Ov. fast. 5,383 saxo stant antra vergleicht, freilich in anderer Konstruktion, aber gleicher Verwendungsweise, auch vorgeschlagen werden, stare im Sinne von esse zu verstehen (für den Gebrauch s. H-S 395): „schon war da = schon stand da“. ZWIERLEIN 2017, 99–101 betont völlig zu Recht die Schwierigkeit, stare und surgere miteinander zu verbinden, und druckt daher die Konjektur von BAEHRENS. Er weist zudem darauf hin, daß stare im juristischen Kontext stets von den Personen gesagt wird, 83 Vielleicht kann auch Tac. ann. 1,18,2: congerunt caespites, extruunt tribunal, quo magis conspicua sedes foret, was sich hier aber auf den erhöhten Sitz des Befehlshabers im römischen Feldlager bezeichnet, hinzugezogen werden. GUALANDRIs Konjektur suggestus wegen Liv. 31,29,9, wo suggestus für das Tribunal des Praetors gebraucht ist, anstelle von iam surgens, das metrische Problem durchaus zugebend, scheint unnötig.

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die vor den jeweiligen Amtsträger treten. Vielleicht kann Pervig. Ven. 49 iussit Hyblaeis tribunal stare diua floribus zumindest die Verwendung von stare in einem gerichtlichen Kontext in der Dichtung wahrscheinlich machen. Da der Teil surgens herbida tellus im Prinzip nur eine Erklärung des gremium caespes ist, das also hauptsächlich mit stabat zusammenzusehen ist, dürfte die ungewöhnliche Kombination von surgere und stare nicht mehr so schwer wiegen. aetherium … tribunal Aetherium hier in der Bedeutung ‘unter freiem Himmel’ (im Gegensatz zur gewöhnlichen Lage eines Tribunals in einem Gebäude, ZWIERLEIN 2017, 100, Anm. 316); vielleicht kann auch eine Doppeldeutigkeit angenommen werden: VOLLMER MGH 315 und ThLL I 1154,2f. verstehen ‘göttlich, über die Göttinnen’; vgl. 214 caeleste tribunal. Dracontius nutzt das Wort tribunal, das vom Wort tribus abgeleitet werden kann und damit einen der frühesten Ausdrücke des römischen Rechtssystems bezeichnet,84 anachronistisch, um einen Ort für öffentliche Angelegenheiten mit Sitz des Praetors zu illustrieren. Das Tribunal befand sich erst ab der Kaiserzeit in einer Basilika, vorher, so wie an unserer Stelle, unter freiem Himmel.85 34 soluerat Iliacus caeli uadimonia pastor Reminiszenz an Stat. Ach. 1,20f. soluerat Oebalio classem de litore pastor / Dardanus (so auch DE PRISCO 1992, 223), wobei in der ‘Achilleis’ die Rückkehr des Paris mit Helena aus Sparta beschrieben wird. Hier wie dort wird damit der ‘Anfang vom Ende’ gekennzeichnet, jeweils auslösende Momente, die am Ende mit dem trojanischen Krieg in der Katastrophe enden. Nachdem an unserer Stelle die Ortsbeschreibung abgeschlossen ist (31–33), berichtet Dracontius, wiederum durch ein Plusquamperfekt eingeleitet, kurz über das Parisurteil. soluerat … caeli uadimonia Singulärer Ausdruck, über dessen Bedeutung in der Forschung keine Einigkeit herrscht, da er keine bekannte feste Wendung aus der Gerichtssprache darstellt (WOLFF 1996, z. St., SANTINI 2002, 264ff.). Hinzu kommt die dichte Sprache des kurzen Abschnitts, der einen großen Interpretationsspielraum zuläßt. Das Wort uadimonium meint in juristischen Kontexten das Versprechen, zum angegebenen Zeitpunkt vor Gericht zu erscheinen (‘Gerichtstermin’ auch laud. dei 3,387; in dieser Beziehung auch die ‘Gerichtssumme’), und in davon unabhängigen Zusammenhängen ein Versprechen oder einen Termin.86 WOLFF vermutet, Dracontius drücke hier aus, daß Paris seine Verpflichtung, ein unabhängiger Richter zu sein, aufgebe und stattdessen allein auf seinen eigenen Vorteil bedacht handle. Ein solches Versprechen von Seiten des Paris gegenüber den Göttern ist zuvor nicht erwähnt und ergäbe sich ausschließlich aus dieser Verbindung. Das Ergebnis aber, daß Paris ein parteiischer Richter ist, der damit in seiner Aufgabe versagt, ist in jedem Fall richtig. 84 EGON WEISS: Tribunal. RE 6, A 2, 2428. 85 EGON WEISS: Tribunal. RE 6, A 2, 2429. 86 Zum Begriff und seiner juristischen Funktion s. ERNEST METZGER: Interrupting Proceedings in iure: Vadimonium and intertium, ZPE 120, 1998, 215–225; ALAN RODGER: Vadimonium to Rome (and Elsewhere), ZRG 114, 1997, 160–196.

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Gut gangbar ist auch der Weg, den SANTINI 2006, 94 vorschlägt, wenn er für uadimonium die Bedeutung ‘Gerichtssumme’ annimmt, das in Verbindung mit soluere ‘die Gerichtssumme auszahlen’ bedeutet. Nachdem also die Göttinnen wie vereinbart erschienen sind, erhalten sie ihr gezahltes Geld zurück und damit kann der Prozeß beginnen. Das mythologische Urteil erhielte damit den Anstrich eines strengen römischen Gerichtsverfahrens. Man kann auch darauf verfallen, einen Bezug zum nächsten, mit et angeschlossenen Vers herzustellen und Paris’ eigenes Versprechen zu einem Verhandlungstermin zu erscheinen, als gemeint betrachten; es wäre also schon in diesem Ausdruck der Wechsel vom Richter zum Angeklagten ausgedrückt. Aber ebenso wie oben kann die Möglichkeit durch keine Aussage des Textes belegt werden. Kurz sei eine weitere Variante vorgestellt: In 39 erfährt der Leser von der Bestechlichkeit des Richters, der um einen Preis seinen Urteilsspruch abgibt. Vielleicht können mit uadimonium auch hier schon die Versprechen der Göttinnen gemeint sein (caeli), von denen Paris dann eines einlöst. Auf diese Weise macht er sich schuldig, wodurch die Verbindung zum folgenden Vers hergestellt ist. Iliacus … pastor Variante der Benennung des Paris. Pastor für Paris seit Homer; für eine Stellensammlung s. SANTINI 2002, 257 Anm. 14. Bei Dracontius ist pastor die wichtigste Bezeichnung für Paris. Sie steht häufig in völligem Gegensatz zu dem, was Paris in der jeweiligen Situation sein will oder soll. 35 litem facit ipse suam Die Junktur ist ein t.t. für das vorsätzliche Begehen von Fehlern bei Gerichtsprozessen (Ulp. dig. 5,1,15,1; d. h. also ungerechte Urteile zu fällen, indem man sich von eigener Sym- und Antipathie leiten läßt, WOLFF 1996, z. St., SANTINI 2002, 267f., OLIVIA F. ROBINSON: The “iudex qui litem suam fecerit” explained, ZSS 129, 1999, 195–199, DAVID PUGSLEY: Litem suam facere, The Irish Jurist 4, 1969, 351–355). Sie ist zu belegen seit Cic. de orat. 2,305 si, cum pro altero dicas, litem tuam facias (allerdings vom Anwalt; vom Richter s. für weitere Stellen ThLL VII 2,1496,81f.); in der Dichtung findet sich der Terminus nur hier. Paris läßt sich vom Versprechen der Venus korrumpieren und entscheidet aufgrund dessen ungerecht. Auch wenn ipse im spätantiken Latein meist seine Bedeutung verliert und zu einem reinen Demonstrativum wird (H-S 189f.), ist es doch an dieser Stelle sehr wahrscheinlich, daß ipse die ursprüngliche Bedeutung beibehält, um die Aussage wirkungsvoll zu machen (so auch SANTINI 2002, 267, Anm. 55). laudata recedit Versklausel auch Romul. 10,516 (von Medea, die Jasons neuer Frau eine todbringende Krone auf den Kopf setzt und für das Geschenk gepriesen wird. Hier wie dort geschieht das laudare zu Unrecht, aber sonst sind die Situationen doch zu verschieden, um wahrscheinliche inhaltliche Verbindungen zwischen beiden Textstellen zu postulieren). Laudata und contempta stehen einander gegenüber. In einem gerichtlichen Kontext ist laudare ungewöhnlich; hier ist anscheinend ein zusätzliches Element einer tatsächlichen Lobpreisung der Venus neben dem bloßen Sieg anzunehmen (die theoretische Möglichkeit, ein Deponens zu vermuteten, wie es besonders in biblischer Sprache begegnet [ThLL VII 2,1046,59ff.], kann wegen des genau parallelen contempta ausgeschlossen werden).

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36 contempta Iunone In contemnere an dieser Stelle steckt einerseits das einfache ‘Verachten’ und hinter Venus ‘Zurückstellen’, aber sicher auch, weil es sich um eine Göttin handelt, das blasphemisch gefärbte ‘Nicht-Achten’ einer Gottheit (ThLL IV 642,8ff.). 36b–38 Auffälligerweise wird die Reaktion der Venus und der Iuno nicht weiter betrachtet, sondern nur ihr Stand innerhalb des Urteils mit laudare bzw. contemnere charakterisiert. Dagegen widmet sich der Dichter in zweieinhalb Versen, und damit auch weit länger, der Reaktion der Minerva auf dieses Urteil. Darunter befindet sich ein überraschender mit heu eingeleiteter Autorkommentar. Daher stellt sich die Frage, aus welchem Grund es zu diesem Ungleichgewicht kommt.87 Schließlich kommt der Venus im folgenden Gedicht eine viel bedeutendere Rolle zu – nicht als handelnder Person, aber in ihrer Funktion als Göttin der Liebe. Und Minerva wird nicht ausdrücklich als persönliche Feindin und Verfolgerin des Paris erscheinen. So mag also die Idee, die gekränkte Minerva ausführlicher zu benennen, vielleicht einerseits von ihrer Rolle im trojanischen Krieg, aber andererseits auch von ihrem sonstigen überlieferten Verhalten herrühren. Im trojanischen Krieg kämpft sie auf der Seite der Griechen. Maßgeblich an deren Sieg beteiligt ist sie dahingehend, daß das hölzerne Pferd angeblich eine Weihegabe für Minerva sein soll und somit ihretwegen erst nach Troja geholt wird (Verg. Aen. 2,183ff.). Auf den Darstellungen, die Aeneas in Karthago betrachtet, ist gezeigt, wie Pallas den bittenden trojanischen Frauen ausdrücklich nicht hilft (Verg. Aen. 1,482). Somit ist sie von den beiden unterlegenen Göttinnen diejenige, die am deutlichsten spürbar Verderben über die Trojaner bringt. Wohl aus diesem Grund wird ihre Reaktion besonders herausgehoben, die Paris unbedarft (nescia mens) hervorgerufen hat. Daneben ist auch der sonstige Umgang der Göttin mit den Menschen erwähnenswert. Sie kann es nicht ertragen, wenn ein Mensch, selbst wenn es zu Recht ist, über ihr steht. Dies illustriert anschaulich die Geschichte von Arachne (Ov. met. 6,1–145), die zu Recht den Wettkampf im Spinnen gewonnen hat und trotzdem von Minerva bestraft wurde. 36 uirgo Minerva; ebenso 166 (in Romul. 2,29 uirgo ferox). Die Göttin erhält auch sonst öfter dieses Beiwort: Catull. 1,9, Ov. met. 4,754, Homer. 400, Sil. 3,323; 7,459; 10,435, Prud. c. Symm. 2,969f. decore Die Konjektur PEIPERs (statt des überlieferten auf Minerva bezogenem decora), die seit DE PRISCO 1992, 222ff. immer wieder in die Kritik gekommen war, soll hier verteidigt werden. Inhaltlich muß die Schönheit der Helena gemeint sein, mit der Venus den Paris besticht (dies geht explizit aus 64f. hervor). Für die Überlieferung wird mit der Betonung der Schönheit Minervas in Ov. epist. 5,35 decentior armis und Ov. met. 2,773 deam … forma armisque decoram argumentiert (GRILLONE 2006, 91f., WOLFF 2015 [a], 361). Allerdings ergibt sich ihre Schönheit an diesen Stellen zu einem großen Teil aus ihren Waffen (in met. 87 Nur erwähnt werden soll die herausgehobene Stellung der Minerva innerhalb des Parisurteils auch in Ov. epist. 5,35f.

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III Kommentar

2,773 gemeinsam mit forma), die an unserer Stelle nicht begegnen und kein Thema sind. Daß Minerva grundsätzlich als schön vorgestellt ist, worauf ebenfalls hingewiesen wird (GRILLONE 2006, 92 zitiert Hyg. astr. 2,13,1 Vulcanum Mineruae pulchritudine corporis inductum), läßt kaum verwundern, ist sie doch wegen ihrer Schönheit überhaupt Teilnehmerin am Wettstreit. Schließlich macht WOLFF 2015 (a), 361 auf die Junktur uirgo decora in laud. dei 1,384 aufmerksam, wo sie von Eva gesagt wird, und stützt damit die Verwendung an dieser Stelle. DE PRISCO 1992, 222ff. argumentiert weiterhin gegen die Konjektur, daß uirgo für Minerva in der Literatur nie allein stehe: Entweder sei es zu Minerua gestellt, oder zu Pallas, oder man finde es immer in Verbindung mit einem Adjektiv, das hier decora wäre. Gegen letzteres ließe sich einwenden, daß uicta zu uirgo gezogen werden muß und es dann nicht allein steht. Für die Konjektur spricht neben der Schwierigkeit, eine entsprechende Junktur für Minerva zu belegen außerdem der spielerische Reim und die Parallelität zu contempta Iunone, die einen spiegelbildlichen Ausdruck zur Folge hat. In den eineinhalb Versen zuvor wird die Siegerin Venus der Verliererin Iuno (im Ablativ) entgegengestellt. Hier nun steht der Ablativ im engen Zusammenhang mit der Siegerin und die Umgebung mit der Verliererin. Hinzukommt die grundsätzliche Beliebtheit von Anordnungen wie dieser: Bezugswort – Ablativ – Partizip (z. B. [ganz willkürlich ausgewählt] Verg. Aen. 2,241f. incluta bello / moenia, Romul. 8,303 uictor sed laude potitus). 37 nam tristis abit Nam in der Bedeutung et (WOLFF 1996, z. St.). Tristis abit auch Romul. 10,301 (von der von Medea verlassenen Diana, die sich nach ihrem Fluch entfernt; darauf verweist auch GALLI MILIĆ 2016, 199f.); davor ähnlich Ov. epist. 12,55, met. 7,487, Iuv. 6,128, Avian. fab. 13,7. Wegen des folgenden Satzes muß tristis in seiner Bedeutung sehr stark sein (‘gekränkt, ergrimmt’). Nach dem Parisurteil Apul. met. 10,34,1 heißt es von Iuno und Minerva: postquam finitum est illud Paridis iudicium, Iuno quidem cum Minerua tristes et iratis similes e scaena redeunt. Vgl. auch Il. 24,28f. von der Kränkung der Göttinnen durch Paris. 37bf. Sentenzenhafter Einschub in Form eines Autorkommentars. Ein (wegen der auffälligen Übereinstimmung nescia mens) ähnlicher Autorkommentar (HARRISON 1991, 199) findet sich schon Verg. Aen. 10,501f. nescia mens hominum fati sortisque futurae / et seruare modum rebus sublata secundis (so auch DE PRISCO 1992, 223), nachdem Turnus in frevlerischer Weise dem toten Pallas das Wehrgehenk entriß und für sich selbst beanspruchte. Beide Stellen zeigen, und sind deshalb vergleichbar, wie ein Mensch in einer bestimmten Situation handelt, wie es vielleicht jeder täte, und nicht im Blick hat, wie sehr es ihm später schaden wird. Bei Vergil ist nescius ganz auf das allgemeine Schicksal bezogen, bei Dracontius konkret auf das Handeln der Götter (in diesem Fall ganz im antiken Götterverständnis do ut des verhaftet, wenn Minerva das Fehlverhalten ohne Gnade bestraft; eine Strafe der Minerva wird nicht direkt angekündigt, droht nach dieser Sentenz aber implizit). nescia mens Typische Junktur, um anzuzeigen, daß etwas über den Verstand der Menschen hinausgeht, vgl. dafür Verg. Aen. 10,501, Avien. orb. terr. 918 placidae

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mens nescia uitae, Ps. Damas. epigr. 92,7 mens nescia mortis, Ambr. hym. 2,28 crepusculum mens nesciat, Paul. Nol. carm. app. 3,46 quoue modo id faciant, nescia mens hominis, Prosp. epigr. 67,10 (Horsting); 98,9 mens ueri nescia (Horsting), laud. dei 1,398 nescia mens illis, fieri quae causa fuisset (nachdem Eva aus der Rippe des Adam geformt wurde). Vgl. auch Orest. 271 mens ignara. 38 quae mala circumstent Indirekter Fragesatz, von nescia mens abhängig. Circumstare in der Bedeutung ‘(von allen Seiten) bedrohen’ (ThLL III 1173,40ff.), ähnlich Ov. trist. 5,6,41 tam me circumstant densorum turba malorum und Liv. 21,55,10 in tot circumstantibus malis. dare iura Poetischer Plural bei iura; hier in der Bedeutung ‘Urteilsspruch’ (ThLL VII 2,697,44f.). Iura dare (das sich auch für ‘schwören’ oder für ‘Gesetze geben’ [so will es WOLFF 1996, z. St. auch hier verstehen] findet) im Sinne von ‘Recht sprechen’ (SANTINI 2002, 268f.) z. B. auch Ov. met. 14,806. Die Junktur ist häufig bei Vergil und Ovid anzutreffen, vgl. etwa Aen. 1,731 an der gleichen Stelle im Vers (DE PRISCO 1992, 223). Inhaltlich dürfte für diesen Vers bei Dracontius selbst noch Orest. 951f. quis temerator erit caelestia iura mouere? / non erat impunis Paris arbiter ille dearum zu vergleichen sein, wo auch die Kritik am Hochmut eines Richters über Götter zum Tragen kommt. 39f. Die Wortwahl und der Gedanke mag von Apul. met. 10,33,1 (Kommentar zum Parisurteil) beeinflußt sein: Quid ergo miramini, uilissima capita, immo forensia pecora, immo uero togati uulturii, si toti nunc iudices sententias suas pretio nundinantur, cum rerum exordio inter deos et homines agitatum iudicium corruperit gratia et originalem sententiam magni Iouis consiliis electus iudex rusticanus et opilio lucro libidinis uendiderit, cum totius etiam suae stirpis exitio?

Zu den (zugegebenermaßen ‘Allerweltswörtern’, allerdings in dieser Kombination und im Zusammenhang mit dem Parisurteil so sonst nicht begegnenden) Substantiven iudex, sententia, pretium kommt der Hinweis, daß Paris seine ganze Familie hingibt. Dies spielt, wie gesehen, bei Dracontius eine große Rolle, der das Ausmaß der Katastrophe im folgenden auf ganz Griechenland erweitert. 39 iudicis Idaei Die Junktur auch Ov. fast. 6,44 forma quoque Idaeo iudice uicta mea est. pretio In der Bedeutung ‘Bestechungsgeld’, womit das Versprechen der Venus 64f. gemeint ist (für pretium bei der Korruption von Urteilen s. ThLL X 2,1209,26ff., so auch SANTINI 2002, 271). Dagegen verstand WOLFF 1996, z. St. pretium im Sinne von ‘Vergeltung’ und ging so von einer wie auch immer gearteten zweiten Gerichtsverhandlung aus, in der Paris der Angeklagte ist (dadurch versteht er auch sententia als ‘Urteilsspruch gegen Paris’, nicht ‘des Paris’; solch ein Genitivus obiectivus abhängig von sententia läßt sich jedoch weder bei Dracontius noch überhaupt belegen, SANTINI 2002, 271), was er jedoch 2015 (a), 361 revidiert und sich dem zuerst angeführten Verständnis anschließt.

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III Kommentar

sententia fertur Sententia in der Bedeutung ‘Urteilsspruch’ (OLD s. v. 1736,5). Sententiam ferre ist hier synonym zu iura dare (38) gebraucht, also in einer für diese Junktur, die gelegentlich auch die Abstimmung im Senat bezeichnet, gewöhnlichen Bedeutung (s. z. B. Cic. Font. 35, Cluent. 29. 55. 72 u. ö.; anders z. B. Petron. 70,5, wo die Junktur ‘den Schiedsspruch annehmen, ertragen’ bedeutet; s. z. St. auch SANTINI 2002, 270), ein typischer Ausdruck der juristischen Prosa (z. B. Lex agr. CIL I2585,10). Der dezidiert juristische Terminus bekräftigt die Atmosphäre eines Gerichtsurteils. Der Versschluß auch in der hier geforderten Bedeutung Iuv. 2,62 (vgl. ebenfalls Ov. met. 15,43 lata est sententia). Die Formulierung bei Dracontius selbst (sowohl von Göttlichem als auch von Menschlichem) noch laud. dei 1,545; 2,812 domini sententia lata, Orest. 946 (und, nicht als Versschluß, 921 non de lite mea sententia uestra ferenda est). 40 damnaturque88 Das auffällige damnare, das bis 47 als sechsfache Anapher erscheint, mag auf Hor. carm. 3,3,18–24 anspielen, wo Iuno eine Rede gegen Troja und für Rom hält:      Ilion, Ilion  fatalis incestusque iudex   et mulier peregrina uertit in puluerem, ex quo destituit deos mercede pacta Laomedon, mihi  castaeque damnatum Mineruae   cum populo et duce fraudulento.

Hier wie dort ist das ungerechte Urteil des Paris ein Thema (ebenso wie Helena und der betrügerische Laomedon), das dann von der namentlich genannten Minerva und der Sprecherin gerächt wird. Es ist, soweit ich sehe, die einzige weitere Stelle der antiken lateinischen Literatur, in der Minerva, damnare, Troja und Paris zueinander in Beziehung gesetzt sind. Parallel ist zudem die Erweiterung, bei Horaz ausgedrückt durch cum populo et duce fraudulento, bei Dracontius durch nec solus pastor habetur / ex hac lite reus und der folgenden langen Aufzählung. So kann man postulieren, daß Dracontius mit Blick auf die Horaz-Stelle eine correctio vornimmt, daß eben nicht nur Ilion damnatum cum populo et duce, sondern die Sache weiter auf ganze Völker, bis nach ganz Griechenland ausgreift (atque utinam infelix urbs tantum morte periret). Damnatur ist hier reflexiv aufzufassen. Que in der Bedeutung „und daher“ (KS II 13). Für das Motiv, vom iudex zum reus zu werden vgl. Ter. Haut. 352 tu es iudex: nequid accusandu’ sis uide. 40 pastor S. für diese Bezeichnung des Paris zu 34 und die Einleitung Kap. 2.1.3.5.1. 88 Daß Paris nicht straflos über die Göttinnen zu Gericht sitzt, erwähnt der Dichter auch Orest. 952 non erat impunis Paris arbiter ille dearum.

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40f. nec solus pastor habetur / ex hac lite reus Einleitung zur folgenden Aufzählung aller in den Krieg Hineingezogenen, die mit einem starken nec solus beginnt. Auch wenn Paris durch seine Bestechlichkeit allein die Schuld trägt, so erfährt er doch nicht allein die Strafe für das Fehlverhalten, die stattdessen die gesamte Umgebung betrifft. Alle werden auf diese Weise als rei angesehen, auch wenn sie mit der Sache nichts zu tun haben. habetur / … reus Singuläre Kombination der Worte. Bewußt ist erneut ein Terminus des Gerichtswesens gesetzt, um den vollständigen Wandel der Situation zu verdeutlichen. Mit reus ist Paris nun auf der diametral entgegengesetzten Seite im Vergleich zu der durch iudex implizierten Rolle anzusiedeln. Eine ähnliche Wirkung erzielt 35 et litem facit ipse suam. Haberi in der Bedeutung ‘gehalten werden für’ noch 63 (für die Verwendung 137 s. dort). 41 ex hac lite Ex kann hier sowohl kausale als auch temporale Färbung besitzen (H-S 624). Lis bezeichnet den Streit der Göttinnen, ebenso 99. damnantur morte Übliche nachklassische Konstruktion neben capitis damnare (K-S I 466f.). Die Verurteilung zum Tode ist die Schlußfolgerung aus dem vorhergehenden Satz 40f. nec solus pastor habetur / ex hac lite reus. 42f. quisquis in urbe propinquus / aut cognatus erat Verallgemeinernder Relativsatz. Die Aufzählung Paris über parentes und fratres bis hin zu propinqui und cognati ist nach einem gedanklichen Gesetz der wachsenden Glieder gestaltet, da die Personenzahl der einzelnen Gruppen jeweils ansteigt. Cunctos (43) vereint schließlich alle in einem Wort. In urbe ist Konjektur von VON DUHN für das unpassende in morte, das vielleicht von den umstehenden morte (41. 43) beim Abschreiben beeinflußt wurde. Das Mittel, von einer bestimmten Ausgangssituation aus auf die kommenden erschreckenden Folgen zu blicken, verwendet Dracontius auch Romul. 10,575–586. 43 cunctos mors explicat una Cuncti und una umschließen als völlige Gegensätze die Wortgruppe. Es klingt im Wortlaut deutlich laud. dei 2,389 cunctos mors una tenebat als Zusammenfassung aller Gruppen von Lebewesen, die in den Wassern der Sintflut untergegangen sind, an. Vgl. auch laud. dei 1,118; 2,244. Auch vor Dracontius ist mors una eine sehr beliebte Junktur. Für explicare in der Bedeutung ‘niederstrecken’ s. ThLL V 2,1925,22ff., vgl. auch Stat. silv. 5,3,260f. te torpor iners et mors imitata quietem / explicuit (wobei dort eher ein friedliches Einschlafen bezeichnet ist, s. BRUCE GIBSON: Statius. Silvae 5. Edited with Introduction, Translation and Commentary, Oxford 2006, 361f.). 44 Der Vers 44 bildet eine Scharnierstelle zwischen den Kriegsopfern auf trojanischer Seite und denen auf griechischer, bzw. allgemein gegnerischer Seite. Herausgehoben werden im folgenden Abschnitt drei Helden, nämlich Memnon, Achill und Ajax. Deren beider letzterer familiäre Verbindung zu den Ereignissen um den

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trojanischen Krieg wird dann kurz erwähnt und in die Fragen nach den Gründen des Krieges eingefügt. atque utinam Beliebte Junktur (83 Mal in der antiken lateinischen Dichtung). Atque besitzt in dieser Wunschformel fast keine eigenständige Bedeutung mehr (ThLL V 2,906,30f). infelix urbs Infelix begegnet in Verbindung mit Troja gelegentlich, sonst nie mit urbs (Catull. 68,99 Troia obscena, Troia infelice sepultum sc. fratrem [in der Bedeutung ‘schauderhaft, schrecklich’], Stat. Ach. 1,951, Anth. 431 R. = 429 Sh.-B.,7, Romul. 9,53. 223, jeweils in der auch hier geforderten Bedeutung ‘unselig’). In der Handschrift findet sich am Rand das Wort Troia, mit einem Accent-aigu-förmigen Strich versehen, wie er auf dem Wort urbs ebenfalls erscheint. Legt man die in der übrigen Handschrift gängige Praxis als Vergleich an (in Romul. 8 ist es nämlich das einzige Beispiel für eine Eintragung in margine), ist das gekennzeichnete Wort im Text durch das am Rand korrigierte zu ersetzen. Dies scheint an dieser Stelle unmöglich, weil Troia nicht ins Metrum paßt. Außerdem besteht die Handschrift aus verschiedenen Teilen von verschiedenen Schreibern, so daß es gut sein kann, daß es mit dem über urbs und Troia gesetzten Zeichen hier eine andere Bewandtnis hat, als in den ersten Gedichten (vielleicht im Sinne einer Glosse).89 Daß eine größere Korruptel an dieser Stelle vorliegt, scheinen BÜCHELER und VON DUHN zu vermuten, wenn sie Troiaque ut infelix urbs tantum morte periret drucken und damit auch die Auflösung der merkwürdigen Abkürzung, die sonst nicht nachzuwiesen ist,90 vermeiden. Es ist gewiss nicht auszuschließen, daß der Vers eine nicht mehr nachvollziehbare Verderbnis aufweist. Doch ergibt der von IANNELLI, VOLLMER, WOLFF, DIAZ DE BUSTAMANTE und ZWIERLEIN gedruckte Text, der der Überlieferung am nächsten steht, einen so guten Sinn (ein dramatischer Ausruf des Wunsches in einer Umgebung, in der mit heu 46 eingeleitet weitere Ausrufe vorhanden sind), daß eine weitere Änderung nicht nötig ist und Troia als reine Glosse verstanden werden kann (RIBBECK 1873, 464). tantum Erhält an der Textstelle eine besondere Betonung: Nach solus pastor ist mit tantum urbs die nächste Stufe der Begrenzbarkeit erreicht. Doch beide Stufen sind verneint (nec solus pastor und hier der Irrealis) und der Krieg greift weiter aus. So ist denn die Junktur auch gleichzeitig im Gegensatz zum folgenden Katalog der Kriegsopfer und -beteiligten zu verstehen. morte periret Der irreale Wunsch der Gegenwart läßt sich aus dem Verständnis erklären, daß das Unglück dem Autor und dem Leser in diesem Moment direkt vor Augen steht, was auch durch damnare im Präsens gekennzeichnet ist. Der Versschluß schon Verg. Aen. 4,696 morte peribat (WOLFF 1996, z. St.). Bei Dracontius noch Orest. 343. 346. 598. Die Junktur urbem perire Hor. epod. 7,10 (von Rom).

89 S. die Einleitung Kap. 4. 90 In CAPPELLIs Abkürzungsverzeichnis wird die hier verwendete Abbreviatur nicht abgedruckt. Für atque ist überhaupt keine Abkürzung verzeichnet, was theoretisch dafür sprechen könnte, daß diese hier anders aufgelöst werden muß.

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45 damnantur Spiel mit der Wortbedeutung von damnare, das hier von ‘verurteilen’ zu ‘(zum Tode) bestimmen’ (ThLL V 1,18,39, ähnlich 150 qui damnet Pergama flammis) wechselt; denn die Verwandten haben kein bestrafenswertes Unrecht getan (vgl. auch WOLFF 1996, z. St.). Später erklärt es sich in poenas dependere (49) auch im ursprünglichen Sinn und es wird klar, daß die Schuld so groß ist, daß alle in das Urteil mit hineingenommen werden. gentes Es dürften die verschiedenen Völker und Volksgruppen gemeint sein, die jeweils Griechen oder Trojaner im Krieg unterstützen. Graecia sollers Singuläre Junktur. Das Adjektiv sollers ist auch Romul. 9 oft anscheinend eher unspezifisch verwendet (52 auf Achill, 200 auf Deidamia, 225 meint es Patroklos), ist es doch im Zusammenhang mit dem trojanischen Krieg eigentlich für Odysseus gebucht. Den Stellen aus Romul. 9 ist gemeinsam, daß sie in irgendeiner Weise einen Gegensatz zu Troja und den Trojanern ausdrücken (52 Achill verwandelt sollers die Freude der Trojaner in Tod.). Vielleicht ist dies auch hier der Hintergrund dieses Epithetons auf Griechenland. Am überzeugendsten ist jedoch für diese Stelle der Verweis WOLFFs 1996, z. St. auf die List der Griechen, das hölzerne Pferd in Troja einzuschleusen; dafür spricht auch, daß es 357 Ausdruck verschlagener Schläue ist. 46 Erinnert sprachlich und gedanklich an Homer. 1019 (Trauer um den toten Hektor) heu tanto spoliata (sc. Andromache) uiro. uiduanda Das Gerundiv hier als Ersatz für ein Part. Fut. Pass., wie im Spätlatein nicht ungewöhnlich (H-S 394). 46f. orbatur Eous / Memnone belligero Memnon, Sohn der Eos, wird von Achill getötet (erwähnt beispielsweise Pindar O. 2,82f., N. 6,50–52, ausführlich Ov. met. 13,576–599). Sein Epitheton belliger ist hier singulär (häufig begegnet niger). Für orbari von Ländern oder Völkern aus betrachtet s. ThLL IX 2,924,61ff. 47 Thessalus heros Achill; erhält als Anführer der Myrmidonen, eines thessalischen Volksstammes, das Epitheton Thessalus. Gefallen ist er im Krieg durch die Hand des Paris mit Hilfe von Apoll (dies ist die verbreitetste Todesversion). Der Versschluß noch Orest. 480 (Achill) und Stat. Theb. 6,442 (Admet). 48 Telamone satus Ajax. Wahnsinnig geworden, bringt er sich selbst um. Für die Formulierung vgl. Ov. met. 13,123 und Homer. 198. In unserem Gedicht begegnet er prominent in der Rede Telamons 314f. und des Aeneas 375ff. duo fulmina belli Der gleiche Versschluß begegnet noch 365 (variiert Romul. 9,61 fulmina campi), sowie Verg. Aen. 6,842. Bei Coripp. Ioh. 6,535f. findet sich ein ähnlicher Ausdruck: duo maxima belli / fulmina (für die metonymische Verwendung von fulmen s. ThLL VI 1528,7ff.). Die gleiche Art der Metonymie ist Homer. 180 duo robora belli angewendet.

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49–54 Die Hochzeit von Peleus und Thetis sowie die verweigerte Rückgabe der Hesione als mögliche Kriegsgründe 49f. Der Tod Achills wird ursächlich auf die Hochzeit seiner Mutter Thetis zurückgeführt. Denn während dieser Veranstaltung beginnt der Streit, der zum Parisurteil führt, von dem aus die Ereignisse bis zum trojanischen Krieg weiter laufen. Expliziert wird dies mit dem Nachsatz unde haec causa fuit, bei diesem Hochzeitsfest habe alles begonnen. BRETZIGHEIMER 2010, 370 zieht Statius als Parallele für diesen Gedanken heran, die Gründe für die terrena fata Achills (Ach. 1,255) mit der Heirat seiner Mutter mit einem Sterblichen (Ach. 1,252ff.) in Zusammenhang zu bringen. Die Interpunktion an dieser Stelle wurde von den Herausgebern unterschiedlich gehandhabt (ich folge hier WOLFF 1996 und VOLLMER MGH). So schreibt VON DUHN pro matris thalamo poenas dependit Achilles. / unde haec causa fuit? forsan Telamonius Aiax … Solch eine Interpunktion widerspricht jedoch der Logik des Textes. Denn die Antwort auf die Frage, warum Achill Strafe zahlen muß für die Hochzeit, kann nicht in der fehlenden Hesione liegen. Vielmehr ist die Hochzeit von Peleus und Thetis das auslösende Moment für alle folgenden Ereignisse. pro matris thalamo Gemeint ist die Hochzeit von Peleus und Thetis, der Mutter des Achill. Thalamus in der Bedeutung ‘Hochzeitsfest’ (als Konkretisierung der normalen metonymischen Verwendung, OLD s. v. 2b, 1935). poenas dependit Achilles Nach der Umschreibung mit Thessalus heros erfolgt hier die namentliche Nennung Achills. Poenas dependere ist prosaisch (Cic. Catil. 4,10 poenas rei publicae dependisse u. ö., s. auch ThLL V 1,569,36ff.). Die Junktur ruft erneut Gerichtsvokabular auf und erklärt jetzt das zuvor auch für die griechische Seite genutzte damnare. 50 haec causa Greift das juristische Vokabular auf (SANTINI 2006, 97) und meint das Parisurteil, nicht den trojanischen Krieg (WOLFF 1996, z. St.). forsan Die Interpretation des forsan ist problematisch; es wurde bereits sowohl zu 49 (BAEHRENS) als auch zu 50f. gezogen (die übrigen Editoren). Zumeist erklärt es die Forschung dahingehend, daß Dracontius durch Hinzufügung dieses Wortes schon anzeigt, in welche Richtung sein Verständnis bezüglich der Ursachen des trojanischen Krieges geht. Er schließe so schon im Prooem eine der Möglichkeiten aus, nämlich die Rückforderung der Hesione. Überzeugend weist ZWIERLEIN 2017, 101f. zuletzt auf die Analogie zwischen beiden Ereignissen hin: Der Tod Achills ist letztlich auf seine Mutter und deren Hochzeit mit Peleus zurückzuführen. „Entsprechend könnte man (der Dichter führt die Analogie mit einem vorsichtigen forsan ein) auch den Untergang des Ajax mit seiner Mutter in Verbindung bringen […].“ Dies kann zum Ausgangspunkt für weitere Überlegungen mit Blick auf die Salamis-Episode und die Rückforderung der Hesione bei Dracontius genommen werden. Der Dichter macht nämlich diese Gesandtschaftsreise zu einer Station, die selbst nicht direkt zum Krieg führt, aber auf dem Weg dorthin eine große Bedeutung besitzt. Damit erklärt das forsan die Darstellungsweise des Dracontius in Romul. 8: „Vielleicht“ kann man auch die Mutter des Ajax als Ursache für seinen Tod betrachten – nicht so direkt wie die des Achill,

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aber Dracontius läßt es für sein Gedicht zu, die Salamisepisode entsprechend zu interpretieren. Telamonius Aiax Latinisiert für das homerische Τελαμώνιος Αἴας (Il. 2,528. 768). Auch hier, wie bei Achill, die namentliche Nennung nach der Umschreibung 48. Dieser Versschluß findet sich sechsmal in der ‘Ilias Latina’ (205. 363. 602. 623. 787. 836). Die Abweichung von der gewöhnlichen Mythenversion, in der Teucer der Sohn von Telamon und Hesione ist und Ajax dessen Halbbruder mit Periboe als Mutter, bietet neben der ‘Ilias Latina’ auch Dares 19: (sc. Ajax) erat enim de Hesiona sorore Priami natus (WOLFF 1996, z. St.). SCHETTER 1987 dient dies als eines seiner Argumente für die Abhängigkeit des Dracontius von Dares. Weit naheliegender ist es jedoch, daß Dracontius den Versschluß und die Idee aus der ‘Ilias Latina’ übernommen hat (dagegen BRUGNOLI 2001, 74, Anm. 14), die ihm erwiesenermaßen hier und da als Grundlage diente. 51 sternitur inuictus Oxymoron, das den Tod des Ajax außerhalb der Kampfhandlungen illustriert (dagegen will BRETZIGHEIMER 2010, 371, Anm. 34 daraus einen Tod des Ajax auf dem Schlachtfeld lesen, wie wir ihn sonst nur noch bei Dares 35 greifen können; inuictus spricht aber eindeutig gegen ein solches Verständnis). Im trojanischen Krieg selbst ist Ajax unbesiegt und unbesiegbar, doch danach unterliegt er beim Streit um die Waffen des Achill. Er wird wahnsinnig und begeht Selbstmord. Ov. met. 13,386 wird Ajax ebenfalls durch inuictus charakterisiert (auch dort ein oxymoronartiges Wortspiel): inuictumque uirum uicit dolor; vgl. auch Sen. Ag. 532f. solus inuictus malis / luctatur Aiax. 51f. quod mater reddita non est / Hesione Priamo Für die Verwandtschaft zwischen Ajax und Hesione s. zu 50. Die Geschichte um Priamus und Hesione wird im Laufe des Gedichts mit der Rückforderung der Hesione durch die Salamisgesandtschaft eine große Rolle spielen. Aus Rache, weil Laomedon den Lohn für die Hilfe von Apoll und Neptun beim Bau der Mauern Trojas nicht zahlen wollte, soll Hesione einem Ungeheuer als Opfer dargebracht werden; davor rettet sie Herkules, der von Laomedon ebenfalls um seinen Lohn geprellt wird. Er zerstört die Stadt und übergibt Hesione an Telamon. In der Version des Dares wird Antenor von Priamus beauftragt, die Schwester zurückzuholen. Aber wohin auch immer der Gesandte kommt, wird er abgewiesen (Dares 5). Dies bringt Priamus dazu, Schiffe auszurüsten und in den Krieg zu ziehen (Dares 6). Hübsch ist die Versgestaltung, bei der die Verwandtschaftsverhältnisse nebeneinandergestellt sind: Hesione ist für Ajax die Mutter, für Priamus jedoch die Schwester. Ein versschließendes Monosyllabum, wie hier est, ist stets mit besonderer Absicht gesetzt (s. NORDEN 51970, 440f.). Hier betont es das non sehr und damit die Unerhörtheit des Geschehens. 52–54 Von causa sind zwei Konstruktionen abhängig: Zum einen der Genitiv rapinae, zum anderen der mit cur eingeleitete indirekte Fragesatz, vor dem ein im Sinne eines Asyndeton fehlendes et causa zu ergänzen wäre (ZWIERLEIN 2017,

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103f.). IANNELLI änderte cum in cur, um den zweiten Nebensatz parallel zum ersten konstruieren zu können (WOLFF 1996, z. St. hegt einige Sympathien für diese Lösung und betont die bei Dracontius häufig anzutreffenden Wiederholungen einzelner Wörter; ebenso GRILLONE 2006, 99, der ohne Einschränkungen für die Änderung ist). Cum ist aber als Einleitung eines Nebensatzes zweiten Grades zu halten, zu verstehen als identicum. Dagegen nimmt es WOLFF 1996, z. St. zusammen mit simul als Einleitung eines Temporalsatzes. Es stellt aber eher die instrumental-kausale Bedeutung des Nebensatzes gegenüber dem Hauptsatz heraus (gentes wird in Männer, Frauen und Kinder aufgespalten), weniger den temporalen Aspekt (K-S II 330) und expliziert damit das vorher Gesagte. 52 sic Enthält die Hochzeit von Peleus und Thetis sowie die Weigerung, Hesione zurückzugeben (WOLFF 1996, z. St.). causa rapinae Der Versschluß auch Mart. 6,68,11. Rapina 544 für Helena. 53f. Auffällig ist hier die Aufgliederung von der Masse zum Einzelnen, von groß zu klein: Es geht von gentes über Mann und Frau zusammen (sexus uterque) hin zum infans. Daraus ergibt sich im Vergleich zu 40–43, wo der Blick vom einzelnen Mann zu allen lief, eine Gegenrichtung. 53 cecidere simul Der Indikativ in einer indirekten Frage ist gelegentlich anzutreffen. S. auch zu 30. Simul steht in der gewöhnlichen temporalen Bedeutung ‘zugleich’. Die Verbindung auch laud. dei 3,174 (vgl. aber die Interpunktion bei VOLLMER MGH), Alc. Avit. carm. 3,197 (ZWIERLEIN 2017, 103). sexus uterque Sexus gilt eher als prosaischer Ausdruck, der häufiger in der Dichtung der silbernen Latinität zu finden ist (AXELSON 1945, 50). In Verbindung mit uterque (hier als Variation zu simul) findet sich sexus auch 599 und laud. dei 2,802, jeweils am Versanfang. 54 concidit Spielerisch setzt Dracontius hier das Kompositum und erreicht eine Variation bei lautlicher Ähnlichkeit zum Reduplikationsperfekt cecidere (53). infanti nullus post bella pepercit Die Worte sind als Hinweis auf den Tod des Astyanax zu verstehen, der nach Ende des Krieges von der Burg gestürzt wurde (WOLFF 1996, z. St.). Der Versschluß post bella pepercit auch satisf. 175 und Orest. 377. Post bella (in Romul. 8 auch 296 und 347) ersetzt als verkürzter Präpositionalausdruck einen Temporalsatz, wie es Dracontius gern tut (diese auch sonst in der lateinischen Dichtung sehr gut zu belegende Junktur nutzt er 31 Mal, s. auch die Sammlung bei VOLLMER MGH 391 und die Einleitung Kap. 2.3 für weitere Fälle in Romul. 8). Dracontius verwendet nullus in den meisten Fällen adjektivisch; hier sowie Romul. 2,134; 5,244, Orest. 82. 395. 702 als Ersatz für nemo (typisch für das Spätlatein, s. H-S 204f.). 55–56 Schmerz und Zorn der Götter In diesen Versen wird die Frage nach den Ursachen für den grausamen Krieg mit Blick auf die Götter gestellt, nämlich ob Schmerz und Zorn der Götter so uner-

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bittlich sind, daß dieses Verderben folgen kann. Möglicherweise ist als Anlaß für den Zorn das Parisurteil vorgestellt (dolet 37 klingt hier in dolor 55 wieder an). Plausibel wird dies durch den Rekurs auf das ‘Aeneis’-Prooem, wo das Parisurteil ebenfalls ein Grund für den göttlichen Zorn ist. 55f. Die beiden Verse lassen Verg. Aen. 1,11 tantaene animis caelestibus irae? (vgl. auch 25 causae irarum saeuique dolores) anklingen (s. dazu die Einleitung zum Prooem). Die Verschränkung von Satz- und Versbau, bei der zwei Sätze chiastisch oder parallel zueinander gestellt sind, wobei das Prädikat des zweiten Teils den Anfang des zweiten Verses bildet, ist schon 28f. eingesetzt. 55 sic dolor exsurgit Dolorem exsurgere ist offensichtlich eine Erfindung des Dracontius, vgl. Orest. 660 hinc dolor exsurgat. Mit dem Simplex surgere findet sich die Junktur Sen. Thy. 944 und Val. Fl. 2,165. Dolor erinnert an 36f. uirgo … dolet. ira polorum / saeuit Der Versschluß ist eine Variation der bekannten Junktur ira deorum (seit Verg. Aen. 4,178 und seit 11,443 als Versschluß); für polorum statt deorum s. ThLL X 1,2572,58ff. Iram saeuire mag aus dem Bild einer saeua ira, einer beliebten Junktur, gewonnen sein (Verg. Aen. 10,813; vgl. auch 1,4 saeuae memorem Iunonis ob iram). Die Zusammenstellung von ira und dolor begegnet oft. Bei Dracontius noch Romul. 7,76; 8,330; Orest. 17. 56 errantes talis uindicta coercet Die Frage, die WOLFF 1996, z. St. zu uirum aufwirft, kann auch schon hier gestellt werden: Meint errantes eine Allgemeinheit oder konkrete Personen? Läßt man das Telestichon ERRAT (61–65) in die Interpretation einfließen, kann man davon ausgehen, daß an Paris gedacht ist (und es läge hier ein poetischer Plural vor). Aber auch dadurch, daß talis uindicta im letzten Vers des Gedichts mit crimen adulteri talis uindicta sequatur wieder aufgegriffen wird, wo ausdrücklich Helena und Paris als Ehebrecher gemeint sind, kann zumindest im Rückblick davon ausgegangen werden, daß die beiden, und besonders Paris, hier schon im Hintergrund stehen. Vindictam coercere ist dem juristisch gefärbten Vokabular zuzuordnen (SANTINI 2006, 38; 97f.). Der Versschluß und die Junktur sind wohl eine Erfindung des Dracontius, der laud. dei 1,103 und 2,482 uindicta coercens schreibt. Coercere ist in der Bedeutung ‘züchtigen, bestrafen’ seit Cic. fin. 1,2 zu belegen (ThLL III 1436,26ff.). 57–60 Die fata91 Die letzten vier Verse des Prooems über die fata als potentielle Gründe für den Raub der Helena und den trojanischen Krieg bieten einen philosophisch-rhetorisch stilisierten Abschluß. Vielleicht ist auch dieser Abschnitt ein zumindest unterschwelliger Rekurs auf das vergilische ‘Aeneis’-Prooem. Das fatum ist dort von entscheidender Bedeutung, es begegnet schon im zweiten Vers als treibende Kraft, die Aeneas nach Latium gebracht hat.92 Wir finden hier wörtliche Überein91 S. zu diesem Thema auch die Einleitung Kap. 2.1.3.4. 92 Verg. Aen. 1,1–3 Arma uirumque cano Troiae qui primus ab oris / Italiam fato profugus Lauiniaque uenit / litora.

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stimmungen in uirum und fata, sowie eine fast wörtliche von compellunt mit impulerit (11, allerdings mit Iuno als Subjekt). So kann das fatum der vergilischen ‘Aeneis’ als Folie für die hier durchgeführte Charakterisierung der fata gedient haben. Denn die ‘Aeneis’ ist darauf ausgerichtet, daß das vom fatum bestimmte Ende in jedem Fall eintreten wird,93 eine Aussage, die sich sowohl in der Handlung der ‘Aeneis’ als auch in Gedanken und Reden verifizieren läßt.94 Dieses Konzept ist in diesen letzten Versen des Prooems von ‘De raptu Helenae’ in ein poetisch-rhetorisch ausgeformtes Gewand gekleidet und wird in die Reihe der anderen potentiellen Gründe für den trojanischen Krieg, bzw. im konkreten Fall am ehesten für den Raub der Helena, gestellt. In Analogie und als Fortführung zu den Fragen 52–54 und 55f. sind auch Vv. 57–60 als erregte Frage aufzufassen (s. auch SIMONS 2005, 230); die Frage nach dem Anteil der unausweichlichen fata lenkt die Aufmerksamkeit auf sie im Verlauf des Gedichts. Es wird deutlich werden, daß der Zufall und der im Prinzip freie Wille eine weit größere Rolle spielen. Vgl. auch die Parallelität des Prooems mit dem Prooem der ‘Aeneis’ S. o. S. 145. 57 compellunt Am Versanfang auch Lucan. 7,801. In der Bedeutung ‘zwingen’ (ThLL III 2031,11ff.). Mit fatum singulär (vgl. aber für das Motiv Sen. Phaed. 440 quem fata cogunt, Ag. 33 coacta fatis, Sidon. carm. 5,88 fatis cogor tibi bella mouere). uirum Ob der Mensch im allgemeinen oder Paris konkret gemeint ist (WOLFF 1996, z. St.)? Durch audere, das recht deutlich auf ausum (2) rekurriert, wird ein Bezug auf Paris wahrscheinlich. impia fata Impius in einem freieren Sinn, etwa ‘grausam, böswillig’ (ThLL VII 1,623,19ff.). Die Junktur auch Romul. 5,119f. (in der Bedeutung ‘grausamer Tod’) und Sen. Oed. 1046 (dort wird sie tief-ironisch von Oedipus an Apoll gerichtet: fata superaui impia). Ähnliche Epanalepsen, wie fata, impia fata sind bei VOLLMER MGH 440 gesammelt (laud. dei 1,19–21 arce … arce, Romul. 7,78 furor furor). 58 flecti quandoque negant Der Gedanke ist sicher beeinflußt von Verg. Aen. 6,376 desine fata deum flecti sperare precando. Widersprüchlich wirkt im Vergleich dazu auf den ersten Blick Romul. 10,8f. cum fata retorquet (sc. Medea) / ad cursus quoscunque uelit. Doch ist dieser Satz der letzte einer Reihe von Adynata, die Medea als schreckliche Zauberin präsentieren sollen, und ist daher nicht als allgemeingültige Aussage zu verstehen, wie unsere Stelle. Für die Bedeutung von flectere s. ThLL VI 1,894,35ff. Vgl. Sen. Tro. 903f. flecti neget / magnus dolor. Für die Konstruktion von negare mit Infinitiv Passiv s. auch Claud. 5,223 secerni … negant (mit Infinitiv überhaupt in der Bedeutung 93 Verg. Aen. 1,257f. manent immota tuorum / fata tibi. Zu vergleichen ist auch 6,376 desine fata deum flecti sperare precando mit wörtlicher Übereinstimmung zu 58. 94 S. z. B. für einen kurzen Überblick über das vergilische fatum WILLIAM ANTHONY CAMPS: An Introduction to Virgil’s Aeneid, Oxford 1969, 41ff.

Hauptteil I: 61−212 Vom Ida nach Troja

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‘verweigern’ s. K-S I 675). Quandoque könnte, als Gegensatz zu numquam, im Sinne von umquam gebraucht sein, ein ungewöhnlicher und bei Dracontius sonst auch nicht belegbarer Gebrauch (VOLLMER MGH 398). Wahrscheinlicher dürfte es jedoch sein, quandoque synonym zu semper zu verstehen, als Analogiebildung zu ubique. 58f. obuia numquam / res quaecunque uenit Obuium uenire im Sinne von ‘widerstehen’ (für obuius in dieser Bedeutung s. OLD s. v. 2c,1230). 59 quis Verkürzte Form für quibus. In der Mitte der beiden anderen mit quibus eingeleiteten Relativsätze ist es der einzige Ablativus bzw. Dativus auctoris (WOLFF 1996, z. St., VOLLMER MGH 433). semita nulla tenetur Gebräuchlicher statt semitam tenere ist iter tenere (vgl. für die Junktur trotzdem Cic. prov. 33 semitam tantum Galliae tenebamus antea, patres conscripti und Hier. in Soph. 2,5 l.179f. Vulgatae editionis coeptam semel tenentes semitam). Hier ist allerdings der Fokus der Junktur etwas anders gesetzt: Die fata halten keinen (festen) Weg ein, sie überrollen alles hierhin und dorthin. In diesem Sinne (‘die Bahn, den Weg einhalten’) steht etwa tenere Ov. met. 2,79 utque uiam teneas (vgl. aber ZWIERLEIN 2017, 104–106 für eine andere Auffassung und die Konjektur negatur). Für semita nulla vgl. Enn. ann. 43 V. = 42 Sk. und an gleicher Versposition Aetna 129f. semita nulla profecto / fontibus et riuis constet uia (je nachdem wo im ohnehin textkritisch umstrittenen Vers abgetrennt wird, gehört nulla zum folgenden uia). 60 obuia … ueniunt Spiel mit 58f., indem das gleiche Wortmaterial in variierter Bedeutung geboten wird (so auch ZWIERLEIN 2017, 105 und Anm. 333). clausa patescunt Dieses Oxymoron faßt alle zuvor genannten Eigenschaften der fata noch einmal zusammen. Patescunt 13 Mal vor Dracontius am Hexameterende (auch laud. dei 1,500 cuncta patescunt). Die Junktur selbst ist singulär, aber die Idee ist nicht neu, vgl. für solche oxymoronartigen Verbindungen z. B. Catull. 68,67 is clausum lato patefecit limite campum, Ov. fast. 1,118 omnia sunt nostra clausa patentque manu, Claud. 22,445 arcana patescunt. HAUPTTEIL I: 61−212 VOM IDA NACH TROJA Der gesamte Abschnitt ist nach vergilischem Vorbild gestaltet.95 Die Folie, vor der die Ankunft des Paris in Troja zu sehen ist, wird besonders in den Seherreden und dem folgenden Erscheinen des Apoll deutlich: Es sind die Ereignisse im zweiten Buch der ‘Aeneis’, die mit dem Geschenk des trojanischen Pferdes in Beziehung stehen. Hier wie dort dringt ein Feind in die Mauern Trojas, der das Unglück der 95 Für die Helenus-Rede und die Intervention Apolls hat bereits SIMONS 2005, 245f. (zu Helenus – Laokoon auch dies. 2009, 104–108) auf das vergilische Vorbild verwiesen. Doch kann noch eine tiefergehende Vergilimitation gefunden werden, die die Gesamtanlage erklärt.

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III Kommentar

Stadt entscheidend mitbestimmt. Das hölzerne Pferd bewirkt den Untergang, Paris bewirkt den Krieg. Der erste und deutlichste Hinweis auf die Parallelisierung scheint mir die Gestaltung der Omina (72–77) zu sein, unter denen die Zerstörung des Scäischen Tores hervorragt und das Schwitzen des Palladiums. Denn diese beiden stehen in der Tradition als Symbol für die Beständigkeit der Stadt Troja; ihre Zerstörung oder Veränderung bedroht die Stadt (s. auch z. St.). So wird denn auch ganz konkret in der ‘Aeneis’ ein Teil der Stadtmauer Trojas zerstört, um für das Pferd einen geeigneten Durchgang zu schaffen (Verg. Aen. 2,234), bei der Ankunft des Paris in Troja bricht selbst ein Stückchen der Mauer ein (73f.) Der Seher und Apollonpriester Laokoon warnt vor der Aufnahme des angeblichen Weihegeschenks, Helenus und Kassandra, ebenfalls Apollonpriester, warnen vor der Wiedereingliederung des Bruders in die Familie. Laokoons Rede wird zunächst durch die Lügen des Sinon zunichte gemacht, schließlich aber auch durch offensichtlich göttliches Eingreifen, indem Schlangen ihn und seine Söhne töten.96 Die Reden der Seher bei Dracontius annulliert Apoll höchstpersönlich in einer Epiphanie und dreisten Rede. Gegenübergestellt werden können je drei Abschnitte mit zugehörigen Figuren:97

Vergil

Dracontius

Auslöser der Katastrophe:

trojanisches Pferd

Paris (61–77)98

Warnung:

Laokoon

Helenus (119–133) Kassandra (134–182)

Aufhebung der Warnung:

Sinon Schlangen (göttliches Eingreifen) Apoll (184–210)

Durch den Auftritt des Sinon ist die Konstellation bei Vergil etwas komplexer, doch die Grundanlage ist parallel zu sehen. Es fällt auf, daß Dracontius die Szene rhetorischer gestaltet hat. Natürlich finden sich bei Vergil die Reden des Laokoon und 96 Für die Parallelisierung von Helenus und Kassandra mit Laokoon s. auch S. 236. Hinzuweisen ist besonders auf Apollod. epit. 5,E17f., bzw. S17f., wo sowohl Laokoon als auch Kassandra gemeinsam gegen die Aufnahme des hölzernen Pferdes in Troja sprechen. Im folgenden wird explizit ausgedrückt, daß der Gott Apoll Schlangen schickt, die die Söhne des Laokoon töten. 97 Sowohl Sinon mit seiner Rede als auch die Schlangen als Ergebnis eines göttlichen Eingreifens bei Dracontius finden in der Figur Apolls ihre Entsprechung. Gedoppelt sind bei ihm hingegen die Seherfiguren. 98 Für diese Gleichsetzung des Paris mit dem trojanischen Pferd Vergils spricht neben der strukturellen Anlage auch die Tatsache, daß Aen. 2,234 die Mauern Trojas und das Scäische Tor beschädigt werden müssen, um das trojanische Pferd in die Stadt zu holen, und hier ebendies zu den Prodigien bei der Ankunft des Paris in Troja gehört (73f.).

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des Sinon, doch ist die des Sehers sehr kurz gehalten, die des Sinon ziemlich lang, aber eher eine Erzählung, keine ausgefeilte Rede mit rhetorischem Konzept dahinter. Bei Dracontius hingegen beginnt schon Paris eine Art Überzeugungsrede zu halten, um wieder in die Familie aufgenommen zu werden, Helenus warnt und Kassandra führt sogar aus, daß und warum man Paris umbringen müsse. Schließlich hält Apoll seine Rede, die das ehrfürchtige Königspaar und die Bürger täuscht. Auffällig anders ist die Steigerung bei Dracontius von zwei Warnreden gegenüber einer recht kurzen bei Vergil, die dennoch gegen Apoll nichts ausrichten können. 61−77 Der Weg des Paris nach Troja Die ersten fünf Verse des Gedichts nach dem Prooem präsentieren an ihren Enden zusammen das bisher unbemerkte Telestichon ERRAT. Es findet sich sowohl formal als auch inhaltlich an einer exponierten Stelle:99 Formal am Neueinsatz nach dem Prooem, inhaltlich an einer Entscheidungsstelle des Protagonisten. Er entscheidet sich nach dem Urteil über die Göttinnen, das beschauliche, positiv konnotierte bukolische Leben (charakterisiert von Gerechtigkeit und Ruhe)100 inmitten eines locus amoenus aufzugeben und nach Troja zu gehen, eine Entscheidung über Leben und Tod vieler Menschen. Dies wird in errat zusammengefaßt, was auch wieder auf zwei Ebenen verstanden werden kann: Einmal ganz wörtlich, daß er sich auf dem falschen Weg, nämlich dem nach Troja befindet, womit eng das übertragene Verständnis, daß er in seinem Handeln irrt, zusammenhängt; zum anderen auch auf das Innere des Paris bezogen, der sich, mit Stolz über das Göttinnenurteil erfüllt, als auserwählt betrachtet und so irrige Annahmen für wahr hält. Bestätigt wird das Fehlverhalten des Paris durch die schlechten Vorzeichen, die bei seinem Herannahen an die Stadt erscheinen. Gliedern läßt sich der Abschnitt in zwei Teile: 61–71a Verlassen der bukolischen Welt und Weg nach Troja 71b–77 Schlechte Vorzeichen bei der Ankunft in Troja Der erste Teil des Abschnitts zeichnet sich durch eine auffällige Passivierung und Entpersonalisierung der Prädikate (horretur, pigent, amatur, non placet, habetur) aus, die zur Folge hat, daß Paris, das logische Subjekt dieser Sätze, nicht genannt wird. Diese Strategie steigert die Erwartung auf die Stelle, an der Paris wieder grammatisches Subjekt wird. Nach viereinhalb Versen heißt es schließlich kurz talem iam pastor anhelat (65). Dieser Halbvers steht in deutlichem Gegensatz zum drei Verse umfassenden Katalog, welche Dinge Paris nun nicht mehr statthaft erscheinen.101 Ein Wunsch, vielmehr ein heftiges erotisches Begehren nach dieser 99 Bezeichnenderweise steht nur wenige Verse zuvor errantes talis uindicta coercet (56). 100 Zum Hirtenleben in seinen verschiedenen Ausprägungen in der antiken Literatur s. OTTO VISCHER: De pastorum, quos poetae et scriptores Graeci et Latini depingunt, condicione, vita, moribus, arte, Tübingen 1906; VISCHER 1965. S. auch den Preis des Hirtenlebens in der Seesturmrede 402ff. Für den locus amoenus allgemein s. CURTIUS 81973, 202ff. 101 Die Idee, daß Paris Überdruß und Ekel vor seinem Hirtenleben und allem, was damit in Verbindung steht, hegt, seit er von einer potentiellen Hochzeit mit Helena weiß, ist ebenfalls [Ov.]

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einen Frau siegt über sämtliche Elemente des Hirtenlebens. In 66 erfährt dieser Gedanke seine Vollendung, indem nicht nur das Geschenk der Venus als Movens wirkt, sondern das Richteramt über die Göttinnen insgesamt Überheblichkeit auslöst. Im Zuge dessen fällt auf, daß Dracontius das Versprechen der Venus während des Parisurteils erst hier erwähnt und daß er die Angebote der beiden anderen Göttinnen nicht einmal nennt. Der wahrscheinlichste Grund dafür liegt in der Bekanntheit dieser Mythosepisode,102 die der Dichter deshalb voraussetzen kann. Indem er innerhalb der Schilderung des Parisurteils die Erwähnung und Ausgestaltung der Bestechungsversuche wegläßt, erreicht er, wie oben gesehen (s. S. 169), eine auf das Wesentliche beschränkte Beschreibung des Ausgangspunktes und der Ergebnisse des Ereignisses. Die Bestechung an sich erhielt zwar auch oben eine Bemerkung (pretio 39), für die Schilderung des Dracontius sind die konkreten Angebote der Göttinnen jedoch nicht von Bedeutung,103 die Tatsache an sich genügt. Es bleibt dennoch die Frage, warum sich an dieser Stelle ein so deutlicher Hinweis auf das Versprechen der Venus findet. Es dient hier eindeutig der Charakterisierung des Paris. Für ein Versprechen einer nackten Venus läßt Paris seine Arbeit, sein Leben und seine Frau (denen mit je einer Verslänge eine vergleichsweise lange Einzelbetrachtung gewidmet ist) zurück. Anhelare (s. zu 65) deutet die negativ konnotierte Triebsteuerung an. Aus der Erwähnung der nackten Venus ein Argument für eine christlich-polemische Ausrichtung des Gedichts zu gewinnen (SIMONS 2005, 289, Anm. 212), scheint mir nicht gerechtfertigt. Eine Venus nuda erhält sogar bisweilen bei Martial einen kritischen Ton (8,1,3, s. dazu SCHÖFFEL 2001, 84, auch Anm. 5). Die anschließenden Verse, die Grundlage des Aufbruchs nach Troja, das bereits über die eigene Herkunft vorhandene Wissen, sowie den Aufbruch und den Gang nach Troja, zeichnen sich im Unterschied zum Katalog des Hirtenlebens und zur inneren Empfindung des Paris durch eine besondere Raffung aus. Die Kenntnis der Abkunft ist in zwei Versen (68b–70a), Aufbruch samt Ankunft und Weg sind in zwei Halbversen abgehandelt (70b–71a). Wie schon oben beim Parisurteil zu sehen war, ist auch hier die Ausgestaltung der Szene nicht von Bedeutung, sondern nur bestimmte Informationen, die Charakterisierung des Paris betreffend, die entsprechend dargeboten werden. Die auffälligste Schwierigkeit dieses Abschnittes ist die merkwürdige Einführung einer Amme, die aus dem Nichts einfach da ist und nur die Funktion besitzt, Paris über seine Herkunft zu informieren (hinzu kommt das lexikalisch-grammatische Problem blandita, das die Stelle auf den ersten Blick noch undurchsichtiger macht, s. dazu z. St.). Eine Lösung ergäbe sich, wenn man die Erwähnung der epist. 16,99f. zu belegen: sed mihi cunctarum subeunt fastidia, postquam / coniugii spes est, Tyndari, facta tui. Seine Unzufriedenheit wird Paris durch das ganze Gedicht begleiten: erst hier, dann in Troja, dann beim Seesturm (BRIGHT 1987, 119). 102 S. oben S. 170. 103 Ihm liegt nicht an einer allegorischen Deutung, an einer ‘Scheidewegsmotivik’ und auch nicht an einer Ausgestaltung dieser Szene in extenso.

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Amme samt ihrer Worte als Einfluß aus dem Roman erklärt.104 Das Motiv findet sich beispielsweise in der ‘Historia Apollonii’ (rec. A 29), wo die Amme das Mädchen Tharsia über seine königliche Abkunft aufklärt und ihm damit die Möglichkeit eröffnet, dem ihr gegenüber ungerechtfertigten Verhalten seiner Zieheltern, insbesondere der Ziehmutter, zu entfliehen. Daß die Amme völlig unvermittelt genannt wird und als Figur an der Handlung Anteil hat, ist ebenfalls ganz grundsätzlich ein Element des Romans, in dem sich häufiger Personen finden, die für das Fortschreiten der Ereignisse an einer Stelle nötig sind, kurzfristig und ohne Einführung auftreten und danach wieder verschwinden. Doch was genau bedeutet die Einführung dieser Amme für die Darstellung hier im Gedicht? Zunächst einmal ergibt sich daraus eine nutzbare Voraussetzung, nämlich daß Paris bereits weiß, woher er stammt. Dieses Motiv findet sich auch Mythogr. 2,225, wenn Paris vor Hektor behauptet, sein Bruder zu sein, um seiner Ermordung zu entgehen und schließlich an den Erkennungszeichen identifiziert wird (diese Variante ebenso bei Servius; s. auch unten zu crepundia, V. 102). Doch woher Paris dort die Kenntnis hat, bleibt unbekannt.105 Es scheint, als habe Dracontius durch die Einführung der Amme, sei es als Ersatz für den Hirten, sei es zusätzlich, ein fehlendes Glied in der Informationskette explizit ergänzt, nämlich, woher Paris seine Herkunft kennt. Dennoch muß offenbleiben, wie Dracontius sich die Vorgeschichte zu einer solchen Amme gedacht hat, ob sie mit Paris ausgesetzt wurde und ihn außerhalb der Stadt großziehen sollte (so fragt WOLFF 1996, z. St.), oder ob sie eben eine Alternative zum Hirten der Tradition darstellt. Indem Paris schon über seine Abkunft informiert ist, umgeht Dracontius die Hinzufügung einer anderweitigen Erklärung, wie der Hirtenjunge nach Troja kommt (meist, daß er seinem Stier zufällig in die Stadt gefolgt sei [s. auch WOLFF 1996, z. St.]). 61–71a Verlassen der bukolischen Welt und Weg nach Troja 61f. Die Dinge, die einem Hirten am Herzen liegen, werden in folgender Ordnung präsentiert (für den Sprachgebrauch des Dracontius, der asyndetische Reihungen liebt, s. die Einleitung Kap. 2.3): Vom Kleinen zum Großen zunächst das direkte Umfeld des Hirten mit Herde, Wasserquellen, Häuschen, Weideland herum, Wäldern, schließlich mit Flüssen und Land das allgemeinste, bevor mit der Hirtenflöte der Kreis geschlossen wird und wieder auf den Anfang verwiesen wird: Der Hirte spielt auf der Flöte, während er weidet. Die lange Aufzählung wird von je einem Halbvers gerahmt, den ein Satz mit einem Subjekt im Singular ausfüllt. Dieses ideale Leben in Ruhe und Zurückgezogenheit (der locus amoenus wird nur mit Schlagworten aufgerufen, aber nicht ausgeführt) wird von Paris hier verschmäht, während 104 Zum strukturellen Einfluß des Romans auf Romul. 8 s. die Einleitung 3.2. 105 Anzunehmen ist freilich, daß er von seinem Adoptivvater informiert wurde, dem er als Kind übergeben wurde: quem genitum (sc. Parin) pater cum interire iussisset, mater pastori furtim transmisit alendum (Mythogr. 2,225); so auch Dictys 3,26 sed Hecubam more femineo miserationis clam alendum pastoribus in Idam tradidisse. S. dazu auch MORELLI 1912, 95f. und WOLFF 1996, zu 69.

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er sich 402ff. im Seesturm wieder dahin zurücksehnen wird (vgl. besonders 407 die ebenfalls asyndetische Reihung pascua rura nemus [hier 61 siluae] fontes et flumina prata).106 Beide Verse weisen – typisch bukolisch – die bukolische Dihärese auf. 61 iam Mit iam setzt die eigentliche Handlung des Epyllion ein, wodurch der Leser sofort in den Gang der Ereignisse hineingenommen wird (eine ähnliche Wirkung wie 31 nach der Hälfte des Prooems). Iam an den Anfang eines neuen Abschnitts zu setzen, ist epischer Stil (seit Ennius, z. B. ann. 459 V. = 450 Sk.) und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die kommenden, teilweise dramatischen Ereignisse (s. CHAUSSERIE-LAPRÉE 1969, besonders 497 und 514). Vgl. z. B. Lucan. 1,183 iam gelidas Caesar cursu superauerat Alpis (s. ROCHE 2009, 205 zum Einsatz der Handlung mit iam) und ähnlich Stat. Theb. 1,46–48 impia iam merita scrutatus limina dextra / merserat … / Oedipodes. horretur Diese Form in der Dichtung nur bei Dracontius (noch Romul. 5,61. 90); passives horrere findet sich ansonsten ausschließlich in spätantiker Prosa (ThLL VI 3,2976,36ff.). Die Bedeutung timeri, die für diese Stellen postuliert wird und auch für die beiden anderen Dracontius-Stellen passend ist, muß hier aber als für die Aussage ungeeignet ausgeschieden werden. Grammatisch problematisch, aber dem geforderten Sinn entsprechend wäre hier mit einer aktiven Bedeutung (entweder ‘mißfallen’ oder ‘Grauen erregen’, ThLL VI 2978,52) zu arbeiten. Dies wird leichter erträglich, wenn man in Betracht zieht, daß Dracontius gelegentlich intransitive Verben transitiv gebraucht (VOLLMER MGH 437), eine Verwendung, die ohnehin typisch dichterisch ist (K-S I 163, H-S 31f.). Alternativ kann ein simplex pro composito postuliert werden: horrere für abhorrere, und verstanden werden: „vor der Herde wird (zurück)geschaudert“. Gedanklich zu ergänzen ist Paridi (s. auch WOLFF 1996, z. St.), jedoch ist er nie ausgedrückt, sondern alles ist in eine Art passive Struktur gekleidet, die zur Folge hat, daß der Leser besonders intensiv an Paris denken muß. casa Hirtenhäuschen (ThLL III 509,73ff.; in der bukolischen Literatur Calp. ecl. 2,60 ne contemne casas). Vgl. auch Orest. 141 quem (sc. Aegisth) post tecta casae regalis suscipit aula, wo auch der Übergang vom Hirten (bone pastor Egiste 139) zum König thematisiert wird. Für eine Untersuchung über Bedeutung und Gebrauch des Wortes s. JULIO MANGAS / ALEJANDRO ÁLVAREZ / RUBÉN BENÍTEZ: CASA / CASAE en el occidente Romano, HAnt 37, 2014, 271–298, hier 284. 62 pigent Die seltene und recht ungebräuchliche persönliche Konstruktion von piget mit einem Subjekt der Sache wurde vielleicht von der in späterer Zeit gebräuchlicheren persönlichen Konstruktion von paenitet beeinflußt, vgl. CHIARA FEDRIANI: 106 GÜNTHER WILLE (Musica Romana: Die Bedeutung der Musik im Leben der Römer, Amsterdam 1967, 116) nimmt 61f. merkwürdigerweise als Beleg für seine Behauptung über die Musik in der Bukolik „Trübe Stimmung muß herrschen, wenn man einmal keine Hirtenflöte mehr hört“. Zu Recht spricht er jedoch von einer grundsätzlichen Identifikation von Hirtenleben und Hirtenmusik; an unserer Stelle endet das Hirtenleben und damit auch die Musik.

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The me pudet construction in the history of Latin. Why and how fast non-canonical subjects come and go, in: ILJA A. SERŽANT / LEONID KULIKOV: The Diachronic Typology of Non-Canonical Subjects, Amsterdam 2013, 203–229, hier 220, die unsere Stelle aber für den Kontext unpassend übersetzt107. Auch pudet wird beispielsweise Lucan. 8,495 quem saeua pudebunt persönlich konstruiert. S. auch NEUE / WAGENER 3, 653f. und ThLL X 1,2114,3–7. Diese grammatikalische Dehnung des Wortes scheint ebenfalls Teil der Passivierungsstrategie zu sein. Gedanklich zu ergänzen ist ein Paridem (s. auch WOLFF 1996, z. St.). fistula Bezeichnet hier die syrinx, die Hirtenflöte (ThLL VI 1,829,70), ebenso 642 (s. auch dort; vgl. für die Bukolik Verg. ecl. 2,37; 3,22 u. ö.). dulcis Ein typisches Adjektiv zur näheren Bezeichnung von Musikinstrumenten (ThLL V 2192,9ff.). Von der fistula noch Hor. carm 1,17,10 und Prop. 4,4,5f.; ähnlich Ps. Cato dist. 1,27 fistula dulce canit, uolucrem dum decipit auceps. amatur Ebenso absichtliche Passivierung, bei der gedanklich ein a Paride ergänzt werden muß. 63 Oenone, sed iam prope turpis habetur Paris hatte Oenone zur Frau, bevor er über die Göttinnen urteilte (für die literarische Tradition der Beziehung s. JAVIER 2001, 26ff.). Nach dem Tod des Paris soll sie beim Anblick der Leiche vor Trauer gestorben sein, um schließlich mit dem Geliebten im selben Grab zu liegen (Dict. 4,21). Ausführlich behandelt Ov. epist. 5 das Schicksal der Oenone. Die Liebesbeziehung zwischen Oenone und Paris erwähnt Dracontius auch Romul. 2,119 Oenone Paridem … zelat. VON DUHN konjizierte für das überlieferte, metrisch unmögliche oenones iam das paläographisch kaum ins Gewicht fallende, auch hier eingesetzte Oenone sed iam. Ein ähnliches wie das konjizierte sed findet sich 213–215 iam regno non impar erat, sed sceptra tiaram / imperium … / totum uile putat, so daß eine Stütze für die leichte Redundanz des sed vorzubringen wäre. In turpis steckt nicht nur ‘häßlich’ als Gegensatz zur wunderschönen Helena, sondern auch das nicht mehr statthafte Lebensgefühl, das Paris mit Oenone nach seinem „Aufstieg“ hat (dieser Gedanke auch [Ov.] epist. 16,98). Prope schwächt die heftige Steigerung von non placere zu turpem habere etwas ab. Der Versschluß turpis habetur auch laud. dei 1,486. Haberi mit doppeltem Nominativ auch 40f. 64 ex quo In der Bedeutung ‘seitdem’ (H-S 266f.) mit anklingender kausaler Färbung (H-S 624; vgl. z. B. auch Fulg. myth. 1,18). pulchra Steht im Gegensatz zum auf Oenone bezogenen turpis; setzt zudem die Verbindung zu Helena (vgl. 518. 527). Für dieses Epitheton auf Venus s. IESSE BENEDICTUS CARTER: Epitheta deorum quae apud poetas Latinos leguntur, ROSCHER, Suppl., 103). 64f. talem promisit in Ida / qualis nuda fuit Geschickt umgeht Dracontius das Wort uxor o. ä., wodurch offengehalten wird, um welche Frau es sich handeln wird 107 „[N]ow the flocks is frightened, fountains, farms, pastures, wood, rivers, lands grieve“.

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(keine Namensnennung oder nähere Qualifikation, wie beispielsweise Dares 7 oder Lukian in den ‘Göttergesprächen’ 8,20) und was genau sie mit Venus verbindet. Durch nudus freilich und das gezielt gesetzte Epitheton pulchra wird deutlich, daß sie an körperlicher Schönheit der Venus gleichkommen wird (dieses Detail erwähnt auch [Ov.] epist. 16,137f. his similes uultus, quantum reminiscor, habebat / uenit in arbitrium cum Cytherea meum), daß sie aber auch göttliche Wurzeln hat, wird noch im Dunkeln gelassen, ist jedoch später von Bedeutung (464f.). Die Formulierung mit talis wird 516f. si talis erit, quam forte merebor / uxorem wieder aufgegriffen, wo auch das fehlende Wort uxor hinzugesetzt ist. Die Nacktheit der Göttinnen, die sich dem Urteil des Paris stellen, wird oft betont: Prop. 2,2,13f., 3,13,38, Ov. ars 1,247, epist. 5,36, [Ov.] epist. 17,15f. 116. Daß Venus allein unbekleidet erscheint, findet sich bei Proklos Chrestom. lib. 1 und ganz besonders ausgestaltet im ‘Excidium Troiae’ 4, auch Kolluthos 157 στῆθος ἅπαν γύμνωσε καὶ οὐκ ἐμνήσατο μαζῶν. Ob die Lokalbestimmung in Ida eher in den ex-quo-Satz oder in den qualisSatz zu ziehen ist, läßt sich nicht sicher sagen. 65 talem … anhelat Paris ergeht sich in heftigem erotischem Begehren, was durch anhelare in Verbindung mit nuda deutlich wird. Transitives anhelare in erotischem Zusammenhang (intransitiv seit Tib. 1,8,37f.) mit dem Subjekt einer Person scheint eine Spezialität des Dracontius zu sein: Romul. 10,77 mox hunc suspiret anhelet (sc. Medea), 141f. iuuenemque Pelasgum / … anhelet (sc. Medea). Ähnlich, jedoch mit Subjekt der Sache Repos. 117 Venerem totis pulmonibus ardor anhelat, Anth. 23 R. = Sh.-B. 10,2 qualem (sc. puellam) meus ignis anhelat. (s. KAUFMANN 2006 [a], 166f.; WOLFF 1996, z. St.; ThLL II 67,44ff., der Dracontius und damit die Subjekte der Person zu anhelare nicht aufführt). Das doppelte talem wirkt zunächst etwas sperrig, ist aber sicher stilistisch gesucht, um dem fragwürdigen Aufgreifen desselben fragwürdigen Angebots eine besondere Betonung zu verleihen. iam In der Bedeutung ‘sofort, sogleich’ (s. ThLL VII 1,102,54ff.). pastor S. zu 34 und die Einleitung 2.1.4.5.1. 66 sordent arua Greift die Aufzählung 61–62 auf und faßt sie zusammen. Arua scheint hier als ‘Land’ den Gegensatz zur Stadt zu betonen (67 Pergama, Troia; für arua gegenüber urbs vgl. Verg. Aen. 7,45f. rex arua Latinus et urbes / iam senior … regebat, Sen. Phoen. 509 socer non arua, non urbes dedit) und alle oben aufgezählten Dinge in sich zu vereinen (mit dieser Erklärung ist auch RIBBECKs 1873, 463 Konjektur zu 62 flumina curua statt flumina rura, weil erst hier mit arua die Felder genannt wären, abzulehnen; eine andere ablehnende Erklärung findet SCHENKL 1873, 515f.: Dracontius käme „es bloss auf Häufung von Wörtern“ an). Sordere steht in einer Reihe mit pigent und turpem habere; das im Verb enthaltene Substantiv sordes („Dreck“) bestimmt die Bedeutung an dieser Stelle besonders mit, einerseits durch die Nachwirkung der bedeutungsähnlichen Worte vorher, andererseits durch die Gegenüberstellung von ‘Land’ und ‘Stadt’. Daneben wirken

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auch die Bedeutungen uilem esse und contemnuntur (vgl. Hor. epist. 1,11,4, Verg. ecl. 2,44, Stat. Theb. 10,837). post iurgia tanta dearum Iurgium oszilliert hier zwischen dem Terminus für einen Streit vor Gericht (ThLL VII 2,667,3ff.), als welcher das Parisurteil ja stilisiert wurde, und auf den dieser nun so stolz ist („Beschreibung des inneren Vorgangs in Paris“ SIMONS 2005, 296), und einem weibischen Gezänk (vgl. SANTINI 2006, 96). S. auch in der Rede des Paris 98f. ego iurgia diuum / compressi. Tanta trifft die Vorstellung des Paris und wirkt daher ironisch. Der verkürzende Präpositionalausdruck anstelle eines temporalen Nebensatzes ist bei Dracontius beliebt (VOLLMER MGH 391, vgl. auch die Einleitung Kap. 2.3 für weitere Fälle). 67 Pergama … moenia … Troiae Die beiden üblichen Bezeichnungen für Troia, die häufig in der lateinischen Dichtung als Variation synonym und nebeneinander gebraucht werden (in Romul. 8 direkt nebeneinander noch 270f. 326), rahmen den Vers. Variiert werden die Begriffe noch mit Ilios, das nur 296 in Form eines Substantivs auftritt. Das Adjektiv Iliacus findet sich 218. 235. 267. 282 u. ö. Die Junktur moenia Troiae ist besonders als Versschluß beliebt seit Verg. Aen. 5,811. sola Der explizite Gegensatz zum Katalog der verachteten Elemente des Hirtenlebens. quaerere In der Bedeutung petere (WOLFF 1996, z. St.). Ähnlicher Versschluß Verg. Aen. 5,637 quaerite Troiam. Während Pergama sola das Subjekt zu placent bildet, muß moenia quaerere Troiae als Infinitivkonstruktion von mens et fata iubent (68) abhängig sein. 68 mens et fata iubent Der Satz benennt die Moventia der Handlung, den eigenen Willen des Paris und die Vorsehung, als gleichwertig, trotzdem unabhängig, in Form eines auktorialen Hinweises (BRETZIGHEIMER 2010, 279, dagegen SIMONS 2005, 296f.), der Ironie anklingen läßt (‘Paris will das Landleben verlassen und nach Troja gehen, wie praktisch, die fata sehen das ja zufällig auch vor, dagegen kann er freilich nichts tun’). Daß Paris in seinem Wunsch, nach Troja zu gehen, die Bestätigung des Fatums sieht (SIMONS 2005, 297), ist nicht ganz plausibel (Paris scheint nichts von den fata zu wissen. Der Grund für seine Orientierung in Richtung Troja liegt an der Information über seine Herkunft, 68–70). Denn die Darstellung der Ereignisse bis hierher hat gezeigt, daß Paris von sich aus ein überheblicher Mensch ist, der ein Urteil über Götter spricht und sich daraufhin zu Höherem berufen fühlt. Er hätte die Möglichkeit gehabt, anders zu handeln. Weil er das nicht tat, treffen Fatum (das hier ganz konkret als Traum der Hekabe verstanden werden kann) und Wille hier wieder zusammen.108 S. genauer die Einleitung Kap. 2.1.3.4 zum Fatumverständnis im Gedicht. 108 SIMONS 2005, 296 postuliert mit Verweisen auf Augustin, daß das Motiv, eine Entschuldigung für menschliches Handeln im fatum oder bei den Göttern zu suchen, und auch die Kritik daran, spezifisch christlich sei. Doch schon das vierte Buch der ‘Aeneis’ und Didos Reaktion auf den Fatumsgehorsam des Aeneas scheint dagegen zu sprechen.

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Eine Verbindung von mens und fata findet sich sonst, wenn ich richtig sehe, nur noch Verg. Aen. 2,54 si fata deum, si mens non laeua fuisset (zumindest wenn man hier die menschliche mens verstehen darf, s. HORSFALL 2008, 91f.). Die Junktur fata iubent begegnet häufiger in der lateinischen Literatur, z. B.: Ov. met. 15,584, Lucan. 8,520, [Sen.] Herc. O. 180. Bei Dracontius selbst noch Romul. 8,535; 10,375, Orest. 144. Mens in der Bedeutung ‘Wille, Entschluß’ (s. ThLL VIII 725,44ff.; ein wenig gekünstelt erscheint die Einordnung im ThLL VIII 726, 56 zu unserer Stelle unter „mens mit Infinitiv“ für die Konstruktion, da die Trennung in mens est und fata iubent, statt mens et fata iubent zusammenzuziehen, unnötig ist [die Junktur mens iubet ist zwar nicht sehr häufig, läßt sich aber belegen: Petron. 123 vers. 223, Claud. rapt. Pros. 1,4, Anth. 725 R.,16]). Iubere mit Infinitiv und Akkusativobjekt s. ThLL VII 2,577,65ff. monitus Ist in der Bedeutung ‘informiert, belehrt’ zusammen mit blandita nutrice zu verstehen (WOLFF 1996, z. St., vgl. ThLL VIII 1406,76ff.), wodurch die Informationsübermittlung der Amme an Paris ausgedrückt ist. omnia norat Omnia meint sämtliche Informationen der Her- und Abkunft des Paris, die in den folgenden indirekten Fragesätzen ausgeführt sind. Für die Form norat, die durch alle Zeiten, sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa zu belegen ist, s. NEUE / WAGENER 3, 489 (bei Dracontius nur hier, vgl. aber laud. dei 2,207 norint, 3,12 norunt, satisf. 96 norunt). 69 blandita nutrice Dient als Ablativus auctoris zu monitus (WOLFF 1996, z. St.). Fraglich ist das genus verbi von blandita: So kann blandiri tatsächlich in einigen Fällen passivisch gebraucht sein (NEUE / WAGENER 3, 28f.; Prisc. gramm. II p. 379, 2ff.), eine Verwendung, die sich hier auf den ersten Blick anbieten würde. Denn man könnte, der bisherigen Charakterisierung folgend, einen Paris konstruieren, der seine Amme um den Finger wickelt, um Informationen über sich zu erhalten. Andererseits ist es vorstellbar, daß blandiri oder blandus in irgendeiner Form zur ‘Grundausstattung’, d. h. zum normalen Verhalten einer Amme gehört, vgl. z. B. Hist. App. rec. A 2,7 nutrix … blando sermonis conloqui reuocat, Lucr. 5,230 almae nutricis blanda atque infracta loquella, Ambr. hex. 5,3,8 nutrix blanda, Fulg. Virg. cont. p. 93,13 infantia enim blandiloquiis semper nutricum cantibus oblectatur, Auson. 8,69 GREEN blandis nutricibus. Vor diesem Hintergrund läßt sich das Partizip gut aktivisch verwenden oder schlicht im Sinne des Adjektivs blandus und als traditionelle Vorstellung einer Amme erklären. Vgl. auch Romul. 10,127 und Orest. 328. puer ‘Als Junge’, d. h. schon vor einiger Zeit hat Paris bereits von seiner Amme seine eigentliche Herkunft erfahren. Aber erst die Tatsache, über Göttinnen geurteilt zu haben, bringt ihn nun dazu, Höheres als das Hirtendasein zu erstreben und nach Troja zu gehen. 69f. Die indirekten Fragen sind als Apposition zu omnia zu verstehen. Es sind hier die typisch epischen Fragen des Kennenlernens zusammengestellt, die bei der Begegnung zweier einander fremder Menschen ausgetauscht werden (s. dazu auch zu

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503–505. 509). Gespielt wird mit dem Bekannten, indem Dracontius den Paris sich selbst, als sei er ein Fremder, kennenlernen läßt. quo sanguine cretus Sc. sit. Für die Verbindung s. Verg. Aen. 2,74; 3,608; 4,191, Ov. met. 5,85; 13,31, Stat. silv. 5,2,17, Romul. 8,443. 509; s. für Weiteres zu 443. Für weitere Beispiele für die Ellipse einer Form von esse in Relativ- und Interrogativsätzen bei Dracontius s. VOLLMER MGH 438. 70 qui genus, unde domus Die Wendung imitiert Verg. Aen. 8,114 qui genus? unde domo? Grammatisch ist genus Akkusativ der Beziehung (H-S 37); domus ist entweder als Nominativ zu verstehen (woher seine Familie komme), oder als Akkusativ der Beziehung im Plural (woher er hinsichtlich seiner Familie komme; vgl. Isid. etym. 2,21,17 qui(d?) genus? unde domum?). Beide Möglichkeiten sind eher ungewöhnlich und finden sich sonst nicht belegt, weshalb PEIPER unde domo nach vergilischem Vorbild konjiziert. Doch wird man für die Stelle die Variationsliebe des Dracontius annehmen dürfen, der mit bekannten Wendungen spielt, und nicht konjizieren. rapiens In der Grundbedeutung ‘ergreifen, an sich reißen’. Weist auf vielleicht unrechtmäßiges Ergreifen der Erkennungsmerkmale hin; spielt sicher mit raptum (1) oder raptor (11) u. ö., so daß Paris auch im Kleinen als Räuber und Verbrecher erscheint. Vgl. für diesen Gebrauch von rapere auch Orest. 235 illa rapit tunicam, pastor rapit inde bipennem. crepundia Sind eigentlich Klappern, die einem Kind zum Spiel gegeben werden (ThLL IV 1174,49f.). Sie bezeichnen davon ausgehend jedoch oft die einem ausgesetzten Kind mitgegebenen Dinge, die als Erkennungszeichen für eine potentielle Anagnorisis von Bedeutung sind (ThLL IV 1174,56ff., griech. γνωρίσματα). Es sind zunächst sehr kleine Gegenstände, die den neugeborenen Kindern um den Hals gelegt werden und als Glückbringer und zur Abwehr des Bösen dienen sollen. Ihre Bezeichnung haben sie von dem Geräusch erhalten, das entsteht, wenn sie geschüttelt werden.109 Diese Amulette wurden bis weit nach dem Kindheitsalter in Kistchen aufbewahrt; wenn man die Kinder aussetzte, gab man ihnen diese fürsorglich mit, einerseits zur Abwehr von Unheil, andererseits auch als Mittel einer möglichen Anagnorisis, wenn sich Eltern und Kind einmal wiedersehen sollten. Daher sind crepundia in der Komödie ein beliebtes Motiv und haben als Erkennungsmerkmale eine wichtige Funktion. Da Paris über sein Schicksal bereits informiert ist, nimmt er selbst die crepundia mit, um zu beweisen, daß er tatsächlich der Königssohn ist (s. die Ausführung 102; daß er sie von seinem Adoptivvater geraubt habe [so JAVIER 2001, 25, Anm. 55], könnte man vielleicht annehmen und in rapiens ausgedrückt sehen, aber der Text gibt zu wenig her für eine genaue Einordnung und ausführliche Interpretation dieser Situation). Daß Paris aktiver Betreiber der Wiedererkennung ist, findet sich auch in den Mythenversionen, die von Servius Aen. 5,370 dixit (sc. Paris) se 109 S. für diese Ausführungen AUGUST MAU: Crepundia, RE 4, 2,1706–1707. EVA SCHMIDT: Spielzeug und Spiele der Kinder im klassischen Altertum. Mit Beispielen des Deutschen Spielzeugmuseums Sonneberg, Südthüringer Forschungen 7, Meinigen 1971, 18f.

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esse germanum; quod allatis crepundiis probauit und bei Mythogr. 2,225 dixit ille (sc. Paris) se eius (sc. Hectoris) esse germanum, quod cum mirum uideretur, allatis crepundiis eius frater est probatus et a patre in fratrum consortia receptus erwähnt werden; beide Stellen spielen jeweils nach dem Kampf zwischen Paris und Hektor während der fälschlichen Leichenspiele des Paris. Der Paris des Dracontius ist jedoch ganz und gar egoistisch gezeichnet: Während er in der traditionellen Version um sein Leben bangen muß und daher auf seine Herkunft hinweist, um verschont zu werden, greift (mit dem starken Wort rapiens ausgedrückt) er hier ohne Not zu den crepundia, um zu seinem Recht als Königssohn zu gelangen. Für crepundia in der Tradition des Paris-Mythos s. JAVIER 2001, 24 und Anm. 54. 71 Troianum carpebat iter Das Adjektiv ersetzt die Partizipialkonstruktion ad Troiam (für weitere Beispiele s. ThLL VII 2,540,14ff.). Die bei Dracontius beliebte Junktur carpere iter (in Romul. 8 noch 450, Orest. 108. 633. 694, satisf. 313) ist eine Variation des iter facere (ThLL III 493,74ff.; zu belegen seit Hor. sat. 1,5,95; seit Verg. georg. 3,347 ist uiam carpere in Gebrauch). Die Tempora gehen bei Dracontius oft durcheinander und es fällt meist schwer, die jeweilige Wahl zu begründen – hier jedoch macht das Imperfekt auf die Dauer des Weges aufmerksam, die in der Raffung der Schilderung und in der Kürze des Ausdrucks untergehen könnte. 71b–77 Prodigien bei der Ankunft des Paris in Troja Paris nähert sich der Stadt und sogleich erfährt zumindest der Leser, was von dieser Ankunft zu halten ist: Deutlich negativ konnotierte Prodigien begleiten das Eintreffen des Hirten. Schreckliche Vorzeichen bei der Ankunft des Paris in Troja erscheinen zu lassen, ist wohl eine Innovation des Dracontius (WOLFF 1996, 125), wenn auch keine fernliegende. Daß an bestimmten Wendepunkten Omina eingeführt werden, ist in epischer Dichtung keine Seltenheit (z. B. bei Lucan nach dem Übergang Caesars über den Rubikon oder die vielen Prodigien in Vergils ‘Aeneis’).110 Sie geben Handlungshinweise oder sie werten eine Situation. An unserer Stelle sind es teilweise Zeichen, die traditionell mit dem Untergang Trojas in Verbindung stehen111 (Einstürzen des Scäischen Tores 74, und die Erwähnung des Palladiums 77, wobei dieses nicht gestohlen wird, was sonst die Zerstörung der Stadt voraussagt), 110 Vgl. z. B. WEINREICH 1953, 1147–1154, OSKAR SCHREMPP: Prophezeiung und Rückschau in Lucans Bellum civile, Winterthur 1964, GABRIELE GRASSMANN-FISCHER: Die Prodigien in Vergils Aeneis, München 1966, ANNEDORE GROSS: Prophezeiungen und Prodigien in den Argonautica des Valerius Flaccus, München 2003, BURKHARD SCHERER: Mythos, Katalog und Prophezeiung. Studien zu den „Argonautika“ des Apollonios Rhodios, Stuttgart 2006, MICHAEL ERLER: Il prodigio di Laocoonte. Influenza degli dei e condotta degli uomini nell’‘Eneide’ di Virgilio e in Omero, SCO 54, 2008, 213–232. 111 Es finden sich unterschiedliche antike Aussagen, welche Ereignisse den Untergang Trojas bedeuten: Plaut. Bacch. 953ff.: Diebstahl des Palladiums, Tod des Troilos und Zerstörung des Türsturzes des phrygischen Tores, Apollodor epit. 5,10: Gebeine des Pelops werden nach Troja gebracht, Neoptolemos kämpft mit, Diebstahl des Palladiums, Serv. Aen. 2,13: die gleichen drei Ereignisse wie in Plaut. Bacch. plus Teilnahme des Neoptolemos, Einfangen der Pferde des Thrakers Rhesos, Philoktet erhält den Bogen des Hercules.

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zu einem anderen Teil Phänomene, die problemlos in einen Zusammenhang mit dem trojanischen Krieg gestellt werden können (das Einstürzen von Turmspitzen 72, das Einfallen von Mauerstücken 73f., die Erwähnung der Flüsse Simois und Xanthus) und zu einem dritten Teil ein ganz allgemeines Ereignis (Laute aus der Erde 73). Gemeinsam ist allen Elementen, daß sie den trojanischen Krieg bereits präfigurieren. Die Omina an unserer Stelle erinnern zusätzlich an eine weitere Tradition, nämlich an die des Adventus. Freilich ist ein Adventus des Kaisers in einer Stadt als komplexes, geplantes, bedeutungsvolles Ereignis nicht gleichzusetzen mit der Ankunft des Paris, weil beide unter völlig verschiedenen Voraussetzungen geschehen. Doch ist die Situation des Übertritts über eine Schwelle in der römischen Tradition ein Moment, an dem sich positive und negative Vorzeichen ereignen und auch erwartet werden (s. RONNING 2007, 234).112 Zumal, wenn es sich bei der Figur um einen (potentiellen) Herrscher handelt. Dieser Moment, der also schon seit langer Zeit mit einem gewissen (Aber-)Glauben belegt ist, wird von Dracontius als geeignete Stelle genutzt, um Omina einzusetzen.113 Ungelöst bleibt, warum von Seiten der Bewohner Trojas, aber auch von der Seite des Paris keine Reaktion auf das Prodigium erwähnt wird. Wenn die Tür, die zu Trojas Wohl in unangetastetem Zustand sein muß, zerstört wird, sobald Paris sich nähert, dann sollte allen, die darauf aufmerksam werden, deutlich sein, daß der Zerstörer Trojas naht. Merkwürdigerweise nimmt aber niemand das schlechte Vorzeichen wahr, denn Dracontius erwähnt keine Reaktion, weder von Paris (was durchaus auf seine Überheblichkeit hinweisen könnte), noch von den Bewohnern der Stadt. 71f. uix … / … et Hier handelt es sich eigentlich um einen Satz mit cum-inversum, in dem das cum fehlt. An unserer Stelle zeigt sich besonders deutlich der Hauptsatzcharakter des cum-Satzes, weil statt eines untergeordneten Nebensatzes eine Parataxe, die mit et eingeleitet wird, folgt (H-S 623f.). Die gleiche Formulierung und Konstruktion auch 217f. uix uiderat aulam / regis, et Iliacas quaerit per litora puppes. 71 arcem Metonymisch für die Stadt Troja (so z. B. auch Culex 336, Sen. Tro. 478, vgl. ThLL II 739,63ff.). 112 Besonders eindrucksvoll ist in dieser Beziehung die Schilderung des Einzugs Julians in Antiochia und Hierapolis bei Ammianus Marcellinus (22,9,14f. und 23,2,6). Besonders die Omina im 23. Buch vor dem trotz dieser schlechten Vorzeichen begonnenen Perserfeldzug sollen Julian, der selbstbewußt und ohne Rücksicht handelt, als Kontrast zu Constantius erscheinen lassen (DEN BOEFT / DRIJVERS / DEN HENGST / TEITLER 1998, 20). 113 Eine ähnliches „Eintrittsmoment“ mit Vorzeichen findet sich 453ff., als Paris sich in Richtung Venustempel wendet. AGUDO CUBAS 1978, 283 weist den Vorzeichen, die jeweils an den Handlungspunkten des Paris aufträten (jedoch nicht durchgängig, bei der Abfahrt von Troja findet sich nichts davon), sicher zu Recht die Funktion der Dramatiksteigerung zu. Es sind jeweils Stellen, an denen eine Schwelle überschritten wird, und damit typische Stellen für den Einsatz von Vorzeichen.

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72 lassus Die Ironie, die durch dieses Adjektiv hervorgerufen wird, wird durch das Enjambement gesteigert, das mit der Erwartungshaltung der Leser, die einen furiosen Auftritt nach so viel Selbstbewußtsein schon vor sich sehen können, spielt; zudem ist es ein Wort von umgangssprachlichem Gepräge und läßt sich bei den Spöttern Martial und Juvenal besonders gut belegen (AXELSON 1945, 29f.). Auffällig ist mit Blick auf 564 (s. auch dort), daß Paris von einer nicht besonders guten körperlichen Konstitution gezeichnet ist – jeder längere Fußmarsch mit Gepäck (hier trägt er zumindest die crepundia, dort Helena) lassen ihn Müdigkeit vorschützen. intactae procumbunt culmina turris Der Versschluß begegnet seit Prop. 3,16,3 sechsmal vor Dracontius (meist mit der Variation culmine), ist also als dichterisches Formelgut zu werten. Auch rein lautliche Übereinstimmung ohne inhaltliche Parallele zu Verg. georg. 1,111 ne grauidis procumbat culmus aristis. Die Formulierung turrim procumbere findet sich seit Caes. civ. 2,11,4, in der Dichtung seit Verg. Aen. 9,540f. pondere turris / procubuit. Für die Bedeutung von intactus s. ThLL VII 1,2067,77ff. und vgl. Cic. rep. 2,11 ut … incolumis atque intacta permanserit (sc. arx). 73 ingemit et tellus Singuläre Variation (compositum pro simplici, für die Technik s. JAKOBI 1988, 203; ingemere sehr selten mit Subjekt einer Sache, s. ThLL VII 1,1519,6ff.) der häufigen Wendung dat gemitum tellus (z. B. Verg. Aen. 9,709; 12,713, Stat. Theb. 6,527, u. ö.) oder gemit tellus (Sil. 4,96. 294), die oft in Kriegsschilderungen den Widerhall der Erde ausdrückt, wenn ein toter Körper auftrifft, oder auch den Klang von galoppierenden Hufen auf dem Boden wiedergibt. An dieser Stelle kann die Junktur das passende Geräusch zum Herabfallen der Turmspitze darstellen (72). Das Geräusch der Erde mag aber auch ein Erdbeben illustrieren, das zum üblichen Omina-Inventar gehört (WOLFF 1996, z. St.) oder aber durch die Terminologie schon auf den Krieg hinweisen und auf diese Weise omenhaft wirken. certa Steht hier am ehesten im Sinne von quaedam (ThLL III 906,48), wie auch laud. dei 1,162 in scopulos pars certa riget (vgl. auch Lucr. 5,549). Wünschenswert wäre eine Bedeutung des Wortes im Sinne von stabilis, um ein Äquivalent zu intactus (72) zu erhalten, was sich jedoch nicht belegen läßt. ZINGERLE 1879, 52 und 1882, 60 hegt heftige Bedenken gegen certa und schlägt celsa mit dem Hinweis vor, daß bei Dracontius oft hintereinander das gleiche Wort verwendet wird; celsa finde sich 81 an der gleichen Versposition, eine Verwechslung könne sich aus verschiedenen Gründen ergeben haben. Dagegen läßt sich einwenden, daß das Wort celsus keine wesentliche Zusatzinformation gibt, sondern rein schmückend sein müßte. Certus hingegen zeigt zum einen, daß nicht die gesamte Mauer einstürzt, zum anderen daß es aber ein bedeutendes Stück ist. 74 concidit et Reimt mit dem vorhergehenden Versanfang. Wie ingemit et ebenfalls ein häufiger Hexameteranfang. Scaeae iacuerunt limina portae Es ging die Sage, daß Troja eine sichere Stadt sei, solange die porta Scaea, das Westtor der Stadt, durch das dem Mythos nach auch

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das hölzerne Pferd in die Stadt geholt wird, unversehrt bliebe (Serv. Aen. 2,13. 241). Die Verletzung des Tores am Türsturz, die eigentlich mit dem Hineinziehen des trojanischen Pferdes einhergeht (so beispielsweise als Bild Plaut. Bacch. 987f. nunc superum limen scinditur, nunc adest exitium ‹illi› Ilio / turbat equos, lepide ligneus), geschieht schon jetzt, was darauf hinweist, daß Paris in diesem Moment die Rolle des Pferdes übernimmt – erst ein großes Geschenk, dann der Untergang aller (s. auch oben, S. 188, zur strukturellen Parallelisierung der Stelle mit Verg. Aen. 2). Limina (das überlieferte lumina ergibt keinen Sinn und muß in limina geändert werden, wie von IANNELLI vorgeschlagen, vgl. für die Junktur Verg. Aen. 3,351 Scaeaeque amplector limina portae, Sil. 13,73 Scaeaeque ad limina portae) ist für ‘Türsturz’ (ThLL VII 2,1404,2ff., so auch Plaut. Bacch. 987f. und 955 quom portae Phrygiae limen superum scinderetur) in poetischem Plural verwendet. Iacere muß hier nicht zwingend die Bedeutung ‘einstürzen’ (ThLL VII 1,18,64, s. auch WOLFF 1996, z. St.) haben, sondern kann auch in seiner Grundbedeutung ‘liegen’ (also resultativ) verwendet sein, so daß nur noch das Ergebnis zu sehen ist, nicht aber der Vorgang; der Wirkung des Omens tut dies keinen Abbruch. 75 Simois … Xanthi Zwei Flüsse der westlichen Troas, in der Nähe von Troja (Xanthus auch Scamander bei den Göttern; der Simois fließt in den Scamander). Sie spielen im trojanischen Krieg eine bedeutende Rolle als Handlungsorte und Interventoren (besonders Xanthus) und werden von den nachfolgenden Dichtern immer wieder für Anspielungen herangezogen. siccauit aquas Singuläre Kombination. Siccare in intransitiver Verwendung (H-S 296), aquas ist Accusativus Graecus. Alternativ könnte man siccare auch transitiv verstehen mit aquas als Objekt und Simois als Agens, doch scheint dies im Zusammenhang mit den übrigen Vorzeichen nicht gerechtfertigt; vergleichbar für selbst handelnde Flüsse wäre das Adynaton Prop. 2,15,33 flumina … ad caput incipient reuocare liquores. Für das Austrocknen der Flüsse als Zeichen des Weltuntergangs z. B. Anth. 232 R. = 224 Sh.-B.,3 flumina deficiunt. Ein ausgetrockneter Simois läßt sich jedoch, soweit ich sehe, als Zeichen des Untergangs Trojas nicht belegen. crystallina Dracontius scheint als einziger mit diesem Adjektiv Wasser näher zu charakterisieren; in der Bedeutung dilucidus (ThLL IV 1262,15) als herber Kontrast zur Röte des Flusses. 75f. Das helle Wasser des Xanthus verfärbt sich rot, was auf die Toten des Krieges vorausweist, von denen einige in den Fluß geworfen werden (z. B. Il. 21,124. 136). Das Bild, daß die trojanischen Flüsse das Blut der Toten führen, findet sich Culex 306f. Teucria cum magno manaret sanguine tellus / et Simois Xanthique liquor, Sen. Ag. 213f. non Xanthus armis corpora immixta aggerens / fluctusque Simois caede purpureos agens, Sil. 13,72f. quicquid ad … Xanthum Simoentaque nobis / sanguine sudatum (seit Verg. Aen. 1,100f. sind die Toten im Fluß zu belegen). Dracontius variiert, indem er mit der Vorstellung des roten Wassers nur das Ergebnis des Vorgangs präsentiert.

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76 unda rubet Für die Junktur vgl. Tib. 2,2,16 (von der Morgenröte gefärbt), Ov. met. 11,375 (von Blut). pastore propinquo Nominaler Ablativus absolutus; mit propinquus z. B. auch Stat. Theb. 7,630 Marte propinquo, 12,282 hoste propinquo, Iuv. 8,72 Nerone propinquo. Inhaltlich bezieht sich der Ablativus absolutus mit seiner Bedeutung ‘bei der Ankunft des Hirten’ auf sämtliche im folgenden aufgeführte Omina (HAYS 1997, WOLFF 2015 [a], 362). 76f. sudat … / palladium Gemeint ist das berühmte Palladium Trojas, eine Götterstatue, von der das Schicksal der Stadt abhing (GEORG LIPPOLD: Palladion, RE 18, 3, 171–201, besonders 172f.) und das in der ‘Ilias’ nicht mit dem Standbild der Athene gleichgesetzt wurde, wobei später die Gleichsetzung mit der Vermischung der Göttinnen Pallas und Athene einherging. Reaktionen von Statuen auf bestimmte, meist schreckliche Ereignisse sind typisch in der antiken Divination, vgl. z. B. Cic. div. 1,74 Herculis … simulacrum multo sudore manauit, Verg. georg. 1,480 aera … sudant, Liv. 23,31,15, Cass. Dio 40,17,1 (s. auch PEASE 1920, 275f., 383f., BÖMER 1958, 144f., BLOCH 1963, 23f.). Für ein schwitzendes Palladium muß Verg. Aen. 2,173f. salsusque per artus / sudor iit (s. auch HORSFALL 2008, 167) als Vorbild gelten, wo die Griechen das Bild in ihr Lager gebracht haben; das Bild reagiert auf diese Tat schwitzend. 77 uel In der spätlateinischen Verwendung für et (H-S 502), nach WOLFF 1996, 86 zur Vermeidung einer Elision. sponte cadunt simulacra Mineruae Auch wenn Ov. Ib. 617 simulacra Mineruae für das Palladium verwendet wird (ELLIS 1881, 165f.), ist anzunehmen, daß an dieser Stelle durch das direkte Nebeneinander der Worte voneinander verschiedene Götterbilder gemeint sind. Die Erwähnung eines Standbildes der Minerva, die nach dem Parisurteil eine besondere Feindin des trojanischen Jünglings darstellt, liegt nahe. Außerdem ist sie auch die Göttin, der die Familie des Priamus in der folgenden Szene opfern wird (82). Das Umfallen einer Statue als göttliches Zeichen oder auf göttliches Wirken hin findet sich beispielsweise Cic. carm. frg. 6,49f. BLÄNSDORF species ex aere uetus uenerataque Nattae / concidit, Plin. nat. 7,152, Suet. Nero 46,2, Galba. 1,1, Cass. Dio 37,9,1. 40,17,1. 50,15,2, Gell. 4,5,1 (vgl. PEASE 1920, 113). Sponte betont wie intactus (72) den Prodigiencharakter, bei dem Dinge ohne sichtbare Einwirkung von außen geschehen. Die Junktur sponte cadere auch 358, Lucan. 4,642 (Versanfang); 9,1038, Claud. rapt. Pros. 3,127 (Versanfang), Ps. Prosp. carm. de prov. 199.

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78–212 Paris in Troja 78–118 Anagnorisisszene Anders als in der verbreitetsten Mythenvariante, wo Paris als Sieger seiner eigenen Leichenspiele hervorgeht und sich daraus eine Anagnorisis entwickelt,114 ist es hier eine Opferszene, in der das Zusammentreffen stattfindet. Gleich bleibt die Einführung einer religiös-feierlichen Veranstaltung, aber Sinn, Anlage und Wirkung sind völlig verändert. 78–88 Beschreibung der Opferszene Paris’ Ankunft in Troja zeichnet Dracontius nach der Ankunft des Aeneas bei Euander im 8. Buch der ‘Aeneis’.115 Den Leser macht er durch eine deutliche Reminiszenz an diese Vergilstelle auf die Bezugnahmen aufmerksam: forte dies sollemnis erat, quo Pergama rector / infelix Priamus post Herculis arma nouarat (78f.). Die Szene wird bei Vergil mit folgenden Worten eingeleitet: forte die sollemnem illo rex Arcas honorem / Amphitryoniadae magno diuisque ferebat / ante urbem in luco (Aen. 8,102–104).116 Neben diesen wörtlichen Anklängen sind weitere Entsprechungen festzustellen: Beide Feiern stehen im Zusammenhang mit Herkules. Während in Troja der Zerstörung der Stadt durch Herkules gedacht wird, feiert Euander ein Fest zu Ehren des Halbgottes, der über Cacus gesiegt hatte. Zudem ist die Grundsituation der Ankömmlinge ähnlich: Sie begegnen einer Gruppe Opfernder, beide werden freundlich empfangen, Paris von seinen Eltern sogar geradezu euphorisch. Doch ihre innere Einstellung ist jeweils grundverschieden. Dracontius stellt den egoistisch gestalteten Paris einem pius Aeneas entgegen. Aeneas ist gekennzeichnet von pietas, dem Pflichtbewußtsein, den ihm anvertrauten Menschen zu helfen, was er mit seinem Weg zu Euander auch im Begriff ist zu tun. Er erbittet von diesem waffenfähige Männer, um den Kampf gegen Turnus siegreich bestehen zu können und ihm und seinen Begleitern einen neuen Heimatort zu verschaffen. Das „Vorhaben“ des Paris steht dem diametral entgegen. Er kommt nach Troja und seinetwegen wird seiner Familie die Heimat und der Wohnort, ja sogar das Leben genommen.117 Paris kann, weil er seine Abstammung und seine Vergangenheit kennt, als Gegenbild des Aeneas gezeichnet werden, so als komme er mit der festen Absicht, Unglück über sich und seine Familie zu bringen. 114 Vgl. JAVIER 2001, 24f. Eine Trauerfeier läßt Dracontius am Ende des Gedichts vor der Heimkehr des Paris stattfinden. 115 Die wiederum ist nach Od. 3,4ff. gestaltet (s. GEORG NICOLAUS KNAUER: Die Aeneis und Homer: Studien zur poetischen Technik Vergils mit Listen der Homerzitate in der Aeneis, Göttingen 1964, 247ff.; SCHMIT-NEUERBURG 1999, 282ff.; DAVID M. J. POLLIO: Aeneas the diplomat, NEJC 33, 2006, 187–198). 116 S. GRANSDEN 1976, 96 z. St., der die Bedeutung des ‘einfach Passierens’ der Stelle für die Struktur des achten Buches betont. 117 Vielleicht ist einzuwenden, daß auch Pallas, Sohn des Euander, dem Aeneas als schutzbefohlen anvertraut, schließlich im 10. Buch der ‘Aeneis’ während des Krieges den Tod findet, also auch Aeneas in gewisser Weise schuldig wird. Doch dies ist nicht auf Egoismus zurückzuführen und wird schließlich am Ende des Werkes gerächt.

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Die Gruppe, auf die Paris bei Dracontius trifft, bildet in diesem Moment eine pompa, eine Opferprozession. Es fällt auf, daß sie zweigeteilt ist, gruppiert in Männer und Frauen, wobei Priamus und Hekabe höchstens an zweiter Position gehen. Beide Teilgruppen werden je von einem der Zwillingspriester Helenus und Kassandra angeführt. Der Männergruppe kommt eine größere Bedeutung zu: Priamus, der Initiator dieser Veranstaltung, als infelix charakterisiert, wird mit dem größten Teil an Zusatzinformation beschrieben (79–82). Auch die drei namentlich genannten Söhne Hektor, Troilos und Polites erhalten durch die Nähe zum Vater und durch die Nennung ihrer Namen einen besonderen Akzent. Auf der Seite der Frauen hingegen wird nicht einmal Hekabes Name erwähnt. Helenus und Kassandra wiederum sind als Priester von Bedeutung, was ihre gemeinsame explizite Nennung (88) deutlich macht. Die genaue Aufstellung des Zuges geht aus dem Text nicht recht hervor. So spricht 86 reginam … natarum turba coronat dafür, daß Hekabe irgendwo in der Mitte der Frauen geht, 88 Cassandrae mater adhaeret hingegen eher dafür, daß sie direkt hinter Kassandra läuft. Vielleicht ist aber auch das Vorausgehen von Helenus und Kassandra zu wenig am Text festzumachen. In welcher Reihenfolge eine pompa normalerweise aufgestellt wurde, läßt sich nicht mehr genau eruieren. Daß bestimmte Plätze (der erste, der mittlere) besondere Bedeutungen besaßen, ist wahrscheinlich (FRANZ BÖMER: Pompa, RE 21, 2, 1878–1993, hier 1908f.). Betrachtet man die Stelle insgesamt, wirkt die Prozession zwar feierlich und erhaben, aber auch schicksalbelastet und sinnlos. Priamus ist infelix, die Götter ingrati,118 es ist der Tag der Wiedererrichtung der Stadt, ein Datum, das mit einer gewissen Freude, aber auch mit Nachdenken erfüllt sein kann. Die Prozessionsgestaltung ist auf die Kinderschar ausgerichtet, die in ihrer überbordenden Menge die Atmosphäre bestimmt.119 78 forte dies sollemnis erat Vgl. Verg. Aen. 8,102 forte die sollemnem illo rex Arcas honorem (s. die Einleitung zum Abschnitt, S. 188). Zur Bedeutung des Zufalls im Gedicht s. die Einleitung 2.1.3. 79 infelix Priamus Das Adjektiv infelix läßt sich gut prädikativ auffassen sein, weil es auf die Sinnlosigkeit der Wiedererrichtung Trojas vorausweist, wo es doch in 118 Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Figur des Agamemnon zu Beginn des dracontianischen ‘Orestes’: Der Herrscher kommt mit Reichtümern beladen zurück und spricht sie zu großen Teilen den gütigen Göttern zu, die zum Sieg geholfen haben. Dadurch daß auch Jupiter und Minerva als ihm günstige Götter genannt werden und er als Sieger über Troja erscheint (25– 29), wirkt der König wie ein Gegenbild zu Priamus in dessen (Lebens-)Situation der Opferung: diuitias Asiae rex censens corde silenti / maxima fulmineo dictabat dona Tonanti, / optima Iunoni scribebat munera magnae, / apta Mineruali dona addicebat Athenae / omnibus et superis, Danais quicumque fauebant (30–34). 119 Vielleicht läßt sich 86 vor dem Hintergrund der Vorbildstelle Claud. rapt. Pros. 1,108, wo der Unterweltsgott den Gott des Olymp um seine Kinderschar beneidet, die diesen felix macht, die familiäre Prozession mit den unvorstellbar vielen Kindern als kleiner Trost der Eltern interpretieren, auch wenn Priamus noch immer infelix bleibt.

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näherer Zukunft erneut und ganz zerstört wird, also im Sinne eines proleptischen Autorkommentars. Freilich ließe sich auch eine attributive Auffassung vertreten, die das ganze Schicksal des Priamus zusammenfaßt (s. WILLIAMS 1962, 64, der betont, daß infelix seit Aen. 2 ein stehendes Beiwort für Priamus sei). Der Versanfang auch Verg. Aen. 3,50 (Priamus übergibt Polydoros mitsamt einer Menge an Gold dem thrakischen König). post Herculis arma Hinter dieser kurzen Anspielung (präpositionaler Ausdruck statt eines temporalen Nebensatzes, schon 66, s. auch dort) verbirgt sich die Geschichte der ersten Zerstörung Trojas durch Herkules: Er hatte seinen Lohn für die Rettung der Hesione nicht erhalten und rächt sich, indem er die Stadt zu Grunde richtet. Die Rettung der Hesione war nötig geworden, weil Laomedon die Götter Apoll und Neptun für ihre Hilfe am Bau der Mauern Trojas nicht bezahlt hatte; die schickten daraufhin die Pest und ein Meeresungeheuer, das die Schwester des Priamus raubte, vgl. Serv. Aen. 1,619; 8,157. Arma wie Verg. Aen. 1,1 arma ‘Krieg, Waffentaten’. nouarat In der Bedeutung ‘wiedererrichten, restaurieren’ (OLD s. v. 1196, 5a). Die Form nur noch Stat. Theb. 11,400. 80 annua persoluens … munera Für das in der Junktur munera soluere gewöhnliche Simplex (Ov. met. 11,104. 135 [in anderer Bedeutung], Stat. silv. 5,3,33, Auson. 10,8,17 GREEN) ist das Kompositum gesetzt (sonst nur noch Avien. Arat. 885f. [sc. Centaurus] dextram protendere uisus ad Aram / … persoluit munera). Annua munera findet sich noch Auson. 10 praef. 6 GREEN. ingratis … diuis Die Götter sind mißgünstig, weil sie trotz der stetigen Opfer und Gebete nicht dafür sorgen, daß Troja verschont bleibt (WOLFF 1996, z. St.). Ingratus als Attribut für eine Gottheit ist seit Ov. met. 9,701 belegt (ThLL VII 1,1559,29ff.). Hier könnte es sowohl kausal (weil sie auch der nächsten Generation noch ungnädig gegenüberstehen) als auch konzessiv (obwohl die Götter das Opfer nicht annehmen) konnotiert sein. 81 Laomedontiades Für Priamus (vgl. Verg. Aen. 8,158. 162, also in der EuanderSzene!). Die Form begegnet auch für die Trojaner überhaupt als Nachkommen des Laomedon seit Verg. Aen. 3,248, vgl. auch Romul. 9,224. capitolia celsa petebat Capitolia bezeichnet übertragen die Burg von Troja (WOLFF 1996, z. St.; ThLL Onomast. 2,165,20ff.), wohl auch einen dort befindlichen Jupitertempel, bei dem Opfer und Gebete verrichtet werden (Il. 22,172) und einen Minervatempel. Es klingt Verg. Aen. 8,653 capitolia celsa tenebat an. Zu petere in der Bedeutung ‘aufsuchen’ s. ThLL X 1,1953,34ff. 82 Die beiden Vershälften sind ganz parallel gebaut: Eine von petebat abhängige, final aufzufassende Verbform, ein Akkusativobjekt, woran sich eine Gottheit im Dativ anschließt. reddere uota Ioui Vota in der Bedeutung ‘Gebet’ (OLD s. v. 2101, 2; ‘Gelübde, Versprechen’ mögen auch mitschwingen, gerade hier bei den Gottheiten, die günstig gestimmt werden sollen). Für die Formulierung, die ganz üblich ist, vgl. Catull.

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36,16 acceptum face redditumque uotum, Verg. ecl. 5,74f. sollemnia uota / reddemus Nymphis, Ov. am. 1,7,36 uota … redde Ioui, rem. 813 postmodo reddetis sacro pia uota poetae. Parallel ist 437 reddere uota deae (finaler Infinitiv von ueniunt abhängig) in unserem Gedicht. reddere … laturus Der Infinitiv reddere ist nach einem Ausdruck der Bewegung (capitolia petebat) final zu verstehen (seit Plautus in der Dichtung, seit Livius gelegentlich auch in der Prosa, s. K-S I 680); parallel, mit reddere auf gleicher Ebene abhängig von petebat und ebenso final aufzufassen, ist das Partizip laturus konstruiert (diese Konstruktion beispielsweise auch Romul. 2,123f.). uota … sacra Gewiß wird beides beiden Göttern gespendet und ist nur zur Versgestaltung getrennt durch die Zuweisung genau eines Akkusativobjekts zu jeder Vershälfte (für die notwendige Verbindung vom Gebet und Opfer s. LUDWIG ZIEHEN: Opfer, RE 18, 1, 579–627, hier 604–609). Mineruae Auch wenn Priamus von der Verärgerung der Minerva (38) noch nichts wissen kann, wirkt es für den Leser auffällig, daß er gerade dieser dea ingrata (80) Opfer zur Besänftigung darbringt. 83 ad dextram genitoris Vgl. für den Versanfang Paul. Petric. Mart. 3,79f. ad dextram regis … / consedit senior, laud. dei 2,560 ad dextram laeuamque iubens astare cateruas. fortissimus Hector Der Versschluß Ov. ars 2,709 (dort ambivalent mit zusätzlicher sexueller Konnotation, JANKA 1997, 490), Homer. 486. 820, vgl. auch Romul. 8,92 fortior Hector. 83f. Hector, / Troilus … Polite Die gleiche Konstellation findet sich auch 624−631. Die drei sind traditionell eng miteinander verbunden und werden so auch gemeinsam auf der sogenannten François-Vase des Kleitias (vgl. ANNELIESE KOSSATZ-DEISSMANN: Polites I, LIMC 7, 1, 424) dargestellt, die daher als Quelle für die Zusammenstellung in Frage kommen kann (MORELLI 1912, 97f.; zurückgewiesen von BRIGHT 1987, 267, Anm. 59), ebenso wie andere bereits verlorene Quellen (BRIGHT 1987, 267, Anm. 59, SIMONS 2005, 260; beides hält STOEHR-MONJOU 2014, 99, Anm. 100 für möglich). In keiner anderen lateinischen Dichtung findet sich Troilos so oft wie hier in unserem Gedicht (noch 94. 129. 155. 625. 631). Er ist zwar auf der Handlungsebene nur eine Randfigur, wird aber durch seine Präsenz besonders akzentuiert (s. dazu auch zu 619b–637). 84 pauido comitante Polite Durch das überlieferte Epitheton pauidus (singulär auf Polites, der immer am Hexameterschluß steht), später (631–637) durch den Vergleich des Polites mit einem Schatten (hier, mit comitante ausgedrückt, klebt er wie dort [631. 637] an den Fersen des Troilos), wird dieser Sohn des Priamus, der nach Verg. Aen. 2,526–558 vor den Augen des Priamus von Neoptolemos getötet worden ist (bei Dracontius Romul. 5,156 erwähnt), als nicht sonderlich mutig und kriegstüchtig dargestellt. Dies sind Eigenschaften, die ihm traditionell nicht zugeschrieben werden (so erhält er Ov. met. 14,251 das Attribut fidus, bei Stat. Theb.

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8,491 flauus und Homer. 235 fortis, s. zu Polites im Einzelnen HANS HERTER: Polites, RE 21, 2, 1397–1399). Außerdem ist er in der ‘Ilias’ ein schnellfüßiger Späher, bringt den verletzten Deiphobos aus der Schlacht (13,533ff.) und tötet einen Achäer (15,339f.). Die einzige Stelle, die auf eine leicht negative Zeichnung des Polites hindeuten könnte, ist die Scheltrede des Priamus (Il. 24,253–264), in der Polites (Il. 24,250) neben anderen Söhnen des trojanischen Königs für seine Trägheit beschimpft wird und den übrigen viel tapfereren Brüdern entgegengestellt wird. Doch kann dies, da es die einzige Stelle dieser Art ist, als Rede im Affekt bewertet werden, deren Inhalt nicht immer die Realität widerspiegelt (ANTON BIERL / JOACHIM LATACZ [Hrsgg.]: Homers Ilias. Gesamtkommentar, Band VIII. 24. Gesang, Faszikel 2: Kommentar von CLAUDE BRÜGGER, Berlin / New York 2009, 100). Man kann daher fragen, aus welchem Grund Dracontius so von der Tradition abweichen sollte.120 Vielleicht hat sich der Dichter eine Figur gestalten wollen, die die zu Recht vorhandene Angst vor Paris figuriert; er tritt denn auch nur jeweils vor den beiden Ankunftsszenen des Paris in Troja auf. Durch das hinzugesetzte pauidus wird Polites an dieser Stelle (und auch 631–637) zum Gegenbild des fortissimus Hector. Mit Troilos in der Mitte ist die ganze Spannbreite von tapferem Krieger zum furchtsamen Mitläufer ausgelotet. Daß gerade Polites für eine solche Rolle gewählt wurde, mag seine Erklärung darin finden, daß er namentlich bekannt ist und eine gewisse, aber keine äußerst bedeutende Rolle in den Ereignissen um den trojanischen Krieg besitzt. Bei einer Variation einer solchen Person verliert man kaum etwas (so wird etwa auch 626f. Troilos mit einer Art Sehergabe ausgestattet, die er traditionell nicht besitzt). In diese Richtung geht auch GRILLONE 2006, 102, wenn er einen heute verlorenen Traditionsstrang annimmt, der Polites in der Nähe von Vorzeichen und Zukunftsdeutung gestellt haben könnte, wozu sowohl pauidus als auch das Schattengleichnis paßte. LAVINIA GALLI MILIĆ 2016, 200f. konjiziert zur Heilung der Stelle impauido, was jedoch eine bei Dracontius sonst unbelegbare Elision an der Hauptzäsur mit sich brächte (WOLFF 2015 [a], 362). Als Alternative hatte GRILLONE 2006, 101f. die aktive Bedeutung von pauidus angesetzt, nämlich ‘furchterregend’, was sich aber für einen Menschen nicht belegen läßt (ThLL X 816,20–27, s. WOLFF 2015 [a], 362). Die trotz allem unbefriedigenden Deutungsmöglichkeiten der Überlieferung sowie die nicht völlig überzeugenden Konjekturen haben ZWIERLEIN BT 2017, sowie 2017, 106f. dazu bewogen, pariter zu konjizieren, das alle Probleme der Tradition und der Charakterisierung löst; zudem fügt es sich ganz hervorragend zum späteren Schattengleichnis, wenn hier schon auf diese Eigenschaft des Polites verwiesen würde, daß er seinen Brüdern beständig folgt. Vielleicht wiegt dennoch der in den Attributen durchgeführte Gegensatz zwischen dem überaus tapferen Hektor 120 MORELLI 1912, 99 vermutet eine schlechte Interpretation von Verg. Aen. 2,526ff.; doch ist dies kaum vorstellbar, wenn man bedenkt, wie Dracontius mit seinen Vorgängern spielt und umgeht, wie er sie neu- und umdeutet. Daß er Dinge völlig falsch verstehen sollte, ist nicht nachvollziehbar.

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und dem pauidus Polites etwas schwerer, so daß der Überlieferung für den gedruckten Text der Vorzug gegeben wird.121 85f. Die Zahlangaben der Söhne und Töchter von Priamus und Hekabe schwanken in den verschiedenen Quellen (Il. 6,243ff. 24,495ff., Verg. Aen. 2,501ff., Homer. 1022, Gratt. 288). Einig sind sich aber alle darin, daß es eine unvorstellbar große Menge gewesen sein muß, die vielleicht als Symbol für Wohlstand und Glück zu lesen ist (BÄR 2009, 289f.). Damit stünde sie dem auf Priamus bezogenen Attribut infelix diametral entgegen. 85 cetera natorum turba stipata subibat Cetera ist auf turba zu beziehen (auch WOLFF 1996, 16 in der Übersetzung) und meint alle nicht namentlich genannten Söhne (dagegen wollen es SCHENKL und VON DUHN adverbiell verstehen, s. dagegen schon SCHMIDT 1874, 203). Für die Junktur turba stipata vgl. Ov. met. 3,186, Lucan. 4,208, wobei an beiden Stellen turba Ablativ ist (ähnlich Heptateuchdichter Ios. 387). Für RIBBECKs 1873, 461 und BAEHRENS’ Konjektur stipata statt des überlieferten stipatus spricht die Parallelität zur folgenden turba, die sich um Hekabe schart: (quem) natorum turba subibat steht (quam) natarum turba coronat gegenüber (so überzeugend BRUGNOLI 1998, 200). Subibat ist hier intransitiv in der Bedeutung ‘folgen’ verwendet (vgl. OLD s. v. 1838, 8a; Stat. Theb. 10,297f. sua quemque cruento / limite turba subit); transitiv wird es 481 gebraucht. 86 reginam interea natarum turba coronat Der Vers ist von dem Vokal ‘a’ bestimmt. Interea drückt den zeitlich übereinstimmenden und von der ersten Handlung abhängigen Eintritt der zweiten Handlung aus. Natarum turba spielt mit natorum turba. Coronat ist in der übertragenen Bedeutung circumdare, cingere verwendet (ThLL IV 992,11. 50ff. von Personen). Der Vers ist eine Reminiszenz an Claud. rapt. Pros. 1,108 te felix natorum turba coronat. Möglich ist die übertragene Verwendung von coronare hier wie dort, weil es sich bei den umgebenen Personen um Angehörige einer herrschaftlichen Familie handelt (s. auch S. 204, Anm. 119). 87 nuribus comitata Es muß hier eine passive Verwendung des Partizips angenommen werden, die besonders im Spätlatein begegnet (H-S 139); ebenso auch Orest. 694 und ausus Romul. 2,15 (unter bestimmten Bedingungen auch blandita 69). Daß ein Subjektswechsel stattfindet und nun Hekabe Subjekt des Satzes ist, geht aus dem Zusammenhang hervor. Die Schar der Töchter, die mit Hekabe gehen, wird hier um die Schwiegertöchter ergänzt. Da die Ehefrauen zu ihren Männern ziehen, befinden sich in Troja zwar die Schwiegertöchter des Herrscherpaares, nicht aber die Schwiegersöhne. pia uota Seit Prop. 3,3,10 recht beliebte Junktur, bei Dracontius laud. dei 1,11; 2,619. 752. Nach Priamus wird so auch Hekabe als fromme Person gekennzeichnet. 121 Betonte Gegensätze zwischen Figuren begegnen sehr häufig, vgl. z. B. 488f. pastor und regina, 603ff. besonders ausgeführt zwischen Hektor und Paris, 227f. zwischen Hesione und Priamus.

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ministrans Das Partizip ist parallel zu reddere und laturus final-futurisch zu verstehen (zu dieser Funktion des PPA, die nur aus dem Zusammenhang zu ersehen ist, s. H-S 387, so auch WESTHOFF 1883, 10), in der Bedeutung ‘darbieten’ (ThLL VIII 1017, 40). Das Subjekt des Satzes und des Partizips ist am ehesten Hekabe (wofür besonders die in nuribus comitata ausgedrückte Vorstellung spricht); so auch ThLL VIII 1017, 40 und WOLFF 1996, z. St. 88 rex Helenum sequitur Die beiden Priestergeschwister Helenus und Kassandra führen den Zug an – er die Männer, sie die Frauen. Cassandrae mater adhaeret Adhaerere steht in der übertragenen Bedeutung ‘zusammen sein, mit jemandem verbunden sein’ (ThLL I 635,78). Vgl. für das Simplex haerere mit Bezug auf die Begleitung einer Person auch Romul. 2,95 cui iunctus Hylas pulcherrimus haeret. Cassandrae mater ist chiastisch zu rex Helenum gestellt. Es steht mater statt regina als Äquivalent zu rex. 89–103 Rede des Paris Paris platzt (prorumpit in agmen) in die Opferhandlung, ohne Rücksicht auf die Heiligkeit einer solchen Feier zu nehmen. Er scheint mit dem Selbstbewußtsein zu kommen, alle hätten nur auf ihn gewartet. Die 12 Verse umfassende Rede des Paris ist voll von Begriffen des Wortfelds ‘Familie und Verwandtschaft’ (mit einem besonderen Fokus auf frater, das als Polyptoton in 92. 94. 102 und 95 als germanus variiert auftritt), womit das Hauptziel der Rede deutlich ausgedrückt ist: Paris will wieder in die Königsfamilie aufgenommen werden, die er, wohl aus den Informationen der Amme (68ff.), sehr genau kennt, so daß er die Brüder Troilos und Hektor namentlich anspricht. Für seine Wiederaufnahme führt er insgesamt drei Gründe ins Feld: Zunächst behauptet er (zu Recht), Bruder der tapferen Söhne des Priamus und Sohn des Königspaares zu sein (92–96a). Dann sei er zu Unrecht als kleiner Junge auf dem Idagebirge ausgesetzt worden (96bf.). Schließlich habe er, obwohl nur ein Hirte, doch ein Urteil über Götter fällen dürfen (98f.). Zum Schluß wird die Anrede an die Brüder wiederholt, diesmal ohne correctio (102). Die Erkennungsmerkmale weisen Paris eindeutig als Bruder aus, mit einem Vokativ fratres endet die Rede, die eine deutliche Dreigliederung aufweist: 91–96 Begrüßung und Aufruf, den Verwandten zu erkennen 97–99 Paris als Hirtenjunge auf dem Ida und das Urteil über die Göttinnen 100–102 Erneuter Aufruf, ihn zu erkennen, Beweis der Verwandtschaft Mit dem Vorweisen der crepundia ist das Ende der Rede und der Höhepunkt der Überzeugungsarbeit erreicht. Es gibt keine Möglichkeit mehr für die Eltern, von einer Wiederaufnahme des Sohnes abzusehen. Höhepunkt der Rede selbst allerdings sind die beiden mittleren Verse 96f. Paris schafft den entscheidenden Übergang zu einer zunächst fremden Gruppe, indem er zuerst das Oberhaupt Priamus mit sis felix, princeps, ganz wie einen fremden König, anspricht, seinen Brüdern hingegen, denen er gleichrangig ist, wagt, mit saluete sodales / aut fratres entgegen-

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zutreten. Auf der Ebene der Söhne sieht er die Stelle, an der er in die Familie dringen kann. Erst nachdem er etwa drei Verse seine Brüder angeredet hat, steigt er eine Stufe höher und präsentiert sich – allerdings in der Anrede noch immer an die Brüder – seinen Eltern als Sohn, verbunden mit einem indirekten Vorwurf, von ihnen ausgesetzt worden zu sein, ohne daß er etwas Falsches getan hat. An dieser Stelle erfolgt der Wechsel von der ersten zur dritten Person, der Blick zurück auf die Erziehung zum Hirten auf dem Ida. Dies muß die Eltern emotional erreichen. Freilich wird die Problematik des armen Hirten relativiert, indem Paris seine Erfolge bei den Göttern darstellt, doch ergibt sich die mitleidheischende Mitte der Rede als gestalterischer Höhepunkt der Überzeugung der Eltern. Die im folgenden kurz angerissene Auseinandersetzung der Götter, die Paris unterdrückt habe, wirkt in seiner Schilderung wie eine viel ernstere als nur ein Schönheitswettstreit.122 Schon das Wort comprimere drückt Heftigeres aus, als es eine Entscheidung zwischen schönen Damen sein müßte. Dazu wirken die harten Konsonanten (99) kriegerisch und Paris sagt iurgia diuum statt dearum, was ebenfalls nicht ganz der Wahrheit entspricht. 89 dum pergunt et templa petunt Die beiden Einzelgruppen werden für den letzten Teil des Weges zusammengefaßt. Der Versanfang dum pergunt nur noch Iuvenc. 4,218 (von den törichten Jungfrauen). Templa petere ist eine beliebte Junktur seit Cic. carm. frg. 6,37 BLÄNSDORF, hier noch 515, sonst Romul. 10,183. Der Plural anstelle des Singulars bei templum ist beliebt (hier noch 143. 481, Romul. 10,64. 152. 183. u. ö., s. BLOMGREN 1966, 59). 89f. prorumpit in agmen / pastor et attonitos Das fast kriegerisch-bedrohliche Eintreffen des Paris wird durch die Worte prorumpere und attonitos illustriert. Daß der Hirte in der Darstellung des Dracontius in keiner freundlichen Absicht kommt, macht der Dichter damit in seiner Wortwahl deutlich (attonitos kann entweder als Ergebnis des prorumpit in agmen oder auch resultativ zu elata uoce salutat gelesen werden). In Weiterführung der Parallelisierung von der Ankunft des Aeneas bei Euander in Aen. 8 kann auch dieser Satzteil als Anspielung verstanden werden. Er nimmt Verg. Aen. 8,110f. audax quos rumpere Pallas / sacra uetat auf und stellt den mutigen Pallas, der den Ankömmlingen verbietet, die Opferfeier zu stören, gegen Priamus und seine Familie, die statt audax das Epitheton attoniti erhalten. Außerdem entsprechen einander prorumpit in agmen und quos rumpere sacra. Agmen ist hier synonym zu pompa gebraucht (wie Sen. Oed. 128, Iuv. 10,280f.). 90 elata uoce salutat Die Bedeutung von elatus kann in drei Richtungen gehen. Es kann zum einen ein t.t. der Rhetorik sein im Sinne von ὕψελος (ThLL V 2,152,3f.), was sich hier konkret auf die folgende Rede des Paris beziehen müßte, deren erhabene Sprache in klarem Gegensatz zum pastor zu Beginn des Verses stünde. Die Rede beginnt mit einem erhabenen Vers, der nur einen Daktylus enthält. Allerdings läßt sich eine besonders hohe Sprache am verwendeten Vokabular nicht recht 122 So sieht es auch SANTINI 2002, 275.

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nachweisen. Zum anderen kann elatus auch bei Menschen (ThLL V 2,151,30f.) und Sachen (151,69ff.) in der Bedeutung ‘hochmütig, arrogant’ stehen. Schließlich ließe sich mit Hil. in psalm. 118 koph 1 non hic elatae uocis sonus est auch der Ausdruck ‘laute Stimme’ belegen. Zu den folgenden Äußerungen und den Forderungen des Paris paßt am ehesten die zweite Bedeutungsvariante. Vgl. für den Versschluß Orest. 249 impia quae reducem fallaci uoce salutat (eine Versklausel aus uoce und einer Form von salutare auch Mart. 14,76,1, Iuvenc. 2,394. 4,517). Vox für ‘Rede’ oder ‘Worte’ auch 461. 91 sis felix … saluete Der Gruß wirkt ironisch, wenn man bedenkt, was durch die Ankunft des Paris in Gang gesetzt wird und daß dem Priamus und seinen Söhnen daraus keineswegs etwas wie felicitas entsteht. Die Junktur sis felix wird in der lateinischen Literatur seit Catull. 100,8 oft als Abschiedsformel, nie als Gruß verwendet. princeps Dies ist die einzige Stelle der lateinischen Literatur, an der Priamus als princeps bezeichnet wird. Es gehört zur geschickten Strategie des Paris, zuerst den König zu begrüßen und zwar als König und nicht schon als Vater (s. die Einleitung zum Abschnitt). Das Wort meint hier ohne aktualisierende Tendenz die unangefochtene Führungsposition des Priamus in Troja. 91f. sodales / aut fratres Paris nähert sich der Familie über die Brüder, denen er sich wohl gleichrangig sieht und die er deshalb leicht ansprechen kann. Er macht einen wirkungsvollen Umweg über die sodales und gelangt durch eine correctio zur eigentlichen Verwandtschaftsbezeichnung. So schleicht er sich Wort für Wort in das Bewußtsein seiner Familie. Aut im Sinne von aut potius (K-S II 101). 92 ut uera feram Der kleine Einschub, der untypisch für die Dichtung ist, typisch aber für die Rhetorik, zeugt von Paris’ rhetorischem Geschick (s. die Einleitung zum Abschnitt, S. 209). Vgl. für die Verbindung Verg. Aen. 2,161 si uera feram. fortior Hector Der Versschluß noch 155 und 624 (vgl. 83 fortissimus Hector). Der Komparativ macht deutlich, daß es sich bei dem Kompliment des Paris um ein nicht uneingeschränktes handelt. Hektor sei ziemlich tapfer, tapferer als Paris oder tapferer als andere, aber eben kein fortissimus Hector wie bei der Beschreibung der Prozession. Hingegen habe der Komparativ nach VOLLMER MGH 438 und WESTHOFF 1883, 6 (s. auch H-S 168f.) kaum Bedeutung und stehe eher im Sinne eines Positivs. Die Interpretation als echter Komparativ paßt jedoch genau in die Charakterisierung des Paris. 93 culmen et urbis apex Abundanz. Die Abstrakta sind zur Beschreibung der Figur Hektors verwendet. Für weitere Beispiele für diesen Gebrauch von Abstrakta bei Dracontius s. VOLLMER MGH 437. Vgl. für die Formulierung Claud. Mam. epist. 2, p. 204, 10 Platon apex culmenque philosophiae (Arnob. nat. 1,8 Plato ille sublimis apex philosophorum et columen, Amm. 30,8,10 dignitatum apices maximi imperatores), besonders aber Sen. Tro. 124f. columen patriae, mora fatorum / tu (sc. Hector) paesidium Phrygibus fessis und Homer. 529 patriae columen … Hector, was wohl recht sicher auf Dracontius gewirkt haben dürfte (SCAFFAI 21997,

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317) in Kombination mit Formulierungen wie columen Vrbis (Epigr. Bob. 57,2), wie BRUGNOLI 2001, 74f. postuliert.123 Culmen begegnet metonymisch für Personen seit Epiced. Drusi 347, Stat. Theb. 5,325, dann erst wieder Iuvenc. 1,233 (ThLL IV 1294,74ff.), apex scheint noch seltener von Personen gesagt zu werden, der ThLL bietet dafür keine Kategorie. Vrbis ist ἀπὸ κοινοῦ auf culmen und apex zu beziehen. Diese Charakterisierung Hektors deckt sich mit dem Bild, das schon in der Ilias greifbar ist: Er ist der Anführer der Trojaner (Il. 2,816), Befehlshaber über das Heer, aber auch das politische Oberhaupt. So beruft er die Versammlung der Trojaner ein und läßt sie gehen, obwohl der Vater Priamus anwesend ist (Il. 2,788–808). 93f. uiribus indolis almae / Troile Die problematische Stelle, die im Laufe der verschiedenen Editionen zu vielen Konjekturen Anlaß gegeben hat, läßt sich am besten mit Blick auf den Vokativ fortior Hector (92) lösen. Wie oben gezeigt, nimmt der Komparativ fortior eine Einschränkung des Kompliments vor. Ähnlich verhält es sich hier, wenn man folgende Konstruktion annimmt: indolis almae ist zu Troile als Genitivus qualitatis gestellt, der wiederum durch einen Ablativus limitationis uiribus modifiziert wird: Troilos, von sanfter / segenspendender Anlage, gemessen an deinen Kräften. In Gegenüberstellung zu Hektor wird Troilos so als der sanftere qualifiziert, was aber durch den Zusatz ‘im Hinblick auf deine Kräfte’ leicht despektierlich wirkt. So ergibt sich eine klare Parallelisierung zur Anrede an Hektor: Mit dem Adjektiv fortior und dem Genitivus qualitatis ist jeweils eine Qualifizierung geschaffen, durch den Komparativ und durch den Ablativus limitationis uiribus wird jeweils eine Einschränkung des Kompliments vorgenommen. BAEHRENS korrigiert das überlieferte almę zu alme und stellt damit einen grammatisch sehr gut verständlichen Text her. Der sonst übliche Gebrauch des Wortes almus, das gewöhnlich nicht auf normale Menschen bezogen wird (ThLL I 1703,24ff.), läßt sich bei Dracontius durchaus belegen (auf Hylas Romul. 2,133; 7,159 auf nepotes). Unschön wirkt der durch das Enjambement abgetrennte Vokativ, ließe man alme im Text. Zudem läßt sich ein Vokativ alme am Versende vor Dracontius nicht belegen, der Genitiv almae hingegen neunmal. Vgl. für die Verbindung von uires und indoles Claud. 7,43 cruda teneras exercuit indole uires (ZWIERLEIN BT z. St.). Troile (als nach dem Enjambement zusätzlich herausgehoben) ist, wie an allen übrigen Stellen, dreisilbig zu lesen (PERIN s.v. Troilos II 726; PAPE / BENSELER, s. v. Troilos, 1560), ‘fr’ kann wie muta cum liquida behandelt werden (dagegen WOLFF 1996, z. St., der eine Längung des ‘e’ durch die folgenden Konsonanten annimmt).

123 Er bemerkt zudem, daß die Verbindung orbis apex besonders in der Zeit des Dracontius im spanisch-afrikanischen Raum verbreitet gewesen sei, und führt folgende Stellen an: Claud. 27,23 en princeps, en orbis apex aequatus Olympo, Prud. ham. 32f. fons unicus, orbis / naturalis apex (gewöhnlich wird hinter orbis interpungiert), Coripp. Ioh. 1,100f. maximus orbis / imperialis apex.

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94 frater ego, fratrem cognoscite uestrum Vorbild für die Versstruktur ist Ov. met. 3,230 (BOUQUET 1995, 14; 15f.): Actaeon ego sum, dominum cognoscite uestrum (diese Parallelität kann auch als Argument gegen eine Konjektur an dieser Stelle, die SCHMIDT 1874, 203 vornimmt, wenn er io fratrem cognoscite uestrum schreibt, angeführt werden). Die Versklausel ist gleich; außerdem haben beide Verse die Penthemimeres als Zäsur, die jeweils fratrem oder dominum betonen und damit die Situation der jeweiligen Sprecher herausstellen: Paris möchte wieder als Königssohn und Prinzenbruder in die Familie aufgenommen werden; der in einen Hirsch verwandelte Actaeon kämpft vor der wütenden Hundemeute, deren Herr er eigentlich ist, um sein Leben. Die jeweils ersten Worte der Verse haben verschiedene Funktionen: Troile führt den vorhergehenden Vers weiter, während der Nominativ Actaeon den Namen des Helden nennt. Neben der Versstruktur können auch die Situationen der beiden Protagonisten zueinander in Beziehung gesetzt werden, wenn sie einander auch diametral entgegenstehen. Das drohende Verderben erscheint als tertium comparationis: Paris ist nach Troja gekommen, will wieder in die Familie aufgenommen werden und wird sie schließlich – indirekt, als Folge des trojanischen Krieges – vollständig vernichten: Eine Einzelperson ist schuld am Untergang vieler. Die Einzelperson Actaeon hingegen wird zum Ziel der brutalen Hundemeute – eine Gruppe ist die Ursache für den Tod des Einzelnen. 95 germanus … propago Die wichtigsten Worte dieser Phase der Geschichte rahmen den Vers; Paris will als Familienmitglied aufgenommen werden und schafft hier den Übergang von seinen Brüdern zu den Eltern. Germanus ist als Substantiv (im Gegensatz zu V. 100) und synonym zu frater verwendet. Propago findet sich in der Dichtung ausschließlich am Ende des Verses; für die Bedeutung filius s. ThLL X 2,1943,2ff. Der Versschluß Priamique propago ist vielleicht von Albert von Stade, Troilos 5,59 aufgenommen worden. 96 Hecuba Dracontius mißt das ‘e’ auch 145. 620 und Romul. 9,170. 208 lang. mi genetrix Mi ist eine aus mihi nach dem Ausfall von ‘h’ kontrahierte Form, die häufig bei Plautus und Terenz, in den Tragödien des Ennius, Pacuvius und Accius zu finden ist (K-S I 579); gedanklich ist ein est zu ergänzen; lautlich vergleichbar ist für die Junktur Auson. 3,35 GREEN mi genitor (grammatisch jedoch Vokativ). Rein grammatisch könnte Hecuba, mi genetrix auch Vokativ sein, doch scheint die Weiterführung der Aufzählung in der Aussage, trotz Konstruktionswechsel, natürlicher. abdicor Zur Bedeutung ‘verstoßen’ s. ThLL I 53,83ff. Es handelt sich um einen Terminus, der in den Deklamationen Senecas und Quintilians gut belegt ist und daher mit Sicherheit über dieses Genus, das Dracontius ohnehin besonders beeinflußt hat, hier Eingang gefunden hat (SANTINI 2002, 279f.). An den beiden Stellen, an denen abdicare von Dracontius verwendet wird (neben dieser Stelle noch Romul. 9,129), mißt er das ‘i’ lang; möglicherweise hat er es schon mit abdicere verwechselt (ThLL I 53,74f.); Vertauschung von Verben der ersten und Verben der dritten Konjugationsgruppe gehört zu den Eigenheiten des spätantiken Latein.

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crimine nullo Ist als nominaler Ablativus absolutus konzessiv aufzufassen: Einigermaßen nachvollziehbar wäre es vielleicht noch, wenn die Eltern die Kinder verstoßen oder sich von ihnen lossagen, weil diese etwas Schlimmes getan haben, aber ohne einen Anlaß scheint es doch sehr hart und ungerecht (Wortwahl und Gedanke finden sich beispielsweise Quint. decl. 338,13 nec inueniri poterat ullum crimen in uita quo abdicaretur). Der Versschluß findet sich noch Lucan. 7,517 und Octavia 946 (Stat. Theb. 5,487 crimina nulla). 97 paruus Kann ganz gewöhnlich mit ‘klein’ oder prädikativ ‘als Junge’ übersetzt werden; die von WOLFF 1996, z. St. angenommene Bedeutung a pueritia ist nicht zwingend. nutritur Nutrire in der Bedeutung ‘erziehen’ (OLD s.v. 1208, 3a, vgl. auch Orest. 402). In Weiterführung des lebhaft dramatisierenden historischen Präsens abdicor aus dem vorangegangenen Vers ebenfalls im Präsens (s. auch WOLFF 1996, z. St.; dagegen konjiziert BAEHRENS nutribar, auch um den Personenwechsel zu umgehen). Der Wechsel von der ersten zur dritten Person erhöht zum einen die Dramatik, indem Paris gemeinsam mit allen anderen von außen auf die Situation von damals blickt, zum anderen grenzt er sich auch persönlich von der vergangenen Zeit mit ihrem Unrecht ab. RIBBECKs Konjektur nutritus124, die das Tempusproblem geschickt löst, soll die logische Trennung zwischen dem voraufgehenden Vers überbrücken. Vielleicht kann man jedoch in nutritur schon den Übergang zum folgenden Vers (98 nec pastor sit uile; eine allgemeine Aussage in der dritten Person) sehen. WOLFF 2015 (a), 362 verweist für die Verteidigung des Tempus zudem zu Recht auf die bis jetzt andauernde Handlung des nutriri. An gleicher Versposition findet sich nutritur noch Ov. met. 15,411 nutritur et aura (sc. animal). 98 nec pastor sit uile Der Konjunktiv nach uile (est) dürfte sich aus der vertrauten Praxis, den bloßen Konjunktiv nach unpersönlichen Ausdrücken zu setzen, erklären. Schlichter kann vielleicht auch verstanden werden: nec pastor sit uobis, Phryges, (quoddam) uile. Im Übergang von pastor nutritur 97 wird die dritte Person auch hier beibehalten. Das Motiv auch in der Rede des Apoll 206 nec pudeat, quod pauit oues. Phryges Trojaner. Die Bezeichnung ist insbesondere bei Vergil nachzuweisen, der sie oft mit einer despektierlichen Konnotation belegt (GIANGIACOMO PANESSA: Frigia, EV 2, 593f.). An unserer Stelle ist es neutral gebraucht anstelle von Troiani. 98f. iurgia diuum / compressi Singuläre Junktur (ThLL III 2161,70). Comprimere als brutaler Ausdruck für sedare. Die Worte iurgium und lis (99) sind wohl synonym zu verstehen; ein Unterschied ergibt sich durch die verschiedenen Tempora bei compressi und caret (SANTINI 2002, 274; 2006, 96f.).

124 Er gibt 1873, 461 an, er habe nutritus der Handschrift entnommen, in der allerdings zweifelsfrei nutritur steht.

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99 lite caret me iudice caelum Spielt mit dem Gedanken, daß während des trojanischen Krieges die Auseinandersetzung zwischen den Göttern tobte, also durch das Urteil des Paris der Streit erst richtig entfacht wurde, und damit das Gegenteil von dem erreicht wurde, was Paris hier behauptet. Gemeinsam mit dem Versanfang compressi wird der Vers von harten Konsonanten bestimmt. Carere läßt sich am besten mit einem positiven amittere, ‘befreit werden’, wiedergeben, was mit einer Weiterentwicklung von Stellen wie Sil. 17,210 contentus caruisse Noto wahrscheinlich zu machen ist; vgl. ThLL III 454,4ff. und SANTINI 2002, 274, Anm. 91. Die Junktur me iudice findet sich seit Hor. ars 244 immer wieder. 100 si credis Das Verständnisproblem des Ausdrucks ist lange bekannt: Wie kann man den Kondizionalsatz mit der folgenden Aufforderung cognoscite in Einklang bringen? Wenn die Sache geglaubt wird, wieso soll sie dann noch erkannt werden? BÜCHELER stellt mit Verweis auf zwei Juvenal-Stellen125 die Theorie einer bloßen Floskel auf und VOLLMER schlägt ni credis vor, läßt sich aber offensichtlich von BÜCHELERs Idee überzeugen, während SANTINI 2002, 282 die Konjektur VOLLMERs ni credis für die beste und verständlichste Lösung hält. WOLFF 1996, z. St. klärt die Sache mit der Bedeutung von uel (s. unten zu 102). Ohne Konjektur und sprachliche Verrenkungen ließe es sich am ehesten so erklären: Die Rede spielt an dieser Stelle mit dem Gegensatz von bloßem Glauben an die Erzählungen des Paris, die er noch nicht bewiesen hat, und dem sicheren Wissen aufgrund der handgreiflichen crepundia. Credis und noscite certa (103) sind einander antithetisch entgegengestellt, was möglicherweise auch die Assonanz anklingen läßt. Es ist also hier der Übergang vom Wahrscheinlichmachen zum Beweisen gestaltet: Paris will sagen ‘wenn ihr schon das glaubt, was ich eben gesagt habe, dann schaut hier die handgreiflichen Beweise, meine zuverlässigen Erkennungsmerkmale, an und ihr habt den vollständigen Beweis’. germana manus Wie fratres. Germana ist Adjektiv anstelle eines Genitivattributs, wie es bei Dracontius häufig begegnet (VOLLMER MGH 437). 100f. Der Satz nec cetera … abhorret ist noch Teil des si-Satzes, der deshalb nicht parenthetisch eingeklammert werden sollte (anders bei VOLLMER, WOLFF und ZWIERLEIN BT). Er hat damit die gleiche Funktion wie das auf die Brüder bezogene si credis, nämlich den Übergang von Glauben und Erinnern zum Wissen zu schaffen und zwar wieder in der Reihenfolge, in der schon 94–96 die Familienmitglieder angeredet und einbezogen worden sind. Die Weiterführung eines si-Satzes mit nec findet sich auch Romul. 10,457. cetera Ist adverbiell zu conscia zu beziehen (adverbielles cetera ist besonders bei Adjektiven gut zu belegen, s. MÜLLER 1908, 87f.; alternativ kann es als Akkusativobjekt zu negant konstruiert werden, was aber weniger elegant ist) und meint alle übrigen Details um die Kindesaussetzung, die Paris nicht in extenso ausgeführt hat. 125 Iuv. 10,68 si quid mihi credis und 10,246 magno si quidquam credis Homero; das bei diesen Stellen vorhandene und bei Dracontius fehlende quid bzw. quidquam unterstützt den kolloquialen Charakter der Satirenstellen im Gegensatz zu unserer Stelle.

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III Kommentar

Die Eltern waren dabei und wissen um all dies, so daß er es nicht explizit erklären muß. 101 conscia corda Alliteration und Assonanz. Conscius bildet mit negare eine wirkungsvolle Kombination. Für die Junktur s. noch Paul. Nol. carm. 19,207, Mar. Victor aleth. 1,425 und Ennod. carm. 2,88,7. pignus Begegnet bei Dracontius häufig, wie im Spätlatein üblich, in der Bedeutung ‘Sohn, Kind’ (VOLLMER MGH 389; s. ThLL X 1,2125,32ff.). Auf Paris bezogen noch 164 und 261. abhorret Der transitive Gebrauch ist erst seit Sueton Aug. 83 zu belegen, davor nur zeugmatisch mit Akkusativ (Cic. Cluent. 41); zudem besonders selten mit dem Akkusativ einer Person (ThLL I 77,59−64). 102 depositi Gedanklich zu ergänzen ist mit VOLLMER infantis / filii (eher nicht Paridis), wenn Paris weiterhin von sich in der dritten Person spricht (wie 97f.), oder mei mit WOLFF 1996, z. St. Deponere steht im Sinne von exponere (ThLL V 1,577,42), eine Bedeutung, die allein Dracontius gebraucht; ähnlich Romul. 10,593f. iam Creta Tonantem / depositum nutrisse neget, wobei dort die Bedeutung ‘anvertrauen’ mitschwingt (WOLFF 1996, z. St., KAUFMANN 2006 [a], 462), die Romul. 2,159f. ausschließlich anzulegen ist (s. ThLL V 1,582,1f., WEBER 1995, 214). uel Verbindet die beiden Attribute zu crepundia, das Genitivattribut depositi und das Adjektiv certa, wobei letzteres betont wird (VOLLMER MGH 423, so auch Orest. 550 corpus Egisteum uel uiuum). Dagegen schlägt WOLFF 1996, z. St. die seltene Bedeutung ‘auch, außerdem’ vor und bezieht uel auf den Imperativ noscite; damit will er den oben skizzierten problematischen Gedankengang von si credis zu noscite erleichtern, der sich jedoch, wie oben gezeigt, wohl auch ohne diese Konzession lösen läßt. certa crepundia Daß Paris durch Erkennungszeichen als Mitglied der trojanischen Königsfamilie identifiziert wird, begegnet seit [Ov.] epist. 16,89f. interea, credo, uersis ad prospera fatis / regius agnoscor per rata signa puer. Dann auch Serv. Aen. 5,370 Sane hic Paris secundum Troica Neronis fortissimus fuit, adeo ut in Troiae agonali certamine superaret omnes, ipsum etiam Hectorem. qui cum iratus in eum stringeret gladium, dixit se esse germanum: quod allatis crepundiis probauit, qui habitu rustici adhuc latebat; und beim sicher von Servius abhängigen Mythogr. 2,225. Vgl. auch 70, wo Paris die crepundia an sich reißt, um mit ihnen nach Troja aufzubrechen. 103 dixerat Häufiger epischer Versanfang; hier noch 211. 285; Romul. 6,111; Orest. 412. 693. testes Im Sinne von testimonium (OLD s. v. 1932,4a, BLAISE 1955, 814, WOLFF 1996, z. St.). proiecit in arce Der merkwürdige und im Prinzip recht unmotivierte Einsatz des heftigen proicere in arce statt eines einfachen Vorzeigens der crepundia mag als Zeichen des Paris gedeutet werden, der zu verstehen gibt, daß diese Zeit endgültig

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ein Ende gefunden habe. Vielleicht ist es angelehnt an Verg. Aen. 5,673 (sc. Ascanius) galeam ante pedes proiecit inanem, als Zeichen für das Ende des Spiels, das durch das Brennen der Schiffe unterbrochen worden war, vgl. FRATANTUONO / SMITH 2015, 614; zumal es 672f. auch heißt en, ego uester / Ascanius!, was gewisse Ähnlichkeiten mit Vers 94 unseres Gedichts frater ego, fratrem cognoscite uestrum aufweist. Dracontius greift mit der Verbindung das die Rede einleitende, kriegerisch anmutende prorumpit in agmen anlautend wieder auf, so daß der erste Auftritt des Paris gewaltsam beginnt und stürmisch endet. Es ist nicht ganz klar, wie die Lokalität zu verstehen ist, aber da arx (71) am ehesten die Stadt selbst bezeichnet, und die Prozession im Moment auf dem Weg zu einer höhergelegenen Stelle der Stadt ist, wird hier die gleiche Bedeutung angenommen. In mit Ablativ statt in mit Akkusativ wie 14, s. dort. 104–118 Reaktionen der Eltern und Verbreitung der Nachricht Die Rede des Paris scheint ein heftiges Chaos zu bewirken, das sich auch an Textgestaltung, Wortwahl, Ablauf und Schilderung der Ereignisse ablesen läßt. Besonders deutlich ist die Gefühlsverwirrung der Eltern, die zwischen Schuldgefühlen und tief empfundener Liebe schwanken (104–106a)126, die mit ihren Gefühlen und Gedanken als edelmütig (generosa mente) und ehrlich (spontane Gesichtsrötung) dargestellt sind. Auffällig zeigt sich dies besonders bei Priamus, der vor Freude weint (107) und gleichzeitig den Sohn um Vergebung bittet (107f.),127 anders als Hekabe, bei der nur die Freude Ausdruck findet, die mit dem amüsanten dat celeres pietas gressus quos denegat aetas (110) illustriert wird.128 Mit obstupuere omnes ist in nur zwei Worten die ganze Gefühlswelt der Umstehenden zusammengefaßt, deren Ursprung im Einzelnen trotzdem unklar bleibt. Ist es allein die Rede des Paris samt seinen Erkennungsmerkmalen, die für Erstarrung sorgt? Wohl eher nicht, denn die Reaktion wird erst nach dem Ausbruch des Vaters erwähnt, so daß auch dessen Verhalten bei den anderen Geschwistern Erstaunen hervorrufen muß. Überzeichnet wirkt die Beschreibung von Küssen und Umarmungen, die in eine Art Wettstreit zwischen den beiden Elternteilen ausarten (111ff.). Daß Eltern ihre Kinder küssen, ist durchaus üblich (s. z. B. Serv. auct. Aen. 1,256), aber die lange Ausführung und besonders die Junktur lambere membra (112), die bei Ausonius in

126 Im Übrigen findet sich der Gedanke, das eigene Kind nach langer Zeit unerwartet wiederzusehen und dabei sowohl Liebe als auch Schuldgefühle zu empfinden, auch Orest. 54 obstipuit pietas et mens sibi conscia praui (Agamemnon trifft auf Iphigenie im Tempel und denkt an sein Vergehen). Agamemnon bittet daraufhin in einer Rede um Vergebung: 69 da ueniam, si corruis ense deorum, wie es für Priamus Romul. 8,108 conuictusque pater ueniam de prole rogabat heißt. 127 Es fallen mit admissum nefas, conuictus und ueniam rogare Verbindungen und Worte ins Auge, die im weitesten Sinn in das Wortfeld der juristischen Terminologie gehören. 128 Dies findet seinen Grund vielleicht in der Mythostradition, in der Hekabe stets weniger bereit war, dem Kind etwas anzutun, und im allgemeinen griechischen und römischen Recht, wo es jeweils dem Familienvater vorbehalten war, über eine Kindesaussetzung zu entscheiden (A. LUMPE: Eltern. Heidnisch, RAC 4, 1191–1198).

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III Kommentar

einem obszönen Kontext begegnet, deuten auf eine absichtlich überspitzte Zeichnung des Eltern-Kind-Verhältnisses. Bezeichnend für die Darstellung des Paris ist auch die Nachrichtenverbreitung von seiner Rückkehr in die Stadt. Denn die Botschaft enthält nicht die theoretisch mögliche Information ‘verlorener Sohn zurück’, sondern daß ein (oder der?) Hirte vom Ida als Teil der Königsfamilie anerkannt werden will. 104 uera fides pietas Die Überlieferung uera statt der Konjektur RIBBECKs 1873, 464 uerba, die von den Editoren VOLLMER und WOLFF in den Text gesetzt wurde, ist aus mehreren Gründen zu halten (wie es IANNELLI, VON DUHN und ZWIERLEIN ebenfalls tun): Zunächst aus inhaltlichen Gesichtspunkten: Vera fides kann gut eine, für die Seite der Eltern, variierte Entsprechung zu certa crepundia sein (fides für ‘Beweis’ ThLL VI 1,671,79, so auch Lucan. 7,726 uera fides), so daß also der handgreifliche Beweis in seiner Überzeugungsaufgabe erfolgreich war. Außerdem ist die Elternliebe (wohl sowohl durch die Rede als auch durch die crepundia) angerührt worden (pietas für ‘Liebe der Eltern’ ThLL X 1,2093,60), die ihrerseits Einfluß auf die Herzen der Eltern nimmt (quatiunt corda parentum). Des weiteren lassen sich formale Kriterien finden: Vera fides ist eine gut belegte Junktur (Lucan. 7,726; 9,204, Claud. 18,371, Phoc. carm. de Verg. 52; auch die Verbindung uera pietas, die sich ergibt, wenn man uera ἀπὸ κοινοῦ stellt, findet sich, bei Dracontius z. B. Romul. 5,147). Ist es auch für den Sprachgebrauch des Dracontius eher ungewöhnlich, nur zwei Substantive gleicher Art unverbunden nebeneinander zu plazieren, ließe sich jedoch als ähnliches Beispiel 181 pontifices Helenus Laocon anführen. Die Formel Adjektiv-fides-pietas-que, die Romul. 7,59 cana Fides Pietasque iugent, Lucan. 10,407 nulla fides pietasque uiris und Stat. Theb. 11,98 alma Fides Pietasque repugnent, auftritt, scheint hier, indem quatiunt folgt, lautlich bis -qu nachgeahmt; die Stelle kann so zu den beim Dichter beliebten Sprachspielen gezählt werden (vgl. auch die Einleitung Kap. 2.3). Dem gegenüber wirkt das vorgeschlagene uerba unnatürlich. Es nimmt sich neben den ethischen Abstrakta merkwürdig konkret und unpassend aus. quatiunt … corda Für die Junktur vgl. Iuvenc. 4,711 quatiuntur corda, Claud. 3,225 quatiebat corda, Mar. Victor aleth. 3,375 quatit improba corda, Paul. Petric. Mart. 5,767 corda quatit, Orest. 119 quatiuntur corda. mox Von IANNELLI für das überlieferte, aber unverständliche mors konjiziert und zu Recht von allen Herausgebern übernommen. In der Bedeutung ‘sogleich’. 105 admissum … nefas Vgl. für die Verbindung Sen. contr. 7,5,2, Sen. Phoen. 639 admittit nefas, clem. 1,23,1. generosa mente Modaler Ablativ (WOLFF 1996, z. St.). Die Junktur begegnet Ov. trist. 3,5,32, Sen. Tro. 1064, Paul. Nol. carm. 22,79; in unserem Gedicht noch 341. 105f. fatetur / fusus in ora rubor Fusus ist medial verwendet (s. ThLL VI 1,1570,66 für die Verwendung und Bedeutung). Vgl. für die Junktur Stat. Theb. 2,230f. ibant (sc. sponsae) … / fusae super ora pudorem (Gebräuchlicher scheint, wenn auch nicht häufig, rubor mit einer Form von perfundere zu verbinden: Hier.

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epist. 22,24,2 calidus rubor ora perfundat, Ambr. hex. 4,6,27 facies … rubore perfunditur, Boeth. in categ. comm. 3 p. 247 facies rubore perfunditur). WOLFF 1996, z. St. erwartet eher in oribus, doch scheint mir die Wendung kein Problem zu sein, in mit Akkusativ wurde schon seit frühester Zeit mit in mit Ablativ vertauscht (HS 276f.). Noch leichter zu erklären ist es, wenn man den temporalen Aspekt von fusus in die Betrachtung miteinbezieht und es nicht als Zustand versteht: „sich über die Haut ergossen habend“. Für den Gedanken, daß eine rote Gesichtsfarbe Gedanken verrät, vgl. auch Orest. 126f. internae mentis secreta fatetur / permixtus candore rubor. 106 Paridis Von IANNELLI konjiziert für das überlieferte pallidis, das auf den ersten Blick überzeugend wirkt, da weinende Augen in Verbindung mit blassen Armen schon bei Ovid (met. 14,734: umentes oculos et pallida bracchia tollens) vorgebildet sind. Es würde sich als Ablativ auf lacertis beziehen, ist aber metrisch nicht möglich, da pallidus in der ersten Silbe lang, in der zweiten hingegen kurz gemessen wird. Und Dracontius mißt es auch stets richtig, weshalb man sicher nicht von einer metrischen Lizenz ausgehen kann. So wird man sich den umgekehrten Weg vorstellen können: Ein nicht mehr gut lesbares Paridis wurde – möglicherweise in Kenntnis dieser Tradition – zu pallidis verschrieben, jedoch in Unkenntnis der Quantitäten. colla lacertis Der Versschluß ist ovidisch: am. 1,4,35, ars 2,457, met. 1,734; 6,625; 11,240, epist. 8,93 und begegnet noch einmal Sil. 9,144. 106f. lacertis / alligat Variatio für die gebräuchlicheren Verbindungen wie cingere, innectere, amplexor lacertis (s. ThLL I 1682,71ff.). Subjekt ist Priamus (108 pater), dagegen gibt VOLLMER MGH 316 Hecuba an, von der jedoch 111 mox iuuenem complexa tenet gesagt wird. 107 fletu gaudentis Das oxymoronartige Weinen vor Freude bzw. die Kombination von Freude mit Weinen begegnet öfter in der lateinischen Literatur: Plaut. Stich. 466; Stat. silv. 5,2,10; 5,3,217, Apul. met. 1,12,1; 8,7,1, Paul. Nol. carm. 24,732, Claud. 15,228, Ennod. carm. 2,115,2. Für weitere Parallelstellen s. B. L. HIJMANS: Apuleius Madaurensis Metamorphoses, Book VIII GCA (Groningen Commentaries on Apuleius) 1985, 75f. Für eine ausführliche Darstellung des Phänomens in griechischer Literatur s. DAVID KONSTAN: Meleager’s Sweet Tears: Observations on Weeping and Pleasure, in: THORSTEN FÖGEN: Tears in the Greco-Roman World, Berlin 2009, 311–334. Der Genitiv gaudentis statt eines auf Priamus bezogenen gaudens (u. ä.) wirkt ein wenig sperrig, weil er verallgemeinernd und daher nicht mehr zur konkreten Situation gehörig erscheint. inundat Eine der seltenen Stellen der lateinischen Literatur, wo das Subjekt zu inundare eine Person ist (ThLL VII 2,249,3ff.), weshalb es ironisch-überzeichnend wirkt. Noch seltener wird es mit einem Wort für Tränen im Ablativ verbunden; so nur hier und Tert. adv. Marc. 4,18,9 cum pedes domini … lacrimis inundaret (sc.

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III Kommentar

peccatrix femina). Die Stelle hat vielleicht auf Coripp. Ioh. 7,104f. uultus lacrimis implebat inundans / concussus pietate pater gewirkt. 108 conuictus Beispiele für den absoluten passiven Gebrauch s. ThLL IV 876,51ff. rogabat Diese Konjektur für das überlieferte negabat ist schlagend und läßt sich mit Prud. perist. 14,27 de Minerua iam ueniam rogat für Konstruktion und Junktur belegen. Mit VOLLMER, der als Erklärung für überliefertes negabat deutlich zu machen versucht, der Dichter würde sagen wollen, Priamus halte sich nicht der Verzeihung des Sohnes wert (MGH 378, setzt aber doch rogabat in den Text) könnte die Überlieferung zwar erklärt werden (und WOLFF 1996 nimmt mit Bezug auf die Erklärung auch wieder negabat in den Text), doch nur umständlich und wenig überzeugend, widerspricht die Junktur doch der sonstigen Verwendung von ueniam negare bei Dracontius: laud. dei 3,581 qui negat, ipse sibi ueniam iam sponte negauit (‘Vergebung verweigern’). Zudem findet sich der Versschluß mit rogabat ähnlich Romul. 2,49 opem de prole rogabat (für die Konjektur spricht sich auch BRUGNOLI 1998, 201f. aus, die Parallelstelle aus Dracontius selbst notiert auch ZWIERLEIN BT z. St.). Der Gebrauch von de anstelle von a begegnet häufiger bei Dracontius (RAPISARDA 1951, 145; WEBER 1995, 176). 109 obstupuere omnes bezeichnet die übrige Familie, die die Eltern bei der Opferung begleitet. Für den Versanfang s. Ov. met. 8,616. 765; 12,18. Für ähnliche Beispiele ThLL IX 2,260,43ff. (Formen von obstupere stehen stets am Hexameteranfang). Es klingt ebenfalls Verg. Aen. 2,1 conticuere omnes an und Romul. 10,261 omnes stupuere ministri (nachdem Medea entschieden hatte, Iason nicht zu töten, sondern zum Mann zu nehmen). mater gauisa recurrit Gauisa ist im Sinne von gaudens gebraucht (H-S 391) und drückt fast adjektivisch den Gemütszustand Hekabes aus. Recurrit dürfte in der Bedeutung accurrit aufzufassen sein (VON DUHN 112), wenn Hekabe während des Opferzuges 80–88 hinter Priamus gegangen ist (diese Verwendung des Verbs auch laud. dei 1,365). Wie der Zug genau aussieht, geht aus dem Text nicht klar hervor. Für die Vorliebe des Dracontius für Komposita mit dem Präfix ‘re-’ s. MOUSSY 1982, 206. 110 dat celeres pietas gressus, quos denegat aetas Die Trägheit des Alters ist ein weitverbreitetes Bild, das wohl auch in diesen Gedanken geflossen ist, vgl. z. B. Verg. Aen. 9,610 tarda senectus, Ov. met. 8,686 tardos aetate (s. auch THOMAS RIESENWEBER: „Im nutzlosen Abschnitt des Lebens.“ Bewertungen des Alters im archaischen und klassischen Griechenland, in: CLARISSA BLUME-JUNG / WOLFRAM BUCHWITZ (Hrsgg.): Alter und Gesellschaft. Herausforderungen von der Antike bis zur Gegenwart, Paderborn 2016, 87–109). Fast genauso begegnet der Vers noch Orest. 671 gaudia dant gressus celeres quos denegat aetas (über Dorylas). Die Junktur celeres gressus auch Sen. Med. 847f. ROSSBERG 1888, 77 verweist für den Versschluß auf Romul. 9,92 quam denegat hostis.

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111 mox Hier in der Bedeutung ‘dann’ (s. ROSE 1927, 63f., NORWOOD 1941, 421). complexa tenet Vgl. Romul. 9,178 complexae per colla tenent (von den Liebkosungen, die Hekabe und Andromache dem toten Hektor zukommen lassen). per colla per ora Für die asyndetische Anapher vgl. auch Verg. Aen. 11,497 per colla, per armos (so auch Romul. 8,353, vgl. Romul. 10,70 per templa per aras). 112 diffundunt In der übertragenen Bedeutung ‘weit verteilen’ (ThLL V 1,1110,12). lambere membra Für lambere in der eher ungewöhnlichen Bedeutung ‘küssen’ s. ThLL VII 2,899,25ff. Bei Dracontius noch Romul. 6,48f. morsibus alternis ut lambens lingua palatum / tergat. Die Junktur, allerdings in obszönem Zusammenhang, Auson. 13,74,1 GREEN. 112f. parentes … iuuenis Sind beides Konjekturen BÜCHELERs für die überlieferten parentis und iuuenes, die keinen rechten Sinn geben. 113 insistunt … certatim Die Verbindung hat vielleicht Coripp. Ioh. 5,475 certatim insistunt angeregt. Insistere im Sinne von ‘beharrlich anfangen zu betreiben’ (ThLL VII 1,1922,63). 113f. sed pius ardor / adfectus dispensat Gegenüber dem Vorschlag VOLLMERs MGH 315; 340, der den Satz mit „filium alter alteri adducit“ bzw. „parentes alter alteri filium adducunt“ glossiert (dabei affectus ganz konkret für die geliebte Person [Beispiele dafür s. ThLL I 1191,73ff.; dieser Gebrauch ist besonders in spätlateinischer Literatur zu belegen]; dispensare bildlich in der Bedeutung ‘pariter distribuere’ [ThLL V 1402,2. 51]), soll eine andere Erklärung vorgeschlagen werden. Es wäre auch möglich affectus dispensare im Sinne von ‘die (heftigen) Emotionen regulieren’ (in diese Richtung geht ThLL V 1,1402,65, mit Sen. epist. 88,29 alias [sc. uoluptates] dispensat et ad sanum modum redigit) zu verstehen. So stünde den ungestümen Herzensregungen der Eltern, die sich im überzeichneten Küssen und Kosen und im certatim äußern, eine verantwortungsvolle Liebe gegenüber, die nun von den Eltern Besitz ergreift, so daß sie von dem Wettstreit um das Kind Abstand nehmen. 114 agens alternat utrique Das Partizip agens dürfte den voraufgehenden Teilsatz aufgreifen und bekräftigen, im Sinne von „sich so verhaltend, dieses betreibend“. Subjekt bleibt wie zuvor der pius ardor (dagegen scheint ThLL I 1753,61f. „alteruter parens“ zum Subjekt zu machen, was aber eine merkwürdige Dopplung mit utrique ergäbe). Der Dativ utrique ist wohl als locker angeschlossener Dativus commodi zu verstehen. S. auch für eine Deutung der Stelle die im Erscheinen begriffene Rezension von THOMAS GÄRTNER (EDK). Anders trennt ZWIERLEIN BT z. St. ab, indem er 113f. pius ardor / adfectus dispensat agens, alternat utrimque mit dem Verweis auf Arator act. 1,814 (affectum pietatis agunt) druckt.

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III Kommentar

115 et uicibus cara Paridis ceruice fruuntur Der Vers ist von Statius inspiriert: Theb. 12,388 et cara uicibus ceruice fruuntur. Hier wie dort hat frui die Bedeutung ‘umarmen’ (ThLL VI 1,1428,13). Bei Statius sind die Frauen Antigone und Argia dabei, den Bruder und Ehemann Polyneikes zu beklagen und von ihren Erinnerungen zu berichten. Sie wechseln dabei einander sowohl mit Worten als auch mit Berührungen des Leichnams ab (Theb. 12,385ff.). Wenn diese Stelle durchklingt, ergibt sich auch die Assoziation, daß Paris als Staatsfeind zu verstehen ist, nicht nur als Verwandter, als den ihn Vater und Mutter in dieser Situation betrachten. Ihn so aufzunehmen, zu umarmen, als Sohn anzuerkennen birgt große Gefahren für die Eltern selbst, aber auch für Volk und Vaterland. So könnte das tertium comparationis sein, auch wenn die Ausgangssituation freilich eine ganz andere ist, die Hingebung an einen verwandten Menschen unter Einsatz des eigenen Lebens. Die pietas der Antigone und der Argia und die der Hekabe und des Priamus gereicht beiden Paaren zum Verderben. Die Junktur cara ceruix noch Stat. Ach. 1,929, silv. 3,2,58, Val. Fl. 1,259. 116f. nuntius interea totam compleuerat urbem: / fama uolat per templa deum Der Satz wird später 442 nochmals aufgegriffen: nuntia fama ducis totam repleuerat urbem (s. auch dort). Idee und Wortmaterial ist zu einem großen Teil aus Verg. Aen. 8,554 genommen worden: fama uolat paruam subito uulgata per urbem, vgl. auch Orest. 109 fama Mycenaeas uolitans repleuerat oras. 116 interea Leitet in epischer Dichtung einen neuen Abschnitt oder einen Szenenwechsel ein und verknüpft die Teile miteinander (ThLL VII 1,2,183,52ff.; BÖMER 1969, 280). 117 fama uolat Vergilische Junktur: Aen. 3,121; 7,392; 8,554. per templa deum Offensichtlich ist die Festgemeinschaft im Tempel bereits angekommen. Fama uolat per templa deum könnte also das Getuschel der Umstehenden bezeichnen, das sich über den ganzen Tempelbereich zieht. Die Verbindung genauso Romul. 5,141. pastor ab Ida Der Versschluß auch Romul. 2,104, Val. Fl. 1,549. Die Konstruktion ist vielleicht angelehnt an Verg. georg. 3,2 pastor ab Amphryso (vgl. ERREN 2003, 559). 117f. quod … se uelit Der Konjunktiv im quod-Satz als Konjunktiv der fremden Meinung; sehr passend für ein Gerücht, mit dem man zunächst vorsichtig umgehen will. Ein von fama uolat abhängiger quod-Satz begegnet nur hier (ThLL VI 1,220,69). 118 Ist angelehnt an und spielt mit Verg. Aen. 1,626 seque ortum antiqua Teucrorum a stirpe uolebat. Denn dort spricht Dido über Teucer, einen Griechen, den Halbbruder des Ajax, den sie kennengelernt hat und der ihr vom trojanischen Krieg berichtet hat. Der, obwohl eigentlich ein Feind der Trojaner, hegt Bewunderung für sie und legt daher Wert darauf, selbst trojanisches Blut in sich zu tragen (s.

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AARON M. SEIDER: Memory in Virgil’s Aeneid, Cambridge 2013, 98). Vor dem in der ‘Aeneis’ eher positiv konnotierten Hintergrund eines trojanischen Feindes, der Trojaner sein möchte, mag Dracontius spielerisch den Paris Trojaner sein lassen wollen, obwohl er im Prinzip Krieg bringen wird und daher ein Feind sein müßte. AcI abhängig von uelit (sämtliche Konjekturen [vgl. den Apparat von WOLFF 1996, z. St.], die in das Prädikat eingreifen, dürften wegen der Nähe zur Vergilstelle das Falsche treffen). ostendi Abhängig von uelit; mit doppeltem Akkusativ, oder, ergänzt man zu creatum ein esse, mag auch ostendor mit NcI konstruiert sein (H-S 365). regni Regnum in der Bedeutung rex auch 288, Orest. 427 (wenn man nicht mit MAEHLY occidit regem schreiben muß, s. ZWIERLEIN BT z. St.) und Stat. Theb. 12,380 (regna). Vielleicht entschied sich der Dichter für dieses Wort wegen des Reims mit ostendi. de stirpe creatum Für die Junktur vgl. Ov. met. 14,699, Stat. Theb. 1,463, Romul. 4,9. Vgl. auch zu 503. 119–133 Rede des Helenus Helenus129, ein mit der Sehergabe ausgestatteter Sohn des Priamus und der Hekabe und Zwillingsbruder der Kassandra, tritt hier auf den Plan,130 um als erster eine verbalisierte Reaktion auf das Erscheinen des Paris abzugeben. Diese steht den heftigen Liebesbeweisen der Eltern inhaltlich entgegen, argumentiert mit der berühmten Fackel131 und läßt sich folgendermaßen gliedern: 120b–121 Anrede an die Eltern und invektivische Fragen 122–124a Ursache und Ankündigung des kommenden Unglücks

129 Die Figur dieses Sehers begegnet in der ‘Ilias’ nur als weniger wichtiger Nebencharakter, erst im epischen Kyklos und in der folgenden Tradition wird seine Figur weiter ausgeführt. Für seine Geschichte und Mythenvarianten s. WALTER OTTO: Helenos, RE 7, 2, 2844–2847. Er gehört, zusammen mit seiner Schwester, zu den Sehern, die auf intuitive Weise Informationen über die Zukunft erhalten (THEODOR HOPFNER: Mantike, RE 14, 1, 1258–1288, hier 1267). 130 Der scheinbare Bruch zwischen dem Festumzug, wo die Familie als gemeinsame Gruppe auftritt und auch Helenus und Kassandra bei ihr ist, und hier, wo Helenus von Ferne ruft (procul exclamat, 120), sich also irgendwann von der Schar entfernt haben muß, läßt sich lösen, wenn man Folgendes postuliert: Es ist möglich, daß sich die Gruppe schon beim Tempel befunden hat, als Paris mit ihr zusammentrifft, und es mag sein, daß Helenus und Kassandra bereits dabei waren, die Aufgaben der Priester auszuführen. Davon läßt Helenus nun explizit ab. Das bedeutet: Helenus muß sich nicht zwingend vorher von der Familie entfernt haben, sondern tut dies in genau diesem Augenblick, sei es aus Abscheu vor dem Verhalten der Eltern, sei es aus akustischen Gründen. So muß kein Bruch angenommen werden. Ebenso einige Verse später, wenn Kassandra zu reden beginnt: Sie entfernt sich nicht, sondern kommt näher, um ihre Mutter zu umarmen (134f.). 131 Die Auslegung des Traums des Hekabe durch einen Seher findet sich auch bei Euripides, Lycophron, Apollodor, Ovid, Hygin und Dictys, wobei Dracontius der einzige ist, der sie, wegen seiner Art der Darbietung, hinter die Wiedererkennung des Paris stellt (JAVIER 2001, 14, Anm. 13).

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III Kommentar

124b–130 unmittelbares Bevorstehen und Ausführung des Unglücks an Einzelbeispielen (Ankunft griechischer Schiffe, Lärm im Lager, Achill und Hektor, Tod des Troilos [124b–127a auf Seiten der Griechen, 127b–130 auf Seiten der Trojaner]) 131–132 Resignation 133 (recht zufriedenes?) Hinnehmen des eigenen vorhergesehenen Schicksals Troilos, der jüngste Sohn des Priamus erhält in der Helenus-Rede ein besonderes Gewicht. Er wird in der Zukunftsvision des Sehers als einziger direkt angesprochen und dramatisch mit seinem Schicksal konfrontiert.132 Dies mag neben der Tatsache, daß Troilos im Gedicht ohnehin eine schmückende Begleitrolle besitzt (s. dann auch am Ende des Gedichts 625–631), auch einen weiteren Grund haben: Der Tod des Troilos wird unter den Ereignissen genannt (z. B. Plaut. Bacch. 953ff.), die als Bedingung für den Untergang Trojas geschehen müssen.133 Die Betonung ante annos (130) mag zudem ihre Erklärung in einer Mythogr. 1,207 bewahrten Zusatzinformation, Troilos müsse sein 20. Lebensjahr erreichen, damit Troja erhalten bleibt, finden. Helenus scheint im Laufe seiner Rede einen gewissen Gesinnungswandel zu durchleben. Die heftige Anschuldigung an die Eltern (121) und die dramatische Schilderung der kriegerischen Ereignisse werden am Ende, mit sed eingeleitet, von einer Art Resignation abgelöst (131f.),134 die aber schließlich in abgeklärter Zufriedenheit endet (fortuna potens ist wohl durchaus nicht negativ zu verstehen)135. Denn das Schicksal das Helenus, wie es in der Tradition dargestellt wird,136 ist im Vergleich zu vielen anderen geradezu traumhaft. Er wird aus Dankbarkeit das Reich des Pyrrhus-Neoptolemos und Epirus erhalten und mit Andromache verheiratet sein. So kann er freilich entsetzt sein über den kommenden Krieg und all die schlimmen Ereignisse, weiß aber auch, daß er selbst vergleichsweise milde getroffen sein wird. Trotz dieses eher versöhnlich-resignierten Schlusses der Rede bleibt die Situation des Sprechers dramatisch. Er sieht das Schicksal seiner Stadt und seiner Familie vor sich und sieht ebenso, daß alles erfüllt werden muß, sieht realistischerweise ein, daß er nichts ausrichten kann. Auf eine gewisse Weise ähnelt Helenus in diesem Punkt seiner Schwester Kassandra, deren Strafe es ist, immer ungehörte Vorhersagen machen zu müssen. Die fata und die casus werden von Helenus so charak132 Die hier aufscheinende Kampfestüchtigkeit des Troilos und sein Kriegswüten dürften vielleicht aus der Tradition, die auch Dares genutzt hat (SIMONS 2005, 259f.; zu Troilos bei Dares s. BESCHORNER 1992, 95; 162; 168f.; 208) stammen. Für seinen hier offensichtlich postulierten Tod in der Schlacht gab es vielleicht eine weitere Traditionslinie (WILHELM ENSSLIN: Troilos, RE 7 A 1, 602–615). 133 Auf einige dieser Ereignisse verweist Dracontius mit den Vorzeichen zur Zeit der Ankunft des Paris in Troja, s. S. 198. 134 Für die Parallelisierung des Helenus mit Amphiaraus an dieser Stelle s. den Kommentar zu 131. 135 Der Vorschlag WOLFFs 1996, z. St. in der Junktur nicht das ‘mächtige Schicksal’, sondern die Herrschaft über Epirus zu sehen, die Helenus von Pyrrhus übernehmen wird, ist verlockend. 136 Verg. Aen. 3,294ff., Serv. Aen. 2,166.

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terisiert wie sie auch im Prooem aufscheinen: unveränderlich und unerbittlich (s. dazu die Einleitung Kap. 2.1.3.4). 119 Helenus uates Vgl. für die Verbindung Verg. Aen. 3,433 Heleno … uati, 712 uates Helenus. templum dimisit et aram Der Seher entfernt sich ein Stück von Tempel und Altar und damit (wahrscheinlich) von der Gruppe, um seine Rede zu halten (procul 120), sei es aus akustischen Gründen, sei es um dem Inhalt seiner Rede durch sein Verhalten Nachdruck zu verleihen. Dies bedeutet gleichzeitig, daß er auch von der Tätigkeit an Tempel und Altar abläßt, daß seine Warnungen für den Moment wichtiger sind. Dimittere in der Bedeutung ‘verlassen’ (für Beispiele s. ThLL V 1,1216,29; templum und ara als Objekte sind singulär). Vielleicht klingt lautlich die Klausel Sil. 13,81 dimisit ad aras an. 120 procul Im Rückblick auf V. 88 wird der Leser vermuten, daß Helenus zwischenzeitlich bereits vorangegangen ist und sich von Priamus ein Stück entfernt hat. Möglicherweise entfernt er sich auch hier erst von der Gruppe (s. auch zu 119 und S. 223, Anm. 130). exclamat Für exclamare von inspirierter Rede s. ThLL V 2,1265,81ff. pater impie, pessima mater Chiastische Stellung. Während die Junkturen in dieser Zusammenstellung singulär sind, ist die impia mater durchaus vorgeprägt: Sen. Med. 779, Phaedr. 557, Pentad. anth. 235 R. = 227 Sh.-B.,7, Iuvenc. 3,61 horrendae … scelera impia matris, laud. dei 2,323. 121 quid pietas … quid perditis Hämmernde Anapher durch doppeltes quid und folgendes ‘p’, das im Anschluß an pater impie, pessima ohnehin schon heftig wirkt. pietas crudelis Oxymoron, das die Anrede an die Eltern gedanklich weiterführt. Hekabe und Priamus zeigen Elternliebe (und all das, was in pietas an Konnotation stecken kann) für Paris. An sich eine ehrenwerte Eigenschaft, eine der Haupttugenden der Römer, also als besonders positiv zu bewerten. Helenus, selbst Sohn des Ehepaares, setzt aber crudelis zur pietas und gibt ihr damit den gegenteiligen Sinn, der schon im Vokativ impie an den Vater anklingt: Paris mag in den Genuß der Liebe kommen, aber der Rest der Familie, die Stadt, ganz Griechenland sind am Ende von der verantwortungslosen Verantwortung des Herrscherpaares grausam betroffen. quid perditis urbem Konkretisiert pietas crudelis und deutet an, daß die crudelitas sich gegenüber der Heimatstadt äußert. Die Junktur perdere urbem Catull. 51,16, Mar. Victor aleth. 3,673. 122 haec est illa … fax Haec (kongruent zu fax gemäß K-S I 34f.) bezeichnet in pointierter Deixis Paris. Helenus spielt auf den Traum der Hekabe an, in der ihr gezeigt wurde, sie werde eine Fackel gebären, die ganz Troja zerstöre. Der kurze Hinweis muß für den Leser ausreichen (vorher wird der Traum der Hekabe nicht erwähnt), um sich die Situation vor Augen zu stellen. Allerdings wird das Mythosdetail den meisten bekannt gewesen sein, denn schon seit Ennius ist der Grauen

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III Kommentar

ankündigende Traum der Hekabe greifbar: Mater grauida parere se ardentem facem / uisa est in somnis Hecuba (Enn. scaen. 35f. V = 50f. Jocelyn = adesp. 76 TrRF; vgl. Cic. div. 1,42). S. auch uxor eius (sc. Priami) praegnans in quiete uidit se facem ardentem parere, ex qua serpentes plurimos exisse (Hyg. fab. 91,1) und facem quam sibi uisa est parere Hecuba Cissei filia siue Dymantis (Hyg. fab. 249); namque Hecubam foetu eo grauidam facem per quietem edidisse uisam (Dict. 3,26); Hecuba Cisei filia Priami regis uxor cum Paridis grauida esset, facem, qua urbs incenderetur, se parere uidit (Mythogr. 2,225). Für weitere Stellen der antiken Literatur s. JAVIER 2001, 11. tuo … prodita somno Prodita steht als attributives Participium coniunctum in Vertretung eines Relativsatzes (K-S I 770). Der Versschluß ist vergilisch (Aen. 1,470; zur Bedeutung dort s. AUSTIN z. St.; vgl. auch Ov. epist. 1,40). Tuo somno ist entweder lokal oder instrumental aufzufassen. Die Junktur ist in der Verwendung mit prodere für neutrales ‘ankündigen’ singulär. 123 incendet Troiam regnumque parentum Verg. Aen. 2,555 Troiam incensam; Firm. err. 15,3 incensa est Troia a Graecis; Aug. serm. 81,9 de Troia incensa. Ein aktivisches incendere in Verbindung mit Troja ist sonst nicht zu finden. Incendet ist als kausatives Aktiv zu verstehen, wie auch das folgende dabit. Eine deutliche Interpunktion am Versende löst das Problem des folgenden Verses, s. dort. 124 in sortem dabit illa nurus Um diese Textstelle zu erhellen, soll ein Blick auf die einzige Parallele für in sortem dare geworfen werden: Suet. Aug. 31,3 ne filias in sortem darent (von Vätern, die ihre Töchter nicht zur Auslosung der Vestalinnen freigeben wollen), wo die Junktur in etwa als ‘in den Lostopf geben’ zu deuten ist. Eine Verlosung findet auch im Zuge des trojanischen Krieges statt, am Ende, wenn die gefangenen Trojaner den siegreichen Griechen als Sklaven mit nach Hause gegeben werden (vgl. etwa Orest. 133 sors regis erat Cassandra sacerdos). Es können hier also nurus im Akkusativ Plural als die Ehefrauen der großen trojanischen Krieger verstanden werden (ebenso 630 quantas per bella nurus uiduare parata, in der Ahnung des Troilos), wie beispielsweise Andromache, die Frau des Hektor. Daß die Schwiegertöchter hier so prominent herausgehoben werden, ist keineswegs unmotiviert: Das Prooem schon weist den Frauen bei der Vererbung eine ganz besonders bedeutende Rolle zu (7–9). Das Ziel der menschlichen Gemeinschaft, Nachkommen hervorzubringen, kann ohne die Frau nicht erreicht werden. So wird Paris für den Raub der Helena von Anfang an getadelt, aber nicht nur der Verlust der Helena führt zu Leid, auch das Verderben der übrigen Frauen bringt den Untergang, nämlich den Untergang Trojas, das damit keine Möglichkeit hat, jemals wieder eine bevölkerte Stadt zu werden. Illa, als Subjekt dieses Nachsatzes nach deutlicher Interpunktion nach 123, greift fax auf. Daß nurus schon Helena bezeichnen soll, wie etwa WOLFF 1996, z. St. laut seiner Übersetzung, ROSSBERG 1878, 8 und KAUFMANN 2017, 298 annehmen, ist eher unwahrscheinlich, weil der obige Befund zum Traumgesicht der Hekabe (zu 122) noch gar nichts von einer Schwiegertochter ankündigt, sondern allein die ganz Troja verzehrende Flamme, nämlich Paris. Die Verbindung in sortem dare mit

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nurus als Genitivattribut gibt WOLFF mit ‘hingeben’ wieder, konstruiert regnum parentum als Objekt dazu und läßt die beiden Prädikate incendet und dabit (illa besitzt kaum Gewicht und greife fax erneut auf) durch -que miteinander verbunden sein. Entsprechend interpungiert er nicht hinter 123. ROSSBERG 1878, 9 nimmt für illa ein Neutrum Plural an, das Troiam und regnum aufgreift; nurus wird zum Subjekt zu dabit. Entsprechend interpungiert er hinter 123. coniurat in arma Ganz Griechenland verschwört sich zum Krieg gegen Troja. Coniurare erinnert an die beiden Eide, die im Zusammenhang mit dieser Geschichte stehen. Zum einen an den Eid, den die Griechen dem Agamemnon als Gefolgsleute geschworen haben (zu finden z. B. Il. 2,284ff. 337ff.), zum anderen an den Eid, der Helenas Freiern von ihrem Vater abgenommen wurde, ihre Entscheidung zu respektieren und ihrem Ehemann beizustehen, falls sie einmal geraubt werde (zu finden hauptsächlich in der Tragödie, z. B. Eur. Iph. A. 51ff. 62f. 391ff., aber auch Hyg. fab. 78,2f.; WOLFF 1996, z. St.). In heißt hier singulär in der Verbindung mit coniurare ‘zu’ und nicht ‘gegen’ (wie es Dracontius Romul. 4,3 verwendet; dagegen ThLL IV 340,29ff.), im Gegensatz zur formalen Vorbildstelle Claud. 15,331. Zum futurischen Präsens in Prophezeiungen, um das es sich bei coniurat handelt, s. SABINA CRIPPA: Un genere oracolare? Ipotesi per un’analisi del linguaggio delle visioni, in: EMANUELE BANFI: Atti del Secondo Incontro internazionale di Linguistica greca (Trento, 28–30 settembre 1995), Trento 1997, 121–142, hier 136. 124f. coniurat … / Graecia … raptum punire Lacaenae Für coniurare (hier mit einer Art Doppelkonstruktion, zuerst mit in und Akkusativ, danach mit Infinitiv) mit Infinitiv oder AcI vgl. z. B. Hor. carm. 1,15,7 (sc. Graecia) coniurata tuas rumpere nuptias (vom trojanischen Krieg und hat deshalb vielleicht unsere Stelle beeinflußt). Für die Verbindung raptum punire vgl. Auson. 12,1,3f. GREEN quid prodest Helenes raptum punisse dolentem, / uindicem adulterii cum Clytemestra necet? 125–127 Graecia tota dolens … litora nostra petent … Dorica castra fremunt Die drei Verse beginnen metrisch genau gleich und reimen je in den ersten zwei Worten. 125 Graecia tota dolens Singuläre Junktur. Personifizierung der Graecia. Vielleicht kann das folgende raptum, obwohl es Teil der Infinitivkonstruktion ist, zumindest implizit als Objekt zu dolens gezogen werden. raptum … Lacaenae Vgl. V. 1 für die Junktur. 126 litora nostra petent Vgl. Verg. Aen. 2,256 litora nota petens (passend: die Argiua phalanx segelt wieder heran, nachdem das trojanische Pferd in die Stadt aufgenommen wurde), 3,657 litora nota petentem. Auffällig ist petent als einziges Futur innerhalb lauter Praesentia, die futurischen Charakter besitzen (WOLFF 1996, z. St.).

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III Kommentar

Danai Betont in der Mitte des Verses. 26 Mal begegnet das Wort bei Dracontius für Griechen, dagegen nur achtmal eine Form von Graius. mille carinis Häufiger Versschluß seit Vergil: Verg. Aen. 2,198 (carinae); 9,148, Ov. met. 12,37 (carinae); 13,182 (carinae), Sen. Tro. 708, Lucan. 9,32, Homer. 801 (carinas), Manil. 5,301, Sil. 3,229; 11,586 (carinas), Stat. Ach. 1,34. Die Zahl ‘tausend’ ist seit Aischylos (Ag. 45) für die Anzahl der ankommenden griechischen Schiffe typisch (s. AUSTIN 1964 und HORSFALL 2008 zu Verg. Aen. 2,198). 127 Dorica castra Vgl. 228 Dorica regna. Die Junktur ist seit Vergil gebräuchlich: Verg. Aen. 2,27; 6,88, Prop. 2,8,32; 4,6,34, [Ov.] epist. 16,372, Homer. 662 für das Schiffslager der Griechen. Doricus bedeutet in anachronistischer Verwendung Graecus (WOLFF 1996, z. St.). fremunt Personifizierung der castra. Vgl. Lucan. 7,127f. trepido confusa tumultu / castra fremunt (WOLFF 1996, z. St.). Für weitere Beispiele von fremere im Kontext von Krieg und Waffen s. ThLL VI 1,1285,33ff. Die Geräusche, sei es Waffengeklirr, seien es wütende Schreie der Soldaten, deuten auf den Krieg hin und erregen in der Vorstellung ein Schreckensbild der bevorstehenden Ereignisse. iam Pergama uexat Achilles Vexare steht hier in der Bedeutung ‘to attack constantly, harry’ (OLD s. v. 2052,2a), wie z. B. auch Verg. Aen. 4,615–617 bello audacis populi uexatus … / … / auxilium imploret, Hor. carm. 3,2,3f. Parthos feroces / uexet eques, carm. 4,14,22f. inpiger hostium / uexare turmas. Bei Dracontius nur hier in militärischem Kontext (s. VOLLMER MGH 425). Vielleicht deutet der Satz auf Il. 5,788–790, woraus hervorgeht, daß sich die Troianer neun Jahre lang nicht in die Feldschlacht getraut hatten aus Angst vor Achill (s. für Achill auch die Rede der Kassandra, 157, und des Apoll, 192). 127–129 iam … Fünffache Anapher von iam gliedert die Satzteile, in denen Zukünftiges geschildert wird, das sich jedoch vor dem inneren Auge des Sehers schon jetzt bedrohlich abspielt und daher im Präsens gehalten werden kann. S. für eine solche Anapher auch Auson. 27,24,116ff. GREEN und ThLL VII 1,102,74ff. 128 pugnant Danai Die Formulierung auch Homer. 766. cernimus Hectora tractum Cernimus (mit AcI bei Ellipse von esse) oszilliert zwischen dem konkreten prophetischen Sehen des Helenus (WOLFF 1996, z. St.; so Verg. Aen. 6,87; 7,68) und einem Gebrauch des Plurals zur Schilderung, wie die ganze Familie den toten Hektor um die Stadtmauer gezogen sehen wird. Der Versschluß begegnet auch Romul. 9,76; die Junktur Hectora trahere findet sich verschiedentlich in ihren flektierten Formen, z. B. Prop. 2,8,38, Stat. Ach. 1,6, Auson. 12,15,5 GREEN, Claud. 21,98. 128f. Hectora … / Troile In Kombination werden die beiden Brüder schon 83f. und 92. 94 genannt. Die beiden gelten traditionell als der älteste und der jüngste Sohn von Priamus und Hekabe und gehören zu den tapfersten Kriegern (Il. 24,255. 257f.).

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129 per bella furis In der Tradition ist Troilos eher für seinen Tod durch die Hand des Achill und seine Jugend bekannt als für seine Bedeutung im Kampf. Im Mythenstrang, der durch Dares auf uns gekommen ist, läßt er sich dagegen als ein dem Hektor ebenbürtiger Krieger fassen (7. 12. 30. 34), der nach dessen Tod einen furiosen Auftritt erhält (29. 31–33). Diese Version mag sich auch hier niederschlagen. Abgesehen davon ist iam per bella furis wirkungsvoll gegenüber iam sterneris audax gestellt. Der jüngste der Priamussöhne (zumeist wird er als Knabe oder Ephebe dargestellt: MAXIMILIAN MAYER: Troilos, ROSCHER 5, 1215–1230, hier 1215) wird als einziger direkt von Helenus angesprochen, der ihm den frühen Tod ankündigt (iam sterneris … / ante annos). Die Erwähnung eines Kindes, das Opfer des Krieges wird, als besondere Grausamkeit hat auch im Prooem seine Parallele: infanti nullus post bella pepercit (54; s. den Kommentar zum Vers). Die über zwei Verse ausgeführte Beschreibung des Troilos im Krieg, die seine große Bedeutung in der Schlacht verdeutlicht, ruft die Tradition auf, die bei Dares zu Grunde liegt, wie oben bereits kurz angerissen. Dort fegt er mehrere Kapitel lang über das Schlachtfeld und schlägt um sich, bis er schließlich von seinem verletzten Pferd abgeworfen und von Achill getötet wird. Bei Dares wird zwar durchweg der Eindruck vermittelt, Troilos sei mindestens ein junger Mann, kein puer mehr, doch mag Dracontius beide Traditionen leicht vermischt haben und ihm jugendlichen Übermut und unvorsichtigen Kampfeseifer (proteruus) vor der Folie des Dares zugesprochen haben, die schließlich Auslöser für den tragischen Tod des tapferen Jünglings werden. Die übrigen Mythenvarianten um den Tod des Troilos zeigen eher nichts, was man mit uirtute proteruus in Verbindung bringen könnte (für einen Überblick s. MAXIMILIAN MAYER: Troilos, ROSCHER 5, 1215). Zur Figur des Troilos bei Dares s. BESCHORNER 1992, 95; 162; 169f.; 208. 129 sterneris audax Sterneris ist in der antiken Dichtung eine singuläre Form. Für die Auflösung eines Adjektivs in einen Nebensatz (wie es sich hier für audax anbietet) s. K-S 239. Ob es sich dabei um einen Konzessiv- oder um einen Kausalsatz handelt, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Orientiert sich Dracontius hier an der von Dares überlieferten Version des Todes von Troilos (dafür spricht per bella furis, 129), dürfte kausal das Richtige treffen, in der traditionellen Version, bei der Achill den Troilos am Heiligtum Apolls tötet, dürfte konzessiv gemeint sein. 130 ante annos Vgl. Kassandras Worte Sen. Ag. 747f. nimium cito / congresse Achilli, Troile. Anni in der Bedeutung aetas s. ThLL II 118,51ff.; wie oben erwähnt, mag auch an die 20 Jahre gedacht sein, die Troilos hätte vollenden müssen, damit Troja nicht hätte zerstört werden können (Mythogr. 1,207), so daß anni wörtlich zu verstehen wäre. Für ante annos occidere vgl. Ov. am. 2,2,46, ars 3,18. animose puer Singuläre Junktur (Troilos wird auch Verg. Aen. 1,475 als puer bezeichnet, impubes Hor. carm. 2,9,15). Die Vorstellung von Troilos als einem jungen bis sehr jungen Mann ist vorherrschend (WILHELM ENSSLIN: Troilos, RE 7 A 1, 602–615).

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III Kommentar

uirtute proteruus Ähnlicher Versschluß noch Claud. carm. min. 25,132 uirtute proterua. 131 sed quid fata ueto, quid fixos arceo casus Die zweite Vershälfte ist aus Stat. Theb. 3,646 sed quid uana cano, quid fixos arceo casus? übernommen (SIMONS 2005, 234, Anm. 48). Die beiden Stellen können auch inhaltlich aufeinander bezogen werden: Amphiaraus (Apollonpriester, er nennt Apoll auch Thymbraeus 638), von König Adrast geschickt, um das Schicksal der Sieben gegen Theben zu erforschen, ist vom schlechten Vorzeichen erschreckt, begibt sich in sein Haus und will nicht reden. Er wird jedoch vom kampfeswütigen Capaneus dazu gedrängt, gibt schließlich nach und warnt davor, in den Krieg zu ziehen, weil er den Untergang für alle sieben kennt. Doch der Seher resigniert nach ein paar Versen, beendet mit ibimus (3,647) seine Rede und gibt sich seinem Schicksal hin. Beide Seher, Amphiaraus und Helenus, sind in einer für Seher typischen Situation: Sie wissen um das kommende Unglück und doch können sie nichts dagegen tun und lassen schließlich von ihren Versuchen, das festbestimmte Schicksal umzuwenden, ab. Bei Amphiaraus ist die ganze Situation schon derart auf Krieg ausgerichtet, daß ihm absehbarerweise niemand Glauben schenken wird. Längst ist man für den Krieg gerüstet und hat alles vorbereitet, das Ergebnis der Vogelschau will man gar nicht abwarten. Es wird nur pro forma noch angehört. Verstärkt wird das durch eine Antwortrede des Capaneus, der den Seher mit seiner Sicht isoliert und als einzigen Verlierer in einem siegreichen Krieg diskreditiert. Damit übernimmt er in Ansätzen die Rolle, die bei Dracontius dem Gott Apoll zukommt, der natürlich damit viel wirkungsvoller ist. Fata ueto ist eine Umkehrung des seit Verg. Aen. 8,398 immer wieder anzutreffenden Gedankens der fata uetantia. Veto und arceo können als konative Präsensformen aufgefaßt werden (H-S 316). Fixus im Sinne von certus, immutabilis, weitere Beispiele s. ThLL VI 1,719,79ff. Für casus im Sinne von ‘Unglück, Tod’ s. ThLL III 577,41ff. 132 Dieser Vers erweckt den Eindruck, Helenus teilte sein Schicksal mit Kassandra, deren Vorhersagen grundsätzlich nicht geglaubt werden. Aduersis signis als Ablativ der begleitenden Umstände, wobei signum in der Bedeutung ‘Vorzeichen’ zu verstehen ist (und sei es nur ein intuitives Gefühl, aus dem Helenus seine Ahnung der Zukunft speist; vgl. OLD 1759f. 5b). prudentia Für die Bedeutung ‘Vorsehung’, die seit Cicero belegt ist, s. ThLL X 2,2380,10ff. Unter den zahlreichen Belegstellen ist Verg. Aen. 3,433 (si qua est Heleno prudentia uati) hervorzuheben, da Helenus an dieser Stelle selbst spricht, die Dichter also an beiden Stellen Helenus seine Sehergabe prudentia nennen lassen. 133 me fortuna potens exspectat Pyrrhus et ingens Der von IANNELLI aus der metrisch fehlerhaften Überlieferung (et Pyrrhus ingens expectat) hergestellte Vers ist ein gut gangbarer Weg, der inhaltlich unproblematisch ist (vielleicht überraschendes ingens auf Personen läßt sich, auch in der Bedeutung ‘mächtig’, gut

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belegen: ThLL VII 1,1540,20ff., wenn auch singulär auf Pyrrhus; auch diese dadurch im Vergleich zur ‘Aeneis’ entstehende auffällig positive Zeichnung des Pyrrhus-Neoptolemos ist in der Situation des Helenus gut zu begründen; vielleicht spielt der Dichter mit Hor. carm. 3,6,35f. Pyrrhumque et ingentem cecidit / Antiochum Hannibalemque dirum, ZWIERLEIN BT z. St.). Als potentielle Fehlergenese mag man sich vorstellen, daß das Prädikat in einer der Vorlagen zunächst ausgefallen ist, später am Rand nachgetragen, und vom nächsten Kopisten ans Ende des Verses gesetzt worden ist. Etwas schwierig und letztlich unbefriedigend ist allein der Versschluß mit dem nachgestellten et am Satzende und gleichzeitig am Redeende. Die Junktur fortuna potens Octavia 377 (wenn man nicht mit SIEGMUND impotens schreiben muß), Ser. med. 948, Anth. 629 R.,1, Auson. 11,18,3 GREEN. 134–182 Rede der Kassandra Die Rede der Kassandra137, als Suasorie gestaltet, umfaßt 47 ½ Verse, die folgendermaßen gegliedert werden können: 135–136 Invektivische Fragen 137–151 Verhalten der Mutter gegenüber Paris und daraus resultierendes Unglück 139–142 Hektors Schicksal (bezogen auf das Verhalten der Mutter in dieser Situation) 143–144a Eigenes Schicksal 144b–146 Priamus, Hekabe, Astyanax 147–149a Paris 149b–151 Taten des Pyrrhus im Krieg 152–154 Schuld des Priamus138 155–159a Aufruf an Troilos und Hektor endet mit Resignation 159b–161 Aufruf an die Umstehenden zum Handeln 162–182 Notwendigkeit, Paris zu töten; Priesteramt als Lohn Daraus ergibt sich annähernd eine Grobgliederung im Verhältnis 1:2, wobei der Anfang des zweiten Teils, die Verse 152–154, eine Scharnierstellung einnehmen. Der Inhalt des ersten Teils bezieht sich auf die Zukunft und das grausame Schicksal im Krieg, das sich aus dem Verhalten der Mutter gegenüber Paris ergibt. An der Scharnierstelle wird dagegen die Schuld des Priamus betrachtet, der der Stellung als Schwiegervater gemeinsam mit Jupiter Stadt und Familie opfern wolle. Nach der Resignation über das Verhalten des Vaters und der Mutter wendet sich Kassandra an die tapfersten unter ihren Brüdern, Troilos und Hektor. Wenn schon die Eltern nicht gegen ihre Liebe ankommen, dann sollen wenigstens sie vernünftig 137 Zur Figur der Zwillingsschwester des Helenus in der antiken Literatur s. NEBLUNG 1997. In Romul. 8 entspricht die Darstellung der Seherin dem aus der Tradition bekannten Bild. Im ‘Orestes’ läßt Dracontius ihr, entgegen dem bekannten Mythos, Glauben schenken (Orest. 162– 204), NEBLUNG 1997, 215. 138 GUERRIERI 2016, 12 faßt größere Abschnitte. Er gliedert 152–159 und 159–182.

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III Kommentar

sein und sich gegen den Bruder stellen, während die Seherin ihnen ihr Schicksal vor Augen malt. Ebenso wendet sie sich später an die übrigen Bürger (159f.). Man spürt in der Gestaltung der Rede förmlich das Ringen der Kassandra um eine Möglichkeit, doch erhört zu werden: Sie stellt die Realität des Krieges an Einzelschicksalen dar (Hektor, um Hekabe zu bewegen), sie macht Vorwürfe (an Priamus), sie treibt zum Handeln an vor dem Hintergrund der kommenden Ereignisse (Troilos und Hektor). Dazwischen stehen Stellen der Resignation: Zwei Halbverse (152a und 159a), in dem Schwall der verschiedenen Kriegsaspekte beinahe zu überlesen, deuten an, wie auch sie kurz vor der Verzweiflung steht.139 An dieser Rede lassen sich verschiedenste Aspekte beobachten: Grundsätzlich steht sie der Rede des Helenus, zumindest zu Beginn, inhaltlich und formal sehr nahe (s. dazu unten die Gegenüberstellung der beiden Reden und Redner, S. 235). Sie gibt sich zu weiten Teilen als eine Zerdehnung der Helenus-Rede. Dies ist, was die Thematik angeht, nicht weiter verwunderlich, da beide Redner dasselbe Ziel und denselben Anlaß haben. Doch daß gerade Kassandra länger, ergriffener, heftiger spricht, mag an ihrer Grundkonstitution einer furibunda sacerdos liegen. Anders als Helenus jedoch gibt Kassandra am Ende nicht resigniert auf (auch wenn sich im Laufe der Rede Spuren von Resignation feststellen lassen, z. B. 152) und sich ihrem Schicksal hin, sondern fordert bis zum Schluß die Abwendung des Schicksals durch den Tod des Paris.140 Als Grundlage für diesen kämpferischen Charakter der Rede muß zum einen der Umgang der Kassandra mit den fata gesehen werden, zum anderen auch die Figur der Seherin insgesamt, deren Schicksal in der stets ungehörten Vorhersage liegt (prouida non credor 159).141 Das Konzept der furibunda sacerdos wird in der Rede vollständig durchgeführt. Die Seherin fügt sich nicht in ihr Schicksal und das der Stadt Troja.142 Die fata werden von Kassandra zweimal erwähnt, in beiden Fällen sind sie nicht im Sinne eines großen unumgänglichen, vorherbestimmten Schicksals zu verstehen.143 So sieht sie zwar, was geschehen kann, ist aber davon überzeugt, daß das grausame Schicksal bei geeigneten Handlungsschritten aufzuhalten und zu verändern ist. In diesem Punkt unterscheidet sie sich ganz deutlich von ihrem Bruder. 139 Diesen Aspekt der tiefen Verzweiflung scheint SIMONS 2005, 292f. nicht zu berücksichtigen, wenn sie Kassandra als „zu einer grausamen Priesterin, die ein Menschenopfer fordert, umgestaltet“ empfindet, und mit einer Distanz des Autors rechnet. 140 GALLI MILIĆ 2016, 202 macht keinen Unterschied zwischen den beiden Seherreden. 141 Dem Mythos zufolge verliebte sich Apoll in Kassandra und versprach ihr die Sehergabe als Geschenk für ihre Liebe. Sie entzog sich ihm schließlich doch und er bestrafte sie damit, daß man ihr ihre Voraussagen nicht glaubt (z. B. bezeugt bei Apollod. bibl. 3,151; Aesch. Ag. 1202). Dracontius scheint damit zu spielen, wenn er im Anschluß Apoll selbst die Ankündigungen der Kassandra zunichte machen läßt. 142 Unklar bleibt (für die Wirkung der Rede jedoch unerheblich), ob dies als Resultat ihres persönlichen Schicksals zu deuten ist, das sie zwingt, immer wieder nutzlose Vorhersagen zu machen, oder an ihrer wirklichen Überzeugung, das Schicksal selbst zu bestimmen. GUERRIERI 2016, 13 betont die Irrationalität der Äußerungen, die zu der „rasenden Seherin“ gehöre. 143 156 synonym zu mortes und in 162 steht es im Sinne einer prodigienhaften Vorhersage für den Traum der Hekabe von der Fackel; s. auch jeweils den Kommentar z. St.

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Daß man schließlich weder auf sie noch auf Helenus hört, findet in der Konzeption des Dracontius im Auftritt des Apoll seine Begründung, der das in der Figur der Kassandra traditionell angelegte fehlende Vertrauen in ihre Vorhersagen noch zusätzlich unterstützt. Neben der Vorstellung Kassandras über das fatum können dieser Rede auch Hinweise auf ihr Götterverständnis entnommen werden, wobei besonders die Verse 166–168 aufschlußreich sind: Man erfährt, daß Jupiter offensichtlich für seine Frau Partei ergreift, daß Vulkan auf der Seite seiner geliebten Venus steht und daß Minerva, als einzige ständig mit uirgo bezeichnet, anscheinend allein steht. Interessanterweise ergibt sich daraus ein geordnetes Verhältnis zwischen den Göttern, kein Wort von den Eskapaden Jupiters und dem Stelldichein der Venus mit Mars.144 Besonders betont werden muß dabei die Rolle Jupiters, der anders als in der klassischen Mythenvariante, in der er selbst Paris auswählt, um die Entscheidung über die Schönheit der Göttinnen zu treffen, hier offensichtlich parteiisch, mit dem Urteil des Paris nicht zufrieden ist, so daß auch er, in der Darstellung der Kassandra, besänftigt werden muß.145 Vor dem Hintergrund dieser perfekten Götterwelt wirkt Paris noch weit überheblicher und ganz allein verantwortlich für den Verlauf der Dinge. Als schlüssig ist daher auch die Forderung der Kassandra nach dem Tod des Paris zu bewerten. Die Intervention Apolls in der folgenden Szene paßt genau in diese Vorstellung der Götter hinein, nur äußert sie sich anders als erwartet. Apoll ist damals nicht gerächt worden, als man ihn um seinen Lohn geprellt hat. Und dafür kommt er jetzt und stürzt alle ins Verderben. Genau diese Situation antizipiert Kassandra in ihrer Rede, aber eben mit Blick auf Paris, nicht auf Laomedon: Ein Mensch tut einen Frevel gegen die Götter und die Strafe trifft eine viel größere Gruppe. Das Genus dieser Rede wird in der Forschung gemeinhin und zu Recht als Suasorie146 bezeichnet, weil sie sich wie eine politisch-beratende Rede gibt.147 Das Thema bleibt ungenannt, ergibt sich aber aus der Situation: Soll Paris in die Stadt und in die Familie aufgenommen werden? Die Antwort der Kassandra ist nicht abwägend, sondern ganz klar ablehnend-negativ. 144 S. auch den Kommentar zu 166–168. 145 Daß Jupiter beleidigt ist von der Wahl des Paris, zeugt von einem Bild des Gottes, das in der ‘Ilias’ und in der ‘Aeneis’ so noch nicht begegnet. Bei Vergil ist Iuno zornig über das Urteil (Verg. Aen. 1,27) und läßt dies Venus und die Aeneaden das ganze Werk über spüren, Jupiter aber bleibt davon unberührt und stets ein unparteiischer Göttervater. BRETZIGHEIMER 2010, 375 hält diese Version des Dracontius für eine amüsante Spiegelung des „sophistischen Schachzugs, mit dem sich der Göttervater eines ästhetischen Urteils enthält.“ Zu Recht betont sie dabei auch, wie wenig es dem Dichter auf eine epische Ausgestaltung der Episode ankomme. 146 Zur Gattung s. GERNOT KRAPINGER: Suasoria, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 9, Tübingen 2009, 245–255, STEFAN FEDDERN: Die Suasorien des älteren Seneca. Einleitung, Text und Kommentar, Berlin / Boston 2013, 1ff. Deklamationen in Versform, für die Dracontius mit Romul. 4, 5 und 9 sowie Anth. 21 R. = 8 Sh.-B. die erhaltenen Beispiele darstellen, könnten vielleicht auch Teil der Ausbildung an Rhetorenschulen gewesen sein (MCGILL 2005, 158, Anm. 35). Vgl. ausführlich zu den Gedichten STOEHR-MONJOU 2015 (b) und WOLFF 2015 (b). 147 Z. B. PROVANA 1912, 47; 69, WOLFF 1996, z. St.

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III Kommentar

Ein der Theorie nach klassisches Suasorienthema der Rhetorenschule („politisch-ethische Fragestellung“)148 wird von Dracontius in die Situation selbst gestellt und von der puren Rhetorikübung der Schule unabhängig gemacht. Möglich ist dies tatsächlich nur, indem der Dichter einer Seherin die Rede in den Mund legt. Denn auch der Redner der Rhetorenschule, der über ein historisches oder mythologisches Thema sprechen soll, besitzt den Überblick über Vergangenheit und Zukunft des behandelten Themas. Die Herstellung dieser für eine Suasorie typischen Voraussetzung in der Situation des Redethemas selbst, ist nur zu erreichen, wenn ein Seher die Rede hält, der bereits vorher den Ausgang der Ereignisse kennt und dementsprechend Ratschläge erteilen kann. Dadurch ergibt sich für die Zuhörer das sicher beabsichtigte Problem, daß sie außer Stande sind, große Teile der Rede zu verstehen, weil ihnen der nötige Überblick fehlt.149 Denn Kassandra erklärt den Zuhörern nicht, was sie sieht und wie es zustande kommen wird, sondern argumentiert mit den einzelnen Elementen des zukünftigen Krieges. Für ihr „Publikum“ kann jedoch der Kausalzusammenhang zwischen der Aufnahme des Paris in die Stadt und den Schreckensbildern des Krieges nicht deutlich sein. So läßt sich der Unglaube der Trojaner an die Äußerungen der Seherin freilich zum einen mit dem Schicksal der Kassandra selbst erklären, zum anderen aber auch mit dem völligen Unverständnis, das die Zuhörer gehabt haben müssen. Das Unverständnis könnte besonders auf Seiten der Hekabe und des Priamus, denen geradezu Vorwürfe gemacht werden (135f. 137f. 152–154), zu Verstimmung und perplexem Zorn führen. Auch die Darstellung des Paris in dieser Rede besitzt argumentatives Gewicht: So wird er gleich zu Beginn (138) als pastor gegen seine Brüder, die reges (139), gestellt und damit schon der sozialen Stellung nach abgewertet. Mit den Begriffen nefas (165) und sacrilegus (167) beschreibt sie ihn thematisch passend, wenn sie die Sühnung der Stadt durch sein Opfer propagiert. Dieses Menschenopfer150, das Kassandra in ihrer Rede mit einem Gleichnis aus dem Bereich der Medizin (171–175a) begründet, zudem als eines, das viel humaner ist als die bekannten Menschenopfer, wo Unschuldige für eine ganze Stadt sterben müssen, wirkt als Schlußfolgerung aus der Argumentation heraus sehr logisch. Es 148 GERNOT KRAPINGER: Suasoria, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 9, Tübingen 2009, 245–255, hier 247. Das gesamte Themenspektrum der Schulreden ist heute nicht mehr vollständig zu greifen. Da Dracontius sich in Romul. 9 einem klassischen Thema widmet (die Beratung Achills behandelt schon Aristoteles, Rhet. II 22, 1396a 25), kann vielleicht geschlossen werden, daß auch die Frage, ob Paris in die Stadt aufgenommen werden sollte, eine typische Themenstellung gewesen ist (vielleicht abgeleitet von den Ereignissen bei Ennius, wenn in seinem ‘Alexander’ Kassandra tatsächlich gleich bei der Anagnorisisszene den Untergang Trojas vorhersieht. Vgl. aber die umstrittene Anordnung von Enn. scaen. 54–71 V. = 32–49 Jocelyn = 151 TrRF (JOCELYN 1969, 76; 207f.). 149 So auch BRIGHT 1987, 99, NEBLUNG 1997, 210f. 150 Menschenopfer hat es in der griechischen und römischen Antike hin und wieder gegeben und zwar in Momenten, in denen ein Tieropfer als nicht mehr ausreichend angesehen wurde, d. h. in besonderen Notsituationen konnte man sich dieses wert- und wirkungsvolleren Opfers bedienen (JOHN SCHEID: Menschenopfer, DNP 7, 1253–1258). Bei Dracontius findet sich das Thema unter unterschiedlichen Aspekten noch laud. dei 3,118–124. 217–221, Romul. 5,138– 151; 10,178–181.

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kann leicht eine Erfindung des Dracontius sein, der mit Iphigenie bereits ein Menschenopfer innerhalb des trojanischen Sagenkreises vorgefunden hat.151 Im Unterschied zu jenem Opfer geht es hier nur einerseits um das Opfer an sich zur Besänftigung der verärgerten Gottheiten. Auf der anderen Seite steht die Beseitigung des und die absolute Abgrenzung vom Übeltäter. Das Motiv, daß von einem Familienmitglied (vom Geist des Agamemnon), zum Mord an einem anderen Familienmitglied (Aegisth) wiederum durch einen Angehörigen der Familie (Orestes und Pylades) aufgerufen wird, findet sich auch Orest. 537–551: ‘… armati gladios in bella domestica ferte atque adfine nefas cognato abscindite ferro: nullum crimen erit matrem punisse nocentem, morte maritali sceleratam iure necabis. natus amore pio flammatus morte paterna uindicet ut patrem qui matrem strauerit ictam, crimina purgabit matris de tempore prisco; nam patrem docet esse suum quem uindicat armis, dignus adulterii uindex, pius ultor et heres noster, amor Danaum, sunt odia saeua deorum. ite pares animis: uobiscum uernula turba sentiet, irati potius quod tardius itis. ore fremunt famuli, qui carpere dentibus optant corpus Egisteum uel uiuum, tradere flammis coniugis infandae crudelia membra cremanda.’

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Die Helenus- und die Kassandra-Rede in Gegenüberstellung152 Beide Seherreden werden aus dem gleichen Anlaß gehalten, der Ankunft des Paris in Troja und der Freude der Eltern darüber. Sie verfolgen auch beide das gleiche Ziel, die Aufnahme des Paris in Troja zu verhindern. So ist es einzusehen, daß beide Reden einander sowohl inhaltlich als auch formal ähneln, obwohl sie nicht aufeinander Bezug nehmen können, da Kassandra die Rede des Bruders nicht oder zumindest nicht ganz hört (sie kommt, während er spricht, V. 134). Beide beginnen mit zwei invektivischen Fragen an die Eltern, bei Helenus zuerst an den Vater, bei Kassandra zuerst an die Mutter, was an ihre Position bei der 151 Ganz neu scheint die Idee jedoch auch mit Blick auf Paris nicht zu sein. Eine Andeutung, daß Paris besser tot sein sollte und es sein könnte, wären die Trojaner nicht so feige, macht schon Hektor in der ‘Ilias’ (3,56f. ἀλλὰ μάλα Τρῶες δειδήμονες· ἦ τέ κεν ἤδη / λάϊνον ἕσσο χιτῶνα κακῶν ἕνεχ’, ὅσσα ἔοργας. S. ANTON BIERL / JOACHIM LATACZ (Hrsgg.): Homers Ilias. Gesamtkommentar (Basler Kommentar / BK), Band III. 3. Gesang, Faszikel 2: Kommentar, Berlin 2009, 35). 152 Vgl. die kurzen Beobachtungen bei MORELLI 1912, 100f., WOLFF 1996, 131, GUERRIERI 2016, 13. Zwei Seherreden finden sich schon in den ‘Kyprien’, wie uns die Zusammenfassung des Proklos mitteilt, allerdings erst direkt vor der Abfahrt des Paris (Procl. Chrest. 91–94 [Severyns]; s. GUERRIERI 2016, 20f.). Gegen eine Aufnahme des hölzernen Pferdes in Troja sprechen laut Apollod. epit. E17f. bzw. S17f. sowohl Laokoon als auch Kassandra.

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III Kommentar

Prozession erinnert (88). Danach wenden sich beide zur Mutter, Helenus verweist auf die fax, durch die ganz Troja zerstört würde, dann nennt er Details aus dem Krieg; Kassandra kritisiert die ungleich verteilte Liebe der Mutter und den daraus resultierenden Untergang der Stadt. Die Kriegsdetails sind bei Helenus eher technischer Natur (Verschwörung der Griechen, Lärm im Lager, Schiffe, Tod von Troilos und Hektor), in Kassandras Schilderung hingegen eher emotional (Hektors Leiche und Rückkauf, Tod des Astyanax; dann auch Pyrrhus und seine Taten), sie macht das Leid ausführlich an Namen und Personen fest. Die Seherin wirft beiden Elternteilen ihr falsches Verhalten vor: Der Mutter ihre falsche Mutterliebe, dem Vater die potentielle Verwandtschaftsbeziehung zu Jupiter als Antrieb zum Handeln. Helenus beendet seine Rede mit Resignation, daß alles Reden nichts nütze, und dem Hinweis auf sein eigenes Schicksal, mit dem er zufrieden zu sein scheint (fortuna 133). Kassandra aber nennt ihr eigenes Schicksal unter den Kriegsdetails nur als eines von mehreren Ereignissen. Daß auch sie zwischendurch resigniert, zeigen die Sätze sed quid uana cano? (152) und prouida non credor (159), um aber jeweils heftiger weiterzusprechen und zu fordern. Nach etwa der Hälfte ihrer Rede (und wohl einer kurzen Atempause nach prouida non credor) ruft Kassandra die umstehenden ciues auf, Paris aus der Stadt zu werfen (160f.), später auch ihn zu töten (ab 165), um die Götter (Iuno, Minerva, Jupiter) zu versöhnen. Paris bezeichnet sie als pignus acerbum und nefas. Mit einem Gleichnis aus der Medizin unterstützt Kassandra ihre Forderung: Wie in der Medizin manchmal Schmerzen vergrößert werden, um am Ende Gesundheit zu erreichen, so führt der Tod bzw. die Verbannung des Paris, die große Schmerzen für die Eltern bedeuten, letztlich zum Erhalt der Stadt und der Familie. Den Abschluß ihrer Rede bildet das Angebot für den Strafvollzieher, Priester zu werden an ihrer oder an Helenus’ und Laokoons Statt. Beide Seherreden sind recht parallel gestaltet, sie nehmen indirekt aufeinander Bezug. Ein Hinweis auf Achill und Pyrrhus auf Seiten der Griechen, Hektor und Troilos auf Seiten der Trojaner ist bei beiden mit verschiedenem Akzent zu finden. Helenus stellt eher die Fakten in den Vordergrund, Troilos bringt ihn zu einer emotionalen Äußerung über dessen Jugend; Pyrrhus wird genannt als der, der für sein Schicksal verantwortlich ist. Kassandra betont, daß beide, Hektor und Troilos, obwohl unschuldig, von Achill auf verschiedene Arten umgebracht werden; sie schildert ausführlich die Taten des Pyrrhus im Krieg. In direkter Gegenüberstellung wird sichtbar, daß nicht nur Helenus vom vergilischen Laokoon beeinflußt ist, wie SIMONS zeigen will, sondern mindestens genauso auch Kassandra: SIMONS153 stellt die Verbindung Helenus – Laokoon durch die Signalworte et procul (Verg. Aen. 2,42, Romul. 8,120) her, mit denen sowohl hier, als auch in der ‘Aeneis’ die Ankunft des Sehers eingeleitet wird. Viel deutlicher sind aber m. E. die Anklänge zwischen Kassandra und Laokoon. Leicht kann die Cassandra furibunda in Beziehung zum Laocoon ardens (Verg. Aen. 2,41) gesetzt werden, auch wenn Kassandra ohnehin im allgemeinen als eine rasende 153 SIMONS 2005, 245, Anm. 84.

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Seherin gilt.154 Der Hauptbezugspunkt aber ist ein anderer: Die Konsequenz, mit der beide Seher/Priester den Tod bzw. das Fernhalten des Feindes fordern. Nach seiner kurzen Rede (Verg. Aen. 2,42–49) nimmt Laokoon einen Speer und schleudert ihn gegen das hölzerne Pferd (Verg. Aen. 2,50–52); der richtet zwar nichts aus, aber der Priester hat damit deutlich seinen Entschluß gezeigt, allein kann er nur nichts gegen das riesige Ungetüm machen. Vor dieser Folie ist die Forderung Kassandras nach dem Tod des Bruders zu sehen. Vielleicht kann sie als Frau nicht hingehen und den Paris angreifen, aber Sache der Priester wäre es schon, wie sie zeigen will. Denn sie bietet dem, der tätig wird, eine Stelle als Priester, sei es ihre, sei es die ihres Zwillingsbruders oder des Laokoon (der hier zum ersten und einzigen Mal im Werk begegnet). 134 dum loquitur Recht häufige Verbindung seit Ov. ars 1,167. Cassandra … furibunda sacerdos Die rasende Kassandra, als Ausdruck ihrer intuitiven Sehergabe, ist fast zum Topos geworden: Cic. div. 1,85 furens, Verg. Aen. 10,68 impulsus furiis (furibundus von Sehern noch Cic. div. 1,114 [ähnlich 1,4], Ov. met. 14,107, vgl. auch Orest. 136 sacro correpta furore); das topische furere der Seherin kann hier vom situativen kaum getrennt werden. Kassandras Doppelfunktion als Priesterin und Seherin wird in der Zusammenstellung furibunda sacerdos besonders deutlich. Kassandra ist Priesterin des Gottes Apoll, ebenso wie Helenus und Laokoon, der in der ‘Aeneis’ vor dem Untergang Trojas warnt und die Gefahr schon sieht. Die Verbindung Cassandra sacerdos begegnet noch Serv. auct. Aen. 2,616, Drac. Orest. 133. 513. 135 matrem complexa canit Complecti ist sicher kein liebevolles Umarmen der Mutter von Seiten der Tochter: Denn zum einen ist Hekabe wohl noch dabei, Paris zu umarmen und zu küssen (160 der Aufruf, die Umarmungen auseinanderzureißen); zum anderen paßte dies nicht zur Stimmung, die in der Rede erregt wird. Man wird sich daher ein aktiv-aufrüttelndes Zupacken, vielleicht sogar von hinten her, vorstellen dürfen (diese Bedeutung läßt sich zumindest für das Mittellatein belegen, s. MLW II 1071,22f., ‘packen’, Waltharius 750 crines, so daß Vorläufer dieser Bedeutung sicher auch für die Spätantike postuliert werden können). Für canere bei Sehern s. ThLL III 271,12ff. 135f. quid, mater iniqua, / quid, pater infelix, quid funera nostra paratis? Das anaphorische quid unterstützt hämmernd die drängende Frage, die mit den beiden Vokativen und dem wiederkehrenden quid lange Anlauf nimmt, bis sie zur herben Anklage funera nostra paratis gelangt. Während Helenus zuerst den Vater anspricht (120), wie er denn auch zuvor bei der Prozession näher bei ihm stand (88), wendet sich seine Schwester zuerst an die Mutter, die sie zuvor begleitet hatte (88). Diese nennt sie iniqua, eine Spezialisierung des pessima aus der Vorrede (120). Kassandra wirft Hekabe vor, ihren Kindern 154 Nicht angeführt wird sie bei HERSHKOWITZ 1998; s. dort besonders 35–48 für furor bei Seherinnen.

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gegenüber ungerecht zu sein, was sie in den folgenden Versen ausführt: Einen einzigen würde sie bevorzugen, nämlich diesen Hirten. Priamus erhielt schon V. 79 das Epitheton infelix (s. dort). Hier hat infelix aber die für Personen selten belegte aktive Bedeutung (ThLL VII 1,1362,67f.). Die Frage quid funera nostra paratis entspricht in der Helenus-Rede dem quid perditis urbem (121). Funus in der Bedeutung ‘Tod, Untergang’ (ThLL VI 1,1604,52ff.). 137 immemor heu pietas Kassandra beantwortet ihre Frage damit gleich selbst. Der Blick zurück auf die Vorzeichen von Hekabes Schwangerschaft wird den Eltern durch das glückliche Wiedersehen mit dem verlorenen Sohn verstellt (immemor). Sie können oder wollen sich nicht an den Traum von der Fackel, die Hekabe gebären sollte, an den Grund, weshalb Paris damals ausgesetzt wurde, erinnern. 137–139 uni pia mater haberis / pastoremque foues, sed multis impia constas / regibus Allein Paris erlebt seine Mutter in diesem Moment als liebend, alle anderen werden durch ihr Verhalten dem Untergang geweiht. Der Satz ist von Gegensätzen durchzogen: unus – multi, pius – impius, pastor – reges, durch die einerseits die Unverschämtheit des mütterlichen Handelns, andererseits die Tatsache, daß Paris als pastor außerhalb der Königsfamilie steht, auch stilistisch deutlich gemacht wird. Haberi ist wie esse zu verstehen (ThLL VI 3,2459,69f.; für haberi als kopulaartiges Wort s. K-S 15), in gleicher Funktion constas (ThLL IV 531,77; ROSSBERG 1887 [a], 48), wie V. 10, jedoch läßt sich durchaus eine semantische Unterscheidung vornehmen. Durch die Varianten wird der Gegensatz zwischen Schein und Sein aufgemacht. Haberi erscheint also eher in der Bedeutung ‘sich geben’, während hinter constare ‘tatsächlich sein’ zu lesen ist. Mit reges werden die trojanischen Prinzen bezeichnet und damit die übrigen Söhne der Hekabe (WOLFF 1996, z. St.; für die Verwendung von rex in der Bedeutung dux vgl. z. B. Verg. Aen. 2,88; 9,223, Val. Fl. 4,543, Stat. Ach. 1,156, Cic. Ver. II 4,61). Pia mater ist ein fast stehendes Bild (ThLL X 1,2232,45ff.), impia das sich daraus logisch entwickelnde Gegenbild. In fouere schwingt an dieser Stelle die Bedeutung ‘umarmen’ sicher mit (für Beispiele s. ThLL VI 1,1219,32ff.), weil dies der Kassandra gerade vor Augen steht, jedoch liegt der Hauptaspekt wohl auf ‘lieben, bevorzugen, unterstützen’ (ThLL VI 1,1222,8ff.), s. auch zu 28. 139 Hectoreum supplex emptura cadauer Entgegen der bekannteren Version dieser Geschichte, die im 24. Gesang der ‘Ilias’ zu finden ist (485ff.), wird hier nicht Priamus, sondern Hekabe darum bitten, den Leichnam Hektors loskaufen zu dürfen. Die kleine Änderung wird mit Blick auf das Prooem in seiner Bedeutung verständlich: In 9f. wurde die Bedeutung der Mutter für die Fortpflanzung herausgehoben, die allein in den Fötus eingeht, ohne den Vater. Daraus muß in der Vorstellung des Dracontius notwendigerweise eine sehr enge Verbindung zwischen Mutter und Kind entstehen, die offensichtlich enger ist als zwischen Vater und Kind. Der Mutter vor Augen zu stellen, wie sie nur den geschundenen Leichnam ihres lieben

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Sohnes, des besten Kämpfers der Trojaner, supplex, ganz unter ihrer Würde als Königin, zurückkaufen muß, soll an ihre Liebe und Vernunft appellieren. Daß Dracontius Kassandra hier ausführlich gerade über Hektor berichten läßt, mag mit dem Bild, das die ‘Ilias’ über das Verhältnis Kassandra-Hektor mitteilt, zusammenhängen, nach der die Seherin im 24. Gesang explizit über mehrere Verse hinweg (699– 706) um ihren toten Bruder trauert und damit eine besondere Beziehung deutlich gemacht wird. Die Junktur Hectoreum cadauer noch Romul. 9,78 (später Coripp. Ioh. 1,179); das Adjektiv vertritt den Genitiv des Namens (WOLFF 1996, z. St.; vgl. aber für den Gedanken auch Romul. 9,44 funeris Hectorei poscens exsangue cadauer). Emptura ist als erste Aussage über die Zukunft die erste Futurform in der Rede der Kassandra. Das Partizip dürfte eine final-konsekutive Färbung aufweisen, so daß der unwürdige Rückkauf des Hektor als Konsequenz des Verhaltens gegenüber der Familie zu verstehen ist. 140 per montes per saxa datum Das in diesem Zusammenhang zunächst merkwürdige datum steht hier für tractum (VOLLMER MGH 341, WESTHOFF 1883, 47). Aber datum ist weit raffinierter als ein bloßes tractum, weil datum die Grausamkeit der Handlung noch deutlicher vor Augen stellt. Nicht nur das bloße Ziehen des Leichnams über den harten Untergrund, sondern geradezu das Ausbreiten darüber wie einen Teppich, wenn Blut und Hautfetzen am Gestein (mons und saxum als dramatisierende Übertreibungen) hängen bleiben, wird in die Vorstellung einbezogen (vgl. dazu ThLL V 1,1671,35f. 57f.). Zum anderen fügt es sich brillant in die Terminologie des Verkaufswesens ein, die mit emere (139) und uendere (140) in den umstehenden Versen begegnet – der geschundene Körper wird auf einer anderen Ebene gleichsam zum Kauf angeboten. Vgl. für das Ereignis V. 128 und Romul. 9,76 post Hectora tractum. Für die asyndetische Anapher mit per s. auch 111. 140f. nec uenditur Hector / integer Das Schleifen um die Stadtmauer hinterläßt seine Spuren auf dem Leichnam, der dementsprechend geschunden zurückgegeben wird. Nec hat hier den Sinn ‘und daher, deshalb’ und schließt an per montes per saxa datum an (für die verschiedenen Färbungen, die bei neque ebenso wie bei et möglich sind, s. K-S II 42). Für das Präsens uenditur in der Prophetie s. zu 124 coniurat. Die Form uenditur statt uenit auch Romul. 9,215 (in Romul. 9 jedoch auch klassische Formen, 216. 219), s. H-S 288. 141f. et lacerum retines pro pignore corpus / funeris Hectorei pretio maiore redemptum Hektor wurde für Geld und andere Reichtümer losgekauft (z. B. Verg. Aen. 1,484, ausführlich mit Beschreibung der Menge Il. 24,229–236; vgl. auch Romul. 9,215 uendatur ceu uiuus adhuc nec munere paruo, wobei nec munere paruo exakt pretio maiore entspricht.). Das von BAEHRENS aus dem überlieferten, aber nicht gut verständlichen retinet gewonnene retines ergibt inhaltlich ein ὕστερον πρότερον (im Sinne von tenes, ZWIERLEIN BT z. St.; er schlägt zögernd als Alternative das Verständnis im Sinne von accipies mit Verweis auf Romul. 9,140 vor). Aus diesem Grund spricht einiges für das von BÜCHELER konjizierte rediet (auch weil dann kein Subjektswechsel zustande kommt). Trotzdem ist retines (auch

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wegen der äußerst großen paläographischen Nähe) vorzuziehen, weil Hektor dann wie zuvor bei uenditur der Gegenstand fremder Handlung bleibt; die direkte, dramatische Ansprache an Hekabe in der zweiten Person (auch wenn der Subjektswechsel in Kauf genommen werden muß), erweist sich in der Situation wirkungsvoller. Corpus (ThLL IV 1018,3ff.; vgl. besonders Verg. Aen. 2,542f. corpus … / … Hectoreum) und funeris Hectorei (ThLL VI 1,1605,36ff.; vgl. Stat. Ach. 1,88, Dict. 4,1, Romul. 9,44) besitzen beide die Bedeutung ‘Leichnam’ und sind daher redundant (WOLFF 1996, z. St.), wobei der Ausdruck durch den Zusatz des Genitivs (funus in der Grundbedeutung ‘Begräbnis’ mag übertragen sein auf das, was mit einer Leiche geschieht, hier die Schändung durch Achill) drastischer wird. Die Junktur lacerum corpus ist eine Variation des schon von Ennius scaen. 73 V. = 70 Jocelyn = 21,2 TrRF in Verbindung mit Hektor gesagten lacerato corpore (die Verbindung sonst auch Ov. met. 6,562; 9,195, fast. 6,744, Gratt. 408, Sen. Phaedr. 1256 u. ö.). Das Adjektiv lacer dürfte an dieser Stelle konzessiven Charakter haben, wenn man die oben bereits zitierte korrespondierende Stelle aus Romul. 9 zugrunde legt. Pretio maiore ist Ablativus pretii (Romul. 9,216 nennt als Preis das Gewicht des Hektor, vorgeprägt in Lycophron Alex. 269ff.). 143 me stuprum per templa manet Wie schon Helenus kommt nun auch Kassandra im Laufe ihrer Rede auf ihr eigenes zukünftiges Schicksal zu sprechen, das keineswegs rosiger aussieht als das der anderen – sie wird, obwohl asylsuchend, am Standbild der Athene vom kleinen Ajax geschändet (vgl. zum Thema CHRISTINE DIETRICH: Asyl. Vergleichende Untersuchung zu einer Rechtssituation im Alten Israel und seiner Umwelt, Stuttgart 2008 [zu Kassandra 108f.]). In der ‘Ilias’ findet sich noch keine Erwähnung der Schändung, in der ‘Iliupersis’ wird vom Wegreißen vom Altar gesprochen, erst spätere Dichter, wohl seit dem Hellenismus mit Lycophron155 und Kallimachos, scheinen das Detail hinzugefügt zu haben (HEINRICH WILHELM STOLL: Kassandra, ROSCHER 2, 1, 977; JOHANNES TOEPFFER: Aias, RE 1, 1, 936–939).156 Per templa statt in templo (WOLFF 1996, z. St.; H-S 240 für die erweiterten Funktionen von per). 143f. me pessimus Aiax / inuadet Die Junktur pessimus Aiax ist singulär. Für die Bedeutung von inuadere s. ThLL VII 2,110,69ff., und zwar in der negativ-obszönen Konnotation ‘vergewaltigen’, wie sie sonst nur Nemes. ecl. 2,6 bietet (WOLFF 1996, z. St.). In diese Richtung, aber ohne Akkusativ der Person weist auch Verg. Aen. 6,623 (sc. pater) thalamum inuasit natae uetitosque hymenaeos. 144 pereunte domo Ablativus absolutus. Vgl für die Junktur Ov. met. 1,240. Sie läßt sich auf verschiedene Arten deuten: Entweder ist tatsächlich ganz neutral das Haus der Kassandra in Troja gemeint, das abbrennt, oder, wahrscheinlicher, denkt die Seherin an ihr Haus, ihre Familie (für diese Bedeutung vgl. ThLL V 1,1980,27). 155 S. ausführlich NEBLUNG 1997, 81ff. 156 Zum Problem NEBLUNG 1997, 13f.

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144f. iam Troia crematur / sed flammis, rex, ipse cares Dracontius spielt mit dem Feuer. Troja brennt nieder, der König Priamus wird von Pyrrhus niedergemetzelt (Verg. Aen. 2), aber er kann im Getümmel der Schlacht freilich keine gebührende Bestattung mit der Verbrennung (flammis als pars pro toto für die Bestattung auf dem Scheiterhaufen, vgl. ThLL VI 868,38) des Leichnams erhalten, die für einen Toten eigentlich gefordert wäre (s. dazu DENNIS GRAEN: Tod und Sterben in der Antike, Stuttgart 2011, 33ff.). Vgl. für das Spiel mit den Bildern Orest. 277 en caret igne rogi, dederat qui Pergama flammis (über Agamemnon, der von Aegisth bei seiner Heimkehr ermordet wurde); Vorbild dafür ist wohl Sen. Tro. 55f. caret sepulcro Priamus et flamma indiget / ardente Troia (ROSSBERG 1888, 34; WOLFF 1996, z. St.). Für cremare bei Städten s. ThLL VI 115,36f. Für den Versschluß s. auch 650 Troia cremetur. 145 iamque Hecuba latrat Die kurze Notiz verweist auf die Metamorphose der Hekabe in einen Hund, wie sie zuerst bei Euripides (Hekabe 1259ff.) faßbar ist. Die Verwandlung ist dort in eine Weissagung des Polymestor gekleidet, Hekabe werde als Hund vom Schiff nach Hellas aus ins Meer stürzen. Spätere Varianten (faßbar etwa bei Mythogr. 3,9,8) lassen sie von den Griechen gesteinigt werden bei ihrer heftigen Trauer um Polydorus oder Polyxena, wobei man unter dem Steinhaufen einen Hund mit feurigen Augen fand (Tzetzes ad Lycophr. 1176; vgl. Dio Chrys. 33,59 = PMG 47 (Page), Dict. 5,16, Plaut. Men. 714–718, Cic. Tusc. 3,63, Serv. Aen. 3,6). Schließlich verwandelt sie sich nach einer dritten Variante in einen Hund, als sie die Thraker als Rächer des Polymestor verfolgen (Ov. met. 13,565ff. [bes. 569 latrauit], Mythogr. 2,253). S. dazu OTTO HÖFER: Hekabe (1), ROSCHER 1, 1878–1883, hier 1882f. Es erfolgt ein überraschender Wechsel von der zweiten zur dritten Person, obwohl Hekabe noch direkt anwesend ist (WOLFF 1996, z. St.). 146 Astyanax Danais muro iactatur ab alto Nachdem Kassandra über das Schicksal der beiden ältesten Familienmitglieder geweissagt hat, kommt sie zum schrecklichen Schicksal des kleinen Astyanax, das auch schon im Prooem anklang (54). In der ‘Ilias’ deutet sich diese Todesart in einer Ahnung der Mutter schon an (24,734f.), in der ‘Iliupersis’ erfüllt sich diese, auch Euripides nutzt das Detail (Troad. 715–725), vgl. auch Enn. scaen. 82 V. = 100 Jocelyn = 179 TrRF Hectoris natum de Troiano muro iactari. In den verschiedenen Traditionen hat die Tat entweder Odysseus oder Neoptolemos zu verantworten (bei Seneca springt Astyanax selbst; RICHARD WAGNER: Astyanax, RE 2, 2, 1866–1867). Mit Danai ist sie hier keiner konkreten Person zugeordnet, sondern den Feinden an sich. Astyanax am Hexameteranfang noch Romul. 9,222. Danais ist Dativus auctoris. Der Versschluß erinnert ohne inhaltlichen Bezug an Verg. Aen. 1,3 iactatus et alto. 147 sic praestat Bellona nurum Wenn Bellona, die Kriegsgöttin, die normalerweise nicht für Eheschließungen zuständig ist, die Schwiegertochter bringt, dann

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steht die Ehe unter einem schlechten Vorzeichen. Das Motiv, diese Göttin zur Auslöserin des trojanischen Krieges zu machen und zur Verantwortlichen für diese Ehe, hat Dracontius von Statius (Ach. 1,34 fert Bellona nurum; als Oxymoron-Zitat, s. MOUSSY 1989, 429, Anm. 21) übernommen, der wiederum auf die Iuno-Rede im siebten Buch der vergilischen ‘Aeneis’ rekurriert (319): Bellona manet te pronuba (NUZZO 2012, 44). Die wörtliche Übernahme aus der ‘Achilleis’ des Statius stellt die beiden Figuren Thetis – die Sprecherin dieser Worte im Angesicht der Flotte des Paris, mit der er nach Troja zurückkehrt – und Kassandra nebeneinander, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden (sie stehen Paris gegenüber, wie er nach Troja kommt) und beide den Blick in die Zukunft haben. Dabei ist Thetis von der Unabänderlichkeit des Schicksals überzeugt, während Kassandra für die Abwendung kämpft. Die Erwähnung der Hochzeit von Paris und Helena bezeichnet GUERRIERI 2016, 12 als ὕστερον πρότερον, weil der Auslöser des Krieges mitten in die Elemente der Kriegsschilderung hineingestellt wird. M. E. wird dieses Faktum durch die Einleitung mit sic deutlich abgeschwächt. Es bringt nachträglich die Erläuterung: „so, auf diese Weise (mit dieser Wirkung)“ gibt Bellona eine Schwiegertochter. 147f. gener ipse Tonantis / Idaeus sic pastor erit Das Beiwort Jupiters Tonans und die Worte für Paris Idaeus pastor prallen durch das Enjambement aufeinander, wodurch das Adynaton des Standesunterschieds noch deutlicher wird. Helena, als Tochter Jupiters, macht ihn zum Schwiegersohn Jupiters (im Enkomion des Isokrates auf Helena, Kap. 42, ist der Wunsch, Schwiegersohn des Zeus zu werden, ausschlaggebend für die Wahl der Helena). Zu vergleichen ist vielleicht auch Romul. 10,314–316, wo es in einem Gleichnis über Agenor heißt: sic quondam tristis Agenor / concidit Europae senior fraudatus amore, / cum nesciret adhuc generum meruisse Tonantem. Als durchaus etwas Positives wird die Verwandtschaft mit Jupiter – in diesem Fall ist der Gott selbst der Schwiegersohn – betrachtet. 148 capiet … triumphum Greift voraus auf das Ende des Gedichts 638ff., wo der Einzug des Paris in Troja warnend-triumphal dargestellt wird (für diese Bedeutung OLD s. v. 1979,3). Alternativ kann auch einfach nur der Erfolg bei Helena gemeint sein (für diese Bedeutung OLD s. v. 1979,4). Für die Junktur s. Prop. 3,11,49 cape, Roma, triumphum und [Sen.] Herc. O. 562 cape hunc triumphum. 149 sed post ipse cadet Der Verswechsel macht den Absturz des Paris auch in der Textgestaltung deutlich, weil es ohne Einschnitt von ganz oben nach ganz unten geht: erst wird er Schwiegersohn Jupiters und ist erfolgreich, dann fällt er auch im Krieg. ueniet mox Pyrrhus ad arma Mit Pyrrhus wird eine Einzelperson aus dem Lager der Griechen eingeführt; er hat den Trojanern besonderes Leid gebracht, weil er den Priamus geradezu abgeschlachtet hat (Verg. Aen. 2,550ff.).

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Pyrrhus war nicht von Anfang an vor Troja mit dabei, sondern wurde nach dem Tod seines Vaters Achill von Odysseus geholt (Od. 11,505ff.). In der nachhomerischen Überlieferung weissagt der von den Griechen gefangene Helenus, daß Troja nur mit Hilfe des Pyrrhus und der Pfeile des Philoktet erobert werden könne. So muß man denn auch die folgenden Relativsätze im Konjunktiv mit finalem Nebensinn verstehen, denn die angeführten Tätigkeiten des Pyrrhus führen schließlich zum Untergang der Stadt. Arma in der Bedeutung ‘Krieg’ (ThLL II 599,11ff.). Für uenire ad arma vgl. [Ov.] epist. 20,49. 150f. Die drei Relativsätze, nach dem Gesetz der wachsenden Glieder angeordnet, wirken hämmernd, um die Grausamkeit des Kriegers Pyrrhus und seiner Taten sowie die Fülle des Unheils lautlich zu unterstützen, das über Troia kommen wird. 150 qui scindat muros Vgl. für die Junktur Claud. Don. Aen. 2,235 p. 179,21 scindimus, inquit, muros, das abgewandelt ist aus Verg. Aen. 2,234 diuidimus muros. Die Mauern wurden eingerissen, um das trojanische Pferd hereinzuziehen, in dem auch Neoptolemos saß, der damit als ein besonders tapferer Krieger zu gelten hat. qui damnet Pergama flammis Erneuter Bezug auf das Feuer, durch das Troja untergehen wird. Für die Bedeutung von damnare ‘zu etwas weihen, für etwas bestimmen’ s. ThLL 5,1,18,39f. Für Beispiele mit folgendem Dativ, wie an unserer Stelle s. ThLL V 1,18,82ff. Besonders hervorzuheben ist Stat. Theb. 6,55 damnatus flammae torus. Vgl. für Inhalt und Formulierung auch Orest. 277 dederat qui Pergama flammis (von Agamemnon). 151 qui Priamum gladio feruens obtruncet ad aras Auf seinem Hausalter wird Priamus wie ein Schlachtopfer niedergemetzelt (ausführlich geschildert Verg. Aen. 2,550ff.). Das ist kein gewöhnlicher Tod im Krieg, sondern besonders grausam und frevlerisch. Jemanden am Altar (der inhaltlich nicht notwendige Plural ist auch bei Vergil rein dichterisch, LÖFSTEDT 21942, 42f.) zu töten, ist ein herber Verstoß gegen die Achtung vor den Göttern. Die Reminiszenz an Vergil wird durch wörtliche Übernahmen unterstützt: Verg. Aen. 2,662f. Pyrrhus, / natum ante ora patris, patrem qui obtruncat ad aras (hineinwirken mag auch Aen. 3,331f. Orestes / … incautum Pyrrhum patriasque obtruncat ad aras, vgl. dazu Orest. 818). Entgegen der durchaus sinnfälligen Beziehung gladio feruens (vgl. laud. dei 3,368 gladio feruente, für das Bild auch Orest. 91 mucro … feruet) dürfte gladio leichter als Ablativus instrumentalis mit obtruncet zusammenzuziehen sein (wirkt vielleicht auf Ven. Fort. Mart. 1,329 dum cuperet gladio caput obtruncare sacratum), während feruens (in der Bedeutung ‘hitzig, wild’ ThLL VI 1,595,29) Pyrrhus charakterisiert. 152 sed quid uana cano? Es klingt reimend V. 131 der Helenusrede sed quid fata ueto? an. Beide Versanfänge stellen einen gedanklichen Einschnitt in der jeweiligen Rede dar. Hier ist nun auch die erste Vershälfte von Stat. Theb. 3,646 (für eine

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systematische Untersuchung der Statius-Imitationen bei Dracontius s. MOUSSY 1989, 428) verwendet, was die beiden Verse zusätzlich miteinander verbindet und Kassandra ebenfalls vor die Folie des Amphiaraus setzt (s. zu 131). Vana ist entweder Akkusativobjekt zu cano oder adverbialer Akkusativ. Vgl. auch Prop. 3,6,31 si non uana canunt mea somnia. Für canere als t.t. der Vorsehung s. ThLL III 271,12ff. 152f. iam consocer esse Tonantis / uult genitor Kassandra unterstellt ihrem Vater den egoistischen Wunsch, unbedingt zu Jupiters Familie gehören zu wollen, mit ihm zusammen Schwiegervater zu sein. Wie sehr die Seherin seinen Wunsch in die Nähe der frevlerischen Tat des Paris stellt, wird am Versschluß deutlich, der an (sc. Paris) gener ipse Tonantis (147) erinnert. Consocer begegnet erst seit Martial 10,33,3 und nur sehr vereinzelt in der lateinischen Literatur (s. ThLL IV 474,52–58). 153 patriam … premit Oxymoronartige Formulierung, da premere in dieser prägnanten Bedeutung ‘niederdrücken’ normalerweise von Feinden gesagt wird, nicht von den eigenen Leuten (ThLL X 2,1177,74f.); Kassandra macht ihren Vater zum hostis. Vgl. für die Junktur Anth. 614 R.,6 seruitio pressam destituit patriam. Auffällig sind die Alliterationen einander nahestehender Worte: patriam premit, im Anschluß natos nefandus. 153f. natos … nefandus / odit Gemeint sind die übrigen Kinder von Hekabe und Priamus. Für nefandus von Personen s. OLD s. v. nefandus 1166f.a. 154 Andromachen … uiduare marito Die besondere Behandlung der Andromache findet ihre Begründung in der recht ausführlichen Betrachtung des Hektor 139– 142 aus der Perspektive der Hekabe. Die Frau des großen Helden erfährt nun hier, sozusagen als Gegenpart, eine Erwähnung von der Perspektive des Priamus her gedacht. Vgl. für die Wortwahl bei Dracontius Romul. 9,38 Andromache uiduata, 10,297 uiduata marito, Orest. 431 incolumi uiduata uiro de paelice Glauce, laud. dei 3,496 uiduata marito. Viduare seit Vergil in der Dichtung mit dem Ablativ (HS 105). quaerit Nur hier bei Dracontius mit Infinitiv konstruiert; fast synonym zu uult 153 zu verstehen. 155 Troile, quid cessas? quid parcis, fortior Hector? Chiastisch gebauter Vers mit den aufgeregten Fragen in der Mitte, die von den beiden Namen gerahmt werden. In der Helenus-Rede wird zuerst Hektor angesprochen. Parcere ist synonym zu cessare (‘zögern’ ThLL III 958,3f.; vgl. dagegen in anderer Bedeutung 362) verwendet (s. ThLL X 1,338,13f.). Für die Formulierung vgl. Sen. Tro. 1000 Pyrrhe, quid cessas? age. Anders verwendet als in 92 ist die Junktur fortior Hector, die hier als ironisches Zitat aus der Paris-Rede fungiert. Kassandra erinnert den Hektor daran, wie despek-

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tierlich ihn der Bruder als „recht tapferen“ bezeichnet hatte, um ihn gegen den Eindringling aufzubringen. 156 uos repetunt mortes, in uos mala fata feruntur Mortes und fata sind an dieser Stelle synonym verwendet (s. auch oben in der Einleitung zum Abschnitt, S. 232, das fatum-Verständnis der Kassandra). Der ungewöhnliche Plural mortes mag sich aus der Angleichung an fata erklären oder darauf verweisen, daß die beiden apostrophierten Helden je einen verschiedenen Tod sterben werden; schließlich kann der Plural auch auf die im Krieg beständig drohende, in verschiedenen Situationen vorhandene Todesgefahr abheben. Repetere kann gemäß dem oft festgestellten Vorgehen des Dracontius compositum pro simplici zu setzen wie petere verstanden werden. Geschickter ist es jedoch, das Verständnis VOLLMERs anzulegen, der repetere mit „pro rapta Helena“ glossiert (MGH 403) und so das Wort auf der Ebene der Repetunden verstanden wissen will. Anstelle der Helena wird der Tod mehrerer Helden eingefordert. Ob die Idee zu dieser Junktur auf die bekannte Verbindung mortem petere (z. B. Verg. Aen. 11,647) zurückzuführen ist? Vgl. für das gemeinsame Auftreten von mortes und fata Romul. 10,580f. rapiunt simul arma phalanges / mortibus alternis et mutua fata minantur. 157f. uos petit Aeacides, saeuum uos fulmen Achilles / amputat Hier unterscheidet nun Kassandra zwischen den beiden angesprochenen Brüdern: Beide sterben zwar durch die Hand Achills (Aeacides bezeichnet Achill als Enkelsohn des Aeacus, s. z. B. Verg. Aen. 1,99), jedoch sehr unterschiedlich, was die beiden verschiedenen Prädikate deutlich machen. Hektor wird zunächst dreimal um die Stadtmauer Trojas gejagt (Il. 22,137ff.; die Bedeutung von petere läßt sich in diese Richtung als eine Mischung der gebräuchlichen Bedeutungen ‘angreifen’ und ‘erstreben’ erweitern), während Troilos von Achill zerstückelt wird (daher amputare, das mehr sagt, als ‘töten’, wie es WOLFF 1996, z. St. hingegen unterstellt; der brutale Tod des Troilos ist seit Sophokles TrGF 623 greifbar), oder zumindest schlägt ihm Achill den Kopf ab nach der Tradition, die durch Vasenmalereien bewahrt ist (ALBIN LESKY: Troilos, RE 7 A, 1, 602–616). Für die metonymische Verwendung von fulmen s. zu 48; singulär von Achill. Saeuus wird Verg. Aen. 1,458; 2,29, Ov. met. 12,582, Laus Pis. 173, Homer. 957 auf Achill bezogen; auch hier könnte es in Enallage ebenfalls Achill zugewiesen werden. 158 poenam raptoris habetis Raptor zur Bezeichnung des Paris noch 11. 563. 580. Die umstehenden Zuhörer werden gezwungenermaßen unspezifisch ‘eines Räubers’ wegen der fehlenden Hintergrundinformationen verstehen. Für die Junktur poenam habere vgl. z. B. Cic. Pis. 95 nullam mihi poenam uidetur habere id quod accidere innocenti … potest, leg. 2,44 plus poenarum habeo quam petiui, Sen. contr. 1,5,6 habebit poenam, indotatam uxorem, Priap. 24,3 fur habeas poenam, Publil. sent. A 38 amantis ius iurandum poenam non habet (deutlich öfter als WOLFF 1996, z. St. den Einträgen des ThLL entnimmt, s. ThLL VI

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3,2407,74f.). Zu habere mit Akkusativobjekt zur Umschreibung einfacher Verbformen s. H-S 754ff. Reim in den beiden letzten Worten des Verses. 159 prouida non credor Resigniert gibt Kassandra auf und beendet ihren Appell an die beiden Brüder mit dem Eingeständnis, daß man ihr ohnehin keinen Glauben schenkt, egal, was sie sagt. Für prouidus bei der Vorhersehung s. ThLL X 2,2331,36ff. Von Kassandra insbesondere auch Sen. Ag. 872 prouidae mentis furor (sc. Cassandrae), Orest. 153 prouida … dicta (sc. Cassandrae). Für die eher seltene Konstruktion von credere mit einer Person s. ThLL IV 1143,11ff. Vgl. besonders Verg. Aen. 2,246f. fatis aperit Cassandra futuris / ora dei iussu non umquam credita Teucris. uos saltem surgite, ciues Die Seherin rafft sich erneut – die Resignation hält nicht an – zu einem Appell auf, der diesmal an die Bürger der Stadt gerichtet ist, nicht mehr an die königliche Familie. Vorher wurde außer der Familie keine Person genannt, die noch zur Opferstelle gekommen ist. Offensichtlich aber scheinen Bürger Trojas ebenfalls anwesend zu sein, die Kassandra nun ansprechen kann. Für surgere als Ausdruck, sich zu einer kriegerischen Handlung anzuschicken s. OLD s. v. surgere, 1887, 3. Ob die s-Laute und die vielen engen Vokale eine zischend-drohende Wirkung haben sollen, muß Vermutung bleiben. 160 rumpite complexus Singuläre Junktur (ThLL III 2103,53), die eine sehr kräftige, fast gewalttätige Aufforderung enthält und im Gegensatz zum dare complexus des zweiten Versteiles steht. Der Imperativ rumpite am Versanfang noch Verg. Aen. 3,640, Lucan. 5,422, Orest. 484. 160f. quos dant per colla parentes / infausto iuueni Das schöne, liebevolle Bild von den Eltern, die ihr Kind umarmen (vgl. für die Situation, die noch anzuhalten scheint, 106) wird durch das Adjektiv infaustus (nach Enjambement am Versanfang, wirkt überraschend enttäuschend) zerstört. Für complexus dare als Umschreibung zu complecti vgl. Ov. met. 3,286; 10,388, trist. 4,4,80, Stat. Theb. 2,641. Per geht in seiner Bedeutung in Richtung circum (ThLL X 1,1138,65f.). Infaustus in der aktiven Bedeutung ‘Unglück bringend’. 161 muris depellite fratrem Die Verwandtschaftsbezeichnung frater dürfte argumentativ verwendet sein, wenn man versteht: „Ich, Kassandra, fordere euch auf, meinen Bruder zu verstoßen. Wenn ich als seine Schwester dies sage, sollte es für euch Nicht-Verwandte noch weit leichter sein.“ Murus als Synekdoche für die Stadt selbst (seit Verg. Aen. 7,409 zu belegen, s. auch ThLL VIII 1686,22ff.). Der dichterische bloße Ablativ bei depellere ist separativ zu verstehen (H-S 106). 162f. Kassandra holt Luft und zu dem Schlag aus, den Helenus schon gleich zu Beginn seiner Rede vorgebracht hat – der Hinweis auf die göttliche Vorhersage, der man ja wohl glauben muß. Der eigene Bruder (Ende 161) ist der Feind (Anfang

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162), und zwar der Staatsfeind, Feind der ganzen Stadt Troja. Die beiden deutlich divergierenden Bezeichnungen für Paris treffen am Verswechsel aufeinander. 162 ‹hic› hostis Die Ergänzung BÜCHELERs zum metrisch fehlerhaften Vers ist sicher richtig. Sie unterstützt die Parallelität mit der Helenus-Rede (122 haec est illa … fax). Hostis für Paris schon am Anfang des Gedichts (3). quem fata canunt Fata meint hier ganz konkret den Traum der Hekabe (im Sinne einer Vorhersage über die Zukunft, ThLL VI 1,356,24ff.). Canere ist t.t. für die Äußerung der Vorhersehung (ThLL III 271,12ff.). Singulär ist, daß fata zum Subjekt zu canere gemacht werden (vgl. für das Wortmaterial Romul. 2,1 fata canam). Die Verbindung ergibt sich als logische Folge der Verwendung von fata mit dem konkreten Gedanken an somnium, das sich als Subjekt zu canere schon bei Prop. 3,6,31 findet. 162f. qui mortibus urbem / congeret Nimmt man die ThLL IV 280,15f. vorgeschlagene Bedeutung der Junktur, ‘einen Ort mit etwas anfüllen’, als singulären Ersatz für die Konstruktion alqd in alqd congerere (s. dazu auch WOLFF 1996, z. St.), geht einiges von diesem drastischen Bild verloren: Bei einem weitgehend wörtlichen Verständnis der Stelle schichtet Paris die Stadt Troja mit Toten (für mors statt mortuus s. ThLL VIII 1504,41f.) auf, baut sie also gleichsam aus Leichen (für diese Konstruktion und Bedeutung von congerere s. ThLL IV 278,73ff.). Dabei bleibt freilich offen, ob man sich wirklich Mauern aus Toten vorzustellen hat oder die Leichenhaufen hoch aufragen an der Stelle, wo Troja früher stand. 163 Priamum faciet non esse sepultum Für facere mit AcI s. zu 30. Zu erwarten wäre wohl eher ein sepeliri anstelle von sepultum esse (WOLFF 1996, z. St.). Problematisch ist die Konstruktion jedoch nicht, da entweder sepultum im Sinne eines Adjektivs verstanden werden kann, oder sie mit dem gerade in der Dichtung verbreiteten Phänomen von Infinitiv Perfekt statt Infinitiv Präsens zu erklären ist. Das Thema auch 145. 164–178a Kassandras Ausführungen gehen auf die Vorgänge, die mit dem φαρμακός zusammenhängen, bei denen ein Mensch zum Sündenbock gemacht wird, der dann aus der Stadt gejagt oder umgebracht wird, zurück (WOLFF 1996, z. St.). Im griechischen Raum, Athen und Ionien, ist die Praxis für Apoll und zwar zu den Thargelia oder in bestimmten Notzeiten belegt (HUGHES 1991, 139ff.). In diese Opferkategorie gehören auch viele der mythologischen Menschenopfer, die als Gelöbnis oder als Antwort auf eine Forderung der Götter abgehalten wurden, um das Heil einer Stadt oder einer Menschengruppe wiederherzustellen.157 In den Versen 169–170a verweist Kassandra auf diese bekannten Praktiken, fordert jedoch für die jetzige Situation eine abgewandelte Form des Menschenopfers, die den eigentlichen Übeltäter, der für die Notwendigkeit einer Sühnung verantwortlich ist, 157 HUGHES 1991, 71ff. Aus dem direkten Umfeld des trojanischen Sagenkreises wären beispielsweise Iphigenie und Hesione anzuführen, die dann aber doch am Leben bleiben dürfen.

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töten lassen will. Dadurch wird dem Vorgang ein Teil seiner Grausamkeit genommen;158 es soll tatsächlich nur der wirklich Schuldige geopfert werden.159 164 pectore Cisseo rapiatur pignus acerbum Die Forderung wirkt anfänglich brutal, der Mutter soll man das Kind von der Brust wegreißen (dies muß sich hier auf die Umarmung beziehen, in der sich beide noch befinden). Durch die Versgestaltung, bei der acerbus betont ans Ende gerückt ist, wird diese schockierende Wirkung jedoch relativiert. Pignus acerbum hat die gleiche paradoxe Färbung wie pietas crudelis in der Rede des Helenus (121). Ein Wort, das das tiefe Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern besonders deutlich ausdrückt, wird mit dem zugesetzten Adjektiv ad absurdum geführt und gänzlich zunichte gemacht. Cisseus als Adjektiv zu Cisseis (für Hekabe als Tochter des Cisseus) findet sich nur hier (ThLL Onomast. 2,461,12); es ist anstelle eines Genitivattributs gesetzt (typisch christlicher Sprachgebrauch, s. JOSEPH SCHRIJNEN: I Caratteri del Latino cristiano antico, 3 1986, 39; 84, findet sich aber auch sonst dichterisch, vgl. z. B. Catull. 64,3 fines Aeetaeos; vgl. K-S I 209ff.). Für pignus s. zu 101. Für acerbus von Personen s. ThLL I 369,84ff. Die Belegstellen beginnen bei Cicero und lassen erkennen, daß mit diesem Adjektiv nur solche Personen gekennzeichnet werden, die als überaus schlecht dargestellt werden sollen. Pignus acerbum ist eine singuläre Junktur. Statt der an dieser Stelle regelmäßigen Präposition a vor pectore Cisseo setzt Dracontius den bloßen Ablativ; für seinen recht freien Umgang mit den Präpositionen ist dies nicht ungewöhnlich (s. auch WESTHOFF 1883, 17). 165 mactetur … nefas Die Verbindung erinnert an das vergilische extinxisse nefas (Aen. 2,585), das über Helena gesagt wird. Im zweiten Buch der ‘Aeneis’, in der Helenaepisode, sei sie echt oder sei sie es nicht, führt Aeneas einen Monolog, in dem er zu dem Entschluß kommt, Helena umzubringen, weil sie an der schrecklichen Kriegssituation schuld ist. Ohne sein Eingreifen werde sie mit Sicherheit ungestraft und unversehrt allem Unheil entgehen. Im Zuge dieser Überlegungen nennt Aeneas Helena ein nefas. An unserer Stelle bezeichnet Kassandra Paris als nefas, weil er nach ihrer Ansicht für alles zukünftige Unglück die Verantwortung trägt, für das Unglück, das aus seinem Verhalten gegenüber den Göttinnen resultiert (dies ist das nefas, dessen Namen Paris metonymisch erhält), die gesühnt werden müssen, damit nicht die ganze Stadt für das Fehlverhalten des einen bezahlen muß. Diese Interpretation ist im direkten Anschluß an Vergil zu sehen: Sowohl Helena als auch 158 Von einer gewissen Distanz aus betrachtet Kassandra diese Praktiken, wenn sie sagt urbibus in multis mos est … / … sed uos … (169f.). 159 S. zum Menschenopfer u. a. ANDREAS BENDLIN: Anstelle der anderen sterben. Zur Bedeutungsvielfalt eines Modells in der griechischen und römischen Religion, in: CHRISTINE J. JANOWSKI / BERND JANOWSKI / HANS P. LICHTENBERGER (Hrsgg.): Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 9–41; ADELHEID HERRMANN-PFANDT: Das Menschenopfer. Zur religionswissenschaftlichen Systematik und Deutung eines ungeliebten Phänomens, EAZ 50, 2009, 53–65.

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Paris werden mit der gleichen Metonymie benannt, beide sind, je auf ihre Weise, als Urheber des Krieges zu verstehen. Nefas in dieser Verwendung für homo nefarius noch Stat. Theb. 7,514, Drac. Orest. 538. 719. 735. 766 (WOLFF 1996, z. St; DE GAETANO 2009, 140). Mactare steht in seiner Bedeutung an dieser Stelle zwischen dem einfachen ‘töten’ (ThLL VIII 22,56ff.) und ‘opfern’ (ThLL VIII 22,14ff.), da sowohl die einfache Beseitigung des Unglückbringers als auch die Versöhnung der Götter durch ein Opfer laut Kassandra erforderlich ist. et Pergama nostra pientur Nostra als Zusatz zur Stadt wirkt emotional (vgl. z. B. Sil. 8,144; 11,239 nostrae Carthaginis). Et hier für ‘und so’. Für die Verwendung von piare s. ThLL X 1,2183,35f. 166 placetur Iuno, placetur uirgo Minerua Vom Zorn der zurückgewiesenen Gottheiten erfährt der Leser 36–38. Die Familie hingegen kann eigentlich vom Parisurteil nichts weiter wissen als das, was er selbst erzählt hat – daß es irgendein Urteil über irgendwelche Götter gab (98f.). Kassandra muß als Seherin natürlich nicht auf das Wissen zurückgreifen, das ihr mitgeteilt wird, sondern weiß von sich aus mehr und kann auf diese Weise auch genau die beleidigten Göttinnen benennen. Placare für die Besänftigung von Göttern regelmäßig seit Plautus (s. ThLL X 1,2286,55ff.); vgl. besonders Serv. Aen. 1,281 bello Punico secundo, ut ait Ennius, placata Iuno coepit fauere Romanis. Vgl. auch 36 für Minerua uirgo. 167 sacrilegi de morte Iouem placate Tonantem Der letzte Aufruf wechselt vom hortativen Konjunktiv in den Imperativ und gibt ihm dadurch eine besondere Betonung. Zudem wird er durch die wachsenden Glieder bei der Aufzählung der drei Götter besonders hervorgehoben, da auf Jupiter insgesamt zwei ganze Verse fallen, die den Göttervater von den beiden Göttinnen abheben. Placare mit de statt regelmäßig bloßem Ablativ (seit Plaut. Poen. 848, s. H-S 121; 264 zur Verdrängung des Ablativus instrumentalis durch de) findet sich nur hier und Ps. Apul. herb. 80 l.33). Dracontius verbindet den Ablativus instrumentalis noch 173 mit de (daß auch Orest. 431 ein Instrumentalis mit de sein soll, erscheint mir eher unwahrscheinlich, BOUQUET [/ WOLFF] 1995, z. St.). Für den Versschluß und die Thematik vgl. Claud. 18,160f. (sc. uates) hospite qui caeso monuit placare Tonantem / inuentas primus Busiridis imbuit aras; mit seinem Versschluß placate Tonantem spielt Dracontius ganz sicher auf Claudian an, da auch bei ihm ein Menschenopfer Thema ist. Statt dem claudianischen hospite caeso ist hier sacrilegi de morte gesetzt. Das Attribut Tonans auf Jupiter soll als Spezifizierung der Ausprägungsform des Gottes seine große Macht und damit auch die Möglichkeiten seines Zorns dramatisch verdeutlichen (im Sinne eines Epitheton ornans), so daß die Großschreibung mit WOLFF beibehalten wird. 168 cuius postponens Vulcani laudat amorem Der Zorn Jupiters (und auch der beiden Göttinnen) erhält hier nun seine Erklärung. S. für das Götterbild die Einleitung zum Abschnitt (S. 233). Amor für eine geliebte Person zu sagen, ist seit Plautus belegt (ThLL I 1970,9ff., vgl. auch Romul. 2,118, Orest. 66), vgl. für hier besonders

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III Kommentar

Repos. 23 Paphien, Vulcani et Martis amorem. Amorem muß als Akkusativobjekt sowohl zu postponens als auch zu laudat gezogen werden. Für laudat s. zu 35. Zu postponens vgl. 36 contempta Iunone. Grammatisch läßt sich cuius wohl am ehesten als relativer Satzanschluß verstehen, was der Konstruktion die Härte nimmt (vgl. WOLFF 1996, z. St., der einen Gräzismus annimmt, der es erlaubt, das Relativpronomen auf die vom Partizip und nicht vom Prädikat abhängige Konstruktion zu beziehen). 169 donare salutem Anders als VOLLMER MGH, WOLFF 1996 und ZWIERLEIN BT den Versschluß drucken, nämlich donare Salutem, ist er ohne eine Personifizierung der salus zu schreiben. Dafür lassen sich folgende Argumente anführen: Zunächst einmal wäre die Konstruktion donare alqm alqa re zu nennen, die zwar gewöhnlich ist, aber in der Hinzufügung von mortibus ihre eigentliche Bedeutung „ut aliquis accipiat rem gratam vel liberetur ab re ingrata“ (cf. ThLL V 1,2011,26ff.) nicht beibehalten kann und zu einer unbelegbaren Verbindung wird. Als Lösung bietet sich ein Verständnis der Konstruktion als donare alqd (alci) an im Sinne von „efficere, ut aliquis alqd accipiat, habeat, saepe fere i.q. dare, praebere“ (ThLL V 1,2007,50; so auch ROSSBERGs 1887 [b], 840 Verständnis), wobei an unserer Stelle der Dativ zwar nicht ausgedrückt ist, sich aber aus dem voraufgehenden urbibus in multis ergänzen läßt.160 Neben der gefälligeren Konstruktion sind allerdings auch inhaltliche Argumente anzuführen. In den folgenden Versen illustriert Kassandra ihre Forderung, Paris zu töten, mit einem Exemplum aus der Medizin, die Gesundheit schafft durch Amputation kranker Körperglieder. Somit erhält donare salutem seine Entsprechung in 172f. salutem / … dabit (weitere Entsprechungen sind urbibus in multis mos est und medicina solet 172, mortibus insontum und memborum de parte 173; vgl. für die Kombination auch laud. dei 2,232f. addo, quod innumerae pestes mortale minantes / membrorum de parte sua dant saepe salutem). Gegen die Annahme, der personifizierten Salus sei das Opfer zugedacht, spricht auch der Kontext der Kassandra-Rede. Die Seherin fordert die Entsühnung der Stadt und die Aussöhnung mit den im Parisurteil übergangenen Gottheiten. Durch die allgemeinene Formulierung urbibus in multis mos est wird kein konkreter Adressat angesprochen, da verschiedene denkbar sind; mit Salus dann nur einen zu privilegieren, der zur vorliegenden Situation Trojas gar nicht passen will, erscheint nicht geboten. Hinzu kommt, daß die Institution des φαρμακός entweder den Gott Apoll oder gar keinen Adressaten hat, sich aber ein solches Opfer an die Göttin Salus oder Soteria nicht belegen läßt.161 Vgl. für den Versschluß auch Romul. 5,38 muris seruare salutem. 160 In dieser Weise sind auch die (ausschließlich von der Wortwahl her betrachtet) vergleichbaren Stellen Lucan. 9,1067 uictis donare salutem und Sen. Oed. 692 donata multis … salus konstruiert. 161 OTTO HÖFER: Pharmakos, ROSCHER 3, 2, 2276–2285. Zum Saluskult s. außerdem LORENZ WINKLER: Salus. Vom Staatskult zur politischen Idee. Eine archäologische Untersuchung, Heidelberg 1995.

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170 mortibus insontum Eine dracontianische Junktur: Romul. 5,31 in gleicher Weise am Versanfang, und laud. dei 3,126 non cupit insontum mortes uitasque nocentum. Die ungewöhnliche Form des Genitiv Plural statt der Normalform insontium findet sich auch Sil. 14,105 (NEUE / WAGENER 2, 144). 170f. sed uos mactate nocentem, / ut liceat seruare pios Greift in Form eines Parallelismus einige Elemente aus 165 macteturque nefas et Pergama nostra pientur wieder auf (s. dort auch für mactare in diesem Zusammenhang). Nocens auf Paris schon 29 (für eine Person vgl. auch Romul. 10,380f. tyrannus … nocens). Das Epitheton steht im Gegensatz zu pius (für seruare pios vgl. Verg. Aen. 3,266 im Gebet des Anchises placidi seruate pios, Sedul. carm. pasch. 1,235, Romul. 5,104), das diejenigen meint, die keinen Frevel gegen die Götter begangen haben (somit ist auch pius der Gegenbegriff zu sacrilegus und nefas). 171b–175a Dracontius läßt Kassandra ein Gleichnis aus der Medizin anführen, um ihr Argument zu unterstützen. Dort ist es üblich, Amputationen kranker Körperteile vorzunehmen, um den übrigen Körper vor der Krankheit zu bewahren. Dabei entstehen zuerst größere Schmerzen und größeres Leiden, die für einen gesunden Gesamtkörper – das weit bedeutsamere Ergebnis – in Kauf genommen werden müssen.162 Das Gleichnis (wie schon das erste im Gedicht, 24–27, wieder ohne einleitende Konjunktion) ist viergliedrig aufgebaut, wobei alle Glieder Ähnliches aussagen, mit je einer anderen Gewichtung. Der erste Teil augere dolores / ut resecet medicina solet betont die Schmerzen, die zunächst vergrößert werden bei der medizinischen Behandlung (hier ist, durch das resecare deutlich gemacht, schon an eine Amputation gedacht), danach aber verringert und beseitigt sind. Im zweiten Teil membrisque salutem / membrorum de parte dabit wird die Amputation umschrieben, aber ihr Wesen, daß nämlich ein einziger Körperteil – indem er entfernt wird – den übrigen ihre Gesundheit zurückgibt, deutlich herausgestellt. Es sind, als Steigerung zum vorhergehenden Abschnitt, nun nicht mehr nur die Schmerzen, die entfernt werden, sondern die ganze salus kommt dem Körper durch das Abschneiden (deshalb auch pars) zu. Das dritte Stück nam corporis aegri / fit iactura salus betont den Verlust eines Körperteils als Heil für den übrigen Körper. Den Abschluß bildet der Hinweis auf die uires, die dem Körper zurückgeführt werden, die ihm die Krankheit raubte. Dieses Gleichnis erklärt Kassandras grausame Forderung, den Bruder Paris umzubringen oder zumindest aus der Stadt zu werfen. Er ist das krankmachende Glied, das entfernt werden muß, um die Stadt Troja vor dem Untergang zu bewahren. Vgl. für den Gedanken des Gleichnisses, der besonders den notwendigen Schmerz betont, Ps. Cato dist. 4,40 uulnera dum sanas, dolor est medicina doloris. Metaphern aus dem Bereich der Medizin lassen sich bei Dracontius häufig finden, z. B. laud. dei 1,204. 2,282. 284. 607. 773f., Romul. 7,78, Orest. 20 (s. dazu BOUQUET [/ WOLFF] 1995, 164). 162 Das Motiv begegnet in der Literatur immer wieder, s. zu den einzelnen Lemmata.

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III Kommentar

171f. augere dolores / ut resecet medicina solet Der Ausdruck dolores resecare (dolores ist sowohl zu augere, als auch zu resecare zu ziehen) fügt sich als gesuchte Junktur gut in den Zusammenhang ein: Das Paradoxon, daß die Medizin Schmerzen vergrößert, um sie zu lindern, wird in resecare schon angezeigt, durch das die Assoziation z. B. einer Amputation hervorgerufen wird. Meist wird resecare in der Gärtnersprache verwendet für das Zurückschneiden von Pflanzen mit dem Ergebnis, daß sie besser wachsen (vgl. z. B. Cato agr. 47). Dies kann auf unsere Stelle übertragen werden: Eine Amputation entfernt das Schlechte, um den gesunden Restkörper umso lebensfrischer erstarken zu lassen. Das hier verwendete Motiv zieht sich seit Platon (Gorg. 479 a, b) immer wieder durch die Literatur (WOLFF 1996, z. St.): z. B. Cic. Catil. 2,11 (quae sanari poterunt quacumque ratione sanabo, quae resecanda erunt non patiar ad perniciem ciuitatis manere), Att. 2,1,7, Sest. 135, off. 3,32, Phil. 8,15, Colum. 7,5,13. Für augere dolorem vgl. Paul. Petric. Mart. 5,23 augebat … dolorem. Für resecare in Verbindung mit körperlosen Dingen vgl. z. B. Cic. Verr. II 3,208 uoltis autem istorum audaciam ac libidines aliqua ex parte resecare? (ZWIERLEIN BT z. St. verweist auf Quint. decl. 316,11 patres qui hunc animi dolorem semel recidunt). 172f. membrisque salutem / membrorum de parte dabit Das Futur hat hier gnomischen Charakter (H-S 310), auch wenn man bei allgemeingültigen Aussagen natürlicherweise eher ein Präsens erwarten dürfte (WOLFF 1996, z. St.). Hier mag die Begründung des Futurs zusätzlich darin liegen, daß Kassandra das allgemeingültige Beispiel so eng mit der jetzigen Situation verbindet, daß sie das Futur aus dem realen Erleben in das Gleichnis setzt. De mit Ablativ im Sinne eines Instrumentalis wie schon 167 (s. dort). Polyptoton von membra. Vgl. auch für die Stelle laud. dei 2,232f. addo quod innumerae pestes mortale minantes / membrorum de parte sua dant saepe salutem, wo mit ähnlichem Wortmaterial Gefahr und gleichzeitiger Nutzen gefährlicher Tiere thematisiert wird. 173f. nam corporis aegri / fit iactura salus Der Gedanke, lieber einen Körperteil zu verlieren, als ganz zu verderben, besitzt eine lange Tradition. Vergleichsstellen finden sich in der paganen Literatur z. B. Ov. met. 1,190, aber auch in der Bibel (Mt 5,29f.). Der Genitiv corporis aegri (der Versschluß auch Iuvenc. 1,192, Auson. 2,3,37 GREEN, Paul. Nol. carm. 10,288, Paul. Petric. Mart. 2,139) ist als Attribut zu iactura zu konstruieren und corpus in der Bedeutung ‘Fleisch’ zu verstehen (ThLL IV 1006,7ff.; WOLFF 1996, z. St.; vgl. Ov. met. 1,190f. immedicabile corpus / ense recidendum est, ne pars sincera trahatur). Auch die Bedeutung membrum für corpus sollte an dieser Stelle aus dem Zusammenhang heraus möglich sein, wenn es auch keinen Eingang in den Artikel des ThLL gefunden hat.

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174f. et uires passio praestat, / quas auferre solet Passio besitzt im Hauptsatz eine von der im Relativsatz verschiedene Konnotation: Gemeint ist im Hauptsatz das Leiden an den Schmerzen der medizinischen Behandlung, im Relativsatz das Leiden an den Schmerzen der Krankheit. 175f. hoc ‹hoc› assumite fratres, / hoc ciues audite mei, laudate parentes Kassandra ruft abschließend in einem Appell die bisher schon angeredeten Personengruppen noch einmal gezielt zu Aufmerksamkeit und Zustimmung auf. Imperative und Vokative sind doppelt chiastisch angeordnet, wobei die Familienmitglieder fratres und parentes jeweils ein Versende bilden. Assumo hier in der üblichen Bedeutung ‘geistig aufnehmen’, eher nicht im Sinne von bloßem ‘vernehmen’ (wie Vulg. Ier. 9,20 assumant aures uestrae sermonem). Der Imperativ in der Dichtung vor Dracontius nur noch Hept. exod. 1001, Sedul. pasch. 4,155. Audite paßt gut in die Reihe und steht in der Vorstellung eines Handlungsablaufes vor laudare. GILs 1984, 163 Konjektur audete, das wohl eher die Tat selbst meinen dürfte, zerstörte diesen natürlichen Ablauf. Zur Heilung des metrisch unvollständigen Verses wird hier mit PEIPER die Haplographie einer Geminatio von hoc angenommen, das auch von VOLLMER in den Text gesetzt wurde; WOLFF und ZWIERLEIN entscheiden sich für VON DUHNs Konjektur uos. Die Geminatio unterstützt den dreigliedrigen Bau des Satzes, wenn im folgenden nur ein hoc gesetzt ist und im letzten Glied gar keines. Für die Verbindung von ciuis mit einem Personalpronomen zur Verdeutlichung der Mitbürgerschaft s. ThLL III 1224,75ff.; zur Verdeutlichung herrscherlichen Anspruchs s. ThLL III 1225,13ff. Vgl. für den Versanfang von 176 auch Romul. 5,22 iam, ciues, formido, mei (ZWIERLEIN BT z. St.). 177–182 Das Motiv163, daß ein Mensch einen Verwandten, der sich schuldig gemacht hat, auf Geheiß einer höher gestellten Person tötet und dafür belohnt wird, erscheint in der Bibel (Num 25). Es wird dort berichtet, wie Gott dazu aufruft, alle diejenigen zu töten, die sich mit den Töchtern der Moabiter einlassen. Als sich tatsächlich einer aus dem Volk mit einer Moabiterin einläßt und alle es bemerken, greift nur Pinhas (Sohn des Eleasar, wiederum Sohn des Priesters Aaron) zur Waffe und tötet ihn und die Frau. Dafür wird er vom Herrn mit dem ewigen Priestertum belohnt (25,12). Freilich ist eine Abhängigkeit in keiner Weise zu beweisen: Es lassen sich wörtliche Anklänge weder in den lateinischen Bibelfassungen noch beim Heptateuchdichter finden. Zudem ist die Belohnung des Priestertums nicht vorher ausgesetzt worden. Dennoch: Erwähnungen der Geschichte bei verschiedenen Kirchenvätern zeigen, daß sie so gut bekannt gewesen sein muß, um als Exemplum eingesetzt werden zu können. So erwähnt Tertullian (scorp. 3,4f.) die Episode, ohne allerdings auf die Tat des Pinhas einzugehen: in Arithmis cum diuertisset Israel apud Sethim, abeunt libidinatum ad filias Moab, inuitantur ad idola, ut et spiritu fornicarentur, edunt denique de pollutis eorum, dehinc et adorant deos 163 Für ein paralleles Motiv im Orest. s. S. 235.

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III Kommentar gentis et Beelphegor initiantur. ob hanc quoque idolatrian moechiae sororem uiginti tria milia domesticis obtruncata gladiis diuinae irae litauerunt.

Cyprian (epist. 73,10,2) gebraucht Pinhas als Beispiel für göttlichen Eifer, der zum Handeln treibt: qui spiritum Dei accepimus telum diuinae fidei habere debemus, quo zelo Finees placuit et Deum promeritus indignatis iram populo pereunte leniuit.

In seinem Brief an Vigilius (epist. 62,7) warnt Ambrosius vor Ehen mit Heiden und Andersgläubigen, würden sich doch die Männer am Ende dem Glauben ihrer Frauen anschließen. Zur Erhellung seines Arguments bringt er das Beispiel aus Num 25: sed prope nihil grauius quam copulari alienigenae, ubi et libidinis et discordiae incentiua et sacrilegii flagitia conflantur. nam cum ipsum coniugium uelamine sacerdotali et benedictione sanctificari oporteat, quomodo potest coniugium dici, ubi non est fidei concordia? cum oratio communis esse debeat, quomodo inter dispares deuotione potest coniugii communis caritas? Saepe plerique capti amore feminarum fidem suam prodiderunt ut patrum populus in Belphegor; unde Finees arrepto gladio interfecit Hebraeum et Madianiten feminam et mitigauit indignationem diuinam, ne totus populus exstingueretur.

Als Beispiel für den Eifer für Gott führt Hilarius (in psalm. 118,3) die Geschichte des Pinhas an: nam et Phinees ob hunc zelum meruit iudicium pacis aeternae. cum enim fornicati essent filii Israhel, et dei zelo incitatus in poenam eorum fuisset, tunc ait dominus: Phinees, fili Eleazar filii Aaron, requiescit animatione anima: quia zelauit zelum meum.

Der für unsere Stelle inhaltlich wichtige Punkt, daß Pinhas als Lohn für seine Tat das Priestertum erhält, wird jedoch an keiner dieser Stellen in den Blick genommen. Daraus läßt sich ein Argument gegen eine christliche Lesung des Gedichts und der Passage generieren: Sollte der Dichter tatsächlich, bewußt oder unbewußt, die Stelle der Bibel für das Versprechen der Kassandra im Kopf gehabt haben, nutzt er betont das Element der Geschichte, das die christlichen Autoren nicht erwähnen. Die Forderung der Kassandra steigert sich innerhalb der Rede. Zunächst soll Paris aus der Stadt vertrieben werden (161), dann entwickelt sie über das Gleichnis aus der Medizin, das zunächst auch nur mit einer bloßen Trennung vom Bruder zusammenpaßt, den Wunsch, daß Paris umgebracht werden müsse. Das Gleichnis verbindet dabei die beiden Aufforderungen. Das Angebot, Priester zu werden, mutet ein wenig absurd an, denn eine angenehme Rolle ist das nicht, wie man an der ganzen Situation sieht. Aber ein Priester ist für die Gemeinschaft und ihr Wohl zuständig. Der Mörder des Paris tut so viel für die Gemeinschaft, daß er damit gleichsam den Rang eines Priesters erreicht und so auch das Amt der Kassandra, die ja in der Stadt schon ein hohes Ansehen besitzt, übernehmen kann.

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177f. Expressis verbis macht Kassandra nun ihre Forderung deutlich: Paris soll von der eigenen Familie getötet werden. Die Formulierungen gladius pietatis und mucro fraternus erinnern an Romul. 10,535 passura necem mucrone parentis (sc. infantia simplex) vor Medeas Kindermord. Die Verwendung des AcI nach dicere für eine Aufforderung statt ut ist spätlateinisch (H-S 356f.; JOSEF SVENNUNG: Untersuchungen zu Palladius und zur lateinischen Volkssprache, Lund 1935, 438f., ThLL V 1,987,32ff.; vgl. auch satisf. 307 non semel ignosci dixit lex sancta reatum, ZWIERLEIN BT z. St.). Im zweiten Schritt ist ein bloßer iussiver Konjunktiv von dicere abhängig gemacht. 177 dicite pastorem gladio pietatis obire Pietas nach WOLFF 1996, z. St. in der Bedeutung pater (daran lehnte sich das folgende fraternus an; pietas in dieser Bedeutung recht häufig bei Dracontius, z. B. Orest. 38 u. a., s. BOUQUET [/ WOLFF] 1995, 167). Die Junktur gladius pietatis könnte aber auch erneut ein oxymoronartiger Ausdruck sein mit ganz abstrakter pietas, der die dramatisch-schreckliche, aber heilbringende Forderung verdeutlicht (der Genitiv wäre dann im Sinne eines Adjektivs pius gesetzt, vgl. VOLLMER MGH 433). 178 fraterno mucrone cadat Das Oxymoron fraternus mucro spitzt die Aussage zu. Der Ausdruck mucro fraternus kann, muß aber nicht, explikativ zu gladius pietatis verstanden werden. Die Verbindung mucrone cadere noch Romul. 10,247 mucrone cadet und klanglich vergleichbar 10,80 mucroque cadat. Vgl. außerdem Hept. Ios. 54 uestro mucrone cadentes. 178b–182 Für diese inhaltlich wie textkritisch gleichermaßen komplizierte Stelle lassen sich im Großen und Ganzen zwei unterschiedliche Forschungspositionen finden. Beiden ist das Verständnis des Satzanfangs gemeinsam, wonach einem Laien, sollte er Paris umbringen, von Kassandra als Lohn eine Stelle als Priester in Aussicht gestellt wird, und zwar ihre eigene.164 Der zweite si-Satz führt für diesen profanus die Option ein, daß er den Platz der Kassandra womöglich gar nicht einnehmen möchte. Die erste Position versteht nun pium esse im Sinne von sacerdotem esse (VOLLMER MGH 389 und ihm folgend WOLFF 1996). Für den Fall, daß der Laie Kassandras Platz tatsächlich nicht übernehmen will, würden, so ist der Text dann zu lesen, Helenus und Laokoon (die Apposition sacrata potestas deutet auf ihre Weihung zum Priester hin, die mit einer gewissen Macht verbunden ist)165 ihren Platz räumen (cedent in gleicher Versposition wie cedo), sofern der neue Priesteranwärter oder Kassandra (s. unten zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten) sie darum bitten würden. Mit uel angeschlossen folgt die Alternative, daß die beiden ihm als Opferdiener zur Seite ständen.

164 Ob sich dahinter gleichsam eine Entsühnung des Mordes verbirgt? Ein Priester würde sich bei einem rituellen Mord nicht versündigen, ein profanus vielleicht schon. Dem soll mit der Stellung als rechtmäßiger Priester entgegengewirkt werden. 165 Potestas für potens auch 334 und laud. dei 1,17 (WOLFF 1996, z. St.).

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III Kommentar

Die zweite Variante unterscheidet sich von der ersten grundlegend darin, daß die Junktur pium esse im Sinne von Paridem interficere166 verstanden wird, woraus sich in der Konsequenz eine andere Gesamtrichtung des Verständnisses ergeben kann. Setzt man voraus, daß Kassandra in ihrer Rede die verschiedenen anwesenden Gruppen in irgendeiner Form nacheinander dazu auffordert, Paris zu verjagen oder umzubringen (Eltern, Brüder, Bürger), wobei keiner von diesen Anstalten macht, tatsächlich zu handeln, so setzt sie in einem letzten Schritt einen Lohn für die Tat aus. Nimmt man wieder an, in loco si forte meo pius esse recusat werde ausgedrückt, daß auch dieser Versuch fehlzugehen droht, scheint sich Kassandra an ihre Priesterkollegen zu wenden als an die letzte noch übrig gebliebene Gruppe, die ihrem Wunsch nachkommen möge (es wäre cedant zu schreiben; in oranti bittet Kassandra selbst). Die auf Helenus und Laokoon bezogene Apposition sacrata potestas könnte die Verkörperung der religiösen Opfermacht meinen,167 die vielleicht – wegen der vergleichbaren Situation und in Variation des Wortmaterials – von Lucan. 1,595 beeinflußt ist.168 Zugegebenermaßen etwas blaß fügte sich schließlich der letzte Teilsatz, mit einem fortführend-steigerndem uel eingeleitet, an, wobei mysticus eine höhere Stufe der Verbindung mit dem Gott, indem sie ein Sühnopfer vollbracht haben werden, darstellt,169 und exstet170 in der Bedeutung ‘sich zeigen als’ gebraucht ist. Aus der Gegenüberstellung läßt sich folgendes wahrscheinlich machen: Gegen das Verständnis von pium esse im Sinne von Paridem interficere spricht besonders der Ausdruck loco meo, also anstelle der Kassandra. Die Option, daß die Seherin selbst Paris tötet, erhält in ihrer Rede keinen Platz; ihr Aufruf wäre unnötig, wenn sie den Bruder umbringen könnte, auch wenn die Sühnung eigentlich Sache des Priesters wäre. Der Aufforderung der Seherin (177 dicite pastorem gladio pietatis obire) nachzukommen, wird sich auf den profanus nicht negativ auswirken, er wird stattdessen sogar mit dem Priestertum belohnt, worauf OTTO ZWIERLEIN hinweist. Dieses Phänomen findet sich auch in der Geschichte des Pinhas (s. oben). Daher ist von der Bedeutung sacerdotem esse für die Junktur auszugehen. Die potentielle Ablehnung der Priesterstelle der Kassandra durch den potentiellen Nachfolger, könnte an ihrem schlechten Ruf liegen (darauf macht OTTO ZWIERLEIN brieflich aufmerksam), auf den die Seherin in ihrer Rede selbst schon unterschwellig verweist (159). Die Apposition sacrata potestas auf Helenus und Laokoon dürfte ihre 166 So ELLIS 1874, 258 und ganz besonders KUIJPER 1958, 75, der diese Interpretation ausführlich erläutert (ihnen folgend auch DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 391). 167 Potestas in religiösen Zusammenhängen ThLL X 2,304,25; metonymisch auf Personen ThLL X 2,318,30ff. 168 Dort befiehlt ein etruskischer Seher die Sühnung der Stadt durch eine Bittprozession u. a. auch mit Priestern, die folgendermaßen charakterisiert werden: pontifices, sacri quibus est permissa potestas. 169 Mysticus scheint bei Dracontius häufiger im Sinne von ‘Diener eines Priesters’ verwendet zu sein (VOLLMER MGH 370), kann aber auch für einen ganz normalen Priester stehen (Romul. 7,113, Orest. 59), so daß die Möglichkeit zur Bedeutungsbreite gegeben ist. 170 Der Konjunktiv scheint dann notwendig, damit das Prädikat auf der gleichen Ebene wie cedant steht, und der Status eines mysticus vielleicht als eine Art Beförderung angesehen werden kann, also eine ähnliche Ankündigung einer Belohnung wie beim profanus.

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hohe, mächtige Stellung unter den Priestern in Troja bezeichnen. Schließlich dürfte in oranti am leichtesten der Akt des Betens gehört werden, der zu den Aufgaben des neuen Priesters gehört, und den die beiden früheren ihm überlassen werden (für orare in der paganen Kultpraxis s. ThLL 1044,66ff.; ZWIERLEIN BT z. St.); also: „sie überlassen ihren Platz demjenigen, der (zukünftig) zu den Göttern beten wird“. Als mysticus im Sinne eines Assistenten bei Opfern u. ä. sollen Helenus und Laokoon weiterhin am Tempel ihren Dienst tun (ZWIERLEIN BT z. St.; mysticus im Sinne von ‘Priesterdiener’ auch Romul. 10,195; s. auch ThLL VIII 1759,63ff.). Das Prädikat exstat kann im überlieferten Indikativ gehalten werden, wenn für orare die postulierte Bedeutung angesetzt wird, und man nicht Kassandra dahinter versteht, die noch einmal die beiden Priester um ihre Bereitschaft abzutreten bittet. Denn aus den Optionen, die Kassandra ohne Zögern vorbringt (entweder gibt sie ihren Platz ab, oder die beiden anderen), geht hervor, daß sie keinen Zweifel an deren Kollaboration hegt. 178f. profanus / … quicumque Diese Konstruktion – profanus mit verallgemeinerndem Indefinitpronomen (H-S 202) in einem si-Satz – nutzt der Dichter auch laud. dei 1,98 si peccare diu parcat quicumque profanus, allerdings mit Konjunktiv. Die Gegensätze profanus und sacerdos sind jeweils betont an das Ende eines Verses gestellt. 179 feriet Ferire in der Bedeutung ‘verletzen, um zu töten’, vielleicht schwingt auch die Konnotation von mactare mit ‘töten, um zu opfern (vgl. Romul. 10,219 iam ferior, Medea ferit). reum Schon nach seinem Urteil über die Göttinnen wurde Paris als reus bezeichnet (41), weil er sich als bestechlicher Richter gezeigt hat. in urbe sacerdos Dieser Versschluß findet sich im mittelalterlichen Latein einige Male (z. B. Vulfinus Diensis, vita Marcelli metrica 219, Ermoldus Nigellus, carmen in laudem Pippini regis 1,145. 195, Aegidius Parisiensis, Karolinus 1,231). 180 cedo Pointiertes und wirkungsvolles ‘ich verzichte auf meine Stellung, trete zurück’ (ThLL III 722,7ff.) zu Beginn des neuen Verses. pius esse recusat S. dazu auch 178b–182. Pium esse meint entweder ganz konkret Paridem interficere (KUIJPER 1958, 75) oder sacerdotem esse (VOLLMER MGH 389; ThLL X 1,2238,73). Für das Material des Versschlusses vgl. laud. dei 3,352 uirginis eximiae pater impius esse recusat. 181 pontifices Helenus Laocon Die Erwähnung des Laokoon erscheint auf den ersten Blick recht überraschend und etwas unmotiviert. Doch ist dieser Priester so eng mit der Geschichte Trojas verbunden und besonders mit dem Auslöser für dessen Untergang, daß sich der Name unproblematisch einfügt. Daß die Namensnennung direkt neben Helenus eine Art Hinweis des Autors sein soll, um seiner Parallelisierung der Seher Gewicht zu verleihen (SIMONS 2009, 107), scheint zu plump, zumal die Parallelgestaltung der Szenen viel feiner gezeichnet ist, als SIMONS beschreibt.

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III Kommentar

Die asyndetische Reihung zweier Eigennamen, zudem von Priestern, findet sich auch Romul. 7,109 pontifices … Statulenius Optatianus. Die ungewöhnliche Form Laocon läßt sich durch Romul. 5,285 anguibus implicitum credas Laoconta gementem stützen. Vergleichbar ist vielleicht auch die (in der Dichtung für diesen Namen ohnehin üblichere) Form Isac statt Isaac, die Dracontius ausnahmslos verwendet: laud. dei 3,144 und 160. sacrata potestas S. oben zum Eintrag 178b–182. Ergänzt sei noch, daß ELLIS 1874, 258 ganz neutral „officers solemnly consecrated“ versteht, die eben wegen ihrer Weihe und der sich daraus ergebenden Erkenntnis wie Kassandra auch zurücktreten werden. Ähnliche Junktur Mart. epigr. 30,7 sacra potestas, Anth. 723a R.,5 sacra potestas. 182 S. oben zum Eintrag 178b–182 für diesen Vers. Weniges sei noch hinzugefügt: Überliefert ist ced et oranti uelamysticus exstat uterque. Zudem erkennt man im Codex hinter dem ced und unter dem et eine Rasur. Aus den oben dargestellten Gründen ist zu Beginn des Verses entweder das von IANNELLI hergestellte cedent oder cedant zu lesen. Im Dativ oranti ist entweder die Rednerin Kassandra zu verstehen, die die beiden anderen Priester darum bittet, ihren Platz zu räumen und für den potentiellen zukünftigen Priester frei zu machen (so versteht WOLFF 1996, z. St.). Wenn in oranti der zukünftige Priester gemeint ist, dann bittet er entweder um Hilfe (so versteht es KUIJPER 1958, 75), oder es wird auf seine Aufgaben als Priester abgehoben, zu denen auch das Gebet zu den Göttern gehört, das mit orare ausgedrückt wird. Ebenfalls von IANNELLI ist das unmetrische und sinnentstellte uelamysticus in uel mysticus verbessert worden (hier substantivisch, wie auch Romul. 7,113 und Orest. 59, s. ThLL VIII 1759,63ff.). Vel dürfte entweder unbetont im Sinne von et gebraucht sein, oder eher steigernd im Sinne von ‘und sogar’, um die doppelte Anzahl an Priestern zu betonen, die ihren Platz räumen. Wie oben schon gesehen, kann mysticus bei Dracontius sowohl eine Art Priesterdiener (VOLLMER, KUIJPER, WOLFF. Z. B. Romul. 10,195 mystica nutrix) bezeichnen, als auch einen Priester selbst (Romul. 7,113)171. Exstare steht für einfaches esse (auch Romul. 5,90; ROSSBERG 1887 [a], 48).

171 Wenn auch die Bedeutung an dieser Stelle recht umstritten ist, s. LUCERI 2007, 257, GALLI MILIĆ 2008, 401.

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183–187 Übergang und Einführung Apolls172 Die Epiphanie Apolls besitzt eine wichtige Funktion für den Handlungsverlauf. Sie konstruiert eine „Beinahe-Episode“173 und sorgt für den nächsten Schritt in Richtung Katastrophe.174 Unter den epischen Epiphanien, die seit Homer begegnen,175 erhält diese insofern eine Sonderstellung, als der Gott vergleichsweise lange unverhüllt spricht und dabei von einer großen Menge an Menschen gesehen wird. Diese Besonderheit der Erscheinung wirkt sich allerdings kaum auf die Gestaltung aus, ebensowenig wie all die verschiedenen Elemente, die in der Theorie zu einer ‘klassischen’ Epiphanie gehören (wie Angst der Umstehenden, Beschreibung der Schönheit des Gottes …). Doch darauf kommt es einerseits nicht an, weil der Gott hier als Gegenpart zu den beiden Vorrednern auftreten soll, es ihn andererseits aber auch wieder als für das Epos ‘unkonventionellen’ Gott charakterisiert, der – im Zuge seiner eigenen Interessen – die Konventionen der Gattung und des normalen Verhaltens außer Acht läßt. Dies gilt allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Denn mit der Unterstützung eines Protagonisten auf der Erde verhält er sich im Prinzip ganz homerisch. Daß diese Unterstützung aber höchstens sein sekundäres Ziel ist, geht aus der Einführung hervor (185f.). Apoll wird mit einem Mythos eingeführt, der auch zur weniger ruhmreichen Geschichte Troias gehört, ebenso wie die in 79 angedeutete Zerstörung der Stadt durch Herkules. Der König Laomedon errichtet die Mauern Trojas mit Hilfe von Apoll und Poseidon, verweigert ihnen aber dafür schließlich den Lohn (deshalb hier auarus). Aus diesem Grund schickt Apoll die Pest nach Troja, Poseidon ein Meeresungeheuer. Hesione soll, so ein Orakel, dem Ungeheuer geopfert werden, damit die Einwohner der Stadt gerettet werden können. Sie wird von Herkules bewahrt, aber auch diesmal verweigert Laomedon die Gegenleistung. Telamon erhält daraufhin Hesione und Herkules zerstört Troja. Dracontius erwähnt diese Strafe Apolls nicht, und auf den ersten Blick mag es so scheinen, als sei die Täuschungsrede des Gottes eine späte Strafe, die anstelle von Laomedon erst die Folgegeneration zu spüren bekommt. Doch weist 186 poenas persoluat darauf hin, daß die Strafe ‘bis zum Ende, vollständig’ gezahlt werden müsse, also die Vorgeschichte und damit die anderen Vergeltungsmaßnahmen durchaus vorausgesetzt werden dürfen.176 172 Zur Konzeption der Gesamtszene s. S. 188. Zusätzlich soll auf eine Episode in den ‘Kyprien’ verwiesen werden, die oder deren Rezeption auf die Idee, hier einen Gott einzuführen, gewirkt haben könnte. Dort – so läßt sich wohl die Stelle verstehen – bewirkt Aphrodite eine Weigerung der Anwesenden, den Vorhersagen des Helenus und der Kassandra zu glauben (Procl. Chrest. 91–94, GUERRIERI 2016, 21). 173 NESSELRATH 1992, 139f. 174 Daß der Auftritt wie der eines deus ex machina der Tragödie wirkt, ist bereits festgestellt worden (SIMONS 2005, 244, GUERRIERI 2016, 18). 175 Zum Begriff s. ELPIDIUS PAX: Epiphanie, RAC 5, 832–909, hier besonders 839f., s. auch GEORGIA PETRIDOU: Divine Epiphany in Greek Literature and Culture, Oxford 2015. Bei der Erscheinung Apolls an unserer Stelle handelt es sich um eine totale, direkte Epiphanie. 176 Dagegen sieht BRETZIGHEIMER 2010, 376 und Anm. 55 eine Auswirkung der Tradition einer späteren Rache, wie sie Neptun beim excidium Troiae mit der „Zertrümmerung seiner Mauern“

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III Kommentar

183 dum canit Wie Kassandra ihren Bruder dum loquitur (134) als neu auftretende Figur ablöst, kommt nun der Gott Apoll, während die Seherin noch spricht (für canere s. zu 135 und 162). infelix gemitus Cassandra futuros Infelix ist die Seherin grundsätzlich wegen ihres Schicksals, hier aber besonders wegen ihrer folgenden Zurückweisung durch Apoll (vgl. Sen. Tro. 977 Cassandra felix, was Andromache über sie sagt, weil sie nicht das Schicksal der anderen Frauen teilt). Gemitus in der Bedeutung ‘Dinge, die Klagen hervorrufen’, vgl. Verg. Aen. 10,843 agnouit longe gemitum … mens; s. ThLL VI 2,1752,61. 184 uisus adest cunctis Phrygibus Thymbraeus Apollo Visus und adesse sind typische Einleitungen für eine Epiphanie (daher ist adesse mit Bedacht gewählt und nicht einfach im Sinne von esse zu verstehen, wie WOLFF 1996, z. St. postuliert), so z. B. Enn. ann. 6 V. = 3 Sk. uisus Homerus adesse poeta; Verg. Aen. 2,270f. Hector / uisus adesse (WOLFF 1996, z. St.); Ov. met. 15,32 uisus adesse idem deus est, fast. 2,504 Romulus in media uisus adesse uia (s. auch ANTONINO GRILLONE: Il sogno nell’Epica Latina. Tecnica e Poesia, Palermo 1968, 84f.). Im Unterschied zu den angeführten Parallelstellen, die alle zu Traumerscheinungen gehören, verwendet Dracontius keinen von uisus abhängigen Infinitiv adesse, sondern stellt beide Worte auf eine Stufe; dazu ist cunctis Phrygibus ἀπὸ κοινοῦ zu beziehen. Für Phryges s. zu 98. In Thymbre, einer Stadt der Troas, von der sich der Beiname Thymbraeus ableitet, stand ein berühmter Apollontempel (Rhes. 224–226, Strab. 13,1,35). Dieser Beiname Apolls (vergilischer Versschluß [georg. 4,323; WOLFF 1996, z. St.]) ist gewiss nicht zufällig gewählt. Der Gott tritt in einer Erscheinungsform auf, die ihn als der Region und der Stadt Troja verbunden ausweist.177 Daher ist es umso verständlicher, daß die Trojaner ihm vertrauen, und umso hinterhältiger, sie dadurch noch mehr zu täuschen. 185 qui mercede carens conclusit Pergama muro Mercede carens ist sicher inspiriert von Ov. Pont. 2,3,35 mercede caret. Im Abschnitt über Laomedon in den ‘Metamorphosen’ heißt es 11,214 mercede negata. Für concludere bei Städten vgl. Vet. Lat. Ios. (Lugd.) 6,1 Iericho conclusa erat et firmata (ThLL IV 74,57f.); Dracontius wirkt vielleicht auf Ven. Fort. carm. 3,12,27 latum muro concludere campum. Der Versschluß ist von Statius inspiriert: Ach. 1,871 und silv. 1,1,11 Pergama muris.

übt. Zu Recht kritisiert sie jedoch Anm. 56 die Interpretation von SIMONS 2005, 289, die hier die Machtlosigkeit Apolls gezeigt sieht, da er eben erst später Rache üben darf. Dagegen spricht, wie oben angedeutet, persoluere, sowie der Umfang der trickreichen Rache. 177 In der ‘Georgica’-Stelle soll die Junktur auf die Abstammung der gens Iulia von den Trojanern verweisen (ERREN 2003, 916).

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186f. genus ingratum poenas persoluat auari / exoptat Auarus meint Laomedon (WOLFF 1996, z. St., ZWIERLEIN BT z. St.). Dieses Attribut erhält er normalerweise nicht,178 es läßt sich aber mit der Laomedon-Episode aus Ovids ‘Metamorphosen’ erklären, wo es 11,208 heißt ad auarae litora Troiae. Es schließt zudem nahtlos an mercede carens im Vers zuvor an. Der Genitiv kann sowohl von genus, als auch von poenas abhängig gemacht werden, wobei ersteres die prägnante Bedeutung von persoluere poenas (omnipräsent in der lateinischen Literatur, s. ThLL X 1,1713,45), ‘die Strafen bis ins Letzte zahlen’, optisch und gedanklich ausmalt. Persoluere poenas könnte hier ein weiterer Rekurs auf die Laomedon-Szene bei Ovid darstellen, der den Rachedurst der Götter mit poena neque haec satis est (211) illustriert. Bei Dracontius noch laud. dei 3,494 poenas persoluit an gleicher Versposition. Vgl. für die Formulierung auch Claud. 5,437 poenas (HALL setzt fraudes in den Text) … animi persoluit auari. Genus ingratum auch [Sen.] Herc. O. 1810. Exoptare mit bloßem Konjunktiv nur noch Cens. 2,1 id … saepissime facias exopto, ThLL 5,2,1550,15ff. 187 stupuere Phryges Von den typischen Elementen einer Epiphanie ist hier nur das Erstaunen angeführt (FRIEDRICH PFISTER: Epiphanie, RE Suppl. 4, 277–323, hier 317). Vgl. 109 obstupuere omnes. Für Phryges s. zu 98. tacet ipsa sacerdos IANNELLIs Konjektur ipsa anstelle des überlieferten ipse soll hier mit ZWIERLEIN BT (VOLLMER MGH und WOLFF 1996 haben ipse) der Vorzug gegeben werden. Es spricht für sie besonders, daß Kassandra gerade noch gesprochen hatte und das weit wortreicher und ausführlicher als ihr Bruder. Auch der Beginn der Rede des Apoll, der mit seiner Invektive zunächst Kassandra trifft (quid uirgo canit 188) unterstützt die Konjektur. Vgl. WOLFF 2015 (a), 363, GRILLONE 2006, 96f.). Das überlieferte ipse könnte auch (weniger überzeugend) erklärt werden: Angeregt durch das stupuere, das im Kompositum obstupuere nach der Rede des Paris die Reaktion seiner Zuhörer beschreibt, nach der wiederum Helenus bald zu sprechen beginnt, lassen sich die Situationen parallelisieren: Der Auftritt Apolls, auch er auf feindlicher Seite (auch wenn dies noch keiner ahnt), verbietet dem Priester-Seher eine Äußerung zu machen – diesmal schweigt sogar dieser. 188–210 Rede Apolls179 Die Rede läßt sich folgendermaßen gliedern:

178 Üblicherweise wird er mit seiner periuria charakterisiert, die auch 297 aufscheint. Die Unterscheidung des Verhaltens des Laomedon in einerseits ‘habgierig’, andererseits ‘Meineid leistend’ ist Ov. met. 11,205f. vorgeprägt: pretium rex infitiatur et addit, / perfidiae cumulum, falsis periuria uerbis. 179 Anders als DIAZ DE BUSTAMANTE 1978 und auch DE GAETANO 2010 es tun, wird hier nicht von einer politischen Bedeutung der Rede und überhaupt des Gesamtgedichts ausgegangen. Alles spielt sich auf der Ebene des Mythos ab und besitzt keine weiterreichende religiös-politische Bedeutung. Dracontius aktualisiert die politische Valenz des Rom-Mythos nicht, sondern beläßt diesen im literarischen Diskurs. Der Dichter geht in seinen Vorausdeutungen nicht über den Mythos hinaus. Der für diese Rede einschlägige Aufsatz GABRIELA ANDREA MARRÓN: La

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III Kommentar

188–189 Invektivische Fragen an die Priester-Seher 190–203 Die ‘Pläne’ der fata 190–199a Die große Zukunft Trojas, die mit der Aufnahme des Paris beginnt 199b–203 Direkte Anrede an die Seher, die den fata nicht entgegenstehen dürfen; Paris als persönlicher Schützling der Parzen 204–205 Aufforderung, Paris königlich zu kleiden 206–210 Apoll als Hirte bei Admet und Alkestis Die Rede des Apoll ist besonders wegen ihrer rhetorischen Raffinesse bemerkenswert; es wird eine aus verschiedenen Elementen zusammengesetzte Überzeugungsstrategie eingesetzt. Dabei fällt insbesondere auf, daß Apoll die Trojaner zwar betrügt, dies aber ausschließlich mit der Wahrheit. Mit der Täuschung schlägt er die Trojaner ‘mit ihren eigenen Waffen’. Denn Laomedon hatte den Gott hintergangen und getäuscht.180 Insofern ist das Handeln des Gottes freilich unmoralisch, aber andererseits auch eine (verständliche?) Antwort auf erfahrenes Unrecht.181 Im folgenden sollen die wichtigsten Punkte der Überzeugungsstrategie Apolls aufgezeigt werden. Nach invektivischen Fragen zu Beginn und der ironisch-spöttischen Bemerkung zu Helenus enthält der erste Teil Vorhersagen über eine blühende Zukunft Trojas (188–199a). Weiterhin stellt der Gott den Paris wie sakrosankt unter dem persönlichen Schutz der Parzen dar, dem niemand zu nahe treten darf, und der in die Stadt aufgenommen werden müsse. Apoll hebt zum Abschluß auf den Beruf des Paris ab. Hirte zu sein, ist nichts Verwerfliches und nichts Geringes, so daß Paris sich dafür schämen müßte. Die Begründung folgt im Anschluß: Er selbst, der Gott Apoll, habe einmal Herden gehütet innerhalb seiner Tätigkeit als Hirte bei Alkestis182 und Admet. Die Reaktion auf Auftritt und Rede Apolls kann als protestlose Zustimmung und vollkommener Gehorsam von Seiten des trojanischen Königs bezeichnet werden. Dieser betet den Gott kniefällig an und dankt für die göttlichen Offenbarungen. Zu widersprechen traut sich keiner, betont wird Hektor dabei hervorgehoben; daß

profecía de Apolo en El rapto de Helena de Draconcio (Romul. 8). Auster 22, 2017 (http://doi.org/10.24215/23468890e3 9) konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. 180 Ob das Verschweigen der sonst stets präsenten periuria Laomedons (z. B. Verg. georg. 1,502, Aen. 4,541f., Serv. auct. Aen. 1,2) gerade dadurch auf sie aufmerksam machen soll, um amüsiert auf den Trug Apolls hinzuweisen? 181 WASYLs 2011, 58f. Verständnis der Rede, die so ganz auf das trügerische Wort ausgerichtet ist, als eine Problematisierung des „Wortes“ an sich, das unter Umständen Kriege auslösen könne, ist denkbar, wenn man dem Gedicht eine über die Darstellung selbst hinausgehende Bedeutung geben möchte. 182 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 196f. glaubt, daß die Erwähnung dieser Geschichte aus der möglichen Parallelisierung von Tod und Auferstehung der Alkestis mit Untergang und Wiedererstehen Trojas motiviert ist. Dies scheint mir jedoch zu weit zu gehen und nicht recht passend. Es wird ausreichen, die Motivation für die Erwähnung der Episode im Beruf des Hirten zu finden.

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es aber Zweifler geben muß, zeigen 608f. nam quicumque memor Heleni mox dicta tenebat, / laetatur gaudens et tantum uoce dolebat. In seiner Anlage und in seinem Inhalt ist der Abschnitt der Rede über die fata an der Jupiterrede des ersten vergilischen ‘Aeneis’-Buches orientiert (257ff.),183 was auch das überdeutliche Zitat imperium sine fine dabit (199) nahelegt.184 Jupiter erklärt mit seinen Worten die Zukunft der Trojaner in Rom, um seine Tochter Venus, die um ihren Schützling Aeneas fürchtet, zu beruhigen. Auch Apoll spricht ausschließlich die Wahrheit, allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen. Denn er wählt aus der vorbestimmten Zukunft unter Aspekten der rhetorischen Überzeugung Elemente aus, die wirksam sind. Auf diese Weise verschweigt er Dinge (wie die Grauen des trojanischen Krieges)185 und sagt nur den Erfolg voraus. Unklar bleibt jedoch auch, daß die Zeit der großen Herrschaft nicht mehr die Trojaner im engeren Sinne betreffen wird, sondern erst die Zeit, in der ein Teil von ihnen in Latium ein neues Leben begonnen haben wird. Das geschickte Auslassen bestimmter unbequemer Details bei gleichzeitiger Berufung auf das fatum ist ein erster Teil der Überzeugungsstrategie des Gottes. Nach der kurzen Einleitung mit invektivischen Fragen186 gegen die beiden Seher samt der ironischen Bemerkung Helenus deterret Pergama uerbis (189) – die Herabsetzung der ‘Gegner’ kann als weiterer Punkt in der Überzeugungsstrategie verstanden werden187 – trägt Apoll sein und der fata Anliegen vor. Furios mit der starken p-Alliteration und dem Reim fata uetant, quae magna parant. stant (191) im folgenden Vers beginnt der Hauptteil der Rede. Auch die stilistische Ausarbeitung der Rede ist eines der Elemente, die sie so wirksam werden läßt. Ein weiteres ist die Verwendung bei den Vorrednern bereits gefallener Begriffe. Die fata, die auch Kassandra in ihrer Rede erwähnt hat und mit denen sie auf den Traum der Hekabe zielte (162), nutzt Apoll ebenfalls, aber ganz allgemein für die Vorsehung, auf die die ganze Rede ausgerichtet ist. Daß Apoll und Kassandra einen jeweils 183 So auch STOEHR-MONJOU 2016, 142f. 184 WOLFF 1996, 136 problematisiert den Roma aeterna-Gedanken, der aus der Apoll-Rede spricht. Wie könne Dracontius in seiner Zeit noch von einem imperium sine fine reden, wo er doch mitten in einem vandalisch beherrschten römischen Reich lebt. WOLFF beantwortet die Frage selbst und gibt an, daß die Römer dieser Zeit noch immer an das imperium sine fine geglaubt haben und die barbarischen Herrscher, indem sie legitim an der Macht waren, Teil dieses Reiches geworden seien. WOLFF weist mit dieser Anmerkung völlig zu Recht darauf hin, daß der Troja-Mythos in seiner römischen Rezeption stets ein politischer Mythos war; auch das vergilische Epos, dem das Zitat in der Apoll-Rede entnommen ist, besitzt ein übergeordnetes politisches Ziel. Dagegen scheint aber die Interpretatio Romana des Dracontius keine politische Implikation mehr zu haben, sondern sie besitzt eine kulturelle Funktion. Die Arbeit am althergebrachten Mythos wirkt identitätsstiftend – ob nur für die Römer, oder ob die Vandalen in diese Tradition mit hineingenommen werden sollen, ist kaum entscheidbar. S. für das Problem auch BRETZIGHEIMER 2010, 384 und STOEHR-MONJOU 2016, 143ff. 185 Schwerwiegende Probleme und kommende kriegerische Auseinandersetzungen verschweigt Jupiter hingegen nicht (z. B. Verg. Aen. 1,263). 186 Ebenso beginnen die beiden Seherreden mit vorwurfsvollen Fragen an die Eltern. 187 In diese Kategorie gehören mit Sicherheit auch die Verse 199b–203, in denen insbesondere das Verhalten der Kassandra getadelt wird.

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III Kommentar

anders verstandenen fatum-Begriff verwenden,188 kann den Zuhörern nicht klarwerden und sie werden gezwungen (nicht zuletzt dadurch, daß Apoll ein Gott ist und seine Worte über die Zukunft zumindest den Eltern ohnehin besser gefallen), dem fatum-Begriff des Gottes zu folgen. Ebenfalls schon gefallen war der Name Achills (192) und zwar sowohl bei Helenus als auch bei Kassandra (sogar jeweils an der gleichen Versposition: Achilles 127 in der Helenus-Rede am Versanfang, Aeacides in der Kassandra-Rede 157 im zweiten Versfuß), der dort jeweils als ein Schreckensbild sondergleichen figuriert. Geschickt reagiert Apoll gleich zu Beginn seiner Rede mit einer Lösung auf das drohende Problem: Paris wird Achill niederstrecken. Daß für diese Tat aber ein ganzer Krieg in Kauf genommen werden muß, den es ohne Paris nicht gäbe, übergeht Apoll geflissentlich. Es finden sich weitere Stellen, an denen der wissende Leser ganz klar doppeldeutige oder geschickt formulierte Äußerungen extrahieren kann, die die direkt anwesenden, aber unwissenden Zuhörer natürlich in die für sie günstige Richtung deuten müssen.189 Eines der Beispiele ist ziemlich genau in den goldenen Schnitt der Rede gesetzt, was ihm ein noch größeres Gewicht verleiht. Der Vers 197 tempore nec paruo Troum regnabit origo weist eine grammatische Doppeldeutigkeit der Zeitangabe auf, die entweder ‘eine lange Zeit’ oder ‘nach einer langen Zeit’ bedeuten kann. Beides ist auch inhaltlich richtig, doch werden die trojanischen Zuhörer nur ‘eine lange Zeit’ verstehen, um es in ihr Bild von der glanzvollen Zukunft einzupassen.190 Auch die 200 gestellte Frage mortali diuum periet quo iudice iudex? samt der folgenden Antwort nec hoc fata sinunt wirkt vor dem Hintergrund der zukünftigen Ereignisse, nämlich dem Tod des Paris im trojanischen Krieg trügerisch. Denn natürlich trifft es zu, daß Paris nicht jetzt sterben soll in der Weise, die Kassandra für ihn vorsieht, aber daß ihn in nicht allzu ferner Zukunft dennoch der Tod ereilen wird, verschweigt Apoll. Verbunden mit der naheliegenden Frage, warum Apoll seine eigenen Priester durch seine Rede widerlegt und gleichzeitig lächerlich macht, ist auch die Überlegung, warum Apoll überhaupt an dieser Stelle einen Auftritt erhält.191 Ein Blick auf

188 Vgl. die Einleitung Kap. 2.1.3.4 und S. 232. Apoll nutzt 191. 198. 201 das fatum-Verständnis, das auch der Jupiterrede zugrunde liegt. 189 Auf diese Weise wird Apoll in die Nähe des ihm heiligen Orakels gerückt, das mit doppeldeutigen Aussagen so manchen verwirrt hat. Ähnlich auch BRETZIGHEIMER 2010, 384. BRETZIGHEIMER 2010, 382 versucht, mit Blick auf die Venus der ‘Aeneis’, die 1,239 auf die frohmachende Zukunft blickt und dafür die unglücklichen, schwierigen Zeiten in Kauf nimmt, auch für die Trugrede Apolls eine solche „Kompensierung“ plausibel zu machen. Dagegen spricht jedoch die völlig andere Situation und vor allem das völlig andere Verhältnis der Götter zu den Menschen. Während Aeneas der Venus wirklich am Herzen liegt, ist Apoll allein auf eine Strafe für den Betrug aus. 190 S. den Kommentar z. St. 191 WOLFF 1996, 138 vermutet, daß Mythogr. 2,223 unde et Troiani, cum aduentu Helene Troiam destruendam (sc. Cassandra) prediceret, minime sibi Apollinis iussu credebant Dracontius zu dieser Rolle Apolls inspiriert haben könnte. Doch verweist Apollinis iussu auf Apoll als den

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die Tradition des Gottes in Verbindung mit den Trojanern zeigt, daß auch in der ‘Aeneis’ (3,94ff.) Apoll einmal das große Schicksal Trojas verheißt,192 daß er auch anderswo in der ‘Aeneis’ direkte und indirekte prophetische Funktion besitzt,193 zudem grundsätzlich als Orakelgott gilt, und damit hier ebenfalls dafür prädestiniert erscheint.194 Damit steht in enger Verbindung, daß Apoll aus der Tradition heraus zu einem ‘Jupiter-nahen’ Gott entwickelt worden ist, der in der augusteischen Dichtung oft gemeinsam mit Jupiter genannt wird195 und der in der ‘Aeneis’ beispielsweise nach dem Göttervater selbst am häufigsten auftritt.196 Damit scheint er auch automatisch als ein Gott zu figurieren, der, anders als in der ‘Ilias’, wo auch er parteiisch ist, das fatum vertritt. Der Punkt muß allerdings für unseren Text dahingehend modifiziert werden, daß Apoll laut seiner eigenen Worte nichts anderes im Sinn hat, als die Wege der fata zu verteidigen, aus der Einführung seiner Person und Rede jedoch hervorgeht, daß er einen privaten Rachefeldzug gegen die Trojaner plant (185f.).197 Aus diesem Grund verkündigt er die Zukunft nicht vollständig, sondern sehr selektiv.198

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198

Urheber des Schicksals der Kassandra, daß ihr niemand Glauben schenkt, als Strafe dafür, daß sie ihn verschmähte. BRETZIGHEIMER 2010, 377, die besonders auf die Grausamkeit Apolls einerseits, weil sie den frommen Priamus trifft, andererseits ohnehin ganz unschuldige Trojaner (letzteres unterscheidet sich aber in seiner Ungerechtigkeit überhaupt nicht von den grundsätzlichen, im Prooem, angeklungenen Ausmaßen des trojanischen Krieges) verweist, vermutet eine Anregung aus der ‘Aeneis’, wo Neptun, Iuno und Minerva als Verantwortliche des Untergangs genannt werden (2,601–623); Dracontius weise hier nun dem dort nicht erwähnten Feind der Trojaner, Apoll, einen würdigen Platz zu. Die Verbindung stellt MORELLI 1912, 104 her. ALEXANDER GORDON MCKAY: Apollo, EV 1, 220–222, KÖVES-ZULAUF 1998, 108. Verwiesen sei hier besonders auf Verg. Aen. 2,114f. 119–121 in der Rede des Sinon, was schließlich ein Baustein zum Verderben der Trojaner ist. Auf das Spiel mit der typisch apollinischen Ambivalenz der Prophetien verweist auch GUERRIERI 2016, 16. Für eine Stellensammlung s. KÖVES-ZULAUF 1998, 110. ALEXANDER GORDON MCKAY: Apollo, EV 1, 220–222, hier 221. WASYL 2011, 80f. erklärt die Kombination aus der Existenz des allwissenden Erzählers, der den Leser über die wirklichen Hintergründe für Apolls Handeln informiert, und der aus der Sicht des Paris sich ereignenden Tragödie mit einem positiven Ausgang durch einen deus ex machina, die der Leser gespannt verfolgen kann, als eine Gattungsmischung von Epos und Tragödie. Indem die Protagonisten den hauptsächlichen Sprecheranteil übernehmen, ziehe sich der Erzähler auf Regieanweisungen und kurze Einschübe zurück. Diese seien jedoch ihrem Inhalt nach Kommentare eines allwissenden Erzählers, so daß sich diese Mischung ergebe. In diesem Sinne muß auch die von DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 124; 196 beobachtete und von WOLFF 1996, 138 (die Verwunderung MORELLIs 1912, 103f. und QUARTIROLIs 1946, 182 entkräftend) bestätigte Auffassung der Apoll-Rede modifiziert werden. Sie meinen, ein Gott widerspreche seinen Priestern nur, wenn er ein weit höheres und bedeutenderes Ziel verfolge. Dieses Ziel sei hier die Durchsetzung des fatum und sie verweisen dafür völlig zu Recht auf die Geschichte des Laokoon aus dem zweiten Buch der ‘Aeneis’ (für die Parallelisierung der Szenen s. oben). Doch benutzt der Gott das fatum in der Darstellung eigentlich nur für seine eigenen Zwecke.

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III Kommentar

Hinzu kommt seine Eignung für die Verteidigung des Paris, da er als ein Gott bekannt ist, der ein starkes bukolisches Moment in sich trägt,199 das er am Ende der Rede auch selbst zum Argument ausbaut. Daneben sind Paris und Apoll auch über die an einigen Stellen bezeugte, gemeinsame Tötung Achills verbunden.200 Schließlich gibt auch die Epiklese Thymbraeus einen Hinweis für die Wahl dieses Gottes.201 Denn nach einer Mythenvariante haben die Zwillinge Helenus und Kassandra im trojanischen Tempel des Apollo Thymbraeus ihre Sehergabe erhalten. Die Rede Apolls bildet mit den Reden des Helenus und der Kassandra einen rhetorisch besonders ausgestalteten Komplex innerhalb des Gedichts (ähnlich wie später die Salamis-Episode). Die Gegenrede des Gottes, die den Ablauf der Ereignisse recht überraschend (statt bloßen Unglaubens der Worte der Kassandra) entscheidend prägt, vermittelt auch der Rede der Seherin einen völlig anderen Stellenwert.202 Denn durch diese Gegenrede wird die von ihr vorgebrachte Suasorie zu einer Controversie, auf der Ebene der Schulrhetorik, die Dracontius wohl zum Vorbild gedient hat, auf der Ebene einer echten Auseinandersetzung zum – jedoch letztlich einseitig bleibenden – Rededuell.203 188 effatur Spielerisch setzt der Dichter effari als Einleitung zur Rede Apolls, auf das dann eine trügerische Rede zum fatum folgt (für diese empfundene etymologische Zusammengehörigkeit s. z. B. HEINRICH OTTO SCHRÖDER: Fatum [Heimarmene], RAC 7, 524–636, hier 525f.). quid uirgo canit? Die Invektive trifft zunächst Kassandra, die als uirgo bezeichnet wird (noch Verg. Aen. 2,403 Priameia uirgo, Comm. instr. 1,11,7, der dort die Geschichte zwischen Apoll und Kassandra behandelt). Ganz besonders auffällig ist die

199

200 201 202 203

Auch der jeweils geäußerte Eindruck, Helenus und Apoll stünden gemeinsam gegen Kassandra, weil die beiden ersten das fatum durchsetzen wollten, letztere sich gegen jenes auflehne, kann so nicht bestätigt werden, wo sich doch der fatum-Begriff in den jeweiligen Reden unterscheidet. Tatsächlich geht Helenus (wahrscheinlich) von einem dem des Apoll vergleichbaren fatumVerständnis aus, aber da er seinen Kampf dagegen nicht zu Ende ficht, wird es nicht vollständig klar. Kassandra jedenfalls scheint nicht mit einem unveränderlichen Schicksal zu rechnen, sondern mit einem, das bei der richtigen Verhaltensweise veränderlich ist. Aus der Szenengegenüberstellung oben geht in jedem Fall eindeutig hervor, daß Apoll sowohl gegen Kassandra als auch gegen Helenus steht. Seine Arbeit bei Admet ist nur ein Teil dieser bukolischen Seite, s. KÖVES-ZULAUF 1998, 114. In der ‘Ilias’ und in den ‘Homerischen Hymnen’ wird bezeugt, daß Apoll auch sonst Rinderherden geweidet und besessen habe (Il. 21,448ff., Hom. hymn. 4,102). In den vergilischen ‘Georgica’ erscheint er 3,2 als pastor ab Amphryso, in der gleichen Konstruktion, in der es von Paris pastor ab Ida (s. zu 117) heißt. Z. B. Verg. Aen. 6,57f., Ov. met. 12,600–606; 13,500f. GUERRIERI 2016, 16 und Anm. 19. Auf Verg. Aen. 3,85ff. und die Bitte des Aeneas an Apollo Thymbraeus, ihm ein Zeichen zu geben, sowie dessen Antwort führt STOEHR-MONJOU 2016, 147f. die Wahl zurück. Die Rede des Helenus kann als sozusagen in der Argumentation „abgebrochen“ außer Acht gelassen werden. S. für die Unterscheidung WOLFGANG FISCHER: Rededuell, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 2005, 791–797, hier 793.

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Verwendung zudem, wenn man bedenkt, daß Apoll in Kassandra verliebt war, ihr die Sehergabe verliehen hat, um sein Werben deutlich zu machen, sie ihn aber zurückgewiesen hat. So könnte man neben der Invektive in der Frage an sich auch im Wort uirgo selbst eine abfällige Nebenbemerkung mithören. Für canere bei Sehern s. 135. 162. 183; Apoll greift genau das gleiche Wort auf, mit dem auch die Kassandra-Rede 135 eingeleitet wurde. 188f. cur inuidus alter / exclamat? Mit inuidus stellt Apoll den Neid als Motiv für das Reden des Helenus vor. Dies ist eine ebenso trügerische Auslegung der Worte des Sehers, wie sie mit der Frage quid uirgo canit? erreicht wird. Das zu alter zu ergänzende sacerdos geht aus dem Zusammenhang hervor. Wie bei Kassandra verwendet Apoll mit exclamare das Wort, das auch die Helenus-Rede 120 eingeleitet hat (dieser direkte Bezug auf die Seherreden spricht gegen die Interpunktion von BAEHRENS und VON DUHN, die exclamat außerhalb der direkten Rede mit Apoll als Subjekt verstanden wissen wollen). 189 Helenus deterret Pergama uerbis Ist m. E. als ironisch-spöttische Aussage, nicht als Frage zu verstehen, wie sonst von allen Editoren interpungiert wird. Deutlich wird dies aus dem betont ans Ende gerückten uerbis. Es sind bloße (inhaltsleere) Worte, die Helenus ausspricht, um die Bewohner seiner Stadt von der Aufnahme des Paris abzuhalten (vgl. etwa Plaut. Most. 609 non edepol tu nunc me istis uerbis territas). Dadurch, daß zu deterrere nur ein Akkusativ der Person, zumindest ad sensum (ThLL V 1,806,57), gestellt ist, bleibt offen, ob es nur in der weiteren Bedeutung im Sinne von terrere zu verstehen ist, oder mit einem gedachten ‘Paris aufzunehmen’ in der Bedeutung ‘abhalten’. 190f. pellere pastorem patriis de sedibus umquam / fata uetant Pellere greift direkt 161 muris depellite fratrem auf. Vgl. für den erhabenen (BÖMER 1986, 257) Ausdruck Lucan. 2,574 expulit … patriis e sedibus. Für patriae sedes vgl. z. B. Verg. Aen. 2,634, Ov. met. 15,23, trist. 1,1,34. Für die Junktur fata uetant vgl. Verg. Aen. 8,398f. Troiam nec fata uetabant / stare und Ov. met. 3,548 fata uetabant, Lucan. 10,485 (mit paralleler Situation: Caesar wird im ägyptischen Königspalast angegriffen, aber man kann ihm nichts anhaben, weil es die fata nicht zulassen); Stat. Ach. 1,81, Theb. 3,316. 191 quae magna parant Reim mit fata uetant. Für die Junktur magna parare vgl. Ov. met. 6,618 magnum … paraui, Stat. silv. 5,2,30, Sil. 1,136. stant iussa deorum Iussa deorum ist synonym zu fata; der Inhalt der iussa wird im folgenden ausgeführt. Stare in der Bedeutung ‘feststehen’ (WOLFF 1996, z. St.; OLD s. v. 18,1824). Für den Versschluß vgl. Culex 293, Sil. 13,7. 192 magnanimum Aeaciden solus prosternet Achillem Fatum und Götter haben beschlossen, daß Paris den Angstgegner der Troer, Achill, töten solle (zum Bezug auf die Seherreden s. die Einleitung zum Abschnitt, S. 264). Indem der Tod des Feindes verkündet wird und er gleichzeitig nur Objekt, nicht wie bei den Sehern

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III Kommentar

Subjekt des Satzes ist, wird ihm einiges an Schrecken genommen. Gleichzeitig wird die Aufnahme des Paris unumgänglich gemacht und mit solus betont. Daß es Achill überhaupt nur gibt, wenn der Sohn und Bruder zurückkommt, ist dabei wirksamerweise völlig ausgeblendet. In der ‘Ilias’ finden sich drei Stellen, an denen der Tod des Achill vorausgesagt wird: durch sein Pferd Xanthos (Il. 19,408–417), durch seine Mutter Thetis (Il. 18,96; 21,277–278) und schließlich durch den sterbenden Hektor (Il. 22,359f.). Über den genauen Hergang des Todes finden sich verschiedene Varianten, s. JAKOB ESCHER: Achilleus, RE 1, 1, 221–245, hier 238f. Prosternere in der Bedeutung ‘im Kampf niederstrecken’, s. ThLL X 2,2228,37ff. Vgl. für prosternere im Zusammenhang mit Achill Homer. 847 (sc. Achilles) prostratus (als Trauergestus), mit Paris Homer. 756 nec Paris hostiles cessat prosternere turmas. Das Motiv, daß nur ein einziger Krieger gegen einen Feind ankommt, mag von Stat. Ach. 1,474f. in Hectora solus Achilles / poscitur inspiriert sein. Ebenso wie die schon in der Helenus- und Kassandra-Rede festzustellende Angst vor Achill: illum unum Teucris Priamoque loquuntur / fatalem (Stat. Ach. 1,475f.). Magnanimus ist seit Hom. Il. 9,184 stehendes Beiwort Achills; vgl. Ov. met. 13,298 und besonders Stat. Ach. 1,1 magnanimum Aeaciden, das direkt zitiert wird. Diese Zitierweise gehört zu denen, die am häufigsten bei Statius-Zitaten begegnen, die den Versanfang betreffen: Sie beschränken sich meist auf zwei Worte und reichen bis zur Penthemimeres; s. MOUSSY 1989, 428. Da in der Rede Apolls der direkte Bezug zur Jupiterprophetie des ersten vergilischen ‘Aeneis’-Buches gegeben ist, mag auch von dort 260 magnanimum Aenean mitschwingen. 193 Troianos regnare placet In einem Halbvers wird der Beschluß (der Götter und des fatum) genannt, daß die Trojaner herrschen werden. Zweieinhalb Verse beschreiben danach (und damit ist die Ausdehnung auch im Textbild zu fassen) mit qua eingeleitet das riesige Reich, das die ganze Welt umfaßt, den zukünftigen Herrschaftsbereich der Troer. Placet in der Bedeutung ‘es wird beschlossen’; sicher auch unter dem Einfluß der Jupiterprophezeiung Verg. Aen. 1,283 sic placitum (so auch BRETZIGHEIMER 2010, 383, Anm. 71; s. für placere bei Götterbeschlüssen ThLL X 1,2262,44ff.). 193b–196 Eine solche Periphrase der Größe eines Reiches mit ähnlichen gestalterischen Mitteln wie hier (Umschreibung der Himmelsrichtungen) findet sich auch laud. dei 3,161–168: aetatem mundi retinens descendit origo, continuans dominata manet per saecula mundi. nec tempus retinet tantum, spatiatur in orbem, qua profert tollitque diem sol luminis index, qua nescit lustrare polos, qua flammeus urit; imperat et pelago; caelum possedit origo sancta prophetarum, tenet et loca magna piorum: omnia possedit benedicti lata propago.

193f. qua solis habenae / ostendunt tolluntque diem Der Osten und der Westen werden durch den Sonnenlauf charakterisiert (vgl. laud. dei 3,164 qua profert

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tollitque diem sol luminis index, für das Bild auch Hor. carm. saec. 9f. alme Sol, curru nitido diem qui / promis et celas). Solis habenae spielt auf den Sonnenwagen des Helios an (absichtlich epischer als das sol luminis index aus den laud. dei); für habenae im Sinne von currus s. ThLL VI 3,2392,50ff.; bei Dracontius auch Romul. 10,473. 495. Der Versschluß scheint eine Erfindung der spätantiken Dichtung zu sein; er findet sich Avien. orb. terr. 276. 329, Auson. 27,24,17 GREEN, Claud. 15,153; 28,192, Romul. 10,473. 194f. qua uertitur axis / frigidus et zona flammatur sole corusco Norden und Süden werden über die unterschiedlichen, von Kälte und Hitze geprägten, Himmelszonen dargestellt. Axis wird seit Ovid für Himmelszonen und die darunter befindlichen Erdteile genutzt (ThLL II 1638,38); axis frigidus (die Junktur Varro Men. 276, Sen. Med. 712, [Sen.] Herc. O. 1251) ist somit die nördliche Zone der Erde (der Versschluß ist mit Hept. lev. 39 uerterit axis nur klanglich vergleichbar, wie Manil. 3,308, Lucan. 2,237, Avien. Arat. 1160, Rut. Nam. 1,17). Wie axis ist auch zona zu verstehen (OLD s.v. 2125,3) und meint konkret den Gürtel um den Äquator, an dem es besonders heiß wird (s. für axis auch LUCERI 2005, 246f., Anm. 19). Flammare in der Bedeutung ‘erhitzen’ ist eine Bedeutungserweiterung, die Dracontius selbst vorgenommen hat (noch laud. dei 1,190, ThLL VI 1,847,1f.). Coruscus in der Bedeutung ‘glänzend, leuchtend’ wird seit Vergil von der Sonne gesagt (Verg. georg. 1,233f. [anders als hier im Zuge einer Theorie über die Klimazonen; vgl. WOLFF 1996, z. St.]; Sil. 8,434; Firm. math. 1,10,4). 196 Troianis dabitur totus possessio mundus Zusammenfassend, prägnant und parallel steht nach der Periphrase der Herrschaftsausdehnung mit vorangehendem Troianos regnare placet nun totus possessio mundus mit vorangehendem Troianis dabitur. Die Verbindung possessio mundus auch laud. dei 1,354 als Versschluß (sibimet data sit possessio mundus; von den Menschen, denen Gott die Welt unterstellt). 197 tempore nec paruo Troum regnabit origo Hier ist zum ersten Mal explizit von den ‘Nachkommen’ (origo in dieser Bedeutung auch laud. dei 3,161. 166, s. ThLL IX 990,81) der Trojaner die Rede, die die Herrschaft übernehmen werden. Paruus steht anstelle von breuis (ThLL X 1,559,66ff.). Tempore nec paruo soll eine Zeitausdehnung, innerhalb der etwas geschieht, ausdrücken (K-S II, 1, 356, vgl. auch WOLFF 1996, z. St.): Der Stamm der Trojaner wird also über eine lange Zeit hinweg Herrscher sein. Die Perfidie Apolls wird allerdings dadurch gesteigert, daß man grammatisch doppeldeutig auch ‘nach einer langen Zeit’ verstehen kann (K-S II, 1, 356f.), also nach Krieg, Irrfahrten und erneuten Kriegen (in Anlehnung an Aen. 1,269ff.). 198 fata manent, conscripta semel sunt uerba Tonantis Gedankliches Aufgreifen von 191, ebenfalls mit der Gleichsetzung von fata und Göttersprüchen. Gleicher Versanfang Epiced. Drus. 357 (in anderer Bedeutung). Manere drückt die unveränderliche Beständigkeit der fata aus (ThLL VIII 284,37ff.); auch dies ist schon auf

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die vergilische Jupiterrede zurückzuführen: parce metu, Cytherea, manent immota tuorum / fata tibi (Verg. Aen. 1,257f.). Auf der Handlungsebene ist conscribere daher im übertragenen Sinne von ‘festsetzen’ zu verstehen (sehr selten ThLL IV 377,4ff.; s. auch MLW II 1502,65ff.). Auf einer Metaebene läßt conscripta uerba ein wörtliches Verständnis zu (ThLL IV 376,41): Der Ausdruck weist im Verein mit dem direkten Zitat auf Vergils ‘Aeneis’, in der die Worte festgeschrieben sind, bzw. auf der Ebene des Mythos auf Jupiter als Autoritätsquelle hin. Bei Vergil ist die Jupiterprophezeiung ein für alle Mal (semel in dieser Bedeutung OLD s. v. 1729, 3) aufgeschrieben und kann nicht mehr geändert werden (so auch STOEHRMONJOU 2016, 143f.). 199 imperium sine fine dabit Direktes Zitat aus der Jupiterrede des ersten Buches der ‘Aeneis’ (Verg. Aen. 1,279 imperium sine fine dedi), das immer wieder von den späteren Autoren aufgegriffen wurde, z. B. Tert. apol. 25,16, Prud. c. Symm. 1,542, Sulpicia sat. 34, Aug. serm. 105,10, civ. 2,29 p.96,8 (WOLFF 1996, z. St.; mit imperii per saecla tui sine fine manentis scheint Dracontius auch laud. dei 2,24 darauf anzuspielen). Fatum und Götterwille stehen auf einer Stufe und haben das gleiche Ziel – die Herrschaft der Trojaner. Auf der direkten Handlungsebene bedient sich Apoll eines Autoritätsarguments, wenn er Jupiter selbst zitiert,204 der damit all das, was Apoll bis jetzt gesagt hat, bestätigen und bezeugen kann und soll. Imperium sine fine dabit expliziert die Verse 193–195 sowie dabitur totus possessio mundus (196). cohibete furorem Anrede an die beiden Seher; furor dürfte 134 furibunda sacerdos wieder aufgreifen; für furor von Sehern s. ThLL VI 1,1630,16ff., besonders bei Kassandra, z. B. Prop. 3,13,65. S. auch oben zu 134. Die Junktur seit Cicero (Phil. 5,37, Sil. 11,98 [Versschluß], Romul. 10,573 [Versschluß]) zu belegen. 200 mortali diuum periet quo iudice iudex? Die Frage des Gottes ruft die Rede in Erinnerung, in der Paris berichtet: ego iurgia diuum / compressi, nam lite caret me iudice caelum (98f.). Paris als Richter über die Götter ist über jeden Sterblichen erhaben, der ein Urteil über ihn zu fällen gedenkt. Die Gegensätze sind direkt nebeneinandergestellt, wodurch sich ein Parallelismus ergibt: mortali und diuum, quo iudice und iudex (Polyptoton; dieser Versschluß auch Paul. Petric. Mart. 5,524). In der Mitte steht eingerahmt das Prädikat periet (für die Bildung eines e-Futurs bei den Komposita bei ire, die sich im spätantiken Latein häuft, s. NEUE / WAGENER 3, 326f., vgl. auch Orest. 169). Grammatisch ist mortali quo iudice ein nominaler Ablativus absolutus (WOLFF 1996, z. St.; zum ersten Mal mit quo iudice Ov. trist. 5,11,9). 201 nec hoc fata sinunt Nach fata uetant, parant (191) und fata manent (198) beruft sich Apoll nun erneut auf den Plan der fata, gegen den man nichts ausrichten kann. Die Junktur fata sinunt ist nicht ungewöhnlich in der lateinischen Literatur 204 Für die auch sonst und besonders in der ‘Aeneis’ zu belegende Verbindung der beiden Gottheiten KÖVES-ZULAUF 1998.

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(s. Prop. 2,15,23, Tib. 1,1,69, Ov. met. 5,534; 11,408; 13,624, Sen. Herc. f. 178, Lucan. 2,701, Sil. 2,510, Stat. Theb. 5,467; 10,216). Hoc meint inhaltlich die Aussage von 200. 201b–203 MANITIUS 1891 (b), 494 bemerkt, daß sich die Verse 201bf. pudor est uoluisse nocere / et non posse tamen mit dem Vers aus dem fälschlicherweise Ausonius zugewiesenen Gedicht205 ‘septem sapientum sententiae’ (1,7) inhaltlich deckt: quid stulti proprium? non posse et uelle nocere. Ein Wort wie pigeat fehlt dort und es wird auch sonst (aus diesem Grund?) in den ‘Romulea’-Ausgaben abgetrennt (außer bei VON DUHN und IANNELLI) und damit als nicht zur Sentenz gehörig gekennzeichnet. Vorgeschlagen wurde: et non posse tamen: pigeat iam. nemo (RIBBECK 1873, 470, BAEHRENS), et non posse tamen. pigeat! iam nemo (ROSSBERG, VOLLMER MGH, DIAZ DE BUSTAMANTE), et non posse tamen. pigeat: iam nemo (VOLLMER 1914), et non posse tamen. pigeat, iam nemo (WOLFF 1996, ZWIERLEIN BT). Bei der Parallelisierung dieser beiden Stellen ist jedoch ein Unterschied zu bedenken. Bei der Sentenz aus dem Gedicht über die septem sapientes ist ein quid stulti proprium vorgeschaltet, das den Zusammenhang, in dem der Sinnspruch gilt, festlegt. Um Dummheit geht es aber in der Rüge Apolls gegenüber seinen Priestern nicht. Er verhandelt den Punkt auf der ethisch-moralischen Ebene, indem er pudor est verwendet. Damit ist man nicht mehr gezwungen, beide Infinitive streng parallel zu nehmen und von pudor est abhängig machen zu müssen.206 So kann pigeat den zweiten Infinitiv non posse tamen regieren (ähnlich, ohne zwei Infinitive 224f.). Der sich ergebende Sinn ist der folgende: „und obwohl ihr es (nur) wolltet, soll es euch dennoch an die Nieren gehen, es nicht zu können“. In tamen ist verkürzend die gedanklich zu ergänzende Protasis aufgenommen. Inhaltlich ist sowohl pudor est als auch pigeat von den beiden umgebenden Informationen über das unabänderliche Schicksal, 201 nec hoc fata sinunt und die Parzen 202f., bestimmt. Der Satz kann sich daher nur auf das Verhalten gegenüber dem vorbestimmten Schicksal beziehen. Voluisse nocere, also der bewußte Widerstand gegen die fata, deren Plan den Sehern bekannt ist, ist pudor (in der Bedeutung ‘Schande’ mit folgendem Infinitiv, s. ThLL X 2,2497,76ff.) in der Darstellung des Gottes, der die fata verteidigt. Nicht ganz so klar auf der Hand liegt die Bedeutung des pigeat. Mit dem zweiten Satzteil scheint Apoll seine Priester in die Schranken zu weisen, ganz besonders Kassandra, die sich dem Schicksal entziehen wollen. Sie sollen es zu spüren bekommen, daß sie dem Paris keinen Schaden bringen können. Denn es zu wollen ist

205 S. PEIPERs Edition 1886, 406ff. 206 Positiv formuliert den Sachverhalt Publil. sent. N 42 nocere posse et nolle laus amplissima est, wo beide Infinitive von laus amplissima est abhängig gemacht sind. Es ist aber eine Aussage, die sich nicht wirklich sinnvoll in ihr Gegenteil verkehren läßt. Es kann grundsätzlich keine Schande sein, nicht schaden zu können (dies wäre möglicherweise in Ausnahmefällen zu modifizieren, bei Verbrechern o. ä., denen das Handwerk gelegt werden muß [aus der Sicht Apolls läßt sich dies von Paris nicht sagen, aus der Sicht der Kassandra oder des Helenus wäre es theoretisch möglich], doch wäre dafür vielleicht pudor das falsche Wort.).

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III Kommentar

schon schlimm genug, aber es dann auch nicht zu können, zeigt die Begrenztheit des menschlichen Vermögens. 202 iam nemo minetur Iam besitzt hier eine kausale Konnotation, vgl. für die Verwendung Liv. 30,34,7 (ThLL VII 1,102,27). Zu minetur ist gedanklich ein Demonstrativpronomen im Dativ zu ergänzen, von dem das Relativpronomen quem abhängig gemacht werden kann (s. den Eintrag zum nächsten Vers). Es wäre vielleicht auch möglich, in quem das Subjekt des Hauptsatzes ausgedrückt zu finden, wobei uindicare dann in der Bedeutung ‘beanspruchen, strafen’ stünde und auf den kommenden Krieg, in dem zumindest Kassandra ein herbes Schicksal erleben wird, verwiese. Für den Satzanfang an dieser Versposition vgl. auch Romul. 5,222 und Mar. Victor aleth. 3,271 (ZWIERLEIN BT z. St.). 203 quem Clotho, quem Lachesis, quem uindicat Atropos ingens Die drei Parzen begegnen sonst in der lateinischen Dichtung nicht in dieser Form in einem Vers zusammen (vgl. nur in anderer Anordnung CE 1141,13, ZWIERLEIN BT z. St.) – hier ist zudem als metrische Lizenz zuzugestehen, daß die beiden ‘o’ von Clotho kurz gemessen werden (WOLFF 1996, z. St., wenn man nicht mit PEIPER quem Clotho [quem] Lachesis schreiben sollte; ZWIERLEIN BT z. St. verweist auf Homer. 891 Clotho Lachesisque; vgl. für metrische Freiheiten des Dichters besonders bei mythologischen Eigennamen VOLLMER MGH 443). Bei Hesiod Theog. 905 hingegen sind sie in einem Vers nebeneinandergestellt (Κλωθώ τε Λάχεσίν τε καὶ Ἄτροπον). Amüsant wäre es, wenn man davon ausgehen könnte, daß Dracontius die drei (von KOECHLY athetierten) Verse in der ‘Aspis’ (258–260 Κλωθὼ καὶ Λάχεσίς σφιν ἐφέστασαν ἣ μὲν ὑφήσσων / Ἄτροπος οὔ τι πέλεν μεγάλη θεός, ἀλλ᾽ ἄρα ἥ γε / τῶν γε μὲν ἀλλάων προφερής τ᾽ ἦν πρεσβυτάτη τε) bekannt gewesen sind, in denen Atropos, der Dracontius als einziger in der lateinischen Literatur überhaupt das Epitheton ingens zugesellt hat, als kleiner als ihre Schwestern beschrieben wird. Daß allein Atropos in dieser Dreiergruppe ein Attribut erhält, dürfte sich daraus erklären, daß man sie sich als die mächtigste vorstellt, da sie den Lebensfaden abschneidet (für ingens in der Bedeutung potens s. ThLL VII 1,1540,22. 37; ROSSBERG konjiziert urgens mit Verweis auf Claud. rapt. Pros. 1,218 Atropos urguet). Die Parzen sind traditionell Schicksalsgöttinnen (für die Parzen als fata s. HEINRICH OTTO SCHRÖDER: Fatum [Heimarmene], RAC 7, 524–636, hier 527f.) und deshalb hier auch identisch mit dem Willen der fata vorgestellt. Aus dieser Vorstellung heraus dürfte im Verb uindicare die juristische Bedeutung ‘beanspruchen’ noch mitschwingen, wenn hier auch der hauptsächlich literarisch-übertragenen Bedeutung ‘schützen’ (WOLFF 1996, z. St., vgl. z. B. Cic. de orat. 2,7, Ov. fast. 6,282) der Vorzug gegeben wird. Die Parzen beanspruchen das Leben eines jeden Menschen für sich und bestimmen daher, wann es beginnt und wann es endet, so daß durch die Verwendung von uindicare die Verwandtschaft der Parzen zum fatum umso deutlicher wird (SANTINI 2006, 51f.). In diesem Fall schützen sie das Leben des Paris (quem).

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Die beiden ersten Relativsätze bilden, weil das Prädikat erst im dritten erscheint, eine Art Klimax und Steigerung bis zur Penthemimeres. Der dritte Relativsatz mit der dritten Parze bildet schließlich die Auflösung. 204 scindite pellitas niueo de pectore ueste Vorbild für die Formulierung 204 scindere de pectore uestes dürften Homer. 846 (scindit firmo de pectore uestes) und 1018 (scindit de pectore uestes) sein, wo das Herunterreißen der Kleidung allerdings Teil einer Trauerhandlung ist.207 Scindere uestes ist durch Ov. met. 9,166 letiferam conatur scindere uestem, wo Herkules direkt vor seinem Tod versucht, das giftgetränkte Kleid von seinem Körper zu reißen, für die Beseitigung unpassender Kleidung vorgeprägt, so daß der Fokus dieser Junktur auf der Ausführung der Handlung durch kraftvolles Anpacken liegt. Pellitus in der Bedeutung ‘aus Fell’ begegnet eher selten (ThLL X 1,1009,5ff.) und steht noch seltener bei Kleidung: Neben Dracontius noch Prud. psych. 226 (sc. paradiso expulsus) pellitosque habitus sumpsit … Adam. Vielleicht ist die Idee zu einer solchen Verbindung aus Verg. Aen. 2,721f. latos umeros subiectaque colla / ueste super fuluique insternor pelle leonis entstanden. Das gewöhnlich negativ konnotierte niueum pectus, das einen verweichlichten und verweiblichten jungen Mann kennzeichnet (wie WOLFF 1996, z. St. es hier auch verstanden wissen will), muß an der Stelle eine positive Konnotation tragen, wie in Tib. 1,4,12 (sc. puer) placidam niueo pectore pellit aquam, wo die weiße Brust Schönheit und Anmut zeigt (s. dazu KIRBY FLOWER SMITH: The Elegies of Albius Tibullus, Darmstadt 1964 [New York 1913], 267; wobei in der Forschung über die Konnotation keine Einigkeit herrscht, s. MURGATROYD 1980, 136). Es wäre der Wirkung der Rede nicht gerade zuträglich, wenn Apoll etwas Negatives über Paris sagen würde. Eine weiße Brust zeichnet einen gutaussehenden, jungen Mann aus, dessen Brust noch nicht behaart und von der Sonne gebräunt ist. Die Arbeit als Hirte hat seine Haut nicht dunkel gefärbt, er muß ein strahlend schöner Jüngling sein (er wird in die Nähe des Adonis gerückt, der Prop. 2,13,53 das Attribut niueus erhält; s. FEDELI 2005, 409). Das Weiß der Haut tritt mit dem Purpur der geforderten Kleider in einen starken farblichen Kontrast. Die Junktur niueum pectus noch Sen. Herc. f. 545 niuei uincula pectoris, Stat. Theb. 9,883 ibat purpureus niueo de pectore sanguis, Mart. 14,149,2 ut possint niueo pectore lina frui, Claud. carm. min 8,3 pectore dum niueo miserum tenet anxia nutrix. 205 murice Serrano rutilans hunc purpura uelet Inspiriert ist der erste Halbvers von Sil. 15,205 Sarrano murice fulgens. Serranus steht für gewöhnlicheres Sarranus, das Adjektiv zu Sarra, einem der Alternativnamen für Tyros (HÉLÈNE SADER: Tyros, DNP 12,1, 951–955, z. B. Gell. 14,6,4), das für seine Purpurverarbeitung äußerst berühmt war (s. auch zu 482; WOLFF 1996, z. St.). Rutilans … purpura Pleonasmus (ähnlich Mart. Cap. 1,73 207 Ähnlich verwendet findet sich die Verbindung Iuvenc. 4,560 zur Unterstützung des Zornesausbruchs des Hohenpriesters nach Jesu Geständnis, der Sohn Gottes zu sein.

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III Kommentar

purpurae rutilantis puniceus quidam fulgor anteuenit). Die Bekleidung mit Purpur und damit mit der königlichen Farbe und dem königlichen Stoff steht stellvertretend für die Aufnahme in die Königsfamilie (purpura für den edlen Stoff ThLL X 2,2702,53ff., mit Betonung der Königlichkeit [wobei fast immer ein entsprechendes Attribut hinzugesetzt ist] ThLL X 2,2704,10ff.).208 Purpuram uelare auch Ov. Pont. 4,4,25, Mart. 3,2,10, Claud. carm. min. 29,30. 206 nec pudeat, quod pauit oues Vgl. in der Argumentation des Paris 98 nec pastor sit uile, Phryges (hier steht pudeat für uile dort und quod pauit oues für pastor), der anschließend seine Verbindung zu den Göttern über das Parisurteil betonte. Logisches Subjekt zu pudeat kann sowohl Paris selbst (es soll ihn nicht beschämen müssen, so WOLFF 1996, z. St.) als auch seine Familie sein. Pudet mit angeschlossenem quod-Satz findet sich seit Ov. trist. 4,3,61 vereinzelt (ThLL X 2,2477,67ff.). Pascere oues ist eine beliebte Verbindung, z. B. Ov. fast. 1,204. 206f. ego pastor Apollo / ipse fui Selbstbewußt kommt die Aussage des Gottes daher, daß auch er einmal ein Hirte gewesen sei. Ein betontes ego, sein Name Apollo, ein verstärkendes ipse und schließlich die Verbform in der ersten Person fui erzeugen eine selbstbewußte Fixierung auf ihn als Gott in der Funktion eines Hirten, mit der er vor die Menschen tritt und mit der er den Hirtenberuf dadurch aufwertet, daß ihn sogar Götter ausüben. Dabei verschweigt er freilich, daß es für ihn eine Strafarbeit war, die ihm Jupiter auferlegt hat, weil er dessen Zyklopen getötet hatte, und mit diesem Knechtsdienst seine Blutschuld sühnen sollte (überliefert bei Hesiod Fr. 54 [c] MERKELBACH / WEST, Eur. Alc. 1ff., Apollod. bibl. 3,122, Hygin. 49. 51, Serv. Aen. 7,761 u. ö.); s. GEORG WENTZEL: Admetos, RE 1, 377–380. Amüsant wird die Präsentation des Gottes vor der Folie seiner Worte an Daphne, Ov. met. 1,498ff., wo es 512–514 heißt non incola montis / non ego sum pastor, non hic armenta gregesque / horridus obseruo. 207 domibusque canens pecus omne coegi Domibus ist ein Dativ der Richtung statt des regelmäßigen domum (ThLL V 1,1961,14f., VOLLMER MGH 433; s. auch H-S 100f.). Für die Verwendung von domus im Sinne von stabulum s. ThLL V 1,1972,37ff. Canens weist nicht nur auf Apoll als Gott der Musik, sondern greift vielmehr das bukolische Motiv des singenden Hirten auf (s. dazu z. B. HANS BERNSDORFF: Hirten in der nicht-bukolischen Dichtung des Hellenismus, Stuttgart 2001, 139ff.). Pecus cogere ist eine bukolische Wendung aus Verg. ecl. 3,20 coge pecus, auch ecl. 6,85 cogere … oues stabulis, das mit dem Dativ stabulis unserer Stelle grammatisch noch näher ist (s. auch CLAUSEN 1994, z. St.). Die sprachliche Nähe zu Vergils bukolischer Dichtung unterstützt das gezeichnete Ideal des Hirtenlebens. 208 Die Aufforderung zum Kleidungstausch erinnert ein wenig an die Geschichte vom verlorenen Sohn. Wie der Vater in der Geschichte vom verlorenen Sohn befiehlt, daß dieser mit königlichen Kleidern angetan werde (Luk 15,22), so fordert Apoll alle auf, Paris einen purpurnen Umhang zu geben. Die Parallelität mag sich schlicht aus den ähnlichen Situationen ergeben.

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208 cum procul a uilla fumantia tecta uiderem Der Bezug auf Vergils ‘Eklogen’ ist auch in diesem Vers mit Händen zu greifen (nicht nur ‘vielleicht’, wie WOLFF 1996, z. St. meint). Fast wörtlich wird ecl. 1,82 et iam summa procul uillarum culmina fumant zitiert (mit der Variation in der Konstruktion, die eine leichte Verschiebung der inhaltlichen Fokussierung erreicht). Hier wie dort entsteht ein bukolisches Bild vom Abend, einer Zeit, zu der die Tiere außerhalb der Stadt in den Ställen versammelt werden. Die heile Welt, in der der Hirte Tityrus bei Vergil lebt, wird damit evoziert und hebt das Hirtenumfeld des Paris positiv hervor (VON ALBRECHT 22007, 17). Kombiniert ist die Eklogenstelle mit dem wörtlich aus Ov. met. 13,421 übernommenen fumantia tecta. Das metrisch und klanglich auffällige cum procul a uilla ist vergleichbar mit Lucr. 6,767 quod procul a uera, Verg. ecl. 10,46 tu procul a patria, Ov. Pont. 1,3,84 tam procul a patria, Sil. 2,363 quis procul a Tyria. 209f. Alcestim sub nocte pauens deus ubera pressi, / Admetus intrantes haedos numerabat et agnos Die beiden Herren des Dieners Apoll werden jeweils betont zu Beginn des Verses genannt, Alkestis im Akkusativ, abhängig von pauens, Admet ist selbst Subjekt des nächsten Teilsatzes. Obwohl er ein Gott ist, verrichtet Apoll diese Hirtentätigkeit und fürchtet sich zudem vor seiner Herrin Alkestis.209 Sub nocte weist dabei auf das Ende eines Arbeitstages, wenn der Hirte die Herrin trifft (wohl in der Vorstellung, daß sie ihn für potentielle Fehler schelten könnte). In der Aussage, daß Admet die Böcke und Lämmer zähle, steckt ebenso die Furcht vor dem Herrn, der überprüft, ob Apoll den Tag über gut gearbeitet hat und am Abend alle Tiere wieder in den Stall treiben kann. Deus kann neben Alcestim pauens und ubera pressi leicht konzessiv gehört werden. Alkestis begegnet normalerweise in den Formen Alcestis, -is oder Alceste, -is bzw. -idis (ThLL I 1514,32–34). Wegen der fehlenden Parallelen für die a-Deklination des Eigennamens und der paläographisch sehr leicht zu erklärenden Verschreibung wird hier der Konjektur ZWIERLEINs BT Alcestim gefolgt. Wollte man IANNELLIS Konjektur Alcestis in den Text setzen, muß sie als Genitivus possessivus zu tecta (208) verstanden und danach interpungiert werden. Damit käme der Frau des Hauses aber eine merkwürdige Dominanz zu. Zudem läßt sich pauens mit einer Person besser konstruieren als absolut. Das ‘e’ von Admetus ist gekürzt; Dracontius geht mit den Quantitäten mythologischer Eigennamen besonders frei um (z. B. Hēcuba statt Hĕcuba 96. 145; s. weiterhin die Zusammenstellung VOLLMER MGH 443). Für pauere bei Menschen, die wegen ihrer Stellung oder Macht gefürchtet (und verehrt, was hier wohl besonders deutlich mitschwingt) werden, s. ThLL X 1,810,51ff. Der Versschluß ubera pressi ist von Verg. Aen. 3,642 (ubera pressat)

209 NOSARTI 1992, 48 und PAOLUCCI 2015, XXXVIIIf. finden einen ironischen intertextuellen Bezug zur ‘Alcestis Barcinonensis’, wo es 9–11, in einem Gebet Admets an Apoll heißt si te colui famulumque pauentem / suscepi pecudumue ducem post crimina diuum / accepi. Da dort Apoll ernsthaft angstvoll vor Zeus dargestellt werde, hier jedoch mit Bezug auf Alkestis, ergebe sich eine ironisch gefärbte Variation.

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III Kommentar

beeinflußt (die Junktur auch Verg. ecl. 3,99 pressabimus ubera). Vgl. weiterhin für den Terminus Verg. georg. 3,310, Hyg. astr. 2,43, Ov. fast. 4,769, Colum. 7,3,17. Das Zählen der Tiere ist auch in bukolischer Dichtung bzw. bukolischen Zusammenhängen vorgeprägt: Verg. ecl. 3,34 (bisque die numerant ambo pecus, alter et haedos, von den strengen Eltern), 6,85f. (am Abend numerum … referre / iussit … Vesper), georg. 4,436, Ov. met. 13,824, Calp. ecl. 3,64 (nostri numerantur uespere tauri, also am Abend, aber ohne Angabe, von wem). Tib. 1,5,25 tut es die Frau im Hause in der Vorstellung: consuescet numerare pecus. Intrare von Tieren ist selten (zu ergänzen wäre hier in stabula bzw. domibus), ein Beispiel wäre Aug. civ. 15,27 p. 119,8 non … ea (sc. genera bestiarum) Noe capta intromittebat, sed uenientia et intrantia permittebat. 211 dixerat Typisch epischer Versanfang; hier im Gedicht noch 103. 285. Phoebum Priamus summissus adorat Für den Versschluß summissus adorat vgl. Stat. Theb. 8,284, Iuvenc. 3,500, Claud. 7,122; 22,72, Prud. apoth. 598, Ps. Prosp. carm. de prov. 768, Sidon. carm. 2,388. Er ist vielleicht lautlich in 523 iussus adorem aufgenommen. Summissus deutet die unterwürfige Körperhaltung des Priamus vor Apoll an, mit der er den Gott anbetet (OLD s. v. 1844, 7b). Phoebum adorat noch Ov. met. 3,18 auctorem … uiae Phoebum taciturnus adorat von Cadmus, der sich für die Handlungsanweisungen bedankt (und damit im weitesten Sinn von der Situation her vergleichbar). 212 et grates securus agit Es klingt Stat. Ach. 1,366 et grates electus agit an (zitiert in Romul. 10,380); vgl. auch laud. dei 3,754 et grates exceptus agam. Auf den ersten Blick unklar ist securus, weil eine Besorgnis des Priamus nicht explizit ausgedrückt wurde. Sie steht aber bereits während der Opferszene im Hintergrund, die doch vom Gefühl der Sinnlosigkeit umgeben war (infelix Priamus 79, ingrati diui 80) und wird sich durch die Reden der Seher, auch wenn keine Reaktion des Priamus beschrieben wurde, verstärkt haben. Die Rede des Apoll kann Priamus von den Sorgen um die ingrati diui und um die Zukunft der Stadt bei der Aufnahme des Paris befreien. Daß Apoll den Priamus von seinen Sorgen befreit, scheint auch bei Ennius auf, wo der König, vom Traum der Hekabe beunruhigt (Enn. scaen. 37f. V. = 52f. Jocelyn = adesp. 76 TrRF mentis metu / perculsus, curis sumptus suspirantibus; VAHLEN und JOCELYN 1969, 77 weisen es der Tragödie ‘Alexander’ zu, vgl. auch KARAMANOU 2017, 294), Apoll um Rat fragt, der ihm befiehlt, Paris nicht als Sohn anzunehmen. tacet optimus Hector Daß Hektors Schweigen erwähnt wird, mag den Leser verwundern, hat der Sohn des Priamus doch bisher im Gedicht ohnehin noch nichts gesagt. Vielleicht läßt sich die Erwähnung mit seiner zukünftigen wichtigen Stellung im trojanischen Krieg erklären. Dort ist er Anführer, herausragender Krieger, was optimus schon ankündigt. Im Epos schweigen nur bedeutende Figuren, herausgehobene Personen, Anführer (ANZINGER 2007, 307ff.). Sie verschweigen ihren Begleitern ihre Gefühle, ihre Ängste, ihre Verzweiflung und bleiben so vor ihrer Umgebung ermutigende Beispiele. An unserer Stelle scheint sich Hektor abwartend

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dem fatum zu stellen, um erst beim Eintritt der Ereignisse (dem hier nicht beschriebenen Krieg) zu handeln. Als heldenhaft bezeichnet auch GALLI MILIĆ 2016, 202 das Schweigen. Das Epitheton optimus auf Hektor ist singulär. In der ‘Ilias’ heißt es über ihn 24,384 τοῖος γὰρ ἀνὴρ ὤριστος. HAUPTTEIL II: 213–384 DIE SALAMISGESANDTSCHAFT Die Besonderheiten dieser mittleren Szene wurden bereits mehrfach herausgestellt und verschieden interpretiert: Auf der einen Seite ist sie stets aufgefallen, weil sie die Handlung zunächst nicht voranbringt und dennoch einen bedeutenden Teil des Gesamtwerks (mehr als ein Viertel) umfaßt; auf der anderen Seite hat die Figurenkonstellation, sowie die völlig neuartige Verknüpfung von Raub der Helena und Hesione-Geschichte Aufsehen erregt. Erklärungssansätze für beide Auffälligkeiten suchte und fand man bisher zumeist in der Behauptung einer aemulativen Auseinandersetzung des Dichters mit der Mythentradition, die er im Prooem (50–52) schon ankündige. Die Grundlagen und Quellen für die Vorgeschichte des trojanischen Krieges stellt SCHETTER 1987, 218–221 (= 1994, 301–304) ausführlich dar. Die beiden Rollen der Hesione, Kriegsgefangene und Ehefrau Telamons, die hier im Gedicht von Bedeutung sind, besitzen jeweils ihre Vorbilder. Größte Wirkmächtigkeit hatte die Vorstellung von Hesione als Kriegsgefangener.210 Von der Königin Hesione auf Salamis (und einem Besucht ihres Bruders ebendort) erfahren wir schon bei Vergil,211 was Servius als Ehe mit Telamon erklärt.212 Am ausführlichsten präsentiert Dares Phrygius eine Gesandtschaft zu Telamon zur Rückforderung der Hesione, die einige Parallelen zur Schilderung bei Dracontius aufweist. Aus diesem Grund wurde oft über eine Abhängigkeit der beiden Autoren voneinander diskutiert, die jedoch nach fast einhelliger Forschungs-

210 SIMONS 2005, 252ff. und WOLFF 1996 bieten eine Zusammenstellung der wichtigsten Belege. Schon in der ‘Ilias’ (8,284) erhalten wir den Hinweis auf eine uneheliche Verbindung zwischen der Kriegsbeute Hesione und Telamon, aus der Teucer hervorging. Die Weigerung Telamons, diese Kriegsbeute zurückzuerstatten, wird in einigen Versionen des Mythos auch als Kriegsgrund angesehen (über die Weigerung ist Priamus so erbost, daß er Paris schickt, um seinerseits eine Frau zu rauben). Belegen läßt sich dies Serv. Aen. 10,91 Hercules cum expugnato Ilio filiam Laomedontis Hesionam, Priami sororem, Telamoni dedisset, profecti sunt legati cum Priamo, et eam minime repetere potuerunt, illis dicentibus se eam habere iure bellorum. unde commotus Priamus misit Paridem cum exercitu, ut aliquid tale abduceret, aut uxorem regis, aut filiam. qui expugnata Sparta Helenam rapuit (auch 1,619). Das Stichwort des ius belli ist der Hauptgrund für die Weigerung. Die Statius-Scholien greifen diese Tradition auf, fügen jedoch das Detail der Hesione als Mitregentin hinzu (Schol. Stat. Ach. 21. 397–399). 211 Verg. Aen. 8,157f. Hesionae uisentem regna sororis / Laomedontiaden Priamum Salamina petentem. 212 SIMONS 2005, 252. Serv. Aen. 3,3; 8,157.

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III Kommentar

meinung nicht vorhanden ist, weder in die eine, noch in die andere Richtung.213 Eine erneute Zusammenfassung der Argumente scheint an dieser Stelle nicht nötig, da sowohl SIMONS214 als auch GÄRTNER215 eine umfassende Auseinandersetzung bieten.216 Sie kommen überzeugend zu dem Schluß, daß beide Autoren auf gleiche oder ähnliche Quellen und Traditionen zurückgreifen, jedoch in keiner direkten Abhängigkeit voneinander stehen. Nach SIMONS217 liege der Grund für die recht lange Ausdehnung der Salamisepisode in einer intensiven und bewußten Auseinandersetzung mit der in der Spätantike offensichtlich verbreiteten Mythentradition, die Dracontius widerlege, indem er mythische Elemente neu kombiniere und in den konkreten neuen Zusammenhang stelle, wie die Ehe der Hesione mit Telamon und ihre Rolle als Mutter des Ajax. Er zeige durch den Ablauf der Ereignisse, daß die Geschichte um Hesione weder Anlaß zum Raub noch zum Krieg gegeben habe und beantworte damit die Frage des Prooems negativ.218 Dabei darf nicht aus den Augen gelassen werden, daß die Episode durchaus ihren Beitrag leistet, wenn auch nur zufällig;219 aber ohne sie könnte auch das Übrige nicht stattfinden. Ob Dracontius dezidiert eine Auseinandersetzung mit den Mythentraditionen sucht, um die eine oder andere zu widerlegen, läßt sich nicht ganz sicher beantworten. Offensichtlich ist jedoch, daß er seine mythologische Innovation und seine narrative Kunst einsetzt, um eine eigene schlüssige Geschichte neu zu schaffen, die der Charakterisierung der Hauptfigur dient. Dies leitet über zu der zweiten Möglichkeit der Erklärung, die sich aus dem Gedicht selbst als narratologische, textimmanente Lösung ergibt. Dabei ist den Thesen zu widersprechen, die die Episode als rein künstlerisch-rhetorisch, nur um der Gestaltung willen eingefügt, und ohne Bedeutung für den Handlungsverlauf erachten. Die Ansicht vertritt (allerdings nicht negativ; sie möchte von einem eher positiven purpureus pannus sprechen) WASYL 2011, 53f.220 mit Verweis auf ROBERTS 1989, 56f., der aufzeigt, daß der Stil spätantiker Dichtung eher Wert auf die Ausgestaltung einzelner Szenen denn auf deren Verknüpfung lege. WASYL sieht im Gedicht des Dracontius überhaupt eine Kombination verschiedener Segmente, die zusammen betrachtet schließlich ein Bild von den Ursachen des trojanischen Krieges ergeben. Dagegen läßt sich Folgendes einwenden: Erstens trägt die Episode zur Charakterisierung des Paris bei, der, obwohl die Aktion nur seinetwegen stattfindet, keinen 213 Gegen die zum ersten Mal von SCHISSEL VON FLESCHENBERG 1908, 134–157 (Parallelen zeigte zuvor WAGENER 1878, 120–125, ohne allerdings ein Abhängigkeitsverhältnis zu postulieren) vorgebrachte These, Dares habe Dracontius imitiert, wandte sich überzeugend SCHETTER 1987. 214 SIMONS 2005, 253–262. 215 GÄRTNER 1999 (b), 404–408. 216 S. auch das knappe Kapitel 3.4 der Einleitung. 217 SIMONS 2005, 252. 218 So auch BRETZIGHEIMER 2010, 389f. 219 BRETZIGHEIMER 2010, 388, DE GAETANO 2010, 144f. 220 Für rein rhetorischen Ballast halten die Episode auch QUARTIROLI 1946, 183, AGUDO CUBAS 1978, 276f., die besonders die Rolle des Zufalls betont.

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eigenen Redepart erhält und auch sonst nur am Ende in Erscheinung tritt, als seine Tante die Ähnlichkeit mit seinem Vater Priamus feststellt (366–368). Damit erweist sich Paris während der gesamten Verhandlungen als unbeteiligt und erscheint daher feige und unfähig.221 Zweitens fungieren die Reden als eine Art retardierendes Moment: Nach dem fröhlichen Convivium und der pathetischen Abschiedsrede des Aeneas ist ein drohender Krieg außerhalb jeglicher Vorstellung.222 So beruht denn auch alles Folgende auf Zufällen. Dracontius gestaltet innerhalb dieser langen retardierenden Episode eine dramatische Spannungsentwicklung, in der die rhetorisch ansprechend komponierten Reden sich in dauernder Schwankung zwischen Krieg und Frieden befinden. Es tritt nach dieser spannungsreichen Szene zunächst die sprichwörtliche und hier auch wörtlich zutreffende Ruhe vor dem Sturm ein; denn im Seesturm bahnt sich schon ein neuer Höhepunkt an. Dracontius bettet die Szene bewußt ein, um in seinem Gedicht eine erheiternde Spannung zu erzeugen, die den Leser gleichermaßen fesselt und unterhält. Schon gleich zu Anfang der Episode weist die ganz unvermittelte, unvorbereitete Entscheidung des Priamus für die Rückforderung der Hesione (225ff.) in diese Richtung. Der Leser wird in dem Moment, in dem Paris seine Großunternehmung plant, in eine hohe Erwartungshaltung versetzt. Wird er tatsächlich jetzt sofort loseilen, um von irgendwoher Helena zu rauben? Jeder weiß, daß er sie irgendwann rauben wird, so ist es im Prooem angekündigt. Was wird Priamus tun? Dieser wählt eine friedliche Mission und kann den Sohn davon überzeugen, als Gesandter aufzubrechen, um eine Kriegsgefangene zurückzufordern. Wir und auch die Gesandten werden in Salamis erfahren, daß Hesione gar keine Gefangene ist, sondern Ehefrau und Königin. Aber auf der Grundlage der Unwissenheit werden heftige Reden gehalten, die beinahe zum Krieg hätten führen können (vgl. 256f.). Die Rede des Polydamas beruhigt schließlich (trickreich)223 das erhitzte Gemüt Telamons und jeglicher Konflikt löst sich spurlos auf. So wirken die Verse, die vom gemeinsamen Essen und Plaudereien berichten (363–368), leicht unwirklich, so als hätte es die gut 110 Verse zuvor nicht gegeben. Auf diese Weise wird die Spannung zurückgenommen, Abschied und Aufbruch fließen dahin (369–384), fast erhält der Leser das Gefühl, die Kriegskatastrophe kann dieses Mal umgangen werden, bis schließlich mit dem Seesturm ein neuer Spannungsbogen aufgenommen wird. 221 Die Funktion der Kontrastierung behandelt ausführlich SIMONS 2005, 300ff., die insgesamt drei Kritikpunkte aufmacht: 1. Die Nichtachtung der Ehe durch Paris (mit Verweis auf das Prooem), 2. die Verletzung des Gastrechts (ebenfalls mit Verweis auf das Prooem), sowie 3. seine immodestia, die zu Tage tritt, als er das Gastrecht verletzt. Als einen Zwischenteil zwischen „Jugendgeschichte“ (aktiver Paris) und „Raub“ (passiver Paris) sieht BRETZIGHEIMER 2010, 389 die Szene an. Eine Unterscheidung in einen „aktiven“ und einen „passiven“ Paris kann man so jedoch nicht vornehmen, da Aktivität seinerseits sowohl vor Salamis als auch vor dem Raub durchaus zu verspüren ist, jedoch nur solange es ungefährlich ist. 222 So werten auch SCHETTER 1987, 225 (= 1994, 308) und SIMONS 2005, 251. Für die Spannungserzeugung durch Beinahe-Episoden in diesem Gedicht s. die Einleitung 2.1.2. 223 S. zur Rede S. 331–335.

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III Kommentar

Somit werden die beiden Mythentraditionen um Hesione in der Salamis-Episode hauptsächlich eingesetzt, um Spannung zu erzeugen. Es gehört zum dichterischen Anspruch des Dracontius neue, noch nie zuvor angewandte Konstellationen (wie also die Verknüpfung von Hesione-Geschichte und Helena-Raub auf diese Weise) zu schaffen, um auch in dieser späten Zeit der lateinischen Literatur innovativ zu sein.224 Die beiden Mythenvarianten werden durch die folgende Gestaltung der Geschichte „effektvoll gegeneinander ausgespielt“.225 213–245 Plan und Vorbereitung 213–219 Entwicklung des Paris nach seiner Aufnahme in Troja Es fällt der erneut schnelle, übergangslose Szenenwechsel zwischen Reden und Aufnahme des Paris ins Auge. Hier gilt wie überall im Gedicht, daß die Passagen, die, wären sie ausgestaltet, rein erzählend wären (also beispielweise, wie die Aufnahme vonstatten gegangen ist), ausgelassen oder ganz kurz zusammengefaßt sind. Es scheint eine Grundsatzentscheidung des Dichters zu sein, auf eine Charakterisierung durch Handlungsbeschreibungen weitgehend zu verzichten. Das Götterurteil, das Paris zu seinem Aufbruch nach Troja getrieben hat, ist ihm auch jetzt noch im Gedächtnis und läßt ihn nach Höherem streben. Wertlos erscheinen ihm die königlichen Insignien und verbergen möchte er seine Tätigkeit als Hirte, was sich fast wie ein Widerruf der Aussage in 98 anhört, wo er noch mitteilte, daß der Beruf des Hirten nicht uilis sei.226 Aufgrund der Entwicklung der Ereignisse und seiner Gesinnung hat Paris nun seine Prioritäten verschoben. Der Sprung vom Hirten zum Königssohn genügt nicht mehr, die Suche nach Kriegsruhm soll ihn auf neue Höhen führen. Eine weitere Parallele zum Weg vom Hirtenleben in die Stadt läßt sich feststellen. Auch dort löst die Intervention einer Gottheit, nämlich der Venus, die ihm eine Frau versprochen hat, zumindest indirekt den Ortswechsel aus, den Paris vollzieht. Analog hierzu hebt Apoll durch seine Intervention Paris nun auf eine höhere Stufe innerhalb des sozialen Gefüges und veranlaßt ihn durch die erneute scheinbare Begünstigung durch eine Gottheit, sich auf den Weg zu neuen Möglichkeiten zu machen. 213 iam regno non impar erat Das aus dem Zusammenhang zu erschließende Subjekt ist Paris. Iam leitet hier einen neuen Abschnitt ein, wie schon 31f. und 61 (KÜPPERS 1986, 38 Anm. 156, zum epischen iam auch CHAUSSERIE-LAPRÉE 1969, 497ff.). Impar (mit kurzem ‘a’ auch Avian. fab. 18,10, Coripp. Ioh. 2,320) bezieht sich auf die neue gesellschaftliche Stellung des Paris, mit der er nun einer Königs224 Im Sinne der „produktiven Rezeption“ (s. HLL 5, 1989, 33.); BRETZIGHEIMER 2010, 388f. betont, wie der Dichter der Szene einen Entfaltungsraum zugesteht. Zur genaueren Untersuchung der kombinierten Elemente s. SCHETTER 1987, 218ff. (= 1994, 301ff.), SIMONS 2005, 252ff. 225 SCHETTER 1987, 223 (= 1994, 306). Hesione als Kriegsgefangene ist auch Voraussetzung der Version, auf die Dares zurückgreift. 226 Auch das Lob des Apoll auf das bukolische Leben scheint diesen gefühlten Makel nicht ausgelöscht zu haben. S. dazu auch SIMONS 2005, 246.

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herrschaft würdig ist (für diese Bedeutung, die mit einem Dativ einer Herrschaftsform singulär ist, ThLL VII 1,519,43ff.; gedanklich zu ergänzen wäre vielleicht ein genere). Ein lobendes impar im übertragenen Sinne von idoneus, aptus (s. ThLL VII 1,519,78ff.) ist auszuschließen aufgrund der bisherigen Darstellung des Protagonisten. Daß vor diesem Vers keine Lücke (die VON DUHN und BAEHRENS annehmen) zu konstatieren ist, ist durch 217f. wahrscheinlich zu machen (s. dort). 213f. sceptra tiaram / imperium trabeas Die Herrscherinsignien sind, was ihre Menge und Bedeutung betont, über die Versgrenze hinaus im Enjambement aufgezählt, zwei Wörter im Plural umrahmen zwei im Singular. Die tiara ist eine Kopfbedeckung der Perser und besonders des persischen Königs (s. WALTHER HINZ: Tiara. RE S 14, 786–796, zuerst Hdt. 3,12). Es scheint unproblematisch, die Kopfbedeckung der Perser als Machtsymbol (Verg. Aen. 7,247) auch auf die der Trojaner zu übertragen, selbst wenn sie bei Homer noch unbekannt ist (WOLFF 1996, z. St.), zumal ihre berühmteste Ausprägung schließlich die „phrygische Mütze“ geworden ist (DIANA LANTERNARI: tiaras, EV 5, 1, 167). Auch die trabea ist ein Herrschaftssymbol (Liv. 1,41,6, Verg. Aen. 11,334, Plin. nat. 8,74, Iuv. 8,259f.), eine besondere Form der Toga in Purpur mit weißen und roten Streifen, die ein hohes Amt oder einen besonders hohen Festtag kennzeichnet (E. SCHUPPE: Trabea. RE 6, A 2, 1860–1862; vgl. auch NIKKI K. ROLLASON: Gifts of Clothing in Late Antique Literature, New York 2016, 89–128). Imperium kann als einzige nicht gegenständliche Bezeichnung im Sinne von ‘Befehlsgewalt’ aufgefaßt werden, oder im Sinne von ‘Reich’. Die Kleidungsstücke dürften als Ergebnis des apollinischen Auftrags 204f. zu betrachten sein. 214f. post caeleste tribunal / totum uile putat Die Präpositionalkonstruktion post caeleste tribunal ersetzt einen Temporalsatz (der Versschluß noch laud. dei 2,102), der wegen des abstrakten Begriffs auffällt. Inhaltlich bezieht sie sich auf das Urteil des Paris über die Göttinnen, das 31−38 beschrieben wurde. Schon 98f. stellt Paris seinen Stolz über dieses Urteil in den Vordergrund, mit dem er sich nun anmaßt, alles zu vermögen. Die Junktur caeleste tribunal ist für das Parisurteil singulär (vgl. 33 aetherium … tribunal).227 Totum ist für omnia gesetzt (s. dazu H-S 203; STOTZ 2000 Bd. 2, 225) und faßt die aufgezählten Herrschaftsinsignien zusammen (WOLFF 1996, z. St.). Die Junktur uilem putare findet sich noch Lucan. 9,1026, Mart. 7,19,1; 14,6,1, Mar. Victor aleth. 3,702, Prosp. carm. de ingrat. 964. 215f. solam cupit addere famam / maiorum titulis Fama ist in der metonymischen Bedeutung ‘heldenhafte / tapfere Taten’ gebraucht (vgl. Verg. Aen. 1,287; 8,132. 731; ThLL VI 1,216,7ff.). Solus besitzt als prädikatives Zustandsattribut eine 227 Die Junktur findet sich prosaisch und christlich für das Gericht am Ende der Zeit (Rufin. Orig. princ. 2,9,5, Euseb. Gallic. homil. 45,4, Caes. Arel. serm. 189,3). Da aber Romul. 8 keinen christlichen Einfluß aufweist und zudem das Adjektiv caelestis jeweils eine andere Funktion besitzt, wird von einem Zusammenhang nicht auszugehen sein.

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III Kommentar

adverbielle Funktion. Addere famam auch Stat. Theb. 3,103. Titulus entwickelt in der augusteischen Zeit die metonymische Bedeutung ‘ehrenhafte, heldenhafte Taten’ (PAOLO FEDELI / ROSALBA DIMUNDO / IRMA CICCARELLI: Properzio, Elegie Libro IV II, Nordhausen 2015, 1331f.), die es auch hier annimmt, vgl. z. B. Prop. 4,11,37f. (mit maiorum) testor maiorum cineres tibi, Roma, colendos, / sub quorum titulis, Africa, tunsa iaces, Ov. met. 15,855 si magnus cedit titulis Agamemnonis Atreus. Als spezifisch römischer Terminus gehört es in eine Reihe mit weiteren Begriffen wie praetor (31), princeps (91), imperium (199. 214), trabea (215) im Sinne einer interpretatio Romana des mythischen Stoffs. 216 uiuaces quaerere laudes Die Junktur uiuax laus findet sich noch Prud. perist. 4,159f. Viuax begegnet hier in der Bedeutung ‘langlebig’ (OLD s. v. 2081, 1c, vgl. Ov. Pont. 4,8,47 carmine fit uiuax uirtus). Es könnte auch an ‘lebendig’ im Gegensatz zu ‘tot’ gedacht sein. Laudes sind hier ebenso wie fama metonymisch für die lobenswerten Taten verwendet (s. dazu ThLL VII 2,1064,33ff.). Der Versschluß schon Prud. c. Symm. 2,707 pulchram … quaerere laudem. Für den Gedanken, etwas Bleibendes schaffen zu wollen, z. B. Enn. frg. var. 18 V. uolito uiuos per ora uirum (wobei es hier freilich um Dichtung geht; gemeinsam ist den Vorstellungen aber, daß die eigenen Taten thematisiert werden, die bestehen bleiben sollen); Hor. carm. 3,30,6 non omnis moriar. 217 ut celet, quod pastor erat Die Konstruktion läßt sich auf zweierlei Weise erklären: Entweder nimmt man mit WOLFF 1996, z. St. einen faktischen quod-Satz als Objektsatz an („die Tatsache, daß er ein Hirt war“ „das Hirt-gewesen-sein“). Alternativ kann man einen Relativsatz verstehen (ThLL III 767,6, vgl. z. B. Sen. Tro. 587 stulta est fides celare quod prodas statim; Aug. c. mend. 10,23 quamuis enim omnis qui mentitur uelit celare quod uerum est, non tamen omnis, qui uult quod uerum est celare, mentitur): „was er ‘als Hirte’ war“, „was er war, als er noch Hirte war“. 217f. uix uiderat aulam / regis, et Iliacas quaerit per litora puppes Faßt man uidere im Sinne von aspicere auf, dann haben sich die Gedanken des Paris über seine Königssohnschaft und seinen Wunsch, seine Herkunft zu verbergen, auf dem Weg von der Opferstätte zum Königspalast abgespielt, so daß der Entschluß bei der Ankunft am Palast schon feststeht. Alle Erzähleinheiten folgen direkt aufeinander. Sogleich und ohne Ruhepause sucht Paris schon nach Schiffen für eine erste (kriegerische) Seefahrtsexpedition. Der wichtigste Hinweis darauf ist in der Parallelität zu 71 uix uiderat arcem gegeben, die die beiden Szenen als ‘Ankunftsszenen’ nebeneinanderstellt (so auch ZWIERLEIN BT z. St.). Alternativ kann uidere auch die Besichtigung des Palastes sein, nach der Paris dann auf die Küste blickt. In diesem Fall ist etwas mehr Zeit seit der Ankunft in Troja zu denken. Auch 639 ist aula regis der Palast des Priamus. Et ist hier wie ein cum inuersum verwendet, was seit Vergil begegnet (H-S 481; 624; s. auch zu 71f.). Zur spezifischen lokalen Bedeutung von per s. H-S 240.

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Der Versschluß litora puppes begegnet seit Catull. 64,172, [Tib.] 3,7,69, Verg. Aen. 3,277 (litore puppes); 8,497 (litore puppes); 10,268, Ov. am. 2,11,43 (de litore puppim) u. ö. Das singuläre Iliacae puppes scheint eine Variation des späteren Iliacae carinae 596, das von Verg. Aen. 4,46 inspiriert ist, zu sein. 219 Aegaeum sulcare fretum Das Meer zu durchfurchen wie einen Acker ist eine typische episch-poetische Metapher (mit fretum noch Iuvenc. 3,127, sonst für das Bild Verg. Aen. 10,197. 222, Ov. fast. 1,498, Sen. Tro. 1027, Sil. 7,363, Ps. Paul. Nol. carm. app. 1,21 u. ö.). Hier mag zusätzlich der Gedanke mitschwingen, daß Paris Spuren seines Ruhmes auf dem Meer hinterlassen will. Aegeum fretum findet sich Sen. Tro. 226, Phoen. 313 (Plural). iam mente parabat Der ausdrückliche Hinweis, daß bisher offensichtlich alles nur ein Plan im Geiste des Paris ist (die Junktur auch Stat. Theb. 2,205 gaudia mente parant, vgl. ThLL X 2,2671,70–75). 220–229 Erste Rede des Priamus Die Rede des Priamus läßt sich folgendermaßen gliedern: 221–222 Anrede und Frage nach Vorhaben des Paris 223 Hinweis auf Frieden im Königreich 224–228a Problem des Paris und Lösung des Priamus 228b–229 Ehe als mögliches Nebenprodukt der Ausfahrt Eingeleitet wird die Rede 220 mit sermone uerendo, was darauf hindeutet, daß Priamus trotz seiner Schuldgefühle gegenüber dem damals ausgesetzten Kind und seiner jetzt vorherrschenden Freude über dessen erneute Ankunft einen gewissen Respekt von Paris erwartet. Auch die Tatsache, daß der Vater ihn auf seine offensichtlich bisher nicht öffentlich geäußerten Pläne (219 mente parabat) anspricht und ihn zur Rede stellt, zeigt, daß er ein feines Gespür für die unausgesprochenen Wünsche des Sohnes hat. Indem Priamus den Frieden im Reich betont228 und gleichzeitig eine Aufgabe für Paris findet, bei der er zumindest Schiff fahren darf, gelingt es ihm, sich flexibel den veränderten Bedingungen, die die Aufnahme des neuen Familienmitgliedes mit sich bringen, anzupassen.229 Den bisherigen Friedenswunsch gibt er nicht auf, da es sich dezidiert nicht um eine kriegerische Aufgabe handelt, schafft aber für Paris eine ehrenvolle Mission.230 228 WASYL 2011, 54 überlegt vorsichtig, ob nicht an der Aussage des Priamus nusquam bella paro zu zweifeln sei, besonders wegen der drohenden Rede Antenors. Doch gibt es keinen Hinweis darauf, daß Antenor dort nicht eigenmächtig handelt. 229 Diese Vermittlungsarbeit mag ein Ausdruck, ein Beispiel am lebenden Objekt, von regnum sub pace gubernare sein (223). 230 Dies wird ebenso von GÄRTNER 1999 (b), 406 unterstrichen. RASCHIERI 2014, 270 hält die Aktion dagegen für „un acte de piraterie“. Auch DE GAETANO 2010, 141 schreibt „Priamo, pur sottolineando il proprio impegno per governare in pace, decide di assecondare i desideri di guerra del figlio”. Davon ausgehend will sie zeigen, wie Dracontius die Maßstäbe eines bellum iustum innerhalb des Mythos anlegt, und Priamus zunächst um die Herausgabe der Hesione

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III Kommentar

Die Abwesenheit der Hesione231 ist (außer im Prooem) bisher im Gedicht nicht erwähnt worden, so daß unklar ist, wie Priamus darüber denkt. Oft wird die Erinnerung an die Schwester als Notlösung gesehen, um Paris überhaupt irgendwie zu beschäftigen oder um ihm zu Willen zu sein.232 Vielleicht ist aber auch der Mut, sich diesem Thema wieder zu nähern, zu einem gewissen Teil aus dem Auftritt Apolls zu verstehen, der dem König, der zu Göttern gerade kein gutes Verhältnis hatte, einen scheinbaren Grund zur Zuversicht gegeben hat. Das Verhältnis des Vaters zum ‘neuen’ Sohn ist insgesamt von Liebe gekennzeichnet (redux pietatis amor),233 wohl von Bewunderung wegen des Parisurteils (bonus arbiter Idae)234, wobei die Sorge um den Frieden im Reich den Priamus trotzdem einen ernsten Ton anschlagen läßt (sermone uerendo, dic …). Damit ergibt sich wohl ein innig-fürsorgliches Vater-Sohn-Verhältnis, das doch zum Besten des Kindes Wünsche lenkt oder unter Umständen ganz abschlägt. 220 sermone uerendo Der gleiche Versschluß Paul. Nol. carm. 6,270. 221 nate, redux pietatis amor Für pietas im Sinne von pater z. B. Orest. 38 u. a. (s. BOUQUET [/ WOLFF] 1995, 167; die Bedeutung wird gestützt durch das zweite Abstraktum amor; vgl. auch zu Vers 177) und amor für die geliebte Person s. zu 168; als Anrede s. DICKEY 2002, 152. Redux benutzt Dracontius mit Abstand am häufigsten von allen lateinischen Dichtern im Nominativ / Vokativ, jedoch sonst nur noch im Orest. bonus arbiter Idae Die Vorhersage der Kassandra hat auch bezüglich der Wirkung des Parisurteils (166ff.) keinen Erfolg gehabt, sonst dürfte Priamus nicht das Attribut bonus anfügen. Der Versschluß schon 31. Vgl. auch laud. dei 2,101 bonus arbiter index. Für das Nebeneinander von Vokativ und appositionellem Nominativ s. H-S 25, LÖFSTEDT 21942, 97ff. (vermutlich handelt es sich auch schon bei redux pietatis amor um einen Nominativ). Die beiden Appositionen zu nate sind chiastisch angeordnet: Adjektiv – Genitivattribut – Nomen : Adjektiv – Nomen – Genitivattribut. 222 dic, ubi uis armare rates, ubi carbasa tendis Für armare bei der Ausrüstung von Schiffen s. ThLL II 618,69ff. Oft wird es vor kriegerischen Ausfahrten gesagt,

231 232 233

234

bitten läßt, um bei einer Weigerung eine Handhabe für eine rechtsgültige Kriegserklärung zu besitzen (142). Als solch ein berechnender Kriegstreiber ist jedoch der friedliebende Priamus an dieser Stelle nicht dargestellt – er will ausdrücklich keinen Krieg! Zu Hesione und der Tradition dieser Figur s. oben die Einleitung zur Salamis-Episode S. 277– 280. DE PRISCO 1992, 227, SCHETTER 1987, 211; 221 (= 1994, 295; 304), der zudem den überraschenden Einfall als schlecht eingepaßte Übernahme aus Dares deutet. Auch die dreimalige direkte Ansprache des Sohnes im Vokativ (221. 225. 227) zeugt von einer beständigen Hinwendung zu Paris, um die Verbindung bei allem, was gesagt wird, zu halten. Daß sich alles auf Paris konzentriert, äußert sich auch im Namen Alexander, der genau die Mitte der Rede einnimmt. Zu überlegen wäre auch, ob Priamus dies erwähnt, weil er weiß, daß es dem Paris besonders wichtig ist (STEFAN FREUND, mündlich).

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jedoch nicht zwingend, vgl. besonders Verg. Aen. 4,299 armari classem cursumque parari, Octavia 970 armate ratem, date uela fretis. Auch an unserer Stelle ist es eher allgemein als Abfahrtsvorbereitung zu verstehen (in jedem Fall als Militärterminus deutet es hingegen DE PRISCO 1992, 226, Anm. 31). Indirekte Fragesätze mit dem Indikativ begegnen bei Dracontius recht häufig, s. dazu VOLLMER MGH 435, H-S 538, vgl. auch 30. Hier kann jedoch einfach ein eingeschobenes dic angenommen werden, so daß die beiden mit ubi eingeleiteten Satzteile als direkte Fragen zu verstehen sind (so schon WOLFF 1996, z. St.). Für ubi statt quo s. H-S 277; 652f. (auch für das erste ubi; man darf wohl eine Weiterentwicklung in der Bedeutung erwarten, da auch quo ‘wozu’ heißen kann; bei Dracontius noch Romul. 10,6). Zu carbasa tendere s. 383, Orest. 43 und ThLL III 492,16ff. 223 nusquam bella paro, regnum sub pace guberno In diesem Satz, der dieselbe Aussage in zwei Variationen bringt, entsprechen einander nusquam und regnum als lokale Angaben, bella und sub pace als implizite äußere Umstandsbeschreibungen, sowie paro und guberno. Priamus hat offensichtlich sein Königreich nie verlassen, um woanders Krieg zu führen, sondern in seinem Herrschaftsbereich Frieden gehalten. Gubernare ist eine typische Metapher für die Lenkung des Staates (ThLL VI 2,2351,73ff.), zusammen mit regnum hat es nur Dracontius, noch Orest. 812 tu regna guberna. Das Verb spielt mit dem Thema des Verses zuvor, wo die geplante Schiffahrt des Paris in den Blick genommen wird. Dadurch wirkt die Metapher noch prägnanter: ‘Lenken’ kann man auch zu Hause. 224f. sed si torpor iners pudor est et turpe uacare / credis Das sed wird verständlich, ergänzt man gedanklich davor ein sich aus 223 ergebendes ‘und deshalb ist hier alles ruhig und es gibt für niemanden die Notwendigkeit, irgendwo kriegerisch oder überhaupt einzugreifen’. Die erste Person nusquam paro und guberno betont, daß Priamus die Lenkung seines Reiches allein schafft und deshalb von niemandem Hilfe benötigt. So muß sich Paris in der Vorstellung des Priamus (denn seine echten Motive hat der Sohn nicht geäußert), wo er doch zuvor mit dem Hirtenberuf vielleicht den ganzen Tag beschäftigt war, schrecklich langweilen. Damit ist das sed auch nicht als Wendung vom Frieden zum Krieg zu verstehen (wie DE PRISCO 1992, 227 will). Mit et verbunden folgt eine Variation derselben Aussage. Torpor iners ist eine Junktur aus Stat. silv. 5,3,260 (sed te torpor iners, in anderer Bedeutung) und begegnet auch Sil. 6,543f. Torpor und pudor, sowie torpor und turpe sind klanglich ähnlich. 225 Alexander Betont zwischen Protasis und Apodosis gestellt, zwischen Problem und Lösung; erhält in der Rede eine zusätzliche Hervorhebung durch die erste namentliche Nennung des Sohnes von Seiten des Vaters überhaupt, dazu ganz in der Mitte der Rede.

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III Kommentar

certe legatus adesto Adesse ist in der Bedeutung ‘helfen, unterstützen’, die häufig im Imperativ begegnet (s. ThLL II 925,5ff.), zu verstehen. Die Beteiligung an ‘Regierungsgeschäften’ im weiteren Sinne ist damit dem absoluten Nichtstun des Verses zuvor entgegengestellt (dagegen will WOLFF 1996, z. St. adesse wie pures esse verstehen). Legatus besitzt nicht zwingend eine militärische Konnotation (dagegen DE PRISCO 1992, 227; für die verschiedenen Aufgaben eines Gesandten s. JOHN F. MATHEWS: Gesandtschaft, RAC 10, 653–685), sondern ist neutral besetzt. Certe am Anfang der Apodosis besitzt einschränkenden Charakter, ‘wenigstens’ (H-S 489). 226f. et Telamona ducem conuentum exposce sororem / Hesionen mox, nate, meam Telamon ist nur hier als dux bezeichnet, was in zwei Richtungen zu verstehen sein mag. Zum einen mit Verweis auf seine Herrschaft auf Salamis, als König und Lenker eines Reiches, wofür sich dux häufiger in der Prosa findet, vgl. ThLL V 1,2318,78ff.; zum anderen aber auch als typische Bezeichnung für epische Helden, vgl. ThLL V 1,2322,15ff. Der Akkusativ Telamona ist in der lateinischen Dichtung nur noch bei Statius belegt (Theb. 2,473 [gleiche Versposition], 5,379; 9,68 [gleiche Versposition], silv. 5,2,50); conuenire in der Grundbedeutung ‘treffen’ (ThLL IV 828,50f.); das Partizip hier anstelle eines Verbalsubstantivs (s. H-S 393; die Verbesserung in conuentum ist sicher richtig, Paris muß schließlich mit Telamon die Verhandlungen aufnehmen; außerdem sind auf sororem schon Hesionen und meam bezogen). Exposcere ist – wohl in Analogie zu poscere – mit doppeltem Akkusativ der Person konstruiert (ThLL V 2,1772,43–45; s. auch 270 posceris Hesionen; die Bedeutung dürfte – passend zur Friedensliebe des Priamus – in die Richtung von ‘erbitten’ gehen, vgl. ThLL V 2,1771,72f.). Mox läßt sich wohl am ehesten als in seiner Bedeutung abgeschwächtes, verknüpfendes Temporaladverb verstehen (ThLL VIII 1549,16). Hübsch ist die Familienzusammenstellung über die Versgrenze hinaus, wo durch den Vokativ nate auch Paris einen Platz erhält. Hesione erscheint erst im neuen Vers, von Telamon getrennt, wodurch ihre Zugehörigkeit zur Familie des Priamus noch stärker betont wird (schließlich durch mea). 227f. captiua tenetur / me regnante soror Der ganze Gegensatz im Leben von Priamus und Hesione ist antithetisch in diesen Satz gelegt. Der Versschluß captiua tenetur genauso noch 273, auch Carm. adv. Marc. 1,37. Die Junktur ist eine Erscheinung des späteren Latein (Ps. Paul. Nol. carm. app. 3,120, Heptateuchdichter gen. 235, Paul. Petric. Mart. 2,547). Me regnante ist adversativer Ablativus absolutus. Vgl. für den Versanfang Romul. 4,3 te regnante, parens (wobei parens die syntaktische Funktion eines Vokativs annimmt). Auch dort wird mit der gegensätzlichen Situation zweier Personen gespielt: te regnante, parens, in me coniurat iniqua / ‹serpe›ntum cristata manus (Romul. 4,3f.). 228 dum Dorica regna peragras Die Verbindung Dorica regna ist singulär; es mag 127 Dorica castra anklingen. Dum ist hier ganz regelmäßig mit dem Präsens konstruiert, wenn auch ungewöhnlich für eine futurische Vorstellung (WOLFF 1996,

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z. St.); vor dem Hintergrund des sonstigen Tempusgebrauchs des Dracontius muß dies aber nicht allzusehr wundern (z. B. gleich im Anschluß dat und faciet). Formen von peragrare finden sich im Allgemeinen gern am Hexameterende wieder. Für einen direkten Weg mit einem klaren Ziel, der hier eigentlich vorschweben sollte, wird peragrare sehr selten und nur prosaisch verwendet (ThLL X 1,1184,16ff.). Das Gleiche gilt für den Einsatz des Wortes bei Schiffahrten, an die hier theoretisch auch gedacht sein könnte (ThLL X 1,1184,36ff.); vgl. die ebenfalls metaphorische Verwendung von sulcare 219 aus den Gedanken des Paris. Möglicherweise steht hinter peragrare auch der unmißverständliche Auftrag des Priamus an seinen Sohn, nun auf Brautschau zu gehen. 229 dat Venus uxorem, faciet te diua maritum Überzeugend konjiziert ZWIERLEIN BT z. St. für das verderbte te uno (ex une N), das VON DUHN in te Iuno verbessert hatte, te diua. Er verweist in seinem kritischen Kommentar (2017, 107f.) darauf, daß Venus in der Folge der Ereignisse die einzige sein wird, die Paris zu seiner Frau verhilft. Außerdem muß Priamus über das Parisurteil informiert sein (einen deutlichen Hinweis sollte er aus der Kassandra-Rede 166–168 erhalten haben), sonst könnte er nicht sagen bonus arbiter Idae; dies schließt es wiederum aus, daß er die natürlicherweise beleidigte Iuno als Unterstützerin heranzieht. Hinzu kommt, daß sich Paris mit dem Gedanken an eine Frau, wie sie ihm Venus versprochen hat, auf den Weg nach Troja macht (64f.). Schließlich deutet ZWIERLEIN die Rede des Priamus als „eine Art Propemptikon“, kurz vor der Abfahrt nach Salamis, das sich mit einer Reminiszenz an das berühmte Vergil-Propemptikon des Horaz gut vertrüge, wo es heißt sic te diua potens Cypri (Hor. carm. 1,3,1). Und Cyprus ist, als Ort des Venusfestes, der Schauplatz der Paris-Helena-Begegnung, der später recht häufig und gedrängt genannt wird (427. 429. 435). Die Konjektur VON DUHNs (te Iuno), die paläographisch vielleicht auf den ersten Blick etwas näher läge (doch vgl. ZWIERLEINs 2017, 108f. Erläuterungen), ließe sich erklären, wenn Priamus über die Vorgänge beim Parisurteil nicht genau informiert ist und vielleicht die Hinweise aus der Kassandra-Rede nach dem Auftritt des Apoll für nichtig erklärte (SIMONS 2005, 247, Anm. 86). Er würde dann von sich aus an eine Heirat des Paris im Sinne einer „Beschäftigungstherapie“ denken. Peragrare (228) dürfte in diesem Fall die konkrete Brautschau in den unterschiedlichen Fürstenhäusern meinen. So wie Venus und Iuno in der ‘Aeneis’ kollaborieren, um eine Ehe zu schließen, so würden sie es auch hier tun. Iuno würde sich schließlich durch die Eheschließung des Paris mit Helena an Troja rächen. Von einem Betreiben der Iuno ist jedoch im ganzen Gedicht nichts zu lesen. Nur Venus verspricht dem Paris offenbar eine Frau, wie aus 64f. hervorgeht. Dracontius hat uxor und maritus noch zweimal im gleichen Vers, stets an der gleichen Versposition: laud. dei 1,364 und 380. 230–245 Reaktion des Paris, zweite Rede des Priamus, Abfahrt nach Salamis Den Abschnitt rahmen die beiden Themen ‘Freude’ und ‘Eile’, welche die achteinhalb Verse umfassende Rede des Priamus einschließen. Die auf beiden Seiten herrschende Freude (gauisus, ouantes 230, laetatur 232) vermittelt den Eindruck von

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III Kommentar

einem guten Einvernehmen zwischen Vater und Sohn. Paris stellt sich darauf ein, daß sein Vater das Sagen hat (nihil est quod iussa recusem 231), Priamus freut sich über die Einsicht seines Sohnes (232) und hält daraufhin seine zweite Rede, die nur zwei voneinander abzugrenzende Teile enthält: 233–234 Bitte des Priamus an die Götter 235–241a Drei Begleiter als Unterstützung für die Gesandtschaft (mit Begründung und Vorstellung) Das direkte Nebeneinander von genitor rex und natus gleich zu Beginn der Rede (234) betont die Doppelrolle des Priamus in der Situation: Er ist Vater seines Sohnes und gleichzeitig König seines Volkes. Der Ausgang der Mission wirkt sich nicht nur auf die Familie, sondern auch auf das ganze Reich aus. Daß Priamus möglicherweise noch nicht völlig davon überzeugt ist, daß sein Sprößling in seinem Sinne handeln wird, oder einem Sinneswandel in Richtung Unvernunft vorbeugen will, zeigt der Satz ueneranda senectus / praecipitem frenat monitis per cuncta iuuentam (236f.). Zum Schutz vor ihm selbst und seinem der Jugend geschuldeten Übermut, aber schließlich auch zum Schutz des Priamus und seines Reiches, werden dem Paris drei Begleiter mitgegeben, berühmte Helden. In der Tradition ist eigentlich nur einer von ihnen deutlich älter als Paris, nämlich Antenor; hier scheinen sie alle drei ein höheres Alter zu haben (wenn man iuuenis, das Attribut zu Aeneas, im Sinne von filius versteht). Der Imperativ imperio concede meo (236) zusammen mit dem unterwürfig scheinenden hoc tantum supplex genitor rex, nate, precatur (234) ist wohl in Anbetracht der sofortigen Ausführung des Befehls (242), die proceres herbeizuholen, als überaus freundliche Bitte zu verstehen, die aber keinen Widerspruch duldet. Die Anzahl und die personelle Besetzung der Teilnehmer der Gesandtschaft haben in der Forschung stets235 die Frage nach der Abhängigkeit des Dares von Dracontius und vice versa aufgeworfen. Einige der wichtigsten Punkte dieser Diskussion sind in der Einleitung unter 3.4 zusammengetragen. Unter der Prämisse, daß eine direkte Abhängigkeit der beiden Texte in welcher Richtung auch immer nicht gegeben ist, soll im folgenden nach der Motivation für die Dreiergesandtschaft in genau dieser Kombination gefragt werden. Im Prooem schließt sich der Dichter ausdrücklich an Homer und Vergil an. Vielleicht kann man den Grund für die Dreierkombination darin finden, daß im neunten Buch der ‘Ilias’, bei der vielleicht wichtigsten Gesandtschaft an Achill drei Redner geschickt werden. Dort sprechen Phoinix, Ajax und Odysseus zu Achill. So mag diese Grundkonstellation vielleicht zu einer Gesandtschaft mit drei Rednern inspiriert haben. WOLFF 1996, z. St. bringt die Teilnahme des Aeneas an der Gesandtschaft mit anderen Mythenvarianten in Verbindung, bei denen Venus dem Aeneas aufgetragen hat, Paris bei seiner Reise nach Sparta zu begleiten. Dares hingegen habe dem Paris „plus logique“ Polydamas, Aeneas und Deiphobos mitgegeben. 235 Seit SCHISSEL VON FLESCHENBERG 1908.

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SCHETTER236 will in seinem Aufsatz zeigen, daß Dracontius von Dares abhängig ist, so daß er auch die drei Männer der Gesandtschaft mit den Gesandtschaften bei Dares in Verbindung bringt.237 Dieser läßt Antenor zu denen fahren, die mit Herkules am Trojafeldzug beteiligt waren, während später Paris eine Gesandtschaft zu den Dioskuren zusammen mit Polydamas und Aeneas plant, die schließlich aber nicht zustande kommt. So erklärt SCHETTER die Wahl der Figuren mit der Übernahme dieser Details von Dares. SIMONS 2005, 256f. übt Kritik an dieser Auffassung, weil Antenor, der traditionell friedliebend (s. zu Vv. 240f.) dargestellt wird, was Dracontius wiederum übernehme, bei Dares (5. 8) geradezu heftig reagiert. Doch erkennt man, beim weiteren Lesen, was von SIMONS vielleicht übersehen worden ist, daß Antenor in seiner Gesandtschaftsrede (s.u. S. 301) nicht gerade zurückhaltend spricht, sondern deutlich fordernd, so daß er durchaus mit dem Antenor des Dares etwas gemein hat. Eine Abhängigkeit ergibt sich freilich dadurch dennoch nicht. Es ist dem Dichter sicher zuzutrauen, daß er sich aus den vorhandenen Traditionen des Mythos und der verwandten Geschichten seine eigene Gruppe zusammengestellt hat, die so nicht zu finden war (s. zu 240f. für eine genauere Beschreibung der drei Gesandten). 230 paremus ouantes Für den Versschluß vgl. Verg. Aen. 3,189 dicto paremus ouantes, 4,577 imperio … paremus ouantes, dort jeweils mit Dativobjekt (parere ohne Dativobjekt begegnet vergleichsweise selten, s. ThLL X 1,379,50ff., hier kann es aber sehr leicht aus der vorhergehenden Rede des Priamus ergänzt werden). Zu vergleichen ist zudem Stat. Theb. 3,260 gaudet ouans iussis. An allen drei Stellen sind Personen kurz vor dem Aufbruch durch die Luft (Mars bei Statius) oder zu Wasser (Aeneas und seine Gefährten bei Vergil), nachdem sie von einer Gottheit oder einem Menschen einen Auftrag oder eine neue Weisung erhalten haben. In diese Gruppe der bedeutenden Vorbilder reiht sich der Paris des Dracontius ein. Der denkt vielleicht bei dem militärisch konnotierten Terminus ouare doch an eine siegreiche Rückkehr von einer militärischen Expedition (vgl. 619 ouans bei der Wiederkehr nach Troja). 231 optime Troiugenum Singulär als Bezeichnung für Priamus. Die Genitivform des dichtersprachlichen Wortes, das Dracontius noch vier weitere Male verwendet, begegnet auch laud. dei 3,433, Romul. 9,63, Catull. 64,355. Vgl. Verg. Aen. 8,127 (Aeneas an Euander) optime Graiugenum. nihil est, quod iussa recusem Für quod mit Konjunktiv s. H-S 572, vgl. Ov. met. 6,25 nihil est quod uicta recusem. Die Junktur iussa recusare noch Verg. Aen. 5,749, Ov. fast. 2,387, Stat. Theb. 9,211 (Versschluß, wenn nicht fata in den Text zu setzen ist, wie es KLOTZ BT tut).

236 SCHETTER 1987, 211–231 (= 1994, 295–313). 237 SCHETTER 1987, 221f. (= 1994, 304f.). Gegen eine Übernahme der Dreiergesandtschaft des Dracontius von Dares wendet sich überzeugend GÄRTNER 1999 (b), 404–408. S. auch die Einleitung 3.4.

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III Kommentar

232 laetatur senior tali moderamine nati Priamus wird auch Verg. Aen. 2,544 als senior bezeichnet, was Dracontius sicher vor Augen steht (dagegen WOLFF 1996, z. St., der eine Vorliebe des Dracontius, senior statt senex zu schreiben, vermutet, auch Romul. 6,29), so wie öfter ältere Männer in der ‘Aeneis’ (5,301; 7,535; 10,124; 11,31) in pathetischer Wirkung durch Abgrenzung von den übrigen Personen (HARRISON 1991, 94). Moderamen meint animus modestus (VOLLMER, MGH 375, auch Romul. 5,305). Diese Bedeutung begegnet zum ersten Mal bei Silius (7,15), danach erst wieder bei Novatian (Cypr. epist. 30,5; s. ThLL VIII 1204,47ff.). Laetatur senior bildet mit 230 iuuenis gauisus einen Chiasmus über einen Vers hinweg. 233 tua uota, Paris, di iusta secundent Der Vers ist mit Sicherheit an Verg. Aen. 7,259 laetus ait: di nostra incepta secundent orientiert. Dort spricht Latinus, nachdem ihm Ilioneus den Hergang der Ereignisse bisher dargelegt hat. Dann gewährt der latinische König Aeneas und den Seinen eine Bleibe in seinem Reich. Die Situation ist an unserer Stelle vergleichbar: Mit Euphorie nahm Priamus Paris auf und schickt ihn nun (auch hier, wie bei Vergil ein laetatur) auf große Fahrt, die direkt in die Katastrophe führt. Ähnliches ereignet sich für Latinus, wenn auch unter ganz anderen Bedingungen. Aber auch seine Gastfreundschaft und Freude bringt letztlich Unheil über ihn. Freilich grenzt sich Priamus von den Plänen des Paris ein wenig ab, wenn er tua uota sagt (anders Latinus mit nostra incepta), aber durch sein eigenes Bitten um gutes Gelingen ist er emotional doch eng mit ihnen verbunden. Die Verbindung uota secundare bei Dracontius noch Romul. 1,17 nostra uota te precamur ut secundes, optime (vgl. auch Sidon. carm. 7,506 sed di si uota secundant). Die Junktur iusta uota findet sich Sen. benef. 6,29,2; im Singular dial. 6,10,3, Prud. perist. 9,95, Paul. Petric. Mart. 4,112. Die weite Sperrung von uota und iusta gibt dem Adjektiv eine konditionale Färbung (WOLFF 1996, z. St.), die als Vorabinformation für den Leser dienen kann. Der Vokativ zu Paris ist normalerweise, nach griechischem Vorbild, Pari (NEUE / WAGENER 1, 443, s. Prop. 2,3,37, Ov. rem. 573); im Werk des Dracontius hier singulär (VOLLMER MGH 307). 234 hoc tantum supplex genitor rex, nate, precatur Hoc dürfte prospektiv „das Folgende“ meinen. Priamus erschien einige Verse zuvor ehrwürdig und respektabel; nun tritt ein deutlicher Gegensatz zwischen dem Asyndeton bimembre genitor rex und dem erniedrigenden supplex precari hervor. Vielleicht versucht Priamus durch besonders vorsichtige Worte, seine guten Erfolge bei Paris, der gerade einer friedlichen Expedition zugestimmt hatte, nicht zu gefährden. Daß er keinen Widerspruch duldet, geht aus der sofortigen Durchsetzung des folgenden Befehls – ohne eine Antwort des Paris abzuwarten – hervor. Supplex precari (und vergleichbare Junkturen dieser Wortstämme) findet sich noch 481, Romul. 2,12; 10,135, sonst Verg. Aen. 9,624, Ov. epist. 4,149, met. 8,271, trist. 2,201 u. ö. 235f. Iliacos proceres tres tecum pergere saltem / imperio concede meo Daß Priamus für das Geschick seines Sohnes nichts tun kann, weiß er und hat so alles

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den Göttern anheimgestellt (233). Nur dieses eine läßt er sich nicht nehmen: Er gibt dem Paris eine Unterstützung mit auf den Weg, drei hervorragende Männer aus Troja (proceres für die Helden Trojas z. B. auch Verg. Aen. 6,489; 8,587). Pergere in der Bedeutung proficisci (ThLL X 1,1428,61f.; WOLFF 1996, z. St., s. auch Romul. 10,163. 358). Concedere kann entweder doppelt konstruiert sein, einmal mit Dativobjekt imperio und zum anderen mit dem Inhalt des imperium, der, in einem AcI ausgedrückt, auch von concedere abhängig gemacht werden muß (für concedere in der Bedeutung ‘erlauben, zugestehen’ mit dem AcI s. ThLL IV 16,20; die Konstruktion entspräche concede imperio meo quod pergant); oder man versteht den AcI als direktes Objekt zu concede, wobei imperio meo im Sinne von iussu meo fungiert; der Inhalt des imperium fände wiederum im AcI Ausdruck. Die zweite Variante ist wegen der prägnanten Stellung von imperio concede meo, zumal zu Beginn des neuen Verses, eher auszuschließen. Die beiden Verse sind voller Alliterationen: Iliacos … imperio; proceres … pergere; tres tecum; saltem … senectus. 236f. ueneranda senectus / praecipitem frenat monitis per cuncta iuuentam Der sentenziös formulierte Satz bestätigt den schon oben gewonnenen Eindruck, Priamus versuche eine Vermittlung zwischen den Wünschen seines Sohnes und seiner Prinzipien herzustellen, teile aber dem Paris auch offen seine Bedenken mit. In senectus sieht Priamus sich selbst, Paris in iuuentas. Durch die Wortstellung von senectus (mit seinem sehr positiv konnotierten Epitheton uenerandus238) und iuuenta (mit dem eher negativ konnotierten Zusatz praeceps per cuncta; praeceps hier in der verbreiteten übertragenen Bedeutung ‘unüberlegt, planlos’), beides betont am Versende, werden die jeweils gemeinten Personen deutlich sichtbar und gedanklich voneinander abgegrenzt. Vom Zügeln der unbändigen Jugend spricht schon Cic. div. 2,4 (sc. iuuentus) ita prolapsa est, ut omnium opibus refrenanda ac coercenda sit, ein ähnliches Motiv scheint auch Claud. 24,120f. casta iuuentae / frena dedit auf und in Variation 1,155 ignea longaeuo frenatur corde iuuentus. Monita für ‘Regeln, Vorschriften’, s. ThLL VIII 1412,67ff. Der Versschluß ueneranda senectus ist wohl von Maxim. eleg. 2,65 und Coripp. Ioh. 7,202 rezipiert worden, während Sil. 2,409 uenerande senectae klanglich auf Dracontius gewirkt haben mag. Der Ausdruck per cuncta begegnet bei Dracontius sehr häufig, um ‘immer’ oder ‘überall’ wiederzugeben: laud. dei 1,122. 228. 292. 348; 2,82, Romul. 6,65; 7,98; 8,491; 10,100. 165, Orest. 121. Ob es eher zu frenat (so WOLFF 1996, z. St.) oder eher zu praeceps zu ziehen ist, läßt sich nicht leicht entscheiden; beides ergibt einen gnomischen Sinn und eine singuläre Verbindung. Vielleicht ist der Bezug zu praeceps vorzuziehen, um die Notwendigkeit einer Begleitung für den jungen Mann deutlicher hervortreten zu lassen.

238 Das Motiv der Verehrung des Alters findet sich allenthalben, z. B. Val. Fl. 1,11, s. auch CHRISTIAN GNILKA: Greisenalter, RAC 12, 995–1094, besonders 1035–1059 und für den Einfluß auf die Jugend 1062f.

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III Kommentar

238 egregios comites … tria lumina gentis Lumen wird in übertragener Bedeutung (begegnet seit Cic. Catil. 3,24), hier als synonyme Bezeichnung für egregius comes, gebraucht. Vgl. für unsere Stelle besonders Sil. 6,130f. Italae … lumen / gentis. Für den Versanfang vgl. Prud. psych. 163 egregio comitata uiro. 239 Hectore praelato Hektor, der beste trojanische Kämpfer, erhält einen Vorrang vor den drei Begleitern des Paris. Vgl. für den Versanfang Orest. 750 praelato pastore. cui tota potentia cedit Die Bedeutung von potentia wurde bisher mit VOLLMER MGH 392 immer metonymisch als „omnes bellatores“ angenommen (auch ThLL X 2,297,19f.). Problematisch ist dabei allerdings die vorliegende Situation, in der es um ein friedliches Unternehmen geht, bei dem der Hinweis auf die Kampfestüchtigkeit eines Kriegers eigentlich unerheblich sein sollte. Es bleiben daher zwei Möglichkeiten zur Lösung des Problems. Entweder bleibt man bei einem metonymischen Verständnis für potentia, aber eher in Richtung ‘Machthaber’, weniger militärisch (s. ThLL X 2,297,5f., dann mit cedere in der Bedeutung ‘nachstehen’ [ThLL III 727,82ff.]). Noch besser jedoch scheint ein ganz konkretes Verständnis von potentia im Sinne von auctoritas (ThLL X 2,292,27f. bietet einige Belege: Cic. Verr. I 15, Mur. 59, rep. 2,59, Plin. nat. 14,5). Cedere ließe sich dann als ‘zufallen’ fassen (ThLL III 730,57ff.). Etwas weiter gedacht mag der Relativsatz vielleicht den Grund dafür liefern, daß Hektor, dem es eigentlich zukäme, nicht als Gesandter eingesetzt wird: Möglicherweise führt er in Troja faktisch die Regierungsgeschäfte (potentia) mit voller Autorität. Der Versschluß könnte von Claud. 3,358 en nostra potentia cessit beeinflußt sein (VOLLMER MGH 162, WOLFF 1996, z. St), und Auson. 23,2 GREEN. 240f. Antenor, Polydamas erunt iuuenisque Dionae / Aeneas cognatus adest Nach fünf Versen seit der Ankündigung des Priamus, dem Paris Begleiter mitzugeben, in denen Spannung erzeugt worden ist, um wen es sich bei den tapferen Trojanern handeln möge, erfolgt nun die Auflösung. Der erstgenannte Antenor ist traditionell geeignet, um ihn auf eine Gesandtschaft zu schicken, bei der Gelassenheit und Weisheit nötig sind. Er entstammt der Generation des Priamus, seine Söhne gehören zu den Anführern im trojanischen Krieg (Il. 2,822), Gastfreundschaft ebenso wie Gerechtigkeit und Weisheit zählen zu seinen Eigenschaften, so daß er schon in der ‘Ilias’ die Rückgabe der Helena anrät (Il. 7,347). Erst in späteren Varianten wird er zum Verräter der Trojaner (TANJA SCHEER: Antenor, DNP 1, 727–728), beispielweise bei Dares, woran Dracontius hier aber sicher nicht denkt. S. auch unten die Einleitung zu seiner Rede Vv. 259–284. Polydamas gilt ebenso wie Antenor als besonnener Mann, er besitzt Einsicht in Vergangenheit und Zukunft. In der ‘Ilias’ rät er klugerweise zum Rückzug in die Stadt, was aber nicht beherzigt wird (Il. 12,195–250; 18,249–313, s. auch STOEHRMONJOU 2014, 89f.). Im Vergleich zu Antenor ist er traditionell allerdings weit jünger, etwa im gleichen Alter wie Paris (Il. 11,57–60) und Aeneas, genau gleichaltrig mit Hektor.

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Aeneas ist als letztgenannter der einzige, der näher beschrieben wird. Er wird als Sohn der Venus eingeführt und kann von Priamus gegenüber Paris cognatus genannt werden, weil er der Ehemann von dessen Schwester Creusa ist (für diese Bedeutung s. ThLL III 1481,77ff.; es kann auch singulär als filius, mit Dionae, aufzufassen sein, wie ThLL III 1482,9f. nahelegt; alternativ kann man den Genitiv Dionae wie einen griechischen patronymischen Genitiv verstehen; vgl. auch V. 366 und Romul. 10,422, ZWIERLEIN BT z. St.). Begleiter des Paris zum Raub der Helena in Sparta ist er traditionell in den ‘Kyprien’ (Procl. Chrest. 92f. [Severyns]), sowie bei Dares (31) und Dictys (1,3).239 Für die einzelnen Teilnehmer an der Gesandtschaft s. auch unten zu ihren jeweiligen Reden (259–284. 327–348. 372–379). Daß adest im Sinne von est steht, wie WOLFF 1996, z. St. postuliert, ist nicht zwingend, sondern adest kann auch im Sinne von ‘helfen, unterstützen’ aufgefaßt werden (s. zu 225). Ein Futur dürfte man wohl erwarten, wie erunt, doch gehen bei Dracontius die Tempora ohnehin oft durcheinander. Dione (für den Genitiv Dionae vgl. auch 435. 498, Romul. 6,104, Pervig. Ven. 77, Mart. Cap. 9,905, ThLL Onomast. 3,172,45f.) steht für Venus. Ihre Gleichsetzung stammt wohl aus hellenistischer Zeit (Theokr. 15,106; BÖMER 1958, 310), wobei der Name vermutlich zunächst als ein Patronymikon zu Zeus gedacht war (JAKOB ESCHER: Dione, RE 5, 879. Da Venus aus dem Schaum geboren wurde, hat sie keine Mutter; in der Tradition, die sich schon bei Homer fassen läßt, wurde ihr Dione als Mutter zugewiesen, mit der sie dann auch wieder gleichgesetzt werden konnte. Zur Verbindung Aphrodite – Dione s. FARNELL 1896, 618–621; MCKEOWN 1989, 378). Catull 56,6, Vergil (ecl. 9,47 und Aen. 3,19) und Ovid (am. 1,14,33, ars 2,593, 3,3. 769, fast. 2,461, jeweils am Versende) verwenden die Bezeichnung ganz selbstverständlich (s. auch PERIN Onomasticon I 486). 241 sic fatus Sic fatus begegnet zehnmal bei Vergil und sehr häufig in der lateinischen Epik nach ihm, jedoch fast ausschließlich als Partizip, während hier wegen des folgenden et eine Ellipse von est für ein Vollverb angenommen werden muß (so auch bei Stat. Theb. 1,510 u. ö. und Mar. Victor aleth. 3,485. 544). Für sic fatus et omnes vgl. Lucan. 2,648. 241f. et omnes / ut ueniant rex ipse iubet properante ministro Omnes meint die drei Helden. Für weitere Belege von iubere mit ut s. VOLLMER MGH 365, ThLL VII 2,580,29ff. Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß der Befehl an den nur im Ablativus absolutus genannten minister geht. Die Konstruktion des Ablativus absolutus der Gleichzeitigkeit suggeriert einen rasenden Diener, der noch während der Worte des Königs schon auf dem Weg ist. Alternativ ließe er sich auch als Instrumentalis fassen: „Der König befiehlt durch den eilenden Diener, daß sie kommen sollen.“ Vgl. für den Versschluß Romul. 10,279 properate, ministri (für den Gedanken Iuvenc. 2,341 properantibus … seruis). Ipse ist sehr abgeschwächt zu nehmen.

239 Vgl. auch Dictys 1,3 Aenea aliisque ex consanguinitate comitibus.

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III Kommentar

243f. cum ducibus redit ipse uolans ad tecta satelles / regia Die Begleiter des Paris können wohl am ehesten als duces bezeichnet werden, nicht als Bezeichnung für Heerführer, sondern weil sie auf einer möglichst friedlichen Gesandtschaft den Priamussohn unterstützen sollen und den Auftrag des Priamus ausführen (ThLL V 1,2317,49ff.; s. für die Bedeutung ‘Held’ auch zu 220f.). Ipse ist mit ipse aus 242 als Anapher verwendet (WOLFF 1996, z. St.). Synonym zu properante ministro ist hier ipse uolans … satelles gebraucht, der Diener läuft eilig hin und her, um die Abfahrt der Gruppe nicht zu verzögern (satelles für ‘Diener’ auch 547 und Romul. 10,311). Für tecta regia vgl. Catull. 64,276, Verg. Aen. 1,631f.; 2,451; 7,668; 11,236f. 447. 244f. Die beiden Verse sind, was die Zäsuren betrifft, metrisch identisch gebaut; zudem reimen ihre Anfänge regia; cognoscunt proceres und nec mora, conscendunt puppes. 244 cognoscunt proceres quo uela parantur Cognoscunt vermittelt sicher, daß den drei Begleitern des Paris mitgeteilt wird, zu welchem Zwecke die Schiffe abfahrbereit gemacht werden, nicht, daß sie es vom bloßen Überblicken der Lage erfassen. Proceres auch 235 für die Begleiter. Vela parantur kann sich auf die Ausrüstung der Schiffe im Ganzen beziehen, kann aber auch das Hissen der Segel meinen. Für diesen Versschluß vgl. Prop. 1,17,13 uela parauit; Ov. epist. 8,23 uela pararis, met. 13,224 uela parares. Mit diesen Vergleichsstellen läßt sich die Behauptung DE PRISCOs 1992, 231, uela und parare verbänden sich nie miteinander, widerlegen. Der Wissenschaftler will die Überlieferung bella parantur halten, freilich nicht nur aus diesem Grund, sondern hauptsächlich, weil hier tatsächlich eine kriegerische Unternehmung vorbereitet würde, und zwar mit Wissen des Priamus, dem klar sein müsse, daß er Hesione nicht ohne kriegerische Auseinandersetzung wiederbekommen könne (227f.; so auch GRILLONE 2006, 92). Das Ziel des Priamus ist jedoch, für Paris eine sinnvolle, ehrenhafte, aber unkriegerische Beschäftigung zu finden. Damit sein Übermut nicht mit ihm durchgeht, gibt er ihm Begleiter an die Hand (236f.). Insofern ist mit dem recht neutralen uela parare der geeignete Text durch BÜCHELER hergestellt worden (für diese Konjektur spricht sich auch BRUGNOLI 1998, 202f. aus, die VOLLMER, WOLFF und ZWIERLEIN in den Text setzen). Wollte man die Überlieferung halten, müßte man davon ausgehen, daß Paris die Begleiter instruiert und das Unterfangen als eine Kriegsanlaßsuche dargestellt hat. Dies würde den trojanischen Königssohn als doppelzüngig charakterisieren, der sich gegenüber Priamus devot verhält, in Wahrheit aber bei seinem alten Plan bleibt. Es würde auch einen Hinweis geben, warum Antenor in seiner Gesandtschaftsrede so provokant spricht: Er wäre dann von Paris dazu angehalten worden. Dennoch scheint dieses Szenario eher unwahrscheinlich zu sein. Denn die drei Gesandten ‘gehören’ ausschließlich Priamus und sind Teil seines Plans und agieren allenfalls aus eigenem Antrieb anders; von einem Einfluß des Paris auf sie ist an keiner Stelle die Rede.

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Quo drückt wie 222 ubi den Zweck aus. Für den indirekten Fragesatz mit Indikativ s. dort. 245 nec mora, conscendunt puppes et litora linquunt Die Eile hört nicht auf – mit einem Daktylus beginnt der Vers (nec mora als Hexameteranfang ist seit Lucr. 4,227 beliebt, bei Dracontius noch Orest. 111), drei schwerfällige Spondeen folgen beim Besteigen des Schiffes – Proviant und schweres Gepäck wird man mitnehmen müssen – und sie sind mit dem Ende des Verses und nur zwei Worten schon verschwunden. Conscendere mit dem Akkusativ eines Schiffes begegnet seit Plautus (Merc. 946); s. auch 381. Für den Versschluß vgl. Verg. Aen. 3,300 (dem Klang nach auch 1,517), Avien. orb. terr. 226. 246–258 Fahrt nach und Ankunft auf Salamis Der Weg der Flotte scheint geographisch unplausibel zu sein240, weil man von Troja aus nicht erst in Richtung der südlich gelegenen Insel Tenedos, dann wieder nördlich in Richtung Hellespont (mit Sestos und Abydos) segeln würde, darauf wieder südlich an der Peloponnes vorbei, am Kap Malea, um schließlich auf der Insel Salamis zu landen. WOLFF versucht das Problem zu lösen, indem er „une sorte d’ὕστερον πρότερον“241 annimmt und die in dimisit (247) ausgedrückte Handlung der in transibat (246) vorzieht, so daß die Gesandten erst an der Küste zum Hellespont und dann wieder südlich an Tenedos vorbeifahren. Auch wenn er einschränkend „une sorte“ hinzufügt, widerspräche ein solches ὕστερον πρότερον jeglicher Praxis dieses stilistischen Mittels, das stets aus emotionalen oder zumindest assoziativen Gründen gesetzt wird.242 Daher ist eine Überlegung in eine andere Richtung lohnenswert. Es fällt bei der Überprüfung der Ortsnamen auf, daß es nicht nur ein einziges Malea(e) gibt, also nicht nur das Vorgebirge der Peloponnes, sondern auch ein kleineres (und unbedeutenderes) vor der Insel Lesbos, das fast ebenso nahe bei Troja befindlich ist, wie die beiden Städte am Hellespont. Im Zusammenhang mit der neu gefaßten Bedeutung von aquis dimittere ‘seinem Gewässer überlassen’ (s. den Kommentar zu 247) erhält man ein neues Bild – vielleicht weniger des Seewegs, als vielmehr der Fahrt im Ganzen. Denn schon der Aufbruch war von großer Eile gekennzeichnet gewesen, so daß anzunehmen ist, daß sie sich auf der ganzen Reise fortsetzt.243 Unter dieser Voraussetzung fehlt nicht viel zu dem Gedanken, daß die Flotte nicht den sicheren und eigentlich für antike Verhältnisse üblichen, aber längeren Weg an der Küste entlang, sondern den gefährlicheren, aber kürzeren Weg zunächst direkt über das Meer, ganz grob in Richtung Peloponnes, wählt. Dabei kommt sie automatisch an Tenedos vorbei (transire 246). Die küstennahen Orte, und zwar sowohl auf der nördlichen Route Sestos und Abydos, als auch auf der

240 241 242 243

BRIGHT 1987, 105; WOLFF 1996, 142. WOLFF 1996, 142. MAURACH 22006, 194f. Dafür sprechen u.a. die große Zahl an Temporaladverbien wie iam (246. 248) und mox (249. 253).

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III Kommentar

südlichen Malea, läßt sie völlig außer Acht (dimittere aquis, 247), sondern fährt mitten hinüber. Angekommen am Zielort wird kurz das Anlegen erwähnt und der Weg zum Königspalast, wo sich die Schilderung wieder verlangsamt und die Umstände genauere Betrachtung finden. Dabei wird der Blick insbesondere auf den Ölzweig als traditionelles Zeichen einer friedlichen Absicht gelenkt. Gleichzeitig wird durch einen Autorkommentar (254–256) mitgeteilt, daß dieses Symbol nur dem Schein dient und die Gruppe in Wahrheit Krieg bringt. Interessanterweise geht aber aus den Worten nicht deutlich hervor, ob die Täuschung absichtlich geschieht, es sich also um eine Täuschung im wörtlichen Sinne handelt, ob entsprechend mit Absicht Friedenszeichen gebracht werden, während Krieg gemeint ist, oder ob sich dieser Widerspruch erst im Laufe der Verhandlungen ergibt. Für Letzteres spricht die falsche Voraussetzung, unter der sich die Gesandtschaft überhaupt auf den Weg macht, daß nämlich Hesione die Gefangene des Telamon ist. Der Autor kann mit seinem Wissen, das er über die wahre Situation besitzt, schon vorab auf das Problem aufmerksam machen, tut es an dieser Stelle aber nicht völlig klärend. Denn auch wenn sich der Leser nun auf eine Auseinandersetzung einstellen kann, bleibt der Grund dafür im Dunkeln. 246 Dardana In der Handschrift findet man hinter Dardana eine Interpunktion, so daß es zu litora (245) gezogen werden müßte (IANNELLI übernimmt diese Interpunktion; vgl. für die Junktur Verg. Aen. 2,582 Dardanium … litus). Auch wenn freilich Zeichensetzungen in Handschriften keine oder nur wenig Bedeutung haben, so wäre es dennoch eine Alternative, die zumindest erwähnt werden soll, da durch ein Enjambement das Gefühl von Eile und schnellem Aufbruch, das in den Versen zuvor vermittelt wurde, noch deutlicher ausgedrückt würde. Zudem hätte man wieder ein iam an einem Satz- und Handlungsabschnittsanfang (wie etwa 31. 61. 213). Ein so starker Gliederungseinschnitt, der nicht mit einer Versgrenze zusammenfällt, ist dennoch eher unwahrscheinlich. Dardana iam Tenedon classis transibat Die Flotte mit der Gesandtschaft fährt an Tenedos, einer Insel nahe bei Troja im Ägäischen Meer vorbei. Die Junktur Dardana classis ist sicher von Stat. Ach. 1,80 ne pete Dardaniam frustra, Theti, mergere classem inspiriert (vergleichbar ist Prop. 4,1,40 und Sil. 2,1 Dardana puppis, Verg. Aen. 4,658 Dardaniae … carinae; 7,288f. classem … / Dardaniam). Für Tenedon transire vgl. Ov. fast. 4,279f. Sigea … litora transit, / et Tenedum (bei einer Abfahrt aus Phrygien). Für die Bedeutung von transire an dieser Stelle s. OLD s. v. 12a,1963. 246f. Abydon / et Seston dimisit aquis Abydos und Sestos sind zwei Städte, die einander an der Mündung des Hellespont gegenüberliegen und die seit Ov. trist. 1,10,28 gern gemeinsam auftreten. Dimittere ist hier nicht in der Bedeutung ‘vorbeisegeln’ verwendet (wie ThLL V 1,1216,62f.), weil das bloße aquis dann recht lose („auf dem Wasser“?) und ohne rechten inhaltlichen Gewinn stünde. Eher wäre dimittere in der Bedeutung ‘überlassen’ mit Dativ zu konstruieren (ThLL V 1,1216,63ff.) und zu übersetzen ‘ihrem Gewässer (aquis) überlassen’ (vgl. auch

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WOLFF 1996, z. St. und ZWIERLEIN BT z. St.; vielleicht ist ganz entfernt vergleichbar Culex 380 dimittes omnia uentis). 247 †uouas†que Maleas Die Pluralform zu Malea begegnet sehr selten, man wird sie jedoch als bekannt voraussetzen können, da sie in Cic. fam. 4,12,1 belegt ist. Wie oben (in der Einleitung zum Abschnitt) erwähnt, handelt es sich bei diesem Malea vermutlich um ein Vorgebirge von Lesbos, nicht um das südlich der Peloponnes (s. dazu ARNOLD WYCOMBE GOMME: A Historical Commentary on Thucydides, Vol. II, Books II-III, Oxford 1956, 257f.; die Unterscheidung auch PERIN Onomasticon II 185; das unbekanntere Malea findet sich im Lateinischen Plin. nat. 9,149, auch in Verbindung mit dem Hellespont [sc. spongeae] in Hellesponto asperae et densae circa Maleam, wenn auch ohne geographischen Bezug zueinander). Für das überlieferte, unverständliche Epitheton uouas gibt es bisher keine überzeugende Erklärung. In der Handschrift ist es ziemlich deutlich von einer anderen Hand in einer Lücke nachgetragen worden, während das -que eindeutig von der ersten Hand stammt. Eine Lücke weist auf ein unlesbares (vielleicht ein unverständliches oder gar ein griechisches?244) Wort hin, vielleicht auch auf einen mechanischen Ausfall in der Vorlage. Jedoch scheint es unter diesen Umständen zu unsicher, eines der konjizierten Adjektive in den Text zu setzen, auch wenn sie alle ihre Berechtigung haben, da sie sich bei Dichtern wie Vergil, Ovid, Seneca und Statius, die Dracontius sicher benutzt hat, auf Malea bezogen finden lassen (Cruces setzt zuerst GÄRTNER 1999 [a], 77).245 Als weitere diagnostische Konjektur soll hier einmal totas mit folgender Begründung vorgeschlagen werden: Es betonte ein weiteres Mal die Eile, in der es nicht zugelassen ist, auch nur an einem kleinen Teil der Vorgebirgsküste sicher entlangzusegeln, sondern sie überhaupt gar nicht zu nutzen. Einige Belege ließen sich bringen: totasque an dieser Versposition Manil. 1,882, Petron. 123 vers. 213, Sil. 8,536, Paul. Nol. carm. 20,195; mit aquis heißt es Sil. 14,483 pars exstat aquis totumque per aequor. 248 iam Salamina uident Telamonia regna petentes Für den Versschluß vgl. Verg. Aen. 1,620 noua regna petentem; außerdem für die Anlage Verg. Aen. 8,157f. Hesionae uisentem regna sororis / Laomedontiaden Priamum Salamina petentem. Außergewöhnliche hexametrische Versposition für eine von Telamon abgeleitete Form, die nur noch 587 Telamonis begegnet. Telamonia regna kann als Apposition zu Salamina (zum Akkusativ Singular auf -a, besonders bei geographischen Namen, s. NEUE / WAGENER 1, 467, Salamina schreibt schon Cic. Tusc. 1,110) verstanden werden (so auch WOLFF 1996, z. St.), 244 Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Fall ist Mart. 1,24,8, wo παρ’ ἱστορίαν zu ita pictoria verlesen wurde (s. THOMAS RIESENWEBER: Die Wiedergewinnung des Originals mit den Mitteln der Textkritik, in: MICHAEL HOLLMANN / ANDRÉ SCHÜLLER-ZWIERLEIN (Hrsgg.): Diachrone Zugänglichkeit als Prozess, Berlin u. a. 2014, 416). 245 Curuus von IANNELLI findet sich Ov. am. 2,16,24, raucus von DIAZ DE BUSTAMANTE bei Stat. Theb. 7,16 (vielleicht entwickelt aus LÖWEs auf aquis bezogenem raucisque?), saeuus von VON DUHN ist Prop. 3,19,8 zu lesen, nur BAEHRENS’ nocuus ist nicht zu belegen.

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III Kommentar

wobei Bezugswort und Apposition sowohl auf das Prädikat als auch auf das Partizip bezogen werden müssen. Der Versbau legt es dagegen nahe, von beiden Akkusativen je einen vom Prädikat und einen vom Partizip abhängig zu machen, also Salamina uident und Telamonia regna petentes. 249 ut portum tetigere rates, mox Für portum tangere vgl. Verg. georg. 1,303 iam portum tetigere carinae, Prop. 3,24,15 portum tetigere carinae, Ov. am. 2,9,31f. carinam / tangentem portus, ars 3,748 ut tangat portus fessa carina suos. Vgl. an dieser Stelle außerdem für die Formulierung Verg. Aen. 5,8 ut pelagus tenuere rates. Mox ‘sogleich’ (s. dazu H-S 637) als Korrelativ zu temporalem ut ‘sobald’ verwendet Dracontius recht häufig (in unserem Gedicht 444f.; Romul. 10,334f., Orest. 887 ut … mox; ähnlich auch Romul. 10,447f. cum … mox, Orest. 753f. ubi … mox; Vergleichbares ist auch Sidon. carm. 2,262f. zu belegen, vgl. ThLL VIII 1551,82f.), unterstützt hier aber besonders die Wirkung der Eile in der Handlung. 249f. ancora mordet / litus et inuentas ferrum pertundit harenas Die beiden Satzteile sind als ὕστερον πρότερον angeordnet. Dracontius beschreibt im zweiten Teil sehr präzise, wie der Anker, wenn er zuerst nur Sand findet, diesen bis zu festerem Grund durchschlagen muß (pertundere). Die Metapher ancora mordet findet sich selten und ist sehr gesucht, vgl. Ennod. carm. 1,6,16 ancora quod proprium mordet obunca solum, 1,7,48 ancora proscissum mordeat unca solum. Auch die anderen Stellen, die mit der Junktur ancora mordax in eine ähnliche Richtung gehen, stammen aus der späten Latinität: Sidon. epist. 8,6,15 mordaces ancoras uado uellant, Romul. 8,381 subducitur ancora mordax, Coripp. Ioh. 1,230f. ancora portus / Romanae classis morsu perstrinxit obunco, 373f. tunc ancora morsu / fixa suo tenuit securas litore puppes und sind vielleicht alle von Verg. Aen. 1,169 unco non alligat ancora morsu beeinflußt (VANDONE 2004, 87). Litus und harena, die beide den Vers rahmen, müssen hier jeweils den Grund des Meeres direkt vor der Küste bezeichnen (vgl. dagegen 448 litus harenosum; auch schon in 253 kann litus nur der Sandstrand sein). Der Gebrauch von bloßem ferrum für ancora ist offensichtlich unüblich (vgl. ThLL VI 1,584,78ff.), aber unproblematisch, da viele eiserne Gegenstände nur mit dem Material selbst bezeichnet werden können (mit der Erweiterung um pondera nutzt dies schon Silius 6,355 unca locant prora curuati pondera ferri). Denn in der Antike kannte man nicht nur Anker aus Holz, die mit Steinen oder Blei beschwert wurden, sondern auch eiserne, wie hier, die durch eine Holzummantelung Rostschutz erhielten (CASSON 61979, 314f.). Singulär scheint die Verwendung von pertundere in diesem Zusammenhang (vielleicht beeinflußt von Verbindungen wie Verg. Aen. 5,125f. litora, quod tumidis summersum tunditur olim / fluctibus, das Dracontius selbst wohl laud. dei 1,577 fretum, quod litora tundit übernimmt). Nur hier begegnet auch die Junktur inuentae harenae, wobei man für das auf den ersten Blick schwierige inuentae, das VOLLMER und WOLFF in den Text setzen, verschiedene Verbesserungen zu finden versucht hat: inuitas (BÜCHELER), inmensas (RIBBECK 1873, 465) und umentes (ROSSBERG, von ZWIERLEIN BT 2017 in den Text übernommen). Wenn man aber bedenkt, daß

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die Mannschaft den Anker aufs Geratewohl in das undurchsichtige Wasser wirft und hofft, daß er so schnell wie möglich einen Platz zum Festhaken findet, dann kann man das positive Ergebnis, das man an der gespannten Ankerkette sieht, sehr bildhaft mit inuenire ausdrücken („So ist die Schilderung ganz malerisch“, SCHENKL 1873, 516). Dadurch wird die Personifikation des Ankers, die mit mordere begann, in pertundere, aber auch inuentae harenae fortgeführt (vergleichbar für diese den Anker personifizierende Verwendung ist beispielsweise Sil. 5,343f. plures … in corpore nullum / inuenere locum … hastae, Stat. Theb. 9,283 hasta cruorem, s. auch ThLL VII 2,136,84ff.). Durch das passive Partizip der Vorzeitigkeit ergibt sich eine temporale Ungenauigkeit, die aber besonders vor dem Hintergrund des Tempusgebrauchs bei Dracontius nicht ins Gewicht fällt (s. auch die Einleitung Kap. 2.3). Vgl. die klanglich-übereinstimmenden Verspositionen Lucan. 9,607 rarior. inuentus mediis fons unus harenis. 251 puppibus adnexis Für adnectere in der Verwendung mit Schiffen vgl. Cic. carm. frg. 33,3f. BLÄNSDORF nauem ut horrisono freto / noctem pauentes timidi adnectunt nauitae, sonst eher prosaisch, s. ThLL I 778,10–16. 251f. terram Troiana iuuentus / et proceres petiere simul Troiana iuuentus (ein vergilischer Versschluß, Verg. Aen. 1,467. 699; spielt hier sicher klanglich mit inuentas 250) meint konkret nur Paris, während man unter proceres die Begleiter Antenor, Polydamas und Aeneas verstehen muß (vgl. 235 und 244). Betont steht in der Mitte von 250 terram (trockenes Land) als wichtigstes Ergebnis der Situation. Die Gesandtschaft hat nun die Küste vor Salamis erreicht und muß sich nur noch durch das flache Wasser vom Ankerplatz zum Festland kämpfen (terram … petiere). 252f. sed regis ad aulam / linquentes mox litus eunt Erneut verleiht mox der Eile Nachdruck; das Meeresgestade ist nur eine notwendige Zwischenstation, Ziel der Reise ist die regis aula. Dies wird durch die Wortstellung, bei der linquentes litus zwischen regis ad aulam … eunt eingeschlossen ist, deutlich hervorgehoben. Das Kompositum relinquere scheint mit litus zusammen gewöhnlicher zu sein (Verg. Aen. 11,628, Ov. met. 2,576f.; 13,939), doch läßt sich auch das Simplex belegen (Verg. Aen. 3,300 litora linquens). Dracontius mag hauptsächlich aus Gründen des Klanges und wegen der entstehenden Alliteration zum Simplex gegriffen haben. Bei der Gesandtschaft des Aeneas zu Euander heißt es beim Aufbruch zu demselben fluuium … relinquunt (Verg. Aen. 8,125). 253f. quos suscipit heros / hospitio Telamon Für das sonst üblichere hospitio accipere / excipere / recipere begegnet seit Apuleius met. 7,1 auch hospitio suscipere. Heros als Beiwort zu Telamon ist singulär (s. auch 268). Es bezeichnet hier im Sinne der homerischen Epen einen tüchtigen Kämpfer und edlen Herrn (ThLL VI 3,2662,5ff.).

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254–256 ramos frondentis oliuae / portantes ad tecta ducis sub imagine pacis / non pacem, sed bella gerunt Der Ölzweig als Friedenssymbol begegnet auch Verg. Aen. 8,116 paciferae manu ramum praetendit oliuae (Gesandtschaft des Aeneas zu Euander); 11,332 ire placet pacisque manu praetendere ramos (s. dazu auch ISABELLA MARIA DE’ BUOI: ramus, EV 4, 397f.). Die Verbindung ramus frondentis oliuae ist sicher von Ov. met. 8,295 cum ramis semper frondentis oliuae übernommen (vgl. auch laud. dei 1,168 frondescit oliua, Anth. 719 R.,93 ramos frondentis oliuae). Für die Formulierung mit portare vgl. Anth. 4 R. = 3 Sh.-B.,102 ramum … portares oliuae. Ad tecta ducis variiert regis ad aulam 252. Dux für Telamon schon 226. Der Sinn von sub imagine ist ‘unter dem Anschein; unter dem Vorwand’; der Betrug wird darin deutlich ausgedrückt. Für den Ausdruck der Täuschung begegnet sub imagine seltener als das gewöhnliche sub specie: Vgl. Ov. met. 2,37 nec falsa Clymene culpam sub imagine celat; 14,80 pyra sacri sub imagine facta; Pont. 3,3,75 tu licet erroris sub imagine crimen obumbres; Epist. pontif. 321 Migne 20 p. 584A sub imagine catholicae fidei disputantes. Das Wortspiel, das sich in non pacem sed bella gerunt findet, begegnet auch Sall. Iug. 46,8, Verg. Aen. 7,444; 9,279, Ov. am. 3,8,58, Sen. Ag. 345. Dabei verbindet sich gerere mit bellum nicht zum Terminus ‘Krieg führen’, sondern bedeutet ‘Krieg bringen’, was gewöhnlich mit bellum ferre ausgedrückt wird (WOLFF 1996, z. St.). 256 nam dicta tenebant Der Versschluß findet sich nur noch 608 nam quicumque memor Heleni mox dicta tenebat. Scheint eine leichte Variation der Junktur uerba tenere zu sein, die z. B. Verg. ecl. 9,45 begegnet. Beide vergleichbaren Stellen legen nahe, an vorbereitete Reden zu denken, die die Gesandtschaft auf der Reise geplant hat und die sie jetzt im Gedächtnis mitbringt (dagegen übersetzt WOLFF 1996, z. St. „tenir des propos“ und erklärt es als Romanismus). Es spricht sehr viel dafür, statt der etwas unklaren Überlieferung die Konjektur von BAEHRENS, ferebat, in den Text zu setzen, ist sie doch im Zusammenhang mit Gesandtschaften gut belegbar (Verg. Aen. 11,330, Stat. Theb. 12,681) und begegnet auch hier im Anschluß (299; s. auch ZWIERLEIN BT z. St.). Man wird nur zögern, wenn man annimmt, daß die Worte des Antenor nicht in vollem Umfang die aufgetragenen Gesandtschaftsworte sind, sondern seine eigenen (s. unten die Interpretation der Antenor-Rede, S. 301). 257 quae possent armare uirum Vgl. dazu die Reaktion des Telamon auf die erste Rede: at Telamon mentes armabat in iras (285), während hier armare durchaus wörtlich verstanden werden kann (dagegen ROSSBERG 1887 [b], 840f.). Es beginnt hier eine eher sentenzenhafte, allgemeine Aussage über das Gastrecht, so daß uir unbestimmt ‘ein Mann’ in der übergeordneten inhaltlichen Ebene bedeuten kann, auch wenn konkret ‘der Mann’ gemeint ist.

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Arma und uir rufen traditionell den Anfang der ‘Aeneis’ auf, hier jedoch ohne weitere interpretatorische Folgen. Vgl. sonst Stat. Theb. 2,605 armant … uirum (sc. spicula), 4,44 armat Larissa uiros. 257f. nisi iura uetarent / hospitii, quae nemo parat uiolare modestus Das in Griechenland und im römischen Reich bestehende Gastrecht, eines der höchsten Gebote überhaupt, hat sich im Wesentlichen aus den Normen entwickelt, die man bei Homer finden konnte (HILTBRUNNER 2005, 34; s. auch LADISLAUS J. BOLCHAZY: From Xenophobia to Altruism, AncW 1, 1978, 45–64). Seine Bedeutung läßt sich deutlich erkennen aus den Zeugnissen, die zeigen, wie man Verletzer des Gastrechts sah: Auf einer Stufe mit Räubern und Betrügern (Hes. Op. 327ff.), in der Strafforderung noch vor Kinderschändern oder denjenigen, die ihre Eltern schlagen (Aristoph. Ran. 147–151; HILTBRUNNER 2005, 34).246 Telamon wird in dieser Sentenz, auch wenn sie allgemein gesprochen ist, sogleich als modestus charakterisiert, die Gesandtschaft, die eine Verletzung des Gastrechts provoziert dem Telamon gegenüber antithetisch. Die Wendung ius hospitii scheint prosaisch zu sein, sie begegnet Cic. Verr. II 2,116, vgl. auch Sil. 17,68 hospita iura (ThLL VII 2,685,81f.). Für ius uetare vgl. Cic. Caecin. 95, in der Dichtung Stat. Theb. 3,316 hoc mihi ius, nec fata uetant, viel häufiger ist die Junktur legem uetare. Ius uiolare findet sich ebenfalls zuerst bei Cicero, carm. frgm. 37,1. Violare parare ist eine eher seltene Verbindung, die zuerst Ov. Ib. 313 und dann Claud. 18,236 begegnet. 259–368 Verhandlungen auf Salamis 259–284 Die Gesandtschaftsrede des Antenor Wie schon verschiedentlich beobachtet wurde, zeichnet sich das Gedicht durch eine gewisse Eile an den rein erzählenden Passagen aus. Dies wird hier erneut deutlich, wenn Begrüßung, Platznehmen und die Redeeinleitung gerade einmal zwei Verse umfassen. Die Rede des Antenor wirkt auf den ersten Blick recht diplomatisch, einfühlsam und eines in friedlicher Absicht Gesandten würdig, auch wenn die Forderung an sich für den treusorgenden Ehemann und Vater Telamon eine Provokation sein muß.247 Dennoch hätte sich für einen modestus (258) vielleicht ein Hinweis auf die veränderten Umstände eher geziemt. Doch die Reaktion des Telamon im folgenden ergibt ein völlig anderes Bild. Er bricht in heftigste Wut aus, was der Dichter mehrfach betont: Telamon mentes armabat in iras 285, accendunt motus in pectore fellis amari 287, turbidus Aeacides iusta succensus in ira 291. Seine Rede steigert sich dann zu einer offenen Kriegsdrohung. Außerdem wird klar, daß er die Worte des 246 S. auch etwas ausführlicher mit weiteren Beispielen OTTO HILTBRUNNER: Gastfreundschaft, RAC 8, 1061–1123 (mit WEHR und GORCE), hier 1082–1103. 247 Wie auch Priamus 227 geht Antenor und die gesamte Gesandtschaft von einer falschen Voraussetzung, was den Stand der Hesione angeht, aus. Die beiden Mythenversionen (Hesione als Kriegsgefangene oder Königin und Ehefrau des Telamon) werden in der Salamisepisode geschickt kombiniert; die falsche Annahme über das Schicksal der Hesione stellt einen ersten Schritt zur Gestaltung einer Kriegsdrohung dar (SCHETTER 1987, 224 = 1994, 307).

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Antenor durchaus als klare Kriegsdrohung von trojanischer Seite verstanden hat: si pudor Iliacis aut mentibus esset honestas … non magis auderent in bella lacessere Graios 292. 295. Deshalb muß die Rede nach Hinweisen untersucht werden, die eine solche Reaktion rechtfertigen. Dafür wird zunächst eine (etwas ausführlichere) Gliederung gegeben: 261–264 Ankündigung, über den Grund der Gesandtschaft zu berichten 265–270a Auftraggeber (Priamus) und Auftrag der Gesandtschaft (Hesione zurückholen) 270b–273 1. argumentativer Aspekt: Troja wird sich nicht wieder vollständig erholen, solange Hesione nicht zurück ist (angebliche persönliche Ansicht des Priamus) 274–278 2. argumentativer Aspekt: Ein Krieg wäre der öffentlichen Meinung nach für einen König in dieser Situation angemessen; wenn der allgemeine Wunsch nach Frieden, den auch Telamon hegt, einen Krieg verbietet, muß Telamon entsprechend handeln, denn er wird von einem König gefragt, für den die allgemeingültige Regel, nun Krieg zu führen, gilt; dies sollte Telamon verstehen, wenn er sich in die Lage des Priamus versetzt248 279–284 3. argumentativer Aspekt: Die öffentliche Meinung wird Priamus zum Krieg zwingen (wobei diese Konsequenz unausgesprochen bleibt)249 Es wird deutlich, daß sich die Rede von einer formell-freundlichen250 zu einer provokativen entwickelt. Daß die Provokationen auf den ersten Blick nicht sichtbar sind, wird schon im Text selbst angekündigt, indem es heißt, Antenor spreche placida uoce (260), und indem seine Informationsübermittlung mit insinuare (263, s. dort) umschrieben wird: Er bereitet freundlich und argumentativ eine Kriegsdrohung vor.251 Ein erster Hinweis auf den eigentlichen Hintergrund der Antenorrede ist vielleicht schon in der Anrede zu sehen, die den Trojanern ein leichtes Übergewicht

248 Mit diesem imaginären Rollentausch stellt Antenor rhetorisch den eigentlichen Sieger und den eigentlichen Besiegten auf eine Stufe, da nicht nur eine moralisch richtige Verhaltensweise, sondern die Androhung von Vergeltung zur Herausgabe der Hesione zwingt (BRIGHT 1987, 109). 249 Die Verszahlen der argumentativen Aspekte nehmen jeweils nach dem Gesetz der wachsenden Glieder zu. So umfaßt der letzte, nach 4 und 5 in den ersten beiden, 6 Verse. Die letzten beiden beginnen jeweils mit einer Art thetischem Satz (turpe est und scelus est) und entsprechen einander auf diese Weise jeweils unter dem Gesichtspunkt „was wäre wenn“. 250 Mit einer ehrerbietigen Begrüßung und der Bitte um Sprecherlaubnis (262–264). SIMONS 2005, 248 und Anm. 90 und 91 betont das Vorhandensein ehrerbietiger Ausdrücke die ganze Rede über, was bestätigt, daß die Drohungen nicht direkt an der Oberfläche zu erkennen sind. 251 SIMONS 2005, 248 und Anm. 90 belastet die Junktur placida uoce auch inhaltlich und spricht der Rede daher jegliche Provokation ab (so auch DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 199f.). Sie bezieht sich jedoch nur auf das Äußere und den Redevortrag. Drohungen und Aggressionen sehen hingegen auch MORELLI 1912, 104; 106, AGUDO CUBAS 1978, 277, WOLFF 1996, 143.

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zukommen läßt.252 Nach der groben Auftragsskizzierung muß das kurze posceris Hesionem (270) den guten Ehemann provozieren. Mit turpe einige Verse weiter (274) ist, wenn man die allgemeine Aussage auf die konkrete Situation bezieht, auch das Verhalten des Telamon gemeint, wenn er Hesione, obwohl aus königlichem Geschlecht, als Sklavin arbeiten läßt. Schließlich ist die ganze übrige Rede darauf ausgerichtet, Telamon sein königliches Verhalten abzusprechen. Ein scelus sei es, daß man zu ihm kommen müsse und ihn um die Herausgabe der Königsschwester bitten. Im Umkehrschluß heißt das, er selbst ist ein Verbrecher und einem König absolut unähnlich. Am Ende provoziert Antenor mit der fingierten communis opinio: Von einem König habe Priamus seine Schwester nicht zurückholen können, für den doch grundsätzlich gelten müsse, daß er in seinem Amt freundlich und gutmütig jeden Anlaß zur Konfrontation vermeiden sollte. Die Ambivalenz von Antenors Worten läßt sich hier ganz besonders gut greifen. Einerseits richten sich die Worte des Volkes freilich gegen Priamus, der es nicht schafft, notfalls auch mit Gewalt seine Interessen zu verteidigen. Andererseits eben auch gegen Telamon. Daneben ist eine versteckte Kriegsdrohung zu bemerken. Denn die öffentliche Meinung könnte Priamus ja doch zwingen, zu den Waffen zu greifen. Die ganze Rede durchzieht eine Eventualität des Krieges, die an den jeweiligen Stellen mehr oder weniger gut versteckt ist. Schon 274f. (turpe ducis … / si non bella dabunt regi quod bella tulerunt) wird deutlich, daß ein Krieg in der Situation des Priamus eigentlich nötig ist. Im folgenden wird es noch klarer, wenn Antenor sein Gegenüber auffordert, sich in die Lage des trojanischen Königs zu versetzen: Würde ihn der Schmerz nicht auch zu den Waffen greifen lassen? Armare wird ganz konkret und wörtlich verwendet. Es ist also zu erkennen, daß die Rede des Antenor ambivalent gestaltet ist und zu Recht ihre provozierende Wirkung auf Telamon nicht verfehlt. Verstärkt wird diese Ambivalenz durch das kleine Wort si in Vers 276, mit dem die Verantwortung für den Frieden Telamon übertragen wird, weil Antenor ihn von dessen Verhalten abhängig macht. Es ist Telamons Entscheidung, den Frieden zu wollen. Wenn ihm der Friede lieb ist, dann soll er sein Handeln darauf abstimmen. Denn einem König wie Priamus stünde es an, in dieser Situation zu den Waffen zu greifen (275).253 Auffälligerweise findet sich bei jeweils genau 2/3 der Versanzahl der Rede von vorn und von hinten das Wort pax (269 und 276). An beiden Stellen ist zunächst nicht mit Sicherheit zu bestimmen, von wem der Friede ausgehen soll. Sie zeigen, daß Antenor zwar das Wort Friede verwendet, damit lockt, aber, wenn auch versteckt, Telamon dafür die Verantwortung überträgt. So äußert er in seiner Rede doch eher eine offene als versteckte Kriegsdrohung. Es ist, wie auktorial schon angekündigt, eine Rede sub imagine pacis (255). Aus der bisherigen Entwicklung des Gedichts läßt sich das Verhalten des Antenor kaum erklären. Der Auftrag des Priamus hieß recht klar: friedliche 252 BRIGHT 1987, 107f. betont, daß durch Hinzufügung des Troiugenas proceres die zwischen regis pignus und rex herrschende Gleichheit in Richtung der Trojaner verschoben wird. 253 S. dazu ausführlich den Kommentar zu 275.

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Gesandtschaft. Auch eine Drohung mit Krieg war von Priamus aus eigentlich nicht vorgesehen.254 So erscheint es angebracht, sich nach möglichen Vorbildern für einen kriegstreiberischen Antenor umzusehen.255 Antenor ist seit den Anfängen der antiken Literatur bekannt, er begegnet bereits bei Homer. Man kennt ihn dort als ehrbaren Herrn, der Priamus gut und durchdacht rät, nämlich zum Frieden und zur Herausgabe der Helena.256 Die positive Darstellung Antenors als eines friedliebenden Beraters in der Folgezeit geht also auf Homer zurück.257 Eine negative Gestaltung dieser Figur zeigt sich zum ersten Mal in der ‘Alexandra’ des Lycophron. Antenor wird dort zum Verräter, der für die Öffnung des trojanischen Pferdes sorgt.258 Dieses Motiv findet sich in der Spätantike bei Dictys Cretensis (4,18; 4,22–5,10) in besonderer Weise ausgestaltet und läßt sich auch bei Dares feststellen (37–42).259 Dares übermittelt weiterhin einen Teil einer sonst nicht mehr greifbaren Mythenversion. Denn bei ihm wird Antenor als entschlossener Kriegstreiber faßbar. Zu Beginn des Dares Latinus macht ein von der Ungastlichkeit des Laomedon enttäuschter Herkules mit einem Heer einen Ausfall nach Troja, tötet Laomedon und gibt Hesione dem Telamon für seine Tapferkeit als Beute (3). Priamus befindet sich zu dieser Zeit nicht in Troja. Sobald er aber davon erfährt, ergreift er sogleich Maßnahmen, zu denen auch die Aussendung einer Ein-Mann-Gesandtschaft gehört – er schickt Antenor. Dieser soll Hesione zurückholen. Wenn er sie zurückbekäme, wolle er auch den Tod des Vaters ohne Rache ertragen (4). So macht sich Antenor auf den Weg zu all denen, die am Angriff auf Troja beteiligt waren: Zu Peleus, zu Telamon, zu Kastor und Pollux und schließlich zu Nestor. Alle hören sich das Anliegen des Antenor an, jagen ihn aber fort, sobald sie den Grund seines Besuchs erfahren (5). Auffällig ist der Besuch bei Telamon. Nur dort argumentiert Antenor und zwar so: non enim esse aequum in seruitute habere regii generis puellam (Dares 5).260 Genau dies ist eines der Argumente, das der Antenor des Dracontius gegenüber Telamon anführt (274). Freilich wirkt es auch bei Dares nicht: Telamon habe Hesione um seiner Tapferkeit willen erhalten, er werde sie niemandem geben. Unverrichteter Dinge fährt Antenor zurück zu Priamus, berichtet ihm und hat nur einen einzigen Rat für ihn: Führe Krieg gegen die Griechen (Priamo regi demonstrat, quid unusquisque responderit et quomodo ab illis tractatus sit 254 Zumindest wenn man, wie in dieser Arbeit, davon ausgeht, daß die drei Gesandten sich nicht von Paris beeinflussen lassen. S. auch S. 296. 255 ANTONIE WLOSOK 1967, 42–52 zeichnet den Gang der Antenorsage ausführlich nach. 256 Il. 3,148ff. 203ff.; 7,347ff. Die letzte Stelle ist die Versammlung, bei der Antenor als „Friedensvermittler“ (WLOSOK 1967, 43) auftritt. 257 Dazu gehören besonders Platon (Symp. 221 c), Horaz (epist. 1,2,3ff.) und Ovid (fast. 4,75), später dann Quintus von Smyrna und Triphiodor, vgl. WLOSOK 1967, 43f. 258 Vgl., auch für mögliche Quellen, WLOSOK 1967, 45ff. 259 Schon Servius rekurriert im ‘Aeneis’-Kommentar hin und wieder auf diese Antenor-Variation, z. B. zu Aen. 1,647. WLOSOK 1967, 46ff. kann überzeugend zeigen, „daß es sich um eine genuin historische Version handelt“ (48). S. auch WAGENER 1879, 122. 260 So schon SCHETTER 1987, 223f. (= 1994, 306f.).

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simulque) hortatur Priamum, ut eos bello persequatur (Dares 5). Priamus geht sofort darauf ein, versammelt seine Söhne und plant den Angriff. Auch bei dieser Besprechung tut sich Antenor als Kriegsreizer hervor (Antenor hortatus est Troianos, ne horrescerent, ad debellandam Graeciam suos alacriores fecit, Dares 8). Von diesen Worten lassen sich alle mitreißen; die Weissagungen des Sehers Helenus und später auch der Kassandra werden zugunsten von Antenors Worten übergangen. So ergibt sich bei Dares durch die Vorgeschichte ein stimmiges Bild des Kriegstreibers Antenor: Er wollte Hesione zurückholen, um den Angriff auf Troja und den Mord an Laomedon auszugleichen. Niemand in ganz Griechenland ist auf diesen doch recht friedlichen Vorschlag eingegangen, überall wird er schmählich verjagt. Das schürt den Zorn und Antenor glaubt, die Lösung liege im Krieg. Dracontius orientiert sich also offensichtlich an diesem Strang der Antenorsage, die sicher ebenso wie die Verräterfigur eine historische Version und nicht eine episch-dichterische ist. Der Dichter wendet damit eine besonders ausgeprägte Art der produktiven Rezeption an, in der er neu und anders als seine Vorgänger kombiniert. 259 rege salutato Der Versanfang ist aus Stat. Ach. 1,57 übernommen (für diese Imitation s. MOUSSY 1989, 428, Anm. 18; das Gefolge Neptuns umdrängt und grüßt ihn). Regem salutare begegnet ansonsten seit Ov. met. 7,651 regem … salutant (dieser Versschluß wird 379 aufgenommen, s. auch dort). 259f. postquam legatio Troiae / sedit, et Antenor placida sic uoce profatur Grammatisch und sprachlich problematisch (bereits angemerkt, etwa von ELLIS 1874, 259, BAEHRENS, der ita für et und sub statt sic druckt, VON DUHN, der sederat schreibt, RIBBECK 1873, 470, WOLFF 1996, z. St.) ist das et in der Apodosis. Doch spricht manches dafür, es beizubehalten: Grundsätzlich besitzt et bei Dracontius eine große Variationsbreite, was Bedeutungsstärke und Kombinationsmöglichkeiten angeht (s. VOLLMER MGH 345). Auch an dieser Stelle kann eine solche eher ungewöhnliche, aber belegbare et-Lizenz angenommen werden. Denn gelegentlich findet sich – am häufigsten bei Temporalsätzen – auch ein et in der Apodosis (ThLL V 2,896,51ff., unsere Stelle 84, H-S 482), ein Satzbau, der sich wohl aus der eher parataktischen Vulgärsprache entwickelt hat (in eine ähnliche Richtung mag uix … et gehen, wie WOLFF 1996, z. St. vermutet, wobei in diesen Fällen et eher eine Protasis einleitet). Vgl. auch 461. Alternativ ließe sich erstens ein Versausfall annehmen (ELLIS 1874, 259). Dagegen spricht allerdings, daß mit dem Vorzeigen eines Ölzweiges und der Begrüßung die formellen Handlungen abschlossen zu sein scheinen und wenig inhaltlicher Spielraum bleibt. Zweitens mag man versuchen, postquam nicht als unterordnende Konjunktion zu verstehen, sondern im Sinne von post oder postea. Einige unsichere Belege finden sich dazu in der ‘Anthologia Latina’ (481 R,144. 190. 311), zweifelhaft auch Comm. apol. 779; s. H-S 599; ThLL X 2,250,8ff. (die Angaben bei BÄHRENS 1913, 279f. sind unklar und irreführend). Da Dracontius sonst die Konjunktion aber immer verständlich und regelgrammatisch verwendet, man

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zudem hier eine eigenartige Verbindung mit dem vorhergehenden Ablativus absolutus hat, sollte man von dieser Erklärungsvariante eher Abstand nehmen und die Überlieferung halten. Placida uoce bezeichnet die Sprechweise, den Ton Antenors: freundlich und unaufgeregt. Die Junktur auch Stat. Theb. 12,298 und Claud. rapt. Pros. 2,276. Der Versschluß uoce profatur findet sich erstmals Stat. silv. 4,1,16; Dracontius setzt ihn noch dreimal, davon zweimal innerhalb dieser Gesandtschaft, zur Einführung eines jeden der drei trojanischen Redner (327. 372). Aus diesem auffälligen Befund läßt sich vielleicht schließen, daß Dracontius pro - fari im Sinne von ‘anstelle eines anderen sprechen’ verstanden wissen wollte (zugegebenermaßen gehört profari zu den am häufigsten verwendeten Einleitewörtern von epischen Reden [SANGEMEISTER 1978, 12] und darf daher nicht allzusehr belastet werden). Der Versschluß ähnlich 586 legatio Troiam. 261 Troiugenas proceres et regis pignus Antenor beginnt seine Rede mit der Nennung der beteiligten Figuren: einerseits die trojanischen Helden (die Teilnehmer der Gesandtschaft werden seit 235 immer wieder proceres genannt) aus Troja (das hochsprachliche Wort gleich zu Beginn des Verses wirkt erhaben), zum anderen der Königssohn. Die Gruppe wurde schon 251f. in dieser Form getrennt genannt; die Abgrenzung des Paris deutet auf seine königliche Stellung, aber wohl bereits auch auf seine unbeteiligte Anwesenheit hin. Der Versschluß (mit ad aulam) findet sich ähnlich Romul. 10,335 pignus regis ad aulam, wobei regis Genitivattribut zu aula ist (KAUFMANN 2006 [a], 324f.). 261f. ad aulam, / rex Telamon, … tuam Weite Sperrung, über die Versgrenze hinaus von Possessivpronomen und Bezugswort, dazwischen Apostrophe an den Besitzer, was insgesamt eine gebührende Ehrerbietung dem König gegenüber ausdrückt durch die betonte Stellung des tua. 262f. quae causa coegit, / insinuare decet Zu indirekten Fragen mit Indikativ s. zu 29f. und 222; für insinuo, das in der hier verwendeten Bedeutung ‘mitteilen’ erst im Spätlatein begegnet und bei Dracontius überhaupt nur hier, mit indirektem Fragesatz s. ThLL VII 1,1917,81ff.; seine ursprüngliche Bedeutung ‘etwas in die Herzen der Zuhörer schmeicheln’ scheint noch durch. Jedoch darf man hier wohl ein in den Relativsatz gezogenes Bezugswort annehmen. Der Versschluß causa coegit auch Ov. met. 6,496. 263f. si iusseris ipse, loquentur / consortes nunc ore meo uel regia proles Erneut erhält Paris in der Aufzählung der Ankömmlinge eine herausgehobene Stellung als regia proles wie 251f. und 261 (angeschlossen mit uel; der Versschluß vorher Val. Fl. 1,162 belegt; Dracontius hat die Junktur nur noch satisf. 52). Die besondere Rolle des Sprechers wird durch ore meo in der Mitte des Verses deutlich gemacht. Es wird durch diese Formulierung offensichtlich, wie die Gesandtschaft funktionieren soll: Die Mitteilung, die eigentlich von Priamus ausgeht, ist in der Situation der Begegnung mit der Zielperson die Mitteilung aller, auch wenn nur einer sprechen

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kann. Ähnlich, jedoch mit einer inspirierenden Gottheit heißt es Ov. met. 6,162 ore meo Latona iubet. Zudem stehen Aeneas und Polydamas (consortes seit Vergil absolut im Sinne von socius, s. ThLL IV 487,36ff.) zusammen mit Antenor (ore meo) gemeinsam vor der Hephthemimeres und getrennt von Paris. Die Bedeutung von iubere an dieser Stelle (‘wollen, erlauben, gestatten’), das zudem noch im potentialen Konjunktiv steht (mit Futur in der Apodosis, s. K-S II 394f.), findet sich bei Dracontius noch satisf. 12. 104, und überhaupt erst seit dem Spätlatein des fünften Jahrhunderts, s. ThLL VII 2,584,45ff. 265 Dardanides Priamus, gentis reparator et urbis Der König Priamus, Auftraggeber der Gesandtschaft, wird mit seiner für die Situation wichtigsten Eigenschaft genannt – er hat die Stadt Troja wieder aufgebaut und den Mut des Volkes wieder befördert. So führte ihn Dracontius auch bei seinem ersten Auftritt ein, als denjenigen, der den Wiederaufbau Trojas jährlich mit einem Opfer begeht, um die Götter gnädig zu stimmen (78ff.). Mit dem Hinweis auf die Zerstörung Trojas ist der Bogen zum Auftrag der Gesandtschaft hergestellt. Dardanides für Priamus auch Romul. 9,221 (WOLFF 1996, z. St.). Der Versschluß imitiert klanglich Claud. 28,4 trabeis reparatur et urbi. 266 quam uestras populasse manus meminisse fatemur Sogleich nach der Vorstellung des Priamus als Erneuerer der Stadt, stellt Antenor den Telamon ihm gegenüber als den Schuldigen an ihrer Zerstörung (uestras populasse manus gegen gentis reparator et urbis; auffällig ist dabei das sehr negativ konnotierte Wort populare –hier ist die Provokation des Redners zu greifen). Daß Herkules die eigentliche Triebkraft des Krieges war, erwähnt er nicht, ebensowenig wie die Ursache, die Schuld des Laomedon, die zum Angriff geführt hat (zu den verschiedenen Varianten der Teilnahme des Telamon am Zug des Herkules gegen Troja s. JOHANNES SCHMIDT: Telamon, Roscher 4, 221f.). Durch die Verbindung meminisse fatemur wird die freundlich-zurückhaltende Art, mit der die Rede beginnt, auch hier fortgeführt. Für fateri mit bloßem Infinitiv s. ThLL VI 1,338,80ff. Manus könnten auch ‘Truppen’ meinen, aber mit ‘Händen’ wirkt die Stelle plastischer. 267 delectos pergere S. zu 235 proceres … pergere (das Verb dort jedoch absolut, hier mit zwei Richtungsangaben). Bei der Gesandtschaft des Aeneas zu Euander wird für die Gesandten das Simplex gewählt: lectos / Dardaniae uenisse duces (119f.); hier substantiviertes delectus. 267f. ab Iliaco … regno / ad tua regna Die parallelisierte Wortwiederholung, mit der die jeweiligen Königreiche bezeichnet werden, läßt diese auf einer Ebene stehen und als gleichwertig erscheinen. 268f. potens, germanam regis ut, heros, / bellorum quam iure tenes, in pace refundas Obwohl die Anrede an den König hier sehr „zerhackt“ erscheint, spricht

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für die Überlieferung potens (statt der Konjektur petens von BAEHRENS) die später in gleicher Weise von Polydamas 346 genutzte Anrede (vgl. ZWIERLEIN BT z. St.). Vt dürfte von pergere abhängig sein, der Ausdruck ut refundas ist dann leicht elliptisch (für ut petant / petamus [ut] refundas). Alternativ kann ut auch noch von iussit 266 abhängig gemacht werden (wie frei der Dichter mit der Konstruktion von iubere umgeht, zeigt beispielsweise Romul. 10,197 tendere colla iubet uel pectora prona supinet). Wollte man ut zu heros ziehen, das dann nicht zur Anrede gehören würde, dürfte die Konstruktion etwas zu hart wirken; ut in seiner Funktion als Einleitung des Nebensatzes gliedert und ordnet den Satz. Zum Kriegsrecht, das sich aus bereits bestehenden Gewohnheiten entwickelt hat, gehörte auch das Festsetzen von Kriegsgefangenen, seien es gewöhnliche Leute oder Personen von hohem Stand, die man zu Sklaven gemacht hat (GOTTFRIED SCHIEMANN: Kriegsrecht, DNP 6, 846–847; GANSCHOW 2007, 137ff.). Bellorum ist als poetischer Plural zu verstehen, die Junktur ius bellorum für ius belli ist in der Dichtung singulär. Für die hier vorschwebende Situation findet sie sich aber auch Serv. Aen. 10,91 illis dicentibus se eam habere iure bellorum (vgl. auch Serv. Aen. 1,619 eius filia Hesiona belli iure sublata comiti Telamoni tradita est). Für tenere in der Bedeutung ‘gefangen nehmen’ s. OLD s.v. 1920,18. S. auch 273 captiua tenetur. In pace heißt ‘im Frieden, friedlich’, also so, daß kein neuer Krieg entstehen kann (oder ‘wo jetzt Frieden herrscht’, s. auch WOLFF 1996, z. St.). Die Gegensätze Krieg und Frieden stehen in diesem Vers dicht nebeneinander, ganz so wie Dracontius es liebt. Refundere in der Bedeutung ‘zurückgeben’ (OLD s. v. 1598,4) begegnet zuerst bei Plinius paneg. 31,3 (refudimus Nilo suas copias) und 40,4 (quam libenter tot spoliatis, tot trucidatis sanguinem et bona refudisses), wobei dort das ursprüngliche ‘fließen lassen’ noch greifbar ist, und scheint sich ansonsten in der Spätantike als Rechtsterminus entwickelt zu haben, wie die Belegstellen vermuten lassen. Es findet sich bei Dracontius noch laud. dei 2,397, Romul. 9,148, mens. 22; vgl. auch Marcell. dig. 36,1,46 (44); Ulp. dig. 12,4,5,4; 15,1,9; 18,2,6, Paul. dig. 19,5,5,4. 270 posceris Hesionem Die Zusammenfassung des langen Satzes in nur zwei Worten zeigt die Bestimmtheit, mit der Antenor den Auftrag seines Königs ausführt. Scheinbar freundlich, demütig und ausschweifend hat er die Bitte vorgetragen; umso direkter und unmißverständlicher ist jetzt die kurze Zusammenfassung. Für poscere im Passiv mit Akkusativ der Sache vgl. Ov. met. 1,137f., fast. 4,670. 721. 270f. iacet ingens Troia fauillis / excidii compressa sui Daß Troja nicht mehr in Asche liegt (auf den Brand in der Stadt ist schon 144 verwiesen worden), sondern wieder aufgerichtet steht, können wir 78f. 265 und 282 entnehmen. So mag dieser präsentische Hinweis auf Troja als Ruinenstadt auf den ersten Blick verwundern. Doch läßt sich leicht eine emphatische Schilderung des ‘inneren’ Zustands der Stadt annehmen.

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Für Troiam iacere vgl. Ov. epist. 1,3; es findet sich auch Sen. Tro. 550; für die Bedeutung von iacere ‘niedergestreckt, zerstört daliegen’ bei Städten oder Reichen, s. ThLL VII 26,48ff., wobei hier eine übertragene Verwendung angenommen werden muß. Die Verbindung ingens Troia ist vergilisch, Aen. 3,462, aufgenommen in Ov. met. 13,169; Dracontius scheint auf Ov. met. 13,505 iacet Ilion ingens zu rekurrieren. Für comprimere s. ThLL III 2159,56. Für fauilla bei einem Stadtbrand s. ThLL VI 379,24ff. (seit Vulg. gen. 19,28 uiditque ascendentem fauillam de terra quasi fornacis fumum, vgl. Prud. perist. 5,193, Claud. 20,473 u. ö.). Das excidium Troiae findet sich seit Verg. Aen. 5,626, vgl. besonders 10,45f. fumantia Troiae / excidia. Dracontius selbst nimmt es 293 auf. 271–273 Eine schon ausführlich geplante Rückforderung der Hesione, wie Antenor sie darstellt, findet sich sonst noch bei Dares 4; hier widerspricht sie der Äußerung des Priamus (221ff.), wo die Gesandtschaft eine Art Notlösung (für die Einschränkungen zu diesem Verständnis s. oben) darstellt. 271 nec Pergama ductor Vgl. für den Versschluß 78 quo Pergama rector. 272 surrexisse Für die Wortwahl s. 326 Pergama surgunt; häufiger scheint in diesem Zusammenhang das Kompositum resurgere, vgl. z. B. Verg. Aen. 1,206 regna resurgere Troiae, Ov. rem. 281 non hic noua Troia resurgit, Sen. Ag. 870 resurgis Troia u. ö. gebraucht zu sein. 272f. nisi iam … sororem / reddideris regi Vgl. Dares 4 si Hesiona ei (sc. Priamo) reddatur; 5 ut Hesiona redderetur (sc. Peleus) … ut Priamo Hesionam sororem redderet (sc. Telamon) … ei Hesionem sororem redderent (sc. Castor et Pollux). Es läßt sich natürlich aus den Formulierungen kein direktes Abhängigkeitsverhältnis generieren, dazu sind reddere und soror zu geläufige Wörter (Dracontius selbst formuliert zu Beginn des Gedichts 51f. mater reddita non est / Hesione Priamo; s. auch die Einleitung 3.3). Aber es gibt einen Hinweis auf eine Variante des Mythos, die beiden Autoren zum Vorbild gedient haben mag. rex magne … / … regi … captiua Telamon und Priamus stehen als Könige auf einer Stufe, sie werden innerhalb des Satzes ganz gleich bezeichnet. Hesione ist als captiua (an der gleichen Versposition wie rex magne) benannt und damit standesgemäß weit unter ihnen anzusiedeln. 273 reddideris … tenetur Die Gegensätze sind betont zu Beginn und zum Schluß des Verses gestellt. 274f. turpe ducis seruire genus crimenque putatur, / si non bella dabunt regi quod bella tulerunt Turpe (est) ist mit AcI konstruiert, putatur hingegen ungewöhnlicherweise mit Akkusativ und einem si-Satz, der hier statt einer Konstruktion mit Infinitiv die Funktion eines Subjektsatzes übernimmt (K-S II 425). Der Inhalt des crimen wird durch den si-Satz erklärt. Die anderen theoretischen Konstruktionsmöglichkeiten (den ganzen Satz von putatur abhängig zu machen oder turpe est

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III Kommentar

und putatur zusammenzuziehen) zerstören die Scharnierstellung des Verses. Der Übergang von der Hesione betreffenden Aussage (Sklavin obwohl aus einem Königsgeschlecht) zu den Äußerungen über Priamus (ein König muß Krieg führen) wird in diesem Vers auch sprachlich deutlich gemacht. S. auch die Einleitung des Abschnitts S. 301. Anders interpungieren IANNELLI und BAEHRENS mit leichter Bedeutungsverschiebung, wenn sie einen deutlichen Einschnitt hinter putatur setzen und einen leichten hinter non. Ferre in der Bedeutung auferre bei abstrakten Begriffen begegnet seit Vergil (ThLL VI 1,558,59ff.). Vers 275 ist parallel gebaut (mit den Gegensätzen dabunt und tulerunt, die auffälligerweise beide als simplex pro composito verwendet sind), der König, der im si-Satz genannt ist, im quod-Satz aber ebenso zu denken ist, steht betont in der Mitte. Das Futur dabunt fällt zunächst störend ins Auge, läßt sich aber situativ erklären: Die allgemeingültige Aussage überträgt Antenor konkret auf die Situation des Priamus, der einen Krieg führen wird. Vgl. für den Gedanken des ersten Teils Dares 5 non enim esse aequum in seruitute habere regii generis puellam. Für den Versschluß bella tulerunt vgl. Sil. 11,520 (grammatisch nicht vergleichbar). 276 si pax hoc optata negat – pro rege rogaris Den ersten Teil des Verses bezieht ein Leser, der die Vorgeschichte kennt und sich an den friedliebenden Priamus erinnert (223), selbstverständlich sofort auf Priamus, der, obwohl es die öffentliche Meinung fordert, einen Krieg niemals anzetteln würde (so auch SIMONS 2005, 249). Das für diese naheliegende Interpretation hinderliche si hat VOLLMER deshalb konjektural durch sed ersetzt und so einen sehr glatten Text erhalten (im Sinne von „aber es wird ja ohnehin keinen Krieg geben, weil Priamus keinen möchte“). Jedoch nimmt dieses statische sed der Rede an dieser Stelle ihre schwebende Ambivalenz, die sonst überall zu spüren ist (s. auch Einleitung zu diesem Abschnitt, S. 301). Aus diesem Grund muß die Überlieferung gehalten werden, um der Perfidie des Antenor gerecht zu werden. Denn so wird die Verantwortung für den Frieden in die Hände des Telamon gelegt und ist so in der Verbindung zum Vorhergehenden zu denken: Genauso wie es schändlich ist, daß Hesione eine Gefangene ist, ist es grundsätzlich eine Schande, wenn ein König seinen Verlust im Krieg nicht auch wieder durch Krieg rückgängig machen kann. Das heißt also im konkreten Fall, daß Antenor hier mit einem Angriff droht, da ja auch Hesione als Kriegsbeute weggeführt wurde. Setzt man nun das si, wird die Vermeidung des Krieges vollständig in die Verantwortung Telamons gegeben: „Wenn dein Wunsch nach Frieden einen solchen Angriff unsererseits nicht vertragen kann, dann mußt du entsprechend reagieren“. Auch der zweite Halbvers ist ambivalent zu verstehen (pro rege hat IANNELLI für das überlieferte por rege dem Text zurückgegeben). Entweder macht Antenor deutlich, daß er mit seiner Gesandtschaft für den König Priamus, an seiner Stelle, sprechen will („Anstatt des Königs wirst du von uns gefragt“). Für einen König ist es in dieser Situation üblich, Krieg zu führen. Zum anderen, und das wird die Hauptaussage des pro rege rogaris sein, soll sich Telamon in die Rolle des Priamus hineinversetzen: „Stell dir vor, du stündest an des Priamus Stelle. Laß dich anstelle des

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Priamus fragen.“ Nahegelegt wird diese Interpretation durch die gleiche Wortwahl 278 rogatus, wo ganz deutlich wird, daß Telamon sich in die Situation des Priamus hineinversetzen soll. Außerdem wird dieses Verständnis durch Romul. 9,4 fortis pro forte rogaris gestützt, wo die Bedeutung unmißverständlich und nicht ambivalent ist. Die drei Worte, deren Silbenzahl sich von Wort zu Wort steigert, klingen mit ihren vielen gleichen Konsonanten wie eine abschließende drohende Beschwörungsformel. Dieser Vers, an dem der Leser das wahre Gesicht des Antenor zum ersten Mal deutlich spüren soll, befindet sich genau bei 2/3 des Textes der Rede und damit an einer exponierten Stelle (Daß Dracontius seine Gedichte nach mathematischen Spielen komponiert hat, zeigt ausführlich MAUERHOFER 2004, 349ff.). Eng sind regi (275) und pro rege (276) miteinander verbunden. Der König aus der gnomischen Aussage kann ganz konkret auf Priamus übertragen werden. Hoc meint das Kriegsszenario. Für die Junktur pacem optare vgl. Liv. 42,46,6, Cic. Phil. 8,13, fam. 11,18,2 (optatissima pace). 277 te repetisse puta Priamo retinente sororem Telamon soll Verständnis zeigen und der Bitte nachkommen, indem er sich in die Lage des Priamus versetzt (für putare in der Bedeutung ‘sich vorstellen’ s. ThLL X 2,2768,24ff.). Das Akkusativobjekt sororem muß sowohl zu repetisse als auch zu retinente (als Variation zu tenere 273) gedacht werden. 278 non dolor armaret, si non daret ille rogatus? Non hier für nonne (WOLFF 1996, z. St.); dieser Ersatz findet sich schon klassisch und ist daher unproblematisch (H-S 462). Armare in gleicher Funktion wie 257 und 285. Die Verbindung dolorem armare ist wohl von Ov. rem. 59 nec dolor armasset contra sua uiscera matrem übernommen, eine Formulierung, bei der „eine kausale Umstandsbestimmung zum Subjekt geworden“ ist (HILLEN 1989, 188); ähnlich vorher auch Verg. Aen. 10,398 dolor et pudor armat in hostis. Rogatus ruft 276 rogaris in Erinnerung und macht die gedankliche Umkehrung der Situation deutlich. 279 quod peteris, Telamon, scelus est et fama pudoris Mit diesem Vers wird der oben schon angeklungene (275) Grund ausgeführt, warum Priamus Hesione zurückhaben möchte – die Außenwirkung, die den gesamten letzten Teil der Rede einnimmt. Konstruktion und Verständnis des Verses ist dennoch etwas dunkel. Mit WOLFF 1996, z. St. („Le fait que nous t’adressions cette demande se produit à cause d’une rumeur criminelle et déshonorante.“) ist quod faktisch zu verstehen. Zu ungenau ist jedoch die Übersetzung des scelus, das im lateinischen Text nicht als Gerücht, sondern als Fakt steht (nicht im von fama abhängigen Genitiv wie pudor). Klarer wird es, wenn man scelus dem Telamon und nur fama pudoris dem Priamus zuweist. Das heißt, dem Telamon ist eine frevlerische Verhaltensweise vorzuwerfen, wenn man ihn überhaupt bitten muß (dabei steht petere als heftig-drängendes Bitten gegenüber dem sanfteren rogare), dem Priamus hingegen entsteht ein schändlicher Ruf. Die Junktur fama pudoris noch laud. dei 3,478.

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III Kommentar

280 nascitur inuidia Durch die Hinzufügung von nasci ergibt sich fast eine Prosopopoiie der inuidia. Die Junktur ist in der Dichtung singulär, sie begegnet einige Male in der lateinischsprachigen theologischen Literatur (meist im Plural: Lucif. non conv. 12 l.15f. [Zitat aus 1 Tim 6,4], Basil. hom. p.65,14 u. ö.). 280f. Priamo regnante sororem / Graiugenis seruire suam Eine Variation des schon oft behandelten Themas (227f. und mehrfach in der Rede selbst). Die Infinitivkonstruktion ist von nascitur inuidia abhängig (VOLLMER MGH 436, WOLFF 1996, z. St.) und drückt Inhalt und Ursache des Unwillens aus (s. für die Konstruktion ThLL VII 2,200,59–62; Dracontius variiert, indem er nascitur inuidia überordnet und nicht inuidia est, wie an den sonst vergleichbaren Stellen, Verg. Aen. 4,349f. quae tandem Ausonia Teucros considere terra / inuidia est?, catal. 11,8). Ungewöhnlich an dieser Stelle das reflexive Possessivpronomen. Priamo regnante sororem greift Priamo retinente sororem (277) vom Versbau her betrachtet auf. Das formelle Wort Graiugenis mag an das genau 20 Verse zuvor an den Versanfang gesetzte Troiugenas erinnern. 281f. liuor malus inde / creditur Liuor ist synonym zu inuidia mit leichter Steigerung durch Hinzufügung des Attributs malus (die Junktur Sil. 11,610, Mart. 10,33,6); Vorverweis auf 282ff.; inde bezieht sich noch auf 279. Der Inhalt des liuor ist im davorstehenden AcI ausgedrückt, das, was die Ränkeschmiede in die Welt setzen (vgl. VOLLMER MGH 334, der die Stelle mit „credunt malignis calumniatoribus“ glossiert, und ThLL VII 2,1549,17ff., der calumniae als Synonym setzt). Das ungewöhnliche creditur läßt sich auch mit Blick auf Romul. 10,492f. (aurum mentita nocens radiare corona / creditur) halten (vgl. besonders GRILLONE 2006, 90); ZWIERLEIN BT schreibt proditur mit RIBBECK. In den folgenden Versen wird die Wirkung des liuor in fiktiver direkter Rede als Gerede unter den Phrygern ausgeführt. 282 Iliacas potuit reparare ruinas Die große Leistung des Priamus, der Wiederaufbau Trojas, begegnet immer wieder, sobald sein Name fällt (vgl. 265). An dieser Stelle, innerhalb der fiktiven direkten Rede, erhält die Erwähnung aber durchaus einen spöttischen Unterton. Für den Versschluß vgl. Lucan. 9,1019. Die Iliacae ruinae begegnen noch Verg. Aen. 1,647; vgl. aber auch nur für die Verspositionen Sil. 12,515 umbonem Iliacis Capuaeque repende ruinas. 283 murmur erit Phrygibus Murmur besitzt oft – so auch hier – einen Unterton des Unwillens (ThLL VIII 1676,40). Das Futur drückt eine starke Wahrscheinlichkeit und Vermutung aus (zu dieser Verwendung s. H-S 311). Mit Phryges wird schließlich herausgehoben, daß es sich um das eigene Volk und die eigenen Landsleute, keine Fremden, handelt, die entsprechend indigniert über Priamus reden. consortem sanguinis unam In der Bedeutung sororem unam s. ThLL IV 486,51 (vgl. auch Paul. Nol. epist. 8 vers. 84 sanguinis hic consors).

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284 non ualuit dicent rector de rege mereri Für die Bedeutung (‘etwas durch Bitten erreichen’) und Konstruktion von mereri vgl. Orest. 753, Lact. inst. 5,17,17 (ThLL VIII 805,53ff.). Priamus wird an dieser Stelle wegen der Variatio (WOLFF 1996, z. St.) als rector bezeichnet, Telamon als rex. Für das Futur dicent s. oben 283. 285–326 Reaktion und Rede des Telamon Aus der vergleichsweise langen Einleitung zu dieser Rede geht die Stimmung hervor, in der sie gesprochen wird – heftigster Zorn, der in keiner Weise versteckt wird. Nachvollziehbare Gründe werden dafür angeführt, die Forderung des Antenor trifft Telamon in seiner Ehre als König und Ehemann.261 Dracontius konkretisiert in diesen Versen (bis 290a), was die Rede des Antenor und die Forderung der Gesandtschaft für Telamon bedeutet. Der Dichter verbalisiert die Gedanken des Königs von Salamis, um dem Leser die Ungeheuerlichkeit vor Augen zu stellen und Telamons Zorn zu erklären. Bei der Betrachtung der Verse fühlt man sich sogleich an den Anfang des Gedichts erinnert (3–6 nam prodimus hostem / hospitis et thalami populantem iura mariti, / foedera coniugii, consortia blanda pudoris, / materiem generis, subolis spem, pignora prolis),262 der mit dem gleichen Thema und einer ähnlichen Wortwahl aufwarten kann und deshalb einige Interpreten263 dazu bewegte, den Schwerpunkt des Dichters in der Salamisepisode zu sehen und die Kritik weniger am Raub der Helena als vielmehr an der Rückforderung der Hesione. Die Rede selbst kann folgendermaßen gegliedert werden: 292–299a Einleitung mit Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit der Forderung und das Fehlverhalten der Trojaner 299b–326 Eigentliche Antwort und Mitteilung an Priamus 299b Einleitung mit Auftrag 300–304a Exempel in direkter Rede: Besiegter spricht zum Sieger 304b–308a Exempel in direkter Rede: Aufforderung an einen Ehemann 308b–310 Realebene 311–315 Forderung einer Mitgift 316–326 Präsentation der neuen Heldengeneration in Katalogform 316–318 Einleitung 319–320 Ajax 321–323 Achill (mit Patroklos 323) 324–326 Weitere Helden

261 S. zum Verständnis auch die Analyse der Antenorrede S. 301. 262 Besonders wirkungsvoll ist der Verweis auf die Mutterschaft der Hesione (290). Diese Verbindung stellt zum ersten Mal PROVANA 1913, 45; 67f. her (s. auch SIMONS 2005, 249). Der zu diesem Thema einschlägige Artikel GABRIELA ANDREA MARRÓN: La maternidad de Hesíone en el De raptu Helenae de Draconcio, Estudios Clásicos 150, 2016, 91–102 konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. 263 Vgl. etwa SIMONS 2005, 252.

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III Kommentar

Entsprechend dem Charakter einer wütenden Äußerung findet sich keine Anrede oder freundliche Einleitung, sondern die Rede beginnt sofort mit einer Anschuldigung, die in einen irrealen Konditionalsatz gekleidet ist: Die Trojaner besitzen keinen pudor und keine honestas und über den Untergang Trojas empfinden sie auch nicht genügend Schmerz, um sich angemessen zu verhalten. Von Sarkasmus sprühen die beiden folgenden Fragen, die sich auf die Laomedon-Geschichte beziehen.264 Erst danach beginnt die eigentliche Antwort an Priamus, wobei die Teilnehmer der Gesandtschaft kurz und zweckgebunden mit Troes angesprochen werden, hier also verspätet die Anrede erfolgt (299). Diese Antwort ist etwa zur Hälfte von dem gleichen stilistischen Mittel bestimmt, mit dem Antenor aufgehört hatte – dem Einsatz einer fingierten direkten Rede.265 Dazu hebt Telamon die Forderung Antenors auf eine Art Metaebene und spaltet sie dort in ihre beiden Bestandteile auf.266 Denn wenn er Hesione zurückgeben soll, betrifft ihn das auf zwei verschiedene Arten. Zum einen war sie seine Kriegsbeute,267 und eine Rückgabe bedeutete implizit, daß nicht der Sieger, sondern der Besiegte die Auflagen diktierte. Zum anderen ist sie jetzt seine Ehefrau und eine Rückgabe bedeutete auf dieser Seite einen Bruch des Ehebündnisses. Auffällig ist bei beiden Teilen die absolute Verallgemeinerung und Loslösung der Erläuterung vom aktuellen Anlaß, in der sich geradewegs die Absurdität der Forderung zeigt. Besonders beim zweiten Teil fällt dieses Verfahren besonders ins Auge, weil es ganz unabhängig von allem gemacht wird – ein Ehebund wird grundsätzlich nicht gebrochen, nicht bei Königen und nicht bei Menschen niedrigen Standes (304f.). 264 Hier steht das periurium des trojanischen Königs im Vordergrund, die Rede des Apoll dagegen wird zum Teil vom Zorn über dessen auaritia ausgelöst (185f.). In der Laomedon-Episode der ‘Metamorphosen’ des Ovid sind dies die beiden wichtigsten Elemente zur Charakterisierung des Trojaners (met. 11,206. 208). Zur Ironie s. auch BRIGHT 1987, 110. 265 Direkte Reminiszenzen an die Rede des Antenor gibt es einige. Sie sind jedoch nicht geordnet und folgen nicht dem Ablauf der Vorrede, wie es gut zum Charakter der Wutrede paßt. So nimmt Telamon die von Antenor gleich zu Beginn angeführte Trauer über den Untergang Trojas auf (292f.), stellt sie in Frage (si) und folgert, daß die Trojaner bei ernstgemeinter Trauer vernünftig sein müßten und sich nicht wieder gegen die Griechen erheben dürften. Zudem stellt er nebenbei klar, daß nicht er selbst Troja zerstört habe, wie Antenor behauptet (266), sondern nur ein Begleiter des halbgöttlichen Herkules gewesen sei (294. 296; seine Argumentation läuft darauf hinaus, daß die Trojaner kein Recht haben, einen Krieg zu beginnen). Mit der Aufzählung der jungen Krieger spannt Telamon übrigens am Ende seiner Rede den Bogen zum Anfang, der vom Sieg des übermächtigen Herkules beherrscht ist. Die nicht auf den ersten Blick erkennbare Kriegsdrohung des Antenor nimmt Telamon schließlich auch damit auf; sie bestimmt den größten Teil seiner Rede. Für wörtliche Anklänge s. den Kommentar zu den einzelnen Versen. 266 Die auffällige rhetorische Gestaltung der Rede betont auch BRIGHT 1987, 110ff. Er bemerkt außerdem, sie sei eine Verstärkung der beiden Seherreden von Helenus und Kassandra, was die Beschwörung eines drohenden Krieges angehe (111f.). Dies mag vielleicht für einen Leser gelten, dem der trojanische Sagenkreis unbekannt ist. Doch weder die Gesandten noch die übrigen Leser werden so fühlen. Denn aus der Kriegsdrohung des Telamon ist Paris, der für die Seherreden Anlaß war, völlig ausgekoppelt. 267 Dies erwähnt auch Antenor 269 bellorum quam iure tenes.

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Die beiden fingierten direkten Reden sind rhetorisch kunstvoll konstruiert. In der ersten (300–304) umschließt zwar der Sieger durch den Satzbau den Unterlegenen (300 und 303f.), letzterer nimmt jedoch viel mehr Raum ein und fordert all die Dinge, die dem Sieger zustünden. Daß diese über die Forderung Antenors weit hinausgehen, ist ein wirkungsvoll-anschauliches rhetorisches Mittel. Die zweite (306–308) ist als Thema mit Variationen gebaut: Zuerst wird der konkrete Sachverhalt der gewaltsamen Auflösung der Ehe als Thema mit conubium rescinde tuum genannt, das dann in verschiedenen Metaphern, die durch unterschiedliche Aspekte der Ehe und Hochzeitsfeier repräsentiert sind, weiter durchgeführt und variiert wird: Haus / Familie, Ehebett, Hochzeitsfackeln.268 Nach einer kurzen Zusammenfassung auf der Realebene in Form einer rhetorischen Frage steigert sich die Zurückweisung der Gesandtschaftsforderung zu einer eigenen Forderung, nämlich nach einer angemessenen Mitgift, die Laomedon theoretisch hätte geben müssen (311–315).269 Verbunden ist diese mit einer Androhung eines potentiellen Krieges, geführt von Ajax, um das ihm zustehende Erbe.270 Die Forderung einer Mitgift für Hesione scheint eine Neuerung und Dramatisierung der mythologischen Vorlage durch den Dichter zu sein. Sie findet sich sonst nirgendwo.271 SANTINI hält die Argumentation des Telamon für prinzipiell unzulässig, weil sie von der falschen Voraussetzung ausgehe, er habe rechtmäßig eine Ehe geschlossen und so könne auch Hesione rechtmäßig eine Mitgift fordern.272 Aber ohne Zustimmung des Vaters, also Laomedons, sei die Eheschließung illegitim. Doch ist das Argument von Telamon sicher eher rhetorisch-ernst als real-ernst gemeint, da er mit Sicherheit keine Mitgift erwartet. Aber die Gegenforderung zeigt den unverschämten Trojanern klarer, wie wenig Recht sie haben, etwas zu fordern. Für rhetorische Zwecke genügt es, wenn die Mitgiftforderung (obschon nicht rechtsfest) auf eine gewisse Art plausibel wirkt. Darauf folgt als Abschluß der Rede ein Mini-Katalog der jungen griechischen Helden.273 Dieser kann durchaus als Antwort auf die Kriegsdrohung Antenors 268 Es fällt auf, daß dieser Punkt, der in der Redeeinleitung so betont wurde, nur einen recht kleinen Teil der Rede ausmacht. Dies mag vielleicht Zeichen eines besonnenen (Staats-)Mannes sein, der die Emotionen zurückhalten kann und nur auf der Sachebene spricht. 269 Dies ist der Höhepunkt von Telamons rhetorischer Kunst: Er nimmt die Forderung der Trojaner auf, um seinerseits eine Forderung zu stellen, die er, wie zuvor Antenor, durch die Möglichkeit des Krieges nachdrücklich wirken läßt. S. auch z. St. 270 Daß es sich um eine Kriegsdrohung handelt, geht zwar aus uindicare (314) nicht direkt hervor (s. für das Wort den Kommentar), doch weist der folgende Katalog der griechischen Kriegsmannschaft in diese Richtung. 271 SANTINI 2006, 48. 272 Ebd. 273 Es handelt sich hierbei nach der Definition von BURKHARD SCHERER: Mythos, Katalog und Prophezeiung. Studien zu den ‘Argonautika’ des Apollonios Rhodios, Stuttgart 2006, 57–72 um einen Katalog, der im letzten Vers in eine metrische Liste mündet und damit in einer großen Dichte endet (s. dazu STRATIS KYRIAKIDIS: Catalogues of Proper Names in Latin Epic Poetry. Lucretius – Virgil – Ovid, Cambridge 2007). Zum Katalog im Allgemeinen s. WILHELM KÜHLMANN: Katalog und Erzählung. Studien zu Konstanz und Wandel einer literarischen Form in der antiken Epik, Freiburg 1973.

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verstanden werden. Zum einen deshalb, weil der potentiellen Vorstellung einer gealterten griechischen Mannschaft seit den Ereignissen um Laomedon sogleich entgegengetreten wird; zum anderen, weil besonders bei den beiden zuerst genannten (Ajax274 und Achill275, evtl. auch Patroklos) ihre Kriegstüchtigkeit respektive ihre bisherigen Taten herausgestellt werden. 285 dixerat Versanfang wie 103 und 211. at Telamon mentes armabat in iras Die Ankündigung ist schon 256f. nam dicta tenebant, / quae possent armare uirum gemacht worden. In ist final zu verstehen (ROSSBERG 1887 [b], 840) gegen WOLFF 1996, z. St., der mit „contre sa colère“ übersetzt und erklärt, daß Telamon seinen Zorn bekämpft. Daß er aber sehr zornig ist und bleibt (bis 349f.) wird deutlich am Vers, der seine Rede einleitet: turbidus Aeacides iusta succensus in ira. WOLFF schließt sich 2015 (a), 363 ROSSBERGs und GRILLONEs 2006, 100 Verständnis an. Zum finalen in vgl. H-S 274; HOPPE 1903, 39; SVENNUNG 1922, 43. Vergleichbar ist 124 coniurat in arma. Für die Metapher mentes armare vgl. Vitr. 2,1,6 cum … natura … cogitationibus et consiliis armauisset mentes; Sil. 1,188 armata dolis mens, 4,249 armat contemptu mentem necis. In iras ist seit Verg. Aen. 7,305 ein beliebter Versschluß; es mag konkret anklingen Stat. Theb. 11,563 manibus ultrices animam seruabat in iras; außerdem ist Orest. 102 dea crudescit in iras zu vergleichen. 286 pietas affectus amor concordia proles Alle fünf asyndetisch zueinander gestellten Abstrakta, die auf proles eine effektvolle Klimax bilden, lassen sich auf das Verhältnis des Telamon zu Hesione beziehen. Kinder sind der höchste nach außen sichtbare Ausdruck einer ehelichen Verbindung. Proles weist zudem auf die in 290 Er ist vielleicht in seiner Grundanlage von Stat. Ach. 1,467ff. beeinflußt, wo sich ebenfalls ein kleiner Katalog an griechischen Kämpfern des trojanischen Krieges findet und wo ebenfalls Achill eine herausgehobene Stellung erhält. Es ist jedoch nur eine einzige wörtliche Übereinstimmung zu verzeichnen. Diese mag aber als „eyecatcher“ verstanden werden, um den Abschnitt überhaupt mit Statius in Verbindung zu bringen (s. zu den einzelnen Lemmata). 274 Der jugendliche Überschwang des Telamon-Sohnes macht ihn mit Paris vergleichbar und grenzt ihn gleichzeitig charakterlich von diesem ab. Beide jungen Männer stehen insofern auf der gleichen Stufe, als sie Söhne zweier miteinander in Kontakt tretender Helden sind und beide auf gewisse Weise „vorgeschickt“ werden, freilich unter unterschiedlichen Voraussetzungen – Paris auf eigenen Willen, Ajax als junger Held und Vertreter des alten Vaters in einem potentiellen Krieg gegen die Trojaner. Dabei ist das Verhalten des Paris gegenüber dem des Ajax natürlich abzuwerten, auch wenn letzterer offensichtlich über eine kriegerische Auseinandersetzung hocherfreut wäre (320). Weiterhin ist an die parallele Situation zu denken: So wie Paris einige Zeit zuvor nach Troja gekommen war, um das ihm zustehende Recht zu fordern (91ff.), so sind hier die Umstände vorgestellt, unter denen Ajax sich dorthin begeben könnte und seinerseits berechtigte Forderungen stellen. Trotzdem wird Paris schließlich verantwortlich sein für den Krieg, in den auch Ajax ziehen wird (BRIGHT 1987, 111). 275 Achill erhält eine herausgehobene Stellung, da von ihm allein schon kriegerische Erfolge zu verzeichnen sind. Diese bedeutende Stellung steht in einer Reihe mit der Erwähnung Achills in der Helenus- und in der Kassandra-Rede (127. 157), sowie bei Apoll (192). Erneut ist es Achill, der von der Kampfestüchtigkeit der Griechen einen drohenden Eindruck vermitteln soll.

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explizit gemachte Ungeheuerlichkeit voraus: Hesione nach Troja zu schicken, bedeutet, dem Kind seine Mutter zu entreißen. Für affectus als Synonym zu pietas und amor vgl. ThLL I 1190,20ff. Concordia als Ausdruck für das Einvernehmen in der Ehe begegnet von Plautus an bis Apuleius recht regelmäßig, danach findet er sich nur bei Dracontius und in inschriftlichen Texten (ThLL IV 85,5ff.). Der Einfluß von Affekten und anderen Abstrakta auf Gefühle und Handeln der Menschen z. B. auch Romul. 10,317ff. 287 accendunt motus fellis amari Die Verbindung läßt sich auf zwei verschiedene Arten verstehen. Zum einen kann motus die Bedeutung ‘Zorn’ (zu belegen seit Octavia 804, verstärkt im späten Latein anzutreffen, s. ThLL VIII 1536,53–59) annehmen, der dann durch das Genitivattribut näher gekennzeichnet ist (‘von herber Bitterkeit’). Zum anderen kann motus in eher neutralem Inhalt die ‘innere Bewegtheit’ meinen, deren Ausprägung sich in fellis amari zeigt (für Galle als Ausdruck von Zorn vgl. Orest. 616 accensus felle doloris, Sulp. Sev. dial. 2,1,8 iam felle commoto weitere Beispiele s. ThLL VI 1,423,45ff. Vgl. für die Zusammenstellung von amarus und fel Arator act. 1,540 cordis amari felle tumens [jedoch vom Neid]), ähnlich Cic. Tusc. 4,10 motus turbidos cum irae tum cupiditatis. Mit accendere (mit motus noch Lucr. 3,336 und Paul. Nol. carm. 21,17) ist in beiden Fällen die für den Zorn übliche Metapher des Brennens und Entzündens hinzugesetzt (z. B. Plaut. Asin. 421, Verg. Aen 7,445, Ov. met. 5,41, Liv. 40,56,2, Sen. dial. 4,19,5). 288f. conubium regni, thalami consortia casti / scindere poscebant Lautlich werden die Gedanken des Telamon abgebildet: In scharfem klanglichem Gegensatz stehen die ‘c-Laute’ als klare, solide Konsonanten (conubium, consortia, casti) gegenüber den ‘s-c’-Verbindungen des folgenden Verses, die das brutale Zerreißen von Verbundenem wirkungsvoll nachahmen; es ist ein sehr handfestes Bild, wenn man bedenkt, daß Dracontius auch 150 scindat muros verbindet. Regnum in der Bedeutung rex (wie 118, VOLLMER MGH 402, WOLFF 1996, z. St.). Für poscere mit Infinitiv s. ThLL X 2,81,85, seit Catull zu finden, H-S 346. Die (gedankliche) Herstellung eines AcI ist nicht zwingend nötig (WOLFF 1996, z. St., VOLLMER MGH 391), das Gemeinte geht aus dem Kontext hervor. Die Wortverbindungen scheinen Dracontius eigen zu sein (306 conubium rescinde), vgl. entfernt für thalamum castum Orient. comm. 1,532. Bei Hieronymus findet man epist. 148,28,3 scissa coniugia. S. auch die Beobachtungen SANTINIs 2006, 45–47, der anstelle der juristisch gewöhnlichen Kombination scindere matrimonium die Verbindung auch für eine von Dracontius selbst erfundene hält. Für conubium und seine rechtliche Bedeutung s. HERSCH 2010, 20ff. 289f. et, quod mens nulla tulisset, / Aiacis haec mater erat! Sehr verkürzt und inkonzinn ist hier ein Gedanke angefügt, der sich eng an die Erwähnung von proles (286) anschließt. Die Rückforderung der Hesione wird umso ungeheuerlicher, wenn man ihre Mutterschaft in den Fokus stellt (WOLFF 1996, z. St.). Die Inkonzinnität (ein mit et angeschlossener Nachsatz [in konzessiver? Bedeutung]) ist die

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III Kommentar

wirkungsvolle Abbildung der Gedanken, die dem Redner durch den Kopf schießen müssen. Für die Junktur mentem ferre vgl. Hor. epist. 1,14,8f., Lucr. 2,260, Ov. Pont. 1,10,38; für mens vom ganzen Menschen, mit besonderer Betonung des Herzens s. ThLL VIII 733,49ff. 290 sic incipit ore Findet sich so bei Sil. 1,633 (Versschluß), Stat. Theb. 12,245 (nach LACHMANNs Konjektur), Iuvenc. 1,327 (Versschluß). 291 turbidus Aeacides iusta succensus in ira Der Abschluß dieser Redeeinleitung spannt einen Bogen zum Beginn (285 Telamon mentes armabat in iras). Der Name ist an dieser Stelle durch das Patronymikon wiedergegeben. Wohl mit Blick auf diesen Anfang und 287 accendunt motus konjizierte BAEHRENS iustas accensus in iras, um die Anstößigkeit des Ablativs und des ungewöhnlichen succendere zu beseitigen. Ersteres läßt sich mit Romul. 5,254 arderet in ira und Lucr. 3,288f. in ira / cum feruescit (setzt man die allgemein verbreitete Interpunktion, vgl. EDWARD JOHN KENNEY: Lucretius. De rerum natura, Book III, Cambridge 1971, 114), 3,295 efferuescit in ira verteidigen. Außerdem begegnet die Konstruktion Vet. Lat. Iud. (Lugd.) 10,7 iratus est in ira Dominus. Letzteres wird gestützt durch Sil. 9,525 succendit in iras. Die Verbindung iusta ira ist seit Plaut. Truc. 193 (nach der Konjektur BUGGEs und BÜCHELERs ) zu belegen, vgl. auch für den Bau des Versschlusses Stat. Theb. 12,589 iusta mox concitus ira. Für turbidus in der Bedeutung ‘aufgebracht, aufgewühlt, beunruhigt’ s. OLD s. v. 1991,3; vgl. z. B. Stat. silv. 3,4,14f. (sc. Ida) dedit superis illum (sc. Ganymed) quem turbida semper / Iuno uidet refugitque manum nectarque recusat. 292 si pudor Iliacis aut mentibus esset honestas Der Irrealis gleich zu Beginn der Rede zeigt an, wie wenig Telamon vom Charakter der Trojaner hält. Er spricht ihnen die beiden tugendhaften Eigenschaften pudor und honestas ab, die sich im Zusammenhang wohl eher auf den Charakter der Personen, der zu bestimmten, richtigen Handlungsweisen führt, weniger auf ihre Ehrenstellung, bezieht (dagegen ThLL VI 3,2897,19f.; vgl. auch Cic. Rab. perd. 24). Aut verbindet pudor und honestas; trennt durch seine Stellung die grammatikalisch zusammengehörigen Worte Iliacis und mentibus, was WOLFF 1996, z. St. als „déplacé“ bezeichnet. Doch ist diese Wortstellung auch anderswo anzutreffen und wird nicht als störend empfunden worden sein, z. B. Verg. georg. 1,484 tristibus aut extis, Ov. Pont. 2,9,50 mitibus aut studiis (jeweils am Versanfang. Dies mag Dracontius tatsächlich etwas steigern, wenn er es in die Mitte des Verses setzt). 292f. mentibus … / … pectora Die Begriffe mens (‘Verstand’, vgl. ThLL VIII 715,65ff.) und pectus (‘Gefühl’, vgl. ThLL X 1,914,5ff. für die Bedeutung, bzw. ThLL X 1,916,66ff. für die Bezeichnung des ganzen Menschen, so auch Orest. 742, Verg. Aen. 11,216, [Ov.] epist. 19,192, Stat. Theb. 7,496) meinen jeweils im Sinne einer pars pro toto den ganzen Menschen; sie sind zu den jeweils passenden und zugehörigen Elementen gesetzt (von pudor und honestas gekennzeichnetes Verhalten beginnt im Verstand, Schmerz ist im Gefühl anzusetzen).

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293 excidium Troiae si pectora uicta dolerent Die Weiterführung des Irrealis führt vom Allgemeinen zum Konkreten, von den allgemeinen Charaktereigenschaften zum Verhalten in der konkreten Situation. Für excidium Troiae s. zu 270f. Vincere ist einerseits wörtlich zu verstehen und meint den Sieg des Herkules über Troja, andererseits übertragen, im Sinne von einer Überwältigung durch den Schmerz. Zu pectora s. zu 292f. 294–297 Die beiden Protaseis münden in eine lange Apodosis, die das aus der Sicht des Telamon erwartbare Verhalten der Trojaner unter den gegebenen Umständen verdeutlicht. Dieses Motiv scheint Dares 5 (sc. Nestor) coepit Antenorem obiurgare, cur ausus sit in Graeciam uenire, cum a Phrygibus priores Graeci laesi fuissent auf. 294f. Herculeos comites … / … Graios Gemeint sind Telamon, Peleus und Oikleus (die auch unten 296 semideum … ducum aufgegriffen werden), mit denen gemeinsam Herkules Troja ein erstes Mal eroberte, nachdem Laomedon ihm nicht den Lohn für die Befreiung der Hesione hatte zukommen lassen. Mit dem direkten Bezug auf die Graii, die freilich nicht allesamt an dieser Eroberung teilgenommen haben, wird eine Art automatische Parteiung postuliert, so daß die Griechen mit Herkules auf einer Seite gegen die Trojaner auf der anderen Seite stehen. Versgestalterisch umschließen dabei die Sieger (Anfang 294 und Ende 295) die Trojaner vollständig. Die Formulierung ist vielleicht an Verg. Aen. 10,779 Herculis … comitem angelehnt. 294 Priami gens, praeda Pelasgum Praeda Pelasgum ist eine chiastisch gestellte Apposition zu Priami gens. Sie schließt den Rahmen der Sieger Herculeos comites und Pelasgum, so daß die Priami gens schließlich durch die Apposition Graios zu Herculeos comites, doppelt bedrängt wirkt. Die Junktur Priami gens auch Verg. Aen. 3,1. Pelasgi ist eine Variation für die Bezeichnung der Griechen (DOMENICO MUSTI: Pelasgi, EV 4, 6f.). Die Bedeutung von praeda unterscheidet sich leicht von der Grundbedeutung ‘Beute’ und geht in Richtung der bei Tibull (2,3,39ff., s. ThLL X 2,523,55–59) verwendeten ‘Begierde nach Beute’, allerdings in einem positiveren Sinn (‘Ziel eines Beutezugs’). Denn in der Hauptsache war es eine Strafaktion gegenüber den Trojanern, aus der man Hesione mitgenommen hat, nicht jedoch die ganze Priami gens. 295 non magis auderent in bella lacessere Spätestens hier wird klar, daß Telamon die Rede des Antenor als Kriegsdrohung verstanden hat. Non magis steht mit hauptsächlich temporalem Aspekt im Sinne von non amplius (VOLLMER MGH 370, WOLFF 1996, z. St., s. ThLL VIII 55,75–78, vgl. Sen. epist. 87,3, Ven. Fort. carm. 1,15,81f. o felix … / cui res ista magis non peritura manet). Der Plural auderent ist mit dem Subjekt Priami gens ad sensum konstruiert (ähnlich auch 568 adueniunt collecta manus, für weitere Stellen in den anderen

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III Kommentar

Gedichten s. VOLLMER MGH 432). In bella lacessere in unserem Gedicht noch 18. 374, Romul. 9,73, sonst Manil. 5,192, Heptateuchdichter iud. 186. 296 semideum post bella ducum Bei den mit semidei duces bezeichneten Figuren handelt es sich um die Begleiter des Herkules im ersten Krieg gegen Troja: Telamon, Peleus und Oikleus, auch wenn diese nach der mythologischen Überlieferung keine Halbgötter sind. So muß man wohl das Adjektiv (der adjektivische Gebrauch auch Lucan. 8,832), das allein auf die Hauptfigur Herkules paßt, als von ihm auch auf die anderen übertragen verstehen. Für post bella s. zu 54. 296f. quibus Ilios ingens / uicta iacet Es klingt eine Wendung aus der Antenorrede an: iacet ingens Troia fauillis / excidii compressa sui (270f., s. auch dort), hier wie dort wird auf Ov. met. 13,505 iacet Ilion ingens rekurriert. Ilios ist die feminine Entsprechung zum neutralen Ilion, vgl. auch Ov. ars 1,363, epist. 1,48, Hor. carm. 4,9,18; Dracontius verwendet diese Bezeichnung für Troja nur hier (das Adjektiv Iliacus findet sich hingegen öfter). Quibus ist instrumentaler Ablativ und bezieht sich auf bella analog zu fauillis (270; dagegen WOLFF 1996, z. St., der einen auktorialen Dativ oder Ablativ mit fehlendem a annimmt). 297f. placuitne Phrygis periuria gentis / soluere uos iterum? Nach den Ereignissen um den Bau der trojanischen Mauern gelten Laomedon und seine Nachkommen als notorische Meineidige (vgl. z. B. Verg. georg. 1,502 Laomedonteae luimus periuria Troiae, Verg. Aen. 4,542 Laomedonteae sentis periuria gentis, Ov. met. 11,205f. [sc. Laomedon] addit / … falsis periuria uerbis, Lact. epit. 7,2 Hercules … expugnata Troia Laomedontem Priami patrem ob periurium interfecerit?). So wird auch Telamon automatisch mißtrauisch. Die Stelle ist in ihrer Grundaussage auf Ov. met. 11,215 bis periura … moenia Troiae als Vorbild zurückzuführen. Iterum ist für das ovidische bis gesetzt, das sich auf das gebrochene Versprechen gegenüber Herkules bezieht (das zweite Mal nach dem Meineid gegenüber Neptun und Apoll), dessen Folgen Thema der vergangenen drei Verse waren. Die Frage des Telamon ist leicht ironisch zu verstehen: „Hat es euch gefallen, ein zweites Mal für euren Meineid zu bezahlen (und wollt ihr es deshalb ein drittes Mal tun)?“. Dabei muß iterum die Bedeutung von bis erhalten, was sich zumal im Spätlatein belegen läßt: ThLL VII 2,556,50ff., vgl. besonders, weil auch thematisch passend Serv. Aen. 5,81 ‘recepti iterum cineres’ semel ex Troia, semel a Diomede (Hingewiesen sei an dieser Stelle noch auf Val. Fl. 2,570f. namque bis Herculeis deberi Pergama telis / audierat, wo es im vergleichbaren Kontext bis heißt). Ebenso möglich übersetzt WOLFF 1996, z. St.: „Avez-vous décidé d’expier une seconde fois les parjures de la race phrygienne?“. 298f. sic dudum parua luistis / supplicia? Telamon faßt in supplicia die Zerstörung Trojas zusammen; durch den Zusatz von parua ergibt sich ein sarkastischer Unterton. Sic statt tam bei Adjektiven ist ein Phänomen des späten Latein (H-S 164; bei Dracontius z. B. noch Romul. 10,368 quod freta quod terras sic felix praedo uagetur). Die Verbindung supplicia luere begegnet nur vereinzelt (besonders zu

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vergleichen Verg. Aen. 11,841f. crudele luisti / supplicium, s. auch Orest. 716f. luetis / supplicia), jedoch einige Male in der Form supplicia luenda bei Augustinus (z. B. conf. 6,11,19, doctr. christ. 1,20). Dudum für olim (VOLLMER MGH 342; ThLL V 1,2176,72f.). Das überlieferte si (RIBBECK 1873, 466 konjizierte sic, was fast alle Herausgeber übernehmen; WOLFF 2015 [a], 363 äußert sich erneut dazu) will zuletzt GRILLONE 2006, 94f. halten. Dafür führt er zum einen syntaktische Gründe an (es ergebe sich ein Asyndeton der Sätze), zum anderen die vergleichbare Konstruktion zu Beginn der Rede (292ff.). Dagegen ist einzuwenden, daß das Überbringen der Nachrichten an Priamus nicht an eine Bedingung geknüpft ist, sondern so oder so geschieht (587). Gegen die Annahme eines pseudo-logischen si spricht, daß der erste si-Satz (292–296) als echter Bedingungssatz zu verstehen ist, so daß sich nur eine Pseudo-Parallelität hinsichtlich der Satzeigenschaften ergäbe. Der Zorn Telamons wird durch das mit sic entstehende „Asyndeton“ weit deutlicher transportiert. Hinzu kommt, daß mea dicta nach zwei ungehalten-ironischen Fragen sich auf die folgenden ironischen Konstellationen von Sieger und Besiegtem beziehen und einen neuen Abschnitt der Rede enthalten, der ein kurzes Innehalten, um zum Schlag auszuholen, rechtfertigt. 299 Priamo, Troes, mea dicta referte Beginn der eigentlichen Antwort an Priamus; greift vielleicht den Anfang der Antenor-Rede (Troiugenas proceres 261, Priamus 265) auf. Dabei fällt auf, daß Telamon keine Titel verwendet, sondern nur die Namen und „ich“. Der Versschluß mea dicta referte findet sich Verg. Aen. 10,491, die Wendung auch Aen. 12,75f. (Phrygio mea dicta tyranno / haud placitura refer). 300–310 Eine Reihe rhetorischer Fragen, die der Gesandtschaft und später dem Priamus die Unmöglichkeit ihrer Anfrage vor Augen stellen sollen, indem Telamon die Situation auf eine allgemeine Ebene setzt, damit sie neutral betrachtet werden kann. 300 uictori … uictus Wortspiel (Figura etymologica) mit von uincere abgeleiteten Worten. te bella gerente Aus dem Zusammenhang ergibt sich, daß ‘siegreich Krieg führen’ gemeint sein muß. Anders WOLFF 1996, z. St., der versteht: „je veux bien que tu me fasses la guerre, mais dans des conditions telles que …“. Die ganze Verbindung hat Lucan. 3,30. Versschlüsse mit bella und einer Form von gerere sind recht beliebt (z. B. Verg. Aen. 7,444, Prop. 2,12,16, Ov. am. 1,9,45, met. 12,418, fast. 5,59, Pont. 2,5,61, Lucan. 7,79; 10,147, Homer. 265, Stat. Theb. 4,115 u. ö.). 301–304 me maneat … me sequatur, / … me … me … / expectant … / eat Die Hervorhebung des fingierten Kriegsverlierers wird auch dadurch erreicht, daß er zum Objekt der drei Teilsätze wird und all die Ehrenbezeugungen wie von selbst zu ihm gelangen. Die Prädikate sind passend zu ihren Objekten gewählt: uirtutis honos, praemia laudis und praemia cuncta triumphi als die Ehren- und Jubelbezeugungen, die von den Menschen aus der Heimat für einen Feldherrn zu seiner

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III Kommentar

Ankunft vorbereitet werden, sind mit manere und expectare verbunden; die praeda dagegen folgt (sequi) ihm aus dem Feindesland hinterher in seine Heimat. Der Sieger hingegen soll leer ausgehen und sich einfach entfernen. 301 me maneat uirtutis honos Die Junktur uirtutis honos begegnet allenthalben (z. B. Ov. met. 8,387; 13,153, Val. Fl. 1,177, Sil. 16,133, Homer. 274 u. ö., in unserem Gedicht noch 599). Der Genitiv ist ein obiectivus, honos geht mit seiner Bedeutung in Richtung praemium (auch bei den angeführten Ovid-Stellen, s. BÖMER 1982, 243f.). Für den Gebrauch von manere s. ThLL VIII 291,77; mit honos auch Ov. trist. 5,9,10. 302f. praemia me laudis, me praemia cuncta triumphi / expectent Die Genitive sind epexegetisch. Für die Junktur praemia laudis vgl. Catull. 64,102, Manil. 4,141, Homer. 717 (in der Prosa Cic. Verr. II 5,125, Mil. 81). Expectent variiert maneat 301 (der Gebrauch auch 133, s. auch ThLL V 2,1994,76ff.). 303f. sterili uictor sed laude potitus / et ieiunus eat Stellt den Rahmen her zum Anfang der Frage te bella gerente. Der beutelos dahingehende Sieger steht auch quantitativ im Gegensatz zum Besiegten – über seinen „Kriegslohn“ wird nur in anderthalb Versen gesprochen. Thematisch ähnlich, aber noch drastischer ist Orest. 2 uictoris pro laude necem. Sterilis laus ist eine singuläre Junktur, könnte jedoch auf Iuvenc. 1,576 adplaudet tantum sterilis laudatio uulgi zurückgehen, wo es freilich in ganz anderem Zusammenhang gebraucht ist (vom öffentlich sichtbaren Almosengeben, das die Leute loben – ein Lohn, von dem man im Himmel dann nichts hat). Vom Grundsatz ist der Gebrauch von sterilis aber jeweils schon vergleichbar (für die übertragene Bedeutung s. OLD s. v. 1818,3a). Denn das Lob, das der Sieger hier erhalten würde, wäre für ihn ganz unbrauchbar, weil es nicht dem Verdienten entspräche (also echte Beute, ein Triumphzug …; für den Verlierer hingegen hätte auch der Lobpreis Bedeutung, s. 302 praemia … laudis). Die Verbindung laude potiri findet sich noch, jeweils am Versschluß Stat. Theb. 3,185 funerea … laude potitus und CIL XI, 5262 = CLE 1800 = Courtney 1995 no. 142, 2 uirtute et laude potitus. An unserer Stelle wirkt die Verbindung durch ihre oxymoronartige Zusammenstellung besonders sarkastisch. Das Wortmaterial erinnert an Plin. paneg. 56,2 quod momentum, quod immo temporis punctum, aut beneficio sterile, aut uacuum laude? Sed an dritter Position auch laud. dei 1,194. 640, Romul. 3,2; die Bedeutung et, die WOLFF 1996, z. St. mit Verweis auf Romul. 10,200. 341 und H-S 487 annimmt, ist nicht zwingend erforderlich. Denn durch sed werden belohnter Verlierer und unbelohnter Sieger einander gegenübergestellt. Der absolute Gebrauch von ieiunus in der Bedeutung ‘leer’ begegnet nur sehr vereinzelt (Plin. nat. 11,3); in unserem Zusammenhang scheint er singulär zu sein (vgl. ThLL VII 1,252,30ff.). Gedanklich ist ein Genitiv der oben angeführten praemia zu ergänzen.

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Zu überlegen wäre eine diagnostische Konjektur: Durch die Änderung von eat in eas würde der Bruch zwischen te (300) und der hier gebrauchten dritten Person entschärft. 304f. quis regi quisue marito / uel misero Hier beginnt die zweite fingierte Rede des Telamon (auch hier wird wieder quis zur Einleitung genutzt); IANNELLI hat den Text uel misero sic aus dem unsinnigen misericois der Handschrift wiederhergestellt. Während oben der Lohn des Siegers thematisiert wurde, ist es hier der zweite mit der Forderung des Priamus zusammenhängende Teil, das Ehebündnis. Dabei stellt Telamon hier die Ehemänner zweier verschiedener Stände nebeneinander, den König und einen Mann von niedrigem Stand (für diese Bedeutung von miser s. ThLL VIII 1104,56ff., im Gegensatz zum König noch Alterc. Hadr. et Epict. 18 quid regi et misero commune est). Dabei ist marito grammatisch zunächst mit misero zu verbinden, gedacht ist es aber inhaltlich ebenso zu regi (anders verfährt WOLFF 1996, z. St., der misero als Adjektiv auf beide Substantive bezieht und uel als „même“ versteht). Nicht einmal einem Ehemann eines niedrigen Standes würde man die Ehefrau wegnehmen (uel in steigernder Bedeutung). 305 sic ausus ait Für ausus kann die Bedeutung audax angenommen werden (s. ThLL II 1252,48 und WOLFF 1996, z. St., der entsprechend das präsentische Verständnis im Sinne von audens vorschlägt). Die vorzeitige Alternative ‘gewagt habend’, die für beide Beispiele denselben Sprecher voraussetzte (wie es mit Antenor in der Realität auch der Fall wäre), scheidet aus, weil hier explizit durch die beiden quis verschiedene Sprecher vorausgesetzt werden. tum uoce proterua Vgl. dazu 260 placida sic uoce: Telamon hört die versteckte drohende Frechheit aus der Antenor-Rede heraus. VON DUHNs Konjektur cum (anstelle von tum) verfremdet die überwiegend anzutreffende Wendung der Dichtersprache, nämlich bloßes uoce mit Adjektiv (z. B. Verg. Aen. 3,68; 3,320; 5,245 u. ö., bei Dracontius Romul. 8,90. 260. 372. 461. 511; 10,435, Orest. 249, laud. dei 1,251. 752). Vgl. dagegen mit cum (das VOLLMER, WOLFF und ZWIERLEIN in den Text setzen) Sil. 12,322, Iuvenc. 4,752. Alc. Avit. carm. 4,374 (ZWIERLEIN BT z. St.). Tum dürfte die Überleitung vom ersten Beispiel des Telamon zum zweiten herstellen. Gleicher Versschluß Stat. Theb. 9,339. 306 conubium rescinde tuum Vgl. für die singuläre Junktur conubium rescindere 288f. conubium regni … / scindere poscebant (auch hier ist wieder die Kombination von einem Begriff aus der juristischen Praxis mit einem dichterischen zu bemerken, s. SANTINI 2006, 45–47). Simplex und Kompositum werden unterschiedslos verwendet. 306f. rumpatur honesto / foedere iuncta domus Domus muß in der Bedeutung ‘Familie’ gebraucht sein. Vgl. für das Wortmaterial Anth. 649 R.,27 honestum rumpere foedus. Für foedus vom Ehebund s. ThLL VI 1,1004,80ff. Rumpere findet sich in diesem Zusammenhang Hor. carm. 1,15,7 tuas rumpere nuptias.

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III Kommentar

307 thalami damnentur amantum Thalami amantum ist eine singuläre Verbindung. Für die Bedeutung von damnare s. ThLL V 1,17,48ff. 308 festiuas extingue faces In der Metapher stehen die faces für conubium und exstinguere für das Brechen des Ehebündnisses. Das Bild ähnlich auch [Sen.] Herc. O. 339 meo iugales sanguine extinguam faces. Extinguere faces noch Octavia 264, Claud. 8,57. Die Junktur festiua fax ist singulär; faces für Hochzeitsfackeln sind verbreitet, s. ThLL VI 1,402,6ff. 308f. Telamon kommt von der Ebene des Gedankenspiels wieder zurück auf die Realebene und fragt weiter, nun ganz auf sich bezogen. Ihm hat niemand die Heimat zerstört, ihn hat niemand besiegt, so daß keine Reparationsforderungen an ihn herangetragen werden dürften. Telamon spricht von sich selbst in der dritten Person als Aeacide (er ist wie sein Bruder Peleus ein Sohn des Aeacus). 308 istud Greift die Forderungen des Antenor mit ärgerlichem, aber auch ironischem Ton auf. 309 patriam qui perculit hosti? Mit WOLFF 1996, z. St. wird qui als Relativpronomen auf Aeacides bezogen, so daß ausgedrückt wird, er, Telamon war doch derjenige, der im Krieg gesiegt hat: „Wer hat da gesiegt, daß der Aeacide sich das anhören muß, der doch dem Feind die Heimat erschüttert hat?“ Damit kann auch das überlieferte hosti gehalten werden. Weniger natürlich, aber vielleicht nicht ganz unmöglich ist die Konstruktion mit qui als neuem Fragepronomen, das dann aber auf IANNELLIs Konjektur hostis bezogen werden müßte, also „welcher Feind hat (mir) die Heimat zerrüttet?“. Vgl. für den Versschluß Orest. 191 qui perculit hostem (wohl übernommen von Claud. 15,16). 310 quando tamen uictor uicti sub lege tenetur? Das zunächst schwer verständliche tamen erklärt sich aus der rhetorischen Frage (308f.) bzw. aus der darauf erwarteten Antwort. Telamon fragt, wer es denn war, der die Heimat zerstört hat, wer im Krieg gesiegt hat. Die Antwort, die die Trojaner geben müßten und die man gedanklich einschieben würde: Wir waren es nicht, sondern die Griechen haben uns im Krieg besiegt. Mit dieser in den Gedanken ganz integrierten Antwort fällt das tamen nicht mehr als unverständlich ab: Ihr seid die Verlierer. Unter welchen Umständen jedoch kann es denn sein, daß der Unterlegene die Gesetze bestimmt? Wann kann es denn sein …? (bedenkenswert WOLFF 1996, z. St., der in tamen einen Ausdruck der Ungeduld sieht und tandem erwarten würde). Victor und uictus als figura etymologica genau in der Mitte des Verses nebeneinandergestellt (s. auch 300). Sub lege teneri ist statt der gewöhnlicheren Wendung lege teneri gesetzt (WOLFF 1996, z. St. betont die Vorliebe des Dichters für die Präposition sub). Findet sich in der Dichtung noch Hept. lev. 31, in der Prosa Liv.

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21,3,6 (sc. Hannibalem) domi sub lege tenendum. Der Versschluß lege tenetur noch Verg. Aen. 12,819. 311 Priami … tyranni Allein hier wird Priamus mit dem Attribut tyrannus belegt, und es ist nicht auszuschließen, daß es im Mund Telamons eine negative Konnotation erhält. recidiua domus manet illa Das seltene Wort recidiuus gebraucht Dracontius insgesamt viermal, von einer Stadt sagt er es noch Romul. 5,115f. (sc. Carthago) recidiua uiget post busta resurgens / Phoenicis in morem. Zu Recht argumentiert WOLFF 1996, z. St., daß wir bei der Seltenheit dieses Wortes außerhalb Vergils von einem direkten Bezug auf die Vergilstellen Aen. 4,343f.; 7,322 und 10,58 ausgehen dürfen, da dort jeweils Pergama das Bezugswort ist (s. auch ThLL XI 2,316,14ff.). Für manere in der Bedeutung ‘bestehen bleiben, überdauern’ s. ThLL VIII 284,37ff. Vgl. besonders in Romul. 8 selbst 315. 332 si Troia maneret, dann Verg. Aen. 2,22 Priami dum regna manebant; 2,455 dum regna manebant; 4,343f. Priami tecta alta manerent / et recidiua manu posuissem Pergama uictis. Die Verbindung Priami domus findet sich schon Enn. scaen. 92 V. = 87 Jocelyn = 23 TrRF o pater, o patria, o Priami domus, dann Hor. carm. 3,3,26. Domus oszilliert in seiner Bedeutung zwischen familia und allem, was dazugehört, und der Stadt Troja selbst (so wie sich das Wort in der Dichtersprache gelegentlich statt urbs findet, z. B. Verg. Aen. 3,550 Graiugenum … domos, s. ThLL V 1,1973,40ff.). Zu illa vgl. 122 illa fax. An beiden Stellen besitzt illa nicht die Funktion eines Füllwortes, sondern es greift das eben Gesagte (hier Teile aus der Rede Antenors) oder ein irgendwann stattgefundenes Gespräch (122) wieder auf und lädt den jeweiligen Begriff mit den Inhalten auf, die bereits dazu gesagt worden sind. Also hat illa hier wie dort eine wichtige deiktische Funktion (dagegen postuliert WOLFF 1996, z. St. nur „un sens faible“). 312 post ignes reparata meos Dracontius verwendet häufig kurze Präpositionalausdrücke anstelle von Nebensätzen; dieser hier ist ganz besonders gedrängt durch Hinzufügung des Possessivpronomens und die Reduktion der ‘Zerstörung durch Feuer’ auf ignes. Die Wortgruppe mag 265f. Priamus gentis reparator et urbis / quam uestras populasse manus meminisse fatemur aufgreifen. Reparata ist von der Stellung im Vers her betrachtet ganz parallel zu recidiua 311. 312f. si pendit amorem / germanae rex ipse suae Rex ipse ist Priamus. Germanae ist sicher zu amor zu ziehen, aber um welche Art des Genitivs es sich handelt und wessen Liebe gemeint ist, ist nicht sicher festzustellen. Es könnte an die Liebe oder Zuneigung des Priamus zu seiner Schwester gedacht sein (Genitivus obiectivus), ebenso wie die Liebe der Schwester selbst zu Telamon (Genitivus subiectivus), oder als Alternative zum ersten objektiven Genitiv auch die Liebe des Telamon zu Hesione. In der Verbindung mit dem Prädikat, das im übrigen mit amor eine singuläre Junktur bildet, scheidet wohl die erste Variante am ehesten aus (Priamus soll nicht seine Liebe zu seiner Schwester bedenken, die er ja dadurch, daß er sie zurückfordert, ohnehin im Kopf hat, sondern die des Telamon, und wie gut es ihr dadurch

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III Kommentar

geht). Pendere in der Bedeutung ‘bedenken, erwägen, in Betracht ziehen’ ohne Angabe des Grades nutzt Dracontius noch Romul. 1,18 (s. ThLL X 1,1045,5ff.). 313 germanae … sorori Variatio am Anfang und am Ende des Verses. pro dote Auch dos ist dem juristischen Kontext entnommen (SANTINI 2006, 49). Pro ist am ehesten im Sinne von ‘entsprechend’ zu verstehen. 314 uel regni pars iusta Für iustus im Sinne von rectum, aptum s. ThLL VII 2,720,58ff. (SANTINI 2006, 49 hört in der Junktur pars iusta einen Anklang an den juristischen Terminus des Erbrechts pars legitima). Für pars iusta mit Genitiv s. Plaut. Mil. 645, Verg. georg. 1,35, [Ov.] epist. 21,8. Für uel in der Bedeutung ‘wenigstens’ s. H-S 502. detur Das ‘e’ von detur mißt allein Dracontius kurz; es wird gestützt durch drei weitere Stellen: laud. dei 3,751, Romul. 9,81. 226 (GIARRATANO 1906, 43). uindicet Das Verb bedeutet im gerichtlichen Kontext die Rückforderung eines Eigentums, das ein anderer unrechtmäßig bei sich hält (SANTINI 2006, 48). An unserer Stelle ist ‘beanspruchen’ die geeignete Bedeutung und zwar als Terminus des Erbrechts (SANTINI 2006, 49f., KASER / HACKL 21996, 90). Gemeint ist die Vorstellung, daß die Mitgift, die Hesione von Laomedon bekommen hätte, Teil des Erbes ihres Sohnes ist, das dieser wiederum zu gegebener Zeit beanspruchen wird (SANTINI 2006, 50). Aiax Daß Ajax der Sohn des Telamon ist, muß hier als bekannt vorausgesetzt sein, auch wenn Telamon später (319) noch explizit hinzufügt, daß er einen Sohn namens Ajax habe. 315 quod matri donasset auus Die Familienverhältnisse sind von Ajax aus gedacht: Sein Großvater ist Laomedon, seine Mutter dessen Tochter Hesione. Donare beim Hochzeitsgeschenk eines Vaters noch Ov. epist. 11,99 his mea muneribus, genitor, conubia donas? (im folgenden Vers heißt es hac tua dote, pater, filia diues erit). si Troia maneret Die Bedingung reicht bis in die Gegenwart hinein, weshalb der Irrealis der Gegenwart gesetzt ist und nicht mit dem der Vergangenheit fortgeführt wird (‘wenn Troja damals nicht zerstört worden wäre und daher heute noch stünde’). Für den Versschluß vgl. 332 und Ov. ars 3,439 Troia maneret. 316–318 Die Verse umfassen einen Pseudokonditionalsatz, der eigentlich eine pure Aussage enthält (s. CHRISTIAN TOURATIER: Lateinische Grammatik. Linguistische Einführung in die lateinische Sprache, Darmstadt 2013, 330 [französisches Original 2008]). 316 temporibus soceri senuit si Graia iuuentus Leicht ironisch bezeichnet Telamon den Laomedon als seinen Schwiegervater. Die tempora soceri dürften die Zeitpunkte meinen, an denen sich Laomedon ungebührlich verhalten hat, nach dem Bau der trojanischen Mauern und nach der Rettung der Hesione samt den jeweiligen Folgen. Der bloße temporale Ablativ drückt daher ‘seit’ oder ‘nach’ aus (s. K-S I

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356, H-S 148; so auch ZWIERLEIN 2017, 109, Anm. 346).276 Die griechische Mannschaft, die damals gekämpft hatte, ist alt geworden, kann aber mit Nachkommen aufwarten, wie es im folgenden heißt. Für die Gesamtheit der Griechen in diesem Zusammenhang s. 295. Soceri senuit si dreifache Alliteration; si Graia reimt mit si Troia (315). Si ist mit der vierten Stelle deutlich inversiv gestellt (so auch 359 und Romul. 5,29. 64. 68) und erhält eine konzessive Färbung (für eine solche s. H-S 671, hier in der ungewöhnlichen Konstruktion ohne jeglichen Hinweis wie tamen o. ä.). Das Prädikat senuit steht leicht oxymoronartig zum Subjekt iuuentus. Der Versschluß ist sicher beeinflußt von Ov. epist. 12,203, Lucan. 3,355. 516; Dracontius hat ihn noch 545. 317 quam nostis per bella Per bella kann als Ausdruck des Mittels angesehen werden oder für in bello stehen (wie 129). Der Versanfang erinnert an Mart. 2,44,4 quem nostis. Phryges Variation zu 299 Troes. successit in armis Die Formulierung ist in dieser Form singulär (vergleichbar ist vielleicht Suet. Caes. 21 successuri sibi in consulatu; 29,1 in consulatu successerat); auch Dracontius selbst nutzt succedere sonst nicht, um eine „Amts“nachfolge zu bezeichnen. Beeinflußt ist der Versschluß vielleicht vom ähnlich lautenden vergilischen succurrit in armis (Aen. 2,317). In armis verwendet Dracontius insgesamt noch fünf weitere Male (346, satisf. 133, Romul. 5,18. 162; 9,219). 318 bellipotens ducibus cunctis optata propago Ein ganzer Vers stellt die kriegerischen Qualitäten der neuen Griechengeneration heraus. Kein anderer Dichter verwendet das klangvolle Adjektiv bellipotens so oft von Personen wie Dracontius (gleich im nächsten Vers explizit von Ajax, auch Romul. 9,141f. bellipotens … / dux, Orest. 27 bellipotens … princeps; davor begegnet es zweimal bei Claud. 7,144; carm. min. 30,40, alle übrigen Belege beziehen sich auf Götter, s. ThLL II 1815,65ff.). Der früheste Beleg für bellipotens findet sich bei Ennius ann. 180f. V. = 197f. Sk.: stolidum genus Aeacidarum: / bellipotentes sunt magis quam sapientipotentes, der in irgendeiner Weise auf Dracontius gewirkt haben könnte, besonders mit Blick auf die Junktur bellipotens Aiax (319), da man unter dem ennianischen genus Aeacidarum Achill und Ajax zu verstehen hat (SKUTSCH 1985, 359); Achill wird hier gleich 320 eingeführt. Die negative Konnotation der Ennius-Stelle, die Kriegstüchtigkeit gegenüber Weisheit ausspielt, ist bei Dracontius nicht zu spüren. Für optare von Personen s. ThLL IX 2,828,38ff.; vgl. besonders für unsere Stelle Laud. [Turiae] (CIL VI 1527) 2,26 fue‹ru›nt optati liberi, quos aliqua‹mdiu sors inui›derat; Paneg. 7,2,2 nepotes.

276 BÜCHELER und RIBBECK 1873, 466 ziehen die temporale Angabe zum Satz davor. Dies ist aber wegen des veränderten Blickwinkels schwerlich möglich (315 hieß es auus aus der Sicht des Ajax, hier heißt es socer aus der Sicht des Telamon). S. dazu ZWIERLEIN 2017, 109, Anm. 346.

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III Kommentar

Ducibus cunctis wird man wohl wegen der Wortstellung als Dativus auctoris hauptsächlich zu optata ziehen müssen, allerdings dürfte man den Dativ auch bei succedere mithören. 319 bellipotens … Aiax S. zu 318. Zu bellipotens ist wohl propago aus dem Vers zuvor gedanklich zu ergänzen, von dem dann leichter als vom bloßen Aiax der Genitivus qualitatis uilis pignoris abhängig gemacht werden kann. S. für die Wiederholung des bellipotens, die sich in die Reihe der vielen dracontianischen Wortwiederholungen stellt, ZWIERLEIN 2017, 109f. non uilis pignoris VOLLMER MGH 389 glossiert die Junktur zu Recht mit „de quo magna praeuideo“. Die Verbindung findet sich auch Heptateuchdichter gen. 566 pignore uili. 320 eminet et quaerit, de qua iam gente triumphet Das überlieferte eminet bindet sich gedanklich an den Vers zuvor, indem es non uilis pignoris auch im Prädikat ausdeutet. Der Telamonsohn ragt vor allen anderen hervor, wie gleich darauf auch Achill (emicat 322). Beachtenswert ist die Alliteration est (319), eminet (320), Emathia (321) und emicat (322), auf die ZWIERLEIN 2017, 110, Anm. 348 aufmerksam macht. Der Versschluß ist sprachlich vielleicht beeinflußt von Val. Fl. 4,743 de gente triumphi und Claud. 15,345 de gente triumphet und bringt mit dem Triumphgedanken eine spezifisch römische Note. 321f. Thessalus Emathia fratris nutritus Achilles / emicat Achill wurde von Chiron, dem Kentauren, in Thessalien erzogen, so daß Thessalus zum festen Beiwort des Helden geworden ist (47, Orest. 480, Ov. am. 2,8,11, Sen. Tro. 361). Tautologisch ist Emathia angefügt, was aber nicht störend wirkt, da es mit nutritus zusammengezogen werden muß. Fratris (Peleus, der Vater des Achill, ist der Bruder des Telamon) könnte zusammen mit einem elliptischen filius verstanden werden (vgl. 325 Nestoris Antilochus, Romul. 10,590f. Diones / Harmoniam, Orest. 622 Pyrrhus Achillis, Verg. Aen. 1,41 Aiacis Oilei, s. WOLFF 1996, z. St., VOLLMER MGH 433; im Griechischen eine gewöhnliche Konstruktion). Alternativ dazu läßt sich fratris auf Emathia beziehen, insofern Peleus Herrscher von Phthia war. Inspiriert ist der ganze Vers von Lucan. 6,350f. Emathis aequorei regnum Pharsalos Achillis / eminet, Teil einer anspielungsreichen, dichten Beschreibung Thessaliens. Dracontius hat neben dem Protagonisten nur Anregungen für seinen Satzbau und die Versstruktur übernommen, kein inhaltlich-anspielendes Moment. So erkennt man hier wie dort zwei geographische Bezeichnungen, die nach Thessalien weisen, Achill befindet sich am Ende des Verses und über ein Enjambement verbindet sich das Prädikat zu Beginn des nächsten Verses mit dem Rest des Satzes. Die Prädikate sind zudem einander in Bedeutung und Klang ähnlich (bei Lucan ist die Wirkung des Enjambements noch größer, da beide Verse mit einem ‘e’ beginnen, vgl. auch für die ganze Stelle KORENJAK 1996, 88). Der Lucanvers unterstützt die zweite Konstruktionsvariante von fratris im Vers des Dracontius (auf Emathia), da auch der flavische Epiker einen Genitiv zur Landschaft hinzusetzt.

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Emicat bedeutet anders als im ThLL angegeben (V 2,484,13f.) nicht ‘ins Kampfgeschehen hervorspringen’, sondern drückt ganz allgemein die besondere Stellung des Achill aus, der schon seit frühester Kindheit (vgl. den Rest des Verses) als Krieger hervorragt (so auch WOLFF 1996, z. St., ThLL V 2,487,5ff.). 322 toruos exercet in arma biformes Spielt auf eine kleine Episode in der Achilleis des Statius an, um die herausragende kriegerische Leistung des Achill zu belegen: Chiron, der Erzieher des Achill, berichtet dessen Mutter Thetis, die sich besorgt äußert, weil Chiron ihren Sohn hat allein hinausziehen lassen, daß sich die Kentauren bei ihm beklagt hätten, weil der kleine Achill ihre Häuser verwüstet und ihr Vieh gestohlen, sie von den Feldern und Flüssen vertrieben habe (Stat. Ach. 1,152–154). Ihre Reaktion beschreibt Statius folgendermaßen: insidiasque et bella parant timideque minantur (155). Konkret wandelt Dracontius bella parant in exercet in arma (der spätantike Dichter tauscht die Subjekte aus und macht Achill zum Hauptakteur, was ihm eine besondere Betonung gibt) um, Centauri (153) in substantiviertes biformes (für den Gebrauch s. ThLL II 1980,48f. 55ff.) und minantur in toruus (begegnet nur hier als Attribut für die Kentauren und muß daher situationsbedingt gesetzt sein). Diese Stelle klingt auch Romul. 9,109 an: post Centaurorum raptas … praedas. Für exercere in arma vgl. Avien. orb. terr. 1239 exercent saeui se semper Martis in arma (ZWIERLEIN BT z. St.). 323 Patroclo populante simul Centaurica lustra Auch dieser Vers mag noch auf die Inspiration durch Statius zurückgehen: wenige Verse nach dem Bericht des Chiron (s. zu 322) kann Thetis ihren Sohn in die Arme schließen. Hinter ihm folgt Patroklos (Stat. Ach. 1,175ff.), von dem man sich leicht vorstellen kann, daß er Achill auf seinen Streifzügen begleitet hat, auch wenn Statius dies nicht explizit erwähnt. Als Hinweis für die Mittäterschaft des Freundes kann aemulus actis (175) gelesen werden, was Dracontius in simul umwandelt (dagegen WOLFF 1996, z. St.). Die konkreten bei Statius aufgezählten Streiche der Jungen (Ach. 1,152–154) faßt der Dichter im einfachen populare zusammen. Dieser alliterierende Ablativus absolutus Patroclo populante ist singulär. Die Junktur Centaurica lustra findet sich Stat. Ach. 1,266f. Für die Technik, s. die Einleitung 2.3. 324 Tydides Sthenelusque fremunt Die beiden (Tydides ist das Patronymikon des Diomedes, Sthenelus ist sein Wagenlenker) sind auch sonst als Freundespaar bekannt und treten an verschiedenen Stellen gemeinsam auf (HANS LAMER: Sthenelus, Roscher 4, 1523–1527; vgl. z. B. Il. 2,563f.). Übernommen ist der Versanfang von Stat. Ach. 1,469 Tydides Sthenelusque premant. Bei Statius sind die beiden Kriegshelden Teil einer Aufzählung derer, die schon zum Krieg gerüstet und bereit sind, die aber alle nichts vermögen, wenn nicht Achill noch zu ihnen stößt. Dracontius nutzt die Aufzählung des Statius (bei der im übrigen auch Antilochus 470, Vlixes 472, Teucer 475 genannt werden, die im folgenden ebenso angeführt werden) und stellt alle Kämpfer gleichermaßen in die Reihe derer, die tapfer gegen Troja kämpfen werden.

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III Kommentar

Fremere ist in seiner Bedeutung nicht leicht zu bestimmen, da verschiedene Aspekte mitschwingen (vgl. BOUQUET [/ WOLFF] 1995, 212). Es wird an dieser Stelle die Kriegsbegeisterung mitzuhören sein, vielleicht auch die Unzufriedenheit über die ungeheuerliche Forderung der Trojaner, so daß hier mit ‘schnauben’ gearbeitet wird. Aiaxque secundus Meint den anderen Ajax, den kleinen, Sohn des Oileus (vgl. 143). Vgl. für die Formulierung Stat. Ach. 1,501. Secundus entweder im Sinne von alter oder als zweitgenannter (für die Unterscheidung zweier gleichlautender Namen auch Ov. Ib. 315 verwendet, WOLFF 1996, z. St.). 325 Nestoris Antilochus Palamedes Teucer Vlixes Alle genannten Eigennamen begegnen nur hier gemeinsam. Der Vers soll inhaltlich so kurz vor Ende der Rede der Gesandtschaft des Priamus die große Schlagkraft des griechischen Heeres vor Augen stellen, indem innerhalb kürzester Zeit so viele namhafte Männer wie möglich aufgezählt werden. Formal zeigt er die Verskunst des Dracontius auf, der fünf sperrige Eigennamen in einen Hexameter zu bringen in der Lage ist (Verse voller Eigennamen finden sich seit frühester griechischer Dichtung und auch bei Vergil Aen. 10,123; 12,363, wobei in beiden Beispielversen que als Füllwort verwendet wird, auf das Dracontius verzichtet). Antilochus ist der einzige in diesem Vers genannte Held, dem ein Attribut hinzugesellt ist (für den bloßen Genitiv zur Angabe der Vaterschaft vgl. zu 321). Der Name Nestor mag auch aus argumentativen Gründen genannt sein: Nestor hat Gewicht, er ist alt, weise, erfahren, angesehen, beredt. Antilochus besitzt in der ‘Ilias’ eine bedeutende Rolle als Freund des Achill gleich nach Patroklos, hervorragend an Tapferkeit und kriegerischem Geschick (Il. 4,457ff.; 5,565ff. 580ff.; 6,32; 13,396ff. 418ff. 545ff.; 14,513; 15,579ff.; 16,317ff.). Palamedes kommt auch bei Dares unter anderem eine wichtige Position in einer Gesandtschaft von Tenedos nach Troja zu (18. 19). Er ist dafür bekannt, Odysseus entlarvt zu haben, der vorgab, verrückt zu sein, um nicht am Krieg teilnehmen zu müssen. Zu den verschiedenen Mythenvarianten über seinen Tod, den größtenteils Odysseus verschuldete, s. HEINRICH LEWY: Palamedes, Roscher 3, 1266–1268. Der Name Teucer hat an dieser Stelle seine Berechtigung als Bruder des großen Ajax und Sohn des Telamon und der Hesione, auch wenn er freilich keinen eigenen Vers zugeeignet bekommt wie sein Bruder, dem er an Bedeutung nicht gleichkommt. Auch der listenreiche Odysseus darf in der Aufzählung nicht fehlen, der schon durch Palamedes und dessen Geschichte in Erinnerung gerufen wurde. 326 exultant quod Troia redit, quod Pergama surgunt Die Gruppe der Helden freut sich über die Auferstehung Trojas freilich nicht um ihrer selbst willen, sondern nur, weil sie dann gegen die Trojaner und ihre wiederhergestellte Stadt Krieg führen können. Dabei können redire und surgere zum einen das Wiedererstehen der Stadt an sich meinen (VOLLMER MGH 401 versteht redire = resurgere), aber auch auf eine kriegerische Erhebung der Stadt durch konkretes Anreisen (redit im Sinne von ‘wiederkommen und den Kontakt suchen’) und sich Erheben (für diese Bedeutung

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von surgere s. OLD s. v. 1887,3) verweisen.277 Exultare steht im Sinne von gaudere und laetari (ThLL V 2,1948,80ff.); das Moment der heftigen Bewegung, das dieses Wort mit sich bringt (ThLL V 2,1947,32ff.), schwingt auch hier mit. Wie schon bei Ajax explizit ausgedrückt (320), wollen auch diese jungen Männer ihr Kriegsglück erproben. Exultare begegnet 27 und 413 mit Infinitiv, hier in der selteneren, aber nicht ungewöhnlichen Konstruktion mit quod-Satz (ThLL V 2,1950,66ff.). Der Versschluß Pergama surgunt (Aufnahme aus der Rede des Antenor 271f. Pergama … / surrexisse) läßt sich auf Lucan. 9,999 Romana … Pergama surgent zurückführen, jedoch rein formal, ohne tiefere inhaltliche Zusammenhänge. Es mag auch die Formulierung, daß Troja zurückgekehrt (redire) ist, die, soweit ich sehe, nirgendwo vorgebildet ist, auf die Lucanstelle hinweisen, an der es zuvor heißt (998f.): moenia reddent / Ausonidae Phrygibus. Vielleicht hat Dracontius mit redit ein klanglich ähnliches Wort gesetzt. Für den Gedanken der Wiederholung von Ereignissen s. SCHMITZ 2017, 17f. 327–348 Die Rede des Polydamas Die Rede des Polydamas ist einerseits eine Beschwichtigungsrede als Antwort auf den Wutausbruch des Telamon. Andererseits stellt der Redner aber geschickt Ansprüche der Trojaner. Denn er nimmt die fiktive Rede eines Unterlegenen aus der Rede Telamons auf (300–304a) und erklärt rational-ernst, daß es sich genauso verhalte, wie sein Vorredner ausgeführt habe.278 Hesione ist das Beispiel für einen dauerhaften Herrschaftsanspruch der Trojaner, auch wenn sie unterliegen. Die Rede kann folgendermaßen gegliedert werden: 328–330 Anrede an den König und Aufruf zur Beruhigung 331–332a Anpassung der Haltung an die neuen Verhältnisse 332b–340a Hesione als Exemplum für den dauerhaften Herrschaftsanspruch des trojanischen Geschlechts 332b–336a konkrete Situation der Hesione 336b–340a Verallgemeinerter Bezug auf das trojanische Geschlecht insgesamt 340b–348 Preis des Telamon ob seiner Güte als Sieger im Krieg 277 Für eine metapoetische Deutung des Wortes surgere (neue Kriege rufen auch immer neue Epiker hervor, die in ihren Gedichten die Heldentaten vollbringen lassen), das auch für den Dichtungskontext zu belegen ist (Stat. Theb. 10,445f., Verg. ecl. 10,75), s. SCHMITZ 2017, 17, Anm. 25. 278 BRIGHT 1987, 113 hält auch diese Rede für einen ironischen Ausbruch und gibt an, der Redner wolle eigentlich eine Rückgabe der Hesione erreichen, indem er dem König Telamon vor Augen führe, welch eine Macht Hesione und damit die Trojaner jetzt in seinem eigenen Königreich hätten. Dagegen spricht jedoch eindeutig die BRIGHT selbst irritierende Reaktion Telamons, sowie das angefügte Löwengleichnis (gegen die Ansicht BRIGHTs wendet sich schon SCHETTER 1991, 220 in seiner Rezension). Hinzu kommt die Schilderung der Gefühle des Telamon (286–291), die nicht so wankelmütig scheinen, als ließen sie sich zur Beendigung der Ehe überreden. Ziel des Polydamas ist es allein, den König wieder zu beruhigen und von seinem Zorn abzubringen. Dies tut er unter Anwendung purer Rhetorik. S. dazu unten zur Reaktion des Telamon, S. 343.

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III Kommentar

Im Gegensatz zu Antenor beginnt Polydamas seine Rede nicht frech und fordernd, sondern demütig und zurückhaltend (summissa uoce 327). Dracontius macht diese Zurückhaltung zusätzlich zur Redeeinleitung in den ersten beiden Versen deutlich, indem er die Rede der Euadne, Ehefrau des Capaneus, aus Stat. Theb. 12,546ff. anzitiert: belliger Aegide, subitae cui maxima laudis / semina de nostris aperit Fortuna ruinis (546f.) und dabei wörtlich zu Beginn der Rede das auffällige belliger, im zweiten Vers die Junktur de nostris ruinis übernimmt. Damit stellt der Autor dem Leser die Situation der ‘Thebais’ vor Augen und ruft zu einem Vergleich auf. Euadne macht sich zur Sprecherin der Argiverfrauen in Athen und wendet sich an Theseus mit der Bitte um eine angemessene Bestattung der toten Ehemänner. Er soll sich um die Herausgabe der Toten kümmern, die noch bei Creon in Theben liegen. Es fallen mehrere Parallelen auf: Euadne und nach ihrem Vorbild Polydamas bitten beide um die Herausgabe einer oder mehrerer Personen. Sie wenden sich dafür an jemanden, von dem sie sicher sind, daß er ihnen helfen kann: Theseus ist ein bekannter Kriegsheld, kann also gegen Creon ziehen, was jetzt nötig wäre, und Telamon hat bekannterweise die Hesione als Kriegslohn erhalten. Euadne und Polydamas sprechen ihre Gesprächspartner jeweils mit belliger an. Euadne betont damit das Vertrauen, das sie in die Kriegskunst des Theseus setzt, mit der er auch den jetzt notwendigen Kampf siegreich und vor allem ehrenvoll bestehen wird. Das nämlich stellt sie ihm in Aussicht, das Unglück der Frauen bereitet ihm, Theseus, nun Raum, um viel Ruhm zu erwerben. Bei Polydamas liegen die Dinge anders. Er nutzt die Anrede belliger, und setzt sogleich armipotens daneben, um an die Kriegsbeteiligung des Telamon am ersten Zug gegen Troja zu erinnern. Ihm wird auch kein Ruhm aus einem zukünftigen Krieg zuteil, sondern er hat sich diesen Ruhm bereits in einer vergangenen Schlacht erwerben können. Hauptsächlich, neben den übrigen Anklängen, soll die demütig ehrerbietige Haltung der argivischen Frau in Erinnerung gerufen werden (noch einmal explizit deutlich gemacht in Stat. Theb. 12,587), vor deren Folie die Rede des Polydamas in einen noch deutlicheren Gegensatz zu der des Antenor gestellt werden kann. Der Hauptteil der Rede, der sich an diese schon lenkende Einleitung anschließt, ist fast genau hälftig geteilt. Zunächst dreht der Redner rhetorisch geschickt die von Telamon als absurd dargestellten Verhältnisse279 auf die Situation passend um. Die Schwester des Priamus ist das Beispiel dafür, daß die Trojaner zum Herrschen geboren sind und eben auch als im Krieg Unterlegene zu Königen werden. Der zweite große Teil ist dem Lob des Telamon und seines Verhaltens als Sieger im Krieg gewidmet.280 Der Funktion entsprechend enthält dieser Teil Elemente

279 300ff. Ein Verlierer diktiert gewöhnlich nicht dem Sieger die Auflagen. Den zweiten Punkt des Telamon, daß er zur Auflösung des Ehebündnisses gezwungen werde, nimmt Polydamas vielleicht in 331f. reginam frater honorat, / nos et adoramus auf, wo das Ehebündnis aber höchstens im Hintergrund mitgehört werden kann. 280 Dazu passend sind beide Teile auffällig vom Kontrast zwischen König und Untergebenen, Herrscher und Diener sowie Sieger und Verlierer gekennzeichnet (s. dazu die einzelnen Lemmata).

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der Herrscherpanegyrik,281 wie sie in ähnlicher Form auch in der ‘Satisfactio’ des Dracontius anzutreffen sind. Dazu ist besonders auf die Verse satisf. 125–136 zu verweisen, in denen der gnädige Umgang des Herrschers mit im Krieg Unterlegenen thematisiert wird.282 Es darf von dieser Beobachtung ausgehend weiterhin geprüft werden, ob sich weitere Parallelen zum großen Rechtfertigungsgedicht finden lassen und die Polydamas-Rede vielleicht sogar eine dracontianische ‘Satisfactio’283 im Kleinen sein könnte. Beide Äußerungen verfolgen ein Ziel, das die Sprecher ohne die Hilfe oder das Einsehen ihrer Adressaten nicht erreichen können. Ausgangspunkt beider Rechtfertigungen ist ein Fehler: Bei der echten ‘Satisfactio’ der verbale Fehltritt des Dracontius selbst, in der Rede des Polydamas der seines Vorredners Antenor. Die Reaktion darauf war von beiden Gegenübern dieselbe: Unermeßlicher Zorn (ira 285. 291, satisf. 142. 147 u. ö.). Es finden sich nun neben der vergleichbaren Grundkonstellation weitere ähnlich angelegte Elemente in beiden Texten, die jeweils zu einer Versöhnung des Zornigen führen sollen.284 Dabei wäre zunächst auf die grundsätzliche Anerkenntnis eines Fehlers hinzuweisen, die bei Dracontius selbst sehr deutlich hörbar ist,285 bei Polydamas eher versteckt. Dieser Anerkenntnis gesellt sich

281 Sie findet in den verschiedensten literarischen Gattungen Anwendung; im Epos begegnet sie von Anfang an (Hom. Od. 19,109–114; s. auch JOACHIM DINGEL: Panegyrik, DNP 9, 240–244, hier 243). 282 WOLFF 1996, z. St. verweist auf die Verse 131–136. Der Dichter selbst kann als Gefangener die Güte gegenüber Kriegsgefangenen bewerten. 283 Das von Dracontius verfaßte Rechtfertigungsgedicht für den Vandalenkönig Gunthamund, der ihn wegen eines heute nicht mehr bekannten Vergehens in den Kerker hat werfen lassen. Der Dichter hat wohl in einem heute verlorenen Gedicht einen fremden Herrscher gepriesen (satisf. 93ff.). Zum Werk und seiner Analyse s. (u. a.) Dracontii Satisfactio with Introduction, Text, Translation and Commentary, ed. von SISTER M. ST. MARGARET, Phildadelphia 1936, SCHETTER 1990, FABRIZIO COMPARELLI: La satisfactio di Draconzio. 1, Schol(i)a 2003 5,2: 111–141 [Text, Übersetzung und Kommentar vv. 1–54], ders.: La satisfactio di Draconzio. 2, Schol(i)a 2003 5,3: 107–120 [Text, Übersetzung und Kommentar vv. 55–108], ders.: La satisfactio di Draconzio. 3, Schol(i)a 2004 6,1: 43–51 [Text, Übersetzung und Kommentar vv. 109–154], ders.: La satisfactio di Draconzio. 4, Schol(i)a 2004 6,2: 137–146 [Text, Übersetzung und Kommentar vv. 155–195], ders.: La satisfactio di Draconzio. 5, Schol(i)a 2004 6,3: 73–81 [Text, Übersetzung und Kommentar vv. 196–232], ders.: La satisfactio di Draconzio. (Fine), Schol(i)a 2005 7,1: 121–132 [Text, Übersetzung und Kommentar vv. 233–316], LAVINIA GALLI MILIĆ: Stratégies argumentatives dans la Satisfactio de Dracontius, in: HENRIETTE HARICH-SCHWARZBAUER / PETRA SCHIERL (Hrsgg.): Lateinische Poesie der Spätantike, Internationale Tagung in Castelen bei Aust, 11.–13. Oktober 2007, SBA 36, Basel 2009, 245–266. 284 Der erste Teil der ‘Satisfactio’, in dem sich Dracontius an Gott wendet und unter gewissen Umständen den König mit Gott parallelisiert, hat in der Polydamas-Rede hierbei natürlicherweise keine Entsprechung, weil es sich beim ‘Raub der Helena’ im Gegensatz zur ‘Satisfactio’ nicht um ein dezidiert christliches Gedicht handelt. Selbstverständlich mußte auch die Länge der Rede des Polydamas in einem maßvollen Verhältnis zum Gesamtgedicht stehen, so daß einzelne Elemente wie beispielsweise der Vergleich mit anderen Personen und Herrschern (satisf. 149ff.) kein Gegenstück erhalten konnten. 285 Satisf. 91–96. In unserem Gedicht beschränkt es sich auf captiuam repetit, reginam frater honorat / nos et adoramus (331f.).

334

III Kommentar

dann eine gewisse Rechtfertigung hinzu.286 Die Übereinstimmung hinsichtlich der Herrscherpanegyrik ist oben schon erwähnt worden. Gestützt wird die These einer beabsichtigten Parallelisierung beider Texte zudem durch das Löwengleichnis, das in der ‘Satisfactio’ nach dem Lob auf das Verhalten des Königs Gunthamund gegenüber seinen Gefangenen eingesetzt ist (137– 146). Auch in Romul. 8 ist es an die paränetischen Aussagen der Polydamasrede direkt angeschlossen. An beiden Stellen handelt es sich inhaltlich um das Gleichnis eines vom Jäger zum Zorn gereizten Löwen, der, sobald er die Wehrlosigkeit des Angreifers wahrnimmt, vom Zorn abläßt.287 Trotzdem muß hier schon ein detaillierterer Blick über die Rede hinaus getan werden. Das Löwengleichnis an unserer Stelle ist von einem entscheidenden Unterschied gekennzeichnet. Der Jäger wird hier mit dem Adjektiv sollers (357) charakterisiert und ist zudem keineswegs von Angst erfüllt.288 Dadurch wird klar, daß der Jäger, also Polydamas, genau weiß, was er tun muß, um den Zorn des Löwen, also Telamons, zu beschwichtigen.289 Die bewußte Handlung wiederum ist in sponte cadit (358) mitgeteilt.290 Mit diesem Wissen und dem angemessenen Verhalten ist Furcht unnötig, weil keine ernsthafte Gefahr droht.291 So läßt sich doch hier ein Hinweis auf eine berechnende Haltung des Polydamas finden. Er scheint nicht bittflehend das Schlimmste – einen Krieg – abwenden zu wollen, sondern, sich auf die rhetorischen Fähigkeiten verlassend, denselben eher arrogant zu verhindern,292 was von Telamon aber offensichtlich nicht bemerkt wird.

286 Satisf. 97f. (der Hinweis auf das Volk Israel, das, obwohl es Gott kannte, das goldene Kalb angebetet hat). Als Rechtfertigung der wuterregenden Antenor-Rede lassen sich dann die folgenden Verse verstehen (333–340), die zeigen, daß genau die Situation eingetreten ist, die Telamon spöttisch aus den Worten des Antenor gemacht hatte. Sie schließt sich wie in der ‘Satisfactio’ an die Anerkenntnis des Fehlers an. Diese klingt, wie oben bemerkt in Romul. 8 nur sehr kurz in 331f. an, in den Versen, in denen auch die Unkenntnis der Verhältnisse zwischen Hesione und Telamon eingestanden wird. 287 In der ‘Satisfactio’ kann es nur eine Empfehlung an den Herrscher sein, sich so wie der Löwe zu verhalten, in Romul. 8 kann der Dichter, als in gewisser Weise Herr über seine Figuren, selbst bestimmen, wie Telamon reagieren soll – und läßt ihn wieder versöhnlich gestimmt sein. 288 Dagegen in der ‘Satisfactio’ 141f.: trepidans; … territus et iaceat. Dies beobachtet im Ansatz auch STOEHR-MONJOU 2014, 90. S. auch unten zum Abschnitt direkt. 289 Für die Jagd als rhetorische Metapher s. STOEHR-MONJOU 2014, 89f. Sollers kennzeichnet auf der Realebene die Redekunst des Polydamas. 290 S. den Kommentar zu 358. Es ist eine Reminiszenz an Lucan. 4,642, mitten im Kampf zwischen Herakles und Antaeus, die diese Interpretation stützt. 291 Ob man von hier ausgehend für Dracontius ein Verständnis von Rhetorik, die alles vermag, annehmen darf, müßte an weiteren Stellen untersucht und überprüft werden. 292 Hier wäre zunächst der dauerhafte Herrschaftsanspruch der Trojaner zu nennen, den Polydamas ausführlich darstellt (336ff.) und den für gewöhnlich kein Volk für sich postulieren kann. Hinter dem zwar auf den ersten Blick positiv zu verstehenden, weil es das außerordentlich glückliche Schicksal der Priamusschwester betont, non sic, si Troia maneret / nuberet Hesione (332f.), mögen auch zweierlei Kritikpunkte mitzuhören sein: Zum einen die Tatsache, daß Troja von der Hand des Telamon zerstört wurde; zum anderen läßt sich vielleicht auch eine implizite Zurückweisung der Mitgiftforderung (313–315) erkennen.

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Nun bleibt noch, über das Genus der Rede, mit der sich Polydamas an Telamon wendet, nachzudenken. ROMANO 1959, 36 bezeichnet sie als „una vera e propria suasoria“, mit der der Redner es argumentativ schaffe, den Zorn Telamons zu mildern. Dies muß leicht modifiziert werden. Daß er geschickt argumentiert,293 steht natürlich außer Frage, aber die Rede steht nicht allein, sondern reagiert sowohl auf die direkt vorausgehende des Telamon als auch auf die des Antenor. Für den ersten Redner wirkt Polydamas eher wie ein Verteidiger, wie oben gesehen. Damit scheint eine Art Subgattungsmischung vorzuliegen. 327 Polydamas Mit seinen drei Kürzen paßt dieser Name normalerweise nicht in einen Hexameter. Dracontius längt das erste ‘a’ und kürzt das zweite. Üblicherweise längen die Dichter sonst das ‘o’ (wie Ov. met. 12,547; s. WOLFF 1996, z. St.). summissa uoce profatus Für die Junktur vgl. Ov. met. 7,90 submissa uoce rogauit (Jason bittet Medea um Hilfe), Epiced. Drusi 289, Cic. Flacc. 66, Lydia 6 (= Dirae 109), Stat. Ach. 1,867 admotus lateri submissa uoce: quid haeres?, Mart. 8,75,11 submissa uoce precatur, Iuvenc. 2,179 submissa uoce profatur (Nikodemus spricht zu Jesus in der Nacht), Sedul. carm. pasch. 2,195. ait … profatus WOLFF 1996, z. St. vermutet den Ursprung dieser redundanten Formulierung in einem homerischen Ausdruck der Art φωνήσας προσηύδα. Eine Synonymenhäufung von Ausdrücken des Redens (hier ait, profatus, uoce) begegnet häufiger in epischen Einleitungsfloskeln (s. für eine Untersuchung bei Vergil SANGEMEISTER 1978, 20f.). 328 belliger armipotens Polydamas betont in seiner Anrede an Telamon dessen Kriegstüchtigkeit durch zwei synonyme Adjektive; die Königswürde erwähnt er erst danach (329). Gleicher Versanfang Orest. 250 (Klytaemestra beginnt so eine hinterhältige Rede an Agamemnon). Das vergleichsweise seltene Adjektiv belliger findet sich vor Dracontius nur bei Statius (silv. 4,3,159; 5,2,33, Theb. 12,546 s. dazu oben die Einleitung zum Abschnitt) und Silius (3,398; 13,532) alleinstehend. Bei Dracontius wird es an den übrigen Stellen mit Personen oder Dingen gebraucht (laud. dei 3,483, Romul. 5,265; 8,47; 9,32. 71, Orest. 173). Das Adjektiv armipotens begegnet deutlich früher und häufiger (Acc. trag. 127 TRF Ribbeck = 260 Dangel), bei Dracontius selbst noch satisf. 200. animarum iudicis heres Telamon als Sohn des Aeacus, einer der Unterweltsrichter, begegnet in der ‘Ilias’ noch nicht (s. EMIL WÖRNER: Aiakos, ROSCHER 1, 1, 109–114, JOHN BOARDMAN: Aiakos, LIMC I 1, Zürich / München, 1981, 311–312). Pindar kennt das Verwandtschaftsverhältnis (Pyth. 8,100), seit dem es stets weiter zu belegen ist (Isokr. 9,16, Ov. met. 7,476f.; 13,151f., Hyg. fab. 14). Die Junktur iudex animarum ist singulär, explizit als iudex wird Aeacus Prop. 4,11,19 und Cic. Tusc. 1,98 bezeichnet. BRIGHT 1987, 112 erkennt eine Übertragung des Amtes des 293 Besonders das rhetorische Spiel mit Herrscher und Besiegtem ist dabei nochmals hervorzuheben (BOUQUET 1996, 249f.).

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III Kommentar

Aeacus auf den Sohn Telamon, der nun über Troja und dessen Zukunft richten soll. Jedoch klingt eher die Technik des Hymnus an, bei dem neben den positiven Eigenschaften auch die Abstammung der gepriesenen Person thematisiert wird. Heres im Sinne von filius begegnet seit Verg. Aen. 4,274 (für weitere Beispiele s. ThLL VI 3,2654,43ff.); bei Dracontius z. B. noch Orest. 307. 545. 845. 329 cui de nostris est gloria summa ruinis Der Relativstil der Prädikation klingt an und dient der schmeichelnden Ausdrucksweise dieser Rede. Gerahmt von nostris … ruinis sind die Ehrenbezeugungen, die Telamon für den Sieg über Troja erhalten hat, betont in die Mitte gestellt und damit auch optisch herausgehoben. In eindrucksvollem Gegensatz ist auch das Adjektiv summus den in der Vorstellung am Boden liegenden ruinae gegenübergestellt. Die freie Verwendung von de mit Ablativ begegnet im Spätlatein sehr häufig. Hier handelt es sich wohl anders als in 167 eher um einen Ablativus causae (H-S 126). S. auch oben die Einleitung zum Abschnitt (S. 332) für den Vergleich mit Stat. Theb. 12,546ff. 330 temperet inuidia, frangat dolor, ira quiescat Zu beachten ist der auffällige Versbau, durch den kurz und prägnant der rationale Wunsch des Polydamas ausgedrückt wird: Bevor eine ernsthafte Verhandlung beginnen kann, muß sich Telamon wieder beruhigen. Haß, Schmerz und Zorn sind zerstörerische Affekte, die einem vernünftigen Gespräch entgegenstehen. Ira erhält in dem ohnehin schon auffälligen Vers eine besonders markante Stellung, denn als einziges Substantiv steht es vor seinem zugehörigen Prädikat. Von Zorn war Telamon seit der Rede des Antenor beherrscht (285. 291), der soll sich nun durch die Worte des Polydamas legen. Die beiden anderen Affekte inuidia und dolor mögen unterschwellig auch bei Telamon wirken, sie sind aber hauptsächlich als Gefühlsäußerungen des Priamus (dolor 278) und gegen Priamus (inuidia 280) von Antenor genannt worden. So mag sich Polydamas mit seinen Worten gleich zu Beginn der Rede von der seines Mitlegaten abgrenzen und das, was dieser vorgebracht hat, aus dem Blickfeld entfernen wollen. Hinzuweisen ist außerdem auf die Tatsache, daß in diesem Vers mit temperantia, inuidia, dolor, ira und quies / tranquillitas gleich fünf philosophische Begriffe miteinander verknüpft werden, mit denen auch auf dieser Ebene an die Einsicht des Königs appelliert werden könnte. temperet inuidia Das transitive Wort temperare ist hier aktiv für ein Reflexiv oder ein Passiv bzw. intransitiv verwendet (s. dazu BLAISE 1955, 127; ROSSBERG 1887 [a], 46). Für die seltene Verbindung der beiden Worte Ambr. epist. 10,75a,30 = Ambr. c. Aux. 30 inuidiam ego temperandam arbitror, Ennod. opusc. 3, p. 337, 22 inuidia temperetur. frangat dolor Für die sehr späte und nur vereinzelt belegbare intransitive Verwendung von frangere s. ThLL VI 1,1251,25ff. In übertragener Bedeutung steht unsere Stelle allein (ThLL VI 1,1251,33f.; vgl. aber für den Sinn Sen. dial. 6,1,8 [sc. dolor] frangendus est). Gut belegt und geläufig ist die umgekehrte Aussage, daß jemand

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oder etwas vom Schmerz gebrochen werden kann (Cic. fin. 2,95, Tusc. 2,20. 31. 66, [Tib] 3,2,6, Lact. inst. 7,12,18). ira quiescat Einzige Belegstelle für diese Wendung findet sich Vulg. Ex. 32,12 quiescat ira tua, mitten in einer Bittrede des Mose an Gott, nachdem dieser zornig geworden ist, weil er sah, wie das Volk Israel das goldene Kalb gegossen hat. Es ist also verständlicher Zorn, der Gott erfaßt hat. Mose beugt sich dem stellvertretend für das Volk, obwohl er selbst am Auslöser des Zornesausbruchs nicht beteiligt ist. Die Situation ist im Ansatz zu der hier beschriebenen vergleichbar. Auch Telamons Zorn ist nachvollziehbar und auch Polydamas tritt vor diesem für die Gesandtschaft ein, auch wenn er selbst keine Äußerungen gemacht hat, die Zorn hervorrufen könnten. Der Gedanke auch Romul. 9,142 iram depone. Für die Verbindung der Affekte vgl. Romul. 7,76 it dolor, ira redit. 331f. Hauptfunktion der folgenden eineinhalb Verse ist die Relativierung und Richtigstellung der Aussagen des Antenor. 331 captiuam … reginam Sind Prädikatsnomina zu einem mitzudenkendem Hesionem. Der Gegensatz zwischen Sklavin / Gefangener und Herrscher wurde schon vorher gezogen: captiua tenetur / me regnante soror 227f., sororem, / reddideris regi, quae nunc captiua tenetur 272f. Für die Wortwahl und die in der ganzen Stelle immer wieder begegnende Antithetik zwischen Sklave und Herrscher ist auch Orest. 749 zu vergleichen (über Andromache): cum regina Phrygum fieret captiua Pelasgum. repetit Repetisse in diesem Zusammenhang schon 277. frater Polydamas betont das Verwandtschaftsverhältnis von Priamus und Hesione, nicht die Königsherrschaft des Priamus. 331f. honorat / … adoramus Über den Unterschied zwischen honorare und adorare schreibt Augustin c. Arrian. 23,19 honorat … omnis, qui adorat, non autem adorat omnis, qui honorat. Der gesellschaftlich höhergestellte König Priamus honorat seine Schwester, auch wenn sie eine Königin geworden ist. Die Gesandtschaft steht unter den Königen; so kann man ihr Verhältnis gegenüber der Königin mit adorare charakterisieren. Für honorare bei Personen s. ThLL 6,3,2942,56ff.; für adorare im Sinne von ‘verehren’ s. ThLL 1,821,9ff. 332f. non sic, si Troia maneret, / nuberet Hesione In seiner Absicht, die Rede des Antenor richtigzustellen, betont Polydamas als erstes das für die Trojaner vermutlich einzige positive Resultat aus der Zerstörung ihrer Heimatstadt: Hesione, die Schwester des Königs, also aus dem Königsgeschlecht stammend, konnte überaus standesgemäß heiraten (hier mit sic ausgedrückt). In den folgenden Versen führt der Gesandte wortreich alle Aspekte, die diese Heirat mit sich bringt, in ihren Einzelheiten aus. Es mag an dieser Stelle gleichzeitig die Forderung einer Mitgift in freundlichen Worten und eher nebenbei zurückgewiesen werden. Denn si Troia maneret läßt an 315, den Schluß der Forderung, denken (der Irrealis der Gegenwart läßt sich erklä-

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III Kommentar

ren, wenn man für manere eine Bedeutung in Richtung ‘jetzt noch bestehen’, das bis in die Gegenwart wirkt, annimmt). Eine Mitgift hätte Telamon nicht erhalten, weil er Hesione dann gar nicht geheiratet hätte. 333 regnum captiua meretur Vgl. für den Gedanken Curt. 9,1,7 neque enim aut sine regio imperio uicturum aut regnaturum esse captiuum, Iuv. 7,201 seruis regna dabunt, captiuis fata triumphum. Mereri in der Bedeutung ‘erhalten, geschenkt bekommen’, s. ThLL VIII 805, 82ff. 334 fit felix de sorte mala, fit praeda potestas Dieser Vers ist auf Ov. met. 13,485 (sc. Hecuba) nunc etiam praedae mala sors zurückzuführen. Bei Ovid sind beide Abstracta pro concreta persona miteinander verbunden: „,das (gezogene bzw. zu ziehende) Los(anteil)‘“ (JAKOBI 1988, 19f., Anm. 37, anders BÖMER 1982, 324) und auf Hekabe bezogen. Dracontius trennt sie und macht zwei Aussagen daraus. Sors mala ist dann allgemein als schlimmes Schicksal in der Gefangenschaft zu verstehen, ein Aspekt davon wiederum ist es, Beute des Siegers zu sein. Inhaltlich läßt sich ebenfalls eine Parallele herstellen: Das Schicksal der beiden Frauen im weiteren Geschehen um den trojanischen Krieg hebt sich voneinander deutlich ab, was Dracontius dadurch betont, daß er Ovid als Folie unterlegt. Hekabe erleidet tatsächlich das Schicksal, das eine Frau normalerweise im Krieg erleidet: Sie erlebt den Tod der Kinder und Verwandten, sie verliert alles und wird zur Kriegsbeute. Hesione hätte das alles passieren können, und die Gesandtschaft erwartet, daß es so geschehen ist. Dadurch, daß sie nun aber sieht, wie es sich in Wahrheit verhält und Polydamas dies in seiner Rede aufgreift, wird auch Telamon (zumindest gegenüber den wissenden Lesern) deutlich von den wütenden Teilnehmern am zweiten Krieg gegen Troja abgegrenzt. Die Bedeutung der Präposition de, die eine Änderung der Gegebenheiten ausdrückt, findet sich häufig bei Dracontius. Für eine Zusammenstellung der Belegstellen bei Dracontius s. VOLLMER MGH 336, bei anderen Autoren s. ThLL V 1,59,49ff. Für praeda als Bezeichnung einer Person, s. ThLL X 2,525,31ff. Metonymische Verwendung von potestas (ThLL X 2,321,66f.). Subjekt zu fit ist Hesione, die Substantive sind prädikativ zu fassen, wobei im letzten Glied nach verbaler und adjektivischer Formulierung die größte Abstraktion erreicht wird. Für die Wortwahl vgl. Romul. 2,107 felix sorte sua. 335 imperium de clade tenet Imperium tenere ist eine prosaische Wendung (z. B. Cic. Manil. 53, ThLL VII 1,577,61). Für die Bedeutung von de s. zu 334 (dagegen WOLFF 1996, z. St., der de anstelle von pro versteht). Vgl. laud. dei 2,121 praestatur de clade salus, Romul. 5,218 meruit de clade triumphum, 9,227 praestatur de morte salus. diadema tiara Vgl. als einschlägige Stelle Suet. Nero 13,2 dein precanti tiara deducta diadema inposuit (s. dazu KIERDORF 1992, z. St.). Die Tiara ist als turbanoder der phrygischen Mütze ähnliche Kopfbedeckung typisch für die Völker des Ostens (auch von Königen getragen). Das Diadem hingegen ist eindeutig ein hellenistisches Königszeichen (Tac. ann. 15,29,1 insigne regium). Dracontius bezieht

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sich möglicherweise direkt auf Sueton, der an dieser Stelle beschreibt, wie Nero den armenischen König Tiridates wieder in sein Amt einsetzt, das er zuvor durch einen römischen Vasallenkönig verloren hatte. Die Parther konnten die Herrschaft zurückerobern, allerdings nur unter der Bedingung, daß der alte König Tiridates durch Nero gekrönt wird. Ähnlich verhält es sich hier, wenn Telamon der besiegten Hesione aus königlicher Familie für ihre heimattypische Kopfbedeckung das Herrschaftszeichen aufsetzt und sie zur Königin macht.294 336 tulit Für abstulit gebraucht (vgl. für die Verwendung ThLL VI 1,554,40ff.). 336b–340a Ähnlich wie Antenor (260ff.) hat Polydamas vor, dem König Telamon die Sachlage zu erklären und stellt seinen Ausführungen einen Einleitungssatz voran (336b–337a). Dieser Teil der Rede des Polydamas erweckt den Eindruck von erheblicher Arroganz und einem großen Maß an Selbstbewußtsein des trojanischen Geschlechts. Der Gesandte stellt Telamon vor Augen, daß es den Trojanern durch eine Art Schicksalsbestimmung unmöglich ist, jemals unterlegen zu sein (nescit seruire subacta / quam melius regnare decet). Das Moment der Bestimmung und des Schicksals ist durch nescire ausgedrückt – Troja hat es noch nie erlebt, von anderen beherrscht zu sein. Am von Telamon selbst initiierten Beispiel (exhinc weist darauf voraus) will Polydamas ihm diese festgeschriebene Notwendigkeit deutlich machen: Hesione (haec 338) ist durch die Heirat mit Telamon Königin geworden und herrscht nun über einen Teil Griechenlands, von dem sie eigentlich unterworfen worden war (dieser Interpretationsansatz bei WOLFF 1996, z. St.). Griechenland hat sie sich, obwohl siegreich, nicht zu einer Sklavin, sondern zu einer Herrin erwählt. Mit dieser Sicht der Dinge relativiert und erklärt Polydamas die spöttisch-absurden Gedanken, die Telamon der Antenor-Rede über das Verhalten von Siegern und Verlierern entwickelt (300–309). Im Grunde aber nimmt er genau diese Absurditäten für das trojanische Volk an, als eine Art Ausnahme, die schicksalhaft sein muß. Aufs Ganze gesehen verhält sich Polydamas nicht viel anders als Antenor, wenn er den ungebrochenen Herrschaftsanspruch der Trojaner so betont.295 Er nimmt dem nur durch die Anlage seiner Rede, die Wortwahl und vor allem durch die Einkleidung des selbstbewußten Anspruchs in eine alles überstrahlende Panegyrik des Telamon seine größte Schärfe. 336 Dardana Ausschließlich vergilisch scheint es zu sein, eine Form von Dardanus an diese Stelle des Verses zu setzen (Verg. Aen. 3,167. 503; 4,365; 5,119; 6,650; 294 Der Bezug auf Sueton ist recht wahrscheinlich, da dieser Autor in der Spätantike bewußt und oft rezipiert wurde (man denke nur an die von Ausonius in Epigrammen verfaßte Kurzform der Kaiserviten), s. dazu DENNIS PAUSCH: Sueton, DNP Suppl. 7, 947–956. 295 Dies rückt seine Rede ein wenig in die Nähe der des Gottes Apoll (193–199; WOLFF 1996, z. St.).

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III Kommentar

7,219). Außerdem findet sich in Verg. Aen. 3,503; 4,365 und 6,650 die zu Dardana rector ähnliche Verbindung Dardanus auctor. 337 exhinc Vorausweisend; begegnet in dieser Bedeutung bei Erklärungen nur sehr vereinzelt seit Ps. Orig. de Melch. 1 l. 16, s. ThLL V 2,1437,68ff. nescit seruire subacta Auch das Partizip subacta ist in die Verneinung durch nescit eingeschlossen. Für seruire subacta vgl. laud. dei 1,583 corpora corporibus seruirent cuncta subacta. 338 melius regnare decet Melius steht für magis oder potius, wie auch 348 (melius … regnant), Orest. 227. 762 (VOLLMER MGH 323, ThLL II 2124, 48ff., WOLFF 1996, z. St.). haec imperat Argis Mit dem deutlich betonenden Demonstrativpronomen haec wechselt das Subjekt von der gens Dardana zu Hesione (dagegen behält WOLFF 1996, z. St. in seiner Übersetzung die gens Dardana als Subjekt bei. Aber die Betonung des haec deutet auf Hesione als eine beispielhafte Person aus dieser gens, die die Behauptung belegt. Domina und famula 339f. bezeichnen in jedem Fall Hesione). Für Argos, das nicht nur die Stadt selbst, sondern ganz Griechenland (Graecia uictrix 339) bezeichnen kann, s. KONRAD WERNICKE: Argos 1), RE 3, 787f. und MARIANA MALAVOLTA: Argo, EV 1, 308–309. Für die Verbindung vgl. Acc. frg. inc. fab. 55 / 15R3 en impero Argis. 339 per quos uicta perit Gedanklich zu ergänzen ist ein ‘auf den ersten Blick’, da Hesione dann die Herrschaft übernommen hat. Per quos für a quibus, vgl. Romul. 4,12 per nos … bella geruntur, laud. dei 2,289 per nos elementa petuntur (MAILFAIT 1902, 119). Perit ist durch Kontraktion aus periit entstanden (so noch 375, laud. dei 1,479; 3,491, s. VOLLMER MGH 344 und NEUE / WAGENER 3, 446f.). Graecia uictrix Die Junktur begegnet noch Sen. suas. 5,2, Sen. Ag. 220, wenn es dort nicht ultrix heißen muß (ZWIERLEIN 1993 OCT). Vielleicht hat Dracontius hier an eine Umkehrung des Motivs der Graecia capta ferum uictorem cepit (Hor. epist. 2,1,156) gedacht. 339f. dominam … / … famulam Die Verbindung der Worte begegnet zuhauf in der lateinischen Literatur. Domina ist betont gleich an den Anfang des Satzes gestellt, so daß der Inhalt auch im Versbild sichtbar wird. 340 ouans Steht hier (vielleicht in leicht konzessiver Bedeutung) wie öfter als Epitheton des triumphierenden Siegers (s. ThLL IX 2,1197,71ff., bei Dracontius noch Romul. 2,95 auf Herkules bezogen; in anderer Funktion 230). 340f. miranda per orbem / mens generosa ducis Per orbem ‘über den Erdkreis hin’ ist ein beliebter Versschluß des lateinischen Hexameters. Die Junktur mens generosa im Gedicht schon 105 (von Priamus). Gewirkt haben dürfte die Verbindung Ov. trist. 3,5,32, an das sich direkt ein Gleichnis eines großmütigen Löwen

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anschließt. Sonst Sen. Tro. 1064, Paul. Nol. carm. 22,79. Generosus ist als philosophischer Begriff Kennzeichen eines edlen Herren (ULRICH KNOCHE: Magnitudo animi. Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung eines römischen Wertgedankens, Leipzig 1935, LUCK 1977, 194). Mens ist die charakterliche Haltung des Telamon, die sich in seinen Taten äußert (ThLL VIII 727,18ff.). Das hier noch allgemein gehaltene ducis wird spätestens 342 durch uirtute tua eindeutig Telamon zuzuweisen sein. Solch einen Wechsel von der dritten zur zweiten Person innerhalb der Konstruktion findet man auch 300–304. 341 regna grauare Die hier geforderte Bedeutung von grauare (‘unterdrücken, zu schaffen machen, schaden’) ist fast ausschließlich auf die Spätantike beschränkt (Ausnahmen Sen. Phoen. 235, Stat. Theb. 11,16, s. ThLL VI 2,2311,46ff.). Auf diese vor Dracontius nicht belegte Verbindung mit regnum (nach ihm und prosaisch Iord. Get. 259) mögen vielleicht folgende Stellen nicht inhaltlich, aber klanglich und durch das Wortmaterial beeinflussend gewirkt haben: Sen. Oed. 679 tam grauia regna (von Oedipus selbst, wobei nicht ‘Belastung’, sondern ‘Bedeutung’ gemeint ist, s. TÖCHTERLE z. St.), Thy. 612 omne sub regno grauiore regnum est, Phoen. 598 in seruitutem cadere de regno graue est; Lucan. 5,258 seque putat solum regnorum iniusta grauari. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch Rufin. Orig. in Rom. 5,6 p. 1035 non diabolum cuius regnum graue est. 342 cum ruerint uirtute tua Erinnert an den Anfang der Rede rex cui de nostris est gloria summa ruinis 329. 342f. releuare iacentes / et reges regnare iubes regesque creare Es ist mit WOLFF 1996, z. St. eine Reihe von Infinitiven (releuare, regnare, creare in klanglich auffälliger Gestaltung, BRIGHT 1987, 113) in Abhängigkeit von iubere (mit Infinitiv s. ThLL VII 2,577,64ff.; das regierende Verb bestimmt den Vers durch seine Mittelstellung) zu konstruieren; die letzten beiden sind als AcI zu verstehen („du befiehlst, daß Könige herrschen und daß Könige Könige hervorbringen“). Im ersten Fall ist reges als Subjektsakkusativ, im zweiten Fall als Akkusativobjekt verwendet. In allen drei Aussagen kann und soll die Geschichte der Hesione mitgehört werden, die aus der Niederlage der Trojaner aufgerichtet wird, durch ihre Ehe mit Telamon wiederum zur Königin wird, und mit ihrem Sohn Ajax für das Fortleben ihres Geschlechtes sorgt. Iacentes ist am ehesten auf reges aus dem folgenden Vers zu beziehen (die Alternative wäre ein allgemein-unbestimmtes iacentes anzunehmen). Die Verbindung läßt sich auch laud. dei 2,696 erigit elisos, releuat tua (sc. dei) dextra iacentes belegen. 344 dum possent seruire tibi Adversatives dum begegnet nur vereinzelt; beginnend schon im Altlatein ist es bis in die Spätantike belegbar, wobei erst dort der Konjunktiv bei indikativischem Hauptsatz eintritt (H-S 615; ThLL V 1,2220,63ff.).

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III Kommentar

344f. sors cassa duelli / … uacat Durch Hinzusetzung des cassa (für die Bedeutung s. ThLL III 521,5ff., unsere Stelle 522,1) wird eine singuläre Verbindung geschaffen, die das bisher über Telamons Verhalten im Krieg Gesagte illustriert. Die sors belli dürfte ganz allgemein und unbestimmt das Schicksal im Krieg meinen (KREBS-SCHMALZ II 590), egal ob ein glückliches oder ein unglückliches, das unter dem Einfluß des Telamon unwirksam wird. Dabei dürfte cassus resultativ gemeint sein und wirkt zusammen mit uacare redundant. Vgl. besonders Orest. 110 ducem ditatum sorte duelli (meint den Erfolg des Agamemnon im trojanischen Krieg, bei dem – im Gegensatz zu Telamon – der Krieg und sein Ausgang eine große Bedeutung besitzen). Duellum außerdem noch laud. dei 3,370 de clade duelli, Orest. 388 uos sic minuit saeuis Bellona duellis. Die Verbindung sors belli findet sich außerdem Anth. 462 R. = 460 Sh.-B.,10 und Manil. 5,302 (hic [sc. Philoctetes] sortem pharetra Troiae bellique gerebat). 345 te moderante Zu diesem Ablativus absolutus vgl. Claud. 21,162–164: in quo tam uario uocum generumque tumultu / tanta quies iurisque metus seruator honesti / te moderante fuit. Vergleichbar ist die Stelle, weil sie panegyrisch eine Person, und zwar Stilicho, aus dem Kriegsgeschehen herausgreift und ihn als Ruhepol und positives Element der Situation kennzeichnet. bella nocere Die Junktur scheint singulär zu sein, es sind nur Belege zu finden, bei denen bella im weitesten Sinne am nocere beteiligt sind; davon ist der Schritt zu bella nocere aber nicht mehr weit: Manil. 3,14 non annosa canam Messenes bella nocentis, Lucan. 2,259 facient te bella nocentem. 346 te uincente Der zweite Ablativus absolutus, erneut am Versanfang, erneut mit te beginnend, wirkt pathetisch und panegyrisch und hebt Telamon als den heraus, der als einziger Sieger so milde und gnädig mit den Unterlegenen umgeht. Der gleiche Versanfang Lucan. 5,267. potens Substantiviert, für einen Herrscher, s. ThLL X 2,280,7ff. Ebenso hatte auch Antenor den König 268 angesprochen. Für die Interpunktion hinter potens (ZWIERLEIN BT) spricht die Parallelität der Satzteile und ihre Verteilung auf die Verse (sors cassa duelli / te moderante uacat und possunt bella nocere / te uincente, potens). 346f. quis nolit uictus in armis / sorte tua post bella capi Für das Bild vgl. mit VOLLMER MGH 165 Claud. 11,27f. qui, cum micantem te prope uiderit, / non optet ultro seruitium pati (Polydamas betont im Gegensatz dazu, daß die Sklaverei unter Telamon keine Sklaverei, sondern Herrschaft ist), 24,342f. ultro se uoluere capi gaudentque uideri / tantae praeda deae (ein inhaltlicher Bezug ist nicht gegeben; bei Claudian werden Löwen beschrieben, die sich freiwillig in die Gefangenschaft begeben, um Teil der großen Spiele anläßlich des Amtsantritts Stilichos als Konsul zu werden; sprachliche Anklänge können jedoch verifiziert werden: nolit – uoluere, capi – capi). Der Versschluß in armis begegnet seit Enn. ann. 222 V. = 213 Sk. immer wieder am Hexameterende. Besonders zu vergleichen ist die in Romul. 5,162 aus

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Homer. 852 übernommene Verbindung uictor in armis, wobei in armis eher ‘im Krieg’ als ‘unter Waffen’ meint. 347 sorte tua M. E. trifft die Übersetzung WOLFFs 1996, z. St. „en partage“ nicht ganz den Sinn der Junktur: Vielmehr scheint sie die oben erwähnte sors aufzugreifen und ebenso wie in armis den Kriegserfolg zu meinen (vgl. für diese Bedeutung Prud. psych. 20 audit propinquum sorte captum bellica), durch den die Feinde besiegt und gefangengenommen werden. Für capere als Terminus für die Gefangennahme bzw. Beutenahme im Krieg s. ThLL III 324,22ff. 347f. qui uicerit hostis, / seruiet, et uicti melius … regnant Die Antwort auf die eben gestellte rhetorische Frage faßt zugleich das ganze paradoxe Gedankengerüst, das Polydamas in seiner Rede entworfen hat und mit dem er die von Telamon als Absurditäten dargestellten Verhältnisse erklärt, zusammen. Der Relativsatz mit Konjunktiv ist verallgemeinernd zu verstehen (H-S 562). Für den Versschluß vgl. Romul. 5,8 uinceret hostis. Für melius s. auch zu 338. 348 te praesule Dieser Ablativus absolutus unterscheidet sich von den anderen beiden (345f.) dadurch, daß er nominal gestaltet ist und nicht als Verseinleitung fungiert. Indem er aber fast den Abschluß der Rede bildet, trägt er zur Rahmung bei: Anfang und Ende der Rede werden von der positiven Hervorhebung Telamons bestimmt. Einzige Belegstelle für praesul bei Dracontius. In der Bedeutung mag praeses (WOLFF 1996, z. St.) mitschwingen (wie beispielsweise Ambr. Noe 16,56 in auctore et praesule domus), gewichtiger aber scheint die Konnotation von ‘unterstützen, begünstigen, hilfreich zur Seite stehen’ (ThLL X 2,948,3ff.; so auch im Ablativus absolutus Symm. epist. 2,90. 5,47, Sidon. epist. 2,1,4, Heptateuchdichter exod. 91). 348–368 Reaktion Telamons. Fest Die Reaktion Telamons wird auf der Realebene in einen beschreibenden Satz gekleidet (regis iam corda tepescunt, / quae fuerant accensa nimis 349f.) und im Anschluß durch ein Gleichnis vom großmütigen Löwen illustriert.296 Dadurch wird dem Redenaustausch ein Abschluß gegeben, der einen weiteren Wortwechsel ersetzt und ohne direkte Rede die Stimmung verdeutlicht.297 Ein ebensolches Gleichnis verwendet Dracontius, wie oben zur Polydamas-Rede schon kurz erwähnt, auch

296 Es ist mit einem Umfang von 12 Versen das längste Gleichnis des Gedichts. Seinen homerischen Charakter legt STOEHR-MONJOU 2014, 84f. dar. Die formalen Kriterien, ein den Vergleich einleitender Ausdruck und eine konjugierte Verbform, seien gegeben, sowie eine ausreichende Länge zur Unterbrechung des Erzählgangs. Zu ergänzen wäre vielleicht ganz grundsätzlich der Anlaß eines Gleichnisses bei Homer. Sie dienen „zur detaillierten mittelbaren Nachgestaltung seelischen Erlebens“ (PATZER 1996, 118, dort eine ausführlichere und leicht anders gewichtete Typisierung homerischer Gleichnisse). 297 STOEHR-MONJOU 2014, 89.

344

III Kommentar

in seiner ‘Satisfactio’.298 Mit der Entscheidung für den Löwen als Gleichnisprotagonisten, das beliebteste Tier im epischen Gleichnis, schließt sich der Dichter an die Tradition des klassischen Epos an.299 Das Gleichnis selbst ist recht deutlich zweigeteilt: 350–356 Der Löwe entwickelt seinen Zorn 357–362 „Ergeben“ des Jägers und gütiges Ablassen des Löwen Das Bild illustriert anschaulich, wie der Zorn des Telamon zustande gekommen ist. Zum Zorn gereizt300 von der selbstbewußt-fordernden Rede des Antenor (im Gleichnis verkörpert ihn der Jäger mit seinem Jagdspieß), hob er selbst zu einer ironischen Äußerung an (im Bild das körperliche Erheben mit Schwanz und Mähne des Löwen sowie sein hörbares Brüllen) und wird wiederum durch eine Rede, nämlich die des Polydamas, beruhigt (im Gleichnis das sichtbare „Ergeben“ des Jägers). Ohne Parallele bleibt die kriegerische Vorgeschichte des Telamon, die in der Anrede belliger armipotens (328) anklingt,301 was aber sicher nicht verwunderlich ist; denn das Gleichnis ist zur Illustration der ganz konkreten Situation gesetzt, des Entstehens und Abklingens von Zorn, so daß die Vorgeschichte (die für dieses Detail auch bei Telamon von nicht allzu großer Bedeutung ist), keine Rolle spielt. Ob das Gleichnis allerdings als „politisch“302 zu bezeichnen ist, muß m. E. differenziert betrachtet werden. Freilich ist es in einer eher politischen als kriegerischen Situation gebraucht, aber dies ist auf der Gleichnisebene nicht zu unterscheiden. Eine Auseinandersetzung zwischen Jäger und Löwe muß automatisch kriegerisch sein – sie ist hier nur nicht zu Ende geführt. Das tertium comparationis ist allein das Verhalten: Zum Zorn gereizt werden, aber dann doch aus Erbarmen von einer heftigen Reaktion absehen. Dafür ist der Löwe das geeignete Beispiel.303 Die Besonderheit des Gleichnisses, wie Dracontius es hier darstellt, im Unterschied zur sonstigen Verwendung des Bildes (s. unten) ist die Charakterisierung des 298 S. oben auch für die Idee der Polydamas-Rede als ‘Satisfactio’ im Kleinen (S. 331). 299 Die Interpretation von STOEHR-MONJOU 2014, daß sich Dracontius mit der Wahl des Löwen direkt in die Spuren Homers und Vergils begebe (mit Verweis auf deren Anrufung im Prooem), geht vielleicht schon einen Schritt zu weit, da er das gleiche Gleichnis auch in einem eher unepischen Zusammenhang für die ‘Satisfactio’ nutzt. Zu Recht vorsichtiger äußert sich BRIGHT 1987, 113, der vermutet, daß Dracontius hier vielleicht homerisch schreiben wollte. Betont werden sollte weniger der Löwe als typisch episches Gleichnistier (zumal er dort auch eher für Mut und Kampfeslust begegnet, vgl. z. B. HERMANN FRÄNKEL: Die homerischen Gleichnisse, Göttingen 1921, 59ff.), als vielmehr, daß sich seine Eigenschaft glänzend zur Illustration des Sachverhalts eignet. Möglicherweise wirkte auch die weite Verbreitung des Tieres gerade in Nordafrika positiv auf die Entscheidung hin (s. dazu ANDREAS WECKWERTH: Löwe, RAC 23, 257–286, hier 258). 300 Der Zorn des Telamon wird 291 und 349 erwähnt. 301 STOEHR-MONJOU 2014, 86, die Anm. 26 auf vergleichbare Löwen bei Homer und Vergil verweist. 302 STOEHR-MONJOU 2014, 86f. 303 23 Mal greift Dracontius zum Bild des Löwen, der sich mit seinen Eigenschaften ‘gefürchtet’, ‘edel’ und ‘gütig’ für Verhaltensgleichnisse eignet (STOEHR-MONJOU 2014, 87).

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Jägers als verschlagen und trickreich.304 Er kennt den schwachen Punkt des Gegners, seine grundsätzliche Güte den Schwachen gegenüber, und nutzt sie aus – angstfrei. Genau das tut auch Polydamas, wenn er Telamon rhetorisch geschickt dazu bringt, vom Zorn abzulassen.305 Naturkundliche Belege für das schonende Verhalten der Löwen306 gegenüber wehrloser oder verletzter Beute finden sich sowohl bei Plinius als auch bei Seneca: Plin. nat. 8,48 leoni tantum ex feris clementia in supplices. prostratis parcit, Sen. clem. 1,5,5 muliebre est furere in ira, ferarum uero nec generosarum quidem praemordere et urguere proiectos. elephanti leonesque transeunt, quae impulerunt; ignobilis bestiae pertinacia est. Aber auch in der Dichtung ist das Bild allenthalben anzutreffen: Ov. trist. 3,5,33f. corpora magnanimo satis est prostrasse leoni, / pugna suum finem, cum iacet hostis, habet, Stat. Theb. 7,529–532 quales ubi tela uirosque / pectoris inpulsu rabidi strauere leones, / protinus ira minor, gaudentque in corpore capto / securam differre famem; 8,124–126 ut leo, Massyli cum lux stetit obuia ferri, / tunc iras, tunc arma citat; si decidit hostis, / ire supra satis est uitamque relinquere uicto, Claud. carm. min. 22,27–31 emollit rabiem praedae mortisque facultas. / praetereunt subiecta ferae, toruique leones, / quae strauisse calent, eadem prostrata relinquunt / nec nisi bellantis gaudet ceruice iuuenci / nobiliore fames.307 Über die Parallelität der Löwengleichnisse in der ‘Satisfactio’.308 und Romul. 8 ist schon zur Polydamas-Rede einiges angeklungen.309 Folgende wörtliche Übereinstimmungen ergeben sich in den Gleichnissen und ihren Ausleitungen:

304 S. dazu oben die ausführliche Auseinandersetzung zur Polydamas-Rede. Die Schlüsselworte sind sollers (357) und sponte cadit (358), sowie die Leerstelle irgendeines Hinweises auf die Angst des Jägers; s. auch den Kommentar. STOEHR-MONJOU 2014, 88 hält ihn schlicht für intelligent. 305 S. dazu oben für die Schlüsselstellen. Dagegen STOEHR-MONJOU 2014, 88f., die von einer ernstgemeinten Reue des Polydamas ausgeht. Einen Einfluß der Rhetorik, in der die Jagd gelegentlich als Metapher genutzt wird (Cic. de or. 2,147, orator 84, Quint. inst. 5,10,20f.), nimmt sie dennoch an, 89f. 306 Die Milde von Löwen stellt auch KELLER 1909, 30ff. heraus. 307 LUCK 1977, 194f. Trotz der offensichtlichen Parallelen und Belegen aus anderen Autoren hält BRIGHT 1987, 113f. Gleichnis und Verhalten des Löwen an unserer Stelle für „silly“. Vgl. auch Hom. Il. 20,170f. οὐρῇ δὲ πλευράς τε καὶ ἰσχία ἀμφοτέρωθεν / μαστίεται, ἑὲ δ’αυτὸν ἐποτρύνει μαχέσασθαι. 308 Dort ist es in den Gedankengang als Abschluß der Bitte um Schuldvergebung, zunächst von Gott (99–116) und dann vom Herrscher selbst (117–136), eingegliedert. S. zum Gleichnis auch COMPARELLI 2004, 49ff., SCHETTER 1989, 395. Ob sich mit Hilfe der Analyse dieses Gleichnisses und den daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen Aussagen über die Chronologie der Werke machen lassen, erscheint zweifelhaft, s. BRIGHT 1987, 200f., STOEHR-MONJOU 2014, 91. 309 S. S. 331. Die Punkte sind bereits herausgestellt worden: BRIGHT 1987, 114, MOUSSY / CAMUS 1985, 207f., SCHETTER 1990, 106f., STOEHR-MONJOU 2014, 90f.

346

III Kommentar

Romul. 8,350–363

satisf. 137–147

sic magna leonis ira fremit, cum lata procul uenabula cernens uenantis crispare manu iam uerbera caudae †naribus† incutiens spargit per colla per armos erecta ceruice iubas, iam tenditur altus dentibus inlisis et pectus grande remugit (flumina tunc resonant, montes et lustra resultant): ast ubi uenator reiecta cuspide sollers sponte cadit pronusque iacet, perit ira leonis, turpe putans, non dente suo si praeda iacebit, (temnit praedo cibos, quos non facit ipse cadauer, ignoscens feritate pia, ueniale minatus uenator si cesset iners): sic rector Achiuus frangitur

sic leo terribile fremit horridus ore cruento  unguibus excussis dente minante neces, acrius iratus crispato lumine ferri,  et mora si fuerit, acrius inde furit at si uenator trepidans uenabula ponat  territus et iaceat, mox perit ira cadens: temnit praedo cibos, quos non facit ipse cadauer  ac ferus ignoscit, ceu satis accipiat, et dat prostrato ueniam sine uulnere uicto  ore uerecundo deiciens oculos. sic tua, regnator, non impia frangitur ira

Die deutlichste Parallele (neben dem Ablauf an sich) ist gewiß der vollständig gleiche Vers in Romul. 8,360 und satisf. 143. Aber auch die Löwendarstellung mit Worten wie fremere und dentes, seine Reizung durch uenabula und das damit in Verbindung stehende crispare, sowie sein Verhalten ignoscere und die Charakterisierung mit ferus bzw. feritas pia sind auffällige Parallelen. Der Löwe steht in beiden Gedichten für einen König, in der ‘Satisfactio’ für den Vandalenkönig Gunthamund, in Romul. 8 für den mythischen König Telamon. Die Jäger sind einmal für Dracontius selbst und zum anderen für Polydamas gesetzt, bei denen sich der größte Unterschied zeigt, wie oben schon kurz erwähnt. Denn der Jäger der ‘Satisfactio’ reagiert vor Angst mit Niederfallen, der Jäger in Romul. 8 verhält sich so aus Schlauheit (sollers).310 Die Tatsache, daß auch die Ausleitungen der beiden Gleichnisse wörtliche Übereinstimmungen aufweisen, unterstützt die Beobachtung der grundsätzlich gleichen Anlage hinsichtlich des Anlasses und des Adressaten: regnator (satisf. 147) entspricht rector (Romul. 8,362), frangitur ira (satisf. 147) entspricht Achiuus / frangitur (Romul. 8,362f.). An diesem, sowohl in ein christliches als auch in ein paganes Gedicht mit fast gleichlautenden Formulierungen übernommenen Gleichnis zeigt sich deutlich, wie unkompliziert der Dichter die beiden Pole ‘pagan’ und ‘christlich’ bedient. Obwohl sie von ihrer Tradition her getrennt sind und Dracontius ihnen auch unterschiedliche Gedichte widmet, scheut er sich nicht, gleiche Motive auf beiden Seiten zu verwenden. Gezeigt werden kann aber auch, daß die moralische Vorstellung, die sich dahinter verbirgt, nämlich das Erbarmen gegenüber Schwächeren und Schuldigern, keine spezifisch christliche ist, sondern eine allgemein gültige.311 Das Löwengleichnis nutzt der Dichter auch in Romul. 5,306–311, wobei die Unterschiede deutlicher sind (markiert sind gedankliche und wörtliche Anklänge an die Verse in Romul. 8): 310 Zu Wirkung und Schlußfolgerung s. oben zur Polydamas-Rede. 311 S. zu dieser Diskussion die Einleitung 3.7.

Hauptteil II: 213–384 Die Salamisgesandtschaft si ratio te nulla mouet, si mente cruenta humana pietate cares, imitare leones, quos feritas generosa iuuat: super arma tenentes ingruere fremitusque dare procul ore cruento nobilis ira solet, subiectis parcere gaudent et praedam rabies contempsit fulua iacentem.

347

310

Auch hier ist der Löwe mit seiner positiven Eigenschaft genutzt, um einen Höherstehenden zu großherzigem Verhalten zu bringen.312 Neben den Selbstzitaten des Dracontius wirken auch Elemente eines Löwengleichnisses aus Lucan (1,205–212) auf die Stelle. Dort illustriert der Dichter die Gemütsstimmung Caesars kurz vor dem Gang über den Rubikon mit einem Löwen. sicut squalentibus aruis aestiferae Libyes uiso leo comminus hoste subsedit dubius, totam dum colligit iram; mox, ubi se saeuae stimulauit uerbere caudae erexitque iubam et uasto graue murmur hiatu infremuit, tum torta leuis si lancea Mauri haereat aut latum subeant uenabula pectus, per ferrum tanti securus uulneris exit.

205

210

Die wörtlichen Anklänge betreffen die Verhaltensäußerungen des Löwen in seinem Zorn. Freilich besitzt das Gleichnis bei Lucan eine andere Funktion und beschreibt auch eine andere Situation als bei Dracontius, so daß sich der weitere Verlauf unterscheidet. Was unser Dichter aber für sich fruchtbar machen kann, leiht er gern bei Lucan an, der zu den häufigeren Zitatengebern zählt. Das Ende des Abschnitts wirkt unwirklich und leicht ironisch. Man veranstaltet ein Versöhnungsconvivium,313 Ajax und Aeneas, deren Kriegstüchtigkeit zugleich betont wird, unterhalten sich und Hesione findet das Gesicht ihres Bruders in dem des Paris wieder. Dafür, daß man gerade kurz vor einem Krieg stand, ist überraschend schnell wieder eine heile Welt entstanden, die zur Dramatik der letzten mindestens 100 Verse in einer merkwürdigen Beziehung steht. Dieser Bruch ist gewiß gewollt; er ist Teil der „Beinahe-Strategie“ des Dichters.314 Einen gewissen parodistisch-ironischen Einschlag erhält die Rolle des Paris in dieser Szene, da er auch bei seinem Auftritt keine aktive Position einnimmt (366– 312 STOEHR-MONJOU 2014, 90. 313 Eine ausführlich gestaltete Gastmahlszene, wie sie für das Epos nicht untypisch wäre (vgl. die umfangreiche Untersuchung von ANJA BETTENWORTH: Gastmahlszenen in der antiken Epik von Homer bis Claudian, Göttingen 2004), bietet Dracontius nicht. Wie schon an mehreren Stellen beobachtet, vermeidet er die intensive Ausgestaltung von Szenen, die in seiner Darstellung nicht der Figurencharakterisierung dienen. 314 BRIGHT 1987, 114f. sieht im Gespräch der Cousins Aeneas und Ajax eine tiefere Bedeutung: Die beiden werden bald zu Kriegsgegnern werden, worin eine Ausformung des immer wieder aufscheinenden Motivs, daß Verwandte zu Feinden oder Gegnern werden, während diejenigen, die sich zunächst als Feinde begegnen, am Ende heiraten, zu lesen sei.

348

III Kommentar

368).315 Damit gleitet der eigentliche Anführer der Gesandtschaft in dieser Szene in die völlige Bedeutungslosigkeit ab. 349 haec legatus ait Am Ausgangspunkt der Gesandtschaft wurde in 225 Paris als legatus bezeichnet, der danach nicht mehr aufgetreten ist, während die übrigen ursprünglich nur Begleiter waren. Die Rollenverteilung hat sich nun umgekehrt. Haec ait ist typisch für die lateinische Dichtung. Vergleichbar ist bei Dracontius noch Romul. 10,327 haec Liber aiebat (Versschluß; wenn nicht mit BÜCHELER agebat zu schreiben ist). corda tepescunt Corda im übertragenen Sinne für den Sitz der Gefühle und Affekte begegnet sehr häufig in der lateinischen Literatur (ThLL IV 933,41ff.), bei Dracontius noch Romul. 10,328 mulcentur iam corda ducis. Vgl. für den Versschluß Orest. 583 corda tepescit. Tepescere in der intransitiven Bedeutung ‘abkühlen’ bei Dracontius laud. dei 3,172f. sed mox tepuere calores / frigidus ignis erat. Im übertragenen Sinne, wie es hier nötig ist, findet sich tepescere beispielsweise noch Lucan. 4,284 cadit ira ferox mentesque tepescunt, Stat. Theb. 12,687 prior ira tepescit (s. auch OLD s. v. 1923,3 „to become less impassioned; [of passion] to cool“). 350 fuerant accensa nimis Verbindung von accendere und cor wohl nur noch Sil. 17,292 accendere corda, aber das Bild erhitzter Gemüter ist freilich nicht ungewöhnlich (für accendere in diesem Zusammenhang s. ThLL I 277,17ff., vgl. auch in der Einleitung zur Telamon-Rede 287 accendunt motus). Die Bedeutung von nimis ist abgeschwächt, so daß es, wie auch Romul. 10,56. 184, in die Richtung von admodum geht (vgl. VOLLMER MGH 379). Die Prädikatsbildung aus einer Perfektform von esse mit PPP findet sich in unserem Gedicht auch 504f., weitere Stellen s. VOLLMER MGH 432 (für diese besonders im Spätlatein auftretende Verschiebung s. H-S 394). sic Sämtliche Gleichnisse in Romul. 8 werden, wenn sie eine Einleitung erhalten, mit sic eingeleitet (STOEHR-MONJOU 2014, 85). S. auch zu 362 und zum Gleichnis im Prooem (24ff.). 350f. magna leonis / ira fremit Enallage: Der Löwe brüllt aus Zorn. Fremere wird häufig von Löwen gesagt, s. ThLL VI 1,1282,2ff. (vgl. auch satisf. 137 leo … fremit). Bei Seneca erfahren wir, daß fremere bei den Löwen Ausdruck für Zorn ist (leones fremunt dial. 3,1,6; vgl. aber auch Sen. Oed. 150 cessat irati fremitus leonis, Val. Fl. 3,237 audit fremitus irasque leonum). Die ira bei Löwen begegnet seit Lukrez 3,298 immer wieder (ThLL VII 2,365,52) und ist wohl in der Literatur eines der wichtigsten Merkmale des Tieres. Die Junktur magna ira erst seit Livius (3,40,4; 5,26,8) zu belegen, dann Sen. dial. 4,6,3, Val. Fl. 4,521, Sil. 5,159, Stat. Theb. 11,91, etwas verbreiteter bei den Kirchenvätern.

315 S. den Kommentar zu 366–368. Schon von der Zahl der auf ihn verwendeten Worte her betrachtet geht, er zwischen Priamus und Hesione völlig unter.

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349

351 lata … uenabula Von Verg. Aen. 4,131 lato uenabula ferro (Ov. epist. 4,83 lato uenabula cornea ferro, met. 10,713 pando uenabula rostro, Lucan. 1,211 latum subeant uenabula pectus; das letzte Beispiel arbeitet mit dem gleichen Wortmaterial, aber anderer grammatischer Anordnung) inspiriert, wobei der Ablativ bei Vergil, der ein Attribut zu ferrum setzt (AUSTIN 1955, 61), hier als Epitheton auf uenabula (das Wort bei Dracontius nur in dieser Form, noch dreimal: laud. dei 3,195, satisf. 141, Romul. 10,406) übertragen wird. ZWIERLEIN BT z. St. versteht lata im Sinne von sublata mit Verweis auf Romul. 5,308 arma tenentes. 351f. Auffällige Alliterationen mit uenabula cernens / uenantis crispare … uerbera caudae. uenabula … / … crispare Im Gegensatz zur ThLL-Einordnung (IV 1208,21–24), an die sich auch WOLFF 1996, z. St. anschließt, bedeutet crispare hier nicht ‘zittern’ (wie 412 cauda crispante tremunt [sc. agni]; dafür verwendet Dracontius z. B. Romul. 10,406 uenabula uibrant), sondern der Dichter scheint für das bekannte transitive hastilia crispare (u. ä. z. B. Verg. Aen. 1,313 bina manu lato crispans hastilia ferro; unbewußt mag Dracontius hierdurch auch zu einem manu inspiriert worden sein) eine intransitive Erweiterung (nämlich zu ‘schwingen’) gegeben zu haben (ähnliche grammatische Phänomene z. B. 330). In transitiver Verwendung satisf. 139 crispato lumine ferri (dort spricht wegen lumine auch einiges für eine Bedeutung, die in Richtung ‘blitzend schimmern’ geht, s. COMPARELLI 2004, 49). Alternativ dazu wäre ein transitiver Gebrauch dann zu vertreten, wenn man uenantis als Subjektsakkusativ in einem AcI uenantes uenabula crispare abhängig von cernens konstruiert. Dagegen spricht freilich, daß sonst mehrere Jäger in Löwenjagdsimiles nicht begegnen. 352 uenantis Substantiviert, im Sinne von uenatoris gesetzt (WOLFF 1996, z. St.). 352f. uerbera caudae / †naribus† incutiens Die erste und bisher auch inhaltlich beste Konjektur für das überlieferte, aber kaum haltbare naribus ist IANNELLIs natibus, das aber wegen des metrischen Problems, das sich daraus ergibt, nicht übernommen werden kann (MORELLI 1912, 119 und im Anschluß an ihn auch DIAZ DE BUSTAMANTE lösen dies durch Austausch von incutiens und natibus, der aber kaum zu motivieren wäre, wenn nicht bereits verschriebenes incutiens naribus zu dem sekundären Fehler der Wortumstellung einen gelehrten Abschreiber provoziert hat). Es ist inhaltlich überzeugend, weil es das verschiedenerorts belegte Verhalten eines zornigen Löwen illustrieren kann. Seit Plinius finden sich in der lateinischen Literatur (in der griechischen auch schon Hom. Il. 20,170f.) immer wieder Hinweise, daß ein Löwe mit seinem Schwanz entweder auf die Erde oder auf seinen Rücken schlägt, um seinem Zorn Ausdruck zu verleihen, oder sich selbst anzustacheln (Plin. nat. 8,49 leonum animi index cauda … iracundia, cuius in principio terra uerberatur, incremento terga ceu quodam incitamento flagellantur, s. für weitere Stellen auch die Einleitung zum Abschnitt). Insofern ist das überlieferte naribus, das man höchstens als Dativ der Richtung (H-S 100f.) ‘in Richtung der Nüstern’ deuten könnte, unbefriedigend. Aber auch die üblicherweise in den Text gesetzte

350

III Kommentar

Konjektur PEIPERs (cruribus) kann nicht überzeugen, da sie das Verhalten des Löwen, wie es in der Literatur beschrieben wird, nicht abbilden kann. Auch die entsprechenden archäologischen Belege weisen eine Bewegung des Schwanzes zumeist nach oben, nie in Richtung der Beine, auf (für Belege aus der Archäologie s. ANDREAE 1980; 1985, TOYNBEE 1983, 58ff., STROSZECK 1998, besonders 38f., JENSEN 2016, 25; 41f.). Gleiches gilt für ROSSBERGs 1879, 477 artibus, das den vorderen Teil des Löwenkörpers bezeichnen müßte. VON DUHNs clunibus hätte in Hor. sat. 2,7,49f. turgentis uerbera caudae / clunibus eine formale Parallele im Hexameter, die eine inhaltlich ganz andere, obszöne Bedeutung besitzt. Eine potentielle Fehlergenese läßt sich hier wegen der paläographisch sehr entfernten Worte nur schwer zurückverfolgen: Man müßte annehmen, daß clunibus durch natibus erklärt worden wäre, das dann in den Text gedrungen und schließlich zu naribus verschrieben worden wäre. BRUGNOLI 1998, 205f. spricht sich für VON DUHNs clunibus aus, nennt noch eine Konjektur von RICCARDO SCARDIA, der ictibus vorschlägt. Letzteres ergäbe jedoch eine nicht gut erklärbare Abundanz zu uerbera. Für die Verbindung uerbera caudae vgl. Ov. hal. 13 sub uerbere caudae, Hor. sat. 2,7,49f. turgentis uerbera caudae (sexualtechnisch), Ciris 453 uerbere caudarum, Lucan. 1,208 uerbere caudae (s. auch oben), Sen. Oed. 96 uerbera … caudae mouens (von der Sphinx), Stat. Theb. 5,538 uerbere caudae, Mart. 14,68,2, Auson. Mos. 98, Heptateuchdichter Ex. 346 intrepidi lambunt caudae de uerbere crura (von Hunden, daher vielleicht PEIPERs Konjektur), Iud. 548 (wie bei Lucan.). Für die Junktur von uerbera und incutere vgl. Sen. Herc. f. 88, Sil. 2,625f. Für incutere mit Dativ s. ThLL VII 1,1102,70ff. 353f. Die beiden Verse sind hauptsächlich von Stellen bei Lucan und Vergil inspiriert, auch wenn es sich dort fast ausschließlich um Pferde handelt: Verg. Aen. 11,496f. arrectisque fremit ceruicibus alte / luxurians luduntque iubae per colla, per armos (vom Pferd), Lucan. 1,209 erexitque iubam (vom Löwen, s. auch oben), 4,752 (vom Pferd) spargit … iubas. Vgl. auch Claud. 8,548 iubae sparguntur in armos. 353 per colla per armos Neben Verg. Aen. 11,497 noch Sil. 16,442f. per colla, per armos / uentilat aura iubas und 111 in unserem Gedicht für den asyndetischen Präpositionalausdruck mit per. 354 erecta ceruice iubas Der Ablativus absolutus noch Romul. 7,91, Heptateuchdichter exod. 1247 (vgl. auch für die Formulierung Sil. 1,204 erigit … ceruix). Für die Verbindung von ceruix und iuba: Catull. 63,83 rutilam ferox torosa ceruice quate iubam (s. BARWINSIKI 1888 [a] 311), Homer. 502 attollit ceruice iubas, Claud. 10,291 curuata ceruice iubas, Romul. 10,557 uiperea ceruice iubas et colla leuantes. Außerdem sei auf den Sachverhalt bei Plin. nat. 8,42 leoni praecipua generositas tunc, cum colla armosque uestiunt iubae hingewiesen. tenditur altus Singuläre, aber gut verständliche Junktur (gewöhnlicher wäre etwa se tendit in altum), bei der tenditur reflexiv gebraucht ist.

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355 dentibus illisis Die Junktur ist nur hier und Orest. 618 bei der Schilderung eines Wutausbruchs (in dieser Umgebung finden sich auch weitere charakteristische Wörter wie accendi 616, erigi, fremere 617, s. WOLFF 1996, z. St.) belegt. Sie wird eine Art Zähnefletschen zum Zeichen des Zorns illustrieren sollen. Vgl. für die Verbindung der Worte Lucr. 4,1080 dentis inlidet saepe labellis, Hor. sat. 2,1,77 quaerens inlidere dentem (ThLL V 1,541,8f.). pectus grande remugit Überraschenderweise verwendet Dracontius remugire, um die Laute des Löwen zu beschreiben, das doch eher die charakteristische Lautäußerung von Rindern enthält (‘muh’). Daher sollen einmal die Verwendungsweisen der Worte des Stammes ‘mug’ betrachtet werden. Bei Seneca beispielsweise findet sich das Substantiv mugitus häufig im Zusammenhang mit Grollen und Beben, also etwas Bedrohlichem (CASAMENTO 2011, 170, so z. B. Tro. 171, nat. 2,27,2). Im 12. Buch der ‘Aeneis’ wird im Stiergleichnis (715ff.), das Aeneas und Turnus illustriert, eine Reaktion der Umwelt auf das Zusammenstoßen der Stiere so beschrieben: gemitu nemus omne remugit (722). Auch hier ist ein bedrohliches Geräusch gemeint. Ebenso später, als Turnus zu Boden geht (928f.): totusque remugit / mons circum et uocem late nemora alta remittunt. Ähnlich sagt Dracontius selbst laud. dei 1,76 auditur mugire solum. Horaz beschreibt das Geräusch, das ein Mastbaum im Sturm gibt, ebenfalls mit mugire: Hor. carm. 3,29,57f. si mugiat Africis / malus procellis. Interessant ist auch Sen. Phaedr. 342–344 (poscunt timidi proelia cerui / et mugitu dant concepti / signa furoris), wo mugitus von Hirschen als Ausdruck ihrer aufgewühlten Gemütsstimmung gebraucht wird. Schon LEO hat 1878 die Verse umstellen wollen, um diese merkwürdige Verbindung zu vermeiden; dann ergäbe sich die Verbindung von mugire mit Löwen; s. dazu auch CASAMENTO 2011, 170 und KUNST 1925, 109f.; diese steht auch hinter Catull. 63,82 fac cuncta mugienti fremitu loca retonent (vgl. BARWINSKI 1888 [a] 311) und Tert. pall. 4,3 tota oris (sc. leonis ab Hercule uicti) contumelia mugiret, si posset. Von anderen Tieren erscheint mugire noch Ps. Hil. hymn. 2,58 mecum mugite, bestiae siluicolae und Vulg. sap. 17,18 mugientium ualida bestiarum uox (ThLL VIII 1558,84f.). In Romul. 8 findet sich das Verb noch 643 von einem Signalhorn. Auch dort steht der bedrohliche Klang eines Instruments, das auf den Krieg verweist, im Fokus der Lautäußerung, die mit remugire ausgedrückt wird (von einer tuba übrigens Prud. apoth. 386, hier scheint es jedoch zum Lob Jesu ein Ehrfurcht gebietender, aber kein schrecklicher Ton zu sein). Faßt man diesen kleinen Überblick der sehr verschiedenen Textausschnitte zusammen, läßt sich als Gemeinsamkeit ersehen, daß mugire gelegentlich nur ein bedrohliches Geräusch abbilden soll, was sich nicht zwingend auf ein bestimmtes Tier oder einen bestimmten Ort festlegen läßt (ThLL VIII 1559,25ff. 57ff.). Durch ein solches Verständnis von mugire lassen sich die Probleme der Lautzuordnung weitgehend eliminieren und man wird der Bedeutung des Wortes doch gerecht. Auch wenn es grammatisch möglich wäre (und sich vielleicht auch mit 354 tenditur altus inhaltlich gut vereinbaren läßt) grande auf pectus zu beziehen, ist es

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III Kommentar

eher als innerer Akkusativ zu remugit zu lesen, wofür auch der vergleichbare Ausdruck grande boans in Romul. 10,20 spricht. 356 flumina … montes et lustra Die Junktur montes et lustra noch Iuvenc. 1,364 tum petit umbrosos montes et lustra ferarum. Allgemein für die Verbindung von Gewässern, Wäldern und Gebirgen vgl. z. B. Ov. Pont. 2,1,39 fluminaque et montes et in altis proelia siluis. Für die Bedeutung von lustra als wildwachsendem, unkultiviertem Wald s. ThLL VII 2,1886,59ff. tunc Zum Ausdruck einer Reaktion auf ein vorhergehendes Ereignis (‘dann, daraufhin’), s. OLD s. v. 1989,7 (vgl. Verg. Aen. 3,234, Hor. epod. 17,17). resonant … resultant Das Prinzip ist wie Verg. Aen. 12,722 (auch 5,148–150; 8,305, WOLFF 1996, z. St.): Das Geräusch überträgt sich auf die Umwelt und wird als Echo verstärkt. Die Verbindung der beiden synonym verwendeten Worte noch Symph. 80,3 (non resono positus, sed motus saepe resulto SCHENKL). Beide begegnen in den Versen der hexametrischen Dichtung auch zumeist wie hier: Resonare vor der Penthemimeres, resultare am Versende. 357 ast ubi Seit Vergil häufiger epischer Versanfang, mit dem hier die heftige Wendung im Verhalten des Löwen eingeleitet wird („un renversement brutal“ STOEHRMONJOU 2014, 86). uenator … sollers Singuläre Junktur. Vom Verständnis des sollers hängt die Deutung der Polydamas-Rede und der Telamon-Reaktion ab (s. dazu auch oben die Einleitung zum Abschnitt). Das Adjektiv dürfte zur Bezeichnung eines verschlagenen, listigen Menschen gesetzt sein (so wird Odysseus recht oft sollers genannt: Ov. ars 2,355, Pont. 4,14,35, Stat. Ach. 1,784, Iuv. 9,65). Will man nicht ganz so weit gehen, so muß doch zugestanden werden, daß Dracontius das Adjektiv zumindest für Personen verwendet, die einer Situation so gewachsen sind, daß sie in ihr die Oberhand behalten (so z. B. vom Augur 459). Da von der Angst des Jägers hier überhaupt keine Rede ist (im Gegensatz zum Gleichnis in der ‘Satisfactio’, s. oben), darf man davon ausgehen, daß dem Jäger sein Verhalten bewußt und seine Reaktion auf den Zorn des Löwen nicht rein instinktiv ist. reiecta cuspide Ablativus absolutus. Das gewöhnlich in diesem Sinne des Ablegens von Kleidung verwendete reicere (OLD s. v. 1602, 3a) nutzt Dracontius noch einmal in Verbindung mit cuspis: Romul. 2,30 solas tractet reiecta cuspide lanas (von Athene, die unter dem Einfluß Cupidos von ihrer kriegerischen Tätigkeit ablassen könnte, s. dazu auch WEBER 1995, 166). 358 sponte cadit Nimmt 359 non dente suo si praeda iacebit aus der Sicht des Jägers vorweg – er geht von sich aus zu Boden, nicht durch einen äußeren Einfluß dazu gebracht. Außerdem verdeutlicht der Ausdruck, was sollers konkret meint. Denn der Jäger läßt sich absichtlich fallen, um die in solchen Situationen bekannte Reaktion des Löwen hervorzurufen. Gestützt wird dieses Verständnis durch den gleichen Versanfang Lucan. 4,642, wo der Kampf zwischen Antaeus und Herkules geschildert wird. Ersterer konnte als Abkömmling der Tellus durch Berührung des

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Erdbodens neue Kräfte sammeln, was er an dieser Stelle auch trickreich tut (im Gegensatz zum Löwen unseres Gleichnisses läßt sich der Halbgott nicht täuschen und hebt den Gegner von der Erde auf). Für die Junktur s. zu 77. pronus … iacet Es dürfte eine kniende Haltung mit dem Gesicht Richtung Boden gemeint sein. STOEHR-MONJOU 2014, 89 sieht in iacere eine Wiederaufnahme des releuare iacentes 342. Für die Junktur vgl. Ov. fast. 2,719 iacens pronus, Vulg. Ios. 7,10, Vulg. Reg. 1,5,3. perit ira leonis Für die Verbindung vgl. Claud. 1,25f. tum fulua Leonis / ira perit. Für die Formulierung im Löwengleichnis der ‘Satisfactio’ s. oben. 359 turpe putans non dente suo si praeda iacebit Auch der si-Satz 275 fungiert als Substantivsatz, s. auch dort (vgl. die übergeordnete Formulierung dort turpe ducis seruire genus crimenque putatur). Dens dürfte hier metonymisch für den ‘Biß’ stehen (der ThLL enthält s. v. dens keine solche Kategorie, aber vergleichen ließe sich wohl Mart. 18,3). Praedam iacere schreibt Dracontius auch Romul. 5,311 von der Beute des Löwen: praedam rabies contempsit fulua iacentem (s. auch 360, wo temnere verwendet ist). Von der Bedeutungsbreite des Verbs iacere liegt der Fokus dabei auf ‘wehrlos daliegen’ oder schon ‘tot daliegen’ (für diese Verwendung s. ThLL VII 1,16,26ff.). Für letzteres spricht der folgende Vers, wo der Tod des Opfers ganz deutlich in cadauer ausgedrückt ist. Das Futur dürfte als gnomisch-potential zu erklären sein (H-S 310f.). 360 temnit praedo cibos, quos non facit ipse cadauer Das Subjekt, Prädikat und Objekt des Hauptsatzes stehen ganz parallel zum Subjekt, Prädikat und Objekt des Relativsatzes. Außerdem mag temnit praedo in der chiastischen Stellung zu praeda iacebit zum einen mit der Wortstellung, zum anderen mit dem bis auf einen Buchstaben gleichen Wort praeda spielen. Temnere ist im Sinne von contemnere gebraucht, wie auch 405 und sonst öfter im Werk des Dichters. S. für weitere ‘simplicia pro compositis’ BLOMGREN 1966, 55. Genau derselbe Vers findet sich im Löwengleichnis satisf. 143 (s. oben S. 345). 361 ignoscens feritate pia Vgl. satisf. 144 ac ferus ignoscit (im Löwengleichnis, s. auch oben). Das Paradoxon feritate pia (ebenso satisf. 274) ist kausaler Ablativ zu ignoscens. In Romul. 5,308 (ebenfalls im Löwengleichnis) lesen wir die Verbindung feritas generosa. ueniale minatus Die Konjektur VOLLMERs (ueniale precatus), die auch von WOLFF 1996 und DIAZ DE BUSTAMANTE 1978 in den Text übernommen wurde, beachtet nicht den in sollers und sponte cadit angedeuteten listigen Zug des Jägers, der eben nicht flehentlich bittet, sondern nur den Anschein erweckt, sich zu ergeben. Das überlieferte uenatus paßt inhaltlich ausgezeichnet in den Zusammenhang (als objektiver Genitiv zu ueniale), kann aber wegen des metrischen Problems nicht gehalten werden (die notwendige Lizenz läßt sich nirgendwo belegen). ROSSBERGs 1888, 72 Konjektur minatus geht auf die ungewöhnliche Bedeutung von minari bei Dracontius in dieser Verbindung zurück (laud. dei 2,496 caelestis pietas ueniale

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III Kommentar

minatur, satisf. 121 qui inimicorum culpis ueniale minaris, positives minari läßt sich auch für Hor. sat. 2,3,9, epist. 1,8,3, Phaedr. 4,23,1 belegen; vgl. ThLL VIII 1030,51–56). Somit ist minatus (das Partizip besitzt hier keine Vorzeitigkeitsbedeutung) auf den Löwen zu beziehen, um das Ablassen von seinem Opfer und sein Zugeständnis auszudrücken; er droht mit Verzeihung, wenn der Jäger (in diesem Fall trickreich) Wehrlosigkeit zeigt. Die Konjektur fügt sich sowohl inhaltlich als auch paläographisch von allen Vorschlägen am besten ein und soll daher auch in dieser Edition eingesetzt werden. Auch ZWIERLEIN 2017, 361f. spricht sich für ROSSBERGs Emendation aus, bezieht sie aber auf den Jäger, der „mit seinen Drohungen ein verzeihliches Maß nicht überschritten hat“. Venialis ist ein ausschließlich spätantik-christliches Wort, das hier substantiviert als Ersatz für uenia verwendet ist. 362 cesset iners Iners ist das Resultat von sponte cadit pronusque iacet. Die (leicht redundante) Verbindung von cessare und iners findet sich beispielsweise auch Ov. trist. 3,10,70, Gratt. Cyn. 113, Sen. Phoen. 91, Anth. 96 R. = 85 Sh.-B.,4. sic Wie die Gleichniseinleitung 350. In der ‘Satisfactio’ ist das Gleichnis ebenfalls mit sic ein- und ausgeleitet (137 und 147). Zur Gleichnisausleitung wird es in Romul. 8 auch 585 und 637 verwendet, zur Einleitung 557, 577, 632, während in den übrigen Gedichten stets variiert wird (STOEHR-MONJOU 2014, 85). rector Achiuus Singuläre Junktur. Eine Form des Adjektivs Achiuus am Versende findet sich zuhauf in lateinischer Epik, allerdings nie der Nominativ. Klanglich könnte der Versschluß von Stat. Theb. 4,118 ductor Achiuum beeinflußt sein. 363 frangitur Für die Bedeutung s. ThLL VI 1,1250,3ff. Greift vielleicht 330 frangat dolor, ira quiescit wieder auf (STOEHR-MONJOU 2014, 89). conuiuia laeta parari Conuiuia laeta auch Tib. 2,3,47, Sil. 11,368, Romul. 6,119. Für die Junktur conuiuia parare vgl. z. B.: Cic. Verr. II 3,65; 4,62, Lucr. 4,1131f., Verg. Aen. 1,638, Iuvenc. 3,743 (conuiuia laeta parasse, vielleicht als direktes Vorbild anzusehen, GALLI MILIĆ 2008, 272), Iust. 12,14,8, Vulg. Tob. 7,9, Vulg. Esth. 5,4. 8. 364 per septem iubet ipse dies Warum das conuiuium gerade auf sieben Tage ausgedehnt wird, läßt sich nicht sagen (für eine Vermutung s. 369). Ein ähnlich redundantes ipse wie hier ist 242 rex ipse iubet zu finden. Im Gegensatz zu dort könnte man es hier im Sinne eines Personalpronomens, das rector Achiuus aus 362 wieder aufgreift, verstehen (für abgeschwächtes ipse s. H-S 190; man hätte diese Erscheinung hier in unmittelbarer Nähe zu einer betonten Verwendung in 360). 364f. Cythereus et Aiax / … duo fulmina belli Substantiviertes Cythereus ist ein ἅπαξ λεγόμενον, geläufiger ist die Bildung Cythereius (Ov. met. 13,625; 14,584, fast. 3,611, Homer. 895), die aber nie als Substantiv begegnet (WOLFF 1996, z. St.). Als Adjektiv ist Cythereus, -a, -um bei Dares 9 in insulam Cytheream belegt. S. dazu auch ThLL Onomast. 2,811,50ff.

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Ajax und Aeneas begegnen Dict. 5,4 cohibito Aiace ab Aenea zusammen. Dort sind die beiden einander auch während des Krieges in positiver Weise zugeordnet: Aeneas hält Ajax davon ab, ins Lager der Trojaner mitzukommen: scilicit ne qua insidiis opprimereter talis uir, quem solum barbari non secus quam Achillem metuebant. Für duo fulmina belli s. zu 48; die Apposition zu beiden Männern ist aus dem Blickwinkel des zukünftigen Krieges gesprochen; vgl. für die Verbindung auch Verg. Aen. 12,654 fulminat Aeneas. 365 colloquium commune tenent Die Junktur colloquium commune erscheint hier erstmals. Ebenso verhält es sich mit der singulären Verbindung colloquium tenere anstelle von colloquium habere (WOLFF 1996, z. St.). 366–368 Die Verse sind äußerlich ganz von Hesione und Priamus beherrscht, deren Beschreibung deutlich mehr Raum umfaßt und deren Familienverhältnis beständig betont wird; dagegen fällt Paris merklich ab, der allein als Sohn seines Vaters umarmt und angeschaut wird. 366f. regis … iuuenem … / … complexa fouet Ähnlich die Ausdrucksweise bei der Begrüßung des Paris durch seine Eltern 111 iuuenem complexa tenet und Romul. 10,126 puerum complexa fouet. Außerdem eine Reminiszenz an Verg. Aen. 4,686 germanam amplexa fouet. Vgl. weiterhin für die Verbindung von complecti bzw. amplecti und fouere Lucan. 4,246, Sil. 8,128, Stat. silv. 2,1,121, Auson. 10,2,7f. GREEN (WOLFF 1996, z. St.). Iuuenis erneut in der Bedeutung ‘Sohn’ (WOLFF 1996, z. St.; s. auch zu 161). 366 regina Pelasgum Hesione und Priamus stehen jetzt auf einer Stufe, was mit regis und regina als stammgleichen Worten, die zudem gemeinsam in einen Vers gestellt sind, illustriert wird (s. 227f. und die Antenorrede, wo jeweils noch die unterschiedlichen Stände der beiden vorausgesetzt sind, und 339f. in der PolydamasRede, wo Hesiones Herrschaft über die Griechen betont wird). Vgl. für den Versschluß Orest. 137. 436. Für Pelasgi s. zu 17 und 294. 367 germana parentis Nach ihrer Bezeichnung als Königin der Griechen und ihrer Namensnennung, wird Hesione hier nun mit einer dritten Bezeichnung bedacht, die ihr Verwandtschaftsverhältnis zu Paris illustriert. Für die Worte des Versschlusses vgl. Ov. met. 8,475 (germana parente). 368 uultibus in Paridis Priami laudatur imago Für das Motiv der Ähnlichkeit von Vater und Kindern, vgl. Verg. Aen. 4,329, wo Dido den Aeneas im Gesicht des Ascanius erkennt, Ov. epist. 12,189f. et nimium similes tibi sunt et imagine tangor / et quotiens uideo, lumina nostra madent, wo Medea durch ihre Kinder immer an Iason erinnert wird; weitere Stellen PEASE 1935, 296. Da es stets kleine Kinder sind, deren Ähnlichkeit mit dem Vater festgestellt wird, läßt sich sagen, daß Paris dadurch auf die Ebene des süßen kleinen Kindes herabgestuft wird. Zu

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III Kommentar

erwähnen ist, daß vielleicht auch im ‘Alexandros’ des Euripides dieses Thema (allerdings wahrscheinlich bei der Anagnorisis in einem anderen Zusammenhang) aufgenommen ist, wenn man mit SNELL das Fragment diesem Stück zuordnet: ὡς Πριαμίδαισιν ἐμφερὴς ὁ βουκόλος (Eur. Alex. fr. 25 Sn. = TrGF II adesp. 286 K.S.). Vultibus ist poetischer Plural. Die Nachstellung des in bewirkt eine Position der Präposition zwischen Bezugswort und Attribut (hier mit Paridis als Genitivattribut; ähnlich Orest. 457 noctibus in mediis). Imago im Sinne von ‘Ähnlichkeit’ ist seit Plaut. Men. 1063 zu belegen (ThLL VII 1,411,9ff.). 369–384 Ende der Salamisepisode mit Rede des Aeneas 369–371 Epischer Sonnenaufgang 372–379 Rede des Aeneas; Abschied 380–384 Abfahrt Der Abschluß der Salamis-Episode setzt mit einem typisch epischen Gliederungselement ein, dem Sonnenaufgang. Dadurch wird sogleich deutlich, daß ein neuer Teil des Gedichts einsetzt, da die Verhandlungen nun ganz abgeschlossen sind. Die letzten Abschiedsworte und die Abfahrt sind trotzdem als inhaltlich zugehörig zur Episode zu betrachten. Die Rede des dritten Gesandten ist in ihrer Ausrichtung zunächst schwer einzuschätzen. Laut WOLFF 1996, z. St. sei sie provokant und unterstelle dem Telamon, nur deshalb in Frieden zu leben, weil ihn ja noch niemand zum Krieg herausgefordert habe, seit Troja zerstört wurde, und außerdem sein Sohn viel zu jung gewesen sei, um in den Krieg ziehen zu wollen.316 Dabei wird jedoch übersehen, daß in pace neben senesce steht, also für die Zukunft gedacht ist.317 Der quamuis-Satz besitzt eher den Charakter einer Assoziation. In dem Moment, in dem Aeneas gegenüber Telamon den Wunsch äußert, er möge in Frieden alt werden, scheint ihm klar zu werden, daß für den Zustand eines friedlichen Alters schon alles getan ist und der Wunsch im Grunde überflüssig. Denn seine kriegerischen Fähigkeiten hat Telamon bereits unter Beweis gestellt (rex inuicte armis, 373), und zwar so, daß ihn niemand mehr herausgefordert hat seit der Zerstörung Trojas. Damals war auch Ajax noch nicht alt genug, um in den Krieg zu ziehen. Jetzt ist er es und würde im Falle einer solchen Situation die Führung übernehmen, so daß Telamon seinen friedlichen Ruhestand genießen könnte. So prophezeit Aeneas dem Ajax eine 316 „Tu avais la paix, Télamon, parce qu’on ne te poussait pas à faire la guerre, et qu’Ajax était trop jeune pour la vouloir. Mais la situation va changer“. 317 Zu Recht verweist BRIGHT 1987, 115 für die Abschiedsformel auf die Buthrotum-Episode im dritten Buch der ‘Aeneis’, wo Aeneas zum Abschied sagt: uiuite felices … uobis parta quies (493–495). Die Imitationshypothese kann an dieser Stelle durch eine weitere Parallele gestützt werden. Denn kurz zuvor wendet sich Andromache an Ascanius, indem sie eine Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Sohn Astyanax entdeckt (o mihi sola mei super Astyanactis imago / sic oculos, sic ille manus, sic ora ferebat, 489f.), in der Weise, wie hier Hesione die Ähnlichkeit mit Priamus im Gesicht des Paris bemerkt.

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glänzende Zukunft mit kriegerischen Erfolgen; genauso wird es sich – tragische Ironie318 – im trojanischen Krieg verhalten, mit dem Telamon nichts mehr zu tun haben, in dem Ajax jedoch eine führende Rolle einnehmen wird. Negativ wirken mag der Satz des Aeneas Priamo tua dicta loquemur (378), da ja Telamon nichts weiter als eine wütende Drohrede geäußert hatte. Doch darf man den Ausdruck sicher als Legatenformel verstehen, die sich auf die reine Informationsweitergabe der neuen Gegebenheiten (Ehe mit Hesione) bezieht. Damit ist die Rede des Aeneas eine versöhnte Abschiedsrede mit guten Wünschen und preisenden Worten sowohl auf den König selbst, als auch auf seinen Sohn. Den Charakter einer besonderen Rede kündigt Dracontius schon durch die Einleitung sublimi uoce profatur an, in der mit sublimis ein Terminus der Rhetoriktheorie aufgegriffen ist.319 Nach einer dreisten und einer trickreich-beruhigenden erleben wir nun eine erhabene Rede ohne jegliches Konfliktpotential, die panegyrisch die Gastgeber erhebt und damit einen geeigneten Abschluß präsentiert. Die Gestaltung der Abfahrt ergibt vom Wortmaterial und der Versgestaltung her eine Variation der Abfahrt von Troja und der Ankunft in Salamis (243–253). 369 octauo ueniente die Eine ganze Woche haben die Gesandten bei Telamon verbracht (364 per septem … dies). Möglicherweise ist die 7-Tages-Woche als spezifisch jüdisch-christliche Einrichtung so fest im Gedankengut der Zeit verankert, daß sie auch in das pagan gedachte Epyllion übernommen wird. Für diem uenire (‘der Tag bricht an’) s. z. B. Verg. georg. 4,466, Ov. fast. 5,687. Daß Dracontius den Versanfang Culex 25 octaui uenerande lautlich imitiert, dürfte nicht ganz ausgeschlossen sein. Der gleiche Versanfang auch Arator act. 1,777. 369f. sidera Phoebus / … condebat Für den Gedanken Ov. fast. 5,17f. nec cetera Phoebo / sidera cedebant (negativ), 5,420 dederint Phoebo sidera uicta locum. Eine Periphrase einer Zeitangabe mit Phoebus findet sich auch Romul. 10,340 quattuor interea Phoebus transegerat annos. Für die Junktur sidera condere vgl. Verg. Aen. 5,126 hiberni condunt ubi sidera Cauri (allerdings mit sidera in der Bedeutung ‘Himmel’, s. WILLIAMS 1960, 71). 370 elatis … equis Inspiriert ist die Junktur wohl von Verg. Aen. 12,114f. cum primum alto se gurgite tollunt / Solis equi lucemque elatis naribus efflant. Wie so oft verbindet Dracontius Attribute und Bezugsworte neu, um neue, jedoch von den Vorgängern abhängige Junkturen zu gewinnen. Gegen WOLFF 1996, z. St., der elatis von medialem efferri ableitet und auf das Hervorpreschen der Pferde des Sonnenwagens bezieht, wird man eher mit Blick auf Romul. 10,475 iam Phoebus scandebat equos Phoebus als inhaltliches Subjekt oder Agens des Ablativus absolutus verstehen, der die Pferde heraufführt.

318 WASYL 2011, 53. 319 S. dazu ausführlich den Kommentar zu 372.

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III Kommentar

cuncta ruebant Das Verständnis der Junktur ist umstritten. Das auf den ersten Blick fehlende geeignete Subjekt zu ruebant regte wohl RIBBECK 1873, 461 und BAEHRENS zur Konjektur rubebant an. Nachdenklich stimmt einen dies jedoch, wenn man bedenkt, daß an einer ähnlichen Stelle ebenfalls eine Form von ruere (Romul. 10,475f. iam Phoebus scandebat equos et luce ruebat / post noctem uentura dies) überliefert ist und diese ebenso (von BÜCHELER) zu rubebat emendiert wurde. Hier scheint jedoch ruebat mit Blick einerseits auf die vergilischen Parallelstellen (z. B. Verg. Aen. 10,256f. ruebat / matura iam luce dies), andererseits auf das geeignete Subjekt uentura dies (auch wenn sich mehrere Stellen finden, bei denen uentura dies mit rubet verbunden wird, s. KAUFMANN 2006 [a] z. St.), sowie auf die Tatsache, daß Dracontius rubeo oder rubesco sonst nur noch einmal von der Himmelfärbung, jedoch für den Abend (Romul. 10,568), verwendet, zweifelsfrei richtig zu sein. An unserer Stelle liegt das Hauptproblem im ungeeigneten Subjekt zu ruebant. Das nächststehende und damit naheliegende cuncta paßt in der Tat für sich genommen nicht besonders gut zu ruebant. Denn wie soll man übersetzen? „Alles eilt herzu“? „Alles geht unter“? „Alles stürzt ein“? Man mag an die Fahrt Phaetons mit dem Sonnenwagen denken, aber nichts sonst deutet im Text weder hier noch später auf diese Geschichte hin. Allerdings scheint dennoch in cuncta die Lösung zu liegen. Zieht man es nämlich mit sidera (369) zusammen, erhält man ein passendes Subjekt, das sogar eine schon bekannte Junktur ergibt (Val. Fl. 7,456f. ruebant / sidera, s. dazu STADLER 1993, 180 und LE BOEUFFLE 1987, 200). Es ist klar, daß der Informationsgewinn von sidera Phoebus / … condebat zu (sidera) cuncta ruebant nicht sonderlich groß ist, aber Dracontius variiert gelegentlich ein Thema in anderer Wortwahl. Zudem wird auch der Pferdewagen im folgenden (oceano nudante rotas) wieder aufgenommen, der bereits erwähnt wurde. So kann die Überlieferung gehalten werden gegen WOLFF (der zwar sogar auf ruere bei Vergil verweist) und VOLLMER, RIBBECK und BAEHRENS, jetzt auch ZWIERLEIN BT 2017. 371 oceano nudante rotas stridentibus undis Der Ozean gibt die Räder des Sonnenwagens frei, das heißt, die Sonne geht auf, und zwar über dem Meer. Im Grunde die Variation von elatis equis, nur hier aus der Sicht des Meeres, zuvor aus der Sicht des Phoebus. Stridentibus undis (Ablativus absolutus) gibt nach WOLFF 1996, z. St. das Geräusch wieder, das ertönt, wenn das heiße Metall des Wagens das Wasser berührt. Dies mag nicht recht überzeugend erscheinen, da morgens die Sonne noch nicht glühend heiß ist. Auch in sämtlichen Parallelstellen, die das gleiche Wortmaterial gebrauchen (Orest. 803f. sol merserat undis / Oceano stridente rotas, Romul. 10,91f. agnosco stridere fretum, ceu Phoebus anhelos / oceano demergit equos, Stat. silv. 2,7,25–27 pronos Hyperionis meatus / summis Oceani uides in undis / stridoremque rotae cadentis audis, Sil. 1,209f., Val. Fl. 2,37) ist stets der Sonnenuntergang bezeichnet. Es wäre daher zu überlegen, ob man stridens als Enallage auf rotae bezogen verstehen könnte (Stat. silv. 2,7,27 stridorem … rotae cadentis audis könnte unter Umständen [laut NEWLANDS 2011, 232 allerdings eher unwahrscheinlich] so gesehen werden; Räderquietschen ist auch Sil. 2,175 stridens rota zu

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finden). Der Ablativ stridentibus undis findet sich ebenso aber auch Orest. 683, und zwar bei einem Sonnenaufgang (reddidit interea rutilum post astra refundens / depositum natura diem stridentibus undis, 682f.). Hier kann er aber von depositum abhängig gemacht werden und muß nicht zwingend im Zusammenhang mit dem Aufgang der Sonne stehen (vgl. RAPISARDA 1951, 187; dagegen BOUQUET[WOLFF] 1995, z. St.) Für den Versschluß vgl. Lucan. 9,866. 372 Anchisiades Eine vergilische Bezeichnung, die in der ‘Aeneis’ nur zweimal als Substantiv begegnet (5,407; 10,822). Hinzuweisen ist noch einmal auf Cythereus (364) als Kennzeichnung für Aeneas bei seinem ersten wirklichen Auftreten während der Gesandtschaft und den Zusatz iuuenis Dionae 240f. bei der Aufzählung der Gesandten. So wird an allen Stellen die Abkunft des Aeneas als Nachkomme einer Gottheit und eines bedeutenden Stammvaters herausgestellt. Dadurch hebt ihn der Dichter von den übrigen Gesandtschaftsteilnehmern ab. sublimi uoce profatur Die Junktur sublimis uox begegnet seit der Spätantike in der Prosa (z. B. Cypr. hab. virg. 6), in der Dichtung ist sie hier singulär. Mit sublimis uox charakterisiert Dracontius den Redestil des Aeneas, und zwar als von dem der übrigen Redner verschieden. Denn sublimitas ist ein rhetorischer t.t., Kennzeichen des ‘genus grande’ (Fortun. rhet. 3,9 ἁδρόν, id est amplum siue sublime, LAUSBERG 31990, 522). Besondere sublimitas werde, nach Quintilian, durch eine geeignete Verwendung der „Verpersönlichung“ als der „eindringlichste[n] Form der versinnlichenden Metapher“ (LAUSBERG 31990, 287) erreicht: Quint. inst. 8,6,11 praecipue … ex his oritur mira sublimitas. Sicher ist es kein Zufall, daß Dracontius seinen Aeneas (als einzigen der drei Gesandten!) eine beeindruckende und eingängige Metapher verwenden läßt: murus erit sociis, aries metuendus in hostes / Aiax, magne, tuus! (377f.). Die Metaphern murus und aries decken sich nicht vollständig mit den von Quintilian angegebenen Beispielen (8,6,11 pontem indignatus Araxes [Zitat aus Verg. Aen. 8,728], 8,6,12 quid enim tuus ille, Tubero, destrictus in acie Pharsalica gladius agebat? [Zitat aus Cic. Lig. 9]), gehen aber in eine ähnliche Richtung. Ganz allgemein ist das ‘genus grande’ auch der Stil, der normalerweise für panegyrische Reden angewendet wird. Dazu paßt, daß auch in der Rede des Aeneas panegyrische Elemente auszumachen sind (besonders die lobenden Worte über Ajax, aber auch an Telamon selbst), so daß die Einleitung sublimis uox sich auch darauf beziehen könnte. In jedem Fall ist die Wortwahl ein Beispiel für die Vertrautheit des Dichters mit der antiken Rhetorik und seiner Fähigkeit, sie in geeigneter Weise auf die epische Dichtung zu übertragen. Für profari s. zu 259f. 373 rex inuicte armis Wegen des folgenden Gegensatzes in pace ist armis eher als Ablativus limitationis im Sinne von ‘Krieg’ zu verstehen (s. auch WOLFF 1996, z. St). Der Versanfang rex inuicte schon Heptateuchdichter exod. 1190. 1229. felix in pace senesce Die Formulierung (die einzige Belegstelle für den Imperativ senesce; für das Prädikat ist keine negative Konnotation zu postulieren, sondern es ist ganz neutral zu fassen, OLD s. v. 1734, 1) und wohl auch der Gedanke ist

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III Kommentar

singulär. Er erinnert ein wenig an Inschriften auf antiken Grabplatten mit Wendungen wie in pace quiescit. BRIGHT 1987, 265 verweist auf Verg. Aen. 1,249, wo Aeneas über Antenor sagt nunc placida compostus pace quiescit. 374 quamuis nemo ducum Der Versanfang quamuis nemo findet sich auch laud. dei 3,367. in bella lacessit Für die Junktur vgl. 295 in bella lacessere. Das überlieferte lacesset zu halten, wäre möglich, wenn man in ex quo Troia perit eine deutliche kausale Komponente heraushört (‘aufgrund der Zerstörung Trojas wird dich [auch jetzt] niemand mehr zum Krieg herausfordern’). Der Nebensatz müßte jedoch für den Anschluß des folgenden Satzteils wieder einen rein temporalen Charakter annehmen, was allzu unübersichtlich wirkt. Das Präsens besitzt hier den Charakter eines Vergangenheitstempus (WOLFF 2015 [a], 364). 375 ex quo Troia perit Meint die Zerstörung Trojas durch Herkules. nec uester creuerat Aiax Zur Zeit der ersten Zerstörung Trojas war Ajax noch ein Kind (für die Bedeutung von crescere s. ThLL VI 1176,64f., vgl. auch Vet. Lat. gen. 25,27 [Aug. loc. hept. 1,94] creuerunt … iuuenes). Die besondere Verbindung, die sich zwischen Aeneas und Ajax entwickelt hat, wurde schon deutlich, als ihr Gespräch während des Festessens in den Blickpunkt rückte: Cythereus et Aiax / colloquium commune tenent, duo fulmina belli (364f.). Der Satzteil gehört entweder zur Temporalangabe ex quo (nicht zu quamuis) und gibt sich als leicht asyndetischer Anschluß (‘und seitdem Ajax noch nicht erwachsen gewesen war’). Leichter dürfte es jedoch sein, wenn man hier einen eigenen Hauptsatz versteht, der begründet, warum eine Kriegsstörung jetzt doppelt unwahrscheinlich ist: schon bisher hat seit Troja niemand Telamon herausgefordert, und das, obwohl Ajax noch nicht hätte helfen können – jetzt, wo er es kann und herangewachsen ist, ist es umso unwahrscheinlicher, daß der Altersfriede Telamons gestört wird: „altere in Frieden, obwohl – ich muß es kaum wünschen – ja bisher schon niemand mehr euch herausgefordert hat; und Ajax war sogar noch klein; jetzt garantiert er dir den Frieden“. Vester ist wie uos (374) als höflicher Plural zu verstehen (WOLFF 1996, z. St.). 376 at modo Leitet den Gegensatz zwischen damals und heute, zwischen dem Kind und dem jungen Erwachsenen Ajax ein (für modo im Sinne von ‘jetzt, bald’ s. ThLL VIII 1308,22ff.). Der Versanfang auch Auson. 9,8 GREEN, Paul. Nol. carm. 21,500. ter cuncta domans, ter cuncta reuellens Für domare in der Bedeutung ‘siegen, überwinden’ s. ThLL V 1,1946,45ff. Die Verbindung cuncta domare auch Sil. 15,78f. cuncta domantem / Amphitryoniaden. Domare mag für einen geordneten Kampf stehen, während reuellere das Durcheinander illustriert. Das Zahlwort ter ist hier in seiner unbestimmten Funktion im Sinne von ‘häufig’ gesetzt (so auch Verg. Aen. 1,116; 10,873, Hor. carm. 3,3,65 u. ö.; s. auch WOLFF 1996, z. St.). 377 murus … aries Die beiden Metaphern illustrieren jeweils den Verteidigungskampf (murus, passend dazu sociis) und den Angriffskrieg (aries ‘Rammbock’,

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dazu passend in hostes). Für die Verwendung von murus bei Personen s. ThLL VIII 1688,70ff. (vgl. besonders Romul. 9,64 Dardanidis quis murus erit post Hectora campo?, nach Sen. Tro. 126 tu [sc. Hector] murus eras; ich füge aus inhaltlichen Gründen hinzu Homer. 191 Graium murus … Achilles). Die Metapher aries scheint eine Erfindung des Dracontius zu sein. Unpassend erscheint WOLFFs 1996, z. St. Hinweis auf Il. 3,196 und 13,492, denn die Metaphern dort bezeichnen Widder im tatsächlichen und nicht, wie hier, im übertragenen Sinne. in hostes Seit Ov. am. 1,9,17 recht häufiger Versschluß der lateinischen Literatur. Dracontius verwendet ihn noch satisf. 125 moriuntur in hostes. 378 Aiax … tuus Tuus steht sehr passend neben 375 uester … Aiax und unterstreicht die Wertschätzung des Aeneas gegenüber dem Vater seines lieben Gesprächspartners (364f.). IANNELLIs Konjektur tuos (auf hostes bezogen) ist daher unnötig. magne Vgl. 272 rex magne. Priamo tua dicta loquemur Greift 299 Priamo, Troes, mea dicta referte auf. Vgl. für den offensichtlich ganz dracontianischen Versschluß auch laud. dei 3,685 dictura loquendo, Orest. 341 dicta loquuntur. 379 sic fatus Auch 241 (nach der Rede des Priamus, vor Aufbruch der Gesandtschaft von Troja), Romul. 10,96. 219. 255. Typisch epische Wendung, aber allein bei Dracontius als vollständiger Satz mit einer Ellipse von esse. dixere ‘uale’ regemque salutant Nach BOUQUET 1995, 16f. eine Mischung zweier ‘Metamorphosen’-Zitate: Ov. met. 4,79 sub noctem dixere ‘uale’ und 7,651 adeunt regemque salutant. Das erste gehört zur Geschichte von Pyramus und Thisbe, das zweite sprechen die Myrmidonen zum König Aeacus, der ja Vater des Telamon ist, so daß möglicherweise durch diese Verbindung das Zitat hierher gelangte (BOUQUET 1995, 16f.). Der Versschluß begegnet jedoch genauso auch Sil. 16,279, ähnlich Mart. 4,83,5 (regemque salutas) und Iuv. 8,161 regemque salutat, so daß man wohl eher von einem hexametrischen Formelgut ausgehen muß (im Übrigen hieß es auch bei der Begrüßung Telamons 259 rege salutato). Die Verbindung dixere uale findet sich aber tatsächlich, abgesehen von Lucan. 5,796, in dieser Form und an dieser Versposition nur noch bei Ovid an der genannten Stelle. 380 tunc iter ad portum uertunt Für die Junktur iter uertere vgl. Verg. Aen. 5,23, Ov. Pont. 4,4,20; 4,6,46, Ib. 618 (Aulidis a portu qui leue uertit iter), Homer. 139, Sil. 7,157. litora tangunt Seit Catull. 64,172 bekannte und recht oft verwendete Junktur, jedoch zumeist, wie auch hier im Gedicht (249 ut portum tetigere rates) von ankommenden Schiffen. Die Umdeutung ist gleichsam konsequent spielerisch, da der Dichter auch 382 einen vergilischen Ankunftsvers zu einem Abfahrtsvers umgestaltet (s. unten). 381 conscendere ratem Singuläre Junktur. Gewöhnlich wird conscendere in der Dichtung mit puppis (vgl. auch 245 conscendunt puppes) verbunden (für eine

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III Kommentar

Stellensammlung s. ThLL IV 362,76ff.). Nauis findet sich in den ‘Romulea’ überhaupt nur ein einziges Mal (8,399), dagegen von dichterischen Varianten siebenmal carina, achtmal ratis (sieben davon in Romul. 8), und puppis 13 Mal. Ratis ist kollektiver Singular, denn es war vorher und wird später von mehreren Schiffen die Rede sein. subducitur ancora mordax Subducere ist in der Prosa ein t.t. für das Hochziehen von Schiffen und begegnet auch gelegentlich in der lateinischen Dichtung (Verg. Aen. 3,135 sicco subductae litore puppes, Lucan. 2,717, Paul. Nol. carm. 13,35). Diese Funktion des Wortes hat Dracontius auf das Lichten des Ankers übertragen. Rezipiert hat ihn mit dieser Junktur wohl Albert von Stade in seinem ‘Troilus’ 1,537. Für die Junktur ancora mordax s. zu 249. 382 Der ganze Vers (gegen WOLFF 1996, z. St., der nur die zweite Hälfte für an Vergil orientiert hält) ist vergilisch geprägt: Aen. 3,532 uela legunt socii et proras ad litora torquent uela leuant nautae Die Segel werden gesetzt; die Junktur ist ohne Vorbild (der Dichter setzt sie noch 567 nautae uela leuant ein, sicher auch aus Gründen der Wortspielerei, s. dort). Vor der Folie des vorbildhaften Vergilverses Aen. 3,532 uela legunt socii et proras ad litora torquent ist aber leicht zu ersehen, wie sie entstanden ist: Dracontius mußte ihn von einem Lande-Vers zu einem Abfahrts-Vers umwidmen. Problemlos konnte er ad in a ändern. Schwieriger ist die Umdeutung vom Reffen zum Setzen der Segel. Statt legunt setzt Dracontius leuant, was unidiomatisch ist, aber gut zu verstehen. Eine Rolle mag auch Vet. Lat. Luc. 8,22 (cod. b) transfretemus trans stagnum, et leuauerunt spielen, wo leuare in der Bedeutung ‘Anker lichten, abfahren’ begegnet. Es mag auch der Beginn des vergilischen Seesturms Aen. 1,35 uela dabant laeti anklingen. Vielleicht rezipiert von Coripp. Ioh. 1,239f. omnia nautae / uela leuant und Albert Stade, Troilus 5,229 uela leuant (meint hier aber eine ‘Fahne hissen’). proras a litore torquent Prora kann metonymisch das ganze Schiff meinen oder in seiner Grundbedeutung nur den Bug. Beides paßt freilich in der Vorstellung, Bug vielleicht ein wenig besser, wenn man an Schiffe denkt, die mit der Vorderseite auf den Sand gezogen gewesen sind und nun mit der Spitze gegen das offene Meer, vom Strand weg, gerichtet werden. Der Versschluß neben Verg. Aen. 3,532 (proras ad litora torquent, mit der Änderung von ad zu a, s. oben) auch 5,177 clauom … ad litora torquet. 383 puppibus incumbit uentus Für das Bild und für incumbere mit Dativ Verg. Aen. 1,84 (sc. uenti) incubuere mari, Val. Fl. 2,59f., Germ. 407f. deprensae turbauit lintea puppis / incubuitque sinu laxo (sc. flatus), Lucan. 1,389f. Boreas cum Thracius Ossae / rupibus incubuit, 3,1f. uelis cedentibus Auster / incumbens, Ps. Hil. gen. 175 uenti coepere incumbere terris (s. auch ThLL VII 1,1074,44. 70ff. für die Bedeutung ‘bestürmen’ mit Dativ). mox Hier in der Bedeutung ‘dann’ (s. ROSE 1927, 63f., NORWOOD 1941, 421).

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carbasa tendit Subjekt zum Ausdruck ist noch uentus. Tendere carbasa ist eine dichterische Junktur (Sen. Herc. f. 538, Lucan. 8,50. 185. 254; 9,77 inuisi tendunt mihi carbasa uenti, Val. Fl. 4,422 placidi tendebant carbasa uenti), bei Dracontius noch Orest. 43 candida fluctiuagi tendebant carbasa uenti. Mit Subjekt der Person auch 222 carbasa tendis. 384 fluctus scindunt Hier muß ein Subjektswechsel zu den Schiffen oder ihrer Besatzung angenommen werden. Der fällt leichter, wenn er mit dem Einsatz eines ganz neuen Satzes zusammenfällt, der hier postuliert wird. Wir erhalten dadurch eine deutlichere Trennung von Abfahrt und der tatsächlich laufenden Fahrt samt zunehmendem Wind. Pflügen als Metapher für das Segeln übers Wasser ist typisch dichterisch und findet sich in diesem Gedicht auch 574. Die Vokabel scindere verwendet dafür zuerst Vergil, Aen. 10,765, dann auch Ov. trist. 1,10,48; 5,2b,18. et prospera flamina crescunt Wieder ein Ergebnis der Kontaminationsarbeit des Dichters: Die Junktur ist zusammengestellt aus uento crescente Catull. 64,274 (Aetna 310 crescere uentos) und Claud. 24,57 prospera non fessis optantur flamina nautis. Für et in der Apodosis, das Dracontius auch hier im Gedicht gelegentlich nutzt (z. B. 260), s. H-S 482. HAUPTTEIL III: 385–434 DER SEESTURM320 Seestürme321 gehören wie der Musenanruf, Reden und Gleichnisse zu den Elementen, die eine epische Dichtung ausmachen. Die Seesturmschilderungen der lateinischen Literatur sind von zahlreichen Topoi durchsetzt, die überwiegend von Homer übernommen werden, der selbst zwei Seestürme beschreibt (Hom. Od. 5,291ff.; 12,403–425) und damit als Archeget der Seestürme im Epos gelten kann. Seitdem gibt es feste Elemente, die immer wieder in literarischen Seestürmen auftreten. Dazu gehören Winde, die entweder alle zusammen oder einzeln blasen, ein Meer mit hohen Wellen, Dunkelheit, Wolken, Blitz und Donner, Zerbersten des Schiffes und schließlich Verzweiflung und gelegentlich Tod der Seeleute.322 Obwohl sich die ersten lateinischen Dichter mit ihren Stürmen an Homer orientieren und sie 320 Der Seesturm an dieser Stelle soll in seiner epischen Scharnierfunktion bei der Gliederung deutlicher als bisher herausgehoben werden und wird deshalb nicht mit einem der ihn umgebenden Abschnitte zusammengezogen, sondern als eigener Teil behandelt (so auch WASYL 2011; dagegen QUARTIROLI 1946, 177f, AGUDO CUBAS 1978, 276). 321 Allgemein zum Seesturm s. BURCK 1978, FRIEDRICH 1956, KAHLMEYER 1934, LIEDLOFF 1884, MORFORD 21996, RATKOWITSCH 1986; 2008, SCHINDLER 2000; Stellensammlungen zu den verschiedenen Motiven des Seesturms bietet TARRANT 1976, 262ff.; 270; 272. Indem Dracontius Paris allein (ohne Helena) in den Seesturm geraten läßt, ändert er die überkommene mythologische Tradition, die in den ‘Kyprien’, bei Apollodor epit. 3,4, bei Dictys 1,5 einen Sturm überliefert, der auf Helena und Paris auf der Fahrt nach Troja prallt (MORELLI 1912, 106f.; BRIGHT 1987, 118, WOLFF 1996, 153, WASYL 2011, 81f.). 322 MORFORD 21996, 21.

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selbst wiederum die folgenden beeinflußt haben, so ist doch Vergil der wirkmächtigste Vermittler von Topoi und Wortwahl für die lateinische Literatur geblieben.323 Alle folgenden Dichter der Silbernen Latinität und danach haben sich den zu Beginn des ersten ‘Aeneis’-Buches an prominenter Stelle geschilderten Seesturm zum Vorbild genommen. Nach ihm wurden kaum noch weitere Motive ergänzt oder die bestehenden verändert, sondern im Wesentlichen etablierten sich die genannten Topoi als feste Bestandteile. Die Kunst der Nachfolger liegt in der Variation, die sich etwa in noch größerer Übertreibung324 äußern kann. Die Seestürme sind in den meisten Fällen rein literarischer Art. Daher fehlen häufig genaue geographische Angaben, wie auch bei Dracontius. Dies verdankt die Tradition Vergil, der den Sturm Homers, der in der Adria stattgefunden hat, auf das westliche Mittelmeer übertragen hat.325 Fest steht stets nur, wo der Seesturm beginnt und wo er endet, wo also die Mannschaft schließlich angespült wird; der Weg dazwischen kann kartographisch oft kaum nachvollzogen werden. Die Motivation eines Dichters, Seesturmschilderungen und Seesturmmotivik in sein Werk aufzunehmen, kann sehr verschieden sein. So finden sich bei Lukrez und bei Vergil in den ‘Georgica’ physikalische Beobachtungen zu Stürmen, die dann didaktisch im Lehrgedicht verarbeitet werden.326 Zudem kommt der moralisierende Aspekt hinzu, der von Hesiod zum ersten Mal geäußert wurde. Für ihn sind Seestürme die Folge der Schlechtigkeit der Gesellschaft und er meint, daß die Menschen für ihre Gier nach Geld auch die Gefahr auf dem Meer riskierten (op. 684– 686). Auch für Vergil ist die Seefahrt ein Zeichen der Unvollkommenheit vor der Rückkehr des Goldenen Zeitalters (ecl. 4,31–39). Die Fahrten auf dem Meer werden zu Beispielen der menschlichen audacia, die den Zorn der Götter auf sich zieht, wenn die Menschen es wagen, sich auf dem Meer zu bewegen und die Ehrfurcht vor den Göttern verlieren,327 Argumente, die zum Teil auch bei Dracontius in der Rede des Paris zu identifizieren sind (s. auch zur Rede selbst, S. 374).328 Die Schilderung des Seesturms im ‘Raub der Helena’ ist im Vergleich zur in seiner Mitte befindlichen Rede des Paris recht kurz gehalten. Auffällig ist, daß elementare Bausteine eines epischen Seesturms fehlen, wie die tiefe Dunkelheit oder die nicht mehr mögliche Unterscheidung von Himmel und Meer.329 Daraus ergibt sich, daß die Dramatik im Vergleich zu vorbildhaften Seestürmen (besonders Vergil, der hauptsächlich, sowohl sprachlich als auch strukturell, anklingt330), ein FRIEDRICH 1956, 83, MORFORD 21996, 26. Häufig beispielsweise bei Lucan, s. FRIEDRICH 1956, 83f. MORFORD 21996, 26. MORFORD 21996, 26ff. Vgl. auch den Weltaltermythos bei Ovid und Hor. carm. 1,3. Angeführt sei auch Romul. 10,38f. quis crederet umquam / per freta, per rapidas hominem transire procellas?, wo die Verletzung des Meeres, die Hybris, sich als Mensch aufs Meer zu wagen, thematisiert wird, was typisch ist für diese erste Seefahrt überhaupt (vgl. die ‘Argonautika’ des Apoll. Rhod., Catulls carm. 64). 329 SIMONS 2005, 263 weist auf die Schlichtheit des Seesturmes sowie das Fehlen einiger Elemente und der Sturmopfer hin. 330 Vergil stand sicher mit seinem Seesturm im ersten Buch der ‘Aeneis’ für den Aufbau der Seesturmschilderung Pate, wobei zwei Teile der Seesturmbeschreibung die Rede des Aeneas 323 324 325 326 327 328

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wenig abnimmt. Indem statt einer ausführlichen Beschreibung sämtlicher Seesturmelemente eine so lange und ausgeprägte Rede eingefügt wird, verfolgt die Seesturmschilderung offenbar als Hauptziel, Paris zu charakterisieren.331 Seit jeher tragen in der Literatur direkte Reden dazu bei, Personen zu charakterisieren, ihnen durch Stil und Inhalt der ihnen in den Mund gelegten Worte ein Gesicht zu geben.332 Für Paris bestätigt sich das Bild, das der Leser bisher von ihm erhalten hat (s. unten S. 374). Das Besondere am Seesturm des Dracontius ist die Darstellung als kriegerische Auseinandersetzung: Er personifiziert den Wind (Africus … ueniens comitante procella 385; comitante caterua begegnet z. B. Verg. Aen. 2,370 im Kriegsgeschehen), setzt occurrit hinzu, das auch feindliches Herannahen kennzeichnen kann, und läßt Kriegsmetaphern aufleuchten (murus, turris, dazu gehört auch in 426 die Übernahme einer Junktur aus Lucan, die im ‘Bellum civile’ Teil einer Seeschlachtszene ist: carina tollitur, s. dort; auch Worte wie fragor 425 und percutere 426 lassen sich in diese Richtung deuten). Hinzu kommen die Äußerungen des Paris selbst, der Seefahrer mit Kriegsherren gleichsetzt (404f. Seefahrer gegen Hirten; 420f. duces im Krieg als Gegenbild zu den Hirten und 423f. die Zusammenschau von beiden nam gladios tellure pauent pelagoque procellas / formidant). All diese Elemente lassen den Schluß zu, daß Paris hier, wie er vermutlich ursprünglich geplant hatte (215bff.), in eine Schlacht geführt wird. Freilich ist es eine, in der er mit seinem Vermögen keine Chance hat. Dennoch wäre es ihm möglich gewesen, seine innere Einstellung zu präsentieren und sich angemessen zu verhalten, statt eine von der Situation abgehobene Rede zu halten (s. auch zur Rede des Paris selbst, S. 374). Daß Seestürme für Schlachten stehen oder diese präfigurieren, ist seit Vergil zu belegen. Der Seesturm im ersten Buch der ‘Aeneis’, von Iuno nach einem Monolog initiiert, nimmt den Krieg mit Turnus in der zweiten Hälfte des Epos, der auch auf Iunos Betreiben hin beginnt, vorweg.333 Anklänge an Kriegsvokabular finden sich außerdem besonders deutlich im Seesturm Ovids (met. 11,474–572), z. B. 490f. umschließen (so ist wohl auch WOLFF 1996, 153 zu verstehen; dazu auch AGUDO CUBAS 1978, 279f., BRIGHT 1987, 118, SIMONS 2005, 280ff.). Von MORELLI 1912, 107 wird auch Lucan. 5,577–677 als vorbildhaft angeführt, der tatsächlich gelegentlich aufscheint (s. zu 425) und vielleicht mit der Darstellung des Protagonisten in kontrastiver Imitation (s. u. zur Einleitung der Rede, S. 374) aufgerufen wird, doch im Ganzen viel dramatischer und größer wirkt, also eher nicht als Hauptquelle in Frage kommt. S. auch CRISTOBAL 1988. 331 Daneben ist der Seesturm auch ein gliederndes Element: Er trennt die Geschehnisse in Salamis von denen auf Zypern; zudem trennt er auch Paris von seinen Begleitern, damit dieser allein auf Helena treffen kann (BRIGHT 1987, 118f.). 332 Seit Platon, Ion 540b läßt sich für die Antike das Mittel der Ethopoiie belegen. Dichter lassen bestimmte Figuren auf bestimmte Weise sprechen, um ihnen eine Rollenspezifizierung, einen bestimmten Charakter zu verleihen. Das betrifft zum einen den Stil, zum anderen freilich auch den Inhalt der jeweiligen Rede (ausführlich dazu HELZLE 1996, 22ff. für die Theorie und passim für den Beleg an verschiedenen Reden des römischen Epos). S. außerdem CARLO SCARDINO: Gestaltung und Funktion der Reden bei Herodot und Thukydides, Berlin 2007. 333 RATKOWITSCH 2008, 57. Für die Anklänge aus dem Kriegsvokabular und für Kriegsmetaphorik s. besonders Anm. 3. Eine Parallelisierung bzw. Kontrastierung von Aeneas und Paris wird in der Rede besonders deutlich, s. dort.

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feroces / bella gerunt uenti; außerdem zwei Gleichnisse mit kriegerischen Handlungen, 508f. und 525ff.334 Bezeichnenderweise findet der Seesturm statt, als Ceyx, der Ehemann der Alcyone, „der in einer bukolischen Friedenslandschaft“335 lebt, einen Krieg auf dem Seeweg zu umgehen versucht. Auch der Seesturm des Lucan dient dazu, die Schlacht zwischen Caesar und Pompeius vorwegzunehmen; zwei Gefahrensituationen, aus denen Caesar trotz seiner moralischen Verdorbenheit siegreich hervorgeht.336 Die Tatsache, daß der Seesturm im Epos häufig Kriege präfiguriert oder zumindest mit ihnen in Verbindung steht, daß die Stillung eines Sturmes den Sieg im folgenden Kampf angeben kann,337 läßt auch für den Seesturm im ‘Raub der Helena’ weiterreichende Schlüsse zu. Denn der Sturm des Dracontius wird nicht beruhigt, bevor Paris das Land erreicht (426f.). Das Schiff wird einfach an Land gespült, ohne daß eine Beruhigung des Meeres zuvor geschehen wäre. Erst danach, wenn sich auch die Begleiter bei Paris einfinden sollen, beruhigt sich das Wetter (428 recidente procella). Der Sturm verweist sicher auf den hier nicht mehr geschilderten, aber mit den Ereignissen eng zusammenhängenden trojanischen Krieg, den Paris nicht überleben wird. Im Seesturm stößt ihm nichts zu, aber er verhält sich unehrenhaft und sorgt sich nicht um seine Mannschaft. Hier ist wohl die Parallele zwischen Seesturm und kommendem Krieg zu sehen: So wenig sich Paris auf hoher See um seine Gefährten müht, so wenig achtet er auf die Konsequenzen des Helenaraubes, also auf die Konsequenzen für seine Mitmenschen. Sein Hochmut ist es, der letztlich sowohl im Unwetter auf hoher See, als auch in der gesteigerten Lebensgefahr des trojanischen Krieges den (potentiellen) Tod vieler Menschen sehenden Auges in Kauf nimmt.338 Strukturell erhält der Seesturm neben allem bereits Gesagten eine weitere Funktion, indem er deutlich Spannung erzeugt, wenn man bedenkt, daß Paris hätte untergehen und sterben können, so daß die anschließenden Ereignisse nicht passiert wären. Er steht damit in einer Reihe mit den Seherreden von Helenus und Kassandra vor der Aufnahme des Paris in Troja. Wie sie kann auch der Seesturm in die Kategorie der ‘Beinahe-Episoden’ eingeordnet werden.339 385–402a Beginn des Seesturms In diesem ersten Teil des Seesturms vor der Rede des Paris fallen die Variationen auf (z. B. für das Schiff classis, liburnae, nauigium, rates, carina, nauis) und gleichzeitig die Wortwiederholungen.340 So findet sich dreimal das wenig spezifische uenire (385. 391. 393), dreimal auch aqua, zweimal unda als Versschluß, 334 335 336 337 338 339 340

Für Gleichnisse von Schlacht und Seesturm s. KAHLMEYER 1934, 4. RATKOWITSCH 2008, 58. RATKOWITSCH 2008, 58. Für weitere Parallelisierungen s. dies. 58ff. RATKOWITSCH 2008, 60. BRIGHT 1987, 118 sieht den Sturm als ‘Vorspiel’ zum folgenden Raub. S. dazu die Einleitung 2.1.2 zum Spannungsaufbau. Hinzu kommen Amplifikationen, Intensivierungen, Spaltung der Gedanken in kleinere Aspekte, die eine pleonastische Verdopplung ergeben, z. B. 394f. extundit harenas / pressa carina solo (s. auch zu den Lemmata).

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zweimal suspensus. Die beiden auffallend ähnlichen Versschlüsse 391 altior unda und 395 celsior unda geben einen Anstoß, die Komposition des Abschnittes genauer zu untersuchen. Beide Verse betonen die Höhe der Wellen, jedoch jeweils von einem anderen Standpunkt aus. Während sich das exemplarische Schiff 391 noch hoch oben in den Wellenbergen befindet341, wird das Wasser durch den Wind 394 entfernt, so daß sich das Schiff 395 auf dem Meeresgrund befindet. Die Höhe der Welle als Mauer wird in diesem Fall von unten aus erfahren. Genau in der Mitte zwischen diesen beiden Versen und auch genau in der Mitte des Abschnitts findet sich 393 die Wendung unda desuper intentans pelago ueniente ruinam, zum Ausdruck des drohenden vollständigen Untergangs; die einzige Stelle, an der ein Wort wie ruina begegnet. Die beiden Möglichkeiten, im Seesturm umzukommen – entweder wird man zusammen mit dem Schiff von der brechenden Welle hinuntergeschleudert, oder sie bricht über einem zusammen, überflutet und bricht damit das Schiff – umschließen den Ausdruck dafür: ruina, die allerdings als ‘Untergang’ nur droht, jedoch als ‘Sturz’ eintritt.342 Also genau an der Stelle, wo der Sturz von oben nach unten im Gange ist, das etymologisch passende ruina (von ruere) plaziert. Eine Entsprechung und damit der Ansatz zu einer Ringkomposition läßt sich auch zwischen 386 und 400, dem zweiten und dem vorletzten Vers dieser Einheit, ausmachen: Die Zerstreuung der Schiffe auf der Meeresfläche, die schon am Anfang geschieht (sparsit in aequore classem), bemerkt Paris erst kurz vor seiner Rede (dispersos … aequore Troas). 385 Vgl. laud. dei 2,176f. Africus interea motus uirtute iubentis / inlaesurus adest, nulla comitante procella. Dracontius verwendet das gleiche Wortmaterial wie im christlichen Gedicht, jedoch ohne inhaltlichen Bezug. Während in den ‘Laudes dei’ der Wind ohne Sturm die Wachteln bringt, kündigt er hier das Verderben im Seesturm an. Dort ist Gott der Urheber des Ereignisses, hier ist es traditionelle ‘epische’ Naturgewalt. Eine weitere Verbindung ist nicht herzustellen. Metrisch besteht der Vers ausschließlich aus Daktylen, die das schnelle Herannahen des Windes im Rhythmus abbilden. Africus Schiffsunglücke, die auf den Africus zurückzuführen sind, beschreiben Livius (30,24,7 passim naues disiecit, vgl. 386 sparsit … classem) und Tacitus (Ann. 15,46); vgl. AUSTIN 1971, 53. Für den epischen Seesturm ist er aber eher ungewöhnlich, ebenso wie sein einsames Brausen ohne die Unterstützung anderer Winde (MORFORD 1967, 40f.). Weiterhin zu diesem Wind s. ThLL I 1255,55ff. Schon bei Vergil Aen. 1,85f. ist der Africus für seine Stürme bekannt: creber … procellis / Africus (s. auch CRISTÓBAL 1988, 134; BRIGHT 1987, 118 sieht in der Verwendung dieses Windes ein besonders deutliches Zeichen des Dichters für seine Orientierung an Vergil bei 341 Die Längenangabe des Ablativus comparationis malo wirkt noch heftiger, wenn man bedenkt, daß das Schiff schon hoch oben auf den Wellenbergen schwimmt und dann immer noch eine Welle höher steht als der Mast. 342 SIMONS 2005, 263 macht auf die Gefahr aufmerksam, die sich ständig bedrohlich steigert, aber nicht in der Katastrophe endet.

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III Kommentar

der Komposition dieses Seesturms). Vgl. auch Hor. carm. 3,29,57f. si mugiat Africis / malus procellis. interea Zeigt den Übergang von gefahrlosem Segeln zum lebensgefährlichen Sturm an. 385f. ueniens … / … occurrit Die beiden Ausdrücke wirken nur auf den ersten Blick redundant. Im Partizip wird zunächst das bloße Herannahen des Windes verdeutlicht (Phase 1: Aufziehen des Sturms), das in Begleitung eines Sturmes erfolgt, während im Anschluß die Art des Ankommens beschrieben wird (Phase 2: Der Sturm trifft das Schiff), nämlich turbidus und mit einer in occurrere ausgedrückten Feindlichkeit (ThLL IX 2,391,49ff.). 386 turbidus Vgl. im Seesturm Verg. Aen. 1,82f. uenti … / … terras turbine perflant. mox Leitet die Steigerung von der Beschreibung des Sturms als solchem zum Schicksal der Flotte des Paris innerhalb des Seesturms ein. sparsit … classem Die Zersprengung der Schiffe ist ein typisches Motiv im Seesturm, vgl. z. B. für die Situation Verg. Aen. 1,128 disiectam Aeneae toto … aequore classem. Für die Junktur Sen. Ag. 408 sparsa … classis, Lucan. 4,226 und besonders 9,16, das auch in aequore bietet: sparsas uolitauit in aequore classes. 387 gurgite curuato rapiuntur ad astra liburnae Das Motiv der sich aufwölbenden Wassermassen, die dann einen Wellenkamm (s. ThLL IV 1551, 79ff. s.v. gurges ‘in altitudinem sinuatus’) bilden, gehört zum Inventar des Seesturms (hier aus Verg. Aen. 3,564 tollimur in caelum curuato gurgite mit Synonymvariation des ganzen Verses [in caelum zu ad astra und tollimur zu rapiuntur liburnae] übernommen; s. für das Bild weiterhin Ov. met. 11,505 curuum … aequor [BÖMER 1980, 372]). Vgl. für die Wendung curuato gurgite außerdem Sil. 4,650. S. für die Berührung der Sterne im Seesturm zu 389f. Für rapere von Schiffen im Sturm s. ThLL XI 2,98,70ff. Liburnae steht synonym für ‘Schiff’ (s. WOLFF 1996, z. St.). In ihrer ursprünglichen Bedeutung waren Liburnen illyrische Seeräuberschiffe (ROBERT GROSSE: Liburna, RE 13, 1, 143–145). In der Dichtung stehen Liburnen für kampfbereite Kriegsschiffe, etwa Hor. carm. 1,37,30 und epod. 1,1. Es ist gut denkbar, daß Dracontius mit diesen Assoziationen im Hinblick auf den späteren Raub der Helena spielt. Es kommt hinzu, daß diese Art von Schiffen besonders leicht war und daher gut geeignet, um in einem Seesturm zum Spielball des Unwetters zu werden. 388f. suspensus aquis per nubila nauta cucurrit / nauigium uectante salo Dracontius scheint – typisch für eine Seesturmschilderung – verschiedene Aspekte von ungewöhnlichen Vorgängen, die im Seesturm auf einmal möglich werden, zu verknüpfen: ein nauta läuft (currere) gewöhnlich nicht, schon gar nicht durch die Wolken (per nubila). Parallel stehen hier jeweils am Versanfang der Seemann (in suspensus) und nauigium, wobei die jeweils ‘Handelnden’ aquis und uectante salo in der Position dahinter auftreten.

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Die von WOLFF 1996, z. St. postulierte Imitation der beiden Verse in Arator act. 2,1072f. rupta quies pelagi, tumidisque incanduit undis / caerulei pax ficta maris läßt sich nicht nachvollziehen. Freilich begegnen die gleichen Topoi und eine ähnliche Struktur, aber wörtliche Übernahmen, die eine Imitation belegen könnten, fehlen. Dagegen läßt sich die von MANITIUS 1891 (b) angenommene Übernahme durch Ven. Fort. Mart. praef. 11ff. gut zeigen, der 388 in Vers 13 fluctibus excussus per nubila nauita currit fast wörtlich übernommen hat. 388 suspensus aquis … nauta Vgl. für die Vorstellung Verg. Aen. 1,106 hi summo in fluctu pendent. Für suspensus in diesem Zusammenhang vgl. Heptateuchdichter gen. 293 tumidum suspensa per aequor / Arca. nauta Kollektiver Singular für alle Seeleute auf den Schiffen. 389 nauigium uectante salo Die Machtlosigkeit der Seeleute gegen den Sturm ist darin ausgedrückt, daß das Meer das Schiff trägt, ohne Steuerung (dieses ist in der Gewalt des Meeres, wie die Toten in der des Rheins in Prop. 3,3,45f. Rhenus / saucia maerenti corpora uectet aqua). Für den Versanfang vgl. Paul. Nol. carm. 31,123 nauigio uectatur homo, das sowohl Wortmaterial als auch den Klang geliefert haben kann, nicht jedoch Inhalt und Bedeutung (aus dem aber die normalen Verhältnisse ersehen werden können, die hier im Seesturm in Umkehrung erlebt werden). Die Form uectante läßt sich nur hier in der lateinischen Dichtung belegen. 389f. dum summa ceruchis / sidera tacta putant BAEHRENS’ Konjektur ceruchis für tradiertes ceruicis besticht, weil das Wort zur Dichtkunst des Dracontius mit gesuchten Wendungen und ungewöhnlichen Worten paßt, und die paläographische Nähe zur Überlieferung sehr groß ist, zumal das erste ‘i’ auszuradieren versucht wurde. Ceruchus findet sich nur sehr selten in der lateinischen Literatur. Dreimal vor Dracontius: Lucan. 8,177 instabit summis minor Vrsa ceruchis; 10,495 transtraque nautarum summique arsere ceruchi, Val. Fl. 1,469 temperet ut tremulos Zetes fraterque ceruchos; und zweimal nach Dracontius: Ennod. carm. 1,7,43 lintea nam summis dum crispant nexa ceruchis, Ven. Fort. Mart. 4,408 rapiuntur signa ceruchis. Die Berührung der Sterne und des Himmels, meist vom Wasser, ist ein bekannter Topos in Seesturmschilderungen (Ov. met. 11,497ff.; 15,508f., Verg. Aen. 1,103, s. LUCK 1977, 28; auf das Wortmaterial hat sicher Ov. trist. 1,2,19f. quanti montes uoluuntur aquarum! / iam iam tacturos sidera summa putes einen Einfluß gehabt). Dies variiert und überbietet Dracontius, indem er den Eindruck erweckt, das Schiff selbst berühre die Sterne. Sidera tacta putant ist das von den Seeleuten erlebte Ergebnis von 387 gurgite curuato rapiuntur ad astra liburnae. Die Verbindung von et mit einer Verneinung findet sich bei Dracontius häufiger (z. B. et non 202, Orest. 783; et numquam Romul. 4,16. 34), mit nil nur hier (WOLFF 1996, 137).

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III Kommentar

390f. nil superesse fatentur / montibus aequoreis Superesse in der Bedeutung ‘überleben’, konstruiert mit dem Dativ montibus aequoreis. Dagegen WOLFF 1996, z. St., der ‘höher sein’ mit Verweis auf Sen. nat. 3,28,4 illis tutis hominum receptaculis superest (wo absolutes ‘höher sein’ wohl auch zu wenig ist) übersetzt und montibus aequoreis als Ablativus comparationis versteht. Dagegen spricht jedoch der Kontext: Denn es folgt erst danach im Hauptsatz malo uenit altior unda, also wendet sich erst dort der Blick auf die Höhe der Wellen mit Bezug zu einem Vergleichspunkt. Alternativ könnte man noch mit der Bedeutung ‘darüber sein’ und mit der gedanklichen Nähe zur Berührung der Sterne argumentieren. Nichts paßt mehr zwischen Wellenberge und Himmel, es geht nicht mehr höher. Der Blick ginge hier nach oben, während er sich im folgenden auf die Seite wendet und die Monsterwelle wahrnimmt. Für superesse in ähnlicher Situation z. B. Verg. Aen. 1,383 uix septem conuulsae (sc. naues) undis Euroque supersunt, Liv. 26,41,2 ueteres milites qui tantis superfuerunt cladibus. Vgl. für die Formulierung Claud. 26,472 nil superesse ratus. Das Bild des Wellenberges ist typisch: z. B. Verg. Aen. 1,105 insequitur … praeruptus aquae mons. Fatentur seit Verg. Aen. 11,344 ausschließlich am Hexameterende. 391 malo uenit altior unda Zur Dramatik des Seesturms gehört meist eine besonders hohe Welle, die den Untergang ankündigt. Der Versschluß ebenso Ov. met. 11,230 altior unda. 392f. In diesen beiden Versen entsprechen die rahmenden Worte naufragium und ruina, außerdem minatur und intentans einander. Die Daseinsberechtigung erhält der inhaltlich zunächst redundant wirkende V. 393 durch die in ihm ausgedrückte Steigerung. Eine einzelne Welle, wenn auch eine hohe, kann Schiffbruch bewirken, aber noch nicht den vollständigen Untergang. Sie aber kündigt das hinter ihr aufsteigende ganze Meer pelagus an, das schließlich aufgrund seiner Wucht völlige Vernichtung mit sich bringen wird (ruina). 392 naufragium … minatur Rahmt den Vers und bildet dadurch das drohende, alle Schiffe umgebende, hohe Meer ab. Die Junktur begegnet sonst erst nach Dracontius. suspensa Ist eher nicht von ratibus (das nur zu minatur zu beziehen ist) abhängig zu machen (dagegen WOLFF 1996, z. St.). Die Junktur unda suspensa auch laud. dei 1,143. 393 Dieser Vers mit dem Ausdruck größter Bedrohung steht genau in der Mitte des ersten Seesturmabschnitts. Zur Komposition des Teils s. oben, S. 366. desuper Das Adverb ist zu intentans zu ziehen, was einen zu suspensa minatur inhaltlich parallelen Ausdruck ergibt (dagegen WOLFF 1996, z. St. und VOLLMER MGH 339, die desuper zu pelago ueniente beziehen). intentans Für die Verwendung im Seesturm in der Bedeutung minari vgl. Verg. Aen. 1,91 praesentem … uiris intentant omnia mortem.

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pelago ueniente Das überlieferte, metrisch unmögliche uenientem wurde in seiner Verschreibung sicher vom folgenden Akkusativ ruinam beeinflußt. Es klingt der Versschluß Sil. 4,710 ueniente ruina an. 394 Nachdem sich die Wellen aufgetürmt hatten, wendet sich der Blick auf die Wellentäler, die bis auf den Meeresgrund reichen, wo schließlich auch das Schiff aufschlägt. iam uentus subduxit aquas Für den Gedanken ist nauibus zu ergänzen (VOLLMER MGH 414, WOLFF 1996, z. St.). Vorbild für den Ablauf, daß das Wasser sich entfernt, während man sich eben noch auf dem höchsten Wellenberg befand, und die Wortwahl ist wohl Verg. Aen. 3,565 subducta ad Manis imos desedimus unda. Dabei beschleunigt iam den Vorgang, indem es die Darstellung des dramatischen Falls unnötig macht, der – unten angekommen – vorausgesetzt ist. extundit harenas Ein zu pressa carina solo tautologischer Ausdruck. Dabei kann man extundere als compositum pro simplici betrachten (für den Ausdruck vgl. z. B. laud. dei 1,577 litora tundit), wie Dracontius die Verben gelegentlich gebraucht (WESTHOFF 1883, 9). Die Bedeutungsangabe für diese Stelle im ThLL V 2,2091,55ff. (‘durch Schlagen bewirken, daß etwas herausgeschleudert wird’) ist zumindest bedenkenswert. Das solo aus 395 würde dann von extundit abhängig. 395 pressa carina solo Vgl. für die Junktur pressa carina Verg. georg. 1,303 (von einem beladenen Schiff), Ov. fast. 4,300 pressa carina uado. Solo (‘Meeresboden’, für die Bedeutung s. OLD s. v., 1786, 1c) ist lokaler Ablativ ohne Präposition (WOLFF 1996, z. St.; die Konstruktion Rut. Nam. 1,74 qui primus humo pressit aratra puer, wobei hier humo auch Dativ sein könnte). murus stat celsior unda Vgl. den Versschluß 391. Durch die paläographisch unproblematische Änderung von murus zu muro, die BAEHRENS vorgeschlagen hat (ähnlich schreiben muris BÜCHELER, VON DUHN und DIAZ DE BUSTAMANTE), würde der Versschluß zu 391 vollständig parallel (zur Anlage des Abschnitts s. oben). Gewiß würde der Komparativ auf den ersten Blick durch einen Ablativus comparationis als Ergänzung etwas konkreter, doch ist eine ‘Mauer’ als Maßangabe noch immer weit weniger klar faßbar, als der ganz bestimmte malus aus 391. Zudem ist das Bild einer Mauer aus Wasser, das das überlieferte murus zeichnet, nicht unbekannt: Eine metaphorische Mauer aus Wasser findet sich auch beim Zug durch das Rote Meer, der ersten Belegstelle für diese Verwendung: erat enim aqua quasi murus a dextra eorum et leua (abgeschwächt durch quasi; Vulg. Exod. 14,22; vgl. auch 29; s. ThLL VIII 1687,83ff.; murus als im weitesten Sinne ‘lectio difficilior’ hält auch BRUGNOLI 1998, 205f., der auf die oben zitierte Stelle, allerdings in der Version der ‘Vetus Latina’ verweist, wo murus nicht durch quasi abgeschwächt wird). 396 circumfusa rati Eine Schlachtepisode aus Lucans Bürgerkrieg wird durch die Formulierung in Erinnerung gerufen: inter tot milia captae / circumfusa rati … / pugna fuit (4,470–472). Dort sind es die Angreifer, die feindlich das Schiff umschwärmen, hier die Wassermassen, die – so hoch wie eine Mauer – das Schiff

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III Kommentar

umspülen. S. die Einleitung des Abschnittes zur Kriegsmetaphorik im Seesturm. Die Konstruktion von circumfundere mit Dativ begegnet seit Ov. fast. 5,582, allerdings recht selten (s. ThLL III 1149,54ff.). uastarum … aquarum Die Junktur aquae uastae ist ovidisch: z. B. ars 3,94. Der Genitiv Plural von aqua begegnet in der lateinischen hexametrischen Dichtung fast ausschließlich am Versende. Die Form uastarum findet sich in der Dichtung sonst nur noch Ov. met. 2,194. 396f. turris … / pendet Indem die Metapher weitergeführt wird und ein Turm genannt wird, entsteht eine Dopplung, die eine reale Mauer aus Mauersteinen und Mauertürmen bestehend abbildet. Paulinus von Nola schreibt in carm. 27,525 (Bildbeschreibung von Gemälden in der Basilika von Nola) tremula conpage minax pendebat aquae mons (Zug durch das Schilfmeer) – der einzige Beleg für die Verwendung von pendere im Zusammenhang mit bedrohlichem Wasser. In Verbindung mit turris nur Prud. c. Symm. 2,725 pendentes … turres. 397 elati … fluctus Vgl. 370 elatis … equis. Paul. Petric. Mart. 5,754 elato … fluctu (vgl. auch Mart. Cap. 1,15 fluctu elatiore suspensas). percellunt carbasa fluctus Daß die Segel nicht eingeholt worden sind, deutet entweder den sehr plötzlich einsetzenden Sturm oder die völlige Planlosigkeit der Besatzung an. Percellunt ist BÜCHELERs Konjektur anstelle des tradierten per coelum, um ein fehlendes Prädikat herzustellen. Die Fehlergenese läßt sich recht gut nachvollziehen: Ein zu klein geratenes oder ganz weggelassenes erstes ‘l’, eine undeutliche Ligatur zwischen ‘n’ und ‘t’ können einen Schreiber, zumal mitten im Seesturm, in dem es auf und ab geht, auf den ‘Himmel’ verfallen lassen. Percellere besitzt neben der paläographischen Nähe auch den Vorteil, daß es bei Dracontius sonst eine dezidierte Kriegsvokabel ist (s. VOLLMER MGH 387 für eine Stellensammlung), so daß das Wort sich in den Eindruck vom Seesturm als kriegerischer Situation (s. oben S. 365) gut einpassen läßt. Ein Anklang an Sil. 15,163 scheint nicht gegeben, da der von WOLFF 1996, z. St. abgedruckte Text propellit carbasa fluctus weder als Überlieferung noch als Konjektur existiert. Es ist überall zweifelsfrei flatus zu lesen (so schon BRUGNOLI 1998, 205, Anm. 69). 398–401 In der Wortwahl kann man über diese Verse hinweg die Figur des Aeneas im Seesturm (vor seiner Rede) mithören: Verg. Aen. 1,92f. extemplo Aeneae soluuntur frigore membra; / ingemit. 398 obriguit per membra Obrigescere begegnet seit Ausonius im Zusammenhang mit Angst (ThLL IX 2,149,57ff.), jedoch nur hier mit dem Anschluß von per und einem Substantiv. Die Konstruktion ist, wenn auch ungewöhnlich, so doch unproblematisch (s. auch WOLFF 1996, z. St., der zu Recht betont, daß per membra eine häufige Erscheinung der Dichtung sei und Dracontius eine Vorliebe für per habe), und bildet zudem das allmähliche Erstarren ab.

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transire parabat Parabat (vielleicht als Imperfekt de conatu gedacht) seit Lucr. 5,1148 stets am Versende. Vgl. für das reine Wortmaterial Lucan. 8,595 transire parantem; Stat. Theb. 7,818 transire parantis. 399 legatorum Die Form begegnet nur hier in der Dichtung. propria de naue Die Junktur begegnet so nur bei Dracontius. De naue findet sich viermal in der Dichtung, an derselben Versposition bei Verg. Aen. 5,487 de naue Seresti (und Iuv. 9,149). Vgl. auch die Formulierung Ov. epist. 13,97 de naue nouissimus exi für das Verlassen eines Schiffes. Es wird nicht ganz klar, wie man sich die Situation vorzustellen hat. Denn daß Paris mitten im tobenden Seesturm versuchen wollen sollte, von seinem Schiff auf das der anderen umzusteigen, so daß also de naue separativ zu verstehen wäre, scheint unrealistisch. Vielleicht ist der Gedanke einem Paris aber dennoch zuzutrauen (vgl. WOLFF 1996, z. St.). Alternativ böte sich an, den Präpositionalausdruck instrumental zu verstehen, wie er sich besonders im Spätlatein entwickelt (vgl. besonders den Instrumentalis mit de 167; HS 126; 262; 264, s. auch ZWIERLEIN BT z. St.); dann würde Paris mit seinem Schiff versuchen, die anderen zu erreichen (transire wäre in diesem Fall ebenso gebraucht wie Romul. 10,39 per freta, per rabidas hominem transire procellas). Proprius anstelle von suus (s. H-S 179 für die Entwicklung), wie häufig im Spätlatein, so auch bei Dracontius (s. VOLLMER MGH 396, der eine Stellensammlung bietet). 400 dispersos longo uidet aequore Troas Deutlich klingt Verg. Aen. 1,128f. disiectam Aeneae toto uidet aequore classem, / fluctibus oppressos Troas an. Dabei lassen sich folgende intertextuelle Bezüge herstellen: Subjekt ist bei Vergil Neptun, der kurz darauf den Seesturm beruhigen wird, was zur Rettung der Menschen führt. Paris hingegen ergeht sich als Reaktion auf das uidet in Klagen über das Leben. Zur Kontrastimitation hinsichtlich des Sinnes kommt die Synonymvariation z. B. bei dispersos für disiectam, oder der Austausch des Attributs wie longo für toto bei gleichzeitiger Reduktion. Die Wortstellung bildet die Zerstreuung der Flotte ab: Das Prädikat uidet steht genau in der Mitte und deutet so die Rundumschau an. Longo aequore ist lokaler Ablativ (die Junktur ist z. B. bei Ov. met. 3,538; 13,961, Stat. Theb. 4,24; 12,809 u. ö. zu belegen). Longus steht hier in der Bedeutung uastus (seit Hor. carm. 3,3,37); beim ‘Meer’ s. ThLL VII 2,1635,16ff. 401 soluitur in Vgl. für den Versanfang Verg. Aen. 4,530 soluitur in somnos, wobei hier wie dort in das Ergebnis des Vorgangs verdeutlicht (s. auch Prop. 4,4,79; Lucan. 8,106f.; WOLFF 1996, z. St.). gemitus lacrimosae uocis amaros Die singuläre Junktur gemitus amarus (ThLL VI 3,1753,33) ergibt sich aus dem Spiel mit vorgeprägten Junkturen. So findet sich Stat. Theb. 1,450 uocis amarae am Versschluß; sehr häufig ist die Kombination von Formen von gemitus mit einer Form vom Stamm lacrim-. Dracontius setzt die Bestandteile grammatisch anders zusammen und erhält eine wirkungsvolle Variante.

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III Kommentar

Lacrimosae uocis ist Genitivus subiectivus oder inhaerentiae zu gemitus (WOLFF 1996, z. St.). Vgl. für die Junktur Verg. Aen. 11,274 lacrimosis uocibus; Paul. Nol. carm. 20,107 lacrimosa uoce; Paul. Petric. Mart. 5,769 confusi gemitus, lacrimosae et murmura uocis. 402 et sic orsus ait Nur bei Dracontius (nach ihm bei Coripp. Ioh. 7,409 et sociis sic orsus ait) in dieser Form und genau an dieser Versposition; ebenso 461 in unserem Gedicht und Orest. 892. 402b–424 Rede des Paris Paris beginnt die Rede mit dem Preis der Hirten, trauert damit seinem eigenen Hirtenleben nach,343 das er für Ruhm und Ehre eines Königssohnes verlassen hat, und verkehrt so seine frühere Haltung ins Gegenteil. Solange er spürbar seine Karriere fördern konnte, war er stolz und voller Pläne, jetzt aber wirft ihn ein Seesturm aus der Bahn. Nachdem Paris während der Gesandtschaft gar nicht zu Wort gekommen ist, erhält er nun im Sturm seine Redezeit, die er zu einer Klagerede344 nutzt, die indes ganz anders als sonst bekannte Seesturmreden ausfällt und wenig auf die Situation zugeschnitten ist.345 Paris zeigt in dieser Rede mitten im lebensgefährlichen Sturm sein wahres, feiges Gesicht, indem er in deutlichem Gegensatz zum laut-tosenden Sturm die Ruhe des Landlebens vor Augen stellt.346 Er ist als Antipode zu Aeneas gestaltet,347 der zwar klagt, aber nur deshalb, weil er nicht ehrenhaft auf dem Schlachtfeld sterben konnte, sondern befürchtet, mitten auf dem Meer umzukommen (zu 402f., dieses Motiv auch Sil. 17,260ff.), und zu Caesar, der, über jede Furcht erhaben, sich arrogant über die Naturgewalten stellt (Lucan. 5,577ff.). Auch gibt er keine Anweisungen wie es Ceyx in Ov. met. 11,482f. tut, mit denen er der Mannschaft Führungskraft und Verantwortungsbewußtsein zeigen könnte. Stattdessen wünscht er sich 343 Das Thema des Verlustes der eigenen bukolischen Welt ist prominent in der ersten Ekloge Vergils gestaltet, in der Tityrus und Meliboeus, der durch Enteignung sein Grundstück verloren hat, auftreten und miteinander sprechen, wobei Meliboeus immer wieder in Klagen über den Verlust ausbricht. Die Ausgangsposition des Paris ist freilich damit nicht zu vergleichen, weil er selbst seine bukolische Welt verlassen hat, doch läßt sich feststellen, daß die Verlustsituation bereits in typisch bukolischer Dichtung vorgeprägt ist. 344 Dagegen sind die prominentesten Seesturmreden gefaßt (Aeneas bei Vergil, Aen. 1,94b–101) oder hochmütig-furchtlos (Caesar bei Lucan. 5,653b–671) gestaltet. 345 Die Rede ist ein Element, das Dracontius in seinem Seesturm besonders gestaltet hat, weil es ihm wohl für die Situation und seine Charakterisierung des Paris lohnenswert erschien. Es ist bekanntermaßen für die Dichter üblich, den Topoi der Seesturmschilderungen eigene Akzente beizufügen. Während die übrigen Seesturmelemente keine sonderliche Steigerung gegenüber den Vorgängern erfahren haben (vielleicht abgesehen von 394f. mit dem Aufschlagen des Schiffes auf dem Meeresgrund), ist die Rede völlig neu gearbeitet worden. 346 Für diesen komischen Gegensatz s. auch BRETZIGHEIMER 2010, 290f., die die Rede zugleich als Vorzeichen für den folgenden nicht-stattfindenden Raub interpretiert, da er von einer so feigen Figur nicht erwartet werden könne. 347 Der Makarismos zu Beginn der Paris-Rede lädt dazu ein, sie mit der des Aeneas im ersten Buch der vergilischen ‘Aeneis’ zu vergleichen und Paris vor der Folie des vergilischen Helden zu untersuchen; s. zu 402f.

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mimosenhaft in sein Hirtenleben zurück. Dies wirkt auf den Leser besonders paradox, da er noch in frischer Erinnerung hat, wie Paris militärische Erfolge sammeln wollte, wie er Schiffe ausgerüstet hat, um auf große Fahrt zu gehen. Und wie er davor sein Hirtenleben verlassen hat. Die Figur des Paris ist in ihrem Verhalten und in ihrem Reden durch ironische Zeichnung unglaubwürdig-versagend dargestellt. Obwohl aus der auktorialen Redeeinleitung mit lacrimosa uox (401) deutlich wird, daß Paris sich fürchtet, so ist die Angst in seiner Rede doch hinter einer an der Situation eher unbeteiligten laudatio mit symbuleutischen Elementen348 des Hirtenlebens versteckt. Kontrastiert werden pastor – nauta und pastor – dux (420f.)349, wobei in der Zusammenführung der beiden Berufsgruppen der nautae und duces 423 deutlich wird, daß für Paris beides, zur See fahren und Kriegsherr sein, zusammengehört, parallel abläuft und daher nicht zu trennen ist. Indem er sich in diesem Moment in die Auseinandersetzung auf theoretischer Ebene begibt, ist Paris erkennbar von seiner eigenen Situation abgehoben, über seine Gefährten oder die Sorge um sie fällt kein einziges Wort. Auch die Todesangst, von der er sagt, daß man sie im Sturm erlebt (423) und die er deshalb auch erleben muß, wirkt wie von außen analysiert, aber nicht in diesem Moment selbst erlebt. In dem langen Abschnitt über das bukolische Leben gewinnt man den Eindruck, Paris träume und nähme den Seesturm überhaupt nicht wahr. Grundlage für die bukolischen Ausführungen des Paris ist die Darstellung des in der antiken Literatur topisch verbreiteten locus amoenus350. Letztlich gehen alle diese Schilderungen auf die loci amoeni bei Homer und Hesiod zurück,351 die je nach Schwerpunktsetzung von den folgenden Autoren durch imitatio und aemulatio variiert worden sind, wie es sich auch bei anderen topischen Elementen wie Seesturmschilderungen verhält. Die Ausführung des Topos, der allgemein in der antiken Literatur als gattungsübergreifendes Standardelement faßbar ist, also auch für 348 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 206 bemerkt zu Recht die problematische Klassifizierung dieses Redegenus, weshalb er ein Zusammenspiel der Formen laudatio, klagender commemoratio temporis acti und dem genus deliberativum postuliert. Überraschend ist der Abstand, der zwischen dem reinen Wortlaut und seiner Wirkung klafft. Denn betrachtet man nur die Rede außerhalb ihres Zusammenhanges, käme man nicht darauf, daß es sich hier um eine Klagerede handeln könnte. Dies ergibt sich allein aus der Situation, während die Rede selbst sehr nüchtern ist. So kann man eine genauere Unterscheidung vornehmen: Rein formal handelt es sich um eine laudatio mit deliberativen Elementen. Im Zusammenhang erweitert sich ihr Spektrum auf das einer Klagerede im Seesturm. 349 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 260, WOLFF 1996, z. St. 350 Zum locus amoenus s. z. B. Eva BÖRSCH-SUPAN: Garten-, Landschafts- und Paradiesmotive im Innenraum, Berlin 1967, CURTIUS 81973, WINFRIED ELLIGER: Die Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung, Berlin / New York 1975, H. R. FAIRCLOUGH: Love of Nature among the Greeks and Romans, New York 1963, ERNST ULRICH GROSSE: Sympathie der Natur. Geschichte eines Topos, München 1968, HASS 1998, GERHARD LOHSE: Der locus amoenus bei Homer, Platon, Cicero, Vergil, Goethe, Tieck, Stifter und Handke. Zur Transformation eines Inszenierungsmusters, in: ders. / MARTIN SCHIERBAUM: Antike als Inszenierung. Drittes Bruno Snell-Symposion der Universität Hamburg am Europa-Kolleg, Berlin 2009, GERHARD SCHÖNBECK: Der locus amoenus von Homer bis Horaz, Heidelberg 1962, 202ff. 351 HASS 1998, 1.

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epische Formen legitimiert ist, geschieht in der Paris-Rede nicht typisch episch, sondern bukolisch. So ist diese Rede voller bukolischer Bilder und Wendungen (s. zu den einzelnen Lemmata).352 Wie schon beim Verlassen der bukolischen Welt 61f. wird die Landschaft nur durch Schlagworte einer langen Aufzählung aufgerufen; es erfolgt keine ausführliche Ekphrasis der Umgebung. Erst die Tiere und die Tätigkeiten des Hirten erfahren eine umfassendere Ausführung. Mit Worten wie gestire 408, lasciuus 410, quantus amor 416 macht Paris diese Umgebung zum perfekten Ort für Menschen und Tiere. Interessant und für die subtile Charakterzeichnung des bislang und auch künftig nicht sonderlich moralisch agierenden Paris aufschlußreich ist der moralisierende Aspekt gerade in seiner Rede, der durch die Gegenüberstellung von bukolischem Leben und Erobererleben in den Blick gerät.353 Seit Verg. ecl. 4,31–39 und Hor. carm. 1,3,25–31, später auch im Seesturm des Val. Fl. 1,574–692354 ist das Seefahren Zeichen der audacia des Menschen und seiner Entfremdung von der Einfachheit des goldenen Zeitalters.355 Viele weitere Autoren stellen in moralisierender Auseinandersetzung das stille Leben gegen das Leben von Eroberern und Seefahrern.356 Ein Loblied auf das Hirtenleben findet sich Culex 58–99, hauptsächlich im Gegensatz zu einem Leben in luxuria. Auch Tib. 1,1 macht in den ersten fünf Versen den Gegensatz zwischen dem einfachen und dem auf Gewinn ausgelegten kriegerischen Leben auf. Dort fällt zwar tatsächlich das Stichwort des Krieges (wie in der Rede des Paris), aber eigentlich wird der Besitzerwerb gegen ein Leben in paupertas gestellt. Ein ebensolches Bild ergibt sich aus der Anti-Kriegs-Elegie 1,10. Krieg wird als Folge der Gier gegen die Zufriedenheit mit dem einfachen Leben gehalten (s. dazu auch VISCHER 1965, 145).357 Prominent ist der Lobpreis in Verg. georg. 2,458−460: O fortunatos nimium, sua si bona norint, / agricolas! quibus ipsa procul discordibus armis / fundit humo facilem uictum iustissima tellus. Auch hier scheint der Kontrast zwischen Krieg und friedlichem bukolischem Leben auf. Gedacht sein

352 Unterstützt wird der bukolische Eindruck durch 17 von 23 möglichen bukolischen Dihäresen. Den Einfluß der vergilischen Bukolik betonen zu Recht AGUDO CUBAS 1978, 280f., WOLFF 1996, 154f., GALLI MILIĆ 2016, 208. 353 Gewiß steht Paris an dieser Stelle nicht an einem wirklichen Scheideweg, was sein Lebensmodell angeht, weil er zumindest den Sturm überleben muß. Also könnte eine potentielle Entscheidung erst in einem zweiten Schritt auch realisiert werden. Aber daß Überlegungen zu verschiedenen Lebensmodellen angestellt werden, ist offensichtlich. In diesem Punkt greift Dracontius mit seiner Komposition der Rede ein typisch episches Motiv auf (für eine Zusammenstellung von Beispielen s. J.L. PENWILL: On Choosing a Life: Variations on an Epic Theme in Apuleius Met. 10 &11. Ramus 38, 2009, 85–101). Auf die Tradition dieses Motivs verweist auch WASYL 2011, 82f. 354 RATKOWITSCH 2008, 58. 355 MORFORD 1967, 29. 356 Die aus der Rede zu extrahierenden Gedanken sind fast deckungsgleich mit denen, die VISCHER 1965 über das einfache Leben bei den antiken Autoren zusammenstellt, s. besonders 153ff. 357 Vgl. auch DE GAETANO 2009, 143ff., die das Thema ausschließlich auf die Liebeselegie zurückführt. Weiterhin findet sie in der Rede Lucans Cato abgebildet.

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mag auch an den horazischen Makarismos epod. 2 beatus ille, da er ja das Landleben der Geschäftigkeit gegenüber stellt.358 Auch Dracontius selbst greift das Motiv in seinen ‘Laudes dei’ auf, wenn er 2,289– 297 schreibt: quae natura negat per nos elementa petuntur: per pelagus celebratur iter: seclusus ab undis nauigat audaces quatiens super aequora remos. parua putant homines fluctus transire nocentes, insuper armati medias grassantur in undas. aut bellator aquas aut iam pirata uagatur sollicitat glaucumque fretum mucrone cruento et bellum ignotis transfert manus hospita terris. non sat erant terrae tolerant quae bella cruenta?

Es kann festgehalten werden, daß das Kriegsmotiv als Gegenmotiv zum landwirtschaftlichen Leben bukolischen Texten an sich nicht fremd ist. An unserer Stelle ist nur – zur Charakterzeichnung des Paris passend – der Schwerpunkt verlagert. Kriegführen erscheint dem Paris in der jetzigen Situation zu gefährlich, obwohl er vorher ganz klar den Fokus darauf gelegt hatte; seine Feigheit läßt ihn seine großen Pläne zurücknehmen, seine innerste Überzeugung ergibt sich jedoch aus seiner Rede nicht.359 Das Moralisieren, das einen philosophisch bewußten, edlen Menschen kennzeichnet, der über sein Leben und die Folgen für andere und seine Umwelt nachdenkt und sich nach dem goldenen Zeitalter sehnt, ist für die Situation, in der Paris sich befindet, völlig unpassend. Dracontius setzt absichtlich diese abgehobene Rede mitten in den Seesturm, um Paris als unfähigen und orientierungslosen Mann zu charakterisieren. Es wäre an ihm, sich um seine Begleiter zu kümmern, Hilfe anzubieten, oder zumindest die Götter um Rettung anzuflehen. Nichts davon geschieht, seine Erörterung (lange Sätze, dies auch ungewöhnlich in einer normalerweise sehr aufgeregten Situation) bleibt frei schwebend und ohne echten Situationsbezug. Die Rede wirkt geradezu wie eine erzwungene, aber misslungene Deklamationsübung. Seestürme zu beschreiben, war Teil von schulischen Redeübungen (z. B. Sen. contr. 7,1,4; 8,6,2). Vielleicht wird die Paris-Figur auch in der Weise ironisiert, daß sie sogar mit der standardisierten Redeübung im Seesturm überfordert ist. Es läßt sich erklären, warum Dracontius diesem Thema, das mit der Situation selbst nichts zu tun hat und auch die Handlung nicht voranbringt, so breiten Raum einräumt, ohne annehmen zu müssen, daß der Dichter in seinen Werken einzelne 358 CRISTÓBAL 1988, 134. 359 WASYL 2011, 82f. sieht in der ganzen Episode zu Recht eine Kombination aus den beiden vergilischen Gattungen Epos und Bukolik. Der nach dem Seesturm in der ‘Aeneis’ gestaltete Seesturm biete die epische Seite, während die Rede des Paris das bukolische Element repräsentiere. Etwas deutlicher sollte dabei betont werden, wie ironisch die Seesturmrede wirkt. Paris scheint völlig aus seiner durch den Seesturm gegebenen epischen Rolle herauszufallen, wenn er sich ganz in das bukolische Leben zurückzieht und völlig der Situation enthoben spricht.

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III Kommentar

Stücke zusammenstellt, denen schließlich die Kohärenz fehle.360 An unserer Stelle dient das Thema der Rede, wie oben schon festgestellt, eindeutig der Charakterisierung des Paris. Dazu gehört eben auch der Eindruck, daß der Sprecher in der Situation das Thema verfehlt – das ironische Bild des Paris als Versager wird um einen neuen Punkt erweitert. Jedem Leser, der sich noch an die großartigen Pläne des Protagonisten erinnert, wie ihm das Leben als Prinz schnell langweilig wurde, nachdem er dieses Leben doch kurz zuvor noch für das Hirtenleben eingetauscht hatte, der wird die Worte des Paris als komisch empfinden und das Gefühl nach dem Seesturm bestätigt finden. In seinen Worten läßt Paris den Gegensatz von zufriedenem Hirtendasein und verderblicher Gier nach Eroberung moralisierend anklingen. Doch selbst verkörpert er diese Haltung nicht; die Ironisierung der Figur wird offensichtlich. Strukturell ist die Rede ringkompositorisch angelegt. Der Makarismos der Hirten zu Beginn erfährt seine negative Entsprechung am Ende, wenn die Gefahren des Lebens als nauta-dux zusammengefaßt werden. Die Rede kann wie folgt gegliedert werden: 402b–419 Lob des Hirtenlebens samt ausführlicher Schilderung desselben 402b–404a Vorspruch 404b–405 fehlende Gefahren des Landlebens 406–419 Freuden des Landlebens in seinen verschiedenen Facetten 406–413 Blick auf Landschaft und Leben des Kleinviehs (Ziegen, Schafe) 414–417 Melken und Käseherstellung 418–419 Kampf der Stiere 420–424 Probleme und Gefahren eines Lebens als nauta und dux 402f. felici sorte creati / pastores Glücklich gepriesen (die Formel felix qui o. ä. ist formelhaft für Seligpreisungen und schon aus griechischen Hymnen bekannt. Im Lateinischen besonders Verg. georg. 2,490 felix qui potuit rerum cognoscere causas, s. NORDEN 71996, 100f.) werden die Hirten, weil sie nie in die Verlegenheit kommen, wie jetzt Paris, obwohl selbst einst zu dieser Zunft gehörig, im Seesturm dem Tode nahe zu sein. Die Seligpreisung zu Beginn einer Rede im Seesturm findet sich vorbildhaft bei Vergil Aen. 1,94ff. Aeneas preist sehnsuchtsvoll (94 o ter quaterque beati kann man hier mit felici sorte creati gleichsetzen, AGUDO CUBAS 1978, 280) die in der Schlacht um Troja Umgekommenen, die nicht den unehrenhaften Tod eines Schiffbrüchigen sterben müssen (BRIGHT 1987, 119). Dracontius spielt mit der Lesererwartung, indem er mit pastores erst zu Beginn des nächsten Verses überraschend das Subjekt bringt. Die Ironie ist bissig, weil der tapfere Krieger Aeneas, der zwar in diesem Moment zittert, aber sich lieber von einem Feind töten lassen würde und ehrenhaft sterben, als im Meer zu ertrinken, gegen den feigen Paris gestellt wird, der sich nach einem ruhigen Leben bei seinen Tieren sehnt. 360 WOLFF 1995, 35; 42. Freilich kann man dies nicht pauschal behaupten und es muß im Einzelfall geprüft werden, warum exkursartige Teile eingefügt werden.

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Felici sorte (Ablativ der begleitenden Umstände, s. dazu auch TARRANT 1985, 215) ebenso an gleicher Versposition noch Romul. 6,82. Vgl. außerdem Sen. Phaedr. 436. Creati begegnet 16 Mal in der lateinischen hexametrischen Dichtung und immer am Versende. Sorte creati noch Sen. Thy. 879 nos dura sorte creatos; Sil. 13,532 dura Gradiui sorte creatos. Creati ist synonym zu nati gebraucht (vgl. V. 118). 403–405 Die einleitenden Verse zum ausführlichen Lob des Hirtenlebens stellen kurz die großen Vorteile gegenüber einem Leben, das Fahrten auf das Meer nötig macht, heraus. Strukturell bilden sie im Kleinen die folgenden längeren Ausführungen ab: Die positive Formulierung terra capit greift der ebenfalls positiv formulierten Beschreibung 406–419 voraus; dagegen findet sich der negativ gefaßte und um ein Wort längere Ausdruck nulla procella concutit in den ebenfalls negativ gestalteten Versen 404f. wieder (später dann auch 420–424, in denen mit excutit und procella Stichworte von vorn wieder aufgegriffen werden). Das Lob einer anderen Berufsgruppe und das Klagen über die eigene Situation ironisiert Hor. sat. 1,1, die Dracontius vielleicht inspiriert haben mag. Das Motiv begegnet indes auch bei anderen Satirikern prominent, vgl. Iuv. 9 (mit bukolischen Elementen, etwa 102) und Pers. 1,1, was jedoch ein wenig anders konnotiert ist. 403 quos terra capit Vgl. für die übertragene Bedeutung von capere Ov. am. 3,2,48 nil mihi cum pelago, me mea terra capit, Romul. 9,223; dagegen Sen. Herc. f. 960 non capit terra Herculem (eigentliche Bedeutung). 403f. quos nulla procella / concutit Für concutere in der Bedeutung ‘erschüttern’ s. ThLL IV 120,16ff. Procella am Versschluß schon 385. Die beiden Relativsätze wirken abgehackt, wohl als Ausdruck der Aufregung des Sprechers. Sie stehen in der Tradition des Relativstils der Prädikation (s. auch zu 402f.) 404 haud ponti metuunt super aequora fluctus Nur an dieser Stelle verwendet Dracontius haud für die Verneinung. Die Junktur ponti fluctus findet sich auch laud. dei 2,799. Dracontius spielt mit der ambivalenten Bedeutung von aequor: Entweder bezeichnet es eine glatte Fläche auf dem Land (ThLL I 1022,84ff.) oder die glatte Meeresoberfläche (ThLL I 1023,71ff.). So wird einmal ausgedrückt, daß es auf dem Festland keinen gefährlichen Sturm gibt, zum anderen, daß sich auf einer gerade noch glatten, ruhigen Meeresfläche auch ein Sturm erheben kann. Freilich kann ponti auch auf aequora bezogen werden. Diese Junktur findet sich seit Lucr. 1,8 sehr häufig, besonders als Versschluß. Super aequora mit einem folgenden zweisilbigen Wort ist ein häufiger Hexameterschluß in der lateinischen Literatur. Dracontius hat ihn noch laud. dei 2,163. 291, Romul. 7,154; 10,101. 405 rabidum pelagus Für rabidus, das im Gegensatz zu rapidus tendenziell eher zu Tieren gestellt ist (oft von Hunden, was schon auf Skylla verweist, z. B. Ov. ars

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2,374, Sen. dial. 3,1,6; 3,15,2, Med. 351, Oed. 932), bei stürmischem Wasser vgl. [Tib.] 3,7,72f. nec Scyllae saeuo conterruit impetus ore, / quin canibus rabidas inter freta curreret undas (verdeutlicht die Verbindung zu Skylla). Vgl. auch Orest. 355 pelagus rabidum (Konjektur von ROTHMALER für rapidum). Vielleicht von Arator act. 2,1128 ante tamen rabidos quam uincant aequoris aestus rezipiert. temnunt Die Form begegnet insgesamt nur viermal in der lateinischen antiken Dichtung: Lucr. 5,1238 (gleiche Versposition), Claud. 28,548, Prosp. epigr. 14,5. Hier simplex pro composito (auch 360, s. dort). Für die Verbindung von (con)temnere mit pelagus vgl. Iuv. 6,90 contempsit pelagus. Leicht kann man aus der Reminiszenz eine deutliche Kritik an Paris gewinnen. In Juvenals Satire werden an dieser Stelle die Frauen Eppia und Messalina angeprangert, die ihrem Mann nicht auf See folgen wollen, weil es zu gefährlich sei oder weil sie krank würden oder die Arbeit zu schwer sei. Für einen Liebhaber jedoch nähmen sie jede Gefahr auf sich und jede anstrengende Arbeit.361 Paris wird mit jenen wehleidigen Weibsbildern gleichgesetzt, die, wenn es sich für sie nicht lohnt, auf Mühen und Gefahren gern verzichten. Unterstützt wird die Reminiszenz durch den einige Verse zuvor (87) eingeführten Paris (Schauspieler, s. WATSON / WATSON 2014, 104). latrantibus undis Der Versschluß noch Verg. Aen. 7,588, Sil. 3,471, laud. dei 2,798. Die naheliegende Assoziation zur bellenden Skylla ist Dracontius mit Sicherheit bewußt gewesen (zur Entwicklung dieser Junktur s. HORSFALL 2000, 384, auch WOLFF 1996, z. St.). Von der gefährlichen Skylla gehen die Gedanken assoziativ auch zur schrecklichen Charybdis mit ihren strudelartigen Wassermassen (aufgegriffen in pelagus und undae); beide zusammen sind die schlimmsten Gefahren, die einem Seemann der antiken Literatur auf dem Meer begegnen können. Paris treibt die Dramatik in die Höhe. 406 celso de monte Sehr früh schon findet sich celsus als Attribut zu mons: Acc. trag. 177 TRF; Verg. Aen. 11,320, Ov. hal. 88, Val. Fl. 3,652, Sil. 4,737. uident Im folgenden sind zuerst reine Akkusativobjekte, danach Infinitivkonstruktionen von uident abhängig. ut in arce sedentes Paris versucht, die Überlegenheit der Hirten darzustellen, auch wenn ihre Außenwirkung grundsätzlich negativ ist (s. zu seiner permanenten Angst, wegen des Berufs geringgeschätzt zu werden 98. 206. 217). Sie haben einen herausgehobenen Platz inne und schauen auf ihre Untertanen (Landschaft und Tiere). Arx kann zwar synonym zu mons verwendet werden, doch muß hier eine Bedeutungsverschiebung in Richtung ‘Herrscherhaus’ angenommen werden. Für arx als eine Art Königsburg, auch von Wohnungen der Götter s. ThLL II 742,68ff. Ähnlich bezeichnen Hirten ihr Land als regnum in Verg. ecl. 1,69, wodurch nur ausgedrückt wird, daß den Hirten ihr Stück Land zum Lebensglück genügt. Dagegen könnte man hinter der Aussage des Paris eine Art Kompensationsstrategie vermuten: Das Leben als Königssohn samt der Verantwortung scheint ihm jetzt nicht mehr

361 Das Thema, zwar mit anderer Absicht und Wirkung, findet auch Ov. epist. 5,77f. Erwähnung.

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erstrebenswert – die Annehmlichkeiten hingegen schon. So möchte er kurzerhand das erreichbare, weil leichtere Leben der Hirten zu einem königsähnlichen erklären. Für sedere in Verbindung mit in arce vgl. Stat. Theb. 8,21f. sedens media regni infelicis in arce / dux Erebi, Sil. 6,417 Tarpeia nec in arce sedet; Dracontius laud. dei 2,557 dexter in arce sedens. Für ut bei Partizipien zum Ausdruck der Vorstellung des Sprechers s. K-S I 790f.; H-S 485. 407–410 Die lange Phrase illustriert auch im Textbild die Aussage: Der Leser durchstreift mit Paris gemeinsam gedanklich die ganze Umgebung eines Hirten, zuerst in bloßen Substantiven ganz allgemein die Elemente der Landschaft (407), dann wird es konkreter (408 Vieh springt über die Weide), noch enger 408f., wo Ziegen (Konkretisierung der Tierart) sich am Dickicht aufhalten. Schließlich engt sich der Blick noch weiter auf das Maul der Ziegen ein, wie sie die Pflanzen als Nahrung zu sich nehmen (so auch DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 205). All das kann mit einem Blick wahrgenommen werden (deshalb ein Satz), muß aber natürlich nacheinander beschrieben werden. 407 Zunächst sind ausschließlich Substantive im Akkusativ von uident abhängig, alle in einem Vers aufgereiht, wie es Dracontius gern macht. Die merkwürdig anmutende Unterbrechung durch et ist durch satisf. 239 (Cynthia dum crescit, fontes et flumina crescunt) gesichert. Die Junktur fontes et flumina scheint von Dracontius hier nicht nur formelhaft eingesetzt zu sein, sondern durch das auffällige et besondere Aufmerksamkeit zu erzeugen. Denn in dieser Situation, in der sich der Sprecher gerade auf wenig lieblichem Wasser befindet, stellen die Quellen und Flüsse der ersehnten Ideallandschaft einen besonders heftigen Gegensatz dar. Durch die Aufzählung wird ein locus amoenus aufgerufen, der typisch ist für die bukolische Welt (s. CURTIUS 81973, 202ff., HASS 1998, 3f.). So finden sich die genannten Worte teilweise bei Verg. ecl. 10,42f. hic gelidi fontes, hic mollia prata … / hic nemus, Lydia 16f. / Dirae 119f. gaudebunt siluae, gaudebunt mollia prata / et gelidi fontes, Mart. 12,31,1–3 nemus, … fontes, … umbra …, prata …, rosaria (ThLL X 2,1133,20ff.), und auch in unserem Gedicht 61f., s. auch dort. pascua rura In dieser Kombination direkt nebeneinander wohl eine Reminiszenz an Vergils Grabepigramm: Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc / Parthenope; cecini pascua rura duces (Don. vita Verg.; pascua allerdings als Metapher für die bukolische Dichtung, rura für die ‘Georgica’). Der Versanfang bis nemus rezipiert von Ven. Fort. carm. 11,25,17 fontes et flumina Diese Verbindung noch satisf. 239. Rezipiert von Coripp. Ioh. 6,307 und Coripp. Iust. 4,171. 408–418 Die Reihenfolge der im folgenden angeführten Tiere ist gut bukolisch. Die vier Hirtenklassen sind dem Rang nach: Schweine- (hier nicht erwähnt), Ziegen, Schaf- und Rinderhirten, also hier klassisch aufsteigend berücksichtigt. 408f. Konstruktionswechsel von bloßen Akkusativobjekten zu zwei Infinitivkonstruktionen.

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Die Infinitive mit den dazugehörigen Akkusativen sind parallel angeordnet. Unter Hinzunahme der lokalen Bestimmungen (per campos am Anfang und praerupta de rupe am Ende) ergibt sich zusätzlich eine chiastische Anordnung. 408 per campos Eine Junktur, die hauptsächlich im militärischen Kontext üblich ist, vgl. Verg. Aen. 7,540; 10,602; 11,102, Prop. 3,1,28, u. ö. Die Umdeutung in eine bukolische Umgebung wirkt leicht ironisch. gestire In Verbindung mit Tieren s. ThLL VI 2,1961,80ff.; vgl. besonders laud. dei 2,163f. ut … belua gestiat ingens, Romul. 7,150 summas gestire per undas. Singulär mit dem allgemeinen pecus. pendere capellas Vgl. Verg. ecl. 1,74. 76 capellae … pendere procul de rupe uidebo (AGUDO CUBAS 1978, 280f. zeigt für diese Stelle exemplarisch die Übernahme von Gedanken und Wendungen aus Vergils Bukolik), Ov. Pont. 1,8,51 pendentis … rupe capellas (dies läßt sich auch inhaltlich mit der Paris-Rede verknüpfen: Ovid beschreibt im Gedicht zuvor die kriegerischen Zustände, 5–24, und stellt sich dann ein friedliches Leben in Tomis vor, 41–62. So stellt auch Paris das Leben eines Herrschers und Kriegers dem eines Hirten gegenüber, der ein friedvolles und reiches Leben an seinem locus amoenus verbringt; s. dazu auch GAERTNER 2005, 429ff. und HELZLE 2003, 208ff.), Homer. 888 pendent in rupe capellae (Der Vers, den Dracontius hier und in 410 vollständig verarbeitet, stammt aus einer Beschreibung, die an das goldene Zeitalter erinnert und dadurch hier den Eindruck des locus amoenus verstärkt, s. SCAFFAI 1997, 393ff.). 409 praerupta de rupe procul dumeta sequentes Vgl. Verg. ecl. 1,76 dumosa pendere procul de rupe uidebo (davon inspiriert auch Mart. 13,98,1 pendentem summa capream de rupe uidebis). Praeruptus wird seit Cicero in der Bedeutung arduus, praeceps von Bergen und Felsen gesagt (ThLL X 2,801,69ff.). Vgl. inhaltlich besonders Ov. rem. 179 ecce, petunt rupes praeruptaque saxa capellae. Nur hier an der ersten Position im Vers. Für dumetum als Aufenthaltsort von Ziegen und vergleichbaren Tieren vgl. Colum. 7,6,1 id … genus (i. caprinum pecus) dumeta potius quam campestrem situm desiderat, Calp. ecl. 5,6 errare … inter dumeta capellas, 5,29f. campos ouibus, dumeta capellis / … dabis. Ferner ist für die ganze Stelle Culex 51f. scrupea desertas haerebant ad caua rupes / pendula proiectis carpuntur et arbuta ramis zu nennen. Vgl. für die Kombination mit einer Form von sequi Verg. ecl. 2,64 florentem cytisum sequitur lasciua capella. Dracontius kombiniert die schon zu 408 angeführten Stellen und hier angeführten Stellen, um neue, eigene Junkturen zu schaffen (Kontamination zweier Stellen, s. für die Technik JAKOBI 1988, 204). 410 ut Schließlich wird von uident (406) – zumindest lose – noch ein ut-Satz abhängig gemacht. Videre mit ut hat ganz prominent etwa Hor. carm. 1,9,1 uides ut alta stet. Solch ein ut-Satz wird gewöhnlich nur von einem Prädikat in der zweiten

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Person abhängig gemacht; da er aber auch unabhängig begegnet, wird das uidere durch die weite Entfernung weniger wirken (vgl. OLD s. v. 2112,2). Möchte man die Überlieferung et gegenüber der Konjektur ut von RIBBECK 1873, 469 halten, muß ein bloßer, vom Rest der Konstruktion unabhängiger begeisterter Ausruf (ohne das im ut ausgedrückte Maß) angenommen oder ein Versausfall angesetzt werden (wie bei VON DUHN, ZWIERLEIN BT). Jedoch lädt das Handschriftenbild an dieser Stelle zu einer Konjektur ein – es ist das einzige runde große E im gesamten Romul. 8. uirides tondent … herbas Homer. 888 tondent prata greges, Verg. georg. 1,15 niuei tondent dumeta iuuenci. Die Junktur uiridis herba findet sich z. B. noch Verg. ecl. 6,59, georg. 3,162, Aen. 5,330, Ov. met. 2,864; 3,86. 502; 9,655, fast. 4,395 u. ö. (vgl. auch BLÜMNER 1892, 210). Zu beachten ist noch Homer. 371 (inhaltlich nicht vergleichbar; vom sterbenden Leukos) carpit uirides moribundus dentibus herbas. lasciuis dentibus Singuläre Junktur, die aber mit Sicherheit von Calp. ecl. 5,6 lasciuo … morsu (der Satz ist von einem uides abhängig!) beeinflußt ist. Für lasciuus (in Enallage auf die Tiere, WOLFF 1996, z. St.) von Ziegen und ähnlichen Tieren im weitesten Umfeld der Bukolik s. ThLL VII 2,984,6ff. Neben der Enallage mag auch eine genaue Beobachtung hinter der Junktur stehen: Ziegen entblößen beim Fressen manchmal ihre Zähne und sehen tatsächlich lüstern aus. dentibus herbas Der Versschluß Ov. met. 8,800 und Homer. 371 (s. oben). 411 ubera Steht ἀπὸ κοινοῦ zu lactantes (für lacto mit Objekt erst im Spätlatein s. ThLL VII 2,854,75ff.) und contundunt. lactantes … agni Wechsel der beobachteten Tierart: Betont steht agni am Versende. Für die Junktur vgl. Varro rust. 2,11,5 dicuntur … agni lactantes a lacte, Vulg. I Reg. 9 tulit … agnum lactantem. Agni 16 Mal am Versende des Hexameters. Viermal vor Dracontius direkt davor ein Wort auf -ibus, was auf eine Art Formel schließen lassen könnte. contundunt frontibus Es entsteht ein lebendiges Bild der kleinen hungrigen Lämmer, wie sie mit ihren Köpfchen gegen die Zitzen stoßen und die Nahrung aus der Mutterbrust suchen. Contundere wird gewöhnlich von gewaltsamen bis brutalen Situationen verwendet, was auf den ersten Blick an dieser Stelle nicht gegeben ist (ThLL IV 804,71ff. passim). Aber vielleicht weist der Dichter mit dieser Vokabel auf das hungrige Drängen und Stoßen der Kleinen, das bei großem Hunger sicher bis zu einem bestimmten Grad brutal sein kann, hin. So wird auch GRILLONE 2006, 93f. die Stelle verstehen, wenn er die Vokabel an dieser Stelle für völlig problemlos hält. WOLFF 1996, z. St. schlägt wegen seiner Bedenken gegenüber dem Wortgebrauch contendunt mit Blick auf Verg. georg. 2,524–526 vor. Dort jedoch wird der spielerische Kampf der Böcke nach der Fütterung an der Mutterbrust, also in sattem Zustand, dargestellt. An unserer Stelle kann jedoch, wenn ein kämpferisches Bild vorgestellt ist, nur der Streit der Kleinen um eine Zitze der Mutter gemeint sein. 412 cauda crispante tremunt Dracontius bildet das Verhalten der Lämmer beim Trinken ab: Das kleine Schwänzchen zittert heftig und die Tiere stehen auch nicht

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still, sondern bewegen sich gierig hin und her. Crispare anders als in 352 in der Bedeutung tremere. Cauda crispante ist Ablativ der begleitenden Umstände (WOLFF 1996, z. St.). molli … palato Die Vokabel palatum findet sich selten bei der Beschreibung tierischer Nahrungsaufnahme, häufiger beim Menschen, s. ThLL X 1,110,25ff. Das Epitheton mollis gelegentlich in Verbindung mit agnus, z. B. Mart. 3,58,21, Heptateuchdichter lev. 49. Vgl. auch 13 mollia blandifluo delimes uerba palato. 413 exultant Auch dieses Wort gehört zum Wortfeld ‘Freude, Ausgelassenheit’, das die Tiere in dieser Idealwelt charakterisiert; s. auch gestire 407, lasciuus 410. Für exultare mit Infinitiv statt einer Präpositionalkonstruktion oder sonstiger gewöhnlicherer Konstruktionen s. ThLL V 2,1950,83f. und zu 27. potare cibos atque edere potus Parallel angeordnetes Paradoxon, das die Nahrungsaufnahme der Kleinen, deren einzige Nahrung die flüssige Muttermilch ist, passend trifft. Potus und cibus werden als natürlicherweise zusammengehörig oft zueinandergesellt, s. ThLL III 1043,74ff. Bei edere ist das erste ‘e’ lang zu messen; der metrische Fehler mag sich aus Verwechslung mit edere (‘herausgeben’) erklären (ThLL V 2,97,83f.; WOLFF 1996, z. St., der auf laud. dei 1,504 exēdat verweist), oder aus der Übertragung der langen anlautenden ‘e’ des Perfektstammes und des Partizips auf den Infinitiv. 414 mulcere … ubera Erst 416 wird klar, daß der Infinitiv von quantus amor abhängig zu machen ist. Mulgere ist eine Konjektur von BAEHRENS, die inhaltlich nachvollziehbar (mulgere bei ubera u. ä. ist gut belegt, s. ThLL VIII 1567,21ff.) und wohl auch metrisch möglich erscheint (für Verben der 2. Konjugation, die in Formen der 3. Konjugation auftreten können s. NEUE / WAGENER 3, 246ff., wenn es auch für mulgere sonst nicht belegt ist. ZWIERLEIN BT z. St., der, wie auch VOLLMER und WOLFF, die Konjektur in den Text setzt, verweist auf Romul. 5,212, wo Dracontius sorbĕre gebraucht), trotzdem lassen sich einige Argumente für die Überlieferung finden. Denn das überlieferte mulcere, das sprachlich durchaus mit mulgere (ThLL VIII 1561,67) zusammenhängt, bedeutet ‘streichen, streicheln’. Zusammen mit depressis mammis gibt der Ausdruck ziemlich genau den Vorgang des Melkens mit seinen verschiedenen Bewegungselementen wieder: Mit einem „pressenden Streichen“ wird die Milch dem Euter entzogen. Wie das molle palatum der Lämmer sich sanft um das Euter legt, so ist auch das Pressen beim Melken nicht hart. Außerdem kann mulcere auch auf die nötige Beruhigung des Tieres hinweisen, das nicht aufgeregt und nicht ängstlich sein darf, damit es überhaupt gemolken werden kann. Dazu wird man es sicher zu Beginn streicheln und eine gewisse Zeit der Gewöhnung verstreichen lassen. Für diese Deutung muß man Dracontius lediglich eine leichte Weiterentwicklung der Bedeutungsebenen des Wortes mulcere zugestehen. Für mulcere im Umgang mit Tieren s. auch ThLL VIII 1562,21ff. BÜCHELERs mulctrae (mit potus zu verbinden) zerstört die Harmonie des Verses 413 und bleibt daher unberücksichtigt.

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balantum Selten in der substantivierten Verwendung ohne eine übergeordnete Klassifizierung durch grex o. a.; die Form selbst wird wohl als Vergilianismus wahrgenommen (dreimal bei Vergil: georg. 1,272; 3,457, Aen. 7,538, vgl. auch Enn. ann. 186 V. = 169 Sk.). depressis mammis Auch deprimere ist mit Bedacht statt des üblicheren premere (s. 209 ubera pressi, Verg. ecl. 3,99 pressabimus ubera palmis, georg. 3,310 pressis … mammis, Aen. 3,642 ubera pressat) gewählt: Die Bewegung ist beim Melken eine nach unten gerichtete, was durch das Präfix de- betont wird (ThLL V 1,612,68). Anders WOLFF 1996, z. St., der deprimere im Sinne von demittere - ‘fallenlassen’ verstehen möchte. Die Belegstellen für mamma (Zitze) von Tieren sind nicht so zahlreich wie von Menschen, aber regelmäßig in dieser Verwendung seit Varro rust. 2,1,20; s. auch ThLL VIII 247,38ff.61ff. 415 decedente die noctis uenientibus umbris Vgl. 209 sub nocte für die Zeitangabe, zu der die Nacharbeiten des Weidetages stattfinden (vgl. auch Verg. ecl. 1,83 maioresque cadunt altis de montibus umbrae; den Vers 82 et iam summa procul uillarum culmina fumant hatte Dracontius am Ende der Apollon-Rede in seinem Lob des Hirtenlebens verwendet 208). Der von umbris abhängige Genitiv noctis wird gerahmt durch zwei Ablativi absoluti, die ausführlich den Wechsel vom Tag zur Nacht darstellen. Durch diese künstliche Wortstellung kommen dies und nox nebeneinander zu stehen und aus decedere und uenire ergibt sich ein inhaltlicher Chiasmus. Decedere begegnet seit Vergil im Zusammenhang mit Tag und Nacht (s. ThLL V 1,122,30ff.). Vgl. besonders, auch für den Ablativus absolutus, Verg. georg. 4,466 ueniente die, … decedente. 416 quantus amor Variation des vergilischen tantus amor mit Infinitiv (Verg. Aen. 2,10; 6,133; 12,282; aufgenommen auch von Stat. Theb. 1,698 u. ö., s. auch ThLL I 1969,83ff.). Die grammatisch zunächst ungewöhnliche Konstruktion mit Infinitiv statt Gerundium läßt sich erklären, wenn der Infinitiv als nicht vom Substantiv allein, sondern vom inhärenten Verbalausdruck abhängig gedacht ist (H-S 351; WÖLFFLIN 1900, 505; NORDEN 51970, 163; HORSFALL 2008, 53f.). Dracontius verkompliziert die Konstruktion dadurch, daß er den abhängigen Infinitiv so weit vor das zugehörige quantus amor stellt. cum Es folgt ein temporaler Nebensatz. lacte nouo Vgl. für die Junktur Varro Men. 566, Verg. ecl. 2,22, Aen. 5,78, Tib. 2,3,14b, Stat. Theb. 2,84, Claud. rapt. Pros. 2,352. caseus albens Singuläre Junktur, aber vergleichbar mit Ov. fast. 4,371 candidus … caseus, Calp. ecl. 2,70 niueus … caseus. Albens ist im ThLL (I 1489,82) wohl unter sehr weiter Auffassung bei „de hominibus et animalibus“ eingeordnet. Caseus ist als allgemein eher prosaisches Wort in der hexametrischen Dichtung selten. 416f. S. für Inhalt und Ausdruck bei der Käseherstellung Verg. ecl. 1,34 premeretur caseus, georg. 3,400f. quod surgente die mulsere … / nocte premunt, Calp. ecl. 2,70 per totum niueus premitur mihi caseus annum; von den agrarwissenschaftlichen

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III Kommentar

Handbüchern scheint nur Columella über die Käseherstellung zu schreiben (vgl. für unsere Stelle 7,8,7 illa uero notissima est ratio faciundi casei, quem dicimus manu pressum; s. auch CLAUSEN 1994, 46). Laut Vergil wird die Milch des Tages zu Käse verarbeitet, die Milch des Abends, weil sie nachts gekühlt werden kann, am folgenden Tag verkauft (georg. 3,400ff.), aber bei Varro lesen wir, daß dies unterschiedlich gehandhabt wurde (2,11,4; MYNORS 1990, 240). Dracontius hat die Szene rein literarisch gedacht, zudem an einer Stelle eingefügt, die wirken soll durch die Nennung von Elementen des Landlebens ohne den Anspruch eines agrarwirtschaftlichen Hinweises, so daß Abweichungen von der Norm nicht ungewöhnlich sein dürften. 417 formatur Nur hier mit Käse verwendet, sonst aber nicht ungewöhnlich, um den Menschen als Formgebenden herauszustellen (ThLL VI 1,1106,61ff.). WOLFF 1996, z. St. macht den Unterschied zwischen formare (in eine Kreisform pressen) und premere (die Milch gerinnen lassen) auf. Jedoch scheint dabei der Zusammenhang zwischen premere und ad orbem zu wenig beachtet zu sein, wodurch die Herstellung der Kreisform, also der Käseform, deutlich ausgedrückt ist. manibus … ad orbem Variation des Vorhergehenden mit neuer Schwerpunktsetzung: Das vorher logische Subjekt wird nun auch zum grammatischen, das mit seinen eigenen Händen die fest gewordene Milch zu einem schönen Laib formt. premit lac Verg. ecl. 1,81 pressi copia lactis. Indem lac hier nochmals gesetzt wird (nachdem vorher mit caseus albens das fertige Produkt schon stand), erfährt der kuriose Übergang von flüssig zu fest, von Milch zu Käse eine besondere Beachtung. ad orbem Dieser Versschluß noch Val. Fl. 3,437; 5,255, Stat. Theb. 6,479. Geläufiger ist der Ausdruck in orbem (als Versschluß z. B. Verg. Aen. 8,673, Culex 391. 396, Moret. 47), um einer Sache eine Kreisform zu geben (ThLL IX 2,909,48). Singulär vom Käselaib. 418 candida … bucula Eine dritte Tiergruppe, nach den Ziegen und den Schafen nun die Kühe, werden als Arbeitsbereich des Hirten betrachtet. Bucula ist eine typisch bukolische Vokabel, sie begegnet zuerst bei Verg. ecl. 8,86 und georg. 1,375 (vorher Cic. Verr. II 4,135, aber von einem Kunstgegenstand). S. dazu CLAUSEN 1994, 262, ThLL II 2235,83ff., AXELSON 1945, 40. Singulär in der Verbindung mit candidus, wobei sonst weiße Kühe oder Kühe mit weißen Stellen verbreitet sind (z. B. Ov. am. 3,5,10, Sen. Ag. 353, s. ThLL III 241,60–65; vgl. auch BLÜMNER 1892, 24f.). Weiße Tiere sind besonders wertvoll und rein, sie werden für Opfer benötigt und stellen einen außerordentlichen Reichtum des Hirten dar (auch Jupiter verwandelt sich in einen weißen Stier als Zeichen seiner Größe). Candidus kann der gebildete Leser, Kenner bukolischer Literatur, an irgendeiner Stelle erwarten; es begegnet fast immer als Epitheton in bukolischen Kontexten. Die Wortstellung feruentes bucula tauros bildet auch optisch die junge Kuh zwischen den liebestollen Stieren ab. MARRÓN 2014 hält candidus für sehr ungewöhnlich und daher für ein Signalwort in Verbindung mit dem bei Dracontius ebenfalls insgesamt nur dreimal auftretenden bucula (noch laud. dei 1,274. 527). In Vers 440 wird das Adjektiv zu

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Helena gestellt, deren expliziter Name im Gedicht nur ein einziges Mal begegnet (sonst wird er durch Patronymika umschrieben). Da candidus oft in der Liebeselegie Verwendung findet, will MARRÓN aus dem Gebrauch des Wortes an dieser Stelle einen Übergang zur Elegie finden, der die Szene des Raubes vorbereitet und ankündigt. Gegen candidus als überdeutliches Signalwort spricht die Tatsache, daß candida im Gedicht noch zwei weitere Male am Versanfang auftritt (519. 617). Es ist eher die beschriebene Situation an sich, die zwischen den Tieren ein Verhältnis im Sinne eines servitium amoris vermuten läßt (s. zu summittit). summittit Nach VOLLMER MGH 414 verwende Dracontius, anders als seine Vorgänger [Tib.] 3,7,170 submittere taurus (der Stier lernt, sich unter ein Joch zu begeben) und Verg. ecl. 1,45 summittite tauros (züchten), summittere von der weiblichen Kuh, die sich „ad coitum“ unter den Stier begebe. Mit Blick auf den nächsten Vers scheint dies aber schon um einen Schritt zu weit zu sein, denn dort wird die Auseinandersetzung thematisiert, die die Stiere um die Kuh führen. So könnte allenfalls gemeint sein, daß sich die Kuh unter die Gruppe der Stiere mischt. Doch auch dagegen spricht, daß es summittere und eben nicht se summittere heißt. Ausgehend von der Bedeutung bei Vergil (‘züchten, zähmen’) ergibt sich vielmehr die Vorstellung, daß die junge Kuh sich die Stiere gefügig macht allein durch ihre Anwesenheit. Ihr wollen sie imponieren und um sie kämpfen, so daß sie die männlichen Tiere unterwirft (so möglicherweise in einer Weiterentwicklung des bei Ovid met. 11,171 gebotenen citharae submittere cannas, s. auch BÖMER 1980, 282). Die Situation ist komisch, weil sie die Stiere in ein servitium amoris drängt, während das weibliche Tier die Rolle der domina übernimmt. Man könnte an den späteren Raub der Helena durch den liebestollen Paris denken. feruentes … tauros Die im ThLL für diese Stelle postulierte Bedeutung „acer, vehemens“ (ThLL VI 1,595,39f.), also offensichtlich eine grundsätzliche Eigenschaft der Stiere, scheint im Zusammenhang der Zeugung und Befruchtung nicht ganz ideal zu sein. Eher sollte man das üblicherweise von Menschen gedachte amore feruere (ThLL VI 1,591,81ff.) auf diese Tiere übertragen, um sie als „liebestoll, in Wallung geraten“ beschrieben zu sehen. 419 committit Unter den Stieren entbrennt ein Kampf, wer sich der Kuh nähern darf. Auch hier ist die Kuh die aktive, die die Stiere aufeinanderprallen läßt. Für die Bedeutung von committere s. ThLL III 1303,33ff. Wortspiel mit summittere (WOLFF 1996, z. St.). duces … iuuencos Mit diesem Vers beginnt sich der Kreis zu schließen: Von den Vorgängen in der Tierwelt wird 420 mit nam der Übergang zur Situation des Paris genommen. Der Kampf der Stiere um die Kuh und den Posten als Anführer, der für einen bloßen bukolischen Zuschauer nur eine natürliche Gegebenheit abbilden wird, erinnert Paris bei der Übertragung auf die Welt der Menschen an sein eigenes gefahrvolles Schicksal, das er als Gruppenleiter gerade erleben muß (s. WOLFF 1996, z. St.). Dux begegnet von Leittieren seit Verg. georg. 3,125 quem legere ducem et pecori dixere maritum, bei Stieren z. B. Ov. ars 1,326 (ThLL V 1,2325,48ff.).

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III Kommentar

armata fronte Versteht man die Junktur als Ablativus absolutus, dann ist die Vorzeitigkeit von entscheidender Bedeutung: Erst wenn die Hörner der jungen Stiere so gewachsen sind, daß sie zur Waffe werden können, ist es ihnen möglich, sich gegen die anderen durchzusetzen und so die Leitung der Herde und das Weibchen zu übernehmen. Es kann sich aber auch, was wahrscheinlicher ist, um einen instrumentalen Ablativ handeln. Die duces sind dann die stärksten Tiere, die miteinander um die Vorherrschaft kämpfen. Stierkämpfe um Weibchen werden beispielsweise Verg. georg. 3,217–223 und Aen. 12,716–722 beschrieben (WOLFF 1996, z. St.) Die Junktur auch laud. dei 1,273 armata fronte iuuenci, nach Verg. Aen. 9,627 aurata fronte iuuencum, und beim Heptateuchdichter exod. 1042f. (WOLFF 1996, z. St.). Vgl. bei Dracontius noch Orest. 97 cornibus armatas lunata fronte iuuencas. 420ff. Die folgenden Verse über das Leben von menschlichen „Leitstieren und Alphatieren“ ist bestimmt vom Wortfeld ‘Furcht und Angst’: metus excutit ingens, necis timor, pauent, formidant. Fast in jedem Vers findet sich ein solcher Ausdruck. Paris spricht damit sicher aus eigenem Erleben heraus, es ist aber wie eine Analyse der Situation von außen gestaltet, ohne innere Beteiligung. 420 nam Das begründende nam leitet über zum Anfang der Rede, der von einer Beschreibung des Hirtenlebens unterbrochen wurde. Den Übergang bildet der Kampf der Stiere. Das Wort duces und vermutlich auch armata, die Anstrengung und die Gefahren, die die beiden potentiellen Leitstiere zu ertragen haben, führen Paris wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück, zum Thema des Seefahrens, das für ihn mit dem des Regierens und Führens untrennbar verbunden ist. grauis est regnare labor Bei Paris siegt die Bequemlichkeit und die Feigheit. Seine großen Pläne sind im Anblick des Sturms dahin, Regieren und Königssohn sein, wird ihm zu anstrengend und zu gefährlich. Für eine Stellensammlung zur Junktur grauis labor, die sonst fast nur im Plural begegnet (seit Cic. carm. frg. 41,4 BLÄNSDORF), s. ThLL VI 2,2288,69ff. 420f. metus excutit ingens / corda ducum Für die Junktur metus ingens vgl. in der Dichtung Verg. Aen. 6,491 ingenti trepidare metu, Sil. 3,187; 12.552. Häufiger in der Prosa bei Livius und Sallust. Excutere in der Bedeutung ‘erschüttern’ mit einem Abstraktum und einem ‘Semi-Abstraktum’ begegnet offensichtlich nur hier. Am nächsten kommt Sen. Ag. 5 pauor membra excutit, [Sen.] Herc. O. 706 per artus … excussos (ThLL V 2,1313,58ff.). Ähnliche Wortzusammenstellung mit anderer Bedeutung Ov. fast. 1,16 de … meo pauidos excute corde metus (abschütteln). Vgl. für corda ducum Sil. 1,147 corda ducis, Romul. 10,328. 421 ne bella ruant Der Nebensatz wirkt ironisch, wenn man sich an die großen Pläne des Paris erinnert (215f. 218f. 222), der ja selbst in den Krieg ziehen wollte und den größten aller Kriege aktiv herbeiführen wird.

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Vergilisch ist der Ausdruck in bella ruere (Verg. Aen. 7,782; 9,182). Die Wendung des Dracontius hat vorher Lucan. 2,448f. ruentis / … belli. Ruere dürfte hier in der Bedeutung irruere verwendet sein (ZWIERLEIN BT z. St.). 421f. bella … / … tela Krieg und Waffen werden personifiziert (so wird ruere im kriegerischen Zusammenhang üblicherweise von Personen gesagt, die sich in feindlicher Absicht gegen jemanden richten, s. OLD s. v. 1669, 5). Es scheint fast, als wolle Paris mit dieser Formulierung seine Schuld an eventuellen Kriegen herunterspielen, ganz als seien kriegerische Auseinandersetzungen Dinge, die eben passieren und für die unberechenbare Elemente verantwortlich sind. ne tela minentur / exitium crudele Der Paris zuvor beherrschende Gedanke an Ruhm, der nur im Krieg zu erwerben ist (215f.), ist völlig verschwunden, es bleibt allein die Angst vor einem grausamen Tod zurück. Vgl. für Inhalt und Ausdruck Verg. 12,760f. Aeneas … minatur / exitium, 12,924 exitium dirum hasta ferens, Apul. met. 1,4,3 lanceam qua parte minatur exitium, Prud. cath. 6,86–88 gladius … minatur ictum (in der Prosa noch öfter). Vgl. auch laud. dei 3,110f. Die Wendung exitium crudele noch Ciris 292, Val. Fl. 3,302. 422 necis timor omnis ubique est Der Ausdruck timor omnis ubique est gibt wieder einen Einblick in die Arbeitsweise des Dracontius. Seine Vorgänger formulieren: Verg. Aen. 11,14 timor omnis abesto (alle folgenden sicher davon angeregt), Ov. am. 1,10,9 nunc timor omnis abest, Iuvenc. 2,479 pectoribus uestris semper timor omnis aberret, 3,107 timor omnis abesto, (Proba cento 665 timor omnis abesto), Prud. c. Symm. 2,737 timor omnis abesto. Während die früheren Dichter den timor durch omnis betonen, um die Erleichterung verstärkt auszudrücken, wenn alle Furcht verschwindet, so betont Dracontius mit dieser Formulierung als einziger das Vorhandensein der übergroßen Furcht und deutet die bekannte Wendung um (alternativ kann omnis als Genitiv zu necis aufgefaßt werden, wie WOLFF 1996, z. St. es tut; doch dies nähme dem Ausdruck die Kraft). Necis timor ist eine Variatio des mortis timor von Lucr. 5,1180, Ov. hal. 7, Paul. Nol. carm. 31,171 und mortis metus Lucr. 6,1212, Hor. sat. 1,4,127, Ov. met. 10,482 u. ö. auch in der lateinischen Prosa seit Rhet. Her. 2,21,34. Der Versschluß ubique est seit Verg. Aen. 1,601 neunmal vor Dracontius. 423 Chiastisch sind Objekte und lokale Angaben einander gegenübergestellt, die gemeinsam das Prädikat pauent rahmen. Somit ist auch an der Wortstellung die Bedrängung der duces von allen Seiten abzulesen. Die p-Alliteration (pauent, pelago, procellas) mag das Zittern vor Angst abbilden. nam Nach ubique est sollte mit einem Doppelpunkt interpungiert werden, weil das nam die konkrete Begründung für die allgegenwärtige Todesfurcht liefert: zu Lande und zu Wasser gibt es lebensgefährliche Bedrohungen. gladios Für das Schwert in metonymischer Verwendung für ‘Krieg’ finden sich zwei biblische Belege: Vulg. iud. 7,22, Vet. Lat. und Vulg. Matth. 10,34 (ThLL VI 2,2014,6f.). Die Metonymie ist hier dem konkreten Verständnis vorzuziehen, weil die gladii den procellae entsprechen und nicht nur einem Teil (wie etwa uenti o. ä.).

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III Kommentar

tellure … pelago Poetische Variation für das in der Prosa übliche terra marique (WOLFF 1996, z. St.). procellas Das letzte Wort des vorletzten Verses ruft das letzte Wort in der zweiten Zeile der Rede wieder in Erinnerung: Das konkrete Erlebnis des Sturmes, den Paris in diesem Moment ertragen muß, rahmt seine Worte. 424 formidant Allein Dracontius verwendet diese Form in der lateinischen hexametrischen Dichtung. WOLFF 1996, z. St. betont die Variatio in der Wortwahl bei pauent und formidant, was man auf die ganze Passage und das oben aufgelistete Wortfeld erweitern kann. nec plena datur ducis hora quieti Der Versschluß ist eine Reminiszenz an Verg. Aen. 5,844 datur hora quieti und wohl auch an die dabei in Erinnerung gerufene Palinurus-Episode. Denn der Steuermann ist ein warnendes Beispiel für alle Seeleute, die sich eine Ruhezeit gönnen. Der Gott Somnus hatte, als Gefährte Phorbas verkleidet, dem Palinurus seine Vertretung angeboten, damit dieser sich ausruhen könne. Aber er wird vom Schlaf übermannt, fällt von Bord und stirbt. Sicher liegen die Dinge durch die göttliche Veranlassung etwas anders, doch ist die Anspielung so deutlich und so passend, daß sie Dracontius gewiß im Kopf hatte. Plena hora ist ovidisch met. 10,734, später Peregr. Aeth. 43,2. 425–434 Zweiter Teil und Ende des Seesturms mit Landung des Paris auf Zypern Nach der Rede des Paris wird der Leser wieder zurück in das Seesturmgeschehen geführt. Eine besonders herausgehobene Welle hat die doppelte Aufgabe, den Redner zu unterbrechen und sein Schiff an Land abzusetzen, so daß die Sturmschilderung recht schnell ein Ende findet. Die Trennung der Gesandtschaft von Paris wird nun vollzogen und in drei Versen ausführlich mitgeteilt (429b–432a). Mit dem für Paris beruhigenden Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, endet die Seesturmepisode. Auffällig ist das „Ziel“ dieser Reise und der Ort des folgenden Geschehens, des „Helenaraubes“ selbst: die Insel Zypern. Sie gehört nicht zu den traditionellen Orten dieser Geschichte,362 läßt sich aber hin und wieder in ihrem Zusammenhang belegen. In der direkten Nachbarschaft Zyperns, in Sidon, halten sich Helena und Paris laut Homer auf (Il. 6,291f.), ebenso bei Herodot (2,113. 116) und Apollodor (epit. 3,4), die beide jeweils einen Sturm als Ursache angeben.363 Bei Apollodor kommt das Detail hinzu, daß zumindest Paris auch eine gewisse Zeit auf Zypern verbringt und zwar aus Angst vor Verfolgung.364 Auch bei Dictys 1,5 spielt Zypern eine Rolle, indem Helena und Paris dorthin von Winden verschlagen werden und dann nach Sidon gelangen. 362 Handlungsorte des Ereignisses sind neben Sparta (SIMONS 2005, 278f.) der Strand Lakoniens, Amyklai, das Tainaron-Gebirge, das Vorgebirge Pephne, die Insel Kythera (Dares 10), ERNST WÜST: Paris, RE 18, 2, 1484–1536, hier 1504. 363 Laut Proklos sei diese Version schon Teil der ‘Kyprien’ gewesen (Procl. Chrest. 103–105 [Severyns]). 364 Dies wird auch von AGUDO CUBAS 1978, 305, Anm. 18 betont.

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Warum entscheidet sich Dracontius nun dafür, den Handlungsort dieser nicht unwichtigen Episode gegen die überkommene Tradition zu ändern? Eine Rolle mag spielen, daß der Dichter gern Details des Mythos ändert, um neue Akzente zu setzen.365 Für Zypern könnte sprechen, daß die Insel an einigen Punkten der ParisHelena-Tradition verankert war, so daß der Weg zu diesem Eiland recht kurz ist, wenn ohnehin eine Änderung eingeführt werden soll. Außerdem scheint hier ein erzählerischer Kunstgriff des Dracontius vorzuliegen. Er führt den neuen und für den Leser überraschenden Handlungsort direkt nach dem Seesturm, der an dieser Stelle eine Innovation darstellt (Paris und Helena erleben häufiger gemeinsam einen, s. oben) ein. Dadurch scheint er die üblichen Erwartungen eines Lesers an das Ende eines Seesturms (Neuanfang und -orientierung an einem unbekannten und rein zufällig erreichten Ort)366 mit innovativer Neugestaltung zu verknüpfen. Denn welcher Ort im Mittelmeer eignete sich besser als eine Insel der Venus, die noch ein Versprechen einzulösen hat?367 Es ist also ein literarisch gestalteter Zufall, der sowohl den Leser als auch Paris als Protagonisten des Seesturms trifft, die beide gewissermaßen aus der überkommenen Tradition fallen, einmal rezipierend, einmal im direkten Erleben. Unterstützt wird die These eines dichterisch „gewollten Zufalls“ dadurch, daß im Gedicht beständig ein fügender Zufall als treibende Kraft wirkt.368 Dramatisierung, Intensivierung, Innovation ergeben sich aus dieser neuen Version des Stoffes. 425 dum loquitur Bei Dracontius sehr beliebt (in Romul. 8 noch 134. 425, Romul. 10,122. 216, Orest. 706), davor nur zweimal bei Ovid (ars 1,167, fast. 3,367) und zweimal bei Iuvencus (3,330; 4,306). uenit unda grauis Eine besonders große Welle, die erst den Redner unterbricht (schon im berühmten Seesturm Homers Od. 5,291ff.) und schließlich das Schiff ans Ufer bringt, hat ihr Vorbild bei Lucan. 5,672f. haec fatum decimus, dictu mirabile, fluctus / inualida cum puppe leuat (aus dem bekanntesten, umfangreichsten und bedeutendsten lucanischen Sturm, MORFORD 1967, 37).

365 LANGLOIS 1959, 265, BRIGHT 1987, 118. Hier mag ihm dies umso leichter gefallen sein, als das Ereignis ohnehin schon unterschiedlich lokalisiert wurde. SCHETTER 1987, 225f. (= 1994, 308f.) geht vielleicht ein wenig zu eng von einer Kombination aus Dares (mit Variation der Venus-Insel von Kythera zu Zypern), Apollodor und Dictys aus. Vielleicht sollte man etwas vorsichtiger sagen, daß bei diesen Autoren Varianten vorliegen, die alle gewirkt haben können. Eine zwingende Vorbildwirkung dieser späten Mythenvarianten ist aber für Dracontius, dem die Fülle der Überlieferung vorlag und der auch sonst selbständig agiert und ingeniös erfindet, nicht ohne weiteres zu postulieren. 366 Der Leser wird gleichsam mit in die Neuorientierung hineingenommen, weil er so wie Paris in dieser Dichtung einen für ihn im Ablauf dieser Geschichte unbekannten Ort erreicht. 367 LANGLOIS 1959, 264 hebt zu Recht heraus, wie passend die für den Venus-Kult so berühmte Insel an dieser Stelle ist, und daß die Rolle der Venus, die auch in Romul. 2 und 10 von Bedeutung ist, eine Steigerung erfährt. Ähnlich argumentiert auch AGUDO CUBAS 1978, 305. 368 So heißt es beispielsweise gleich im Anschluß 435f. Cypro festa dies natalis forte Dionae / illa luce fuit, oder 459f. augur … / quem fors ad Cyprum dederat per festa dierum. AGUDO CUBAS 1978, 301f. stellt die zufällige Begegnung zwischen Helena und Paris heraus.

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III Kommentar

Für uenit unda vgl. Val. Fl. 2,506, laud. dei 3,591 usque animam uenit unda meam, grauis horror aquarum. Grauis unda noch bei Ov. met. 11,496, [Ov.] epist. 19,23 (für ähnliche Stellen s. BÖMER 1980, 369). resonatque fragore Reminiszenz an Verg. Aen. 5,228 resonat … fragoribus aether (bei den Ruderwettkämpfen). Das Krachen der Wassermassen begegnet seit Verg. Aen. 7,587 magno ueniente fragore, wenn das Wasser gegen die Felsen schwappt (s. ThLL VI 1,1233,64ff.). An unserer Stelle muß allerdings das Geräusch gemeint sein, das ertönt, wenn eine Welle sich mitten auf dem Meer bricht. 426 puppim percussit aquis Wenige Belegstellen gibt es, an denen vom Wasser percutere gebraucht wird (ThLL X 1,1244,72ff.), von denen keine recht vergleichbar scheint, am ehesten vielleicht noch Vet. Lat. Matth. 7,25 flumina … percusserunt domum illam et non corruit. Viel deutlicher weist die Junktur aber auf die Darstellung dieses Seesturms als Schlacht hin. In Seeschlachten ist percutere für die Zerstörung von Schiffen gut bekannt: Nep. Chabr. 4,2 nauis rostro percussa coepit sidere, Liv. 37,30,9, Lucan. 3,563f. ratis … / ictu uicta suo percussae capta cohaesit, Veg. mil. 4,43,3 liburnarum moles … aduersarios percutit rostris. Die Waffe, mit der die grauis unda sich dem Schiff des Paris entgegenstellt, sind ihre eigenen Wassermassen (im instrumentalen Ablativ aquis). Unterstützt werden kann dieser Gedanke durch eine Stelle aus der ‘Ilias’ (15,381f.), wo die Angreifer in der Schlacht mit einer Welle verglichen werden, die auf ein Schiff hereinbricht (s. für diese Stelle KAHLMEYER 1934, 4). 426f. sublata carina / tollitur Die Verbindung wird von WOLFF 1996, z. St. als Pleonasmus bestimmt, doch sind Unterschiede in den Wortbedeutungen festzustellen, die insgesamt eine starke Raffung des Geschehens bewirken. Denn das Hochheben des Schiffes scheint in sublata ausgedrückt, die Bewegung hin zum Strand Zyperns in tollitur (verwendet wie aufertur, vgl. satisf. 286 Loth … tollitur ex Sodomis, Val. Fl. 8,54f., worauf ZWIERLEIN BT z. St. verweist). Das Wortspiel ist wirkungsvoll: Der Dichter kann zweimal das gleiche Wort verwenden und doch variieren. Für die Junktur vgl. Lucan. 3,526f. classis / tollitur (im Seeschlachtkontext zum Ausdruck einer Aufstellung der Flotte in Schlachtreihe. Bezeichnenderweise gehört die Stelle in die gleiche Seeschlacht wie oben [zu 425] 3,563f. ratis … / ictu uicta suo percussae capta cohaesit), das hier für den Seesturm umgedeutet wird, aber trotzdem die Aura der Schlacht seiner Herkunftsstelle behält. 427 tollitur … resedit Der Vers wird gerahmt vom Wegraffen und Niedersetzen. Cypro Lokaler Ablativ (ThLL Onomast. 2,797,54). classi depulsa Das Schiff des Paris wird von der übrigen Flotte getrennt. Classi (für die Form des Ablativs Catull. 66,46, Verg. Aen. 8,11, ThLL III 1281,26f.) ist eine Konjektur von SCHENKL für das überlieferte classis, das nicht den geforderten Sinn gibt. Das Partizip depulsa ist als Nominativ zu carina (426) zu ziehen. Aus dem folgenden post signum uenere rates wird deutlich, daß Paris auf einem Einzelschiff, von den übrigen abgeschlagen, als erster Zypern erreicht.

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Für die Wortwahl mit anderer grammatischer Konstruktion vgl. Lucan. 9,368 (hos igitur depulsa locos eiectaque classis). Weitere Belege für diese Bedeutung von depellere aus dem Seefahrerkontext s. ThLL V 1,564,68ff. resedit Das Schiff ist Subjekt des Satzes, aber erst beim letzten Wort ist es tatsächlich wieder das handelnde Subjekt: Es setzt auf dem Land auf, was vor dem Hintergrund des wütenden Sturmes, der dem Schiff alles abverlangt hat, sehr reizvoll ist. Gut möglich wäre auch, daß carina als Subjekt ganz prägnant als ‘Kiel’ zu fassen ist, durch dessen Aufsetzen die Mannschaft trocken aussteigen und alles retten kann. 428 post signum Prosaischer Ausdruck. Nach VOLLMER MGH 391 Variation des gewöhnlichen militärischen Terminus signo dato (so auch ZWIERLEIN BT z. St.). Paris, als erster auf der Insel angekommen, gibt den übrigen Schiffen seiner Flotte ein Zeichen, daß sie sich in seine Richtung bewegen sollen (WOLFF 1996, z. St. bemerkt dazu kritisch, daß ab einer bestimmten Entfernung ein Zeichen nicht mehr wahrzunehmen ist. Allerdings wird über die Entfernung hier keine Aussage gemacht. Außerdem beginnt sich der Sturm zu legen, so daß auch die Sicht besser werden dürfte). SCHETTERs 1987, 227, Anm. 30 (= 1994, 310, Anm. 30) Erklärung, mit Verweis auf 615f. prima ratis iuuenis regali praedita signo / apparet, es handele sich hierbei um eine Metonymie für ein Flaggschiff, läßt sich in der Situation des tobenden Sturms kaum aufrechterhalten. Die Schiffe befinden sich nicht mehr in der Gewalt der Steuermänner und können so auch kaum einem Flaggschiff folgen. Daß der Held zuerst landet und dann nach den anderen Schiffen Ausschau hält und sie einsammelt, ist vergilisch vorgeprägt (Aen. 1,170f. 180ff.). uenere rates Der Versanfang ruft inhaltlich und formal das vergilische postquam altum tenuere rates (Aen. 3,192, s. u. zu tenuere 429) auf. recidente procella Der überlieferte Text residente procella ist eigentlich eine verständliche, gut belegbare Junktur: für residere als Terminus für die Beruhigung eines Sturms s. OLD s. v. 1629, 3e; vgl. Verg. georg. 2,479f. qua ui maria alta tumescant / … rursusque in se ipsa residant, Aen. 7,27f. cum uenti posuere omnisque repente resedit / flatus, Stat. Theb. 1,479f. uentis ut decertata residunt / aequora, 9,523f. ceu uentis alte cum elata resedit / tempestas. Dennoch dürfte das metrische Problem zu schwer wiegen (vergleichbare Erklärungen wie zu edere 413 lassen sich nicht finden), so daß PEIPERs Konjektur recidente in den Text gesetzt wird. Die Konjektur wird durch laud. dei 2,161 und die wortgleiche Stelle Orest. 42 recidentibus euris gestützt, so daß recidere beim Sturm als eigene Formulierung des Dracontius belegt ist. Die Verschreibung wird unter dem Einfluß von resedit aus Vers 427 entstanden sein, worauf OTTO ZWIERLEIN brieflich verweist. 429 tenuere Rates tenuere ist eine vergilische Junktur: Verg. Aen. 3,192 postquam altum tenuere rates (Abfahrt in einen Seesturm) und 5,8 ut pelagus tenuere rates (Abfahrt in einen Seesturm). Dracontius deutet die vorgeprägte Wendung um und verwendet sie für das Landen statt für das Auslaufen.

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III Kommentar

simul Gesondert betrachtet werden einzig das Schiff des Paris und das der Legaten. Die übrigen Teilnehmer dieser Fahrt, von denen im Sturm bisher gar keine Rede war, folgen alle gleichzeitig als Masse dem Paris und können ohne weitere Zwischenfälle auf Zypern landen. 429f. legatio sola / defuit Das Enjambement spielt mit Spannung und Erwartung der Leser: Die drei großen Redner, die mehr oder weniger gut einen Krieg verhindern konnten, was werden sie im großen Sturm erlebt haben, was unterscheidet sie von Paris und den anderen? Sie sind nicht da. Daß sie nicht gestorben sind, erfährt der Leser gleich, wenn es heißt, daß sie ins ionische Meer abgetrieben sind (431). Der Gedanke, daß nach dem Seesturm nicht alle Schiffe vollzählig sind, ist vergilisch (Aen. 1,170f. 180ff., ebenso wie die Tatsache, daß genau ein Schiff von den übrigen getrennt wird, vgl. 1,113ff.). ZWIERLEIN 2017, 112 verweist zudem auf Verg. Aen. 5,814f. 430 una Nach sola erneute Hervorhebung des Einzelschicksals dieses Gesandtenschiffes. fretis et fluctibus acta Fretis et fluctibus ist ein Hendiadyoin. In dieser Form singulär. Im Singular Carm. adv. Marc. 5,213 fluctuque fretoque. Auch sonst begegnen die Worte gemeinsam, z. B. [Tib.] 3,7,72–74, Ov. met. 8,587; 11,209f., [Ov.] epist. 18,211f. u. ö. Es dürften an dieser Stelle besonders Verg. Aen. 1,333 uastis et fluctibus acti und weiterhin Verg. Aen. 7,213 nec fluctibus actos, Ov. met. 11,721 fluctibus actum, Val. Fl. 2,603 scopulis me et fluctibus actam anklingen. Vgl. auch laud. dei 1,151 de fluctibus actam. Die Junktur fretis et fluctibus ist in erster Linie zu acta zu ziehen, kann aber gedanklich auch zusammen mit dem ansonsten ganz allein stehenden negatur gehört werden. negatur Die beiden gedanklich synonymen Worte deesse und negari rahmen den Vers und die stürmischen Meeresfluten, die daran schuld sind. Negare wird im Zusammenhang mit der Seefahrt öfter mit uela verwendet, die nicht in den Wind gehißt werden, z. B. Ov. epist. 1,200, met. 11,487, Lucan. 8,560 u. ö. Hier dreht Dracontius das Verantwortungsverhältnis um: Fluten, Wellen und Wind verweigern den Menschen das letzte Schiff ihrer Flotte. Negare in der Bedeutung ‘verweigern’ findet sich in ähnlichem Zusammenhang schon Lucan. 5,559 hoc (sc. das sichere Übersetzen übers Meer) potius pelagus flatusque negabunt. Dagegen versteht VOLLMER MGH 378 negatur an dieser Stelle als „non adesse nuntiatur“ (von negare als ‘“nicht“ sagen’). Dafür fehlte jedoch ein gut denkbarer Urheber der Rede, da die Junktur fretis et fluctibus diese Funktion schwerlich übernehmen kann. Für die Ablehnung der Konjektur uagatur von BAEHRENS und RIBBECK s. ZWIERLEIN 2017, 112f. 431 in Ionium Zu ergänzen ist mare. Die Verwendung von Ionium in der Dichtung ist relativ rar, vergleichbar ist vielleicht Ov. met. 4,535 in Ionio.

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rabidis … procellis Zu rabidus s. zu 405. Die Junktur scheint nur Dracontius zu verwenden (laud. dei 2,159, Romul. 10,39), mit rapidus begegnet procella gelegentlich (Prop. 2,16,45, Sil. 4,146; 17,169). collisa Mit zwei weiteren Stellen der lateinischen Literatur (Avien. Arat. 1672f. cum litora curua resultant / sponte procul neque caeruleus colliditur aestus [sc. litori uel ad litus], Ruric. epist. 2,13 p. 391,6f. ne te aut in altum uehementior flatus excutiat aut in uicina litoribus saxa collidat) ist hier der Beleg der begrifflich weiteren Verwendung des Wortes collidere repräsentiert, nämlich im Sinne von appellere, deferre, adigere (ThLL III 1604,44f.). WOLFF 1996, z. St. vermutet hinter collidere den Gedanken, daß die Gelandeten vom Untergang des letzten Schiffes im Meer ausgehen. 432 Aegaeo nam pulsa caret Aus dem ägäischen Meer, an dessen Küste sowohl Salamis als auch Troja liegen, wird das Schiff der Gesandtschaft ins ionische verschlagen. Ein hübscher Einfall ist es, daß sich gerade Aeneas, der ja in der Nachfolge des Odysseus ein bekannter auf hoher See Irrender sein wird, auf diesem Schiff befindet, der so, chronologisch vor der Erzählung Vergils, einen Seesturm und seine Folgen schon kennenlernen konnte. Aegaeo bezieht sich auf caret, kann aber auch zu pulsa mitgehört werden (als separativer oder auktorialer Ablativ). Nam an zweiter Position noch laud. dei 3,81. 324, Romul. 4,35; 5,143; 10,209. 384, Orest. 361 (VOLLMER MGH 377), für die Funktion s. auch GRILLONE 2008, 137. Carere vom Schiff begegnet noch Ov. trist. 5,11,14 caret portu, Pont. 1,4,18 liquidis sicca carebit aquis. mox Kündigt den Blickwechsel an vom verschollenen Schiff zum gelandeten, auf dem sich Paris befindet. pastor Paris hat sich nicht wie ein dux verhalten in diesem Seesturm, sich außerdem in seiner Rede eindeutig für das bukolische Leben entschieden, so daß er nun wieder als Hirte von Bord geht. harenis Dativ der Richtung (WOLFF 1996, z. St., VOLLMER MGH 433). 433 Dardanus Paris wird auch Stat. Ach. 1,20f. als Dardanus pastor bezeichnet: soluerat Oebalio classem de litore pastor / Dardanus. Seit Verg. Aen. 4,662 öfter am Versanfang. exsiluit Prosaisch für den Sprung vom Schiff: Plin. nat. 32,4; Argum. Plaut. Merc. 2,3; Amm. 21,9,6; Claud. Don. Aen. 10,660 p. 377,1; Act. Petr. 6 p. 51,14; Ps. Quint. decl. 6,5 p. 115,18 (s. ThLL V 3,1863,17ff.). tremulis post aequora plantis Nach so langer Zeit auf dem schwankenden Schiff bleibt das Gefühl des unsicheren Bodens noch eine Weile erhalten, was Dracontius einfühlsam aufgreift. Für diese Interpretation des Präpositionalausdrucks post aequora, der in extrem verkürzter Weise einen Nebensatz ersetzt, spricht insbesondere die geschlossene Stellung; vgl. für den Ausdruck auch Lucan. 3,233 post … aequora und 2,498 post … aquas. Die Junktur tremulis plantis begegnet so noch Iuv. 6,96. Diese Parallelstelle mag vielleicht die Bedeutung des Ausdrucks doch in Richtung „Zittern vor Angst“ wenden. Denn er findet sich in der Satire, die Dracontius 405 (temnunt, s. auch dort) schon anzitiert hat. Darin handelt Juvenal über

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III Kommentar

die feigen Frauen, die nicht bereit sind, sich ernsten und gefährlichen Aufgaben mit ihrem Mann zu stellen, sondern lieber Zeit mit dem Liebhaber verbringen (dort auch der Name Paris, ein Schauspieler, dem die Frauen lieber folgen als ihren Ehemännern). Wenn Dracontius zum Abschluß der Seesturmepisode noch einmal darauf verweist, drängt er Paris weiter in die Rolle des feigen, weibischen Mannes, der nichts dazugelernt hat und seine Aufgabe, die Besatzungen der Schiffe gesund nach Hause zu bringen, nicht wahrnimmt. Er ist, wie im folgenden zu sehen ist, nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. 434 se … tacta tellure refouit Vgl. Lucan. 5,676f. pariter tot regna, tot urbes / fortunamque suam tacta tellure recepit. Dracontius ist nicht nur vielleicht (WOLFF 1996, z. St.) von diesem Vers inspiriert worden, sondern ziemlich sicher. Denn auch bei Lucan wird damit eine Seesturmszene abgeschlossen (diese Lucan-Stelle ist besonders augenfällig, weil sie aus dem bekanntesten seiner Seestürme stammt und es sich damit um einen prominenten Referenztext handelt, wie auch oben zu 425, MORFORD 1967, 37). Die besondere zehnte Welle setzt Caesar wohlbehalten an einem Küstenstreifen ohne Klippen ab (672ff.), so daß er nicht umkommt, sondern aufsteht und gleich das neue Land einnimmt. Wenn Dracontius hier Paris mit Caesar parallelisiert, ist zu fragen, was bei den beiden Helden vergleichbar ist. Paris ist freilich nicht der große Eroberer, der Städte und Länder sofort unterwirft. Gleich sind aber die Arroganz und der Egoismus, mit dem beide handeln. Die übrigen Leute, Begleiter und sonstige, sind ihnen egal, sie landen auf einem neuen Stückchen Erde und nehmen sich, was sie wollen, ohne Rücksicht auf Verluste – Caesar das Reich, Paris die Helena. Neben den Parallelen fällt auch eine Kontrastimitation ins Auge, die durch die unterschiedlichen Prädikate se refouit und recepit deutlich wird. Caesar verschwendet keine Zeit, sobald er am Ufer ist, nimmt er die Städte ein, als richtiger dux und Eroberer (s. dazu auch MATTHEWS 2008, 254). Dagegen steht der Hirte Paris, der einfach nur froh ist, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Da ist nichts, was an einen großen Helden erinnert, wie er es sich zu Beginn gewünscht hat. Paris ist wieder der Hirte geworden, der am liebsten mit seinen Tieren auf der Weide ist. Das Motiv der Freude über festen Boden unter den Füßen nach dem Sturm findet sich auch im ersten Buch der ‘Aeneis’ 171f. ac magno telluris amore / egressi optata potiuntur Troes harena. Reflexives refouere begegnet recht selten (man verwendet es üblicherweise transitiv), wohl zuerst Plin. nat. 8,97 (WOLFF 1996, z. St.), aber auch nat. 8,99, Arnob. nat. 7,34 et quia illis se uolup est lauacrorum refouere caldoribus, Cassiod. in psalm. 40,101 lectus autem nobis datus est ad quietem, in quo se hominum fessa membra refoueant.

Hauptteil IV: 435–585 Helena und Paris – Der „Raub“

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HAUPTTEIL IV: 435–585 HELENA UND PARIS – DER „RAUB“ Das letzte Drittel des Epyllions ist dem Paar Helena und Paris gewidmet, ihrer Begegnung, ihrer Liebe, ihrer Flucht (mit einem kleinen Schwenk zum Rest der Gesandtschaft, die schon in Troja gelandet war) und ihrer Ankunft in Troja. Völlig zu Recht wurde ausführlich die Ankunft des Paris auf Zypern und seine Begegnung mit Helena mit der Landung des Aeneas in Karthago und seinem Zusammentreffen mit Dido im ersten Buch der ‘Aeneis’ parallelisiert.369 Ausgehend von den Parallelen in der Seesturmgestaltung (s. dazu oben) und der kurzen Erholungsphase am Strand, die, was als Unterschied deutlich gemacht werden muß, freilich in der ‘Aeneis’ viel länger und weiter ausgestaltet ist (171–179), während sie bei Dracontius im Prinzip nur die Freude über den festen Boden umfaßt, lassen sich weitere Bezüge finden. Die folgenden vergleichbaren Ereignisse sind in ihrer Reihenfolge je anders angeordnet: Während Aeneas auf seine Mutter trifft, von ihr durch Deutung eines Vogelprodigiums (393–401) göttliche Weisung erhält und in seinem begonnenen Weg bestärkt wird, danach im Tempel der Iuno auf Dido trifft und von ihr schließlich in den Palast geladen wird (627), wo die Königin von den Geschenken der Ankömmlinge angetan ist (709–714), erhält Paris zuerst eine Einladung der Helena (444–448a), macht sich sogleich auf den Weg (448b–450), biegt aber noch ab zum Tempel der Venus370; auf dem Weg dorthin erhält er durch ein Vogelprodigium (462–469), das ihm von einem Seher gedeutet wird (472–480), Hinweise auf die Ereignisse der Zukunft. Als Paris noch im Tempel ist,371 bewundert Helena schon (imaginär oder realiter) seine Gestalt (wie Dido die

369 BRIGHT 1987, 118, SIMONS 2005, 280ff., WASYL 2011, 83f. 370 Auf das Treffen der beiden am Tempel als Innovation des Dracontius und seine Nähe zu Dido und Aeneas weisen schon MORELLI 1912, 109 und WOLFF 1996, 163 hin (vgl. aber unten zur Frage, ob sich beide tatsächlich am Tempel begegnen). Es sind jeweils die Tempel der Gottheiten, die den Ausschlag für die Begegnung zwischen den jeweiligen Paaren geben: Iuno, Gegnerin des Aeneas, erregt den Seesturm und ist so dafür verantwortlich, daß Aeneas überhaupt nach Karthago kommt; Venus hingegen ist eigentlich nach dem Urteil über ihre Schönheit dem Paris unterstützend zugetan und löst hier doch etwas aus, das dem Leben vieler Menschen und dem des Paris großen Schaden zufügt. Grundsätzlich scheint die Begegnung zwischen Helena und Paris im weiteren gedanklichen Zusammenhang mit einem Tempel (s. unten z. St. 441 für das Problem des Treffpunkts) eher aus der Tradition des Liebesromans zu kommen, weil sie in direktem Zusammenhang mit einem Opferfest und mit einer Liebe auf den ersten Blick (s. dazu unten zum Abschnitt) steht, und weniger aus der Parallelisierung mit Aeneas an dieser Stelle hervorzugehen. Hinzuweisen ist außerdem auf die parallele Situation im Epyllion ‘Hero und Leander’ des Musaios. Auch dort treffen die Liebenden einander am Tempel, und zwar anläßlich eines Venusfestes (115ff.). Vergleichbar ist außerdem die grundsätzliche neue Gestaltung im Ablauf der jeweiligen Geschichte sowohl bei Musaios (KOST 1971, 32) als auch bei Dracontius. 371 Das Motiv, vom Wind zu einem zunächst ungeplanten Ufer zu gelangen und dann dort den Tempel aufzusuchen, findet sich bei Dracontius auch im ‘Orestes’, wo Agamemnon zu den Taurica litora (45) gelangt (43–49). Übereinstimmend ist auch dort vor dem Betreten des Tempels eine Kleiderbeschreibung zu finden (50f.) wie Romul. 8,481–488.

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III Kommentar

Geschenke372) und verliebt sich in ihn (490–498a). Die Verliebtheit der Dido, die es ihr Aen. 4,76 die Stimme verschlagen läßt, spiegelt sich im Unvermögen der Helena beim Anblick des Paris vor Verlangen weiterzusprechen (505–507). Wenn Aeneas und Paris auch an verschiedenen Stellen schon kontrastiv einander gegenübergestellt worden sind, so ergibt sich doch hier eine Gemeinsamkeit, indem beide das Gastrecht verletzen. Dennoch muß an dieser Stelle unterschieden werden, handelt doch Aeneas im Vertrauen auf seinen Auftrag und verläßt Dido um eines höheren Zieles willen. So ist er nicht grundsätzlich, sondern nur aus Sicht der Dido ein perfidus hospes (Verg. Aen. 4,305. 366. 421 von Dido für Aeneas benutzt, als Terminus für einen Mann, den eine Frau als Gast aufnimmt und der sie dann verläßt373). Paris hingegen besitzt keinen großen Auftrag, dem er sein Denken und sein Handeln unterordnen muß. Er sieht allein auf sein Ansehen, auf seine Stellung, auf seine ‘Selbstverwirklichung’ und nimmt so auch keine Rücksicht auf die Gesetze des Gastrechts, wenn er eine verheiratete Frau verführt und mit ihr übers Meer flieht.374 435–452 Paris’ erste Schritte auf Zypern In zwei paritätischen, jeweils neun Verse umfassenden Abschnitten wird zuerst die Situation auf Zypern in einer Ekphrasis dargestellt und dann die Kontaktaufnahme der Helena mit Paris beschrieben. Innerhalb dieses Abschnitts befindet sich die vermutlich deutlichste Reminiszenz an die Situation zwischen Dido und Aeneas: regina praesente Paris ceu nauita uilis / litus harenosum teneat (447f.). Die Ankunft eines Helden am Strand ist ein Motiv, das sich bis in die ‘Odyssee’ zur Begegnung zwischen Odysseus und Nausikaa zurückverfolgen läßt. 435–443 Zypern, das Venusfest und die Ankunft des Paris Wie schon an verschiedenen Stellen beobachtet, spielt auch hier der Zufall für den Gang der Ereignisse eine entscheidende Rolle: Zufällig landet Paris auf Zypern, zufällig findet dort gerade ein Fest anläßlich des Venus-Geburtstags statt, zufällig ist auch Helena vor Ort. Mit einer Ekphrasis von Ort und Umständen der neuen Lokalität entfaltet Dracontius eine Situation, in der im antiken Roman einander üblicherweise die Liebenden begegnen. Die Nachricht von der Ankunft des Königssohnes Paris verbreitet sich in der Stadt und auch Helena, die zum Fest gekommen war, erfährt davon. Damit wird an dieser Stelle die Grundlage für den weiteren Gang der Ereignisse gelegt. Der Vers 442 nuntia fama ducis totum repleuerat urbem erinnert an die Ankunft des Paris in Troja, wo es hieß (116) nuntius interea totum compleuerat urbem. Davon 372 Diese Bewunderung mag eher unter dem Einfluß des Liebesromans stehen, weil dort in solchen Situationen tatsächlich die Menschen betrachtet werden, denen dann auch die Liebe gilt (s. dazu auch unten z. St.). 373 SIMONS 2005, 282 und Anm. 197. 374 Paris’ eigenständiger Beitrag zum „Raub“ wird sich später relativeren, wenn Helena bestimmt, was zu tun ist, und Paris vor Angst handlungsunfähig wird. Aber daß er große Pläne hat und gegenüber der Ehe der Helena rücksichtslos vorgeht, wird in seiner Rede 516b–529 deutlich.

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ausgehend stellt DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 208 eine größere Analogie zwischen beiden Ankunfts- und Aufnahmeszenen her. An beiden Stellen werden Opferhandlungen vollführt. In Troja platzt Paris in die Prozession seiner Familie und stört das Opfer, an unserer Stelle sind wegen des Geburtstags der Venus Menschen am Tempel unterwegs, um den heiligen Handlungen beizuwohnen, deren Aufmerksamkeit Paris zumindest später ebenfalls vollständig auf sich zieht (489). Die Familie und besonders die Eltern des Paris nehmen ihn in Troja voller Freude an und auf, Helena ruft Paris vom zypriotischen Strand zu einer diesem Prinzen angemessenen Unterkunft. Bevor es jedoch an beiden Orten, in Troja und auf Zypern, zur wirklichen Aufnahme des Paris kommt, treten retardierende Elemente auf den Plan: In Troja sind es die Sehergeschwister Helenus und Kassandra, die von Apoll selbst zum Schweigen gebracht werden, hier auf Zypern ist es das Vogelprodigium und die folgende Auslegung durch den Melampiden. Entscheidend ist jedoch m. E. der Unterschied, daß Paris hier auf Zypern seine Rehabilitation selbst in die Hand nimmt, er füllt sozusagen jetzt die Rolle des Apoll in Troja aus, indem er sich an Venus wendet mit der Bitte, das Positive des Prodigiums zu erfüllen, das Negative aber abzuwenden. DIAZ DE BUSTAMANTE betont, daß Paris alle Aussagen des Prodigiums für sich als wahr annimmt (208). Dies ist sicher der Fall, greift aber viel zu kurz. Denn der Sohn des Priamus vertraut ganz offensichtlich darauf, die ebenso betonte Unausweichlichkeit der Vorhersagen übergehen zu können und zwar als Liebling der Venus; somit erhält der Leser den Eindruck, daß die Prophezeiungen ihn nicht besonders treffen. So wird der Leser, der auf die Parallelität der Szenen stößt, verstärkt die Variation und Steigerung in der Figur des Paris wahrnehmen. Während der Troja-Szene war er selbstbewußt, mußte aber letztlich die Entscheidung des Vaters abwarten. Hier nun entscheidet er ganz allein, was er trotz der Warnungen tut, und wird dadurch noch eine Spur rücksichtsloser gezeichnet. 435 Cypro Lokaler Ablativ ohne Präposition. Zypern ist als Geburtsinsel der Göttin für den Kult besonders wichtig und ist daher auch Sitz mehrerer Kultorte (FERDINAND DÜMMLER: Aphrodite, RE 1, 2, 2729–2787, hier 2756–2762, s. auch ThLL Onomast. 2,796,76). festa dies Die Junktur und der inhaltliche Zusammenhang mit Venus läßt an Ov. met. 10,270f. festa dies Veneris tota celeberrima Cypro / uenerat als Referenzstelle denken; auch Ov. am. 3,10,47 festa dies Veneremque uocat cantusque merumque. Vgl. die erste Ankunft des Paris in Troja, die ebenfalls an einem Festtag stattgefunden hatte: 78 dies sollemnis. dies natalis … Dionae Der Geburtstag der Venus/Aphrodite scheint nur Plat. Symp. 203b.c erwähnt zu werden. Es gibt anläßlich des Tages ein Festessen der Götter, bei dem zufällig auch Eros gezeugt wird. Bei den Römern ist ein solches Geburtstagsfest sonst nicht belegt (WILHELM SCHMIDT: Γενέθλιος ἡμέρα, RE 7, 2, 1135–1149, hier 1140. 1148; Ovid nennt zumindest in seiner Einleitung fast. 4,1– 131 gelegentlich den Monat April als Venusmonat und Geburtstagsmonat, ohne jedoch ein spezielles Geburtstagsfest zu erwähnen). Es ist jedoch grundsätzlich gut vorstellbar, den Geburtstag der Göttin an ihrem Geburtsort zu feiern.

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III Kommentar

Natalis ist als Adjektiv zu dies festa zu verstehen. forte Erneut (wie schon bei seiner Ankunft in Troja, 78 forte dies sollemnis erat) trifft Paris an einem Ort ein, an dem ‘gerade zufällig’ ein Götterfest gefeiert wird. Zur Bedeutung des Zufalls s. die Einleitung 2.1.2, 2.1.3.1, 2.1.3.5.1 und die Einleitung zum Abschnitt. Dionae S. zu 240. 436 illa luce fuit Ovidischer Versanfang: met. 7,85; 11,571. Für luce als Zeitangabe im Sinne von die s. ThLL VII 2,1911,53ff. 436b–439 Ein Katalog von Festbesuchern ist fester Bestandteil eines römisch-hellenistischen Epyllions seit Catull (64,35–42; KOST 1971, 209, KROLL 71989, 149f.; gestaltet nach Apoll. Rhod. 4,1128–1169. 1182–1200, SYNDIKUS 1990, 128ff.). Freilich findet er sich auch in griechisch-hellenistischen Kleindichtungen, unter denen besonders Musaios zu nennen ist, dessen Katalog anläßlich eines Venusfestes (45–51) eingesetzt wird. Zu erwähnen sind auf lateinischer Seite noch zwei Kataloge in den ‘Fasti’ des Ovid (1,393ff. zum Bacchusfest und 6,321ff. zu einem Fest der Kybele). Zu beiden Götter-Festen sind im Unterschied zu Musaios und Dracontius jeweils nur Götter geladen (u. a. Satyrn, Nymphen, Silene, Najaden); auch die spezielle Herkunft der Teilnehmer spielt keine große Rolle. So scheinen Dracontius und Musaios mit gleichem Anlaß (Venusfest) und menschlichen Gästen mit konkretem Herkunftsort allein zu stehen. Folgende Anordnung der Orte ist an unserer Stelle zu bemerken:375 Dracontius nennt zunächst Cypros als ganze Insel, nimmt dann Idalion heraus, was etwa in der Mitte liegt, erwähnt als nächstes die kleine Insel Cythera, kommt zurück auf Cypros und greift Paphos im Osten der Insel heraus, und endet schließlich mit Amyclae in der Nähe von Sparta. Verbunden sind alle Orte durch den Venus-Kult, der dort jeweils zu Hause ist. Amyclae nimmt eine besondere Stellung ein, weil die Stadt nicht zu den ganz bekannten Venus-Kultstätten gehört. Doch ist auch für diese Stadt mit zwei dort vorhandenen Aphrodite-Darstellungen, eine von Gitiadas und eine von Polyklet (Paus. 3,18,8; 4,14,2; OTTO JESSEN: Amyklaia, RE 1, 2, 1997), eine Verbindung zur Göttin zu belegen; bei Nonnos (Dionys. 43,6) ist ‘Amyklaia’ als Beiname der Aphrodite überliefert (S. auch SIMONS 2005, 265, Anm. 156). Neben diesen kleineren Beobachtungen mag der Hauptgrund in der Nennung dieser Stadt darin liegen, daß gemeinsam mit Helena weitere Gäste aus Sparta gekommen sein mögen. Vgl. aber WOLFF 2016, 181 der aus der weiten Entfernung Spartas von Zypern und der schnellen Rückkehr des Menelaos von Kreta (571–576) eine falsche Lokalisierung der Venus-Insel ableitet. 436 ueniunt Zu ueniunt bieten sich verschiedene Subjekte an. Denkbar wäre, als Subjekte die folgenden verallgemeinernden Relativsätze anzunehmen (437–439). 375 Auffällig sind die letzten Worte der Verse 435–439, bei denen allen es sich um Eigennamen handelt, die entweder Venus selbst bezeichnen (Dione, Cytheres) oder ihr heilige Orte.

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Verallgemeinernd würden dann die neutralen Pronomen für Menschen gesetzt (WOLFF 1996, z. St.). Zu einem Götterfest wäre es durchaus passend, wenn deutlich ausgedrückt würde, woher die Anbetenden kämen, wie es sich etwa auch Musaios, ‘Hero und Leander’ 45–50 findet. In den Prädikaten capit und continet würde die große Menge der Menschen mitschwingen, die sich zum Venusfest aufgemacht haben, exornat wäre etwas schwerer zu verstehen, man könnte an besonders hübsche Frauen denken, die Zierde von Paphos. Diese Konstruktionsmöglichkeit ist aber wohl doch zu ungewöhnlich und hart, so daß man die Verwendung eines unpersönlichen Sinnes (ueniunt = ‘man kommt’) postulieren wird. Die Kunst des Dracontius liegt damit in der Variation. Er drückt nur indirekt die Herkunft der Besucher aus, indem er sagt, woher ihre Gaben kommen (quidquid und quod abhängig von uota). Eine ähnliche Konstruktion findet sich schon Mart. 10,17,3–8 (z. B. 3f. accipe Callaicis quidquid fodit Astur in aruis, / aurea quidquid habet diuitis unda Tagi). Zum problematischen lustrat bzw. lustret s. zum Lemma. ueniunt ad sacra Cytheres Die Wendung ad alcis sacra uenire begegnet seit Tibull 2,5,6 ad tua sacra ueni, vgl. auch Ov. ars 3,616, fast. 6,250. Cytherae, das alle Herausgeber in den Text setzen, ist der alternative Genitiv zu Cythere, statt Cytheres, der allerdings sonst nicht zu belegen ist. Daher konjiziert ZWIERLEIN BT z. St. mit Verweis auf Mart. Cap. 9,915 Cytheres, was auch hier übernommen wird. Dieses, vom griechischen Κυθήρη übernommene Beiwort der Venus ist erst seit Auson. 13,40,3 GREEN zu belegen, bei Dracontius noch Romul. 6,80; 9,75; 10,49. 84 (ThLL Onomast. 2,811,21ff.; KAUFMANN 2006 [a], 147; gebräuchlicher ist seit Verg. Aen. 1,257 das ebenfalls von der Insel abgeleitete Adjektiv Cytherea). 437 reddere uota deae Die Formulierung, ebenso mit finalem Infinitiv, schon 82 reddere uota Ioui (s. z. St.). Die Bedeutung von uotum ist abhängig von der postulierten Konstruktion der Verse 436f. Bei der unpersönlichen Konstruktion von ueniunt mit unpersönlichem Sinn steht das Wort in der Bedeutung ‘Weihgeschenk’ (wie schon Cic. Verr. II 4,123 qui … Veneri et Cupidini uota deberet, Verg. Aen. 3,279 uotis … incendimus aras, Petron. 89,10 in suo uoto latent vom trojanischen Pferd; OLD s. v. 2103f.,1d). Der quidquid-Satz und die quod-Sätze stehen dann als Objekte neben prädikativem uota oder könne explikativ verstanden werden. Nimmt man die Relativsätze zum Subjekt von ueniunt, kann das Wort uotum auch die Bedeutung ‘Gebet, Gelübde’ besitzen (OLD s. v. 2104,2). capit Für capere von Orten im Sinne von ‘voll sein von, etwas bereitstellen / hergeben …’ s. ThLL III 330,3ff. insula Cypros Die Aufzählung beginnt ganz allgemein mit der ganzen Insel Zypern, also mit den am nächsten wohnenden Gästen. Für den Nominativ auf -os s. ThLL Onomast. 2,796,12ff. 438f. quod … quod / quod … quod Die Funktionen von quod unterscheiden sich bei dieser Anapher: In den ersten beiden Fällen ist es als Akkusativ gebraucht (wie quidquid 437), in den beiden Fällen in 439 als Subjekt.

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III Kommentar

438 Idalium … alta Cythera Die Verbindung dieser beiden der Venus heiligen Orte ist bei Verg. Aen. 1,680f. super alta Cythera / aut super Idalium, 10,51f. est Amathus, est celsa mihi Paphus atque Cythera / Idaliaeque domus, 10,86 est Paphus Idaliumque tibi, sunt alta Cythera (ThLL Onomast. 2,810,84ff.) vorgeprägt. nemus Idalium Idalion ist eine Stadt auf Zypern mit einem bedeutenden Venusheiligtum (Idalia als Beiwort der Venus Verg. Aen. 5,760). Von einem Hain sprechen schon Vergil Aen. 1,692f. altos / Idaliae lucos (EUGEN OBERHUMMER: Idalion, RE 9, 1, 867–862) und Catull. 64,96 Idalium frondosum. Häufig werden Idalion und Paphos im Zusammenhang genannt (wie oben Idalion und Cythera): catal. 14,2, Stat. silv. 1,2,159f., Theb. 5,61–64, Auson. 10,28,1f. GREEN. continet Alliteration mit Cythera wie oben capit und Cypros. Continere als VerbVariation zu capere (437). alta Cythera Cythera liegt zwischen Kreta und der Peloponnes und ist bekannt für sein Venus-Heiligtum. Der Versschluß ist vergilisch (Aen. 1,680; 10,86). Altus bezeichnet entweder die gebirgige Landschaft (WOLFF 1996, z. St.) oder schlicht das Verhältnis zur Wasserfläche, da altus auch von anderen Inseln ganz grundsätzlich gesagt wird (ThLL 1,1774,19f.). Kunstvoll verwendet der Dichter hier das zu Cythere 434 bis auf die Endung klanglich gleiche Wort und scheint so mit dem Stilmittel des Polyptotons zu spielen. 439 Paphon Stadt auf Zypern mit einem Venus-Heiligtum. S. dazu E. HARTMANN: Das Aphroditeheiligtum von Paphos, in: HEINZ HEUBNER: P. Cornelius Tacitus. Die Historien. Band II. Zweites Buch, Heidelberg 1968, 30–36. exornat Nach den recht wertneutralen Verben capere und continere variiert der Dichter nun bei Paphos zu exornare. So überträgt er zum einen vielleicht von der Göttin der Schönheit das exornare direkt auf ihren Geburtsort (für die Geburt der Venus bei Paphos s. JOHANNA SCHMIDT: Paphos. Philologisch-religionsgeschichtlicher Teil, RE 18, 3, 951–964, hier 953f.) und unterscheidet die Stadt damit von den beiden anderen Lokalitäten. Zum anderen mag er auch auf die Schönheit von Paphos selbst anspielen. tacitas … Amyclas Tacitus ist ein geläufiges Epitheton zu Amyclae. Der Hintergrund und die Entwicklung desselben sind allerdings umstritten. Das schweigende Amyclae hat sich zu einem bekannten Sprichwort entwickelt und vielleicht nicht erst in späterer Zeit, wie OTTO 1890, 24 schreibt und dabei auf Pervig. Ven. 92 sic Amyclas cum tacerent perdidit silentium (vgl. BRAKMAN 1928, 72 und FORMICOLA 1998, 183), Auson. 11,15,6 GREEN taciturne, Amyclas qui silendo uiceris und 27,21,26 tu uelut Oebaliis habites taciturnus Amyclis, Sidon. epist. 8,6,9 Amyclis ipsis taciturnior ero und Veron. Schol. zu Verg. Aen. 10,564 Amyclis ex prouerbio … sumptum est verweist. Denn auch schon die erste und zweite Erwähnung der schweigenden Stadt Lucil. 957f. Marx mihi necesse est eloqui; / nam scio Amyclas tacendo periisse und Afranius com. 274 R. deliberatum est non tacere ‹me› amplius: / Amunculas tacendo periisse audio haben den deutlichen Anschein eines Sprichwortes. In der Tat offensichtlich ohne sprichwörtlichen Hintergedanken hat man Verg. Aen. 10,564 tacitis regnauit Amyclis und Sil. 8,528 zu verstehen.

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Warum Amyclae mit dem Epitheton ‘schweigend’ belegt werden kann, erklärt Serv. Aen. 10,564 (s. auch HARRISON 1991, 214f.), der auch berichtet, daß die Stadt von Einwohnern Lakoniens gegründet worden sei und den Namen vom griechischen Amyklai übertragen bekommen hätte: Entweder weil die Einwohner als Pythagoreer gelebt hätten, denen es verboten sei, Tiere zu töten und die deshalb von Schlangen des benachbarten Moores umbracht wurden.376 Oder die Stadt sei tacitus wegen des 5-jährigen Schweigegebots der Pythagoreer. Oder in der Stadt, die ermüdet gewesen sei von häufigem Fehlalarm, der einen Angriff von Feinden ankündigen sollte, sei ein Gesetz erlassen worden, das die Erwähnung von Feinden verboten hätte. Als dann tatsächlich Feinde anrückten, wurde die Stadt überwältigt.377 Problematisch ist die Zuordnung dieser Episode zu Amyclae nach Italien oder nach Griechenland. Bei Vergil handelt es sich um das Amyclae bzw. Amunclae in Campanien, eine Stadt zwischen Caieta und Terracina (BERNHARD REHM: Das geographische Bild des alten Italien in Vergils ‘Aeneis’, Leipzig 1932, 31f.), auf das auch Servius seine Erklärung bezieht. Auch Silius 8,528 meint die Stadt in Italien, während Solinus (ThLL I 2028,24f.) und wahrscheinlich auch Auson. 27,21,26 GREEN das lakedaimonische Amyklai meinen (es ist nicht recht einsichtig, warum man das Adjektiv Oebalius als Hinweis auf die Mutterstadt Amyklai in Griechenland verstehen muß, das nur anzeigen soll, daß das campanische Amyclae von dort aus gegründet worden sei [DAVID AMHERDT: Ausone et Paulin de Nole: correspondence. Introduction, texte latin, traduction et notes, Berne 2004, 107; LUCA MONDIN: Decimo Magno Ausonio, Epistole. Introduzione, testo critico e commento, Venezia 1995, 255f.], anstatt auch Ausonius als Beleg zu nehmen, daß die Geschichte für beide Orte bekannt war und verwendet wurde). Die Diskussion besteht mindestens seit 1793, als HEYNE einen Exkurs zu diesem Thema verfaßt und postuliert hat, daß das schweigende Amyclae ursprünglich das griechische sei, das lange von den Dorern besetzt gewesen sei und schließlich, wie Servius es schreibt, wegen seines Schweigens im Krieg untergegangen sei (CHRISTIAN GOTTLOB HEYNE: P. Vergilii Maronis Opera, varietate lectionis et perpetua adnotatione illustrata, London 1793, 496). Wegen der Namensähnlichkeit konnte die Übertragung auf die campanische Stadt erfolgen. Diese Idee kritisiert W. HERTZBERG: Amyclae, Amunclae, RhM 13, 1858, 639f., der den Stadtnamen im Lucilius- und im Afranius-Fragment (s. oben) latinisiert, weil es die Episode ja nur von der Stadt in Italien gebe (zur Diskussion auch PERIN Onomasticon 110f.). Es scheint im Moment nicht entscheidbar zu sein, für welche der beiden Städte man tacitus zuerst verwendet hat.378 Die Ähnlichkeit der Namen hat gewiß dazu beigetragen, daß eine Vermischung möglich wurde. Für die Nutzung als Sprichwort 376 Servius auctus fügt an dieser Stelle ein indirektes Zitat aus Cicero ein, die Einwohner seien an ihrer Zurückhaltung gestorben, die sie dazu gebracht habe das Unrecht, das sie von den Nachbarn erlitten hätten, zu verschweigen. 377 Wiederum ergänzt Serv. auct. zwei kleine Erklärungsmöglichkeiten: Entweder könne tacitus auch das sein, worüber man schweigen könne, ignobilis ‘vernachlässigbar’, oder es sei als Hypallage auf den 562 genannten Krieger Camers zu verstehen (uel hypallage est pro ‘ipse tacitus’). 378 Zu diesem Schluß kommt auch PRIVITERA 2008, 98.

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tut die Herkunft desselben auch nichts zur Sache. Vergil und Dracontius scheinen jeweils nur gelehrte Anspielungen machen zu wollen und auch dort ist es eindeutig, welcher der Orte gemeint ist. Was aber in jedem Fall festzuhalten ist: Es gibt keinen Grund, Dracontius eine Unachtsamkeit vorzuwerfen, weil es das Epitheton nur für die campanische Stadt gebe, wie es DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 188; 391 tut (auch getadelt von WOLFF 1996, z. St.). Es ist anzunehmen, daß Dracontius hier nicht Amyclae für Sparta setzt, wie oben 30 (und wie es die Dichter oft tun, ThLL I 2028,15f.), da eine solche Untergangsgeschichte kaum zu Sparta paßt und von ihm auch nicht bekannt ist, sondern tatsächlich das Städtchen gemeint ist (s. auch zu 436–439 für den Zusammenhang mit Venus). Dennoch ist es die Gegend um Sparta, also handelt es sich vielleicht um Gäste, die mit Helena gekommen sind. Im Hexameter steht dieser Stadtname stets in der Klausel; hier im Gedicht noch V. 30. lustrat Bei einer zu quod Paphon exornat parallelen Konstruktion und inhaltlichen Parallelität ist die Bedeutung von lustrare schwieriger zu bestimmen. Man erwartet für die Parallelität des Satzes und die inhaltliche Kohärenz ein Synonym zu exornare (VOLLMER MGH 370). So schlägt denn auch WOLFF 1996, z. St. vor, lustrare im Sinne von illustrare zu verstehen. Dies scheint das Bedeutungsspektrum von lustrare allerdings nur für Licht und Himmelskörper abzudecken, nicht für Dinge oder Tiere, die man hier als inhaltliches Element der uota annehmen muß (ThLL VII 2,1877,76ff.). Man könnte, versteht man unter uota Opfertiere als Weihgeschenke, uagari als Bedeutung für lustrare postulieren (ThLL VII 2,1879,34ff.). Doch läßt sich dies für Tiere schwer belegen, die einzige vergleichbare Stelle wäre wohl Prisc. periheg. 895 (sc. Erembi) dispersique dolent lustrantes more ferarum (ThLL VII 2,1879,44f.). Es bliebe noch die Möglichkeit lustrare im Sinne von ‘sühnen’ zu verstehen, womit eine der Grundbedeutungen des Verbs verwendet würde. Schreibt man zudem lustret statt lustrat, erhielte man eine klarere Struktur der Prädikate: Es ergibt sich innerhalb der Reihung der Verben eine Steigerung vom einfachen ‘enthalten’, über ‘schmücken’ hin zu einem Begehren, daß die Herkunftsstadt des Opfers gesühnt werden soll. Das heißt also konkret, daß bei den Verben zuerst eine Beziehung auf ihre lokale Herkunft (dort in Paphos ist es eine Zierde, dort auf Cythera ist es vorhanden) anzunehmen ist, bei lustret (der Konjunktiv unterstützt den Gedankenwechsel) eine Beziehung der Weihegabe auf die aktuelle Opfersituation auf Zypern: Diese uota-Gaben aus Amyclae sollen jetzt Amyclae entsühnen; damit hätte man innerhalb der Reihe den Übergang in die aktuelle Situation. Doch erlaubt auch indikativisches lustrat ein solches Verständnis und wird daher beibehalten. 440 candida … Helena Vgl. Stat. silv. 4,8,28f. qualis maternis Helene iam digna palaestris / inter Amyclaeos reptabat candida fratres?, catal. 9,27 candida … Tyndaris. Für candidus in der Bedeutung ‘schön’, besonders als typisches Epitheton der Liebeselegie seit Catull s. ThLL III 241,10ff. S. auch BLÜMNER 1892, 19f. Das erste ‘e’ in Helena muß lang gemessen werden (sonst normalerweise regelgerecht kurz).

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praeterea Nach der Aufzählung all der bedeutenden Orte wird die wichtigste Person, durch praeterea von den anderen getrennt, herausgehoben: Helena selbst, die schönste Frau der Welt, ist auch zu diesem Venusfest angereist. Iouis alitis … proles Dracontius bezeichnet hier als ‘geflügelten Jupiter’ den Schwan, als der getarnt sich Jupiter der Leda, Helenas Mutter, nähern konnte. Laut ThLL I 1525,33 wird Jupiter noch Prop. 2,30,31 si nemo extat, qui uicerit alitis (i. Iovis in aquilam uersi) arma als ales bezeichnet, wobei dort der Adler gemeint sein muß, in den er sich verwandelt hat. Jedoch ist dieses Verständnis von ales nicht haltbar – das geflügelte Wesen bei Properz kann nur Amor sein (dazu und zur Versumstellung FEDELI 2005, 859–861). So scheint der ‘geflügelte Jupiter’ doch eine innovative Idee des Dracontius zu sein. Die ganze Formulierung könnte vor dem Hintergrund der pathetischen vergilischen Wendung salue, uera Iouis proles Aen. 8,301 (an Herkules) und mit der Vorstellung, daß Jupiter sich die Flügel Amors angelegt habe, komisch verstanden werden (die Junktur Iouis proles begegnet häufiger, aber jeweils nicht von Helena). Proles in der Bedeutung ‘Tochter’ auch 472 und Verg. Aen. 12,830. 441 uenerat Die gleiche Wortwahl wie ueniunt 436. Das Plusquamperfekt zeigt entweder an, daß Helena schon früher als die übrigen angekommen war, oder es hat die Funktion eines Perspektivwechsels (wie öfter im Epos, wenn das Plusquamperfekt einen Handlungseinschnitt andeutet) von der großen Gruppe zur Hauptfigur des folgenden Abschnitts. absentem retinet dum Creta maritum Das hier personifizierte Kreta liegt auf der Strecke von Sparta nach Zypern; vielleicht haben sich Helena und Menelaos nach gemeinsam angefangener Reise auf Kreta getrennt. Menelaos scheint dann auf Kreta noch etwas zu erledigen zu haben oder wird von etwas auf der Insel gehalten, was in retinet ausgedrückt ist (absentem ist also resultativ zu verstehen; bei WOLFF 1996, z. St. „proleptique“). Vielleicht wollten sowohl Helena als auch Menelaos zum Opferfest der Venus kommen, wofür 573 ad Cyprum uenientem sacra dicare spricht. Die Abwesenheit des Menelaos (hier nur maritus, was den Leser aufmerksam machen soll auf die Tatsache, daß Helena eine verheiratete Frau ist) ist eine wichtige Voraussetzung für einen reibungslosen Ablauf der späteren Entführung Helenas. So ist Menelaos auch stets in den verschiedenen Mythenvarianten abwesend, wenn Paris Helena nach Troja entführt. Bei Apollodor (epit. 3,3) erfährt man, daß Menelaos auf Kreta beim Begräbnis seines Großvaters Crateus aufgehalten wird, in anderen Varianten ist er bei der Ankunft des Paris abwesend oder verläßt Sparta während dessen Aufenthalts (z. B. Eur. Troad. 943f., Ov. ars 2,359f.; WOLFF 1996, z. St.); auch in den ‘Kyprien’ ließ Menelaos Paris und Helena allein und machte sich nach Kreta auf (Procl. Chrest. 98 [Severyns]). Für die Junktur absens maritus vgl. Quint. decl. 347 absente marito rumor et nuptiae (Überschrift), Gell. 6,1,3 absente marito, Ambr. Abr. 1,2,7. 442 nuntia fama ducis totam repleuerat urbem Auch bei der Ankunft des Paris in Troja, nach der Begrüßung seiner Eltern, gab es eine solche Meldung, die die

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III Kommentar

ganze Stadt erfüllt hatte: nuntius interea totam compleuerat urbem (116). Damals war es eine Schreckensmeldung, zumindest für die Sehergeschwister Helenus und Kassandra. Auf die Nachricht hier wird Helena reagieren, nicht aus Schrecken, sondern aus Neugier und weil es der Anstand gebiete (446ff.). Reminiszenz an Verg. Aen. 9,474 nuntia Fama ruit. Passend ist, daß es sich hier um die Nachricht des Todes von Nisus und Euryalus an die Mutter des Euryalus handelt. Es ist also eine Schreckensbotschaft, die verkündet wird. So kann man sicher bei Dracontius die kommenden schlimmen Ereignisse in der Ankündigung schon mithören. Vielleicht auch Sil. 11,373f. patribus portare iubetur / nuntius acta ducis und Iuvenc. 2,342; wichtiger aber ist [Ov.] epist. 16,38 Helena an Paris: prima fuit uultus nuntia fama tui. Nuntia ist wohl Adjektiv wie in der Vergil-Stelle (OLD s. v. 1207, 1; WOLFF 1996, z. St., VOLLMER MGH 433). Vgl. zur Gestaltung der Verse 442f. auch Orest. 109f. (Rückkehr des Agamemnon nach Mykene): fama Mycenaeas uolitans repleuerat oras / aduenisse ducem ditatum sorte duelli. 443 aduenisse Parin Troiano sanguine cretum Für sich allein genommen, enthält dieser Vers eine gewisse Komik. Denn die Worte vermitteln das Gefühl, Paris sei ganz regulär, ganz geordnet, auf gewöhnlichem Wege einfach angekommen. Der Leser freilich weiß, daß Paris eigentlich zufällig und unwillentlich am Strand von Zypern gelandet ist. Es paßt zum Charakter des Paris, von dem die nuntia fama letztlich ausgehen muß, dies zu verschweigen und so zu tun, als sei das alles geplant. Erkennt man in den Worten die Reminiszenz (so auch von SIMONS 2005, 281 zur Unterstützung ihrer These der parallelen Strukturen herangezogen, jedoch ohne weiterreichende Bezugnahme zur Umgebung der ‘Aeneis’-Stelle) an Verg. Aen. 4,191f. uenisse Aenean Troiano sanguine cretum / cui se pulchra uiro dignetur iungere Dido öffnet sich ein weiterer intertextueller Raum: Gerade war Aeneas mit Dido in der Höhle, wo sie ihre „Ehe“ geschlossen haben. Das Gerücht und die Nachricht (Fama 173) darüber gelangt nun überall hin, auch zu König Iarbas, der selbst gern Dido geheiratet hätte. Voller Zorn wendet er sich daraufhin in einem Gebet an Jupiter, in dem er Aeneas als Paris bezeichnet (215). Vor diesem Hintergrund lassen sich bewußte intertextuelle Bezüge des Dracontius eruieren, der die schon bei Vergil selbst vorgeprägte Parallelisierung von Aeneas und Paris weiter ausführt: An beiden Stellen wird die Ankunft eines Mannes angekündigt, der wegen einer Frau Unrecht oder für Unrecht Gehaltenes (Aeneas aus der Sicht des Iarbas; aus der Sicht des Jupiter Planloses) getan hat oder tun wird und damit nicht nur sich selbst, sondern auch eine ganze Reihe weiterer Menschen ins Unglück stürzt. Anders ist natürlich die konkret folgende Reaktion auf die Fama. Denn Iarbas ist voller Zorn, während Helena, deren Reaktion bei Dracontius in den Blick rückt, eifrig bestrebt ist, für Paris eine (glückliche) Dido zu werden. Die Form Parin noch 606, Romul. 9,56; vor Dracontius nur Ov. rem. 65. 457 (s. auch NEUE / WAGENER 1, 319; 477). Formelhaftes cretus in Verbindung mit sanguine in der Bedeutung natus ist eine Erfindung Vergils in Anlehnung an Homer

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(Aen. 2,74, weitere Stellen ThLL IV 1184,32ff.; s. auch HORSFALL 2008, 105; vielleicht wurde Vergil dazu inspiriert von Lucr. 4,1206 sanguine crescunt, ZINGERLE 1871, 31). Bei Dracontius noch 69 und 509. 444–452 Kontaktaufnahme der Helena mit Paris Die Überlegenheit der Helena, ihr Durchsetzungsvermögen und ihr Handlungswille, der sich später bei der Flucht von ihr und Paris ganz besonders deutlich zeigt, klingt in diesem Abschnitt schon an. Die Kontaktaufnahme zwischen den beiden geht ganz allein auf die Initiative der Helena zurück. Von ihr gehen die Aufträge an die Diener aus, zu Paris zu laufen und ihn einzuladen; sie definiert damit auch, wie Paris angesehen würde, wenn sie ihn nicht ins Haus bäte (447ff.), d. h. nur durch ihr Handeln kann er vor den Augen der Leute seinen Stand als Königssohn überhaupt zeigen. Daß Helena vielleicht schon in der Absicht, mit Paris eine Abwechslung in ihrem Liebes- und Privatleben zu erreichen, Kontakt mit dem trojanischen Königssohn aufnimmt, legen vielleicht die Junktur iuuenis decorus (444, s. dort) und auch das heftiges Verlangen ausdrückende speratus (446) nahe. 444–447 Sobald sich das erste Zusammentreffen zwischen Paris und Helena ankündigt und sie von seiner Ankunft Nachricht erhält, gibt der Dichter einen versteckten Hinweis, worauf das Kennenlernen hinauslaufen wird: Die ersten Buchstaben dieser vier Verse bilden das Akrostichon AMOR (s. auch die Einleitung 2.3). 444 audit ‹ut› aduentum Vt ist eine Konjektur von ROSSBERG. Es wäre nach ut eher ein Perfekt zu erwarten, doch läßt sich bei temporalem ut auch ein (historisches) Präsens belegen (H-S 636); bei Dracontius noch Romul. 2,77 ut uenit ad fontem, lapidem proiecit in undas (dort folgt ein Perfekt, während 445 weiter das Präsens bleibt), vgl. auch besonders Romul. 10,334f. ut Scytha mollitus blanda pietate tepescit (coni. BÜCHELER pro mitescit) / mox iubet. Die Konjektur ROSSBERGs ist der von IANNELLI (audiit)379 vorzuziehen, weil der Satz durch Einfügen des Nebensatzes glatter und eingängiger wird. Der Ausfall eines ut läßt sich auch paläographisch recht gut mit einem Augensprung, fast als Haplographie erklären. Die Korrelation von ut und mox findet sich öfter, beispielsweise 249 ut portum tetigere rates, mox ancora mordet. Audire in der Bedeutung ‘erfahren’ findet sich seit Plautus mit bloßem Akkusativ (ThLL II 1284,52ff.). Ähnlich, aber in anderer Bedeutung von audire ist Verg. Aen. 11,911 aduentumque pedum flatusque audiuit equorum. Aduentum greift in Variation 443 aduenisse wieder auf. iuuenis … decori Die Junktur nur noch Suet. Aug. 64,2 L. Vinicio, claro decoroque iuueni. Man geht wohl zu weit, wenn man Dracontius auch hier eine Anspielung 379 Um ohne Konjektur auszukommen, müßte man audit als seltenes synkopiertes Perfekt (für audiuit) und infolgedessen zwei eigenständige Hauptsätze annehmen. Jedoch ist sowohl die Form als auch die Unverbundenheit der Sätze zu untypisch für Dracontius, als daß sie erwogen werden sollten.

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zutraut. Dennoch wäre sie äußerst reizvoll: Denn der Mann aus der Suetonstelle, Lucius Vinicius, wird von Augustus hart angegriffen, obwohl er ein anständiger Mensch ist, weil er in Baiae versucht hatte, zu seiner Enkelin Kontakt aufzunehmen. Wenn also hier Helena den Paris für einen iuuenis decorus hält, eine Bezeichnung, die durch Sueton in der Sicht des Augustus für jemanden geprägt ist, der eine Frau mit nach Hause nehmen möchte, und absichtlich von sich aus Kontakt mit ihm aufnimmt, bestimmt sie schon hier, wie die Geschichte enden soll. Will man etwas vorsichtiger sein, kann man zumindest sagen, daß Paris sich um sein Äußeres sorgt (decorus), was ihm nach dem Seesturm den Anschein eines Schönlings gibt. Spartana Bezeichnung für Helena. Hier, bei der zunächst rein auditiven Begegnung, ist die spätere Verbindung von Helena und Paris auch in der Wortstellung nachgezeichnet: Spartana ist mitten zwischen iuuenis und sein Attribut decorus hineingestellt. 445 Ähnlicher Versbau mit ähnlichem Wortmaterial schon 241f. omnes / ut ueniant rex ipse iubet properante ministro. mox iubet et Dieser Versanfang auch Lucan. 1,592 (bei Dracontius Romul. 10,335 heißt es mox iubet ut); bei Paulinus von Nola carm. 20,195 umgekehrt am Versende (iubet mox). famuli ueniunt Das Ergebnis des Befehls (iubet) der Helena ist das Herbeieilen der Diener. mandante Lacaena Während iubet eher mit ueniunt als Ergebnis zusammenzudenken ist, löst mandante die indirekte Rede der folgenden zweieinhalb Verse aus (durch Enjambement verbunden). Mandare mit bloßem Konjunktiv findet sich seit Plaut. Merc. 428 (ThLL VIII 265,66ff., s. auch H-S 530). Die Bedeutung von mandare dürfte sich zwischen ‘mitteilen lassen’ (ThLL VIII 264,55ff.) und ‘sagen’ (wie z. B. Dares 27 Hecuba omnia, quae cum Priamo egerat, mandat seruo, ThLL 265,22ff.) bewegen. Denn der folgende Konjunktiv läßt sich am ehesten als indirektes Begehren auffassen, die folgende Infinitivkonstruktion als Meinung der Helena. WOLFF 1996, z. St. postuliert dagegen m. E. zu Unrecht, für iubet und mandante eine bloße Tautologie, beide Worte stünden in der Bedeutung ‘befehlen’. Mandare im Ablativus absolutus auch Romul. 10,178 mandante tyranno und Orest. 121 mandante timore. Lacaena Auffällig ist die Variation der Ausdrücke für Helena auf dichtem Raum: Lacaena, Spartana, proles Iouis, Helena. Formen von Lacaena begegnen seit Verg. Aen. 2,601 häufig am Versende. Bei Dracontius zehnmal, davon sieben in Romul. 8. 446 hospitio speratus eat Zu Recht weist WOLFF 1996, z. St. auf eat als Konjunktiv der indirekten Rede hin, als Wiedergabe eines Iussivs in der oratio obliqua. Dieser ist aber entgegen WOLFFs Annahme nicht von iubet, sondern vom Ablativus absolutus mandante Lacaena abhängig (s. auch oben zu 445). Für das Verständnis von hospitio ergeben sich zwei Möglichkeiten. WOLFF 1996, z. St. faßt es als Dativ

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der Richtung (von VOLLMER MGH 358 als „in hospitis aulam“ glossiert; für hospitium in der konkreten Bedeutung ‘Haus, Unterkunft’ s. ThLL VI 3,3040,45ff.) oder als finalen Dativ auf und zieht es mit eat zusammen. Es ist aber auch möglich, hospitio als Ablativ der äußeren Umstände bzw. modi zu verstehen und auf speratus zu beziehen. Das hieße fast adverbiell: „Paris soll kommen, denn er werde gastfreundlich erhofft“. Dabei muß ire die Bedeutung von uenire annehmen, was nicht untypisch ist und seit Plautus belegt werden kann (ThLL V 2,629,69ff.). Die zweite Möglichkeit sollte vorgezogen werde, weil sie das speratus deutlicher heraushebt, das, als an dieser Stelle sehr bedeutungsvolles Wort, auf den Fortgang der Ereignisse hinweist, an deren Ende Helena die treibende Kraft sein wird. In speratus mag man lesen, daß Helena sich eine Veränderung in ihrem Leben wünscht (ein vergleichbares, allerdings negatives sperare findet sich Prop. 2,9,7 uisura et quamuis numquam speraret Vlixem). Allein mit dem folgenden Gemeinplatz, ein Prinz müsse angemessen untergebracht werden, läßt es sich kaum rechtfertigen, denn er wirkt wie vorgeschoben. nam turpe uideri Das Folgende müssen, weil auch in indirekter Rede, die Sklaven ebenso wie die Einladung selbst ausgerichtet haben. Es wird der Eitelkeit und dem Selbstbewußtsein des Paris sicher geschmeichelt haben, wenn er jetzt – zurück auf dem festen Land – wieder als König und per se ein Held gefeiert wird. Der konjunktivische Nebensatz (teneat) ist wohl von turpe (esse) abhängig zu machen. Weniger wahrscheinlich ist seine Anbindung an uideri, die als eine Weiterentwicklung und Reduktion von uideri mit ut und Konjunktiv (ein Produkt der Bedeutungserweiterung des finalen ut) zu deuten wäre (s. H-S 646); schwieriger wäre in diesem Fall auch die syntaktische Integration des turpe, das dann als adverbieller Akkusativ fungieren dürfte. Seit Lucil. 460 findet sich uideri in der lateinischen hexametrischen Dichtung stets am Versende. Ein Dativ zu uideri läßt sich leicht aus dem Zusammenhang ergänzen – nämlich Helenae. Turpe nutzt Dracontius stets, wenn es um für den Stand des (gedanklichen) Subjekts unwürdige Taten oder Umstände geht: Romul. 8,224. 359; 9,172; 10,376, Orest. 418. 447 Der Vers ist von Helena und Paris bestimmt; beide in der Verfassung, in der sie sich derzeit befinden: Helena als regina, Paris als uilis nauta. Die Überlegenheit der Helena im Fortgang der Geschichte mag hier durch das selbstbewußte und gravitätische spondeische regina praesente am Versanfang schon angekündigt sein. regina praesente Die Bezeichnung regina für Helena hat der Sprecher des Gedichts bisher vermieden; hier ist es in abhängiger Rede Helenas eigene Beschreibung für sich selbst. Zwei Erklärungsvarianten gibt es bisher, um zu erläutern, warum Helena eine regina auch auf Zypern ist, wohin ihr Machtbereich nicht mehr reicht. BRIGHT 1987, 123 sieht darin eine Unachtsamkeit des Dichters, der den Handlungsort von Sparta auf die Insel versetzt hat und einige Details vergessen habe (so seine Erklärung zu aula Atridis 448f.). SIMONS 2005, 280, Anm. 194 will die Titulierung hingegen auf die Parallelisierung der Helena mit Dido bei ihrer Begegnung mit Aeneas zurückführen. Der Grund könnte jedoch auch anders gelagert sein. Helena erhielt bisher nur Benennungen, die auf ihre Herkunft verweisen

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(Lacaena, Spartana), hier aber spricht sie von sich selbst als regina (als einem Stand, unabhängig vom Herrschaftsbereich; Helena ist also ‘eine’, nicht ‘die’ Königin) und wird dadurch charakterisiert: Sie scheint stolz auf ihre Stellung und steht gerade in diesem Vers in völligem Gegensatz zu Paris (s. oben S. 407). Ob die beiden auffälligen, weil so kurz hintereinander stehenden (Versschluß 445 und Versanfang 447), Ablativi absoluti mit jeweils Helena als ‘Subjekt’ nicht nur eine grammatische, sondern auch eine inhaltliche Trennung von ihr und den übrigen Personen darstellen soll? Paris ceu nauita uilis Der Ausdruck nauita uilis erinnert an 98 nec pastor sit uile. Auch wenn wir über die Besatzung von Schiffen der Antike nicht sonderlich gut informiert sind, kann man doch sagen, daß zumindest die Ruderer zu den niedrigsten Bevölkerungsschichten gehörten und daher wenig angesehen waren, so daß das Epitheton uilis ein charakterisierendes ist, wenn auch nur hier belegt (s. zur Schiffsbesatzung FRANZ MILTNER: Nautai, RE 16, 2, 2029–2033). Paris konnte weder nach Troja noch hier nach Zypern in einer für einen Königssohn angemessenen Weise kommen, sondern immer mit dem Anschein, einer weniger angesehenen Berufsgruppe anzugehören. Für den Leser, der ja weiß, daß Paris dieses Image überwinden wollte, wirkt die Junktur ironisch-komisch. Ceu nauita findet sich auch Romul. 10,43f. litora uisa natatu / nudatus ceu nauta petit (sc. Iason), wo der Argonaut schwimmend das Ufer bei Kolchis erreicht. Die beiden Stellen sind m. E. inhaltlich nicht zueinander in Beziehung zu setzen (anders KAUFMANN 2006 [a], 142f.), weil die Benennung des Jason vom Erzähler des Gedichts ausgeht, die des Paris von Helena. Übereinstimmend ist jedoch die Konnotation des Wortes nauta, das auch in Romul. 10 stets negativ besetzt ist (KAUFMANN 2006 [a], 121). 448 litus harenosum teneat Litus harenosum ist ein vergilischer Versanfang Aen. 4,257 (Merkur landet am Strand mit dem Auftrag, Aeneas zur Weiterfahrt zu bewegen). Die Verbindung litus tenere bei Hor. carm. saec. 38, Ov. met. 15,13, Sil. 17,58, Lucan. 5,801. Für den Konjunktiv teneat s. zu 446. Für die Beziehung des Motivs zu möglichen Vorbildern s. oben. hospes In allen Versionen des Mythos wird Paris zunächst als hospes aufgenommen (vgl. z. B. Dictys 1,3 Alexander Phrygius … Spartae in domum Menelai hospitio receptus), der sich später als hostis entpuppt (damit spielt schon das Prooem 3f. hostem / hospitium). 448f. ad aulam / peruolat Atridis Helena bietet sich als Gastgeberin für Paris an, der es sehr eilig hat (peruolat), zu seiner Unterkunft zu kommen, was einerseits seinem Schiffbruch geschuldet sein mag, andererseits auch der Betonung Helenas, daß er es verdient habe, fürstlich aufgenommen zu werden. Daß Menelaos auf Zypern ein Haus gehabt habe, scheint sonst ohne Beleg zu sein; in Hom. Il. 11,20 sind freundschaftliche Beziehungen zwischen Kinyras, dem König von Zypern, und Agamemnon genannt – ob Dracontius hieraus ein Haus des Menelaos auf Zypern extrapolieren konnte? Selbst wenn es nur eine Erfindung sein

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mag, so ist es doch eine dramatisch klug überlegte.380 Denn eine zusätzliche Villa eines reichen Königs anzunehmen, ist leichter, als irgendwelche Geschichten über mögliche adelige Freunde, die die Familie haben könnte und bei denen Helena übernachten könnte, auszuführen. Neben dieser Erleichterung erhöht sich freilich die Dramatik (oder sie bleibt die gleiche wie in der üblichen Mythenversion), wenn Paris als Gastfreund unter das Dach des Menelaos kommt und ihm von zu Hause weg die Frau raubt. Das ist ein noch niederträchtigeres Verhalten, als wenn er Helena von irgendwo mitnähme. Der Dichter mag durch die verschiedenen Varianten, mit denen er Sparta anklingen läßt (in den Bezeichnungen für Helena beispielsweise), den Ortswechsel kompensieren und ein spartanisches Zypern entstehen lassen. Ad aulam ist ein bei Dracontius beliebter Versschluß (achtmal, davon viermal in Romul. 8). Seit Verg. georg. 2,504 wird aula für Königshäuser verwendet (ThLL II 1456,15ff.). Vgl. für den Ausdruck mit peruolare Petron. 91,3 raptim … in hospitium meum peruolo. Der Genitiv Atridis ist eine Eigenart des Dracontius statt des üblichen Atridae (ThLL II 1096, 17f.), der die Form auch noch 548, Orest. 213. 352. 720. 874 verwendet (der Dichter setzt häufig griechische Eigennamen von der ersten in die dritte Deklination, vgl. WOLFF 1996, z. St.). 449 socia comitante caterua Die Junktur ist bekannt aus Verg. Aen. 2,40 magna comitante caterua (Laokoon), 2,370f. primus se Danaum magna comitante caterua / Androgeos offert nobis, socia agmina credens, 5,76 magna medius (sc. Aeneas) comitante caterua. Vgl. außerdem Claud. rapt. Pros. 2,55f. comitantur euntem / Naides et socia stipant utrimque caterua. Die socia caterua findet sich Homer. 341. 814 im Kriegskontext, auch Stat. Theb. 3,543. Der Versschluß bei Dracontius selbst in unserem Gedicht noch 620 und laud. dei 2,554. 450 praeceptum … carpit iter Für iter carpere ‘einen Weg (eilig) zurücklegen’ s. ThLL III 493,74ff. (vielfach bei Ovid, z. B. fast. 3,604, met. 10,709, [Ov.] epist. 18,34; hier noch V. 71, s. auch dort). Für die Interpretation des Attributs praeceptum zu iter ergeben sich verschiedene Möglichkeiten: Entweder bezeichnet es, wie Paris den Dienern folgt und ihrem vorgezeichneten Weg nachgeht, oder es meint nur, daß Helena Paris gerufen hat, und ihm so einen Weg zu ihr vorgegeben hat. Die Junktur praeceptum iter noch Culex 290. festinus Tautologisch zu iter carpere. Auch peruolat 449 wies schon auf die extreme Eile des Paris hin, ohne daß man einen Grund dafür explizit aus dem Text erfahren würde. 451 respicit ad templum Veneris Paris wird auf seinem eiligen Weg abgelenkt und zwar beim Tempel der Venus. Über den Grund erfahren wir nichts. Ob Paris sich daran erinnert, daß Venus ihm ein Versprechen gegeben hat und er ihr deshalb 380 Für wenig überlegt, sondern sich einfach aus Unachtsamkeit ergebend hält BRIGHT 1987, 122 dieses Detail: Der Handlungsort sei zwar geändert worden, doch blieben die Gegebenheiten die gleichen wie in Sparta, also auch das Vorhandensein eines Palasts des Menelaos.

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III Kommentar

zunächst die Aufwartung machen möchte? Möglicherweise ist auch nur der Tempel an sich auffällig genug, um die Richtung zu ändern. Für den Versanfang vgl. Stat. Theb. 8,452 respicit ad fratrem. Templum Veneris ist eher eine prosaische Junktur, in der Dichtung nur Ov. ars 1,81 und met. 14,760. cui Das Relativpronomen ist grammatisch als Dativus possessivus zu erklären und auf Veneris zu beziehen. Bisher wurde es in der Forschung stets mit templum zusammengezogen, was inhaltliche Probleme mit sich bringt, die VOLLMER offensichtlich zu lösen versucht, indem er ubi statt cui versteht (ebenso WOLFF 1996, z. St.). Mit der Verschiebung des Bezugs ist eine etwas klarere Lösung zu erreichen. 451f. turba precantum / uel conuentus erat Turba und conuentus bezeichnen beide recht synonym (auch wenn man vielleicht geringfügig zwischen turba als einer eher ungeordnet zusammengekommenen Menge und conuentus als einer offiziell für die Venus-Feier bestellten Gruppe unterscheiden mag) die Gäste des Venus-Festes. VOLLMER MGH 333 will dagegen eine Art Landtag darunter verstehen („de conventu provinciali cogitasse videtur“), was aber inhaltlich nicht nötig ist (s. auch WOLFF 1996, z. St.). Die Worte conuentus und turba kommen in der Dichtung noch Verg. Aen. 6,752f. gemeinsam vor: dixerat Anchises, natumque unaque Sibyllam / conuentus trahit in medios turbamque sonantem, wo sie auch synonym gebraucht zu sein scheinen (unterschieden freilich durch das Epitheton sonans). Von religiösen Gemeinschaften finden sich die beiden Worte Cod. Theod. 16,5,3 ubicumque Manichaeorum conuentus uel turba huiusmodi repperitur. Der Vers Plaut. Poen. 265 turba est nunc apud aram lädt zur Interpretation des intertextuellen Bezugs ein. Die Sprecherin des Satzes, Adelphasium, möchte am Tag eines Venusfestes (!) nicht so eilig zu Opfer und Tempel, weil dort gerade so viele Menschen seien. Sie möchte lieber in Ruhe und ohne Menschenmenge opfern, ohne sich zur Schau zu stellen (GREGOR MAURACH: Der Poenulus des Plautus, Heidelberg 1988, 85). Die Betonung der großen Besuchermenge hier mag den Leser darauf stoßen, daß Paris sich weniger in frommer Verehrung zum Altar wendet, als vielmehr von der Schar angezogen wird, die ihn sehen und bewundern könnte. Zudem deuten sowohl die Plautus-Stelle als auch die Stelle aus dem Codex Theodosianus darauf hin, daß turba im Zusammenhang mit religiösen Gemeinschaften eher eine negative Konnotation erhält. Die Junktur turba precantum ist singulär; precantum findet sich in der Hexameter-Dichtung stets am Versende. Vel in der Bedeutung et. 452 mox uertit iturus ad aras Wie schon in respicit 451 angekündigt, liegt der Tempel der Venus nicht auf direktem Weg, so daß sich Paris von seinem ursprünglichen Ziel abwenden muß. Vertere ist (durch die konjekturale Beseitigung des tradierten Objekts iter) intransitiv gebraucht, was sich jedoch leicht als reflexiv mit gelegentlich vorzufindenden Wegfall des Reflexivpronomens erklären läßt (H-S 295). Das Partizip Futur Aktiv iturus ist final verwendet. Die Konjektur von BÜCHELER für überliefertes, metrisch unmögliches iter ergibt leider einen etwas misslichen Text, dürfte aber als eine Möglichkeit der Textrestituierung abgedruckt

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werden (so übernehmen es auch VOLLMER MGH und WOLFF 1996; für Partizip Futur Aktiv an dieser Versposition bei Dracontius vgl. laud. dei 2,614; 3,106, Romul. 10,19. 109; auch andere Formen auf -urus finden sich an der Stelle gelegentlich: laud. dei 1,187, Romul. 5,138, Orest. 956). Möglicherweise ist iter als ursprünglich verdeutlichende Glosse zu absolutem uertit eingedrungen und es liegt eine tiefere Korruptel vor; auch eine Dittographie uertitit wäre als Ausgangsfehler denkbar. Die Konjektur MORELLIs ut iret setzt ZWIERLEIN BT 2017 in den Text. 453–480 Prodigium und Reaktionen 453–461 Prodigium381 Gemäß der einhelligen Forschungsmeinung ist die ganze Stelle von einer Vogelzeichen-Darstellung in den ‘Punica’ des Silius Italicus (Sil. 4,101–142) inspiriert (vgl. MORELLI 1912, 107f., QUARTIROLI 1946, 184, WOLFF 1996, z. St., GÄRTNER 2001, 349f.). Dort erscheint vor der Schlacht am Ticinus ein Omen, das den Ausgang der Schlacht vorhersagt: Ein Habicht bedroht und greift Tauben an, tötet 15, bis schließlich der Vogel des Jupiter ihn vertreibt. Die übrig gebliebene Taube wendet sich zum kleinen Scipio, läßt dort ihr Geschrei ertönen und fliegt zum Himmel hinauf. Liger, der Augur der Römer, deutet das Zeichen auf einen Sieg der Römer hin, weil er Jupiter selbst in dessen Vogel erkennt, der ihnen zu Hilfe eilen wird. Eine zweite Interpretation gibt Bogus auf der Seite der Karthager: Er sieht eine Niederlage für die Römer, die Nachkommen der Venus, weil der Habicht so viele Tauben getötet 381 In der lateinischen Sprache gibt es verschiedene Worte zur Bezeichnung eines Omens. Jede Art Vorzeichen besitzt ihre eigenen Eigenschaften. Die Bestimmung des Vorzeichens kann zur Interpretation der Situation hilfreich sein. Problematisch ist jedoch bei der Bestimmung, daß die verschiedensten Begriffe (namentlich augurium, auspicium, monstrum, ostentum, portentum, prodigium, signum) existieren, die in ihrer Bedeutung sehr schwer zu unterscheiden sind, weil auch die antiken Autoren sie nicht konsequent verwenden (vgl. für das Problem z. B. Serv. Aen. 3,366, für einen Unterscheidungsversuch s. ERNST RIESS: Omen, RE 35, 355; vgl. auch die Definition von Festus Paul. Fest. p. 195). Fest steht nur, daß es sich an unserer Stelle um ein oblatives (unerbetenes) Vorzeichen handelt. Am ehesten können deshalb vielleicht die Worte omen (ERNST RIESS: Omen, RE 35, 350–378, von Tieren besonders 365–371), besonders prodigium (in einer neutralen, keinen Bezug zum Staatskult herstellenden Bedeutung, zur Bezeichnung außergewöhnlicher Naturereignisse; BLOCH, 1963, 77ff., GÖTZ DISTELRATH: Prodigium, DNP 10, 369–370, PAUL HÄNDEL: prodigium, RE 23, 2, 2283–2296, besonders 2284f., HÜBNER 1970, 3; für Prodigien aus der Tierwelt s. STEINHAUSER 1911, 31ff.) und ganz allgemein das signum zur Bezeichnung dienen. Augurium und auspicium bezeichnen eher die zu bestimmten Zeiten vorgeschriebene Befragung des Götterwillens und passen deshalb hier weniger (aber auch hier findet man Belege, die die Begriffe neutral verwenden; F. MULLER / J.H. WASZINK: Augurium, RAC 1, 975–981; für oblative Augurien, die die Handlung eines Menschen im Epos beeinflussen sollen s. HÜBNER 1970, 113ff.). Aus dieser Zusammenschau ergibt sich, daß dieses hier gegebene Vorzeichen am besten mit prodigium betitelt wird, weil sich ein besonderes Naturereignis zeigt und es sich inhaltlich ganz allein auf Paris bezieht (der sogar die theoretische Möglichkeit hätte, das Unglück zu umgehen, ein Merkmal, das auch für ein prodigium an dieser Stelle spricht. DE GAETANO 2010, 145ff. [vgl. auch ihren ganzen Aufsatz zu unserer Stelle] kommt nach ihrer Analyse hingegen zur Bezeichnung praesagium, einerseits wegen der Erwähnung des Wortes 468, zum anderen, weil sie meint, ein Vogelzeichen könne kein prodigium sein; dagegen aber STEINHAUSER 1911, 31ff.).

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III Kommentar

hat. Der wissende Leser kann das Prodigium konkret auf die Kriegsjahre beziehen: Nach 15 schlimmen Jahren siegen die Römer im 16. gegen Karthago. Es lassen sich einige Parallelen zwischen dem Vogelzeichen des Silius und dem des Dracontius ziehen, und zwar zunächst in der Ausstattung der Prodigien selbst: In den beiden Vorzeichen werden Tauben (jeweils als Vögel der Venus gedeutet) von größeren Raubvögeln gejagt, bei Silius etwas heftiger von einem accipiter, bei Dracontius zunächst von einem miluus; der accipiter droht ihnen am Ende ebenfalls. Vögel des Jupiter spielen in beiden Fällen eine Rolle, bei Silius ist es der für Jupiter in solchen Fällen gewöhnlichere Adler als typisches Prodigientier, bei Dracontius die Schwäne. Weiterhin sind auch die Reaktionen auf das Prodigium ähnlich. Der Liger des Silius wird gekennzeichnet durch den Zusatz huic superos sentire monentes / ars fuit ac penna monstrare futura magistra 120f., so daß für alle deutlich wird, daß er den Götterwillen richtig erkennen und verstehen kann (NERI 1986, 2040f., KISSEL 1979, 19). Eine Qualifizierung erhält auch der Melampide bei Dracontius, freilich eine viel kürzere (sollers augur 459). Die beiden jeweils ersten Reaktionen auf das jeweilige Omen zeugen vom Verständnis der Redner und können mit dem Blick aus der Zukunft als zutreffend bewertet werden. Wenn auch die jeweils zweite Reaktion (bei Silius unabhängig von der ersten, bei Dracontius auch als Reaktion auf die Deutung des Sehers) zwar richtige Aspekte angibt, läßt sie doch die Kurzsichtigkeit ihrer Sprecher durchblicken. So scheint Bogus bei Silius überhaupt nur den ersten Teil des Prodigiums zur Kenntnis zu nehmen, Paris bei Dracontius will mit dem zweiten Teil des ihn betreffenden Zeichens nichts zu tun haben und will es deshalb verschwiegen wissen. Die Gebetsteile, die sich in der Rede des Paris finden, sind bei Silius in der Rede des Liger eingesetzt (so ist das omina firma 474 in firmesque tuae … alitis omen Sil. 4,127 vorgeprägt). Neben diesen eher formalen Gesichtspunkten gibt auch der Charakter des Vorzeichens eine Vergleichsmöglichkeit, denn beide Vorzeichen werden ungefragt von den Göttern gegeben und kündigen den Fortgang der Ereignisse an, ohne aber Einfluß auf das Handeln der Menschen zu nehmen (auch wenn dies im Falle des Bogus und des Paris vielleicht nötig gewesen wäre; KISSEL 1979, 19f.). ROSWITHA SIMONS 2005, 268 versucht ein unterschiedliches Prodigien-Verständnis des paganen Dichters Silius und des christlichen Dichters Dracontius zu zeigen:382 Bei Dracontius werde den Tauben kein wirklicher Schaden zugefügt, sie würden nur bedroht, Silius läßt hingegen 15 Tauben durch den Greifvogel töten. Dies, erklärt SIMONS, ließe sich mit den verschiedenen zugrundeliegenden Konzeptionen erklären: In der paganen Literatur zeigten Prodigien das bereits feststehende Schicksal an, das nicht mehr abgewendet werden könne. Dracontius hingegen verstehe sie als von Gott geschickte Warnungen, damit er die Richtung seines eingeschlagenen Weges korrigieren könne. Dafür verweist sie auf ihre Untersuchungen zu den christlichen Gedichten des Autors (2005, 32f.; 37f.; 45f.), in denen Gott den einzelnen Menschen warnt und zeigt, daß er sich falsch verhält: „Hierbei reagiert die Natur nach dem Willen Gottes auf die Störung der Ordnung der Welt durch den 382 S. auch die Einleitung 2.1.3.4 zum fatum-Verständnis im Gedicht.

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Menschen“ (2005, 268). Jedoch ist m. E. diese Gleichsetzung der Gedankenwelt von paganen und christlichen Werken des Dichters nicht zulässig.383 Die ‘Romulea’ sind dem paganen Gedankengut verpflichtet, sie orientieren sich in Gestaltung und Handlung an den bekannten klassischen und nachklassischen Vorbildern. Im Raub der Helena agiert nicht der christliche Gott, sondern Jupiter, der als Gott der epischen Tradition präsentiert und nicht umgedeutet wird.384 So sagt auch das Prodigium an dieser Stelle die Zukunft voraus für den, der es richtig zu deuten versteht. Paris ist der Melampide an die Hand gegeben, der ihm aus dem Vorzeichen die Zukunft liest; seine Kurzsichtigkeit und sein Hochmut verhindern (wie schon bei seiner Ankunft vor den Toren Trojas, bei der er gar keine Reaktion auf die Schrekkensprodigien zeigt) jeglichen Versuch, dem Schicksal zu entkommen, weil er voller Arroganz die Wahrheit nicht wahrhaben will. Vorbildhaft für diese Haltung ist der Bogus des Silius, der das Prodigium, vielleicht aus Eigennutz, kurzsichtig deutet. Beiden wird damit durch eigenes Verschulden jede Möglichkeit entzogen, das Verderben abzuwenden, oder – wenn dies nicht möglich ist – sich der Situation entsprechend pflichtbewußt zu verhalten. Auf eine gewisse Weise behalten jedoch sowohl Bogus als auch Paris recht: Die Schlacht am Ticinus ist das erste Gefecht in Italien 218 v. Chr., Hannibal wird hier und danach dauernd siegen; der kleine Scipio soll seinem Vater, dem Konsul, den Hannibal am Ticinus schwer verwundete, das Leben gerettet haben, nachdem sich die Römer geschlagen zurückzogen; auf die ersten 15 Kriegsjahre und nicht auf den ganzen Krieg bezogen hatte Bogus recht; so wie Paris auf die Entführung bezogen, aber nicht auf den ganzen trojanischen Krieg. Daß bei Dracontius keine Tauben getötet werden, ist der differenten Anlage der jeweiligen Prodigien geschuldet, die sich ja nicht nur darin, sondern auch in der Anzahl und Art der Vögel und in deren Aktion unterscheiden. Beide Prodigien haben schließlich eine jeweils eigene, der Stelle des Werks angepaßte Funktion: Bei Silius wird ein 15 Jahre währender Krieg angekündigt, der im 16. endlich für die Römer glücklich endet, bei Dracontius ist der Krieg erst der zweite Schritt nach der Liebesgeschichte zwischen Paris und Helena.385 453 interea Die durch das typisch epische Wort interea erreichte Verknüpfung und Überlagerung von Ereignissen hält die Abläufe zusammen und hält den Leser in einer gewissen Spannung. niuei … cycni Niueus ist natürlicherweise ein häufiges Epitheton zu cycnus (Verg. georg. 2,199, Aen. 7,699, Prop. 3,3,39, Gratt. 77, ThLL IV 1585,77ff.). Der Schwan 383 S. dazu auch die Einleitung 3.7.1 zum Umgang des Dracontius mit dem Mythos. 384 Auf den Unterschied zwischen dem Prodigienverständnis der christlichen und der paganen Werke des Dichters, gerade zu Romul. 8, verweist SPEYER 1996, 148, Anm. 35. Neben anderen Punkten wird hier ganz deutlich, in welch unterschiedlichen Traditionen die ‘Laudes dei’ und die ‘Romulea’ stehen. 385 Vgl. für die Gegenüberstellung von Silius und Dracontius in Bezug auf dieses Prodigium MORELLI 1912, 107. WASYL 2011, 83f. betont die Parallelität zum vergilischen Vogelprodigium (Aen. 1,393ff.), das jedoch inhaltlich weniger Parallelen zu Dracontius aufweist als Silius. Außerdem wird es von Venus selbst ausgelegt.

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III Kommentar

ist der Venus heilig (Prop. 3,3,39, Ov. ars 3,809, met. 10,708, Stat. silv. 1,2,146; 3,4,22, s. auch 475; ThLL IV 1585,57ff., KELLER 1913, 216). Als Venusvogel auf Zypern begegnet der Schwan noch Sidon. carm. 11,108 pasci suetos per Cypron olores. Er verweist aber auch auf Jupiter, der in Gestalt eines Schwans Leda geschwängert und Helena gezeugt hat (464f.). Ihre Bedeutung für die Weissagung wird bei Cic. Tusc. 1,73 ausgeführt: itaque commemorat, ut cygni, qui non sine causa Apollini dicati sint, sed quod ab eo diuinationem habere uideantur, qua prouidentes quid in morte boni sit cum cantu et uoluptate moriantur, sic omnibus bonis et doctis esse faciendum.

uolitant … cycni Die Verbindung auch Anth. 761 R.,59 uolitantis oloris. per litora Ob es sich um einen kurzen bisher zurückgelegten Weg handelt, so daß der Ausgangspunkt noch in Sichtweite ist, oder ob es sich um einen anderen einsehbaren Küstenabschnitt handelt, läßt sich nicht sagen. 454 flumine contempto Schwäne nisten oft an Flüssen und halten sich überhaupt eher am Flußufer auf als am Meeresgestade (HANS GOSSEN: Schwan, RE 2 A 1, 1921, 782–792, hier 783, WOLFF 1996, z. St.): Verg. georg. 2,199, Ov. epist. 8,67, vgl. auch Ov. met. 2,252f. (BÖMER 1969, 306), 539 amanti flumina cycno, Anth. 762 R.,23 cygni prope flumina drensant. Wenn sie hier bemerkenswerterweise an der Küste auftreten, betont dies die außergewöhnliche Situation. Für Flüsse auf Zypern s. EUGEN OBERHUMMER: Kypros 1, RE 12, 1, 59–117, hier 67f. Als berühmtester ist der Πεδιαῖος zu nennen; über einen Schwanenreichtum an einem der Flüsse, aus dem sich vielleicht eine Lokalisierung ergeben könnte, ist nichts bekannt. placidas … columbas Auch die Tauben sind Vögel der Venus, s. ThLL III 1732,44ff., s. besonders Romul. 10,156f. Placidus als Epitheton zu columba begegnet sonst nur noch Ov. met. 7,369f. (BÖMER 1976, 292 „kein übliches Epitheton der Tauben“). Es meint hier entweder deren natürlich-sanften Charakter oder charakterisiert sie als Haustiere (ThLL X 1,2280,41ff.), da man im Venus-Heiligtum auf Paphos Tauben gehalten hat, die für diese Stadt die gleiche Statusbedeutung hatten wie die Eulen für Athen (AUGUST STEIER: Taube, RE 4 A 2, 2497–2500, hier 2497). Tauben werden in der lateinischen Literatur stets als furchtsame Tiere dargestellt, deren einzige Rettung vor ihren Feinden, wie miluus, accipiter oder aquila, in der Flucht liegt (z. B. Plin. nat. 10,22. 108, Sen. dial. 4,16,1, Verg. Aen. ecl. 9,13; 5,213ff. 11,722, Ov. ars 1,117; 2,363, met. 1,506f.; 5,605; 6,529, fast. 2,90, trist. 1,1,75, Dirae 5, Sil. 5,282, Val. Fl. 8,32ff.; AUGUST STEIER: Taube, RE 4 A 2, 2497– 2500, hier 2489). Bei Dracontius finden sich Tauben noch Romul. 6,75; 10,164. 169 (als Zugtiere des Wagens der Venus), satisf. 78 (dort wird der Gegensatz zwischen einer sanften Taube und einem Raubvogel aufgemacht: blanda columba auis est, aspera uultur auis). hinc inde Die beiden Adverbien begegnen asyndetisch seit [Sen.] Herc. O. 1749 (ThLL VI 3,2805,27ff.). Beliebt ist der Ausdruck in der hexametrischen Dichtung besonders bei Iuvencus und Dracontius.

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455 molliter Kann auf intendunt oder auf uagari bezogen werden, doch scheint die Beschreibung eines sanften Taubenfluges inhaltlich angemessener zu sein (mollis in Verbindung mit columba z. B. Hor. carm. 1,37,18). Bei diesem Verständnis nimmt der Vogelflug den ganzen Vers ein und stellt dar, wie der Schwarm die ganze Weite des sichtbaren Himmelsbereichs lautlos durchmisst. intendunt Intendere in der Bedeutung ‘wahrnehmen’ (BÜCHELER 1872, 477) begegnet mit AcI selten und erst spät (seit Claud. Don. Aen. 7,40 p. 11,1f.; s. ThLL VII 1,2117,84ff.; VOLLMER MGH 364; Eugenius von Toledo schreibt in seiner Dracontius-Bearbeitung cernens für intendens, hex. 627, GÄRTNER 2001, 349, Anm. 2). omnes Es ist schwer auszumachen, worauf sich omnes bezieht. WOLFF 1996, z. St. scheint in seiner Übersetzung an die umstehenden Menschen zu denken, die 451f. angeklungen sind, und das Wort damit zum Subjekt von intendunt zu machen. Damit jedoch hätten die Schwäne im Prodigium überhaupt keine Funktion mehr. Dies scheint unwahrscheinlich, weil alle anderen Vögel im Verlauf des Geschehens am Himmel eine Position einnehmen. So blieben dann die Möglichkeiten, omnes auf cycni oder auf columbas zu beziehen. Vielleicht ist der Bezug auf die Tauben vorzuziehen. Wenn man sich vorstellt, daß in diesem Heiligtum der Venus Tauben gehalten wurden, wie es für verschiedene Venusheiligtümer belegt ist (KELLER 1913, 122f.), die alle auffliegen und von den Raubvögeln gejagt werden, dann hat man eine feste Bezugsgröße, anders als der unbestimmte Schwarm der Schwäne. Hinzu kommt, daß auch 457 mit insontes cunctas die Gesamtheit der Tauben betont wird. In jedem Fall bleiben aber die Schwäne Subjekt des Teilsatzes und sind damit, wenn auch nur beobachtend, Teil des Geschehens. per inane uagari Für den Ausdruck vgl. Lucr. 2,83. 105. 109 per inane uagantur (in 105 und 109 als Versschluß). Für uagari im Zusammenhang mit Auguralvögeln vgl. Cic. div. 2,80 uolucres huc et illuc passim uagantes (OLD s.v. 2004,1b). Das substantivierte inane in der Bedeutung ‘Luft’ in Verbindung mit per begegnet seit Verg. Aen. 12,354 ante leui iaculo longum per inane secutus (s. auch ThLL VII 1,827,61ff.). 456–459 WOLFF 1996, z. St. hat die auffällige metrische Gestaltung der jeweils ersten vier Versfüße beobachtet: sddd – dsss – dddd – ssss, die besonders in den beiden letzten Versen einen rhythmischen Unterschied zwischen dem wüsten Durcheinander unter den Vögeln und der klugen Erhabenheit des Sehers verdeutlicht. 456f. insanus … / miluus Der miluus (Weihe, Milan) gehört zu den Sperbern und Habichten, die fast alle als Feinde der Tauben gelten. Er hält sich an Opferstätten auf, um etwas vom Opferfleisch zu ergattern, wenn sein eigenes Nahrungsangebot zu klein geworden ist (Ov. met. 2,716ff.; AUGUST STEIER: Sperber RE 3 A 2, 1613– 1625, hier 1621), so daß es nicht ungewöhnlich ist, wenn der Vogel hier in der Nähe des Heiligtums begegnet. Die Feindschaft zur Taube ist sprichwörtlich (Hor. epod. 16,32 adulteretur et columba miluo). Vgl. auch Porph. Hor. epod. 16,32 diuersum animal sit miluus ac columba, Phaedr. 1,31,3 columbae saepe cum fugissent miluum

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III Kommentar

(s. allgemein zum miluus auch KELLER 1913, 16ff.). Die Form mit doppeltem ‘u’ ist häufiger in der lateinischen Literatur anzutreffen (ThLL VIII 985, 45ff.). Insanus (seit Nemesian cyn. 214 von Tieren, in diesem Fall Hunden, bzw. von deren Biß; von Vögeln nur hier) verwendet Dracontius laud. dei 2,117 mentibus obsessis insana clade furoris von Dämonischem. So weist das Wort möglicherweise auf die später folgende Interpretation des miluus als Vogel des Dis hin (466). 456 agit Für ago in der Bedeutung ‘verfolgen, vor sich hertreiben’ vgl. Verg. georg. 3,412 (WOLFF 1996, z. St.). Ähnlich Ov. met. 11,300 Thisbaeas agitat mutata columbas (von Daedalion, der in einen Falken verwandelt wurde). rapidus Die Gier und Raublust des miluus ist sprichwörtlich seit Plaut. Pseud. 852: z. B. Ov. met. 2,716 uolucris … rapidissima miluus (s. BÖMER 1969, 407; SIMONS 2005, 267). sequente uolatu Singulärer Versschluß; Ablativ der begleitenden Umstände (WOLFF 1996, z. St.). Volatu findet sich in der hexametrischen Dichtung stets am Versende. Vgl. für die Wortwahl Mar. Victor aleth. 3,280f. sequitur rapidoque uolatu / miscentur; Sedul. carm. pasch. 3,68 rapido … uolatu; außerdem mag Verg. Aen. 11,722 consequitur pennis anklingen, das dort innerhalb eines Gleichnisses von Taube und Habicht begegnet, s. zu 458. 457 insontes Die einfache Wesensart, Friedensliebe und Schadlosigkeit der Tauben, die in insontes ausgedrückt ist, wird auch oft bildhaft verwendet (ThLL III 1732,31ff.). cunctas Unterstützt die Bedrohlichkeit des Prodigiums (s. oben omnes). Alle Tauben sind von der Gefahr betroffen. clamore fatigat Vgl. Val. Fl. 4,69f. maestaque fatigat / uoce Iouem, Heges. 5,43,1 fatigatus itaque clamoribus, Rufin. hist. 2,6,7 clamoribus fatigare, Vulg. Iudith 7,22 fatigati his clamoribus. Dort ist fatigare stets als ‘durch Geschrei erweichen’ zu verstehen. An unserer Stelle hingegen handelt es sich um körperliche Ermüdung, die bei den Tauben einsetzt. Dies scheint paradox, da Tiere durch Geschrei theoretisch eher aufgeschreckt und zur Flucht gebracht werden. Vielleicht ist clamore nicht ausdrücklich auf fatigare zu beziehen, sondern allgemeiner auf die ganze Situation, als Ablativ der begleitenden Umstände: ‘unter Geschrei’ ermüdet der Raubvogel die Tauben, weil er sie verfolgt. 458 quas super Die Anastrophe (WOLFF 1996, z. St. mit weiteren Beispielen) ist mit uolitans und imminet zu verbinden (anders WOLFF 1996, z. St., der sie nur mit uolitans verbinden möchte); für imminere in Verbindung mit super mit Akkusativ vgl. Liv. 44,13,2, Verg. Aen. 6,602f. quos super … / imminet. accipiter Der Habicht gilt (neben dem Adler und dem Milan 456f.) als sprichwörtlicher Feind der Taube (Ov. ars 2,363, Hor. carm. 4,4,31f., Mart. 10,65,12, Lucr. 3,752; KELLER 1913, 19; AUGUST STEIER: Taube, RE 4 A 2, 2497–2500, hier 2489). Er gehört zu den Weissagevögeln (vgl. Verg. Aen. 11,721 accipiter … sacer ales. Dieser Vers ist Teil eines Gleichnisses, in dem Camillas Kampfeskunst mit der Jagd des Habichts auf Tauben verglichen wird. Anders als hier scheint dort

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allerdings die Taube hoch zu fliegen und nicht der Habicht über ihr zu drohen), der, gerade als extrem gefährlich und räuberisch verehrt wurde (KELLER 1913, 19; 21). uolitans Volitant 453 an gleicher Versposition. grauis imminet alis Wirkt gegenüber dem leichten uolitans stark antithetisch, fast schon oxymoronartig. Überzeugend weist GÄRTNER 2001, 345f. neben dem oben ausgeführten Bezug zu Silius auf zwei weitere, hauptsächlich sprachliche, Parallelen aus der Vorgängerliteratur hin. Zum einen greift die Darstellung „Hektors Wüten unter den Griechen“ (GÄRTNER 2001, 346) in der ‘Ilias Latina’ auf, das dort mit den Worten interea Danaos ingenti concitus ira / Priamides agit et totis grauis imminet armis (Homer. 659f.) beschrieben wird. Die zweite Stelle stammt aus Val. Fl. 6,494, wo in einem Gleichnis zarte Blumen dem drohenden Wind ausgesetzt sind (fuscis et iam Notus imminet alis). Aus dem eindeutigen Vorbild der ‘Ilias Latina’, mit Unterstützung des Versschlusses aus den ‘Argonautica’ nimmt GÄRTNER die einsichtigen Gründe für eine Konjektur von ales, das die übrigen Herausgeber in den Text setzen, zu alis.386 Der accipiter des Dracontius übernimmt die Rolle Hektors, bleibt aber bei seinen eigenen Waffen (den alae), so daß der spätere Dichter nur die winzige Änderung von armis zu alis (GÄRTNER 2001, 346) vornehmen muß. Der Text wird durch die konjekturale Entfernung der schwerfälligen und wenig informationsträchtigen Apposition grauis ales zu accipiter eindeutig verbessert. 459–469 Rede des Sehers Ganz unvermittelt tritt ein Seher auf,387 der in der Lage ist, das Vorzeichen zu deuten. Er kommt, das wird ausdrücklich betont, aus dem Geschlecht der Melampiden, abstammend vom bekannten und berühmten Melampus, was ihn als besonders kundig qualifiziert. Es fällt auf, daß der Seher in seiner Deutung einige Elemente, die bei der Schilderung des Prodigiums genannt wurden, nicht aufgreift. So gibt er keine Erklärung des flumine contempto (454) der Schwäne (Schwäne können auch für den Tod stehen, vgl. etwa Artemid. 2,20 – kommt der Tod mit Paris übers Meer?); auch läßt er ungedeutet, daß die Schwäne sozusagen unbeteiligt das Geschehen nur wahrnehmen (intendunt 455; ob Jupiter zuschaut, während seine Tochter geraubt wird?). Überhaupt bleibt der ganze Ablauf dessen, was sich am Himmel abspielte, unkommentiert, und daß der Krieg als Folge der Eheschließung zu verstehen ist, wird nicht explizit hervorgehoben (SIMONS 2005, 267). Die Gründe für solch eine „unvollständige“ Deutung werden nicht recht klar.388 386 Erwähnt ist sie schon GÄRTNER 1999 (a), 199. 387 Dieses unvermittelte, als dramaturgischer Trick wirkende Auftreten läßt sich als Anleihe aus dem Roman auffassen, in dem häufig Figuren in die Handlung eingreifen, die zuvor nicht erwähnt worden sind, man denke nur an den Greis Philetas, der Daphnis und Chloe im Roman des Longus begegnet und zunächst nur die Aufgabe besitzt, die beiden über die Liebe an sich aufzuklären. Zugegebenermaßen tritt er auch später nochmals auf, aber zunächst ist sein Erscheinen ganz unvermittelt. Gleiches läßt sich über die Figur des Hellenicus in der ‘Historia Apolloni regis Tyri’ sagen, die unvermittelt in den Kapiteln 8 und 51 begegnet. 388 SIMONS’ 2005, 267 Erklärung, man könne sich das Ausgelassene aus Mythologie und Literatur ergänzen, scheint nicht recht überzeugend. Ein Beispiel sei angeführt: Sie will aufzeigen, die

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III Kommentar

Die Rede des Sehers läßt sich schwer gliedern (eine Gliederung nach den einzelnen Vögeln wäre möglich), sie ist ein Wortschwall in einem Satz (s. zu 461). Ziemlich genau beim goldenen Schnitt der acht Verse (465b) beginnt die Ankündigung des Unheils, mit sed eingeleitet, der einzige Punkt, an dem kurz innegehalten werden kann. Die Reihenfolge der Vögel entspricht in der Deutung derjenigen des Prodigiums; nur zu Beginn weichen sie voneinander ab, wo der Augur mit den Tauben und nicht mit den Schwänen beginnt. Wie schon in der Prodigienschilderung erhält auch hier jeder Vogel seine Charakterisierung, oben passend zu seinem Verhalten, hier die Zuweisung zu einer Gottheit. 459–461 VON DUHN (und ihm folgend VOLLMER und ZWIERLEIN, zweifelnd DIAZ DE BUSTAMANTE und WOLFF je z. St.) nimmt nach 460 eine Lücke an, weil die Syntax des Satzes nicht völlig klar durchläuft und sie etwas vermissen läßt, das durch et verbunden wird. Folgende Alternativen sind vorgebracht worden, um die Überlieferung zu halten: BAEHRENS schlägt sic exorsus, RIBBECK 1873, 470 is sic orsus vor. Doch spricht 402 et sic orsus ait dafür, hier nicht zu konjizieren. Wollte man ohne Konjektur und ohne lacuna auskommen, müßte man annehmen, daß et die beiden Partizipien cretus und orsus verbindet, und der Relativsatz ein reiner Einschub ist. Dies bedeutet, daß die Junktur sic orsus ait, wie man sie im Ohr hat, voneinander zu trennen wäre und sich sic orsus noch auf die Information aus 459 bezieht: Der Seher kommt also aus dem Geschlecht des Melampus und beginnt seine Rede auch so (wie einer aus diesem Geschlecht; wobei offen bleiben müßte, was inhaltlich genau gemeint wäre). Solch ein Verständnis der Syntax könnte zwei Probleme lösen: Zum einen gibt es dem et einen logischen Sinn. Zum anderen wertet es inhaltlich 461 auf, der beim bisherigen Verständnis ausschließlich wortreich die Rede eingeleitet hat. Problematisch ist die Spannung, die über den Einschub 460 hinweg bis zum et gehalten werden muß. Außerdem dürfte die Tatsache, daß Dracontius an allen vergleichbaren Stellen (schon erwähnt 402. 531 et sic orsa refert und Orest. 892 et sic orsus ait; vgl. ZWIERLEIN BT 2017 z. St.) die Verbindung

Verbindung von miluus und columba stehe metaphorisch für den Ehebruch, und belegt dies mit Hor. epod. 16,32 adulteretur et columba miluo. Der Vers findet sich bei Horaz in einer Reihe von Adynata, die erfüllt werden sollen, bevor das lyrische Ich mit den Freunden, nachdem sie die schrecklich geschundene Heimat verlassen haben, wieder zurückkehren will. Es ist daher hauptsächlich auf die Widernatürlichkeit der Verbindung angespielt (die umso stärker hervortritt, als die Taube zum Subjekt gemacht wird), die auch, wenn sie metaphorisch gedeutet wird, weniger den Ehebruch als wiederum widernatürliche Beziehungen meint. Eine Ergänzung zu Dracontius scheint die Stelle daher eher nicht zu sein. Interessanterweise deutet NORMAND 2015, 524 das Prodigium ganz anders als der Seher und erklärt die beiden Raubvögel als Zeichen für Paris und Menelaos. Daß sie das Auftreten der Greifvögel in diesem Vorzeichen unter „prédation sexuelle“ (521) einordnet, wirft neue Fragen der Interpretation auf, auf die hier nur aufmerksam gemacht werden kann: In welchen Zusammenhang wäre das Vorzeichen mit dem „Nicht-Raub“ der Helena zu sehen? Täuscht sich etwa das Prodigium? Warum spricht der Seher nur von einer Hochzeit, nicht von einem Raub, und vom Krieg?

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in der üblichen Weise gebraucht, schwerer wiegen, als die etwas gekünstelt erreichten inhaltlichen Vorteile der Trennung dieser Junktur. Es reimen in diesen Versen jeweils 459 cretus und 461 orsus, 459 Melampi und 461 sagaci, sowie in 460 Cyprum und dierum, was die beiden Verse eng miteinander verklammert. 459 Vielleicht ist der ganze Vers lexikalisch beeinflußt von Stat. Theb. 3,451–454 sollers tibi cura futuri, / Amphiarae, datur, iuxtaque Amythaone cretus / iam senior – sed mente uiret Phoeboque – Melampus / adsociat passus. Der spondeenlastige Vers unterstützt den Eindruck eines gewichtigen und allwissenden Sehers, der Ordnung in das Durcheinander bringen wird. sollers augur Da diese Junktur sonst nicht belegt ist, zeichnet sich dieser Augur offensichtlich durch eine besondere Eigenschaft vor seinen Kollegen aus. Dracontius setzt das Adjektiv auch im Löwengleichnis ein und charakterisiert damit den Jäger, der sich nur zum Schein vor dem Löwen ergibt (357). So mag auch hier der Seher als besonders gewitzt und klug qualifiziert werden. Vielleicht ist für die Formulierung praeco dei sollers laud. dei 3,226 (über Petrus) vergleichbar. Die Bezeichnung augur, die für jemanden steht, der den Vogelflug deuten kann, fast im Sinne von uates (ThLL II 1366,64ff.; GEORG WISSOWA: Augures, RE 2, 2, 2313–2344, hier 2315; s. auch FLOWER 2008, 22ff.), ist hier zu Recht gemäß der Definition gesetzt. cretus de gente Melampi Vgl. für die Junktur (cretus üblicherweise seit Vergil mit bloßem Ablativ, H-S 104) Claud. carm. min. app. 2,76 ipsa Chimaeraea cretum de gente nouerca. Die Nachkommen des berühmten Sehers Melampus galten als Sehergeschlecht (JACOB PLEY: Melampus, RE 15, 1, 392–399). 460 quem fors … dederat Scheint die einzige Stelle bei Dracontius überhaupt zu sein, an der er die fors zum tatsächlichen Subjekt macht, was den Eindruck bestärkt, er verstehe die fors wie eine handelnde τύχη des Romans (in einigen Glossen des Corpus Glossariorum wird genau diese Gleichsetzung vorgenommen, s. VI 1,1128,11). Für die Rolle des Zufalls im Gedicht s. die Einleitung Kap. 2. ad Cyprum Ausschließlich Dracontius verwendet diese Verbindung und nur in Romul. 8, noch 505 und 573. Für ad statt in besonders im Spätlatein, s. H-S 219. per festa dierum Festa von WOLFF 1996, z. St. zu Recht als substantiviertes Adjektiv bestimmt (dagegen ThLL VI 1,632,15); das Vorkommen von substantiviertem Adjektiv mit davon abhängigem Substantiv im Genitiv Plural ist typisch episch (aus der Fülle z. B. Verg. Aen. 2,332 angusta uiarum, 725 opaca locorum). Per (lokal-temporal) ist in gut spätlateinischer Tradition für ad verwendet (vgl. dazu HS 240). 461 et sic orsus ait S. zu 402 und zu 459–461. prorumpens uoce sagaci Das in prorumpere ausgedrückte ‘Hervorbrechen’ konkretisiert Dracontius im folgenden Redeschwall des Sehers. Denn aus ihm bricht ein einziger Satz ohne Unterbrechung und ohne Pause heraus, der sich kaum

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III Kommentar

gliedern läßt. Die Konstruktion von prorumpere mit dem Ablativ scheint eine (singuläre) Variation der üblicheren Verbindungen wie etwa prorumpere in uocem o. ä. zu sein. In dieser Bedeutung ist das Wort fast ausschließlich prosaisch (ThLL X 2,2164,46ff.). Ähnlich konstruiert, aber nicht vom Sprecher, sondern vom Gesprochenen ist Aug. mag. 5,12,3 omne, quod cum aliquo significatu articulata uoce prorumpit. Zur Erleichterung der Konstruktion könnte uoce sagaci auch mit ait zusammengezogen werden. Die Junktur uox sagax ist singulär. Sagax in einem Bezug zu Sehern findet sich Stat. Theb. 4,407f. tenebras … sagaces / Tiresiae. Vox ist hier im Sinne von ‘Worte’ (kollektiver Singular) oder ‘Rede’ verwendet (OLD s. v. 2104, 9). 462 te oblatiua petunt auium responsa uolantum Dem Wortlaut nach eine Kombination zweier Termini des Orakelwesens: So findet man (das an unserer Stelle jedoch nicht so zu verstehende) responsum petere als t.t. für die Orakelbefragung (z. B. Verg. Aen. 7,86. 92; Ov. met. 3,340; 15,637f.; OLD s.v. 2a) und responsum ferre (Verg. Aen. 6,82), was in oblatiuus anklingt (sonst ähnlich Curt. Ruf. 3,3,7 ceterum ipse et uatum responso, quod edebatur in uulgus, et specie, quae per somnum oblata erat …), für die Antwort des Orakels oder des Sehers. Auguria oblatiua (ThLL IX 2,78,66ff.) sind Vorzeichen, die ungefragt gegeben werden (im Gegensatz zu den auguria impetratiua) und daher entweder Zustimmung oder Ablehnung mitteilen können (GEORG WISSOWA: Augures, RE 2, 2, 2313–2344, hier 2331; SCHEID 2003 [1998], 116f.): Serv. Aen. 6,190 auguria aut oblatiua sunt, quae non poscuntur, aut impetratiua, quae optata ueniunt. hoc ergo quia oblatiuum est, ideo dixit ‘forte’ (außerdem Serv. Aen. 6,194; 12,246. 259). Die Servius-Stelle zeigt, daß Dracontius hier den Seher selbst den Aspekt des Zufalls besonders betonen läßt, der damit zum prägenden Motiv auch dieser Episode wird. Die Verbindung von responsa mit aues findet sich nur hier (ThLL II 1438,44). Das Attribut uolans, das auf aues bezogen ist, weist darauf hin, daß nicht nur die Vögel selbst in der Vogelschau Symbolcharakter haben, sondern ebenso ihr Flugverlauf. Eventuell erschließt der Melampide Paris als Adressaten des Orakels (betontes te) aus dem ungewöhnlichen Küstenflug der Schwäne. Elision von einsilbigen Wörtern begegnet häufiger bei Dracontius (s. VOLLMER MGH 442); Elision von te noch laud. dei 2,211, Romul. 4,18, Orest. 746 (s. auch WOLFF 1993, 99, CHARLET 2015, 147f.). 463 conubium Seit Verg. Aen. 9,600 erscheint das Wort öfter freier in der Bedeutung uxor (ThLL IV 816,30ff., in Romul. 8 noch 524), auf die das hinzugesetzte praefulgens ore decoro und die Aufnahme in genitam (465) zusätzlich hinweisen. spondent Vielleicht steckt hinter dem Prädikat ein Wortspiel mit sponsa als Verweis auf den weiteren Verlauf der Ereignisse. Für spondere im Zusammenhang mit orakelhaften Vorhersagen vgl. Ov. Ib. 215f. fera nec quicquam placidum spondentia Martis / sidera und Prop. 4,1,41 iam bene spondebant tunc omina. praefulgens ore decoro Es ist natürlich die Schönheit der Helena, besonders die ihres Gesichtes, auf die angespielt wird. Ore decoro wird Sen. Herc. f. 1059 von

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der Sonne gesagt; praefulgens unterstützt die Assoziation von Schönheit, die wie die Sonne erstrahlt. Vgl. für den Klang des Versschlusses Sil. 7,448 ore decoros, 16,486 ora decori. 464 Idaliae uolucres Die Deutung beginnt nicht mit den zuerst genannten Vögeln des Prodigiums (Schwäne), sondern mit den zweiten, den Tauben. Deren Epitheton leitet sich hier (wie öfter) von der zypriotischen Stadt Idalium her (bekannt für ihr Venus-Heiligtum, s. auch zu 438). Inspiriert ist die Junktur wohl von Stat. Theb. 12,16. Dort werden in einem Gleichnis die Tauben beschrieben, wie sie vor ihrem Feind – einer Schlange – in Furcht geraten, erschrecken und fliehen. Die Situation der bedrohten Tauben findet sich auch an unserer Stelle. Vgl. für die Junktur außerdem Stat. Theb. 5,63; 12,16, Ach. 1,372, besonders Romul. 6,91 (Hochzeit!) und 10,164 Idalias … columbas (vom Taubengespann der Venus); für die Imitation s. MOUSSY 1989, 428, Anm. 18. 464f. de gente Tonantis … / … genitam Für die auch bei genitus eher ungewöhnliche Konstruktion vgl. 459 cretus de gente Melampi (zum Ablativus originis s. HS 104f.). Hier ergibt sich in der Verbindung mit gens eine figura etymologica (ähnlich, aber kaum vergleichbar Prosp. carm. de ingrat. 11 congenitae in Christo gentis, ThLL VI 2,1161,62f.). Grammatisch oszilliert genitam zwischen dem Substantiv in der Bedeutung filia und einem Infinitivprädikat mit Ellipse von esse. 464 olores Variation in der Vokabelwahl im Vergleich zu oben cycnus. Zur Bedeutung der Vögel s. oben zu 453. 465 promittunt Für promittere im Götter- und Orakelwesen s. ThLL X 2,1869,37ff., vgl. [Tib.] 3,4,79 hoc tibi coniugium promittit Delius ipse, Ov. met. 12,194f. aut contigerant illi conubia matris / aut fuerant promissa tuae, [Ov.] epist. 16,15 Paris an Helena (sc. ne Venus) te frustra promiserit. Orakelvögel als Subjekte zu promittere sind singulär. sed Harter Einschnitt nach der Penthemimeres: Die erfreulichen Ankündigungen werden mit sed von den unglücklichen Vorhersagen abgesetzt. miluus horrida fata Die einzige Stelle, an der der miluus ein Prodigienvogel ist (ThLL VIII 986,23ff.; vergleichbar scheint nur Varro Men. 464 uolitans miluus aquam e nubibus tortam indicat fore, ThLL VIII 965,69f.). Ein promittit o. ä. ist aus dem vorhergehenden Satz zur Vervollständigung der Konstruktion zu ergänzen. Für den Versschluß vgl. Sil. 6,313; für die Junktur Verg. Aen. 11,96f. horrida belli / fata, Sen. Tro. 1056. Worin genau die horrida fata bestehen, ist nicht ganz klar: Mit Blick besonders auf die ‘Aeneis’-Stelle wäre zu überlegen, ob sie schon den trojanischen Krieg bezeichnen sollen. Allerdings wird der Krieg in 469 mit fera bella als Ankündigung des Habichts noch konkret genannt, so daß davon eher Abstand genommen werden sollte. So können sie vielleicht auf den Akt des Raubes verweisen, den Paris in Kürze vornehmen wird, zumal ja der miluus auch die Tauben, die für Helena stehen sollen, bedrängt (s. auch unten zu 466). Dagegen spräche jedoch, daß das Prodigium auf Paris gesagt ist, für den der Raub positiv zu sehen

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III Kommentar

ist. Daher ergibt sich für die Wortgruppe am ehesten eine recht allgemeine Bedeutung, wie ‘Tod’, die Dracontius häufig nutzt und die auch mit der Rolle des Vogels im Prodigium (Vogel des Dis) gut zusammenpaßt. 466 Ditis enim signatur auis Diese Aussage scheint keine allgemeine Zusatzinformation über den Vogel an sich zu sein (zu Recht hat WOLFF die bei VOLLMER gesetzte Parenthese entfernt; ähnlich versteht ZWIERLEIN BT den Satz, der eine Parenthese von 466–468 annimmt), sondern schon konkret die Auslegung des Sehers, so wie er auch den übrigen Vögeln jeweils ihren Gott zuweist (anders ThLL Onomast. 3,190,40f., der Dis hier als den Ort Hades versteht und nicht als die Person des Gottes. Der Zusammenhang zwischen Dis und dem Milan scheint singulär zu sein). Dagegen bringt SIMONS 2005, 267 zwei Erklärungen für die Bezeichnung des Milan als Vogel des Dis und sein als ungewöhnlich gedeutetes Auftreten bei Tageslicht. Dazu führt sie Ov. fast. 3,794 Miluus haec illa nocte uidenda uenit an und erklärt, daß der miluus auch ein Stern sei, der normalerweise nur in der Nacht sichtbar sei. Die Verstirnung des Vogels ist der Lohn für seinen Raub der Eingeweide eines erdgeborenen Stiers, vom Opferaltar im Auftrage Jupiters. Dieser Stier wurde von der Styx gefangen gehalten; die Parzen weissagten über ihn, daß derjenige, der seine Eingeweide verbrennte, Herrscher über die Götter sein werde. SIMONS glaubt, daß Dracontius aufgrund der Motive ‘Unterwelt’ und ‘Raub’ diese Ovid-Stelle bzw. den Mythos vor Augen habe. Jedoch scheint dieser Mythos nicht gerade für eine Verbindung zwischen miluus und Hades zu sprechen. Denn der Milan arbeitet in der Metamorphose eindeutig für Jupiter und nicht für Pluto. Daß der Stier von der Styx gefangen gehalten wurde, scheint nur nebensächlich zu sein und hat mit dem Raub des Milan selbst nichts zu tun. Hilfreicher für die Erklärung ist sicher SIMONS’ Beobachtung, daß Paris später den Unterweltsgott als infernus raptor (477) qualifiziert, mit denselben Worten, mit denen auch Claudian sein Kleinepos über den Raub der Proserpina beginnt: inferni raptoris. Gleichgesetzt wird also der räuberische Vogel (diese Eigenschaft ist allgemein bekannt und muß deshalb nicht mit Ovid in Verbindung stehen, s. zu 456) mit Hades, der dadurch im Prodigium den späteren Helena-Räuber Paris antizipiert. Es scheint also ausschließlich der räuberische Charakter des Vogels zu sein, der ihn zum geeigneten Vorzeichen für Hades werden läßt. So klingt an dieser Stelle inhaltlich zum ersten Mal der ‘Raub der Proserpina’ des Claudian deutlich an. Ditis am Hexameteranfang begegnet nur noch Stat. Theb. 11,71, Val. Fl. 4,411. licet Bezieht sich nur auf peracta (Die Verwendung von licet mit Partizip findet sich häufig im spätantiken Latein, s. H-S 385). 466f. hora peracta / tertia Peragi als Terminus für das Verstreichen von Zeit findet sich seit Hirt. Gall. 8,50,1 hibernis peractis eher in der Prosa als in der Dichtung (s. ThLL X 1,1179,8ff.). Die Junktur mit hora ist belegt bei Aug. cons. evang. 3,13,50 aliae tres horae peractae sint. Auch wenn nicht ganz klar ist, um welches Venusfest es sich handelt, kann man vermuten, daß es im Frühling gefeiert wird (s. auch oben zu 435; laut Ov. fast. 4 ist April der Venus-Monat), und mit WOLFF 1996, z. St. beim Anlegen der antiken

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Zeitmessung als Tageszeit für hora tertia peracta etwa 9:00 Uhr am Vormittag annehmen. Die dunklen Nacht- und Morgendämmerungsstunden, in denen der miluus offensichtlich normalerweise auftritt, sind damit schon vergangen. Auffällig ist diese offenbar recht konkrete Zeitangabe deshalb, weil offengeblieben war, wie lang der Seesturm dauerte. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß es sich noch um den gleichen Tag handelt, der mit octauo ueniente die iam sidera Phoebus / elatis condebat equis, iam cuncta ruebant / oceano nudante rotas stridentibus undis (369–371) eingeleitet wurde, da die Zeit für die Abfahrt, den Seesturm, die Landung und den Weg zum Tempel viel zu kurz wäre. 467 quippe Der mit quippe (hier als kausale Konjunktion mit Konjunktiv, vgl. HS 510f.) inversiv eingeleitete Kausalsatz erklärt, warum der miluus mit seiner Anwesenheit horrida fata ankündigt – er kommt nämlich zur Unzeit. Phoebo candente Wenn auch Phoebus hier nur eine epische Metonymie für die Sonne ist (wie auch 369), so tritt doch ein weiterer Gott namentlich in der Deutung des Sehers auf, unbeteiligt, aber wirkungsvoll. Denn expressiv ist damit die Verkörperung der Helligkeit und des Strahlenden dem Inbegriff der Finsternis gegenübergestellt. Die Wendung ist vergilisch: Aen. 8,720 candentis … Phoebi (meint Apoll, in Einheit mit seinem Tempel, FORDYCE 1977, 285). Für candens als Attribut von Gestirnen s. ThLL III 234,53ff. Vgl. für die Junktur auch Val. Fl. 3,481 Phoebus candentior. S. auch LE BOEUFFLE 1987, 79f. Bei Dracontius finden sich nur Formen des Partizips von candere: Der Ablativ (jeweils telo candente an gleicher Versposition) in Romul. 8,496 und 10,72, der Nominativ laud. dei 1,657. 467f. uolucrem / … rapacem Weite und zudem am Versende jeweils reimende Sperrung von Adjektiv und Bezugswort (ähnlich, aber in den deutlich kürzeren Versen des katalektischen iambischen Dimeters, auch Prud. cath. 6,63f. rapaces / … uolucres). Inhaltlich eine Variatio von 456f. rapidus … miluus. 468 uera … praesagia Praesagia an derselben Versposition noch Ov. Ib. 245, Claud. 20,4. Für die Junktur vgl. Ov. Pont. 2,8,75 (met. 15,879 si quid habent ueri uatum praesagia, trist. 4,10,129 si quid habent igitur uatum praesagia ueri), Sil. 10,406, Stat. Theb. 9,631. 886. per immensum ‘Durch die Luft’, für die Bedeutung s. ThLL VII 1,453,65–67 und vgl. Ov. met. 4,621. 469 In mens. 5 Martia iura mouet, signis fera bella minatur sind die gleichen Worte in völlig anderer Bedeutung verwendet. Der Versschluß bella minatur noch 644 (s. ZWIERLEIN BT 2017 z. St.); wohl nach Ov. met. 13,662 (bella minatur) und trist. 5,10,15 (fera bella minantur). Martius accipiter Nach Servius ist der Habicht dem Mars heilig (Serv. Aen. 11,721 ‘sacer’, ideo quia Marti est consecratus … nam ἱέραξ dicitur, hoc est sacer); vgl. auch Ov. ars 2,147 odimus accipitrem, quia uiuit semper in armis (KELLER 1913, 20). SIMONS 2005, 267 verweist auf Ov. ars 2,363, wo es über Menelaos heißt

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III Kommentar

accipitri timidas credis, furiose, columbas, weil er Helena mit Paris allein gelassen habe. Dort kann der Vogel mit Paris gleichgesetzt werden. dotem Seit Prop. 4,4,92 auch für verderbenbringende Hochzeitsgeschenke (ThLL V 1,2044,5ff.); in Verbindung mit bellum vgl. Sen. Phoen. 509f. socer non arua, non urbes dedit: / dotale bellum est. Der Gedanke findet sich auch 652 sanguine Troiano dabitur dos. fera bella Wie Ov. am. 2,6,25, ars 1,592, fast. 3,5; 5,556, Pont. 2,5,61; 4,2,43 u.ö. Verg. Aen. 6,86 werden Aeneas aus dem Mund der Sibylle bella, horrida bella angekündigt. minatur Minari mit doppeltem Akkusativ ist selten (s. ThLL VIII 1028,53ff., sonst noch Sen. Tro. 599, epist. 78,12). Der Versschluß begegnet Ov. trist. 5,10,15 fera bella minantur (ZWIERLEIN BT z. St.). 470–480 Die Reaktion des Paris Die Interpretation und Analyse der Paris-Rede wird wegen einiger textkritischer und inhaltlicher Probleme erschwert. So ist unklar, ob sich das gesamte Gebet nur an Venus und Amor richtet (wofür die Einleitung zur Rede spricht), oder ob doch noch ein Befehl an den Augur am Ende der Rede ergeht (auerrunces Konjektur von BÜCHELER). Im folgenden soll der hier gedruckte Text auch Grundlage der interpretatorischen Ausführungen sein. Die Rede des Paris ist um einen Vers länger (9) als die des Sehers (8) an ihn. Zunächst wendet er sich an Venus (und Amor laut Redeeinleitung, dies aber höchstens indirekt), mit der er seit dem Urteil über die Göttinnen in besonderer Verbindung steht (s. zu 471). Die ersten drei Verse dieses Gebets tragen Züge, die für einen Hymnus charakteristisch sind: So beginnt es mit verschiedenen Bezeichnungen der Venus (aurea, alma) und verweist auf ihre Herkunft (proles Tonantis). Danach folgen zwei Varianten der Prädikation (Partizipialstil und Relativstil, s. NORDEN 71996, 166ff.) und schließlich die Bitte an die Göttin, die nur zwei Worte umfaßt (omina firma, erweitert durch zwei Relativsätze). Eine zweite Bitte wird nach einer unpersönlich formulierten Feststellung der Handlungsnotwendigkeit (opus est, 476) erneut an Venus gerichtet. Sie solle die Vögel des Mars und des Unterweltsgottes, die Unglück voraussagen, entfernen. Die letzten zweieinhalb Verse sind in ihrer Motivierung und genauen Bedeutung kaum zu erschließen. Mit Ganymed und Polles werden zwei Vertreter der Auguralkunst genannt. Für Ganymed ist dies kaum zu belegen,389 Polles erhält eine merkwürdig anmutende Zusatzinformation, ein geschwätziger Vogel erlaube es ihm, die Zukunft zu kennen. Ziemlich genau in der Mitte läßt sich demnach die Rede in zwei Teile gliedern, von denen der erste, an Venus gerichtet, die Bestätigung der hoffnungsvollen Vorhersagen wünscht (472–476a), der zweite, ebenfalls an Venus gerichtet, die Entfernung der gefahrvollen Elemente des Prodigiums erbittet (476b–480; zum Umgang mit negativen Vorhersagen anderswo s. FLOWER 2008, 80ff.). Dracontius erreicht in diesen Versen eine deutliche Charakterisierung des Protagonisten: Paris will den Schwierigkeiten aus dem Weg gehen und wählt deshalb 389 S. zu 479 den spekulativen Versuch von DE GAETANO 2010, 159ff.

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eine Vorgehensweise, bei der er die Verantwortung für sein Handeln, das ihm in dem Vorzeichen bewußt gemacht wird, vollkommen abgibt. Seiner Förderin Venus überträgt er die Verantwortung, das für ihn günstige Schicksal zu erfüllen und das Ungünstige schlichtweg fortzunehmen. Noch deutlicher tritt das frevlerische Verhalten des Paris hervor, wenn man es vor der Folie des Anchises betrachtet, zu dem durch intertextuelle Anklänge eine Beziehung hergestellt wird. Es lassen sich im ganzen Abschnitt immer wieder Imitationen von ‘Aeneis’-Stellen hören, wobei die von Verg. Aen. 2,691 (da deinde auxilium, pater, atque haec omina firma) zu 474 wohl am deutlichsten ist.390 Denn die Situation ist durchaus vergleichbar; eine Zusammenschau läßt Paris in einem äußerst schlechten Licht erscheinen: Anchises reagiert in drei Versen auf das Flammenzeichen um den Kopf seines Enkels Ascanius als einziger mit Freude, weil er als einziger die positive Botschaft darin erkennt. Aber er wird über dieser Erkenntnis nicht hochmütig gegenüber den Göttern, etwa weil er weiß, daß kein Unglück geschehen wird, sondern er wendet sich demütig und ehrfurchtsvoll an den obersten der Götter, indem er die Hände zum Himmel ausstreckt und um Bestätigung des positiven Vorzeichens bittet, wenn er und seine Familie sie denn verdienen (pietate meremur 690). In der Gesinnung liegt der Unterschied zwischen beiden Protagonisten. Denn die Körperhaltung ist die gleiche, auch Paris reckt die Hände zum Himmel. Anchises ist sogar ob des ausschließlich Gutes verheißenden (von ihm selbst erkannten und gedeuteten) Prodigiums demütig, Paris regt nicht einmal das auch negative Prophezeiungen enthaltende (für ihn gedeutete) Prodigium zur ernsthaften Umkehr an, sondern er überläßt Venus die Erfüllung des Guten (ohne einschränkenden si-Satz wie Anchises) und schiebt das Unglückliche vollkommen von sich weg, ohne an die Konsequenzen seiner Ignoranz zu denken. 470 ad caelum tendens cum lumine palmas Der zeugmatische Ausdruck ist vergilisch: Aen. 1,93 tendens ad sidera palmas, 2,405f. ad caelum tendens ardentia lumina frustra, / lumina, nam teneras arcebant uincula palmas, 2,687f. oculos ad sidera laetus / extulit et caelo palmas cum uoce tetendit, 3,176f. tendo … supinas / ad caelum cum uoce manus, 10,844f. ambas / ad caelum tendit palmas. Vgl. auch Ov. met. 9,293 tendens … ad caelum bracchia, Sil. 6,466 tum palmas simul attollens ac lumina caelo. Typisch epische Gebetshaltung, die Hände zur Unterstützung der Bitte in Richtung der vermuteten Götterpräsenz (hier außerdem der Ort, wo das Vogelzeichen zu sehen war) zu wenden, wobei die Arme den Blicken folgen (SITTL 1890, 187; 193 Anm. 4, LOBE 1999, 160ff., EMMANUEL VON SEVERUS: Gebet I, RAC 8, 1158. 1231f.; vgl. auch für die besondere Bedeutung der Hände beim Gebet CORBEILL 2004, 20ff.). Ergeben hat sich dies wohl aus der vorher üblichen Praxis, vor einem Götterstandbild liegend dieses mit den Händen zu umfassen (vgl. z. B.

390 Auch DE GAETANO 2010, 147f. setzt die beiden Stellen miteinander in Beziehung. Aus der Anspielung auf die ‘Aeneis’ entwickelt sie eine Interpretation, die in der Erkenntnis mündet, daß Dracontius als Christ religiös-politische Kritik an Rom übe. Dieser Deutung kann hier jedoch nicht gefolgt werden (s. auch die Einleitung Kap. 2.1.3).

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III Kommentar

Lucr. 5,1200f. nec procumbere humi prostratum et pandere palmas / ante deum delubra; APPEL 1909, 197). 471 numina magna uocat Vgl. Verg. Aen. 3,263f. et pater Anchises passis de litore palmis / numina magna uocat. Neben dem Versanfang ist auch die Situation vergleichbar: Nach der Rede der Harpyie Celaeno ist die Trojanerschar verängstigt. Anchises setzt daraufhin zu einem Gebet an, in dem er bittet, daß das angedrohte Unheil abgewendet wird. Anders jedoch als Paris verspricht Anchises den Göttern die gebührenden Opfer (meritos … indicit honores 264), und nimmt überhaupt die Warnung ernst. Außerdem sind er und die anderen pii, was dem Paris diametral entgegensteht (266). puerum matremque Dionen Paris wendet sich an nur eine der drei Gottheiten, die durch das Prodigium in Erscheinung getreten sind. Zusätzlich ruft er Amor als puer an (diese Verwendung geläufig seit Catull. 64,95, s. weiterhin ThLL X 2,2513,16ff.), der zuvor keine Rolle gespielt hat (und auch im Gebet selbst nicht angerufen, sondern nur 474 und im Akrostichon erwähnt wird). Die Entscheidung für Venus als anzurufende Gottheit liegt sicher auch darin begründet, daß sie ihm die schönste Frau als Bestechungsgeld für sein Urteil versprochen hat (64f.). Paris erfährt aus der Rede des Sehers, daß Venus ihre beim Urteil gemachte Zusage nun erfüllen wird. Somit wendet er sich mit seinem Gebet an Venus (hier Dione wie schon 240 und 453) einerseits als die Gottheit, mit der er in einem persönlichen Verhältnis steht, zum anderen als die Gottheit, die hinter den positiven Elementen der Vorhersage steht. Daß Venus dem Paris Unterstützung angedeihen läßt, ist schon aus der ‘Ilias’ bekannt, nach deren Schilderung sie ihm im Kampf zur Seite steht (Il. 3,373ff.). Dracontius thematisiert diese Verbindung nicht eigens, die seit so langer literarischer Tradition bekannt ist, aber sie steht hinter seiner Gestaltung des Verhältnisses zwischen Paris und seiner Schutzgottheit Venus. 472 aurea … proles Venus alma Hier sind durch die Versgestaltung zwei Anreden an Venus ineinander verwoben, nämlich aurea proles siderei Tonantis und Venus alma, wobei vielleicht aurea siderei proles Tonantis als rahmende Apposition zur fast schon stehenden Wendung alma Venus zu denken ist (WOLFF 1996, z. St.). ‘Golden’ als Epitheton der Venus, das ihre Schönheit unterstreicht (ThLL II 1491,61), findet sich seit Homer (Il. 3,64 und Od. 8,337; WOLFF 1996, z. St.); in der lateinischen Literatur aurea Verg. Aen. 10,16, Ov. met. 10,277; 15,761f., [Ov.] epist. 16,35. 291 (Paris an Helena), Stat. silv. 3,4,22. Häufiger und seit früher lateinischer Literatur belegt ist die Junktur alma Venus: Plaut. Rud. 694, Lucr. 1,2, Verg. Aen. 1,618, Ov. met. 10,230; 13,759; 14,478; 15,844, fast. 4,90, u.ö. (s. dazu auch CARL KOCH: Untersuchungen zur Geschichte der römischen Venus-Verehrung, Hermes 83, 1955, 1–51, hier 34f.). Besonders die Lukrez-Stelle ruft weiterreichende Assoziationen hervor: Das Prooem zum ersten Buch von ‘De rerum natura’ ist das Gebet an Venus schlechthin. Es hebt die schöpferische Macht dieser Göttin hervor, die die Liebe unterstützt und jedes Lebewesen zur Fortpflanzung animiert (BROWN 1984, 41f.). Diese Eigenschaften sind auch für Paris in dieser Situation

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bedeutsam, denn er kann mit seiner zukünftigen Gattin eine Familie gründen und seinen Stamm weiterführen (vgl. auch das Prooem und die dort betonte Rolle der Frau bei der Vererbung, 7ff.). Proles (ohnehin selten in der Bedeutung ‘Tochter’, s. aber 440 von Helena) scheint sonst von Venus nicht gesagt zu werden; die Junktur proles Tonantis findet sich noch Sil. 17,654 (von Scipio) und Iuvenc. 4,786 (von Jesus als Gottessohn). BRETZIGHEIMER 2010, 392 betont, daß der Hinweis auf die Abkunft der Venus von Jupiter mitteilt, was für Paris an seiner Helena jetzt bedeutsam geworden ist: Nicht nur die Schönheit, die noch am Ende des Parisurteils im Vergleich mit Oenone (63–65) im Vordergrund stand, sondern die Herkunft, die derjenigen der Venus entspricht. Beide Frauen stammen von Jupiter ab. Wenn Paris also Helena heiraten wird, wird er zur Familie des höchsten Gottes gehören und damit deutlich an Ansehen gewinnen. Damit haben beide Teile der Anrufung ihre ganz eigene Bedeutung: Alma verweist auf die einerseits für Paris in Liebesdingen Sorgende, andererseits auf die Göttin, die für Fruchtbarkeit und Vergrößerung der Familie steht; proles siderei Tonantis dagegen betont die Abkunft der Venus vom höchsten Gott und erinnert an ebendiese der Helena. siderei … Tonantis Die gleiche Verbindung an gleicher Versposition Heptateuchdichter exod. 134. Wenn Dracontius diese Junktur tatsächlich aus dieser Dichtung übernommen hat, wäre sie ein Beleg für eine umgekehrte Rezeption: Sonst übertragen die Christen die paganen Bezeichnungen für Zeus/Jupiter auf Gott, hier übertrüge der Christ Dracontius eine christlich geprägte Gottesbezeichnung auf Zeus/Jupiter. Ebenso gut ließe sich eine gemeinsame Quelle postulieren. Für sidereus als Epitheton der Götter s. OLD s. v. 1756,3. 473f. In diesen beiden Versen betont Paris die Zusammenarbeit der drei Generationen im Auftrag der Liebe. Jupiter als Vater der Venus und Oberster der Götter erlaubt (dat) Venus die Ausübung ihrer artes, ihr Sohn Amor ist mit seinem Pfeil das ausführende Organ. 473 Lautliche Imitation von Verg. Aen. 2,406: lumina, nam teneras arcebant in numina mille tenens, artes (s. auch die Einleitung 2.3). Außerdem klingt Aen. 7,337f. an: tibi nomina mille, / mille nocendi artes (Iuno an Allecto). Mit dieser Reminiszenz wird ein Szenario vor Augen gestellt, das schließlich zum Krieg führt. Möglicherweise ironisch wird dem Leser gezeigt, daß nicht nur aus einer offensichtlichen Reizung zum Bösen und zum Krieg (wie es Iuno zunächst mit Allecto macht, die dann wiederum ihren Wahnsinn an Turnus weitergibt), sondern auch aus einer scheinbar harmlosen Bitte um Erfüllung der guten Prophezeiung ein Krieg und Verderben vieler Menschen resultieren kann. Besonders deutlich wird dies an der Junktur artes fauendi, die nach der vergilischen artes nocendi gestaltet ist. Venus begünstigt den Paris, wie sie es versprochen hat, und hilft ihm zu seinem Liebesabenteuer. Doch das positiv konnotierte fauere ergibt in letzter Konsequenz doch nur ein nocere. numina mille Die Konjektur nomina von BAEHRENS ist nachvollziehbar und würde die im Hymnus übliche Praxis der Anrede der Gottheit mit allen möglichen Namen

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explizit und bewußt machen, scheint aber überflüssig. Denn numina läßt sich an dieser Stelle auch inhaltlich sehr gut halten (zusätzlich zur lautlichen Übereinstimmung mit Aen. 2,406): numina meint entweder einen „Hofstaat“ der Venus aus Nymphen und anderen Gottheiten, die ihr unterstehen und über die sie die Macht hat (tenere), oder es macht deutlich, daß Venus als Göttin der Liebe auch alle anderen Götter, egal welchen Standes, über das Gefühl der Liebe in ihrer Gewalt hat (so WOLFF 1996, z. St., der noch auf die Ausnahmen Athene bzw. Minerva und Vesta verweist). Noch anders könnte man verstehen, daß Venus in sich unzählig viele verschiedene Arten des Waltens vereint, was ihr dann die Möglichkeit gibt, auf verschiedenste Weisen den Liebenden zu Hilfe zu sein (artes mille fauendi). Vgl. für diese Bedeutung von numen Verg. Aen. 1,666 tua numina posco. Vgl. für die Junktur Prud. c. Symm. 2,236 tu me praeterito meditaris numina mille. Für mille als unbestimmte große Zahl s. H-S 211. tenens Der Partizipialstil ist typisch für die Prädikation. artes … mille fauendi Die Junktur läßt insbesondere in fauere (Tib. 1,2,17f. illa [sc. Venus] fauet, seu quis iuuenis noua limina temptat / seu reserat fixo dente puella fores, Ov. ars 3,3f. uincant, quibus alma Dione / fauerit) die Diktion der Liebeselegie anklingen. Wie Venus in der Elegie die Liebhaber unterstützt, soll sie – so kann man weiterdenken – ihre Fähigkeiten auch an Paris offensichtlich machen. Ars in der Bedeutung ‘durch Fähigkeit geschaffene Möglichkeit’ (s. auch HORSFALL 2000, 235). cui Einleitung der relativen Prädikation, die die Prädikative weiterführt. VOLLMER MGH 374 verweist auf Anth. 389 R. = 385 Sh.-B.,45 insunt cui nomina mille. 474 Der Vers zitiert Verg. Aen. 2,691 da deinde auxilium, pater, atque haec omina firma an. dat pater Gleicher Versanfang auch Stat. Theb. 9,835f. non haec tibi proelia diuum / dat pater. Ähnlich auch Verg. Aen. 11,789 da, pater. Seit Hes. Theog. 399 ist Zeus/Jupiter derjenige, der den Göttern ihre Zuständigkeitsbereiche zuweist. natus supplet Chiastische Stellung mit dat pater. Die Zusammenarbeit zwischen Venus und ihrem Sohn wird in deren Gespräch zu Beginn von Romul. 2,8–70 sehr deutlich. Vgl. auch die Formulierung Romul. 2,83 ut possit (sc. Amor) complere dolos ac iussa parentis. omina firma Überliefert ist omnia statt omina, was auch einen guten Sinn gäbe. Allerdings ist IANNELLIs Konjektur wegen der offensichtlichen Imitation der Vergil-Stelle Aen. 2,691 vorzuziehen (was paläographisch absolut unproblematisch ist, da die Verwechslung omnia / omina zu den Standardfehlern in den Handschriften gehört). Vgl. Cic. carm. frg. 20,13 BLÄNSDORF firmauit Iuppiter omen (auch nach einem augurium oblatiuum, das durch ein zweites bestätigt wird), Sil. 4,127 firmes … tuae, pater, alitis omen (zur Bedeutung der Stelle s. die Einleitung zum Abschnitt ab S. 426). 475 cycnus genitoris agit Variatio von Tonantis olores / promittunt (464f.). Omina agere ist eine singuläre Junktur, die vielleicht deutlich machen soll, daß der Vogel in seiner Flugbewegung das Vorzeichen produziert.

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uestra columba Columba findet sich neunmal vor Dracontius am Ende eines Hexameters, die Junktur mit uestra ist singulär. Motiviert ist dieses Possessivpronomen durch Venus und ihren Sohn, der gelegentlich auch mit einer Taube als Attribut dargestellt wird (AUGUST STEIER: Taube, RE 4 A 2, 2497–2500, hier 2498). Die Verbindung bildet mit cycnus genitoris einen Chiasmus. Columba und cycnus sind kollektive Singulare. 476 prodidit Vgl. für prodere im Kontext von Zukunftsvorhersagen (hier allerdings für eine positive Voraussage gebraucht, während die folgenden Stellen ungünstige Vorzeichen meinen): Verg. Aen. 10,97–99 flamina prima / … caeca uolutant / murmura uenturos nautis prodentia uentos, Claud. 26,259 (sc. lupus portento) casurum prodidit hostem; vgl. auch ThLL X 2,1623,65ff. infaustos … uolatus Für die Junktur vgl. Apul. met. 3,23 ut, quod infaustis uolatibus familiae minantur exitium, suis luant cruciatibus (unheilvoller Flug des Uhu). Der Plural erklärt sich aus dem Flug der beiden Vögel, des miluus und des accipiter. cohibere Zurückgehalten und aufgehalten werden sollen die Ereignisse, die der ungünstige Vogelflug vorhersagt. So ist cohibere im Sinne von prohibere zu verstehen (ThLL III 1546,6ff.). 477–480 Die Probleme dieser Verse, die sowohl den Inhalt und die Sprache als auch die Textkritik betreffen, sind in der Forschung immer wieder diskutiert worden. Die Ausgaben drucken für den Hauptsatz 477f. den Text Martis et inferni uolucres raptoris obuncas / augur auerrunces sacris, wobei auerrunces eine Konjektur BÜCHELERs ist. Eine konjekturale Textänderung ist in diesen Versen unumgänglich, weil der Codex N kein Prädikat im Hauptsatz überliefert (478 ist zu lesen Augur aberrantes). Das von BÜCHELER konjizierte auerrunces ist ein t.t. der Religionssprache – eine inhaltlich sehr passende, kluge und paläographisch unproblematische (‘b’- und ‘v’-Verschreibung ist ein häufiger Handschriftenfehler) Konjektur, die den Auftrag an den Augur, das Negative des Prodigiums abzuwenden, ergänzt. Legt man den so hergestellten Text zu Grunde, muß sacris als ein instrumentaler Ablativ verstanden werden und irgendwelche nicht weiter spezifizierbare Opfer oder Riten oder aber die Auguralkunst (so WOLFF 1996, z. St.)391 meinen. Diese sollen laut Aussage des Textes 478f. unter Aufsicht eines Archegeten dieser Kunst, Ganymed, stehen, zumindest wenn man quibus, wie WOLFF 1996, z. St. es tut, auf sacris bezieht. Erwähnt wird außerdem im letzten Vers der Seher Polles im direkten Zusammenhang mit der Auguralkunst. Ganz abgesehen davon, daß es nicht gelingt, Ganymed in irgendeiner Form einem Opfer- oder Auguralritual zuzuweisen, erscheinen beim Einsetzen der Konjektur zwei weitere Schwierigkeiten. Erstens muß die Länge des ersten ‘a’ in 391 Dies widerspricht der gewöhnlichen Terminologie der römischen Religionssprache, wie sie beispielsweise Cic. nat. 3,5 definiert wird: cumque omnis populi Romani religio in sacra et in auspicia diuisa sit, tertium adiunctum sit si quid praedictionis causa ex portentis et monstris Sibyllae interpretes haruspicesue monuerunt …, wo die sacra von sämtlichen Praktiken der Vorsehung getrennt zu sein scheinen.

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III Kommentar

auerruncare gekürzt werden, eine prosodische Lizenz, die sonst nicht belegt ist (BÜCHELER gesteht sie 1872, 477 mit Verweis auf die Vandalenzeit zu). Das zweite betrifft die Verwendung dieses Terminus: Gewöhnlich sind die Götter selbst diejenigen, die mala auerruncare können und sollen, nicht die Menschen (vgl. z. B. Cato agr. 141,2 Mars pater, te precor quaesoque uti … calamitates intemperiasque prohibessis defendas auerruncesque; Pacuv. trag. 112 di monerint meliora atque amentiam auerruncassint tuam, s. ThLL II 1316,55ff.). Diese sind höchstens in der Lage supplicationes zu diesem Zwecke zu bestimmen (Liv. 10,23,1 prodigia multa fuerunt, quorum auerruncandorum causa supplicationes in biduum senatus decreuit). Hier wäre aber mit der Form der zweiten Person Singular der Augur angesprochen, der sich um die Abwendung des Übels kümmern soll. Somit müßten bei der Konjektur zwei eher ungewöhnliche Eigenschaften des Wortes auerruncare zusammenfallen. Man könnte daher überlegen, den Text an anderer Stelle zu ändern. Ein Ansatzpunkt wäre die für den Leser recht überraschende Anrede an den augur 478 innerhalb des Gebets, das als eines an Venus und Amor eingeleitet worden ist (471). Hier böte sich mit aufer392 ein paläographisch an augur naher Imperativ an Venus an (wie firma 474). Damit wäre Venus für die Erfüllung der guten Vorzeichen, aber auch für die Fernhaltung der schlechten verantwortlich und anrufbar. Und dies scheint eine besonders geschickte Strategie des Paris zu sein. Denn dieser fühlt sich als von Venus Begünstigter, der es gewiß nicht gefallen kann, wenn ihrem Schützling etwas Schlimmes und sogar Lebensbedrohliches passiert. Zudem liegt die Vorstellung sehr fern, daß ein Seher, der als sagax charakterisiert wird und Paris gerade eine unheilvolle Vorhersage gemacht hat, diese einfach übergehen kann und zugunsten des Schuldigen und Hochmütigen die Götter versöhnen würde oder die schlimme Zukunft verhehlen. Eine solche Bitte an ihn, der ja der Wahrheit verpflichtet ist, wird man deshalb nicht einmal Paris zutrauen. Der Melampide steht mit der Ankündigung von Unheil auf der gleichen Seite wie Helenus und Kassandra, also gegen Paris, was dieser sicher bemerkt.393 Als Konsequenz dieser Konjektur ergibt sich, daß an der Überlieferung aberrantes festgehalten werden kann. Dieses Partizip bezieht sich auf die uolucres, die dann von den sacra oder sacri abwichen. Bei sacris handelt es sich mithin nicht um Opfer oder Rituale, sondern um ein Attribut zu einem zu ergänzenden uolucribus, welches die anderen Vögel, die Schwäne und die Tauben, bezeichnet.394 Dann würde deutlich gemacht, daß der Vogel des Mars und der Vogel des Hades von den 392 Aufer findet sich an Götter gerichtet z. B. bei Ov. fast. 2,561f. conde tuas, Hymenaee, faces et ab ignibus atris / aufer, 4,949 aufer, Vesta, diem; an Gott Hymn. 17,6 Walpole aufer calorem noxium. Für die Junktur auferre uolucres (allerdings im Jagd-Kontext) läßt sich [Sen.] Herc. O. 1653f. siue de media uoles / auferre uolucres nube. 393 DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 208. 394 Wenn man sacra, wie WOLFF 1996, z. St. als Tätigkeit des Augur versteht (wobei sich dies schwer mit Ganymed als auctor und conditor artis in Verbindung bringen läßt, wie er selbst bemerkt), dann könnte man für diese beiden Vögel postulieren, daß sie normalerweise keine Vogelschau-Vögel sind. Dies stimmt allerdings nur für den miluus (s. dort), während der accipiter üblicherweise in Vogelschauen begegnet.

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beiden positiven Vogelarten in ihrer Botschaft abweichen. Sacer qualifizierte damit, ausschließlich positiv aufgeladen, die Schwäne und Tauben, stellvertretend für die Paris wohlgesonnenen Gottheiten, als heilige Vögel. Unklar bleibt die Funktion des Ganymed, für den keine Verbindung zur Vogelschau oder zum Auguralwesen belegt ist (s. zu 479). Dennoch muß das Relativpronomen auf die Vögel des Hauptsatzes bezogen werden, sei es auf die negativ konnotieren uolucres obuncae oder auf die in sacris aufgerufenen Glück verheißenden Vögel. Daß er von einem Adler geraubt wird und daß er von Jupiter als Liebesgabe einen Hahn geschenkt bekommen hat, läßt ihn freilich in einer gewissen Verbindung zu Vögeln stehen; jedoch tritt er in den bekannten Geschichten nicht als jemand auf, der eine Macht über die Tiere auszuüben vermag oder im Lesen ihres Fluges eine besondere Gabe hätte. STEFAN FREUND schlägt für die Konstruktion der Verse 476–480 vor, alles von cohibere abhängig zu machen, was den Vorteil hat, daß ohne die Konjektur aufer auszukommen ist. Er übersetzt die Verse infaustos opus est cohibere uolatus / Martis et inferni uolucres raptoris obuncas, / augur, aberrantes sacris, quibus imperat auctor / Troius ille puer Ganymedes, conditor artis / et Polles, cui pinna loquax dat nosse futura mit „Man muß den unglückbringenden Flügen Einhalt gebieten, den mit krummen Krallen und Schnäbeln versehenen Vögeln des Mars und des Unterweltsräubers, oh Seher, ihnen, die sich von heiligen Vögeln unterscheiden, ihnen, denen als Urheber befiehlt jener trojanische Knabe Ganymed, der die Kunst der Vogelschau begründet hat, und Polles, dem die beredte Feder es verleiht, die Zukunft zu kennen“. 477 uolucres … obuncas Obuncus muß sich in Enallage auf ein nicht genanntes rostrum beziehen (für Beispiele für obuncus in Enallage, aber auf genannte Dinge s. ThLL IX 2,326,38ff.), was abenteuerlich scheint, aber gesichert ist durch die kühne Synekdoche, die Sidon. carm. 2,307 gryphas obuncos vorprägt (NORBERT DELHEY: Apollinaris Sidonius, carm. 22: Burgus Pontii Leontii, Berlin 1993, 99; vgl. MAURACH 22006, 131 für Stilmittel dieser Art) und zudem gut zu Dracontius’ gelegentlich kühnen Gedanken und Formulierungen paßt. Das Wort findet sich sonst nur noch einmal bei Dracontius und nur in der Redaktion des Eugenius hex. 606 rostro … obunco = laud. dei 1,725 rostro … adunco; hingewiesen sei noch auf Heptateuchdichter lev. 39 accipiterue sagax aut miluus ore obunco, weil genau die auch hier genannten Vögel Referenzobjekte sind. inferni … raptoris Vgl. für die Junktur Claud. rapt. Pros. 1,1 inferni raptoris. 478 quibus imperat Wenn tatsächlich die Vögel Bezugswort zum Relativpronomen sind, könnte die Junktur auibus imperare bei Sulp. Sev. epist. 3,8 (dort vielleicht etwas konkreter im Sinne von „Macht haben über“) vergleichbar sein. 478f. auctor / Troius ille puer Ganymedes Ganymed ist Sohn des Tros (Troius) und wurde als Knabe von Jupiter geraubt, der ihn zum Mundschenk der Götter bestellte. Unklar ist auf den ersten Blick die Ordnung der Appositionen. So ist zunächst fraglich, ob auctor gleichbedeutend und dadurch redundant zu conditor artis

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III Kommentar

(479) zu lesen ist (so WOLFF 1996, z. St.), oder gemeinsam mit Troius ille auf Ganymed als Sohn des Tros oder des Laomedon und dadurch auf die Frühzeit Trojas verweist. Letzteres ist eher unwahrscheinlich, da der kinderlose Ganymed nicht als auctor des troischen Geschlechtes fungiert. Die Junktur puer Ganymedes noch Aug. civ. 18,13 p.273,1. Wenn Paris hier Ganymed erwähnt, eröffnet dies weiterführende Assoziationen: Denn Ganymed ist von Jupiter aus Liebesgründen geraubt worden, so wie Paris die Helena rauben wird. Im jetzigen Augenblick mag die Verbindung aus der Sicht des Paris noch unbewußt sein, doch Ganymed könnte für Paris eine Rechtfertigungsmöglichkeit sein (WOLFF 1996, z. St.). 479 conditor artis Wie oben schon angeklungen, ist der Hintergrund dieser auf Ganymed bezogenen Junktur unklar. Möglicherweise kann ihm die Rolle als Archeget der Auguralkunst zugewiesen werden, weil er zuerst direkten Kontakt mit dem Göttlichen in Vogelform hatte. MORELLI 1912, 108 vermutet auch in diese Richtung, wenn er über den Adler, der Ganymed geraubt hat und der der wichtigste Auguralvogel ist, einen Bezug herstellt. Dies greift DE GAETANO 2010, 159ff. auf und überlegt Folgendes: Bei Fulgentius (myth. 1,20) künde der Adler als Auguriumsvogel dem Jupiter den Sieg über die Giganten an, woraufhin Jupiter den Vogel zu seinem Zeichen mache. Da in einigen Quellen der Raub des Ganymed keine erotischen, sondern kriegerische Ursachen habe, liege hier eine Vermischung des Ganymedmythos und des Gigantenmythos zugrunde. Aufgrund der schlechten Beleglage kann dies nur Spekulation bleiben. Für den Versschluß vgl. Lucan. 1,636 (über den Seher Tages, als Gründer seiner Zunft), auch Ov. Pont. 2,11,2 = 3,5,2 (Wortspiel) und Sil. 14,216. 480 Polles Die Erwähnung des Polles ist sicher kein Zufall, sondern zeugt von der Gelehrsamkeit des Dracontius. Denn einer der wenigen Belege für die Kenntnis dieses Sehers findet sich im ‘Lexicon Suidae’ s.v. Melampus und s.v. Polles, das beide Seher als die (offensichtlich sprichwörtlich gewordenen) herausragendsten Zukunftsdeuter aufnimmt.395 Dracontius scheint diese Verbindung der beiden (vielleicht unbewußt) auch hier im Gedicht herzustellen, da auch oben 459 ein Nachkomme des Melampus als Augur auftrat.396 Neben der Verbindung zwischen den beiden Sehern sei auch erwähnt, daß Polles ein Werk über die Vogelschau zugeschrieben wird, was ihn wiederum für diese Stelle qualifiziert. cui pinna loquax dat nosse futura Da über Polles so wenig bekannt ist, kann nicht weiter geklärt werden, was der ihn qualifizierende Relativsatz inhaltlich im 395 s. v. Μελάμπους. μαντικῆς εἰδήμων. Ὁ δὲ σύμβολος Μελάμποδος ἢ Πόλλητος ἐδέετο. οὗτοι δὲ ἦσαν ἄριστοι κρίνειν τὰ μέλλοντα; s. v. Πόλλης. ὄνομα μάντεως∙ καὶ κλίνεται Πόλλητος. ὅς συνέγραψε τὸ ἐνόδιον εὐώνισμα, ὅτι ἐὰν ἀπαντήσῃ τις τόδε βαστάζων, τόδε σημαίνει. 396 Die Bewertung des Polles kann ebenso der Vita Procli des Marinus cap. 10 entnommen werden: καὶ τίς ἂν ἐγένετο σύμβολος τοῦτου σαφέστερος, καὶ οὐδὲ Πόλλητος ἢ Μελάμποδος … εἰς κρίσιν δεόμενος, s. auch WILHELM HEINRICH ROSCHER: Polles, ROSCHER 3, 2621 und KARL SCHERLING: Polles, RE 21, 1410–1411, der mit Recht vermutet, daß einer der beiden Polles, die in der Antike unterschieden wurden, aus dem anderen konstruiert wurde.

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Einzelnen zu bedeuten hat. In jedem Fall ist klar, daß die Vogelschauer nicht nur auf den Vogelflug, sondern auch auf das Geschrei und die Laute der Tiere achten mußten, um zu einer umfassenden Deutung zu kommen. So ließe sich hier pinna, das häufig im Kontext von Auspizien in den verschiedensten Bedeutungen begegnet (s. ThLL X 1087,48–67), als pars pro toto für einen bestimmten Auspizienvogel verstehen (pinna für einen Vogel findet man noch Lucan. 1,587f. fulminis … motus uenasque calentis / fibrarum et monitus errantis in aere pinna), der dann mit seinen Lauten zur Zukunftsdeutung durch den Augur beiträgt. Loquax wäre dann weniger als negativ konnotiertes ‘geschwätzig’ zu verstehen, sondern als ‘aussagend, sprechend’ (s. dazu auch für den Kontext der Vorhersagung ThLL VII 2,1655,44ff.). Eine ebenso erwägenswerte Alternative zu dieser Deutung bringt WOLFF 1996, z. St. vor, indem er pinna als ‘Vogelflug’ versteht (wie Verg. Aen. 3,361 oder Ov. fast. 1,448; vgl. ThLL X 1,1087,52–54) und loquax als ‘geschwätzig, sprechend, aussagend’ für denjenigen, der ihn verstehen kann, deutet (s. auch ThLL VII 2,1655,41f.). Die Junktur pinna loquax erinnert lautlich an die bekannte Verbindung pica loquax (Mart. 14,76,1, Anth. 762 R.,33), die hier auch als diagnostische Konjektur vorgeschlagen werden soll. Elstern sind zwar zunächst keine Vögel der Weissagekunst, aber sie stehen ausgehend von der Metamorphose der Pieriden in Elstern in Ov. met. 5,294–678 Apoll sehr nahe. Außerdem werden sie stets als Vögel bezeichnet, die die menschliche Stimme nachahmen können, also im wahrsten Sinne des Wortes loquax, und zwar verständlich, sind (z. B. Pers. prol. 10ff., Stat. silv. 2,4,16ff.). Zuletzt scheinen die beiden Vögel picus (in der Tradition ein echter Weissagevogel, dem Mars heilig) und pica gelegentlich verwechselt zu werden, sonst müßte Isidor etym. 12,7,47 nicht schreiben iste est picus Martius, nam alia est pica (wenn sich der Nachsatz nicht doch aus den Quellen, wie beispielsweise Serv. Aen. 7,190 ergibt, der über die Verwandlung des Picus in einen Specht und der Circe in eine Elster berichtet: Postea Circe, cum eum amaret et sperneretur, irata eum in auem, picum Martium, conuertit: nam altera est pica). Neben vielen kleinen Verweisen auf picus als Vogel der Vogelschau ist besonders Serv. Aen. 7,190 (sc. Picus) augur fuit et domi habuit picum, per quem futura noscebat zentral. Vielleicht könnte man daraus auch für unsere Stelle etwas gewinnen und auf ein, aus Verwechslung entstandenes Picus, cui pica loquax dat nosse futura verfallen, um einen konkreten Vogel zu haben und einen Seher, der in der lateinischen Tradition mehr verankert ist. Vgl. für die Formulierung des Relativsatzes Paul. Nol. carm. 6,218 (über Johannes den Täufer) dederat dominus cui nosse futura oder Prud. cath. 6,44 qui dat nosse futura. Die Klausel nosse futura begegnet Stat. Theb. 10,591 als Versanfang (vgl. dazu MOUSSY 1989, 427), Paul. Petric. Mart. 3,201 als Versklausel. Vgl. auch (über den Augur Liger) Sil. 4,120f. huic … / ars fuit … penna monstrare futura magistra. Für loquax sei noch auf laud. dei 2,787 igne loquaci verwiesen, was vom Dornbusch gesagt wird, in dem Gott zu Mose spricht. In laud. dei 1,257 schreibt Dracontius auch metonymisch nidos … loquaces.

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III Kommentar

481–539 Begegnung und Plan des „Raubs“ Sei es, daß Helena und Paris einander am Tempel begegnen, sei es, am Palast (s. unten für das Problem des Ortswechsels), steht ihre Begegnung mit dem Tempel in enger Verbindung. Durch die Lokalisierung der Begegnung um den Tempel der Venus herum wird eine bestimmte Tradition bedient: Die zufällige Begegnung einer Frau und eines Mannes am Tempel einer Gottheit oder zumindest bei einem Götterfest und ihre Liebe auf den ersten Blick ist gute antike Tradition. Stets zu finden ist dieses Motiv in den antiken Romanen, in denen Religiosität und die Verbindung zur Gottheit eine zentrale Rolle spielen. So treffen Helena und Paris auch Dares 10 am Tempel der Venus aufeinander, wo die schöne Frau gerade ein Opfer abhält.397 Zu solchen Begegnungen verhilft im Roman der Zufall, der auch hier im Gedicht des Dracontius auffällig prominent wirkt. τύχη, zwar eher die lateinische Fortuna, aber dennoch mit dem Zufall assoziiert, ist „Stammgast der Romane“398, so daß anzunehmen ist, Dracontius habe sich für diese Elemente bei der Gattung des Liebesromans bedient.399 481–489 Die Kleidung des Paris (und seiner Gefährten). Gang zum Tempel Nach dem Gebet setzt Paris seinen vom Prodigium unterbrochenen Weg (begonnen 451 mox uertit iturus ad aras) in Richtung Tempel fort. Ein einziger Vers nur treibt die Handlung voran, die übrigen dienen der Kleidungsbeschreibung des Paris. Diese umfangreiche Ekphrasis der Kleidung (weitestgehend vom Wortfeld ‘Glanz und Strahlen’ bestimmt) soll an dieser Stelle gewiß nicht nur ein Glanzstück von Kleinkunst hellenistisch-alexandrinischer Manier darstellen, sondern besitzt auch inhaltliche Relevanz. So ist eine Spannung spürbar zwischen dem gerade supplex erfolgten Gebet und dem Auftritt in vollstem Herrscherornat. Keine Spur mehr von bittender Zurückhaltung, sondern protziges Auftreten in Purpur und Gold. Die wenig standesgemäße Ankunft auf der Insel nach dem Seesturm ist völlig in den Hintergrund gerückt, der Königssohn Paris ist zurück. Man spürt, wie wichtig dem Protagonisten der Schein ist: Die Nässe und der Dreck aus dem Meer sind abgelegt, die furchtbaren Vorhersagen des Prodigiums sind mit einem Gebet erledigt und von ihm gewiesen. Übrig bleibt ein standesgemäß gekleideter junger Herr, frei von sämtlichen Problemen. 397 Weiterhin sind Heliod. 3,5, Chariton 1,1,4ff. zu erwähnen, vgl. BESCHORNER 1992, 101 und Anm. 128, MERKLE 1989, 208, Anm. 284. Zumindest in die Nähe des Romans ist auch das Epyllion ‘Hero und Leander’ des Musaios zu rücken, der mit Sicherheit Achilleus Tatios gelesen hat und romanhafte Elemente in seinem Gedicht verarbeitet (KOST 1971, 29f.). Es ist freilich zu bedenken und zu beachten, daß ‘Liebe auf den ersten Blick’ kein Phänomen ist, das ausschließlich im antiken Roman begegnet, sondern auch anderen Gattungen zugeordnet werden kann, doch ist eine besondere Häufigkeit dort nicht zu leugnen (s. auch SILVANA ROCCA: Il motivo dell’innamoramento a prima vista nell’apuleiana Amore e Psiche ed il romanzo greco, MCSN 1, 1976, 33–47). Aus christlicher Sicht wendet sich Tertullian kritisch gegen die Praxis von Liebeständelei in den Tempeln: in templis adulteria componi, inter aras lenocinia tractari (apol. 15,7; WOLFF 1996, 163). 398 HÄGG 1987, 26. S. auch ZEITLIN 2008, 92f. 399 S. dazu die Einleitung 3.2.

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Bei der Kleidung selbst handelt es sich um einen purpurnen, golddurchwirkten Mantel, zusätzlich mit einer goldenen Fibel (ich verstehe aurum 485 als Material der Fibel, auf das sich dann auch der Relativsatz 486 bezieht) verschlossen. Sie ist mit ihrem Purpur einerseits Standeszeichen und damit Ausdruck von Paris’ Lebensgefühl, andererseits auch ein Zeichen für Tyrannis, schlechten Lebenswandel und Effemination (HARRY O. MAIER: Kleidung [Bedeutung], RAC 21, 1–60) und für den Leser damit Teil einer Charakterzeichnung des Paris.400 Nur etwas mehr als ein Vers ist den Begleitern des Paris vorbehalten, die dadurch, ganz im Hintergrund gehalten, eine recht undefinierte Gruppe bleiben; betont wird dennoch ihre Kleidung, mit der sie aus den übrigen Besuchern hervorragt. Mitten hinein in den eposhaft-erhabenen Auftritt des Paris leuchten kleine Funken bukolisch-romanhafter Elemente: Zum einen erneut prägnant an erster Stelle des Verses 489 nach einem Enjambement das Wort pastor, das daran erinnert, wie sehr der Prinzenornat einen bloßen Schein und eine Verkleidung des Hirten darstellt. Typisch für den Roman ist zum anderen die Schönheit eines Protagonisten, die so wunderbar ist, daß ihre Eigenheiten herausgehoben werden und daß aller Augen auf ihr ruhen (488b–490). 481 pauca precatus erat supplex Supplex precari ist eine epische Junktur (Verg. Aen. 9,624, Sil. 14,168; bei Dracontius noch Romul. 2,12; 8,234; 10,135), ebenso wie pauca precari (Sil. 15,361); beide geben der Stelle episches Kolorit. Äußerlich verhält sich Paris so, wie man es gegenüber einer Göttin erwartet: Er spricht Venus unterwürfig an, erwähnt ihre Allmacht und bittet sie um Erfüllung zweier Wünsche. So wird sich supplex (adjektivisch zu verstehen, anders OKKEN 21996, 368) auf die Anlage des Gebets beziehen, weniger auf die folgenden Bitten, deren Inhalt weniger mit supplex als eher mit arrogans zu bezeichnen ist. templa subibat Subire gibt den Hinweis darauf, daß der Venustempelbezirk wohl ein wenig erhöht liegt und Paris einen ansteigenden Weg verfolgt. Für den Versschluß vgl. Ov. trist. 2,291f. proxima adoranti Iunonis templa, subibit / paelicibus multis hanc doluisse deam, Sil. 3,667 fulgentia templa subimus, Stat. silv. 1,2,160. Für den Ausdruck auch Orest. 817. 482 uestibus … Tyriis Vgl. für die Junktur Prop. 3,14,27, Tib. 1,7,47, Hor. sat. 2,4,84, Sen. Thy. 345. Tyrischer Purpur galt als der beste überhaupt (MURGATROYD 1980, 225, KARL SCHNEIDER: purpura, RE 23, 2, 2000–2020, hier 2007). indutus Die gleiche Formulierung uestibus indutus Tyriis auch laud. dei 3,72 (ein reicher Mensch); Romul. 10,258 (Jason), Orest. 305 ([sc. Aegisth] uestibus induitur 400 Für dieses Verständnis sprechen auch die folgenden Stellen: Paul. Nol. carm. 31,465–468 nolo mihi Tyrio modo Serica murice uestis / ardeat, arsuri corporis inuidia, / nec post purpureos me flamma perennis amictus / ambiat et pretium uestis in igne luam, Romul. 10,257–260 uocat ipsa (sc. Medea) maritum (sc. Iasonem) / uestibus indutum Tyriis, quas sericus ambit / mollis et in medio fuluum distinxerat aurum / blattea puniceo radiabant stamina filo, Orest. 305 uestibus induitur Tyriis homicida et adulter (von Aegisth), s. BRUGNOLI 2001, 76, Anm. 23. Nach DE GAETANO 2010, 176, die das Prodigium als omen imperii deutet, zeige sich Paris im passenden Ornat, nachdem ihm das Vorzeichen ein regnum angekündigt habe.

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III Kommentar

Tyriis), immer von eher negativ konnotierten Herren. Für die mediopassive Form in Verbindung mit Ablativ s. ThLL VII 1,1268,27ff. und H-S 120. murice Sinnvoll erscheint die Interpunktion hinter regni, wie sie alle Editoren außer DIAZ DE BUSTAMANTE, WOLFF und ZWIERLEIN BT vornehmen. Denn so kann murex in der Bedeutung ‘purpurfarbene Kleidung’ (geläufig seit Ov. rem. 708f. confer Amyclaeis medicatum uellus aenis / murice cum Tyrio, Sil. 4,324; 14,658, Stat. silv. 2,1,134, laud. dei 3,61; s. ThLL VIII 1671,31ff.) als Variatio oder Konkretisierung von uestes Tyriae verstanden werden. Expliziert wird es dann im folgenden Satz, in dem die chlamys als die Kleidung des Paris konkret genannt wird. regni Steht entweder als Ersatz für das Adjektiv regius (vgl. auch 118 und 288) oder, vielleicht eher, im übertragenen Sinne für ‘Herrschaft’. Vergleichbar wäre Romul. 10,515 diademate regni. 483 Persarum chlamys Die Chlamys ist ursprünglich ein typisch griechisches Männergewand, das oft besonders kostbar ausgestattet und geschmückt war, sich aber auch bei vielen anderen Völkern findet, und schließlich als herrschaftliches Gewand mit toga, peplum, paludamentum u. ä. gleichgesetzt wurde (WALTHER AMELUNG: Chlamys, RE 3, 2, 2342–2346; ThLL III 1011,82f., z. B. Verg. Aen. 5,250). Es ist eigentlich von Haus aus kein persisches Kleidungsstück. Dennoch ziehe ich die Konjektur Persarum den anderen Vorschlägen vor, da Persa überliefert ist. Daß der Schreiber beim ‘a’ des Wortes aufgehört hat, mag von den vielen folgenden auf -‘a’ auslautenden Wörtern beeinflußt sein (ipsa, purpura, diffusa, fibula). Zudem findet man in den Handschriften recht früh schon eine Abkürzung für -rum, so daß eventuell nur ein kleines Zeichen ausgefallen ist. Unwahrscheinlich ist hingegen sowohl die unbewusste Verschreibung als auch die bewusste Ersetzung der anderen anstelle von Persarum vorgeschlagenen Konjekturen (perspicua, uersicolor [vielleicht nach Sidon. carm. 5,18 ostricolor?] oder perfusa) in ein Persa, da aus verständlichem Text etwas Unmetrisches erzeugt worden wäre.401 Hinzu kommt, daß in den Versen 482–484a das inhaltliche Gewicht nicht so sehr auf dem Kleidungsstück an sich liegt, sondern auf der prächtigen Ausstattung mit Purpur, einer Farbe, die für die Perser von ganz besonderer Bedeutung war (KARL SCHNEIDER: purpura, RE 23, 2, 2000–2020, hier 2010; Xen. Kyrop. 8,3,3. 13). Außerdem sind Perser bei Dracontius auch sonst ein Thema: laud. dei 3,184. 294. 502. 718 (Persarum am Versanfang), satisf. 31 (Persarum am Versanfang), Romul. 5,35; 9,80. Eine Verbindung von Purpur und Gold bei den Persern läßt sich Cic. Cato 59 tum Lysandrum intuentem purpuram eius et nitorem corporis ornatumque Persicum multo auro multisque gemmis dixisse: ‘rite uero te Cyre beatum ferunt, quoniam uirtuti tuae fortuna coniuncta est’ nachweisen. Man könnte auch erwägen, ob persa ein Wortende gewesen ist von Wörtern wie respersa, conspersa, adspersa (dann würde man nicht hinter regni abtrennen, 401 Unter den Herausgebern herrscht Uneinigkeit, welche der Emendationen in den Text zu übernehmen ist: IANNELLI schrieb Persa tamen, BAEHRENS setzte uersicolor ein, VOLLMER MGH und 1914 perspicua, WOLFF 1996 und ZWIERLEIN BT 2017 die Konjektur von DIAZ DE BUSTAMANTE, perfusa.

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sondern den Vers weiterlaufen lassen), wie z. B. Claud. carm. min. 25,140–142 puer … Aethon et Pyrois rutilas respersi murice plumas / prosiliunt, aber an dieser Stelle scheint es eher um den reinen Purpur zu gehen. Für die purpurne Farbe der chlamys s. Ov. met. 14,393, Hyg. 273,15. Vgl. folgende weitere Stellen, die Dracontius vorgeschwebt sein könnten: Ov. met. 5,51 indutus chlamydem Tyriam, Pers. 6,46 chlamydas regum, Stat. Theb. 6,540–542 at tibi Maeonio fertur circumflua limbo / pro meritis, Admete, chlamys repetitaque multo / murice, Hist. Aug. Hadr. 17,12 cum auratis chlamydibus, Sept. Sev. 19,7 cum hirta chlamyde umeros uelaret. Vgl. DE GAETANO 2010, 158 für eine politische Deutung des Kleidungsstücks. ipsa Hebt die Besonderheit des prächtigen Kleidungsstückes heraus. purpura fulgens Der Versschluß purpura fulget Ov. fast. 1,81; die Junktur Lucr. 2,500f., Prop. 4,3,51, Ov. Pont. 3,8,7 (ThLL VI 1,1513,39–43), auch Repos. 45. Das Partizip hat die Funktion eines Adjektivs. Für die Verbindung mit flammare (484) vgl. Stat. Ach. 1,297 (ZWIERLEIN BT z. St.). 484 flammabat Für die übertragene Bedeutung von flammare ‘mit einer roten Farbe überziehen, rot aussehen lassen, rot leuchten lassen’ (WOLFF 1996, z. St.), die vielleicht aus Stellen wie Sen. Med. 387 flammata facies übertragen ist, aber sonst nicht in einer aktiven Form begegnet, s. ThLL VI 1,874,3f.84f. diffusa Ähnlich Ps. Hil. epist. ad fil. 5,2 non etiam purpura ipsa diffundatur in uestem. umeris Bei diffundere steht ganz gewöhnlich der bloße Ablativ oder der Dativ (ThLL V 1107,35). hanc fibula mordax Das Bild ist geläufig: Verg. Aen. 12,274 fibula mordet (Versschluß), Ov. met. 8,318 mordebat fibula, 14,394, Ciris 126ff.; Stat. Theb. 7,658f., Hier. epist. 1,7,3 paludamento in ceruicem retorto … fibulam, quae chlamydis mordebat oras, in humum excussit, Claud. 20,184. Zum ‘Biß der Fibel’ s. auch KORZENIEWSKI 1973. Für die Junktur selbst vgl. Sidon. carm. 5,18f. Die Verbindung steht völlig parallel zu 483 quam purpura fulgens. 485 et ornatus iuueni plus admouet aurum Subjekt zu admouet kann aurum sein, das fibula dann inhaltlich durch ihr Material wieder aufnimmt; ebenso kann noch die fibula selbst als Subjekt gedacht sein, wobei plus ornatus (Genitivus partitivus) appositionsartig zu aurum zu verstehen wäre. Admouere ist im Sinne von addere zu verstehen (für die synonyme Verwendung s. ThLL I 776,42). 486 Das Strahlende der Kleidung wird durch die vielen ‘a’ in diesem Vers unterstrichen, ihr außerordentlicher Schmuck durch die vielen Attribute und Bezugsworte. quo Bezieht sich auf aurum 485. Überliefertes quod könnte man vielleicht halten, wenn man uestis als Genitiv zu per stamina faßte, distincta auf stamina bezöge und verstünde ‘das Gold, das leuchtend über die geschmückten Fäden der Kleidung hin erstrahlt’. Aber quo fügt sich leichter in die Konstruktion und die Entfernung des ‘d’, also die Konjektur IANNELLIs, die von allen Herausgebern in den Text gesetzt

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III Kommentar

wird, kann gut mit einer Dittographie begründet werden; die Ekphrasis der Kleidung endet runder, wenn uestis Subjekt des letzten Satzteils ist. distincta Begegnet von schmuckreicher Kleidung seit Sen. dial. 12,11,2 purpuram intextam auro uariisque et coloribus distinctam et artibus, Curt. 3,3,13 u. ö., Sil. 2,602; 3,27, Hier. epist. 29,5,3, Heptateuchdichter num. 434, Drac. Romul. 10,259. micat Begegnet offensichtlich nur hier mit uestis, die mit Goldfasern durchwirkt erglänzt. Für micare von Farben, auch Purpur, s. ThLL VIII 931,24ff. radians per stamina Für die Praxis, in Purpurstoffe Goldfäden einzuwirken, vgl. Stat. Theb. 11,402, besonders Orest. 253 aurea purpureo radiantur fila colore, ähnlich Romul. 10,260 (blattea puniceo radiabant stamina filo). Zum Verfahren s. MICHAEL PETER HOHMANN: Gewebtes Gold, AW 38, 2007, 79–84. uestis Mit uestibus hatte die Kleidungsbeschreibung begonnen, mit dem gleichen Wort endet sie. 487 cetera turba Die socii, die 434 nach dem Seesturm mit Paris an Land gegangen sind und zu seinen Gunsten bis jetzt in den Hintergrund traten, werden nun wieder in Erinnerung gerufen und bilden sozusagen den Hofstaat des Paris. comes Läßt sich adjektivisch verstehen (wie Stat. silv. 2,1,135 turba comes; ThLL III 1769,63f.), anders WOLFF 1996, z. St., der eine Apposition zu turba annimmt. Cetera turba comes ist eine Variation für socia comitans caterua (449). 487f. Phrygio succincta decore / fulgebat Auch die Kleidung (decus ist im Sinne von uestis mit entsprechender Konnotation zu verstehen, s. ThLL V 210,20) der Begleitung des Paris ist vom Purpur geprägt. Das Strahlende, das bei Paris in so vielen Worten ausgedrückt wurde, repräsentiert hier nur das fulgebat; die Wirkung der auffälligen Kleidung ist auf die Figuren übertragen. Das Adjektiv Phrygius ist hier in der Bedeutung ‘purpurn’ verwendet (PERIN, Onomasticon s.v.), die sich daraus erklären läßt, daß die Phrygier die Purpurgewinnung entwickelt haben (GEORG SCHÖLLGEN: Purpur, DNP 10, 604f.). 488 delubra petens intrauit ad aras Der Wortlaut suggeriert, daß sich der Altar, anders als in der Antike üblich, im Tempel befindet; diese Anordnung legt auch Romul. 10,181–208 nahe, vielleicht auch Orest. 48ff. WOLFF vermutet einen Einfluß der christlichen Kultpraxis (WOLFF 1996, z. St. und S. 201). Zu erwägen wäre, ob ein Bedeutungsunterschied der Worte angenommen werden könnte. Eine Unterscheidung zwischen delubrum und templum gibt beispielsweise Isid. diff. 1,407 prius haec loca altaria non habebant, ut tantum delubra essent, non templa vor (gewöhnlich verwenden die Dichter jedoch die beiden Worte synonym, vgl. Ov. met. 1,373 und 375, Romul. 10,64f. [s. auch KAUFMANN 2006 (a), 157]). Wollte man hier eine Unterscheidung vornehmen, wäre für delubrum der eigentliche Tempelbau anzunehmen, zu intrare gedanklich templum als Tempelbezirk zu ergänzen, in dem sich dann der Altar befände. Für intrare mit ad vgl. ThLL VII 2,59,21–27, ebenso 639f. iam tecta petunt, iam regis ad aulam / intratur. An unserer Stelle muß jedoch leicht anders konstruiert werden, weil man sich diese ara nicht als betretbaren Ort vorstellen wird. So

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haben wir entweder delubra sowohl zu petens als auch zu intrauit zu ziehen, oder, man schwächt intrare in Richtung accedere ab und zieht delubra petens sowie intrauit ad aras zusammen (für diese Bedeutung s. ThLL VII 2,59,80ff., vgl. Paul. Fest. p. 115 Samnites intrantes singuli ad aram). Für delubra petere vgl. Sen. Oed. 199, Ciris 424. Vgl. auch 89 templa petunt und Romul. 10,183 templa petit. 489 pastor Prägnant am Versanfang wird mit ironischer Wirkung durch den Gegensatz zum herrschaftlichen Ornat des Paris die Bezeichnung ‘Hirte’ gesetzt. et in sese cunctorum lumina uertit Mit cuncti wird auf die Schar der Gläubigen rekurriert, die sich am Heiligtum der Venus aufhalten und schon 451f. genannt worden sind. Die Versklausel auch bei Ov. met. 5,545 und Repos. 147. Die Junktur noch Verg. Aen. 8,438; für die Situation auch Liv. 7,34,8 cum omnium in se uertisset oculos, Manil. 2,495 in semet uertunt oculos. 490–539 Innere und äußere Annäherung zwischen Helena und Paris In diesem Abschnitt steht die Annäherung von Helena und Paris aneinander im Mittelpunkt und zwar sowohl innerlich als auch äußerlich. Der Dichter kombiniert geschickt Äußerungen über den Gefühlszustand der Protagonisten mit dem Fortschreiten der Handlung, die schließlich in ausführlichen Gesprächen münden und ab 540 in der gemeinsamen Flucht. 490–493 Helena mustert (gedanklich?) Paris Die Forschung ist bisher stets davon ausgegangen, daß Helena Paris im Tempel sieht, sich verliebt und dann laudat amans (494), und zwar im Stillen, nicht vor aller Ohren.402 Problematisch ist dabei jedoch, daß es nirgendwo einen Hinweis gibt, daß Helena sich zum Tempel begeben hätte (was man zur Not damit erklären könnte, daß das wichtige Ereignis der Venusfeierlichkeit in oder an ihrem Tempel stattgefunden haben muß und Helena natürlich anwesend ist), aber auch keinen über ihren Rückweg zum Palast. Dagegen heißt es von Paris 498f. at pastor repetit post sacra Dionae / hospitium und von Helena, daß sie ihm entgegengeht (499b regina uenit). Schwierig ist neben dem narratologischen Bruch auch die Bedeutung von effigiat (491). Mit einem neuen Verständnis besonders des Ausdrucks errans oculis (490) bringt OTTO ZWIERLEIN für die problematische Stelle einen neuen Erklärungsvorschlag in die Diskussion: Helena befindet sich seinem Verständnis nach nicht im Tempel, sondern noch immer in ihrem Palast, so daß ab 490 der Handlungsort wechselt. Daß Helena Paris nur in ihrer Imagination vor sich sieht, sei in effigiat per cuncta uirum festgehalten; das gleiche Motiv finde sich schon im Brief des Paris an Helena, [Ov.] epist. 16,37f., wo er die Schönheit der Helena in seinem Inneren entstehen läßt.403 Hinzugefügt werden kann auch eine strukturelle Parallele, da sowohl Paris im Brief, als auch Helena bei Dracontius von der Schönheit des jeweils anderen durch die fama 402 BRETZIGHEIMER 2010, 392 403 S. auch die Einleitung 3.3 und 3.6.

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III Kommentar

erfahren haben (38 bzw. 442–444); übereinstimmend liegt der Grund für die Verliebtheit auch ohne ein „echtes“ Sehen in Amors Liebespfeil (39f. bzw. 495ff.). So sei die Verbindung errans oculis (490) als Vorstellung vor dem inneren Auge zu verstehen,404 was sich erst aus den folgenden Versen ergebe und durch sie gesichert werde. Gegenüber der sehr reizvollen Idee lassen sich freilich gewisse Bedenken äußern. Zum einen dürfte man annehmen, da Helena zu Beginn der Szene unter den Festgästen genannt wird (440f.), daß sie eine aktive Teilnehmerin des Venusfestes ist und daher auch an den Opferveranstaltungen im Tempel teilgenommen haben sollte. In die gleiche Richtung lenkt den Leser zunächst gewiss auch der Übergang von der echten sinnlichen Wahrnehmung der Festgäste (489) zum aspicit der Helena. Ihre Abwesenheit von den Feierlichkeiten im Tempel sollte einen besonderen Grund haben, der genannt werden müßte. Allerdings ließe sich Helenas Verbleib zu Hause daraus ableiten, daß sie Paris zu sich einlädt, sobald sie von seiner Ankunft hört, was weniger leicht vom Tempel aus vorzustellen ist. Nimmt man an, daß Helena nicht am Tempel war, dürfte zum anderen die indirekte Äußerung des Paris 515 sacra Dioneae matris uel templa405 petisset wundernehmen, die doch recht deutlich zeigt, daß Helena auch dem Wissen des Paris nach zum Tempel und zu den Feierlichkeiten gekommen war. Das Verständnis der Stelle steht und fällt mit der Bedeutung von effigiare, das entweder ‘bilden, abbilden, nachbilden’ oder in übertragener Verwendung ‘sich vorstellen’ heißen kann. Beides läßt sich bei einer im Tempel anwesenden Helena kaum erklären. Die einzige – sonst nicht zu belegende – Möglichkeit wäre es, oculis aus 490 noch zu effigiat zu ziehen. Helena würde dann mit Hilfe ihrer umherschweifenden Augen das Aussehen des Paris nachzeichnen, nachbilden, was als Ausdruck für ein intensives Mustern gelten könnte. In diesem Fall würden beide, Helena und Paris, getrennt voneinander den Tempel verlassen und zu ihrer Unterkunft gehen, wo sie dann auch miteinander ins Gespräch kommen (498ff.), wie WOLFF 1996, z. St. es vorschlägt. Dies scheint vielleicht nicht ganz so unwahrscheinlich zu sein, wie ZWIERLEIN 2017, 114, Anm. 363 annimmt, denn in uenit (499) kann durchaus Helenas Ankunft am Palast ausgedrückt sein. Außerdem hatte Paris sie ja im Tempel nicht bemerkt, sondern dort stand sie in der bewundernden Menge noch als anonyme Person. Zudem dürften beide in diesem Moment noch den Konventionen ihres Standes folgen. Das heißt, sie treten in der Öffentlichkeit nicht als Privatpersonen auf, sondern als Prinz und Königin mit einem entsprechenden Gefolge, das auch hin und wieder in Erscheinung tritt (445. 487). Beide dürften sich in dieser Gruppe zur Unterkunft der Helena begeben haben, wenn Helena anwesend war. Eine Entscheidung zwischen einer realen oder imaginierten Begegnung fällt schwer, verändert allerdings am Handlungsverlauf und der Personenzeichnung nichts Entscheidendes.

404 S. für Belegstellen den Kommentar z. St. 405 ZWIERLEIN BT druckt BÜCHELERs Konjektur tempta.

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490 aspicit hunc errans oculis ornata Lacaena Illustriert wird – nach ZWIERLEIN 2017, 115f. – die vor Augen irrenden Bilder, die sich wie ein Traum darstellen (er führt als Stellen Petron. 128f. errantes oculos und Stat. Theb. 10,150 errare oculi an) oder wie Bilder der Phantasie (Ov. trist. 3,4,56ff. ante oculos errant, Sen. Thy. 281f. tota iam ante oculos meos / imago caedis errat), so daß errans schließlich fast im Sinne von imaginans zu verstehen ist (Porph. Hor. carm. 4,1,37f. ut fit errore quodam mentis, imaginari). Nimmt man eine im Tempel anwesende Helena an, dürfte errans oculis wie errantibus oder uagantibus oculis zu verstehen sein. Es wird ausgedrückt, daß Helena nicht recht weiß, wo sie zuerst hinschauen soll. Mit Blick auf 518 sic oculis ornata suis ließe sich oculis vielleicht ἀπὸ κοινοῦ sowohl auf errans, als auch auf ornata beziehen. Das Attribut ornata mag aber auch darauf verweisen, daß Helena sich besonders herausgeputzt hat – sei es für die Feierlichkeiten im Tempel, sei es in Erwartung des kommenden Gastes. Rhythmus und Wortmaterial des Versanfangs erinnern an Ov. met. 3,577 aspicit hunc Pentheus oculis (WOLFF 1996, z. St.; ähnlich 2,748 aspicit hunc oculis). Ein typisches Beispiel für die Verwendung bewußt oder unbewußt präsenter Wendungen, die vom Dichter an geeigneten Stellen eingesetzt werden. Die Funktion, die das Prädikat an Vers- und Satzanfang bei Ovid besitzt, nämlich Gliederung und Ankündigung eines Neueinsatzes (BÖMER 1969, 590), gilt hier gleichermaßen. Der Blick wendet sich an dieser Stelle von Paris auf Helena und ihre Reaktion. 491 effigiat per cuncta uirum VOLLMER MGH 343 und ThLL V 2,184,76ff. glossieren effigiare zu Recht mit „sibi Paridis fingit speciem“; es wird deutlich, daß Helena den Paris nur in ihrer Vorstellung betrachtet. Vgl. die im ThLL dazu außerdem angeführte Stelle Boeth. in Porph. comm. sec. 1,11 p. 164,11 si quis equum atque hominem iungat imaginatione atque effigiet Centaurum (hier ist allerdings ganz klar von imaginatio gesprochen, was an unserer Stelle nicht so deutlich ausgedrückt ist). Wenn Helena sich im Tempel befindet, dann dürfte sich ihre Vorstellung auf das beziehen, was sie von Paris im Moment nicht sieht, weil es unter der Kleidung verborgen ist; dies wäre in per cuncta ausgedrückt. Die von WOLFF 1996, z. St. angesetzte Bedeutung (bei einer Helena im Tempel) „s’imprègne de l’aspect de Pâris“ läßt sich für effigiare nicht belegen. Ebenfalls nicht zu belegen, aber etwas näher an der Grundbedeutung ‘bilden, gestalten’, wäre eine Ergänzung des oculis aus dem Vers zuvor. Helena würde dann mit ihren Augen Paris und seine Kleidung, sein ganzes Aussehen nachbilden (per cuncta wäre dann ‘jedes [sichtbare] Detail’). 491bf. Indirekter Fragesatz abhängig von effigiat. 492 lanugine malas Ein junger Mann galt in der Zeit seines ersten Bartflaums in der Antike als besonders hübsch (KENNETH JAMES DOVER: Greek Homosexuality, London 1978, 172; solche Beschreibungen finden sich seit Homer, Od. 11,319f., WOLFF 1996, z. St.). Typischer Versschluß, der 14 Mal vor Dracontius in

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III Kommentar

hexametrischer Dichtung begegnet (auch mit der Form malae), bei Dracontius selbst noch laud. dei 3,703. Das Bild noch Orest. 528 uestitos sub flore genas lanugine crispa. 492b–493 Für die unklare Konstruktion wurden bereits mehrere Lösungsvorschläge vorgebracht: WOLFF 1996, z. St. nimmt ein Anakoluth an. BAEHRENS konjiziert ut für in, und fügt einen zweiten indirekten Fragesatz an. RIBBECK 1873, 467 setzt ut für et. Zu erwägen wäre auch der Ansatz an einer anderen Stelle: Es scheint unwahrscheinlich, daß Paris Subjekt zu umbret ist, weil Bartwuchs – außer durch Rasur, aber beim ersten Bart auch nicht sofort – nicht beeinflußt werden kann (vgl. auch die passive Verwendung von umbrare in diesem Zusammenhang Stat. silv. 3,4,79 umbratus … genas). Man kann sich nicht mit einem Bart in gleicher Weise wie mit Kleidung schmücken. Es wäre zu überlegen, ob nicht flosculus schon Subjekt zum ersten Teil des Satzes sein könnte (als leichtes ὕστερον πρότερον, wenn man annehmen mag, daß der Bartwuchs erst hervorbrechen muß, um die Wangen dann zu umschatten). Qua lanugine wäre dann vielleicht als Ablativus qualitatis zu verstehen. Problematisch könnte dabei sein, daß flosculus und lanugo letztlich dasselbe meinen; andererseits ist es nicht ungewöhnlich, daß Dracontius Synonyme zueinander in Beziehung treten läßt (so z. B. im nächsten Vers mit amans und flammata). 493 Vielleicht sind Idee, Wortwahl und klangliche Versgestaltung von Ov. met. 13,844f. coma plurima toruos / prominet in uultus umerosque ut lucus obumbrat inspiriert. umbret Für die übertragene Verwendung vom Bartflaum s. auch Stat. silv. 3,4,78f. iuuenis … / umbratus … genas. prorumpat flosculus Dracontius verwendet als erster flosculus übertragen für den ersten Bartflaum. Ihm folgt Ven. Fort. epist. (carm. 10,2) 9 p. 230,27 (ThLL VI 1,938,58–60). Das Bild wird sowohl im Subjekt als auch im Prädikat beibehalten, wird doch prorumpere seit Colum. 4,22,6 besonders in der spätantiken Literatur vom Aufwachsen der Pflanzen genutzt (ThLL X 2,2162,76ff.). Zusammen mit dem folgenden ore gibt das in flosculus enthaltene osculum einen versteckten Wortwitz, der Helenas Verliebtheit und Begehren unterstreicht (dieses Verständnis wird vielleicht unterstützt durch Romul. 2,108 roseis … dabit oscula labris). in roseo … ore Vergilische Junktur Aen. 2,593; 9,5, Ov. Pont. 1,4,58, die Dracontius in ihrer Bedeutung leicht erweitert hat, indem er den Gesichtsteil um den Mund herum meint. Im Bild des Pflanzenwachstums übernimmt das Gesicht die Rolle des Bodens. Roseus betont als Epitheton zu menschlichen Körperteilen meist Jugend und Schönheit (OLD s. v. 1661, 2c). Dracontius verwendet das Adjektiv häufig in der Verbindung mit Körperteilen der Venus oder geliebter Menschen (KAUFMANN 2006 [a], 219; Romul. 2,7. 66. 108; 10,157).

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494–507a Auswirkungen der Verliebtheit auf Helena und ihr Verhalten Wie oben bei der Beschreibung der Kleidung des Paris das Wortfeld ‘Glanz und Strahlen’ vorherrschend war, ist es nun das Wortfeld ‘Flamme, Feuer, Brennen’, das Dracontius zum Ausdruck der Liebesglut ausgeprägt nutzt.406 Gerade im ersten Vers bestimmt der Vokal ‘a’ sämtliche Worte – wohl ein Ausdruck des verliebten Staunens. Problemlos kann Helena, auch wenn sie sich Paris nur vor dem inneren Auge vorstellt, seine Schönheit preisen (laudat, 494), da sie von eben jener gerüchteweise gehört hatte (442–444); ist sie im Tempel anwesend, rühmt sie ihn nur innerlich.407 Der Leser erfährt in diesem Abschnitt, wie Helena zu dieser Verliebtheit gekommen ist, nämlich in gewohnter Weise durch den Pfeil Amors, den dieser auf Befehl seiner Mutter abgeschossen hatte.408 Dieses Thema der Zusammenarbeit von Venus und Amor findet sich nicht nur in Romul. 8,409 sondern ist besonders in Romul. 2 und 10410 deutlich ausgeprägt. Dabei ist bemerkenswert, daß die sich an einen Plan der Götter anschließende Verliebtheit der Betroffenen am Ende ausschließlich zu deren Verderben veranlaßt wird. So wird im ‘Hylas’ von Amor selbst ein Katalog seiner Fähigkeiten präsentiert, der noch heiter komisch beginnt, wenn sämtliche Verwandlungen Jupiters in verschiedene Gestalten referiert werden, mit denen sich der Gott jeweils ganz seiner Göttlichkeit entledigte, dann jedoch immer heftiger wird und sich zu einem furiosen Finale inzestuöser, abartiger Liebe steigert, die ganz verderblich wirkt. So ist in der ‘Medea’ zwar zunächst die Bitte der Iuno an Venus, ihren Sohn zu schicken und Medea in Jason verliebt zu machen, zur Rettung Jasons gedacht,411 doch bringt diese Verliebtheit Medea am Ende Wahnsinn, Tod und Verderben.412 Die Ausprägung der Anzeichen der Liebe ist in der lateinischen Literatur recht standardisiert.413 Bei Dracontius selbst findet sich Romul. 2,112–116 eine vergleichbare Szene mit ähnlichen Elementen (geschildert werden Aussehen und 406 Beschreibungen von Verliebtheit und ihren Auswirkungen finden sich bei Dracontius noch Romul. 2,112ff. und 10,222ff. 407 ZWIERLEIN 2017, 116; BRETZIGHEIMER 2010, 392. 408 Da das Ereignis aus rückblickender Perspektive mitgeteilt wird und als Zeitangabe nur das unspezifische dudum dient, ist eine zeitliche Verortung des Geschehens kaum möglich. Überzeugend zeigt BRETZIGHEIMER 2010, 391f., daß es nach dem Gebet des Paris stattgefunden haben muß, so daß von Seiten der Venus die Abfolge „Bitte – Erhörung – Befehl an Amor“ postuliert werden kann. Da der ganze Ablauf seit der Landung des Paris auf Zypern nicht allzuviel Zeit in Anspruch genommen haben kann, bevorzuge ich die Übersetzung „eben, gerade“ (s. auch den Kommentar z. St.). 409 Auch Paris erwähnt es in seinem Gebet an die Göttin 473f. 410 Die ganze Szene umfaßt die Verse 49–170. 411 Romul. 10,61f. mitte pharetratum puerum, mea Cypris, Amorem / igne tuo flammata cadat furibunda uirago. 412 Amor selbst stellt es im Gedicht wie ein Kräftemessen dar, sowohl mit Medea, als auch mit der Göttin Diana (Romul. 10,150–155, s. KAUFMANN 2006 [a], 216–217). 413 S. zu 499–501. In mythisch-allegorischen Schilderungen trifft Amor die oder einen der Liebenden mit seinem Pfeil. Die Gesichtsfarben rot und weiß sind deutliche Zeichen für Verliebtheit. Aus diesem Grund muß eine Parallelisierung zwischen Helena und Lavinia an dieser Stelle zumindest nicht zwingend sein, wie sie STOEHR-MONJOU 2007, 630f. vermutet.

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Verhalten der Nymphen, nachdem sie, vom Pfeil Amors getroffen, in Liebe zu Hylas entbrennen): pallescunt omnes, subitus rubor inficit ora, tendunt membra simul, cunctis respirat hiatus oris et ad crines digiti mittuntur amantum, incipiunt fari mediaque in uoce resistunt: tot signis uulgatur amor.

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494 Das Prädikat, das Subjekt und alle Attribute des Subjekts sind um das alleinstehende Objekt herum gruppiert. Der Text bildet die Gemütsverfassung der Helena ab, deren Gedanken um Paris kreisen. Die 12 ‘a’, die sich in diesem Vers befinden, mögen ein offenes Staunen illustrieren, das Helena dem uir – dem einzigen Wort ohne ‘a’ – entgegenbringt. In enger Verbindung steht der Vers zu 490, mit dem er gemeinsam die drei Verse mit der Beschreibung des auffälligen Äußeren des Paris rahmt. Das Prädikat, erneut an Vers- und Satzanfang, ist vom neutralen ‘anschauen’ zu wertendem ‘lobpreisen’ entwickelt; das Epitheton der Helena ist gesteigert, von einem rein äußerlichen ornata zur Bezeichnung des Gefühlszustands flammata, der sich nun eingestellt hat. Daß die beiden Versschlüsse reimen, bindet sie noch enger aneinander. laudat amans mirata … flammata Drei recht synonyme Attribute (für mirari in der Bedeutung amare s. ThLL VIII 1065,59–62) auf Helena deuten die Heftigkeit an, mit der sie von Liebe ergriffen wird. Eine Variation findet sich 18 Verse später aus der Sicht des Paris: reginam laudabat amans, vgl. auch Romul. 10,77 amet et laudet (sc. Medea Iasonem). Flammare in der Bedeutung ‘mit Liebe entflammen’ findet sich bei Dracontius noch Romul. 2,18f. Die Verbindung der drei ersten Worte findet sich auch Aug. serm. 284,3 miramur ista, laudamus ista, amamus ista. Laudare und mirari werden hingegen weit häufiger zueinander gestellt (ZWIERLEIN 2017, 116, Anm. 380): Romul. 9,189; 10,367, Hor. epist. 2,1,64, Stat. Theb. 11,537f., Mart. 3,51,1; 4,49,9. uirum Drei Verse zuvor, 491, an gleicher Position. Hier als Objekt zu laudat, amans und mirata. 495 ignibus Idaliis Instrumentaler Ablativ. Gleiche Junktur in gleicher Bedeutung auch Romul. 2,150. Für Idalius s. als Beiwort der Venus zu 438. Das Feuer der Venus auch Aedit. epigr. 2,5 ignem Veneris. dudum Zur Angabe vergangener Zeit, jedoch ohne Anzeige einer langen Dauer, in seiner ursprünglichen Bedeutung von ‘eben, gerade’ (ThLL V 1,2175,45ff., H-S 610); s. auch oben die Einleitung zum Abschnitt, sowie BRETZIGHEIMER 2010, 391f. flammiger ales Junktur aus Stat. Theb. 8,675 (gemeint ist dort der Adler; vgl. auch AUGOUSTAKIS 2016, 319). Flammiger nur bei Dracontius als Epitheton zu Amor: Romul. 10,112. 145 (alleinstehend), 176 (ThLL VI 1,873,32–36). Flammiger bedeutet wörtlich flammas ferens/gerens (ThLL VI 1,873,16), nicht ardens, weil es das Wesen Amors ist, andere mit Liebe zu entflammen. So wird man auch Romul.

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10,113f. quocumque propinquat / aut ubicumque fuit, blando feruore uaporat nicht unbedingt an eine eigene Hitze des Amor denken müssen, sondern an die Glut, die sich ergibt, wenn er mit seinem Pfeil die Liebenden entflammt (anders KAUFMANN 2006 [a], 191). Ales ist adjektivisch zu puer aufzufassen; es begegnet (auch substantivisch) bei Dracontius häufiger von Amor (überhaupt zu belegen seit catal. 14,9): Romul. 2,75. 109; 6,79; 10,145. 165. 496 matre iubente Gleiche Verbindung auch [Ov.] epist. 21,88 und Mart. 7,80,10. Romul. 10,127 wird der Auftrag, den Venus dem Amor gibt, mit sic blanda iubet eingeleitet. puer Hübsch ist die Stellung zwischen den beiden Ablativi absoluti, die den kleinen Amor in der Vorstellung noch kleiner wirken lassen. Seit Catull. 64,95 zu allen Zeiten für Amor zu belegen (ThLL X 2,2513,15ff.). telo candente Diese Junktur noch Romul. 10,72 vom Blitz des Jupiter (s. dazu KAUFMANN 2006 [a], 162), hier das Partizip noch 467 Phoebo candente (für die Form candente s. NEUE / WAGENER 2, 104). In bildlich-übertragener Bedeutung (im Sinne von ardens, feruens) findet sich candens noch Vet. Lat. Eph. 6,16 D (Lucif. moriend. 5 l. 62) scutum fidei, in quo possitis omnia iacula nequissimi candentia extinguere (ThLL III 235,60–63; seit Verg. Aen. 12,91 ganz gewöhnliches Attribut zu Waffen in dieser Bedeutung). 496f. medullas / … iaculatus Wegen der Wortstellung dürfte eher medullas mit iaculatus und amorem mit usserat zusammenzuziehen sein (ZWIERLEIN 2017, 117), wenn man nicht mit WOLFF 1996, z. St. medullas urere verstehen möchte (diese Verbindung z. B. Sen. Med. 819, Lucan. 5,811). Man müßte dann eine hyperbatonartige Struktur von medullas … usserat annehmen, in das iaculatus amorem eingeschoben ist. Versteht man medullas zusammen mit iaculatus, dann ist für iaculari die Bedeutung ‘treffen’ anzunehmen (ThLL VII 1,54,7ff., ZWIERLEIN 2017, 117). Für das Bild vgl. Ov. met. 1,473 (sc. Amoris sagitta) laesit Apollineas traiecta per ossa medullas. Mit dem folgenden urere amorem mischen sich die Verletzungen durch den Pfeil (iaculatus) und durch das Feuer (usserat). 497 Ledaei partus Für die Junktur vgl. Prop. 1,13,30 Ledae partu, für partus als Kind von Menschen s. ThLL X 1,540,7ff. Das Adjektiv Ledaeus begegnet seit Vergil (PERIN Onomasticon II 98). Vgl. auch 653 Ledaea … propago. furtim Von Amor heißt es auch Romul. 10,182f., daß er heimlich handelt: numen amantum / furtim templa petit. 497f. amorem / usserat Für urere im Liebeskontext s. OLD s.v. 2107, 6a. Die Verbindung steht für amorem inflammare (für diese gebräuchlichere Junktur s. ThLL VII 1,1455,2ff.) und greift 494f. flammata … ignibus wieder auf (ZWIERLEIN 2017, 117). Oft spielt Dracontius auch mit bekannten Zusammenstellungen und deutet sie grammatisch um. Hier könnten ihn Kombinationen wie Verg. ecl. 2,68 me tamen urit amor und Ciris 259 uror amore zur Neugestaltung inspiriert haben.

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III Kommentar

498 at Die Funktion dieses Konnektors ist nur schwach adversativ, indem er den Wechsel von der Handlung um Helena herum zu Paris anzeigt. Hauptsächlich dient das Wort hier zur Anknüpfung an den unterbrochenen Weg des Paris und besitzt daher auch eine temporale Bedeutung (s. dazu H-S 489; ALFRED EDWARD HOUSMAN: Notes on Grattius, CQ 28, 1934, 127–133, hier 131f.). post sacra Dionae Verkürzt für einen Temporalsatz. Sacra wird am ehesten die offizielle Opferzeremonie anläßlich des Venus-Festes meinen, eher nicht ein privates Opfer des Paris; es mag auch das Heiligtum an sich bezeichnen (wie in 436). 498f. repetit … / hospitium Paris nimmt den Weg zu seiner angebotenen Unterkunft wieder auf (für die Bedeutung von repetere [in re- ausgedrückt ist die Wiederaufnahme einer Tätigkeit nach einer Unterbrechung, vgl. WOLFF 1996, z. St.] s. OLD s. v. 1618,1a, vgl. für den Ausdruck Apul. met. 9,5,2 maritus … hospitium repetit). Ganz am Rande mag auch die Vorliebe des Dracontius für juristische Termini an dieser Stelle aufscheinen. Denn der Begriff repetere wird in rechtlichen Zusammenhängen verwendet, um die Rückforderung widerrechtlich genommener Dinge auszudrücken (bei Repetundenprozessen beispielsweise, OLD s. v. 1619,9). Nimmt man an, daß in Paris’ Sinne vom repetere hospitium gesprochen wird, dann beschuldigt er sozusagen die für das Prodigium verantwortlichen Götter, daß sie ihn widerrechtlich von Helena und der Zeit mit ihr abhielten, ihm das hospitium bei ihr versagten, was er nun zurückfordert. Die Charakterisierung des Paris, kann man diese Töne mithören, erhält einen äußerst blasphemischen Einschlag. 499 regina Für Helena schon 447. Steht in einem spannungsreichen Gegensatz zum im Vers davor fast an gleicher Versposition vorausgehenden pastor (die Bezeichnung für Paris wirkt hier besonders ironisch-kritisch, weil sie inhaltlich keinen Anknüpfungspunkt besitzt). 499f. uenit … / nam … ibat Auch wenn Dracontius die Tempora gewöhnlich stets so wechselnd verwendet, daß man selten eine plausible Erklärung dafür finden kann, helfen sie an dieser Stelle zum Verständnis. In 499 wird deutlich, daß Helena mit weiß-rotem Gesicht am gemeinsamen Treffpunkt ankommt, und in 500 erfährt der Leser mit nam eingeleitet, wie es dazu gekommen ist: Schon den ganzen Weg (durchs Haus) über (duratives Imperfekt ibat) ist ihr Gesicht von Liebesflammen in rot und weiß überzogen worden. pallente rubore / … flammis … pallentibus Das gleiche Bild in verschiedenen Variationen. Das Oxymoron begegnet als Zeichen von Verliebtheit noch Romul. 2,112 pallescunt omnes, subitus rubor inficit ora und 10,229 permixto pallore rubens. Vgl. auch Stat. Ach. 1,309f. palletque rubetque / flamma repens und Ov. am. 3,3,6 niueo lucet in ore rubor, Romul. 6,8 candor pallorque ruborque. Für pallere als Zeichen der Liebe s. ThLL X 1,123,79–78. Der Versschluß pallente rubore noch Romul. 7,46, wo die Farben allerdings pudor kennzeichnen (GALLI MILIĆ 2008, 343). Flamma und pallere Val. Fl. 7,586 und oben Stat. Ach. 1,309f.

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Wohl berühmtestes Beispiel für eine epische Frau, die die Farben rot und weiß annimmt, ist Lavinia im 12. Buch der ‘Aeneis’, wo das Farbspiel in einen Vergleich gekleidet ist: Indum sanguineoue uti uiolauerit ostro / si quis ebur, aut mixta rubent ubi lilia multa / alba rosa, talis uirgo dabat ore colores (67–69). Für rot und weiß als Zeichen des Lebens und der Schönheit vgl. auch BLÜMNER 1892, 160; 163. 500 flammis perfusa genas pallentibus Wohl inspiriert von Verg. Aen. 12,64f. lacrimis Lauinia … / flagrantis perfusa genas (GRILLONE 1982, 533). Genas ist Akkusativ der Beziehung (vgl. MAGUINNESS 1960, 71f., H-S 36f.). Perfundere zur Beschreibung der Farbgebung bzw. Beleuchtung seit Lucr. 1,148 (ThLL X 1,1422,26ff.). 501 fusus uterque decor manifestum uulgat amorem Für die Wendung uulgare amorem vgl. Romul. 2,116 und (in anderer Bedeutung) Ov. met. 4,276 ‘uulgatos taceo’ dixit ‘pastoris amores’ und trist. 2,429 multos uulgauit amores. Manifestum ist proleptisch zu verstehen. Vgl. für fusus am Versanfang und den gleichen Rhythmus 106 fusus in ora rubor. Decor steht in der Bedeutung ‘Schönheit’ für die beiden Farben rot und weiß (ThLL V 1,208,2f.; VOLLMER MGH 337; WOLFF 1996, z. St.). Dieser Wortgebrauch ist recht ungewöhnlich, so daß color von BÜCHELER und BAEHRENS vorgeschlagen wurde (die Junktur uterque color ist gebräuchlich: Ov. am. 1,14,10, Prop. 2,25,42, Stat. Theb. 6,337). Dennoch dürfte gerade die Besonderheit des Gebrauchs für decor sprechen, das zudem im Zusammenhang mit Helena ohnehin passend ist. 502–507a Helena faßt sich ein Herz und spricht den begehrten Paris an Die ersten ernsthaften Annäherungsversuche gehen von Helena aus, die sich aufs Heftigste verliebt hat. Sie erhält auf den ersten Blick keine wirklich negative Zeichnung, stattdessen wird Paris im folgenden Abschnitt, weil er die Gefühle dieser Frau schamlos ausnutzt, explizit als perfidus hospes (507) bezeichnet. Doch schaut man genauer hin und betrachtet die genutzten Worte, kann man schnell darauf verfallen, daß Dracontius Helena und ihr Verhalten insgesamt negativ konnotiert wissen möchte. So kann beispielsweise pudibundus (502) ambivalent ‘beschämt, schüchtern, schamhaft’ meinen, aber auch im Sinne von turpis verwendet werden. Der Leser läßt sich zunächst vom Mitleid für Helena einnehmen, die Opfer ihrer Gefühle wird, für die sie nichts kann. Man erhält dann aber den Hinweis, daß sie sich ganz falsch verhält, da sie ja verheiratet ist und ihre Gefühle zurückhalten müßte, wobei ihr der pauor (502) helfen könnte, den sie dann aber heroisch besiegt. Dazu kommt das Prädikat petit, das ganz neutral für die Bewegung eines Menschen zum anderen hin verwendet werden kann, bei dem aber gelegentlich auch die Idee eines insidiari mitschwingen kann (s. zu 502), so daß dieses Wort in seiner Bedeutung ebenfalls ambivalent gehört werden kann. Auch die Information quaerit, iuuenem quibus appetat ardens / dictorum uerbis (506f.) vermittelt den Eindruck, daß die Frau sehr genau weiß, was sie will, und von ehrlichen Liebesflammen übermannt geflissentlich übersieht, daß sie bereits

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einen Ehemann hat. Gegenüber Paris, der sie manipuliert, ist sie höchstens wegen ihrer ehrlichen Gefühle aufgewertet. Die Fragen, die Helena dem Paris stellt, sind typisch epische Fragen bei einer Begegnung von Fremden. Als Variation zu den gewöhnlichen direkten Reden des Epos sind sie hier in indirekter Rede referiert wiedergegeben. Inhaltlich bemerkenswert ist, daß Helena durch die fama bereits über Ab- und Ankunft des Paris unterrichtet ist und ihn daraufhin selbst eingeladen hat (444ff.), sie ihr Wissen später (531ff.) auch selbst zugibt. Daraus ist zu schließen, daß die Fragen rein floskelhaft, als ungezwungener Gesprächseinstieg, als Strategie zur Vermeidung einer erzwungenen Stille und zur „Wahrung des Protokolls“ zu verstehen sind. 502 Die p-Alliteration gibt lautlich den heftigen Herzschlag der Helena wieder. pudibundus Prädikativ (s. dazu ThLL X 2,2483,1–6) und sicher bewußt ambivalent, entweder in der negativen Bedeutung von turpis, pudendus (ThLL X 2,2483,25–33), oder, positiver, im Sinne von pudicus (ThLL X 2,2483,19–24), gebraucht (s. auch die Einleitung zum Abschnitt). petit Für die Verwendung bei menschlicher Annäherung s. ThLL X 1,1955,3–33. Gelegentlich kann insidiari in der Konnotation des Wortes mitschwingen (z. B. Verg. Aen. 1,717 [sc. Cupido Iuli forma gerens] reginam petit), was auch hier wahrscheinlich ist (s. auch die Einleitung zum Abschnitt). cohibente pauore Singuläre Junktur. Pauor in der Bedeutung ‘ängstlich bebende Erwartung’ (KIESSLING / HEINZE 71961, 58; auch WOLFF 1996, z. St., der es allerdings mit „émotion“ leicht abgeschwächt versteht). 503–505 Die Fragen nach der Herkunft sind typisch für Begegnungen von Fremden im Epos: z. B. Verg. Aen. 8,114 qui genus? unde domo? (s. auch zu 70). S. o. die Einleitung zum Abschnitt. 503 hortatur Hortari mit bloßem Konjunktiv (indicet 504), s. ThLL VI 3,3012,21– 46 und H-S 530. feruens Das Brennen der Liebesglut läßt Helena ihren cohibens pauor überwinden. Das Wort feruens schon 418 mit feruentes … tauros im Liebeszusammenhang verwendet (für die Bedeutung s. ThLL VI 1,591,81ff.). qua stirpe creatus Von indicet abhängiger indirekter Fragesatz. Der Versschluß wie 118 de stirpe creatum; hier der Ablativus originis ohne Präposition (H-S 104). Vgl. auch Lucr. 1,733 und Verg. Aen. 10,543. 504 indicet Von indicet sind zwei indirekte Fragesätze abhängig, einer ist vorangestellt, der zweite dahinter. Die Form dreimal bei Ovid am Versanfang am. 3,8,23, fast. 2,821f. (orant, / indicet), met. 10,406 und einmal [Tib.] 3,1,12. qua … uexante procella Daß Paris nach einem Sturm an Land gespült wurde, hatte sich auf der Insel herumgesprochen (eine Andeutung darauf findet sich bereits 447f.). Die Sturmschilderung findet sich 385–427. Ein Ablativus absolutus mit procella in der Versklausel auch 428 recidente procella. Für den Ausdruck procella uexat vgl. Hor. carm. 2,9,3 (das Bild auch

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Phaedr. 4,18,3, Sen. Ag. 63). Ähnlicher Versschluß Carm. de resurr. 387 uexare procellae. iam Ist am ehesten mit WOLFF 1996, z. St. in der Bedeutung modo zu verstehen (VOLLMER MGH 359 nimmt dagegen nunc an). 504f. fuerit … / … pulsus Für diese Art der zusammengesetzten Formen s. NEUE / WAGENER 3, 141 (mit pellere z. B. Liv. 26,46,8 muris pulsi fuerant, hier noch 350 fuerant accensae). 505 ad Cyprum Die Formulierung in der Dichtung nur bei Dracontius (vgl. auch 460 und 573. 510 ad litora Cypri); in der Prosa Dict. 1,5 (s. ThLL Onomast. 2,797,62). medio sermone Helena bricht ihre floskelhaft-formale Fragerei ab, um über ihr eigentliches Ziel nachzudenken. Das Unterbrechen einer Rede wird Romul. 2,115f. als typisches Zeichen der Verliebtheit beschrieben (incipiunt fari mediaque in uoce resistunt: / tot signis uulgatur amor; vgl. auch Verg. Aen. 4,76 incipit effari mediaque in uoce resistit). Medio sermone ist eine vergilische Junktur Aen. 4,277; 9,657, Ov. ars 2,507 dann auch bei Silius und Statius u. ö. 506 iam tacet Versanfang Sen. Thy. 575, Stat. Theb. 11,385, Mart. 8,36,2, nach Dracontius auch Eug. Tolet. hex. 187. Iam betont das Schweigen medio sermone und nicht erst am Ende. quaerit Für quaerere in der Bedeutung ‘überlegen’ mit indirektem Fragesatz s. OLD s. v. 1533,9a. Liebende, die schweigen und sich fragen, wie es mit der Liebe steht, finden sich auch Ov. epist. 3,12 quaerebant taciti, noster ubi esset amor. appetat Appetere begegnet in der Bedeutung ‘sich nähern aus Gründen der Liebe’ sonst in der Prosa, z. B. Apul. met. 7,21; 9,28, Lact. 6,23,2, Ambr. Ioseph 6,31, Hier. epist. 75,3,2 (anders übersetzt WOLFF 1996, z. St: „chercher les bonnes grâces de qqn“). Die Konstruktion mit Ablativ ist vielleicht am ehesten mit Hier. epist. 72,5,2 in amore, quo nos appetere coepisti vergleichbar (ThLL II 284,36–44). ardens Als Synonym und Variation zu feruens 503 eingestreut, damit der Gefühlszustand und Handlungsantrieb Helenas präsent bleiben. 507 dictorum uerbis Diese Formulierung (pleonastisch, vergleichbar ist muneribus opum Orest. 380, vgl. ROSSBERG 1888, 45) noch Hil. in Matth. 5,1, später Walahfridus Strabo Visio Wettini 298 blandaque dictorum praemisit uerba suorum. 507b–529a Gedankenwelt und Worte des Paris 516b–529a Direkte Rede des Paris (mit Beschreibung der Helena 517–526)414 414 Eine Beschreibung und ein Lob der Helena durch Paris findet sich auch in [Ov.] epist. 16,271– 274 nunc mihi nil superest nisi te, formosa, precari / amplectique tuos, si patiare, pedes. / o decus, o praesens geminorum gloria fratrum, / o Ioue digna uiro, ni Ioue nata fores. Parallel

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III Kommentar

Die Bewertung des folgenden Verhaltens, der Gefühle und Worte des Paris, ist durch die einleitende Charakterisierung pastor, perfidus hospes (507) bereits vorbelastet. Dabei steht zum einen wie schon 498f. Paris als pastor neben der ungleich erhabeneren regina Helena. Zum anderen läßt die Bezeichnung perfidus hospes – im Prinzip per se ein Oxymoron – Parallelisierungsmöglichkeiten aufleuchten, die Deutungshinweise geben.415 Im Werk des Dracontius selbst fällt dabei Jason ins Auge, der Romul. 10,294 als perfidus nauta bezeichnet wird, womit seiner Untreue gegenüber Medea Ausdruck verliehen wird.416 Bei Vergil erhält Aeneas das Epitheton perfidus von Dido im vierten Buch der ‘Aeneis’ (305. 366. 421) zum Zeichen dafür, daß er sie, obwohl er gastlich aufgenommen wurde, im Stich gelassen hat.417 Durch den Zusatz hospes ist freilich die Perfidie des Paris leicht in eine andere Richtung gelenkt: Sein Verhalten als Gast ist untragbar. Um eine fremde und dazu verheiratete Frau zu werben, passt nicht zu den hohen Regeln des Gastrechts.418 Neben dieser grundsätzlichen Beobachtung kann die Bezeichnung an genau dieser Stelle auch das Verhalten des Paris gegenüber Helena ganz konkret charakterisieren. Denn hier (508) spürt er die Gefühle der Frau und handelt daraufhin berechnend und nutzt ihre Empfindungen für sich und seine Ziele aus, indem er eben nicht ihre Fragen beantwortet, sondern ihre Schönheit preist und Menelaos für die Ereignisse selbst verantwortlich macht (512b–515).419 Der Vorwurf des Paris an Menelaos ist – der Situation angepaßt – überspitzt. Im Gedicht selbst erfahren wir nur, daß Menelaos auf Zypern nicht anwesend ist; aus welchen Gründen, wird nicht erwähnt. Diese Abwesenheit stilisiert Paris zu einer Vernachlässigung der Ehefrau.420 Sämtliche in seiner Rede gebrauchten Termini können vor der Folie der Liebeselegie gelesen werden und münden mit uacare in den Zustand einer Singlefrau, die für eine neue Beziehung frei ist.421 Diesen Versen liegt inhaltlich die Auseinandersetzung Ovids im zweiten Buch seiner ‘Ars amatoria’ zugrunde, in der er über das rechte Maß von Nähe und Distanz in einer Liebesbeziehung lehrt. Dabei bringt er nach einer allgemeinen Feststellung, daß neue Liebe eine Zeit der Reife brauche, Beispiele aus der Natur, und zeigt, daß eine Frau nur durch beständigen Kontakt gebunden werden kann; wenn man sich aber seiner Sache sicher sei, solle man sie auch eine Zeit allein lassen, auf daß die Sehnsucht sie noch enger an den Mann binde. Dafür werden Belege aus der Mythologie angeführt. Doch dürfe diese Abwesenheit des Mannes ein bestimmtes Maß

415 416 417 418 419 420 421

ist die vollständige Hingabe des Paris an Helena in elegischer Form innerhalb der Beschreibung, aber auch der Hinweis auf ihre Abstammung von Jupiter. Vgl. für eine Darstellung des Motivs und seiner Nutzung DELLA CORTE 1969. SIMONS 2005, 198. Aeneas erhält die Bezeichnung Paris alter, wodurch eine Parallelisierung gerechtfertigt ist, vgl. DELLA CORTE 1969, 320f. Diese Eigenschaft des Paris ist schon 3f. hostem / hospitis angekündigt. S. auch SIMONS 2005, 282. Es schwingen hier also inhaltlich zwei Bedeutungsrichtungen des Adjektivs perfidus mit: Das schändliche Verhalten gegenüber einer liebenden Person (für Stellen s. ThLL X 1,1390,4–34) und das ungebührliche Auftreten bei einem Gastfreund (ThLL X 1,35–43). S. auch die Parallelen zur Liebeselegie, die SIMONS 2005, 270 zusammenstellt. SIMONS 2005, 270.

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nicht überschreiten, da sonst der Effekt ins Gegenteil verkehrt werde (sed mora tuta breuis: lentescunt tempore curae / uanescitque absens et nouus intrat amor Ov. ars 2,357f.). Für eben jenen unglücklichen Fall gibt Ovid das Exempel von Helena und Menelaos (Ov. ars 2,359–372)422: dum Menelaus abest, Helene, ne sola iaceret,  hospitis est tepido nocte recepta sinu. quis stupor hic, Menelae, fuit? tu solus abibas,  isdem sub tectis hospes et uxor erant. accipitri timidas credis, furiose, columbas,  plenum montano credis ouile lupo. nil Helene peccat, nihil hic committit adulter:  quod tu, quod faceret quilibet, ille facit. cogis adulterium dando tempusque locumque;  quid nisi consilio est usa puella tuo? quid faciat? uir abest, et adest non rusticus hospes,  et timet in uacuo sola cubare toro. uiderit Atrides: Helenen ego crimine soluo:  usa est humani commoditate uiri.

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Nach Meinung Ovids bzw. des lyrischen Ichs erhält Paris völlig zu Recht die Helena, jeder hätte so gehandelt.423 Im Gegensatz zu der Stelle bei Dracontius, wo das Treffen zwischen Helena und Paris rein zufällig ist, ist die situative Grundkonstellation leicht anders gelagert. Denn bei Ovid wird davon ausgegangen, daß Paris bei Menelaos zu Gast ist, bevor und während er auf eine Reise geht.424 Durch diese Änderung im Mythenverlauf, die dazu führt, daß Menelaos von keinem Mann weiß, der sich theoretisch um seine Frau bemühen kann, und die Übertragung auf Paris als denjenigen, der den Vorwurf äußert, wird die Perfidie dieser Beschuldigung noch vergrößert. Denn bei Ovid ist es mit dem Autor oder dem lyrischen Ich ein sozusagen unabhängiger Richter, der über das Geschehen befindet. Hier aber gibt sich Paris, obwohl doch beteiligt, als Richter oder eher Ankläger des Menelaos, der sich gegenüber seiner oder im Hinblick auf das Verhältnis zu seiner überaus schönen Ehefrau unangemessen verhält. Die Worte des Paris bewirken auf der Plotebene, auf der die mythischen Figuren agieren, den Eindruck, daß es Paris um eine Rechtfertigung des bevorstehenden Ehebruchs und um eine Abschiebung der Schuld auf Menelaos schon im Vorfeld gehe. Auf der Metaebene zeigt Dracontius die Verworfenheit des Paris durch den intertextuellen Bezug auf Ovids ‘Ars amatoria’, deren Frivolität Paris hier noch steigert. Und schließlich ergibt sich für den geneigten Leser, der sich immer schon gefragt hat, wer schuld ist, Helena oder Paris,425 hier eine Anspielung auf diese Diskussion, recht witzig, andeutungsweise in den Mund des Paris gelegt.

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S. auch SIMONS 2005, 271. S. z. St. BRANDT 1902, XI; JANKA 1997, 282–291. JANKA 1997, 285. Für diese Schuldfrage, die seit den homerischen Epen existiert, s. beispielsweise ZAJONZ 2002, 11ff.

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III Kommentar

Paris wendet die Kniffe für die Eroberung einer Frau, zu denen Ovid in seiner ‘Ars amatoria’ rät, an, indem er, wie oben schon erwähnt, den üblichen Smalltalk überspringt und sogleich um Helena wirbt.426 Auch im weiteren Verlauf der Rede, nach dem Übergang in die direkte Rede, scheint sich der trojanische Königssohn an den Ratschlägen des elegischen Dichters zu orientieren, indem er Komplimente und Versprechungen – nämlich das servitium amoris (523ff.) – macht.427 Paris beendet seine Rede mit dem Hinweis auf seine eigene göttliche Abstammung (528f.), mit der ein Bogen zur Rede der Kassandra gezogen werden kann, die seinen Wunsch nach der Schwiegersohnschaft Jupiters erwähnt hatte.428 SIMONS zeigt in diesem Zusammenhang überzeugend die Verbindung zum Versprechen der Venus nach dem Parisurteil auf. Es wird dort nicht nur eine Frau, so schön wie Venus, sondern auch so göttlich wie sie in Aussicht gestellt.429 Bindeglied zwischen diesem Versprechen und der Stelle hier mag die Ankündigung einer Frau, die von Jupiter abstammt, im Prodigium sein (464f.).430 Wie schon festgestellt, sind die Äußerungen des Paris in einem referierten und einem direkten Redeteil wiedergegeben. Während das Referat wenig ausführlich ausfällt und nur „Themenschwerpunkte“ nennt (Lob der Helena und, schwerpunktmäßig, Kritik an Menelaos), ist der direkte Teil emotionaler. Letzterer gibt sich wie eine Zerdehnung bzw. eine Reduktion des Referats.431 So läßt sich denn die direkte Rede auch recht klar in zwei Teile gliedern: 516–526a Schönheitsbeschreibung der Helena mit Beteuerung seiner ewigen Dienstbarkeit ihr gegenüber 526b–529 Kritik an Menelaos und Betonung seiner und Helenas göttlicher Abkunft Schönheitsbeschreibungen sind in der antiken Literatur weit verbreitet; zum Repertoire gehören sie besonders in der Liebeselegie und im Roman. Helena als „Schönheit an sich“ ist aber auch schon bei Homer Gegenstand einer Schönheitsbeschreibung.432 Dracontius scheint sich explizit an elegischen Beschreibungen zu 426 Ov. ars 1,607–610, SIMONS 2005, 270. 427 Vgl. Ov. ars 1,613ff. SIMONS 2005, 271. Das Thema scheint im übrigen auch Romul. 10,253– 255 auf, wo die gerade von Amors Liebesglut entfachte Medea dem noch auf dem Altar liegenden Jason einen Heiratsantrag macht: ‘uis ergo meus nunc esse maritus?’ / ‘seruus’ Iason ait ‘tantum ne uita negetur / te precor et dominam fateor’. 428 147f. S. SIMONS 2005, 272. Dieses Motiv, daß Paris Schwiegersohn Jupiters werden will, findet sich schon bei Isokrates im Enkomion auf Helena, Kap. 42. 429 2005, 272 und Anm. 177. Der Beginn der Paris-Rede greift das Versprechen auf (pulchra Venus talem promisit in Ida, / qualis nuda fuit 64f.). 430 Im sich anschließenden Gebet des Paris an Venus betont er besonders ihre Abstammung, so daß die Bedeutung, die er diesem Fakt zumißt, erheblich sein muß (BRETZIGHEIMER 2010, 392). 431 Während es 512 nur reginam laudat amans hieß, umfaßt die Beschreibung der Helena in direkter Rede etwa sechs Verse. Dreieinhalb Verse umfaßt im Referat die Beschuldigung des Menelaos, in direkter Rede ca. zwei. 432 Für antike literarische Schönheitsbeschreibungen, besonders der Helena s. HERMANN FUNKE: Urit me Glycerae nitor … Literarische Schönheitsbeschreibungen in der Antike, in: THEO

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orientieren, wie sie etwa Ov. am. 3,3,5f. bietet.433 Von besonderer Bedeutung sind hierbei die blonden Haare und die Körpergröße, die Helena in Richtung ihrer göttlichen Vorfahren rückt.434 507 sed Nach dieser intensiven, ambivalenten, aber doch romantischen Beschreibung von Helenas Liebe und ihren äußeren Zeichen, wirkt das sed besonders brachial. Es dient einerseits dazu, den Personenwechsel anzuzeigen, andererseits aber auch, um das berechnende Verhalten des Paris von den eher ehrlichen Gefühlen der Helena abzugrenzen. perfidus hospes Als hospes wird Paris schon 448, am Anfang der Episode bezeichnet, hier jedoch erhält er den Zusatz perfidus. Das Oxymoron charakterisiert den trojanischen Königssohn, der gastfreundlich aufgenommen wird, dann aber dieses heilige und unverletzliche Recht ausnutzt und mißbraucht (s. auch 3f. hostem / hospitis; die Idee könnte von Hor. carm. 1,15,1f. pastor cum traheret per freta nauibus / Idaeis Helenen, perfidus hospitam mit entsprechender Variation inspiriert sein; außerdem klingt darin das griechische Epitheton auf Paris ξειναπάτας Alcaeus 283,5 LP = Voigt, Ibycus 282a,10 PMG, Eur. Tro. 866 an; zur Interpretation der Horaz-Ode und der Charakterisierung des Paris s. MICHÈLE LOWRIE: Horace’s Narrative Odes, Oxford 1997, 123–137, vgl. DELLA CORTE 1969, 320); s. auch die Einleitung des Abschnitts. Zu den Gegebenheiten des Gastrechts s. zu 257f. 508 sensit fragiles … sensus Die Gefühle der Helena wenden sich von ihrem Mann Menelaos weg zu Paris, was diesem gleich bewußt wird. Gekleidet ist der Vorgang in ein Wortspiel mit sentire und sensus. Fragilis hier in der übertragenen Bedeutung ‘veränderlich, leicht zu brechen’ (ThLL VI 1,1228,7); von Frauen, allerdings fast ausschließlich bezogen auf sexus, findet es sich seit Hier. epist. 54,13,1 fragilis sexus (ThLL V 1,1228,52–58; vgl. für die Junktur, von den Menschen allgemein fragili … sensu Paul. Petric. Mart. 1,4, ZWIERLEIN BT z. St.). WOLFF 1996, z. St. weist hingegen auf die bewußte und willentliche Entscheidung hin, die fragiles transportieren muß. Diese seltene Bedeutung veranlaßt ihn dazu, die Konjektur faciles von BAEHRENS einzusetzen. Diese Änderung ist aber unnötig und zerstört das Bild. Fragilis als eine der weiblichen Grundeigenschaften paßt gut, sie ist die Voraussetzung auch für einen schnellen und bewußten Sinneswandel. Zudem wirkt durch das enthaltene frangere die (geplante) Tat des Paris noch heftiger: Er lenkt nicht nur, er bricht durch seine Anwesenheit die Gefühle der Helena und damit die Eheverbindung auseinander. mulieris pectore sensus Pectus als Ort, wo die Gefühle, hier die Liebe, sitzen, begegnet seit Plaut. Epid. 135 (an unserer Stelle als lokaler Ablativ ohne Präposition, STEMMLER (Hrsg.): Schöne Frauen – schöne Männer. Literarische Schönheitsbeschreibungen, Tübingen 1988, 47–67. Vgl. für unsere Stelle MALICK-PRUNIER 2011, 69f. 433 WOLFF 1996, 164, WASYL 2011, 56, Anm. 172. Vgl. auch GALLI MILIĆ 2016, 2010. 434 Zusätzlich zu den Vorbildstellen, an denen Helena als blond beschrieben wird (s. den Kommentar z. St.), weist dieses Phänomen in Richtung des antiken Romans, in dem die schönen Protagonisten göttliche Eigenschaften erhalten (ZEITLIN 2008, 100f.). Daß Helenas Aussehen, dem einer Gottheit ähnlich ist, findet sich etwa bei Homer, Il. 3,158.

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III Kommentar

WOLFF 1996, z. St.). Dracontius ist offensichtlich der erste, der das Wort mulier mit seinen obliquen Kasus, obwohl sie allesamt ausschließlich aus Kürzen bestehen, in den Hexameter setzt. Er längt das ‘e’, was wohl in der Vulgärsprache ohnehin üblich war (L-H-S 182). Im Mittelalter findet man das ‘e’ dann üblicherweise gelängt (STOTZ 1996, III 125), so daß Dracontius und die nach ihm folgenden Ennodius und Venantius Fortunatus für die Dichtung eine Art Übergangszeit bilden dürften (ThLL VIII 1571,9–13). Der Versschluß ist vergilisch Aen. 12,914 (vgl. auch Ov. met. 3,631 pectora sensus). Die Junktur mulieris pectore begegnet später Anonymus Gemeticensis. dial. 2,1177. 509 incipit Der abhängige Infinitiv effari steht erst 511, der auf diese Weise zusammen mit incipit die indirekten Fragen rahmt. Iliacus Man könnte meinen, das Adjektiv sei absolut gebraucht und substantiviert, aber dafür gibt es keinen Beleg. Auch die in PERIN, Onomasticon I 786 angeführte Stelle Romul. 8,292 kann nicht als solcher angesehen werden, weil sich Iliacis auf mentibus beziehen muß. So wird man wohl an dieser Stelle eine weite Sperrung zwischen dem Bezugswort pastor (507) und zugehörigem Adjektiv annehmen dürfen. Auf diese Weise werden der Temporalsatz (508) und das Prädikat des Hauptsatzes gerahmt, danach folgen die indirekten Fragesätze (WOLFF 1996, z. St. kritisiert diese unschöne Wortstellung heftig). quo sit sanguine cretus Greift auf und variiert die Frage der Helena 503 qua stirpe creatus. Diese indirekte Frage, allerdings mit Ellipse von esse schon 69. S. dort für weitere Belege. 510f. quibus excussus uentis … / uenerit Die Junktur uentis excussus Germ. 155. Heranzuziehen ist außerdem Flor. Verg. 1,1 sinister Africae uentus in hoc litus excusserat und Ruric. epist. 2,13 p. 391,6 ne te … in altum uehementior flatus excutiat (ThLL V 2,1312,7f.). Hinter dem Präfix ex- steht entweder die Vorstellung, daß der Sturm die Menschen aus dem Meer heraus ans Festland bringt, oder wie die Ruricius-Stelle zeigen kann, daß die Winde eine Bewegung vom Festland oder Hafen aufs Meer bewirken. So kann man hier an ein allgemeines ‘vom Kurs abbringen’ denken. Quibus uentis ist inhaltlich sowohl auf excussus als auch auf uenerit zu beziehen. ad litora Cypri / uenerit Erinnert vielleicht an Verg. Aen. 1,2f. Lauiniaque uenit / litora. 511 effari Abhängig von incipit auch Verg. Aen. 4,76 zu finden (imitiert Orest. 163), wo eine direkte Rede folgt. Für indirekte Fragen nach effari s. ThLL V 2,199,4–17. Dracontius selbst verwendet das Wort noch Romul. 8,188. 556; 10,509. trepidus iam uoce remissa Die Vorsicht, die Paris angesichts der Gefühle der Helena walten lassen möchte, um sie ja nicht wieder erkalten zu lassen, sind hierin ausgedrückt. So meint uoce remissa (rhetorischer Terminus Rhet. Her. 3,13,23) einerseits die zurückgenommene Lautstärke, zum anderen aber auch einen

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leichtgängigen Inhalt der Rede (s. OLD s.v. remissus 1611, 2.3). Aufgeregte Unruhe vor dem „Angriff“ deutet sich in trepidus an. 512 Kunstvoll gestaltet ist auch dieser Vers: Die regina und ihr Ehemann rahmen ihn, während der eigentlich außerhalb dieser Beziehung stehende amans Paris seine Meinung über beide abgibt. Sie preist er, ihn beschuldigt er, wobei sich mit reginam laudabat und culpare maritum eine chiastische Stellung ergibt. Laudare und culpare werden einander oft zugesellt (ThLL IV 1313,7–14). reginam laudabat amans Wie 494 laudat amans … uirum aus Helenas Sicht, hier die Reaktion des Paris (vgl. Romul. 10,372 laudans alieni membra mariti [von Glauke, die sich in Iason verliebt hat]); im Gegensatz zu Helenas laudare, das im Verborgenen, nur für sich allein oder nur im Stillen stattgefunden hat, spricht Paris sie direkt an. Es ist wohl ein wenig zuviel, wenn man Paris seine Gefühle für Helena ganz abspricht (wie es SIMONS 2005, 271 tut und amans allein als Verhaltensweise in Form eines elegischen amator gedeutet wissen will), aber sie sind weniger ehrlich und von seinem hinterhältigen Charakter überschattet.435 Vgl. für den Versanfang Orest. 263 regina laudante. 512f. culpare maritum / coeperat absentem Wie scheinheilig Paris sich schuldlos darstellt und den abwesenden Menelaos selbst für die Situation verantwortlich macht! Schon 441 von Menelaos absentem … maritum. Coeperat variiert 509 incipit. 513 quod Für die offensichtlich prosaische Wendung von culpare mit quod vgl. Hist. Aug. Aurelian. 8,2 culpas me familiaribus litteris, quod … commiserim, Aug. serm. 76,3 qui sic culpat quod homines sumus, Ruric. epist. 2,18 p. 402, 26 culpatis me saepius et crebrius imputatis, quod … non scripserim (s. auch ThLL IV 1313,70–73). Vielleicht ergibt sich die Konstruktion aus seiner Gleichsetzung mit anderen Worten der Gerichtssprache, die diese üblicherweise zulassen. iam Für das zunächst schwer erklärbare iam konjiziert RIBBECK 1873, 463 gut nachvollziehbar ein tam. Doch mag sich der temporale Zusatz weniger auf pulcherrima coniunx beziehen, als auf das Prädikat, also den (für eine Beziehung zu frühen) Zeitpunkt, an dem der Ehemann seine so schöne Frau verläßt, so daß eine Konjektur kaum nötig scheint. pulcherrima coniux Vergilischer Versschluß Aen. 10,611 quid, o pulcherrime coniunx (Iuno an Iuppiter, der sie zuvor mit gratissima coniunx 607 angeredet hat), was dort ironisch konnotiert ist, während Paris diese Äußerung ernst meint. 514 a tepido deserta uiro Tepidus ist doppeldeutig und kann auf zwei Arten verstanden werden. Zum einen läßt es sich metaphorisch als eine Abwertung gegenüber Menelaos lesen, der eben nur ‘lauwarm’ ist und nicht so inflammatus wie Paris 435 Viel deutlicher ist Paris in seinem Innersten im vielleicht thematisch nächsten Gedicht erfaßt: [Ov.] epist. 16,133–136 sed mihi laudatam cupienti cernere formam / lumina nil aliud quo caperentur erat. / ut uidi, obstipui praecordiaque intima sensi / attonitus curis intumuisse nouis.

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III Kommentar

(offensichtlich so verstanden von OKKEN 1996, 386 „verlassen, vernachlässigt, von einem lauen Mann“). Belege hierfür finden sich einige in der Liebeselegie (Ov. am. 2,19,15, ars 2,445, Prop. 1,13,26, s. SIMONS 2005, 270). Auf der anderen Seite ist tepidus ein Adjektiv, das in bettechnischen Zusammenhängen von der Körperwärme verwendet wird: So s. z. B. oben Ov. ars 2,360 tepido sinu (in diese Richtung geht auch Catull. 68,29 frigida deserto tepefactet membra cubili und Petron. 132,15 quis uetat in tepido membra calere toro). Im Zusammenspiel mit desertus erinnert die Verbindung auch an Ov. ars 3,70 frigida deserta nocte iacebis anus, freilich ohne vollständige inhaltliche Übereinstimmung, weil es an Frauen gerichtet ist, die in ihren jungen Jahren zu stolz sind, sich einen Mann zu nehmen; verbindend ist die Kälte im Bett, die beide verspüren). In welcher Richtung auch immer der Schwerpunkt zu setzen ist, in jedem Fall will Paris seine Helena aus einer aus seiner Sicht für sie unwürdigen Situation befreien. neglecta Kann als ein (variierter) Terminus aus der Liebeselegie, wenn auch umgekehrt, verstanden werden: Prop. 1,3,43; 1,7,13 neglectus amator, 1,15,10; 2,21,16, Ov. epist. 1,7; 3,62; 5,75 (SIMONS 2005, 270 und Anm. 169). uacaret Absolut gebraucht wäre es ein Terminus aus der Liebeselegie: Prop. 1,13,1f. nostro laetabere casu, / Galle, quod abrepto solus amore uacem, und 2,9,19 at tu non una potuisti nocte uacare; auch [Sen.] Herc. O. 369, (s. auch OLD s. v. 2001, 6d; WOLFF 1996, z. St., SIMONS 2005, 270 und Anm. 170). Hier ist aber der folgende Vers, der sonst unverbunden stünde (so versteht ELLIS 1874, 259), abhängig zu machen, so daß für uacare die Bedeutung ‘freie Zeit haben für’ (OLD s. v. 7c) angenommen werden muß (THOMAS GÄRTNER436; für die unklassische Konstruktion mit bloßem Konjunktiv, die Dracontius gern gebraucht, s. VOLLMER MGH 435). 515 RIBBECK 1873, 463 zeigt sich über diesen Vers irritiert, der weder grammatisch noch logisch in den Zusammenhang passe, und will ihn hinter 503 stellen.437 Man und besonders Paris könne dem Menelaos nicht vorwerfen, daß Helena zum VenusHeiligtum gegangen sei. Doch mag neben der Scheinheiligkeit im Vorwurf auch an Kulte und Kultorte gedacht sein, die in irgendeiner Form einen sexuellen Aspekt haben, so daß es tatsächlich unvorsichtig von Menelaos wäre, seine Frau allein zu so einer Veranstaltung zu schicken. Unter diesen Umständen könnte uel also doch ‘und sogar’ heißen (dagegen VOLLMER MGH 169), weil vielleicht die Opfer eine Sache sind, aber die Tempel mit Prostitution u. ä. etwas anderes. Eine andere Erklärung läßt sich mit Hilfe der Liebeselegie finden: Einem Tempelbesuch oder einer Opferung geht dort regelmäßig eine sexuelle Abstinenz voraus, die den Liebhaber eine Zeitlang zurückhält (z. B. Prop. 2,33,1–4. 17; Ov. am. 3,10,1–4. 43–46). Hier würde Paris dem Menelaos vorwerfen, daß Helena 436 Er hat dankenswerterweise ein noch ungedrucktes Manuskript zur Verfügung gestellt. Ich belasse den Konjunktiv petisset, er ändert in petisse. 437 Abgesehen von der möglichen inhaltlichen Erklärung (s. zu 514, mit uacare in der Bedeutung ‘freie Zeit haben’) ließe sich der Vers auch nicht sonderlich gut hinter 503 einpassen. Paris ist schließlich eher zufällig vorbeigekommen, was 504f. mit der Erwähnung des Seesturms hier auch ganz konkret aufgegriffen wird.

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durch seine lange Abwesenheit die Gelegenheit hatte, sich auf eine (aktive) Teilnahme am Venusfest vorzubereiten. Auch alle übrigen Verbesserungsversuche dürften mit diesen Erklärungen unnötig werden (BÜCHELER: tempta für templa, BAEHRENS neglectaue carae für neglecta uacaret). sacra Dionaeae matris uel templa Vergilischer Versanfang Aen. 3,19 sacra Dionaeae matri. Hier ist mater nicht im Sinne von ‘leiblicher Mutter’ wie bei Aeneas gegenüber Venus verstanden, sondern im Sinne eines ehrenvollen Titels (WOLFF 1996, z. St.) gebraucht; dazu mag auch der Gedanke an Venus als ‘Schutzmutter’ des Paris kommen (dies meint vielleicht OKKEN 1996, 386). Für das Adjektiv Dionaeus s. PERIN Onomasticon I 486. Wie zu 515 bemerkt, könnte zwischen sacra und templa ein inhaltlicher Unterschied angenommen werden, wahrscheinlicher ist jedoch der synonyme Gebrauch aus Gründen der Variation, mit uel in der Bedeutung et. 516 adiungens Adiungere zu verwenden für die Weiterführung einer Rede, zumal aus einer indirekten kommend und in die direkte überführend, ist prosaisch, klassisch seit Cic. Cluent. 148 (ThLL I 709,39–48). si talis erit Dürfte an Mart. 14,77 erinnern: si tibi talis erit, qualem, dilecta Catullo / Lesbia, plorabas, hic habitare potest. 516f. quam forte merebor / uxorem Offensichtlich bezieht sich Paris auf das Versprechen der Venus, ihm die schönste Frau der Welt als Lohn zu geben (64f., s. auch oben zur Einleitung des Abschnitts; mit dem Begriff uxor erfolgt auch eine Reminiszenz an den Wunsch des Vaters Priamus 229 dat Venus uxorem). Für diese Bedeutung von mereri in Verbindung mit Personen ThLL VIII 804,57–59; Ov. epist. 12,197 (Medea an Iason) te peto, quem merui, Anth. 53 R.,1 Deidamia uirum qua coepit nocte mereri = Anth. 40 Sh.-B.,1 Laodamia uirum qua coepit nocte mereri, Mart. Cap. 9,907 (Orpheus mit seinem Gesang) quoque suam meruit immemor Eurydicen. Etwas anders, eher im Sinne von ‘erkaufen’ Plaut. Most. 281 uxores, quae uos dote meruerunt. Das Futur (auch bei erit) zeigt an, daß Paris die Frau noch nicht erhalten hat und sie erst bekommen wird, auch wenn das Verdienen im Urteil über die Göttinnen theoretisch in der Vergangenheit liegt. Im forte ist entweder ausgedrückt, daß dem Paris selbst deutlich ist, wie zufällig ihn das Richteramt und somit auch der Lohn erreicht haben, oder es steht im Sinne von fortasse und zeigt die (noch) vorsichtige Zurückhaltung, die möglicherweise im Moment der Bewunderung überwiegt. 517 sic Die Aneinanderreihung von mit sic als Anapher eingeleiteten Sätzen erfordert einen gedachten ut-Satz mit dem Inhalt „wie Helena“. blanda genis Inspiriert ist die Junktur sicher von Stat. Theb. 9,155 oder 12,534 blanda genas (ThLL II 2037,45f.), vielleicht in einer Mischung mit Theb. 2,238 torua genis. Für den Ablativus respectus bei Adjektiven s. H-S 134. Blandus ist ein Terminus der Liebeselegie (RIESENWEBER 2007, 343). Auf Helena sonst noch Dares 12. ‘Schönwangig’ (καλλιπάρῃος) heißt Helena z. B. auch Od. 15,123.

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III Kommentar

ore modesto Dieser Versschluß scheint eine Erfindung des Dracontius zu sein (auch Romul. 6,92), der auf Coripp. Iust. 3,106 (von der bescheidenen Ernährung des Iustin) und mittellateinische Autoren gewirkt haben dürfte: Hrotsvitha, primordia coenobii Gandersheimensis 531, Walterus Spirensis, Scolasticus 4,84, Radulf. Tortarius, epist. 2,27, Romulus, fabulae metricae 24,29, u. ö. Grammatisch kann der Ablativ entweder qualitativ verstanden werden, vom vorhergehenden blanda abhängig gemacht werden, oder auch vom nachfolgenden ornata. 518 oculis ornata suis Wie eine Art Kleidung zieren die schönen Augen die Helena. Die Junktur findet sich nur bei Dracontius (vgl. 490). Die Augen sind das einzige Element in der Beschreibung, zu dem das Possessivpronomen gesetzt ist. pulchra decore Die Junktur noch Damas. carm. 51 (TROUT / FERRUA) = 53 (IHM),4 (= CLE 670) in einem Grabepigramm auf eine sehr jung verstorbene Frau. Dort ist decor als innerer Wert zu verstehen wegen des folgenden solo contenta pudore. Ohne eine zwingende Abhängigkeit postulieren zu wollen, steht doch Paris, indem er ausschließlich das Äußere ansieht, in einem Gegensatz dazu. So ist decus entweder nur als ‘natürliche Schönheit’ anzusehen oder als Schmuck und Kleidung. 519 candida sic roseo perfundens membra rubore Die Verbindung von rot und weiß, die oft für die Schönheit von Frauen steht (für Stellen s. BÖMER 1969, 555f.), ist für Helena schon ausführlich 499f. beschrieben worden, dort als Zeichen ihrer Verliebtheit, was hier gewiß noch immer den Grund für ihre Hautfarbe gibt. Die explizit aktive Ausdrucksweise mit perfundens (statt des gewöhnlichen PPP) dient als Variation im Ausdruck (so auch Ov. met. 10,360, WOLFF 1996, z. St.). Für candida auf Helena s. zu 440; s. auch BLÜMNER 1892, 19ff. Hier ist das Adjektiv allerdings Epitheton auf membra, gesichert durch die Vorbildstelle Ov. met. 2,607 candida puniceo perfudit membra cruore. Auch imitiert in Orest. 792 candida puniceo rutilantur membra cruore (vgl. auch Orest. 524 pallida puniceo perfuderat ora cruore). Als weißarmig (λευκώλενος) wird Helena in der ‘Ilias’ 3,121 bezeichnet. Die Junktur roseus rubor begegnet noch Romul. 2,66 (dazu s. WEBER 1995, 179, s. auch BLÜMNER 1892, 202) von der Schönheit des Hylas und scheint in Verbindung mit sonst heller Körperfarbe ein Terminus der Liebeselegie zu sein (z. B. Ov. am. 3,3,5 candida candorem roseo suffusa rubore, vgl. auch ANDRÉ 1949, 77); gehört ebenfalls zur Beschreibung junger Mädchen (WOLFF 1996, z. St.). Einziges sic in inversiver Stellung innerhalb der Reihung. 520 sic flauis ornata comis Reimt mit dem Versanfang 518 sic oculis ornata suis. Blond ist nicht die normale Haarfarbe der Griechen und Römer, weshalb sie besonderen Menschen oder den Göttern zugeschrieben wurde. Für eine Stellensammlung und Auseinandersetzung s. MURGATROYD 1980, 175, PEASE 1935, 471ff., vgl. auch BLÜMNER 1892, 106f.; zur Farbe selbst s. ANDRÉ 1949, 128ff. An dieser Stelle betont die Farbe einerseits Helenas göttliche Abkunft, andererseits natürlich ihre unbeschreibliche Schönheit und Besonderheit. Die Junktur coma flaua Hor. carm.

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1,5,4, Tib. 1,5,44; 2,1,48 (von Getreide), Ov. fast. 3,60, Val. Fl. 8,237f., Sil. 5,220f. Helena tritt mit blonden Haaren auch Eur. Helena 1224, Ibycus 282a,5 PMG auf. Homer weiß wohl noch nichts von einer blonden Helena. Aus Dares 12, wo sie als ihren blonden Brüdern Castor und Pollux ähnlich beschrieben wird, könnte auch verstanden werden, daß Helena blonde Haare trägt. Vgl. auch für die Schönheit und die blonden Haare der Helena die im Erscheinen begriffene Dissertation von STEFFI GRUNDMANN: Haut und Haar im klassischen Griechenland. ZWIERLEIN BT konjiziert onerata und führt seine Argumente im kritischen Kommentar 2017, 118f. aus (besonders schwer dürfte der Verweis auf Romul. 9,40. 42 wiegen, wo es heißt uirgo Polyxene lacrimis ornata decoris / … / ac longis dispersa comis onerata pudore). Der von ihm gezeigten Kontrastimitation zu Lucan. 6,516–518 caeloque ignota sereno / terribilis Stygio facies pallore grauatur / impexis onerata comis (die wirren Schlangenhaare der Hexe stehen den prächtigen blonden Haaren der Helena gegenüber) könnte hinzugefügt werden, daß bei Lucan im Vers 517 die stygische Gesichtsblässe der Hexe beschrieben wird, während Dracontius in seinem vorhergehenden Vers (519) die rosige Farbe der Glieder Helenas erwähnt. Außerdem wird Helena mit ihren blonden Haaren eher als göttlich dargestellt, während die Hexe der Unterwelt angehört. In dieser Arbeit wird für die Edition die Überlieferung beibehalten wegen der häufigen Wortwiederholungen bei Dracontius. Die anaphernartig-reimende Wirkung der Verse 518 sic oculis ornata suis und 520 sic flauis ornata comis wiegt vielleicht das anstößige zweifache ornata auf (s. auch ornata und ornat 616f.). sic longior artus Der Komparativ ist mit einem Akkusativ der Beziehung konstruiert (so jetzt auch WOLFF 2015 [a], 364), Subjekt ist Helena, die in einem allgemeinen, nicht extra ausgeführten Vergleich den ‘normalen’ Menschen gegenübergestellt ist (ihre Größe betont der ebenfalls im vandalischen Afrika zu verortende Luxorius, Lux. Anth. 310 = Anth. 310 R = 305 Sh.-B.). Für longus von der Größe der Menschen vgl. ThLL VII 2,1635–1636,15. Die Klausel Stat. silv. 3,4,79 adultos fortior artus klingt an, auch die Konstruktion mit dem Akkusativ der Beziehung ist gleich. 521 et procera regens in poplite membra uenusto Paris betont, daß Helena (Subjekt zu regens, vgl. auch ThLL X 1,2695,45f.) ihre Glieder über das Knie (poples als pars pro toto in der Bedeutung ‘Knie’ ThLL X 1,2695,25–48) steuert. Zu erklären ist dies mit dem traditionellen Verständnis dieses Körperteils: Denn seit Homer gelten die Knie als Sitz der Lebenskraft (z. B. Il. 21,114, Od. 4,703; SEEL 1969, 70). Die Bedeutung der Knie zeigt sich denn auch darin, daß eingeknickte Knie stets ein Zeichen von Schwäche, Unterwürfigkeit (etwa bei der supplicatio) oder des Todes sind, z. B.: Catull. 64,370 (sc. Polyxena) proicit truncum summisso poplite corpus, Lucr. 4,952f. poples … cubanti / saepe … summittuntur uiresque resoluunt, Verg. Aen. 12,926f. incidit ictus / ingens ad terram duplicato poplite Turnus, Hor. epod. 13,4 dumqe uirent genua, Stat. Theb. 7,193 (sc. Iuppiter) poplite flexum … tollit, Curt. 6,1,14 postquam (sc. membra) deficere sensit, poplitibus semet excepit, Amm. 28,2,7 qui flexis poplitibus supplicabant, Vulg. iud. 7,6 reliqua

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III Kommentar

multitudo flexo poplite biberat. Nach Dracontius schreibt Eugenius carm. 6,7f. im Gedicht gegen die Trunkenheit inde tremor membris, … / et gressus poplite nutans. Nur feste Knie sind in der Lage, den ganzen Körper in einer aufrechten Position zu halten; ohne starke, aufrechte Knie fielen alle Glieder in sich zusammen. So steckt also in den Knien in der Vorstellung der Griechen und Römer eine ganz besondere Kraft, die maßgeblich zur Standfestigkeit des ganzen Menschen beiträgt, weshalb man sie wohl auch als Zeichen der Hikesie umfaßt und ihnen Verehrung entgegenbringt. Dies faßt Plinius nat. 11,250 so zusammen: hominis genibus quaedam et religio inest obseruatione gentium. haec supplices attingunt, ad haec manus tendunt, haec ut aras adorant, fortassis quia inest iis uitalitas. namque ipsa genus utriusque commissura, dextra laeuaque, a priore parte gemina quaedam buccarum inanitas est, qua perfossa ceu iugulo spiritus fluit (Weiteres s. ThLG II 719f., s. auch DEONNA 1939, ONIANS 1954, 174–186, GLADIGOW 1968, 358–364, CORBEILL 2004, 80f.). Gesteigert wird diese Vorstellung bei Helena durch das Epitheton uenustus (uenusto von ROSSBERG mit Recht für uenusta konjiziert, da zu membra schon procera gehört; ZWIERLEIN BT z. St. verweist zudem auf Dares 12). Helenas Knie sind nicht nur funktional, sondern bestechen noch zusätzlich durch ihre Schönheit. Die Wendung in poplite uenusto ist lokal zu verstehen. Der poples ist der Ort, das Organisationszentrum, von dem aus Helena über ihren Körper bestimmen kann. Die Junktur procera membra findet sich häufig (greift inhaltlich auch longior artus auf, WOLFF 1996, z. St.): z. B. Stat. Theb. 1,414, Sidon. carm. 5,243f. (dort wird außerdem beschrieben, daß die Kleidung hochgeschnürt ist und die Knie gut zu sehen sind, was vielleicht auch auf die Bedeutung dieses Körperteils hinweist). Poples und membra begegnen gelegentlich in Gemeinschaft z. B.: Laus Pis. 76 tremefacta cadunt succiso poplite membra. Die Junktur membra regere findet sich auch Lucan. 6,529 sua membra regentes. Et schließt die sic-Reihung ab und bindet das Partizip regens als gleichwertig zu den vorhergehenden Adjektiven an die Reihe an (das Verständnis WOLFFs 1996, z. St., der longior artus auch von regens abhängig macht, scheint mir grammatisch nicht möglich; s. auch die Berichtigung WOLFFs 2015 [a], 364). 522 tali semper ego dignatus coniuge felix Beginn des Hauptsatzes nach dem langen si-Satz. Dignatus variiert inhaltlich merebor (516). Tali coniuge ist zu dignatus zu ziehen, felix als sich aus dieser Konstellation ergebendes Resultat prädikativ zu non desim. Semper läßt sich am ehesten ebenfalls mit non desim verbinden (WOLFF 1996, z. St., der die Wortstellung kritisiert). Vgl. die Passage zum Versprechen der Venus (64f.): pulchra Venus talem promisit in Ida, / qualis nuda fuit: talem iam pastor anhelat und 516 si talis erit. Der Versschluß ist ovidisch (met. 7,60; 9,333, trist. 5,5,21). Für die Längung von Endsilben vor der Zäsur s. GIARRATANO 1906, 38.

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523 non desim Deesse hier in der übertragenen Bedeutung von ‘nicht genüge tun’ (ThLL V 1,787,44f.). Die Litotes und das semper aus dem Vers zuvor betonen die Aussage besonders. 523b–525 Diese Verse erinnern thematisch an das Motiv des servitium amoris438, in das sich Paris selbst begeben möchte. Es lassen sich in der Diktion nur wenige, dafür pointierte Anklänge an die Liebeselegiker finden; das Thema läßt der Dichter etwa durch den Hinweis seruus sehr deutlich anklingen. Hingewiesen sei auf einige mögliche Anspielungen: z. B. Catull. 64,161 quae tibi iucundo famularer serua labore (Ariadne zu Theseus; Paris übernähme eine Frauenrolle, wenn man eine Imitation annehmen möchte; die Catull-Stelle selbst gilt noch nicht als Vertreter der servitium amoris-Motivik, trägt aber durchaus passende Elemente), Prop. 1,4,27 maneat sic semper, adoro (nimmt man eine Imitation an, muß bedacht werden, daß bei Properz nicht die Frau Objekt zu adorare ist, sondern ein göttliches Wesen wie Amor oder die Götter generell, vgl. FEDELI, PAOLO: Sesto Properzio. Il primo libro delle Elegie. Introduzione, testo critico e commento, Studi LIII, Firenze 1980, 152). Ov. medic. 25 feminea uestri potiuntur lege mariti (nur für den Versschluß, die Konstruktion ist völlig anders; thematisch läßt sich der Vers aber vielleicht auch für eine Art seruitium verwenden: Für die Frauen ist es eine lex, sich hübsch zu machen, was die Männer, so Ovid, sich ebenso aneignen, und damit sklavisch unter dasselbe Gesetz gelangen), Ov. ars 2,198 fac modo quas partes illa iubebit agas (im Gegensatz zu der konkreten Vorstellung bei Ovid, daß der Mann Rollen spielen solle, ist das iubere bei Dracontius allgemein gehalten), Ov. ars 2,348 exhibeat uultus noxque diesque tuos (inhaltlich die Anweisung für das Liebeswachstum durch beständige Anwesenheit und Kontakt), Prop. 1,9,3f. ecce iaces supplexque uenis ad iura puellae / et tibi nunc quaeuis imperat empta modo (diese Verse stehen tatsächlich mit dem elegischen servitium amoris in Zusammenhang [vgl. für die Stelle RIESENWEBER 2007, 175] und sind daher vielleicht am ehesten als Vorbild und Inspirationsquelle anzusehen. So hätte man die Übernahme von supplex und uenire in Verbindung mit lex, bzw. ius bei Properz. Die iura puellae könnte man mit der lex mariti nur aus einem anderen Blickwinkel gleichsetzen, und auch der verallgemeinernde Relativ- bzw. Fragesatz kann als Parallele verstanden werden.). Diese Zusammenstellung legt den Schluß nahe, daß der Dichter aufgrund seiner umfassenden Kenntnis der vorausgehenden Literatur eine thematisch passende Auswahl treffen kann. So läßt er sich für das Motiv des servitium amoris von den Elegikern inspirieren, aber nicht so deutlich, daß man ganze Junkturen oder gar Verse übernommen findet. Vielmehr bedient sich Dracontius aus dem poetischen und hier speziell elegischen Reservoir (auch aus inhaltlich eigentlich nicht passenden Passagen) selektiv.439 438 Für das servitium amoris in der elegischen Literatur s. z. B. FRANK OLIN COPLEY: Servitium amoris in the Roman Elegists, TAPhA 78, 1947, 285–300; R.O.A.M. LYNE: Servitium Amoris, CQ 29, 1979, 117–130; P. MURGATROYD: Servitium Amoris and the Roman Elegists, Latomus 40, 1981, 589–606. 439 Vgl. das Bild auch in Romul. 10,253–255 ‘uis ergo meus nunc esse maritus?’ / ‘seruus’ Iason ait ‘tantum ne uita negetur / te precor et dominam fateor’.

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III Kommentar

523 famuler supplex et iussus adorem Famulari von Liebenden findet sich noch Val. Fl. 2,146 captae indigno famulatur amore (s. auch ThLL VI 1,262,46–50). Adorare begegnet auch von Personen in der Bedeutung uenerari, laudare, honorare (ThLL I 821,18–39). Die Worte sind chiastisch angeordnet, wobei das passendere oder gewöhnlichere Paris-Attribut des einen Verbs zum jeweils anderen gestellt ist: So wäre es wohl gewöhnlicher von famulari in Verbindung mit iubere zu sprechen und von adorare in Verbindung mit supplex (belegen läßt sich dies zumindest für supplex und adorare, die recht häufig zusammengestellt werden: z. B. Sen. Phoen. 127, Ag. 394, Prud. perist. 14,86, Paul. Nol. carm. 33,17). Die beiden Worte finden sich an gleicher Versposition auch Orest. 48 ingreditur templum supplex, ueneranter adorat. 524 conubio seruus ueniam sub lege mariti440 Die Konstruktion des Satzes bereitet einige Probleme: Conubio (mit Synizese wie seit Verg. Aen. 1,73 üblich) könnte kausaler oder instrumentaler Ablativ zu seruus sein, jedoch läßt sich ein reiner adnominaler Ablativ ohne Stütze kaum belegen (vgl. HILLEN 1989, 41f.). Aus diesem Grund schlägt WOLFF 1996, z. St. im Anschluß an VOLLMER MGH 433 das Verständnis als Dativ der Richtung (in der Bedeutung coniugi) in Abhängigkeit von ueniam vor. Von ueniam wird allerdings auch sub lege mariti abhängig sein müssen (der ungewöhnliche Ablativ bei der Richtungsangabe wird durch 14 in Aonio descendit fonte poeta gestützt, s. dort; die Verbindung hier begegnet so auch Ambr. epist. 1,1,18 uenit sub lege), es sei denn man zieht es wie OKKEN 1996, 387 zum nächsten Vers. Dann ist allerdings mariti kaum zu verstehen, sondern BAEHRENS’ Konjektur maritae würde Sinn geben. Für die lex mariti ist mit WOLFF 1996, z. St. am ehesten eine Bedeutung wie ‘eheliche Pflicht’ anzusetzen. Für conubio bliebe noch die Möglichkeit, es als Instrumentalis oder Ablativus causae zu ueniam sub lege mariti zu beziehen, was vielleicht die unkomplizierteste Lösung darstellt. Sub lege ist im Übrigen eine dracontianische Standardfloskel, u. a. um die Unterordnung unter ein Gesetz, ein Recht, eine Bedingung zu illustrieren (Romul. 7,56; 8,310; 10,412, laud. dei 2,255f., s. SANTINI 2006, 140f. und Anm. 106). Thematisch passend ist vielleicht auch Romul. 6,104 lege maritali ueniunt sub iura Dionae. Für den Versschluß vgl. Anth. 83 R. = 71 Sh.-B.,28, Prud. apoth. 98, Carm. de aegr. Perd. 233. 525 nocte dieque pauens Nocte dieque ist eine beliebte Junktur, die hier das semper 522 exemplifiziert: Am Versanfang Laev. carm. frg. 2, Ov. met. 2,343; 12,46, Laus Pis. 142, Val. Fl. 2,281 (nocte dieque pauor); 8,416, Stat. silv. 3,5,57, als Versklausel Ov. met. 4,260, Stat. Theb. 5,82; 11,377, silv. 1,2,82; 4,6,94, Sil.

440 Vgl. den thematisch passenden Rechtstext: Ulp. reg. 5,5 cum seruis nullum est conubium (vgl. dazu jetzt MARCEL SIMONIS: Cum seruis nullum est conubium. Untersuchungen zu den eheähnlichen Verbindungen von Sklaven im westlichen Mittelmeerraum des Römischen Reiches, Hildesheim 2017).

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12,483; 13,290, mitten im Vers Ov. Pont. 3,1,40, Stat. silv. 5,1,72 u. ö.; Dracontius hat es noch am Versende Romul. 5,40; 9,200. Sub nocte pauens findet sich 209 in der Rede des Apoll. Hier wie dort dürfte in pauere der Schwerpunkt auf der Verehrung der Person und dessen, was sie sagt, liegen. quidnam uelit illa iubere Indirekter Fragesatz, von pauens abhängig. Diese eher ungewöhnliche Konstruktion von pauere läßt sich mit Val. Fl. 3,584–586 belegen. Iubere greift iussus (523) auf. Velit iubere erscheint pleonastisch; ist vielleicht eine Abwandlung von Ausdrücken wie Ov. met. 11,493 iubeatue uelitue. 526 quae specie fulgente micat Für fulgere von Körperteilen s. ThLL VI 1,1513,49ff., besonders Sen. epist. 115,4 faciem altiorem fulgentioremque. Micare, das aus dem gleichen Wortfeld wie fulgere stammt, ist als Prädikat direkt auf Helena bezogen; so könnte es auch in übertragener Bedeutung als ‘herausragen’ (ThLL VIII 931,75ff.) im Sinne einer Variatio verstanden werden. Species kann sowohl das Gesicht, als auch die gesamte Gestalt der Helena bezeichnen. In den ‘Carmina Burana’ 150,3–6 heißt es Helenae species / amata nimium / fit casus Troiae / deponens Ilium. Für das Wortmaterial vgl. auch Cic. Arat. frg. 22,2 SOUBIRAN stella, micans tali specie talique nitore. 526b–528 Paris wirft Menelaos im Ansatz die Mißachtung einer Göttin vor, indem er zwar die Aussage zunächst abschwächt durch non dicam, aber dann doch wieder die Göttlichkeit der Helena betont. 526 Menelaus oberrat Mit oberrare wird erneut die Schuld des Menelaos festgestellt (für die Bedeutung s. ThLL IX 2,50,21ff., SIMONS 2005, 272 macht hingegen die Bedeutungen ‘umherfahren’ und wegen des folgenden numen ‘sich im Irrglauben befinden’ stark). 527 Die Anklage an Menelaos wird mit hämmernden Konsonanten (c, p, t) unterstützt. numine contempto Die Junktur begegnet in dieser Form Carm. adv. Marc. 2,3. Vgl. aber auch Iuv. 6,342 contemptor numinis und Anth. 493 R.,12. Erinnert außerdem ein wenig an Mezentius in der ‘Aeneis’, der als contemptor deum (7,648; 8,7) bezeichnet wird. non dicam Eine Form der Correctio. Der Ausdruck begegnet häufig bei Cicero und ist hauptsächlich prosaisch-rhetorisch. Weitere rhetorische Ausdrücke in der Dichtung des Dracontius sammelt VOLLMER MGH 441. coniuge pulchra Erneut ein Hinweis auf die Schönheit der Helena, aber auch darauf, daß sie die Ehefrau des Menelaos ist. S. auch 513. 528 quamuis numen adest Was Paris bisher nur in Andeutungen und in seiner Beschreibung der Helena gezeigt hat, macht er nun wortwörtlich deutlich: Helena ist eine göttliche Person, weil sie von Jupiter abstammt.

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III Kommentar

Die Verbindung numen adest noch Ov. ars 1,640, [Ov.] epist. 16,18 (Paris an Helena über Venus). ueniens de stirpe Tonantis Vgl. 464. Venire in der Bedeutung ‘abstammen’ begegnet schon Verg. Aen. 5,373 Bebrycia ueniens Amyci de gente (wobei sich WILLIAMS 1960, 119 gegen dieses Verständnis wendet). Für den Versschluß vgl. Manil. 1,767 stirpemque Tonantis. 529 unde genus duco Der Stammbaum des Paris führt zurück auf Dardanus, den Gründer von Dardania und Stammvater der Dardaner und Trojaner. Dieser war ein Sohn des Zeus und der Atlastochter Elektra (Il. 20,215). Sein Sohn Erichthonius ist der Vater von Tros, der wiederum Ilos als Nachkommen hatte, den Vater des Laomedon. Laomedon schließlich ist als Vater des Priamus der Großvater des Paris (WOLFF 1996, z. St., SIMONS 2005, 272; diese Abstammung des Paris wird auch Isocr. Hel. 43, betont, vgl. auch [Ov.] epist. 17,59f.). Vergilischer Versanfang Aen. 5,801 (Neptun zu Venus), Dracontius verwendet ihn auch Romul. 9,229 unde genus ducis; die Junktur genus ducere noch Verg. Aen. 5,568 (genus unde Atii duxere Latini); 6,834, Ov. met. 6,427. 529b–539 Reaktion der Helena Die Antwort Helenas läßt sich in zwei Abschnitte teilen, die durch einen Scharniervers miteinander verbunden sind: 531b–534 Anknüpfung an die Worte des Paris; Aufruf zur Vereinigung und zum gemeinsamen Handeln 535 Die fata und Jupiter als unwiderlegbares Argument 536–539 Wie es mit Menelaos weitergeht. Helenas Reaktion wirkt nach ihrer früheren Rede441 deutlich gefestigt und willensstark. Helena beginnt, was später noch stärker ausgeprägt erscheint (551f.), über Paris und den Fortgang der Ereignisse zu bestimmen.442 Ihr Hinweis, daß sie trotz dem Schweigen des Paris seine Herkunft längst kenne, deutet an, daß die Frage nach der Herkunft nicht nur auf literarischer, sondern auch auf der Realebene einen Topos darstellt. Denn schon 443 ging das Gerücht über die Insel, der trojanische Königssohn sei angekommen.443 Die Rede von den fata und von Jupiter, die Helena angeblich zu ihrem nächsten Schritt zwingen, ist wie eine Rechtfertigung hinter den eigentlichen Plan, mit Paris als seine Ehefrau zu herrschen, gestellt. Auch Helena hat, wie oben bereits erwähnt (s. die Einleitung 2.1.4.4 zur Rolle der fata), ihre eigene Konzeption des fatum. Für sie scheint sich das fatum aus der Situation heraus zu ergeben. Sie fühlt sich zu 441 502–505. Diese hatte sie unterbrochen, um zu überlegen, wie sie Paris am besten fassen könnte. Sie schien ganz von ihrer Verliebtheit bestimmt. 442 BOUQUET 1996, 253. 443 Dagegen versteht WOLFF 2015 (a), 364f. das Partizip Präsens im Sinne einer Vergangenheitsform, damit der Widerspruch zwischen Paris’ Angabe, er stamme von Jupiter ab (528f.), er also durchaus etwas über seine Herkunft geäußert hatte, auf diese Weise gelöst werde.

Hauptteil IV: 435–585 Helena und Paris – Der „Raub“

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ihrem Gegenüber aufs heftigste hingezogen und sieht die Möglichkeit, dieses Begehren auszuleben. So beschließt sie kurzerhand, dies als Vorsehung und unausweichlichen Befehl des Göttervaters auszugeben.444 Mit dieser Gestaltung der Helena-Figur beteiligt sich Dracontius an der stets schwelenden Frage, wer die Schuld am trojanischen Krieg trägt,445 ob also Helena freiwillig oder aus Zwang mit Paris gegangen ist. In der Tradition des Mythos liegt die Beantwortung dieser Frage jeweils in den Händen der Autoren.446 Die von Dracontius konstruierte Rede deutet ganz auf „freiwillig“, mehr noch, die Freiwilligkeit entwickelt eine Eigendynamik hin zur Führungsrolle in diesem Prozess, 447 so daß von einem „Scheinraub“ zu sprechen ist.448 529b mox haec est uerba locutus Mox leitet hier in der Bedeutung von mox ut einen Nebensatz ein. Im Spätlatein und besonders in christlicher Dichtung ist dieser Ersatz typisch (s. STOTZ Bd. 4,389, K-S II 365, H-S 637, ThLL VIII 1553,1–76, s. auch schon ROSSBERG 1891, 65f.). Der Versschluß ist vielleicht beeinflußt von dem vergilischen Versschluß Aen. 8,404 ea uerba locutus. 530 Tyndaridis Seit Lucr. 1,464 für Helena verwendet; bei Dracontius nur hier. Es mag an dieser Stelle im Gedicht, an der Helena gleich ihre Führungsrolle übernehmen wird, neben der Variatio eine besondere Bedeutung haben. Prominent setzt Horaz sat. 1,1,99f. at hunc liberta securi / diuisit medium, fortissima Tyndaridarum das Patronymikon an das Versende und spielt dort auf die grausame Klytaemestra an. Auch wenn Helena ihren Mann nicht töten wird (vgl. 538), so wird sie doch im Gedicht des Dracontius der Klytaemestra insofern angenähert, daß sie den Raub initiiert, also den aktiven Part übernimmt, im Gegensatz zur sonstigen Mythentradition. Vielleicht weist der Dichter schon hier durch die Bezeichnung der Helena darauf hin. faciles quatiunt suspiria sensus Die verliebten Seufzer des Paris rühren Helena, die offensichtlich für solche Reden anfällig ist, wie ihre eigenen Worte noch zeigen werden (und wie Paris schon selbst vermutet hatte, 508). Für facilis in der Bedeutung ‘geneigt, leicht zu beeinflussen’ bei Körper und Geist s. ThLL VI 1,62,79– 63,10. Der Begriff suspiria könnte aus der Liebeselegie herrühren, wo er besonders von Properz gebraucht wird, ebenfalls zum Ausdruck einer inneren Berührtheit des jeweils anderen (1,3,27; 2,22,47; 3,8,27).

444 Von einem „Vorwand“ spricht auch SIMONS 2005, 273. Außerdem betont sie die „Terminologie der Ehe“ in dieser Rede (Anm. 178), die hervorhebt, daß Paris nicht nur amator, sondern Ehemann sein wird. 445 S. auch oben die Rede des Paris, in der dieser Menelaos aufs heftigste beschuldigt, so daß auch dort die Frage schon virulent war. 446 Vgl. dazu die Unterscheidung des Servius in historia und fabula (Serv. Aen. 1,526. Serv. auct. Aen. 1,651), BRETZIGHEIMER 2010, 391. 447 S. auch die Junkturen comitans rapina (544) und uolens rapitur (556), sowie die hortative Rede der Helena 551–555. 448 BRETZIGHEIMER 2010, 391.

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III Kommentar

Die Ausdrucksweise scheint von Dracontius selbst erfunden zu sein, vgl. auch Paul. Petric. Mart. 1,299 cum subito adtonitos quaterent miracula sensus. Die Junktur quatiunt suspiria ist wohl Radulf. Tortarius epist. 4,7 o quam dura latus quatiunt suspiria nostrum aufgegriffen worden. 531 et sic orsa refert Vgl. für den Versanfang und die Redeeinleitung 402 und 461 (et sic orsus ait). Für referre als Synonym zu respondere vgl. z. B. Verg. Aen. 4,31, Ov. met. 2,35; 5,337, Romul. 2,14 (s. auch WEBER 1995, 163). quae sit tua … origo Vgl. auch 503 qua stirpe creatus. Der indirekte Fragesatz läßt sich entweder vom Ablativus absolutus te reticente oder von cognouimus abhängig machen. pulcher Helena fällt die Schönheit des Paris ins Auge, ist sie doch selbst so schön. Seine Schönheit wird bei Dracontius auch Romul. 2,104 erwähnt. Sie ist in vielen Varianten der Paris-Geschichte der Grund dafür, daß die Wahl auf ihn als Richter über die Göttinnen fällt, aber am häufigsten, und so auch hier, das Mittel, mit dem er Helena bezirzen kann (zur Toposhaftigkeit dieser Schönheit s. JAVIER 2001, 20f.). 532 te reticente Trotz ihrer Verliebtheit ist es Helena sehr wohl aufgefallen, daß Paris nichts zu seiner Herkunft gesagt hat (vgl. 509–511; der einzige Hinweis, den Paris 529a gibt, ist so kryptisch, daß man ihn fast nicht zählen mag, was Helena wohl auch nicht tut). Das ist auch nicht nötig, denn die Frage diente offensichtlich nur als Gesprächsaufhänger (s. Einleitung zum Abschnitt S. 466). Vgl. Claud. carm. min. 41,10 hac duce non dubitem te reticente loqui. An gleicher Versposition nur noch Lucan. 6,812f. cognoscere Parcae / me reticente dabunt. magis Kann zu dudum cognouimus im Sinne von ualde, admodum verstanden werden (ThLL VIII 56,81). Jedoch fügt es sich besser in den Sinn, wenn man es wie tamen auffasst (so auch WOLFF 1996, z. St. und ZWIERLEIN BT z. St, der auf Orest. 827 und laud. dei 1,488. 558 verweist; vgl. ThLL VIII 60,22–78). cognouimus omnes Cognouimus findet sich vor Dracontius sechsmal im lateinischen Hexameter (seit Lukrez), ausschließlich an dieser Versposition und ist damit eine eher seltene Form, die der Dichter vielleicht gerade deswegen nutzt. Mit omnes ist sicher die gesamte derzeit auf der Insel befindliche Menschenmenge gemeint, die sämtlich das Gerücht der Ankunft des Paris erreicht haben dürfte (442f.; damit ist auch dudum zu begründen – seit der Landung des trojanischen Königssohnes ist bereits einige Zeit vergangen). 533 est commune genus Vgl. 528f. und s. auch dort. Für die Junktur vgl. Ov. met. 1,352 quam commune mihi genus et patruelis origo. Hier spricht Deucalion zu Pyrrha, die die beiden letzten Menschen auf der Erde und von der Erde als ihrem genus sind. Ähnlich steht es um Helena und Paris, die zusammen als neues Projekt die Übernahme der Herrschaft angehen.

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pariter tua regna petamus Helena bezeichnet Troja Paris gegenüber als tua regna, so als würde das Reich schon ihm gehören und er der Herrscher sein. In den ‘Heroides’ schreibt Paris an Helena das thematisch und gedanklich vergleichbare efficiam praesens ut mea regna petas ([Ov.] epist. 16,324). Der Versschluß ist vergilisch (Aen. 3,115), wenn auch die Junktur selbst schon bei Ennius zu finden ist (ann. 253 V. = 239 Sk. regnumque petunt). Zu vergleichen sind außerdem Verg. Aen. 1,620; 4,381; 12,190, Sen. Phoen. 54, [Sen.] Herc. O. 1981, Lucan. 1,456, Mart. 7,64,3, Romul. 5,221; 8,248 u. ö., die diese Wortverbindung als typisch für die lateinische Dichtung ausweisen. Pariter steht in der Bedeutung ‘zusammen, gemeinsam’, wie auch Romul. 10,358 pariter pergamus. Der Versschluß klingt auch Anth. 719d R.,12 pariter sua regna petentis an (WOLFF 1996, z. St.). 534 sis mihi tu coniunx et sim tibi dignior uxor Dieser alles umfassende, einzigartige Vers befindet sich fast in der Mitte der Rede (der vierte von neun). Die streng parallele (nur durch leichte, grammatisch [sis] und metrisch [tibi] notwendige, Änderungen am überlieferten aber unmöglichen sic mihi tu coniunx et sim tui dignior uxor erreichte) Konstruktion wirkt so erhaben und entschlossen wie begeistert. Der Komparativ steht nach WOLFF 1996, z. St. nur für den Positiv. Doch läßt er sich auch mit einem Bezug zu 522 tali … dignatus coniuge erklären. Helena will von sich aus dem Paris eine noch würdigere Ehefrau sein, als die, für die er ausersehen wurde oder die sie bei Menelaos sein konnte. 535 hoc nam fata iubent uel nos hoc Iuppiter urguet Helena scheint dem Leser und Paris das Gefühl geben zu wollen, daß sie für den Lauf der Dinge überhaupt nichts kann, es sei alles vorbestimmt („Helena verwende[t] die fata manipulativ“ SIMONS 2005, 295), sei es von den fata, sei es von Iuppiter, die eventuell auch Synonyme sein könnten (dafür spricht, daß danach nur Iuppiter das Subjekt zu iussit ist). Daß hier Ironie mitschwingt und die Aussage pathetisch, aber nicht unbedingt tieffühlend gemeint ist, läßt sich aus der Charakterisierung der Helena ersehen. Der Vers bildet, zusammen mit 534, ziemlich genau die Mitte der Helena-Rede. Alles Folgende rechtfertigt alles Vorhergehende. Der Versschluß klingt an Hor. carm. 1,22,20, aber in anderer Bedeutung, an. Völlig parallel gebauter Vers. Hoc ist im ersten Halbvers Akkusativobjekt, im zweiten innerer oder adverbieller Akkusativ. Fata iubent an gleicher Versposition noch 68, dort in Verbindung mit mens (s. dort für Parallelstellen). 536 gemini … sub sorte mariti Das Argument der Vorbestimmung aus 535 wird in sors weitergeführt. Die Wendung ist vielleicht auditiv inspiriert von Ov. fast. 2,429 durae cum sorte maritae (maritae ist Nom. Pl.; s. z. St. ROBINSON 2011, 280). WOLFF 1996, z. St. bemerkt die Reminiszenz an Mart. 9,39,5 gemina … sorte maritus. Geminus in der Bedeutung ‘zwei’ vgl. ThLL VI 2,1743,82–1744,27, vgl. besonders Lucan. 2,339 geminos excepi feta maritos.

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III Kommentar

Der Versschluß vielleicht später von Aldhelmus, carmen de virginitate 2217 aufgegriffen. iussit Iuppiter bleibt hier nun allein Subjekt, während die fata im Vers zuvor noch beteiligt waren. Nach vergilischer Manier vertritt der Göttervater durchaus den Willen des fatum. 537 conferet Atridi Die im ThLL und bei VOLLMER angegebene Bedeutung für conferre, nämlich colloqui, disputare (ThLL IV 179,33–58) ergibt keinen guten Sinn. Es hieße dann, der Liebhaber werde mit dem Ehemann darüber sprechen, daß er am Leben bleibt, was nicht gut vorstellbar ist. Eher scheint conferre hier entweder im Sinne von concedere gebraucht zu sein (ThLL IV 185,77ff.) oder in der Bedeutung efficere. Für letzteres ist die ungewöhnliche Konstruktion mit ut belegt (ThLL IV 185,74ff.). Vgl. Aug. civ. 7,2 p.274,25 hoc idem beneficium conferat feminae, ut … liberetur. S. dazu HUDSON-WILLIAMS 1939, 160 und WOLFF 1996, z. St., WOLFF 2015 [a], 365. Wenn conferet für concedet steht, ist als Subjekt der quisquis-Satz zu verstehen und der Dativ Atridi (zur singulären Form s. ThLL II 1096,18) zu conferet zu nehmen. Wenn conferet im Sinne von ‘beitragen zu, wirksam sein für’ steht, läßt es sich persönlich oder unpersönlich konstruieren. quisquis … amator Die Junktur ist Prop. 3,16,13 belegt, bei Dracontius noch laud. dei 3,83. Die Beliebigkeit des Liebhabers fällt auf, die erneut die bedeutende Rolle des Zufalls demonstriert. Atridi … me duxit Ducere kann im Sinne von abducere verstanden werden (WOLFF 2015 [a], 365, ohne Belege; es können jedoch z. B. Verg. Aen. 5,385 [ThLL V 1,2143,76f.], Stat. Theb. 9,82 [ThLL V 1,2129,34], Hermog. dig. 43,30,2 [ThLL V 1,2142,76f.] beigebracht werden), wobei Atridi dann in den quisquis-Satz zu ziehen ist. Bei der alternativen Lösung mit ducere in der Bedeutung in matrimonium ducere (ThLL V 1,2142,51ff.), muß Atridi zu conferet gehören. Das Tempus wirkt zunächst unmotiviert, es läßt sich aber als Perfekt, dessen Erfüllung sich noch bis in die Zukunft ziehen wird, erklären (H-S 318). 538 ut uiuum linquam Menelaos wird zwar verlassen, aber immerhin am Leben sein. Vgl. für die Verbindung Plaut. Capt. 282 HE. Quid pater, uiuitne? PHIL. Viuom, cum inde abimus, liquimus (ThLL VII 2,1462,2f.). non iam moriente marito Variation zu uiuum. Moriente in der Bedeutung mortuo, vgl. Romul. 9,33, VOLLMER MGH 437, WOLFF 1996, z. St., H-S 387; s. auch ROSSBERG 1887 [a], 49f. zur spätlateinischen Erscheinung, das Partizip Präsens Aktiv im Sinne des Partizip Perfekt Passiv zu verwenden (bei Dracontius beispielsweise auch laud. dei 1,661f. et cinis extinctus gelida moriente fauilla / tollitur alta petens erecto crine uagatus), einerseits aus metrischen Gründen, andererseits vielleicht wegen der von der Volkssprache begünstigten Ungenauigkeit in den Tempora. Für non iam in der Bedeutung ‘noch nicht’, die seit Plaut. Asin. 233 zu belegen ist, s. ThLL VII 1,93,34ff. 539 post thalamos Kurzer präpositionaler Ausdruck statt eines Temporalsatzes. Thalami ist metonymisch gebraucht.

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primi Objektiver Genitiv. Gedanklich zu ergänzen ist mariti. cui Erst mitten im Vers, deutlich inversiv gestellt, findet sich das Relativpronomen, das sich auf Helena bezieht. Damit steht sie nicht nur gedanklich, sondern auch am Versbau sichtbar zwischen den beiden Ehemännern. debent fata secundum Die Verantwortung der fata zusammen mit Jupiter hat Helena schon 535 erwähnt. Secundus korreliert mit primus; auch hier ist gedanklich maritus zu ergänzen. Die Wortverbindung auch Claud. 3,142, Sidon. carm. 5,103. 540–567 Flucht 540–543 Weg zum Strand. Verfolger Die Episode der Flucht ist erzähltechnisch raffiniert gestaltet, um Spannung aufzubauen. Denn daß es überhaupt eine tatsächliche Flucht vor Verfolgern ist, wird erst durch die Beobachtung des Paris deutlich, der eine Staubwolke wahrnimmt, die eine herbeieilende Menschenmenge verursacht.449 Diese Staubwolke gibt der Situation vielleicht den Anstrich einer militärischen Auseinandersetzung. Denn daß man die herannahenden Feinde schon an ihrer Staubwolke erkennt, scheint aus einem kriegerischen Kontext genommen zu sein (Lucan. 2,481). Die Situation und die Reaktion des Protagonisten darauf ist der im Seesturm ähnlich und vergleichbar. Das Geschehen ist potentiell lebensbedrohlich und Paris drückt dies in einer Klage- und Verzweiflungsrede aus. 540 et … et VOLLMER MGH scheint laut seiner Interpunktion (Komma nach dixit) et puppes et litora zu verstehen. Möglich wäre aber auch, daß das erste et die Prädikate dixit und poscunt verbindet, während das zweite den Konnex zwischen puppes und litora herstellt. Letztere Variante betont den schnellen, pausenlosen Übergang von der Rede zur nächsten Aktion. egressi Meint entweder das Verlassen des Palasts oder verweist auf das Verlassen der Stadt (für diesen Gebrauch ohne Hinzufügung einer Lokalbestimmung s. ThLL V 2,279,15). puppes et litora poscunt Erinnert an 245 conscendunt puppes et litora linquunt, wo die Gesandtschaft aus Troja abreist. Der gemeinsame Gebrauch von puppis und litus in irgendeiner Form (sei es, daß die Schiffe am Ufer anlegen, sei es daß sie dort liegen oder absegeln o. ä.) begegnet weit über 60 Mal in der antiken lateinischen Dichtung. Poscere in der Bedeutung von petere ‘einen Ort aufsuchen, sich zu einer Stelle aufmachen’ ist erst im Spätlatein in Gebrauch (s. ThLL X 2,78,55– 67; vgl. z. B. Claud. rapt. Pros. 3,387 Cadmi … moenia poscat). 541 dum portus classemque petunt Variatio von puppes et litora poscunt (540). Die Junktur portus petere ist vergilisch (Aen. 5,32 haec ubi dicta, petunt portus). 449 Die Verfolgung des Paris durch Anwohner, die ihn aufhalten und sich dem Verbrechen entgegenstellen wollen, ist ein für diesen Mythos verbreitetes Element: Vielleicht in den ‘Kyprien’, wenn man Proklos’ kurze Äußerung καὶ προσενεχθεὶς Σιδῶνι ὁ Ἀλέξανδρος αἱρεῖ τὴν πόλιν (Chrest. 103f. [Severyns]) unter der Hinzunahme von Apollod. epit. 3,4 εὐλαβούμενος δὲ Ἀλέξανδρος μὴ διωχθῇ πολὺν διέτριψε χρόνον ἐν Φοινίκη καὶ Κύπρῳ so versteht; Dict. 1,3. 5 (jeweils in Sidon), Dares 10 (beim Raub der Helena), vgl. auch SIMONS 2005, 279.

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III Kommentar

Mit classem petere (singulär) variiert Dracontius den üblichen Gebrauch der Worte in der Dichtung für ‘zu Schiff einen Ort erreichen’ (classi petere). 541f. respexit ad urbem / pastor Respexit ad urbem ist ein vergilischer Versschluß, Aen. 12,671; er ruft die Kriegssituation in Erinnerung, in der sich Turnus befindet und gibt die Stimmung an unsere Stelle weiter. Zu pastor als Standardbezeichnung für Paris in diesem Gedicht s. die Einleitung Kap. 2.1.3 und 2.1.3.5.1. 542 consurgere nubem Der Versschluß ist lucanisch (2,481, abhängig von einem conspexit) und evoziert die dort ebenfalls herrschende Kriegsstimmung. Vgl. auch Iust. 29,3,1 consurgentem … nubem. 542f. ingentem … nubem / pulueris extorti Lateinische Staubwolken aus der Verbindung von nubes und puluis sind üblich (Lucr. 5,253, Verg. Aen. 8,593; 9,33, Sen. Phoen. 394, Ag. 599, Lucan. 9,455, Stat. Theb. 4,664 u. ö.). Die Junktur ingens nubes auch Val. Fl. 5,618f. Geticis ueniens Gradiuus ab antris / ingentemque trahens Arctoa per aequora nubem. Die Verbindung puluis extortus (Der Genitiv läßt sich als materiae bestimmen, H-S 52) ist singulär (ThLL V 2,2040,66f.). In Kombination mit dem Simplex torquere ist die Wendung aber nicht ganz unbekannt: Lucan. 4,767 quantus Bistonio torquetur turbine puluis. Die Junktur scheint so eine Variation des geläufigeren torquere harenas zu sein: Verg. georg. 3,350 torquens flauentis Hister harenas, Sil. 10,203f. sublatum puluere campum / Vulturnus rotat et candentes torquet harenas, Claud. rapt. Pros. 2,310 torquet harenas (sc. Auster). 543 mouit quam turba sequentum Mouere entweder in der Bedeutung ‘verursachen’ (sonst eher prosaisch Liv. 10,41,5 puluis uelut … agminis incessu motus, Sen. epist. 13,8 puluis motus fuga pecorum; dichterisch Eleg. in Maecen. 1,19f. harenas / … quas … unda mouet) oder, aber eher unwahrscheinlich, ‘vorwärts bewegen, näher kommen lassen’. Für den Versschluß vgl. Ov. am. 1,7,37 turba sequetur, met. 13,221 turba sequatur, 15,691 turbae … sequentis, Iuvenc. 1,732 turba sequentum. 544–550 Angstrede des Paris Diese Rede stellt dem Leser die Gemütsverfassung des Paris plastisch vor Augen. Der Held sieht den Tod vor Augen – occidimus (545). Die zypriotischen Griechen sieht er in der Staubwolke auf sich zukommen. Möglicherweise hat Menelaos seiner Frau Helena Begleiter auf Zypern zurückgelassen, die Paris nun mit satelles coniugis Atridis (547f.) benennt; wenn sie aus der nahen Umgebung des Herrschers stammen, müssen sie einen Raub der Ehefrau natürlich verhindern. Von diesen beiden Gruppen, scheint sich Paris vorzustellen, werden weitere unterstützende bewaffnete cohortes akquiriert, so daß dem Räuber der Tod vollkommen sicher zu sein scheint.450 450 So wird die turba sequentum (543) aufgegliedert.

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Aber die Rede besitzt auch prophetisches Potential. Denn es ist möglich, jedes einzelne Detail, das die momentane Situation von Paris und Helena betrifft, in Verbindung mit dem kommenden trojanischen Krieg zu bringen. So kann die Graia iuuentus das ganze griechische Heer meinen, das Menelaos zur Rückeroberung der Helena von den übrigen Herrschern Griechenlands aufstellen lassen kann. Die satelles coniugis Atridis mögen Leute aus dem näheren Dunstkreis des Menelaos selbst sein, während die cohortes armatorum erneut sämtliche am trojanischen Krieg beteiligten Kämpfer Griechenlands bezeichnen dürften. Der Satz et mecum fortasse cades (550) dürfte wohl darauf verweisen, daß Paris seinen eigenen Tod vor Augen sieht, den er im trojanischen Krieg auch tatsächlich erleiden wird. 544 alloquitur Mit Hilfe des Wortes alloqui spielt Dracontius mit der Lesererwartung. Es ist ein Wort, das im militärischen Kontext zur adhortativen Ansprache an die Soldaten genutzt wird (ThLL I 1694,49ff.). Außerdem begegnet es bei Trostreden (ThLL I 1696,70ff.) zur Ermutigung. Es wird also üblicherweise für eine Rede, die von einem Stärkeren zu einem Schwächeren geht, genutzt (außer beim Gebrauch in Bezug auf Gebete, ThLL I 1696,42ff.; vgl. auch 220 als Einleitung der Rede des Priamus an Paris, mit der der Vater den Sohn aufmunternd zu einer unkriegerischen Unternehmung leiten möchte). So muß beim Leser das Gefühl entstehen, jetzt spreche der starke Mann im Angesicht der drohenden Gefahr der Frau Mut zu und ermuntere sie zum Durchhalten. Aber stattdessen folgt eine Klagerede, in der erneut die ganze Unzulänglichkeit des Paris deutlich wird. Die Komik wird noch durch rapina gesteigert. Denn wer bei praedo und rapina normalerweise der Stärkere und wer der Schwächere ist, liegt auf der Hand. Auch mit dieser Erwartung wird gespielt. Paris macht sich mit seinem Verhalten deutlich kleiner als seine Beute und gibt die Rolle als Herrscher völlig ab. comitantem praedo rapinam Die Komik steigert sich weiter. Comitans nimmt Bezug auf 533f., wo Helena das Heft in die Hand nimmt und selbst geraubt werden will, bzw. mit Paris zu gehen vorhat. Das Wort rapina, das Helena meint, wird durch das Paradoxon vollkommen seiner Bedeutung beraubt. Rapina für Helena findet sich schon [Ov.] epist. 16,150 uisa es, (sc. Helena), tanto digna rapina uiro (sc. Theseo) und Ov. ars 3,759f. (sc. Paris) Helenen auide si spectet edentem, / … dicat ‘stulta rapina mea est’ (vgl. ThLL XI 2,90,41ff.). Dieser schon vorgeprägten Metonymie gibt Dracontius durch den Zusatz von comitans eine neue Richtung. 545 occidimus Der verzweifelte Ausruf begegnet seit Plaut. Most. 733. Am Versanfang schon Ov. met. 11,662, Stat. Theb. 12,437, Ach. 1,532, Sil. 2,567, Paul. Nol. carm. 15,25. Bei Dracontius noch Romul. 10,228 und Orest. 164 (GRILLONE 2006, 100f.). Nur an unserer Stelle fällt der Versanfang auch mit dem Redeanfang zusammen. Ob es sich um Präsens oder Perfekt handelt, ist unentscheidbar. regina So hatte sich Helena 447 selbst bezeichnet, auch 499 wird sie so benannt, und 512 findet sich reginam laudabat amans (sc. Paris). Die Anrede regina an dieser Stelle wirkt distanziert. So wie sich Paris angesichts seiner Lage wohl auch am liebsten vom Plan distanzieren würde, mit Helena das Weite zu suchen. Aber es

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III Kommentar

drückt auch ein Abhängigkeitsverhältnis aus. Paris scheint Hilfe bei der Königin zu suchen, weil er selbst der Situation nicht gewachsen ist. pares In der Bedeutung ‘gemeinsam’ (ThLL X 1,265,32–50). Fortasse in 550 scheint dem zu widersprechen, aber man mag diese inhaltliche Inkonzinnität der Situation zugestehen, mit der sich Paris konfrontiert sieht. Da ergibt es sich ganz natürlich, zunächst allumfassend occidimus auszurufen, um später vielleicht etwas differenzierter das Zukunftsszenario vor Augen zu haben. 545f. nos Graia iuuentus / insequitur Der Versschluß Graia iuuentus findet sich Ov. epist. 12,203, Lucan. 3,355. 516. In unserem Gedicht auch 316. In der hier geforderten Bedeutung begegnet insequi hauptsächlich in der Prosa (s. ThLL VII 1,1865,69ff.). 546f. gladio uestigia nostra sequaci / captatum Für die grammatische Konstruktion stellt sich an dieser Stelle die Frage, wieviel Experimentierfreude Dracontius zuzutrauen ist. Regelkonform läßt sich uestigia nostra als Akkusativobjekt zum Supin captatum verstehen. Eine Erklärung erfordert dann die singuläre Junktur gladius sequax, die sich allerdings mit Val. Fl. 7,619 ense sequaci und Sil. 15,720 telo … sequaci parallelisieren läßt. Da sequax sonst nicht von leblosen Dingen begegnet, würde Paris in einer Art Paniksituation die Waffe personifizieren. Es ist aber m. E. nicht völlig auszuschließen, daß Dracontius sequax wie sequens verwendet und ihm ein Akkusativobjekt beigesellt, auch wenn sich dafür keine Parallele findet (die Junktur dürfte dann die Funktion eines Ablativus absolutus übernehmen, captatum wäre absolut gebraucht). Dafür spricht die Wortstellung und die unten (zu 546) aufgeführten Versschlüsse, so daß dieses Verständnis hier bevorzugt wird. Entwickelt haben mag Dracontius den Gebrauch der Junktur aus der prosaischen Wendung cum gladiis sequi (z. B. Cic. Phil. 2,108; 7,13) oder aus Lucan. 2,115 mille licet gladii mortis noua signa sequantur. Vgl. die ähnliche Konstruktion bei anderen Adjektiven auf -ax, z. B. Prop. 4,6,63 cumba … fugaci. WOLFF 1996, z. St. vergleicht zudem 456 sequente uolatu. 546 uestigia nostra Die Junktur mag ohne inhaltlichen Bezug inspiriert sein von Lucr. 4,365 uestigia nostra sequi und (vielleicht eher, weil es sich hierbei auch um Versschlüsse handelt) Iuvenc. 3,303 uestigia nostra sequetur („positives Folgen“ in einer der Abschiedsreden Jesu); 518 uestigia nostra sequeris („positives Folgen“ in der Geschichte vom reichen Jüngling). 547 captatum Supin (das einzige im Werk des Dracontius, VOLLMER MGH 437; ganz regelmäßig nach einem Verb der Bewegung peruenit), entweder mit uestigia nostra als Akkusativobjekt (im Sinne von captare oculis, VOLLMER, ThLL III 377,17f. und WOLFF; für Supin mit Akkusativobjekt als Phänomen des Altlatein und der Prosa s. H-S 381f.), oder mit einem gedachten nos oder absolut, wenn man den Ablativus absolutus gladio sequaci annimmt. peruenit iter Die Verbindung läßt sich wohl als singuläre Variation des bekannten iter facere (s. auch WOLFF 1996, z. St.) oder iter peragere (ZWIERLEIN BT z. St.

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vergleicht cod. Iust. 2,7,26,4 cum medium iter peruenerint) erklären. Gerade wegen der Singularität sind Konjekturen für iter vorgebracht worden (BÜCHELER iet, SCHENKL item), doch läßt sich die Junktur mit dem Sprachgebrauch des Dichters vereinbaren, der gelegentlich ungewöhnliche Kombinationen wagt. 547f. quicunque satelles / coniugis Atridis Quicumque für quisque findet sich noch laud. dei 1,62. 515, Romul. 7,149; 10,574, Orest. 676. Satelles auch 243 (s. auch dort). Für den Versanfang vgl. Ov. ars 1,334 coniugis Atrides uictima dira fuit. 548 subnixus et hospite turma Der Blick weitet sich von der vermutlich recht kleinen Gruppe der satelles Atridis auf die durch Gastrecht verpflichtete Gemeinschaft der Zyprioten (für die jetzige Situation) oder der Griechen (mit Blick auf das prophetische Potential, das auf den trojanischen Krieg selbst verweist), auf deren Unterstützung Menelaos setzen kann. Subnixus in der Verwendung im Kriegskontext scheint tendenziell eher prosaisch zu sein: Cic. rep. 2,25 subnixus uictoriis diuitiisque, Tac. ann. 1,11,1 in ciuitate tot illustribus uiris subnixa, Ps. Quint. decl. 3,3 cum tota subnixum Numidia fregimus Iugurtham. Hospes ist als feminines Adjektiv (ThLL VI 3,3029,75–77; NEUE / WAGENER 2, 35) verwendet. Der Versschluß bildet ein Schema ab, das sich in Verbindung mit hospite häufig findet: einsilbiges Wort – hospite – zweisilbiges Wort (z. B.: Ov. epist. 8,73, met. 1,144; 13,760, Lucan. 10,455, Stat. Theb. 5,464, Val. Fl. 3,288 u. ö.). 549 mox Gliedert und verbindet die verschiedenen Aktionen. armatorum rapiens ad bella cohortes Die Junktur armatorum cohortes ist spät, sehr ungewöhnlich und prosaisch: Heges. 1,6,1 und Rufin. hist. 3,8,5. Der Versschluß begegnet Sil. 12,484 impellebat agens properata ad bella cohortes; Heptateuchdichter Ios. 23 moturus ualidas uicina ad bella cohortes. Singuläre Verwendung der Verbindung rapere ad bella. Rapere ad findet sich Prud. c. Symm. 1,61, perist. 4,39, Paul. Petric. Mart. 4,289. Ähnlich ist vielleicht Sil. 10,91 iuuenem diuersa ad proelia raptat, Stat. Theb. 2,459 infanda ad proelia raptos. Bei Dracontius selbst dürfte Romul. 10,319 rapiebat in enses vergleichbar sein. 550 et mecum fortasse cades Nach der Gefahr einer Gefangennahme stellt Paris Helena die schlimmere Gefahr eines sofortigen Todes vor Augen, falls durch die Verfolger nun Waffen zum Einsatz kommen. Der Versanfang stammt aus Stat. Theb. 5,247 (Imitation mit Übernahme des Verses bis zur Hephthemimeres, wie auch in Romul. 10,380. 500; vgl. MOUSSY 1989, 428). Vgl. auch Orest. 188 nam mecum miser ipse cades Agamemnone uiuo. si tela sequentur Die Verbindung von tela und sequi ist vergilisch: Verg. Aen. 6,110 (ebenso Proba cento 423, Heptateuchdichter Ios. 152) sequentia tela; 11,809 tela inimica sequantur.

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Sequi vielleicht für das Kompositum consequi (WOLFF 1996, z. St.), wahrscheinlicher zur Angabe der Chronologie der Gefahren, also ‘zeitlich folgen’. 551–556 Antwort der Helena Helena antwortet leicht ungehalten auf die Rede des Paris. In ihren Worten wird klar, daß sie die Kontrolle über die Situation übernommen hat. Aus der schwierigen Passage am Ende der Rede geht hervor, daß einige Diener die beiden auf ihrer Flucht begleiten (ministri 553 und 555). Helena befiehlt Paris, diesen den Auftrag zu geben, sich den Verfolgern entgegenzustellen. 551 tunc Spartana refert Nur Dracontius substantiviert das Adjektiv Spartana und nutzt es zur Bezeichnung der Helena (ebenso 444). Tunc refert als Einleitung einer Antwort findet sich auch Stat. Ach. 1,143 tunc ille refert (s. auch zu 531). iuuenis Die Anrede wirkt etwas distanziert; so hat Helena auch von Paris gesprochen, als sie nur vom Hörensagen von ihm wußte (444), bevor sie sich verliebt hatte. Auch Klytaemestra spricht Aegisth mit dieser Anrede an, als sie sich von ihm Aktivität wünscht (Orest. 164). Für iuuenis in der Literatur s. BERTIL AXELSON: Die Synonyme adulescens und iuuenis, in: Mélanges de Philologie, de Littérature et d’Histoire anciennes offerts à J. Marouzeau, Paris 1948, 7–17; als Anrede s. DICKEY 2002, 195f. 551f. quid nostra retardas / pectora Seit Verg. georg. 3,253 begegnen Formen von retardare am Versende. Pectus meint hier vermutlich den Beschluß, oder etwas romantischer, den Herzenswunsch von Helena und Paris, nämlich gemeinsam die Königsherrschaft in Troja an sich zu reißen. Damit wird die bekannte Verwendung von pectus als Sitz der Affekte (ThLL X 1,914,20–915,4) und Ort, an dem Beschlüsse (ThLL X 1,915,5–19) gefaßt werden, weiterentwickelt (vgl. Stat. Theb. 11,104f. ne nostra retardent / consilia). Es scheint eine solche Bedeutung hier nötig zu sein, weil der gemeinsame Plan auf Helenas Drängen hin in Angriff genommen wurde (532f.). Das heißt, ihr Unwille, daß er sie davon abhalte, so schnell wie möglich Königin zu werden, ist nur verständlich. Ihr wird gerade der Zukunftstraum zunichte gemacht. Anders, jedoch nicht weniger erwägenswert, versteht WOLFF 1996, z. St. den Ausdruck. In seiner Übersetzung nimmt er für pectus die Bedeutung ‘Atemzentrum, Lunge’ (ThLL X 1,912,61–913,6) an, deren Tätigkeit durch das Gerede des Paris ineffektiver und schwieriger für das Laufen gemacht wird. Der wörtliche Anklang an Stat. Theb. dürfte indes gewichtiger sein, so daß der ersten Möglichkeit der Vorzug gegeben wird. 552 colloquiis Die Form findet sich vor Dracontius nur fünfmal in der lateinischen Dichtung. Auch dieses Wort lädt Helena mit einer despektierlichen Konnotation auf. Weibisches Gerede und Gequengel ist ihrer Meinung nach in dieser Situation völlig unpassend. Phrygibus tamen arma capessant Es wird sich bei den Phrygern um die Gruppe handeln, die mit Paris nach dem Seesturm auf Zypern gelandet ist. Der Ausdruck

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arma capessere ist vergilisch (Aen. 3,234f. sociis tunc arma capessant / edico) und damit offensichtlich auch für die Konstruktion Anknüpfungspunkt des Dracontius, findet sich aber variiert auch in der Folgezeit (Ov. met. 11,378 [Versanfang], fast. 6,371, Lucan. 4,702, Sil. 9,54, Iuv. 8,270). Tamen leitet zur jetzt geforderten gegenteiligen Handlung des Paris über und bezieht sich daher – trotz der Wortstellung – auf iube. 552f. An iubere wird die ungewöhnliche Konstruktion mit Dativ angeschlossen, angeglichen an die Konstruktion von imperare, vgl. ThLL VII 2,577,39ff. und H-S 646; auch W.A. BAEHRENS: Vermischtes, Eranos 13, 1913, 18–29, hier 21. Mit bloßem Konjunktiv kann iubere schon seit Plautus belegt werden. 553 rex dilecte Singuläre Junktur. Diligere in der Bedeutung amare begegnet seit Cicero in der Prosa und seit Catull in der Dichtung (ThLL V 1,1177,22ff.). In dieser Situation, wo Helena dem König aufträgt, Befehle auszusprechen, dürfte die Anrede rex leicht ironisch wirken (BRIGHT 1987, 127f.). Andererseits ist damit auch die potentielle Übernahme der Herrschaft in Troja (533) schon vorweggenommen. gressus celerare Gemeint ist nicht auf der Flucht in Richtung Strand, sondern in Richtung der Verfolger, die es von Helena und Paris abzuhalten gilt (so auch ZWIERLEIN 2017, 120). Dieses Verständnis geht aus 555 hervor. Für die Junktur vgl. Sil. 1,574; 6,499 celerem gressum, Paul. Nol. carm. 6,149 celeri … gressu, Orient. comm. 2,355 celeratis gressibus, und in unserem Gedicht 110 celeres … gressus. ministros Meint und variiert die Phryger 552, also die Partei des Paris. 554 imperio compelle tuo Variation des iube 553. Dracontius verbindet in dieser Wortgruppe die beiden Beinahe-Synonyma imperare und compellere, die gelegentlich auch in einer gewissen Nähe zueinander auftreten, z. B. Claud. 22,452f. tunc imperat omnes / pone sequi dictisque simul compellat euntes, Carm. de aegr. Perd. 109f. flumina quoque tenet nec non maris imperat undis, / corpora uel modicam conpellit adire quietem. Für die Konstruktion von compellere mit Infinitiv vgl. ThLL III 2034,13ff. Die Wortstellung imperio … tuo an dieser Versposition ist Dracontius eigen und findet sich nur beim ihm; noch Romul. 10,70. 83. RIBBECKs 1873, 468 tuos, bezogen auf ministros 553 hätte einiges für sich, aber tuo ist durch die beiden anderen parallelen Stellen gesichert. Außerdem kann man tuum imperium auch als Fortführung von Helenas Rüge an Paris 551f. verstehen. Sie möchte dem Mann mitteilen, daß er etwas zu sagen hat, daß er seine Verantwortung wahrnehmen muß und endlich handeln soll. Er soll den Befehl geben, er soll nicht jammern, sondern seine Position ausnutzen und Aufträge verteilen. properemus ad aequor Helena drängt auf die Fortsetzung des Laufs zum Hafen, der durch Paris und seine Rede unterbrochen worden war. Die Konjektur IANNELLIs für den Indikativ properamus ergibt sich als Weiterführung der vorhergehenden Imperative an Paris.

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III Kommentar

555 Der Vers ist durch seine offensichtliche Verderbtheit sowohl sprachlich als auch inhaltlich schwer zu durchschauen. Konjiziert wurde bisher für überliefertes Et uacate Iussis (das VOLLMER MGH und WOLFF 1996 als et uacat e iussis drucken): atque uacet iussis von IANNELLI; et uacat auersis von BÜCHELER 1872, 477; et uacet auersis von VON DUHN; Et uacat elusis oder emissis von BAEHRENS; et uacat, en, iussis von MORELLI 1912, 120; et uacet enisis GIARRATANO 1906, 14; dum uacet oder dimicet ecfussis von RIBBECK 1873, 468; dum uacat et missis concurrit (für concurrens in N, das alle übrigen unangetastet ließen) von ZWIERLEIN BT (s. auch den kritischen Kommentar 2017, 119–121 für seine Argumentation). Die Version ZWIERLEINs ergibt sowohl einen ganz ausgezeichneten Sinn, als auch einen grammatisch tadellosen Text. Von großem Vorteil ist die Beibehaltung der eindeutigen Gruppenbezeichnungen (turba für die Verfolger schon 543 und ministri für die Partei des Paris 553; bei VOLLMER müssen die Gruppen ausgetauscht werden; er verbindet laut MGH 422 uacat mit ministris). Das zu ministris gesetzte missis verdeutlicht das gressus celerare ministros / imperio compelle tuo (553f.), das ohne Erklärung nicht leicht als Auftrag verstanden wird, gegen die Verfolger anzugehen. Die Verbesserung des Partizips concurrens zum Prädikat concurrit (s. dazu besonders ZWIERLEIN 2017, 121, Anm. 391) macht die turba vom mißverständlichen uacat unabhängig, das nun absolut die Möglichkeit, den Weg unbehelligt zurückzulegen, während die Verfolger beschäftigt sind, ausdrückt. Vielleicht kann dieser gute Sinn mit leichten Einschränken auch durch eine geringere Anzahl an Eingriffen in den Text gewonnen werden (ähnlich auch THOMAS GÄRTNER in seiner im Erscheinen begriffenen Rezension EDK 19, 2018). Wenn man BAEHRENs und RIBBECKs Konjektur dum uacat emissis concurrens turba ministris druckt, nimmt man in Kauf, mit emittere ein Wort einzusetzen, das Dracontius an keiner anderen Stelle gebraucht (darauf weist auch ZWIERLEIN 2017, 120, Anm. 388 hin). Doch könnte gerade in diesem Zusammenhang Mar. Victor aleth. 3,668 emissos famulos pacisque iraeque ministros eine wichtige Belegstelle für die Zeit des Dichters sein, wenn auch nicht für ihn selbst. Paläographisch würde nur die leichte Änderung von iussis in missis (ZWIERLEIN 2017, 121), nicht noch das zusätzliche e in et. Schwieriger dürfte die Verschreibung von dum in et am Anfang des Verses gewesen sein, die RIBBECK 1873, 468 mit einer möglichen verzierten Majuskel erklärt. Das dum ist dennoch dem et vorzuziehen, weil es den klareren Satz ergibt und auch das Präsens uacat problemlos verständlich ist. Vacare muß dann im Sinne von ‘leer ausgehen’ (weil die turba das Paar nicht erreicht), ähnlich wie in 345 verstanden werden. Concurrere steht hier mit Dativ; vergleichbar ist Romul. 4,17f. trucibus … diu concurrere monstris / compellor, ebenfalls in einem feindlichen Kontext, auch in Verbindung mit compellere (s. auch ZWIERLEIN 2017, 121). Das Wortmaterial des Versschlusses dürfte an Orest. 695 turba ministra erinnern. 556–567 Das Europa-Jupiter – Helena-Paris – Gleichnis und die Abfahrt Der Raub wird nun doch als Raub mit entsprechenden Vokabeln geschildert und empfunden, in dem Moment, in dem Paris Helena offensichtlich auf seine Schultern nimmt und eilig davonträgt. Zustande gekommen ist dies nur auf Drängen der

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Helena;451 die Situation wird durch den Vergleich mit dem Raub der Europa452 noch komischer.453 Der ohnmächtige und unfähige Paris wird hier mit dem mächtigen olympischen Gott Jupiter gleichgesetzt. Vor dem Hintergrund der jammernden Rede des Protagonisten wirkt der Jupiter-Vergleich entsprechend ironischer,454 weil die mit Jupiter in Verbindung stehenden Adjektive die Macht des Gottes besonders herausstellen: Olympiacus, fulmineus, caelestis.455 Auffällig ist, daß zwei dieser Adjektive auf die tierischen Attribute des Gottes bezogen sind, was der „Verkleidung“ des Gottes einen leicht komischen Touch gibt, da sich der Gott in seiner Metamorphose ja selbst eines Teils seiner Göttlichkeit beraubt.456 Die Lächerlichkeit des Paris, die sich einerseits aus seinem der Helena untergeordneten Verhältnis, andererseits aus dem direkten Vergleich mit Jupiter ergibt, steht an dieser Stelle im Fokus.457 Sie ist der eigentliche Transporteur von Ironie und Komik. Die letzten Schritte des Paris und die Abfahrt der beiden stellen die Realebene des Gleichnisses dar, auf der sich die Vergleichspunkte explizit darstellen. Die Lächerlichkeit des Paris gegenüber dem großen Gott wird in weiteren Details konkretisiert. Während der olympische Gott ausdrücklich Freude über die Last auf dem Rücken empfindet, steht beim gratum onus (565) des Paris eher das Gewicht im Vordergrund; das hinzugesetzte gratum ist im Prinzip bereits von der völligen Erschöpfung des Protagonisten überstrahlt (exhaustus, lassus 564). Jupiter wird mit seinem Namen samt seiner göttlichen Eigenschaften genannt, Paris erhält die wenig rühmliche Bezeichnung raptor turbatus (563). Seine Funktion als raptor, 451 Vgl. besonders BRETZIGHEIMER 2010, 395f. 452 Zur Verbreitung des Mythos in der Zeit: Das Gedicht 143 R = 132 Sh.-B. in der Anthologia Latina terga bouis credens Europa ascendit alumni / inseditque Ioui non reuisura patrem. / fraude suos genitor celat uel complet amores: / nam deus in tauri corpore praedo latet hat den Raub der Europa zum Thema. Bei Dracontius selbst findet der Europa-Raub noch in Amors Aufzählung seiner Liebesstiftungen zu Beginn des ‘Hylas’ (20–22) Erwähnung. In Romul. 10,315f. werden Medea und Jason mit Jupiter und Europa gleichgesetzt: Der Fokus liegt dort allerdings auf der Trauer der jeweiligen Brautväter Aietes und Agenor. Für eine intensive Auseinandersetzung mit Gestaltung und Rezeption des Mythos s. KONRAD HELDMANN: Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus. Die Entführung Europas in den Darstellungen der griechischen und römischen Antike, Göttingen 2016. Mit anderer Gewichtung auch ALMUTBARBARA RENGER / ROLAND ALEXANDER ISSLER: Europa – Stier und Sternenkranz. Von der Union mit Zeus zum Staatenverbund, Göttingen 2009. 453 Die Form eines „Kontrastgleichnisses“ stellt auch STOEHR-MONJOU 2014, 93–95 fest. BRIGHT 1987, 128 und SIMONS 2005, 274 begreifen es ohne Einschränkung als typisch episches Gleichnis. BRETZIGHEIMER 2010, 396 sieht die Lächerlichkeit des Paris. 454 STOEHR-MONJOU 2014, 94 Anm. 81 erwägt einen Hinweis auf Ironie im Kontrast zwischen Jupiter und Paris, zwischen Gleichnis und Realebene, traut sich jedoch offenbar nicht, eine definitive Aussage zu treffen. M. E. ist eine auf Ironie beruhende Komik an dieser Stelle in jedem Fall intendiert. 455 Die Begriffe sind zusammen mit iuuencus deus (557f.) und Iuppiter ipse (558) auch wegen der gestalterischen Variation in der Bezeichnung des Gottes hervorzuheben. 456 STOEHR-MONJOU 2014, 93f. 457 BRETZIGHEIMER 2010, 396 bemerkt eine Entlastung des Paris in „elegischer Manier“, wenn sein Raub mit dem des Jupiter gleichgesetzt wird. Doch die Frage der Schuld stellt sich an dieser Stelle, an der Helena die Führung völlig übernommen hat, eher nicht. Vgl. auch die Kritik von STOEHR-MONJOU 2014, 94, Anm. 81 dazu.

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die er allein durch das Wortfeld ‘Raub’, nicht durch die tatsächliche Handlung erhält, wird insbesondere durch die Reminiszenz an Lucan. 8,3 (s. zu 564) unterminiert. Indem Dracontius die Verwandtschaftsverhältnisse der Europa betont, werden die Folgen ihres Raubes in Erinnerung gerufen: Der Vater vergeht vor Trauer, der Bruder wird der Geraubten nachgeschickt und endet im Exil.458 So führt nicht nur der Helenaraub zum Verderben einer großen Menge an Menschen, sondern auch Agenor und Cadmus erwarten unglückliche Zeiten. Eine Verbindung zwischen dem Helena-Raub und dem Europa-Raub herzustellen, ist keine Erfindung des Dracontius, sie begegnet schon in der ‘Achilleis’ des Statius (2,72–75). Odysseus referiert dort in einer Rede an Achill die Ursachen des trojanischen Krieges, wobei er bemerkt, daß letztlich in der näheren Umgebung des Achill selbst der Urgrund liege, weil der Streit der Göttinnen auf der Hochzeit von Peleus und Thetis entbrannt ist. Odysseus berichtet vom Raub der Helena durch Paris und macht den Kriegsausbruch als Reaktion verstehbar, indem er Beispiele anführt, wo sonst ein Raub nicht gleichmütig ertragen wurde. An erster Stelle der Reihe steht Agenor, dessen Verhältnis zu Jupiter daraufhin mit aspernari bezeichnet wird (74).459 556f. Helena rahmt den Satz, indem es vorn heißt effata uolens und am Ende nurus; sie beherrscht ihn als Subjekt zu rapitur, obwohl Paris der Handelnde ist. Durch diese beiden Elemente wird Helenas Überlegenheit gegenüber Paris deutlich gemacht, der nur auf ihr Betreiben hin handelt. Vor diesem Hintergrund wirkt auch die Bezeichnung tyrannus für Paris ironisch. Denn die theoretische Grausamkeit, die in einem rapere eines tyrannus liegen mag, ist durch die Darstellung und Handlungsweise Helenas längst ad absurdum geführt. Im Allgemeinen ist die Bezeichnung tyrannus im Sprachgebrauch des späten Latein negativ konnotiert (vgl. OPELT 1967, 252ff., bei Dracontius s. besonders DE GAETANO 2009, 134–147; 2010, 176f., ebenso STOEHR-MONJOU 2014, 93, die jedoch jeweils die Benennung als 458 SIMONS 2005, 274. Auch diese Folgen sind sicher ein Argument gegen eine Entlastung des Paris durch den Einsatz des Gleichnisses. 459 Wenn man noch weiter zurückgehen mag, gelangt man zu Herodot, der in seinem Prooem eine Reihe von Frauenraubepisoden aufzählt, die schließlich im Raub der Helena als Ursache für den trojanischen Krieg münden. So wird auch hier, wenn nicht die Gleichsetzung, so doch die Verbindung der beiden Raubgeschichten deutlich (Her. hist. 1,1. 2). STOEHR-MONJOU 2014, 92 findet hingegen den Anlaß für die Auswahl dieses Mythos in der alexandrinischen Dichtung, wo er verschiedentlich aufgegriffen wird. Sie führt dabei zum einen Moschus an; ob Dracontius dessen Epyllion über den Raub der Europa kannte, ist unklar (s. auch zum Problem der Griechischkenntnisse die Einleitung, zu diesem Epyllion s. MERRIAM 2001, 51–73; PETER KUHLMANN: The Motif of the Rape of Europa: Intertextuality and Absurdity of the Myth in Epyllion and Epic Insets, in: BAUMBACH / BÄR 2012, 473–490). Als sicher bestimmt STOEHR-MONJOU hingegen den Rückgriff auf Ovids ‘Metamorphosen’, wo der Mythos als Bild auf Arachnes Webteppich erscheint. Aber die beigebrachte Parallele (Ov. met. 6,104 beginne ebenfalls mit Europam) scheint nicht auszureichen, um eine Imitation zu postulieren (sie selbst benennt konkret die Abgrenzung des Dracontius von Ovid). So ist es insgesamt leichter, die Anwendung des Gleichnisses aus der traditionellen Gleichsetzung der Frauen-Erbeutungen zu erklären.

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ernstgemeinte Charakterisierung annehmen; dagegen WOLFF 1996, z. St., der es als neutrale Herrscherbezeichnung ansieht), und zwar im Blick auf die Grausamkeit des Tyrannen. Dieser Aspekt herrscht in der Spätantike bei der Bezeichnung tyrannus vor. Überträgt man diese Konnotation auf unsere Situation, lassen sich einmal die Grausamkeit des Raubes, zum anderen die geplante Herrschaftsusurpation (sowie die „Frauenusurpation“ STOEHR-MONJOU 2014, 93 und Anm. 73) im Titel tyrannus lesen. Da beides aber nicht auf Paris selbst zurückgeht, sondern auf Helenas Plan, wirkt die Bezeichnung lächerlich und ironisch. 556 sic effata Effari scheint typisch für den Abschluß einer Rede zu sein. Dieser Versanfang findet sich Verg. Aen. 4,30; 7,456, Stat. Theb. 9,668, Arnob. nat. 5,26 (versus Orphici 1), Claud. 18,375, Prud. psych. 407, Romul. 10,509. uolens Auch wenn jetzt Worte aus dem Wortfeld ‘Raub’ genutzt werden, bleibt doch die Freiwilligkeit der Geraubten im Fokus. rapitur per colla tyranni Der Akt des Raubes. Per oszilliert zwischen lokaler und instrumentaler Bedeutung (man könnte auch noch einen Schritt weitergehen und es als Ersatz für a mit Ablativ als Agens beim Passiv verstehen, H-S 240. Dafür spräche die folgende Konstruktion 557f. terga rapuere). Die schöne und inhaltlich hervorragend passende Idee BRETZIGHEIMERs 2010, 396, Helena „könne sich selbst dem ‚Entführer‘ an den Hals gehängt haben“, läßt sich grammatisch kaum halten, auch wenn implizit genau das gemeint ist (zu erreichen wäre es wohl durch eine deutlichere Betonung des uolens). Vgl. im Gleichnis die Verbindung caelestia colla (561). Vgl. für die Junktur Prud. c. Symm. 1,463 colla tyrannorum, Anth. 846 R.,5, nach Dracontius Coripp. Iust. 1,286. 557 iam Priami cum clade nurus Hier wird erneut eine Pointe durch eine Anspielung auf die Zukunft geschaffen (WOLFF 2011, 98 und Anm. 4). Helena vereinigt in sich die eigentlich erfreuliche Eigenschaft einer Schwiegertochter, aber zugleich die grauenhafte Eigenschaft von Tod und Verderben. Das Genitivattribut Priami bezieht sich gedanklich auf beide Substantive, wobei cum clade die Funktion eines Attributs übernimmt (für diese Art von Attribut vgl. H-S 428; s. auch WOLFF 1996, z. St., der zum Vergleich Romul. 10,416f. cum clade suorum / non decet ira deos heranzieht). Eine ‘normale’ Schwiegertochter kommt oft cum dote (belegt seit Plaut. Aul. 158, ThLL V 1,2053,26ff.), was hier in cum clade ironisch-imitierend umgedeutet wird. Nurus findet sich schon 124 und bezeichnet dort sämtliche Schwiegertöchter Trojas, die Ehefrauen der trojanischen Helden. 557f. sic terga iuuenci / Europam rapuere dei Für den Versschluß terga iuuenci vgl. Ov. fast. 5,531, Stat. Theb. 9,334 (beim Raub der Europa, der auf dem Schild des Crenaeus dargestellt ist), Anth. 439 R. = 437 Sh.-B. Mit deus und iuuencus sind nach WOLFF 2015 [a], 365 zwei Substantive statt Substantiv und Adjektiv miteinander verbunden, so auch 11 nefas Paridis, quod raptor gessit adulter. Anders jedoch als an der Stelle aus dem Prooem des Gedichts lassen sich die hier vorliegenden Substantive weniger natürlich von Verben oder Adjektiven ableiten. Zu deus werden andere Substantive im gleichen Kasus appositiv oder prädikativ

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gestellt, wobei der dann entstehende teilweise Ausdruck als Titel eines Gottes fungiert (ThLL V 1,888,42ff. und 909,51ff., wobei besonders bei der Apposition Worte auf -or Verwendung finden, die auf eine Verbalhandlung hinweisen). Dies ist an unserer Stelle wohl nicht der Fall, die deshalb als Besonderheit hervorgehoben werden sollte. Für Europa und rapere vgl. auch Octavia 766f. per fluctus raptam Europen / taurum tergo portasse trucem. Dracontius variiert das Bild des Raubes, indem er den Rücken des Stieres selbst zum Subjekt macht und den eigentlich Handelnden als Genitivattribut hinzusetzt. 558 Iuppiter ipse Dieser Versschluß scheint hexametrisches Formelgut zu sein. Er findet sich seit Lucil. 1188 immer wieder. Dabei dürfte das hinzugesetzte Pronomen tatsächlich steigernd wirken. 559 Olympiaca produxit cornua fronte Die Metamorphose Jupiters in einen Stier ist in diesen vier Worten ganz durchgeführt. Producere von natürlich oder auf göttlichen Antrieb hin wachsenden Körperteilen findet sich zuerst bei Celsus, danach in Texten der Vetus Latina und davon abhängig bei christlichen Dichtern (ThLL X 2,1636,24–35). Vgl. besonders als vermutlich inspirierende Quelle Vet. Lat. psalm. 68,32 (cod. 303) uitulum nouellum cornua producentem et ungulas. Dracontius nutzt als einziger das Adjektiv Olympiacus, um die Herkunft vom Olymp zu bezeichnen. Sonst steht es nur in Verbindung mit den Olympischen Spielen (vgl. z. B. Verg. georg. 3,49, Lucan. 4,614, Stat. Theb. 6,554). Der Hinweis auf die Stirn des Stiers entpuppt sich bei näherem Hinsehen als gelehrtes Spiel, da bei Vergleichen zwischen Menschen und Jupiter traditionell die Stirn als Referenzobjekt angelegt wird (vgl. z. B. Il. 2,478, Orest. 243). So ist sie auch an dieser Stelle, neben dem Hals, der Körperteil, der die göttlich-tierischen Züge trägt (STOEHR-MONJOU 2014, 93 und Anm. 76). Der Versschluß cornua fronte ist vergilisch und recht verbreitet: Verg. ecl. 6,51, georg. 4,299, Culex 16, Ov. hal. 3, Gratt. 489, Petron. 126,3, Sil. 13,332, Heptateuchdichter gen. 608. 560 fulmineus uector Nur Dracontius setzt das Adjektiv fulmineus als Charakterisierung des Blitzeschleuderers Jupiter; s. auch Orest. 31 fulmineo … Tonanti (s. ThLL VI 1,1532,3–5). Vgl. für die Idee dieser Junktur Stat. Theb. 3,506f. fulminis ardens / uector, 9,858 feri uectorem fulminis (jeweils vom Adler). Für uector als Bezeichnung Jupiters im Zusammenhang mit der Europa-Geschichte vgl. Anth. 623 R.,1 Europae quoque uector. famulantibus undis Singuläre Junktur, vielleicht von Flodoardus Remensis, De triumphis Palaestinae 3,1018 aufgenommen. Läßt sich wegen der thematischen Nähe als eine Variatio von Stat. Theb. 9,338 adiuuat unda fidem (beim Raub der Europa auf dem Schild des Crenaeus) bestimmen. Für die Form famulantibus vgl. Claud. 8,654, Heptateuchdichter gen. 1020, Paul. Pell. euch. 166). 560f. subolem … / … Agenoriam Das Adjektiv Agenorius findet sich sonst nicht, es ist nur Agenoreus belegt (s. ThLL I 1281,33ff.). Eine Änderung ist jedoch nicht

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von Nöten, da der Dichter gelegentlich Patronymika neu bildet oder anders gebraucht (vgl. z. B. zu Cythereus 364). Europas Verwandtschaft mit Agenor drückt nur Dracontius adjektivisch aus, es findet sich noch Agenore nata Ov. met. 2,858. 561 gaudet Konstruiert mit AcP (s. für diese Konstruktion ThLL VI 2,1703,67– 77). caelestia colla grauantem Die Junktur caelestia colla ist singulär. VON DUHN hat grauantem hergestellt für das überlieferte fehlerhafte grauentem (diese Funktion und Verwendung auch laud. dei 3,59 quem mollia lina grauabant, s. ThLL VI 2,2311,23f.). Die auf Europa bezogenen Akkusative des Satzes sind weit gesperrt und finden im Partizip ihren Abschluß. 562 Cadmi cognatus Europa ist die Schwester des Cadmus, so daß sich Jupiter als dessen Schwager fühlen kann. Cognatus begegnet in der Bedeutung ‘Schwager’ fast nur auf Inschriften (s. ThLL III 1481,77ff.). aquas freta magna secaret Die beiden redundanten unverbundenen Akkusative (von WOLFF 1996, z. St. als störend bewertet; VOLLMER sammelt MGH 432 weitere Appositionen dieser Art) dienen zur Verdeutlichung der großen Weite, die zurückgelegt wird. Das Abstraktum aqua wird durch freta magna als Apposition konkretisiert. Eine Korrektur in ouans, wie sie GIL 1984, 164 vorschlägt, nähme diesen Effekt und doppelte gaudet 561. Zudem ginge der Anklang an Ov. am. 3,12,34 (sc. Iuppiter) secat inposita uirgine taurus aquas, auf den ZWIERLEIN BT verweist, verloren. Besonders fein ist der Gebrauch von secare an dieser Stelle, das ein typisches Bild für das Überfahren des Meeres mit Schiffen darstellt (so auch sulcare 219. 574), inspiriert vom homerischen τέμνειν (Od. 3,174f., vgl. auch Verg. Aen. 10,147. 222 u. ö.). An unserer Stelle ist es vom schwimmenden Stier verwendet, eine Übertragung, die eine Nähe zur Realebene herstellt, in der sich Paris und Helena mit einem Schiff entfernen werden (sulcari 574, so auch SIMONS 2005, 274 und Anm. 179). 563–566 Die Konstruktion des Satzes ist nicht ganz klar. Man muß wohl, wie es die meisten Herausgeber offensichtlich auch tun, zwei mit et (564) verbundene Nebensätze annehmen, von denen der eine mit ubi 563, der andere mit licet 564 (mit Ellipse einer Form von esse) eingeleitet wird. Da der Hauptsatz mit tamen eingeleitet ist, steht er dem zweiten Nebensatz durch die Korrelation etwas näher. Dies wirkt jedoch, gerade wegen der auffälligen Korrelation von licet und tamen, etwas unbeholfen. Eine Alternative, die für die Übersetzung auch angewandt wurde, besteht darin, schon den gesamten Vers 564 zum Hauptsatz zu ziehen. Licet qualifizierte dann wie in 466 nur das Partizip als Participium coniunctum, sowie das Adjektiv lassus, ohne einen Nebensatz einzuleiten. Einen Relativsatz hat man 565 mit qui gratum portabat onus abzutrennen (leicht redundant, aber mit Betonung auf der neuen Information gratum onus zu verschmerzen). Übrig bliebe das et am Anfang von 564, das aber in der Apodosis gelegentlich begegnet (259f.). Leichter noch ist die Annahme eines Wechsels der korrespondierenden Partikel, so daß et … uel im Sinne von et … et stünde (H-S 522, der auf Colum. 3,11,5 und Plin. nat. 28,169 verweist; aus der Dichtung hätte man ein ähnliches Beispiel Ov. met. 6,616

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mit aut … et; besonders die Spätantike ist offen für solche neuen Verbindungen). Die leicht zeugmatische Inkonzinnität dieser Konstruktion mag die im Wortlaut beschriebene völlige Verwirrung und Erschöpfung des Paris abbilden. Ähnlich in Wortwahl und Konstruktion ist Romul. 2,97f. et licet inualidus haec pondera ferre laborat, / ipse tamen gaudet (vom kleinen Hylas, der die Eberhaut trägt). 563 ergo ubi Seit Vergil bekannter und sehr häufig verwendeter Versanfang. Hier wird die Situation vor dem Gleichnis 557b wieder aufgerufen, so daß an der Stelle der Unterbrechung nun wieder eingesetzt werden kann (als Ausleitung aus einem Gleichnis dennoch ungebräuchlich). raptor turbatus Raptor für Paris findet sich 11. 158. 580; an dieser Stelle greift es außerdem rapuere aus dem Gleichnis (558) auf. Das hinzugesetzte turbatus (inhaltlich dürfte sowohl seine physische, als auch seine psychische Verfassung gemeint sein) qualifiziert Paris deutlich ab, indem er sogar als Schurke versagt. 564 licet Für die Konstruktion mit Partizip und Adjektiv s. H-S 385. exhaustus cursu Eine Junktur aus Lucan (8,3) cornipedem exhaustum cursu, durch die Paris an dieser Stelle erneut negativ bewertet wird. Bei dem lucanischen erschöpften Pferd handelt es sich nämlich um das Pferd des Pompeius, auf dem dieser nach der Schlacht von Pharsalus flieht. Ohne zwingend die Situationen vergleichen zu wollen (passend ist aber auch die Flucht, auf der sich sowohl Pompeius als auch Paris befinden), so ist doch die Assoziation, die beim gebildeten Leser hervorgerufen werden muß, bezeichnend. Denn auf diese Weise wird Paris nur zu einem Lasttier, das von seinem Reiter, nämlich Helena, seiner Beute, in Richtung und Geschwindigkeit bestimmt wird. Die Bezeichnung raptor ist somit erneut gebrochen und die beherrschende Rolle der Helena erneut herausgestellt. uel S. dazu oben zu 563–566. Die Konjektur RIBBECKs 1873, 469 nec pondere ist unnötig; sie nimmt der Stelle ihre Komik (s. zu pondere lassus). pondere lassus Junktur aus den ‘Heroides’, Brief der Hypermestra an Lynceus 14,131f. scribere plura libet, sed pondere lassa catenae / est manus. Auch hier wird eine Assoziation durch das Genitivattribut catenae, das der wissende Leser unterschwellig mithören kann, hervorgerufen, die Paris in seiner Räuberrolle karikiert. Denn in Fesseln sollte die Geraubte liegen, nun bekommt man aber das Gefühl vermittelt, daß Paris durch Helena in Ketten liegt. Dracontius zitiert hier zur Illustration und bewirkt dadurch eine neue negative Sicht auf Paris (dagegen kritisiert WOLFF 1996, z. St. die Präzisierung als „maladroite“; WASYL 2011, 57 Anm. 177 hingegen verweist auf lassus als erotischen Terminus der Liebeselegie und auf die durch den Gebrauch des Wortes hervorgerufene Ironie). Lassus wird auch Vers 72 zu Paris gestellt. 565 qui gratum portabat onus Der Relativsatz besitzt, zieht man ihn zum direkt davor stehenden pondere lassus, einen ironischen Klang, der Paris lächerlich erscheinen läßt. Den Räuber strengt das Wegtragen der Beute so sehr an, daß er ganz erschöpft am Ufer ankommt, und dabei müßte es ihm doch theoretisch Freude

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machen, sein Ziel erreicht zu haben. Anders WOLFF 1996, z. St., der übersetzt, als stünde statt des Relativpronomens qui ein auf Helena bezogenes quam, wodurch aber ein Teil der Komik verlorengeht. Portabat onus ist ovidisch, met. 10,481 (gleichlautend und an gleicher Versposition), wo mit onus die Leibesfrucht bezeichnet ist, die Myrrha in schändlicher Weise von ihrem Vater empfangen hat. Bei wem die Erinnerung an diese Geschichte wachgerufen wird, bei dem wird sich zusätzlich zur Belustigung über die Stelle auch ein Gefühl des Unbehagens regen – Paris trägt schwer an seiner Last und wird später noch weit schwerer daran tragen müssen, nicht nur körperlich. Ähnlich auch Phaed. 3,15,5 portat onus ignotum; Prud. cath. 8,5 portans onus impeditum. Vielleicht hat sich Metellus von Tegernsee für eine seiner Loboden auf Quirinus von der Junktur gratum onus inspirieren lassen. Dort heißt es 10a,11–14 festinus illo Persa tendit, / prespiter it simul ipse pastor. / amabilem predam rapiunt citi, / carina gratum fert onus ad locum. Freilich gibt es inhaltlich keine Übereinstimmung, der Perser Marius und der Presbyter entreißen dem Wasserstrom die Gebeine des Quirinus, um sie zu bestatten, also ein durchaus positives rapere. Dennoch könnten die passenden Vokabeln (pastor, praeda, rapere, gratum onus) Metellus, wenn er Dracontius wirklich kannte, dazu angeregt haben, den Dichter zumindest anzuzitieren. 565f. tamen ipse Lacaenam / litore non posuit Das Enjambement bildet das ununterbrochene Laufen des Paris, bis er das Schiff erreicht hat, ab. Tamen korreliert mit licet (564). Für die abgeschwächte Bedeutung von ipse s. auch zu 364 (und WOLFF 1996, z. St.). Für den Versschluß Lacaena s. zu 445. Für die Junktur litore ponere (wobei litore lokaler Ablativ ohne Präposition ist [WOLFF z. St.; H-S 146; vgl. aber 569 in litore]) vgl. Verg. Aen. 1,173 artus in litore ponunt. Ohne in auch Alc. Avit. carm. 5,721 ponemus litore; Eug. Tolet. carm. 45,1 ponit litore. 566 media sed puppe locauit In diesem Teilsatz scheint wieder der Aspekt eines ‘echten’ Raubes hervorzutreten, wenn Paris seine Beute wie eine Sache zum Abtransport direkt auf das Schiff schleppt. Lokale Ablative mit attributiver Bestimmung werden in nachklassischer Zeit typischerweise ohne Präposition konstruiert (H-S 146). Puppe locare ist singulär (die Form des Ablativs, die auch Ovid und Lucan vorziehen, findet sich bei Dracontius noch Romul. 10,51, Orest. 124, s. NEUE / WAGENER 1, 332f.). 567 nautae uela leuant Völlig unverbunden, ohne ausdrücklichen Befehl des Paris oder der Helena, geht die Fahrt so schnell wie möglich los, Zeit zu verlieren, dürfte wohl den Tod bedeuten. Nach dem Sturm scheinen die Seeleute auf den Schiffen des Paris einfach am Ufer auf die Rückkehr des Herrn gewartet zu haben, um bei jedem kleinen Anzeichen sofort abfahrbereit zu sein, während eine bestimmte Gruppe Diener ihn begleitet hatte (552–555).

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III Kommentar

Für die Formulierung s. zu 382. Der Klang des Schüttelreims uela-leua scheint dem Dichter so gefallen zu haben, daß er ihn hier nun erneut verwendet. uela … remis Natürlicherweise – da die Fahrt dann schneller vorangeht – findet sich öfter die Verbindung von Segeln und Rudern: Verg. Aen. 3,207 (Ersetzen der Segel durch Ruder), Ov. rem. 790, Val. Fl. 2,13; 4,680, Sil. 1,568. remis castra mouentur Zitiert Verg. Aen. 3,519 nos castra mouemus an, wobei die Junktur, die aus dem Militärwesen stammt (ThLL III 554,39ff.; HORSFALL 2006, 368), auch sonst beliebt zu sein scheint (vgl. besonders Heptateuchdichter exod. 1331 castra mouebantur). Hier meint castrum aber nicht, wie bei Vergil, ein (unkriegerisches) Flottenlager, das nun zur Abfahrt abgebrochen wird, sondern dient direkt zur Bezeichnung der Flotte überhaupt, woraus geistreiche Komik entsteht. Das Schiff des Paris ist freilich auch kein kriegerisches, aber dennoch trägt es großes Kriegspotential mit sich, und ruft durch seine Abfahrt einen Krieg hervor. Diese Bedeutung von castra findet sich auch 653 und Orest. 45 Taurica perducunt ad litora castra Pelasga. 568–585 Reaktion der Zyprioten und des Menelaos (mit Tigergleichnis 577– 585) Daß Menelaos den Raub seiner Frau mitansehen muß, ist eine Innovation460 des Dracontius, der sich durch die Neuerung erneut die Gelegenheit verschafft, Spannung zu erzeugen, Figuren zu charakterisieren und Gefühle darzustellen.461 Zunächst ergibt sich aus der Ankunft des Menelaos und seiner Resignation am Meeresufer eine Dopplung. Denn ähnlich reagierte schon die Verfolgergruppe aus Zypern. Beide Schilderungen unterscheiden sich jedoch in Intensität und Fokussierung, da ja der Atride unter völlig anderen Voraussetzungen den Abtransport seiner Ehefrau beobachtet und entsprechend viel heftiger reagiert. Auffälligster Teil dieses Abschnitts ist das Gleichnis von der Tigerin, das Verhalten und innere Gefühle des Menelaos illustrieren soll. Das Tier ist, wie auch der Löwe, typisch für epische Gleichnisse und Vergleiche.462 Eine Tigermutter wird ihrer Jungen beraubt und verfolgt aus Mutterliebe den Räuber. Der wissenschaftlich-zoologische Hintergrund dieses Verhaltens wird in Plin. nat. 8,66 präsentiert.463 Daraus geht hervor, daß der Raub der Jungtiere zu Pferde die übliche

460 Über den Raub informiert wird er schon in den ‘Kyprien’; Proklos berichtet, daß Iris selbst ihm die Vorgänge an seinem Hof mitgeteilt hat (Procl. Chrest. 110f. [Severyns]). 461 WOLFF 1996, 168, der auch auf die kontrastive Verzweiflung des Priamus einige Verse später hinweist, für die kein Anlaß besteht. 462 Verg. Aen. 4,367, Sil. 5,280f. und Stat. Theb. 12,169–172. Zum Tiger an sich und im Altertum s. KELLER 1887, 129–139. 463 Tigrim Hyrcani et Indi ferunt, animal uelocitatis tremendae et maxime cognitae, dum capitur totus eius fetus, qui semper numerosus est. ab insidiante rapitur equo quam maxime pernici atque in recentes subinde transfertur. at ubi uacuum cubile reperit feta – maribus enim subolis cura non est –, fertur praeceps odore uestigans. raptor adpropinquante fremitu abicit unum ex catulis; tollit illa morsu et pondere etiam ocior acta remeat iterumque consequitur ac subinde, donec in nauem regresso inrita feritas saeuit in litore. Vgl. dazu auch TOYNBEE 1983, 66–68.

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Methode war. Außerdem wird deutlich, daß Tiger, Hunden gleich, in der Lage sind, Fährten aufzunehmen und zu verfolgen. Die Vorbilder464 mit demselben Inventar an Personen und Handlungen wie bei Dracontius finden sich in den Gleichnissen Stat. Theb. 4,315f.465 und auch Claud. rapt. Pros. 3,263–265.466 Bei Statius malt das Gleichnis folgende Situation aus: Atalante rast heran, als sie erfährt, daß ihr Sohn Parthenopaeus sich den Sieben gegen Theben anschließen möchte, womit sein Tod besiegelt ist. Damit steht sowohl auf der Gleichnis- als auch auf der Realebene eine Mutter als Protagonistin.467 Dracontius zerdehnt den sehr kurzen Vergleich bei Statius auf eine Länge von acht Versen.468 Dabei variiert er sequitur uestigia zu sectatur iter (580) und uestigia insequitur, praedatoris equi zu praedonis equi, sessoris anheli (581). Im Vergleich mit der Tradition fällt auch die Reaktion der Tigerin auf. Während ihr traditionell in dieser Situation Zorn nachgesagt wird,469 herrscht hier Schmerz und Kummer (584). Der Dichter hat die Tigerin zugunsten der Realebene konstruiert. Nachdem also das voraufgegangene Gleichnis (557–562) den Raub aus Sicht des Räubers nachzeichnet, stellt dieses die Aspekte des Raubs auf der Seite des Verbliebenen dar, wobei es sich bei dem tertium comparationis um das Verhalten und die Gefühle der Zurückgelassenen handelt. Gemeinsam ist außerdem für die Tigerin und für Menelaos die Tatsache, daß sich das Wasser jeweils als unüberwindliche Grenze entpuppt. Durch das Gleichnis wird Menelaos auf keinen Fall lächerlich dargestellt.470 Mit seiner Reaktion widerlegt er die Beschuldigungen des Nebenbuhlers (512f.

464 Vorbild für die Spurensuche ist Sil. 10,77–82: ut canis occultos agitat cum Belgicus apros / erroresque ferae sollers per deuia mersa / nare legit tacitoque premens uestigia rostro / lustrat inaccessos uenantum indagine saltus / nec sistit, nisi conceptum sectatus odorem / deprendit spissis arcana cubilia dumis. Dort illustriert der Vergleich mit einem Jagdhund die Verfolgung des Acherras durch Paullus. Schlagend ist das selten zu Tieren gesetzte sollers (79, bei uns 580) und die Ortsangabe per deuia (79, bei uns 577). Tigergleichnisse finden in der Dichtung häufig ihren Platz. Vgl. Hor. carm. 3,20 (vom Löwen), Verg. georg. 3,245, Ov. ars 2,375, Lucan. 5,405, Val. Fl. 1,489ff.; 6,147ff. Dracontius selbst nutzt noch laud. dei 1,310–312 ein Tigergleichnis. 465 raptis uelut aspera natis / praedatoris equi sequitur uestigia tigris. 466 arduus Hyrcana quatitur sic matre Niphates, / cuius Achaemenio regi ludibria natos / auexit tremebundus eques. Claudian hängt hier natürlich schon von Statius ab, weshalb die Parallele zu Dracontius abgeschwächt ist (HAYS 1997 hält Claudian zu Unrecht für das einzige Vorbild). Gegen STOEHR-MONJOU 2014, 96 scheint es eher unwahrscheinlich, daß sich unser Dichter durch tremebundus eques zu sessoris anheli hat hinreißen lassen. Bei ihm ist es, auch wegen der Enallage (s. den Kommentar z. St.), eine episch-anschauliche Ausgestaltung der Situation. Daher wird im folgenden die Claudian-Stelle nur am Rande mitbetrachtet. 467 STOEHR-MONJOU 2014, 95. 468 STOEHR-MONJOU 2014, 96. 469 Vgl. Plin. nat. 8,66, aber auch Claud. rapt. Pros. 3,262. 265. 266. 470 Diese Ansicht der lächerlichen Darstellung vertritt BRETZIGHEIMER 2010, 396f., weil sie die Schilderung bei Plinius, in der die Tigerin nur einige Junge verliert, direkt auf Dracontius bezieht, und damit einen „Teilverlust“ auf der Gleichnisebene, einen „Totalverlust“ auf der Handlungsebene postuliert. Dieser Unterschied geht aber aus der Stelle nicht hervor und kann

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526f.), indem er, von wahrer Liebe gekennzeichnet, sowohl den Verlust von Ehe und Ehefrau, aber auch der potentiellen Kinder beweint.471 Letzteres ergibt sich aus der zunächst merkwürdig anmutenden Gegenüberstellung des Ehemanns Menelaos mit einer Mutter im Gleichnis. Auf diese Weise wird sogleich das Prooem aufgerufen, in dem auch der Begriff pignus (hier 584) eine Rolle gespielt hatte.472 568f. Eine feine Variante des Parallelismus memborum zeigen diese Verse, in denen jeweils auf das Prädikat ein Wort, das im weitesten Sinne ‘alle’ bedeutet, folgt, und an dritter Stelle ein Substantiv kommt, das ‘Hand’ bedeuten kann, wobei es nur im zweiten Fall auch tatsächlich diese Bedeutung trägt. 568 adueniunt collecta manus Constructio ad sensum (ähnlich 294f. gens … auderent, für weitere Stellen in den anderen Gedichten s. VOLLMER MGH 432). Manus steht hier für die kleine kriegerische Gruppe (turba sequentum 543), die die Verfolgung von Helena und Paris aufgenommen hatte. Der Versanfang adueniunt vor Dracontius noch Lucr. 6,1105, Iuvenc. 4,220, Damas. carm. 17 (TROUT / FERRUA) = 13 (IHM),3. Die Junktur collecta manus begegnet Claud. 3,314 von einer Armee aus verschiedenen Stämmen. classe remota Remota greift mouentur von 567 wieder auf. Eine Form von remotus findet sich sehr häufig an lateinischen Versschlüssen, jedoch scheint das Wort sonst in Verbindung mit Seefahrt ungebräuchlich zu sein. 569 quatiunt omnes palmis … frontes Dieser Gestus gilt allgemein als Ausdruck der Überraschung, wie beispielsweise Cic. Att. 1,1 und Orest. 879 oder des Betrübens (SITTL 1890, 21). Hier dürfen wir sicher eine Vermischung mit Empfindungen des enttäuschten Ärgers annehmen (wofür auch das Abwerfen der Waffen spricht), in gleicher Weise, wie die Geste auch heute noch genutzt wird. Die Verbindung frontem quatere scheint Dracontius erfunden zu haben, sie wird von Coripp. Ioh. 8,559 imitiert. Belegt ist vor Dracontius hingegen quatere frondem Sen. Oed. 552 (frondes konjiziert TEUFFEL 1875, 320 ohne Not). Auch palmis quatere ist sonst nicht belegt, vergleichbar aber manu quatere z. B. Verg. Aen. 7,143; 12,442, Pers. 2,35. in litore Die Schar der Verfolger bleibt am Ufer stehen, während sich das Räuberschiff auf dem Meer befindet. Hier ist der lokale Ablativ mit Präposition verwendet (s. zu 565f.). 570 nunc … nunc … simul Die zunächst als Anaphern, dann variiert eingesetzten Temporalbestimmungen unterstützen die zornig-enttäuschte Eile, mit der die Geräte zu Boden geworfen werden. demnach nicht übertragen werden. Auch in Bezug auf die Schnelligkeit wird zwischen Menelaos und der Tigerin kein Unterschied gemacht. Von ihm heißt es uolans (571), von ihr rapi (578). 471 STOEHR-MONJOU 2014, 97. S. dort auch für eine genaue Gegenüberstellung der Gleichnis- mit der Realebene. 472 pignora prolis 6. STOEHR-MONJOU 2014, 97.

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galeas … tela … clipeosque tonantes Für die Verbindung dieser drei Waffenelemente s. z. B. Verg. Aen. 10,329f. septena … tela / coniciunt; partim galea clipeoque resultant (auch der tönende Schild findet sich hier), Homer. 1050 clipei galeaeque cauae argutaque tela. Es sind noch mehrere Stellen zu finden, an denen nur galea und clipeus zusammen genannt werden. Die Junktur clipeus tonans ist singulär, wohl von Verg. Aen. 9,709 clipeum … intonat inspiriert, das Dracontius vielleicht schon in Romul. 4,43 mit quae clipeo rutilante tonas aufgreift. So mag tonans hier schlicht ein Epitheton ornans sein, oder den Ton beschreiben, den die Schilde geben, wenn sie auf die schon daliegenden Helme und Wurfgeschosse prallen. 571 proiciunt Proicere wird gewöhnlich im Zusammenhang mit Waffen verwendet, wenn man nicht mehr weiterkämpfen kann oder will, flieht oder sich ergibt (ThLL X 2,1797,7ff.). Beides trifft hier nicht zu, die Verfolger müssen gezwungenermaßen aufgeben, so daß die Geste eher noch dem Zorn Ausdruck verleiht und weniger Zeichen des Ergebens ist. Vgl. für die Formulierung mit der in der Dichtung recht seltenen 3. Pers. Pl. dieses Wortes Damas. carm. 8,7 (= CLE 304) proiciunt clipeos faleras telaque cruenta. 571–576 Die beiden Hauptsätze sind zueinander chiastisch angelegt: Der erste Teil läuft von uenit bis 573 sacra dicare, wobei der Nebensatz hintangestellt ist, während der zweite Nebensatz vorausgeht und der Hauptsatz mit ingemit und extorquet folgt. 571 uenit ipse uolans per rura maritus In der Zwischenzeit muß Menelaos mit dem Schiff auf Zypern gelandet sein. Überliefertes tunc uenit läßt sich wohl unter dem Einfluß von nunc (570, ZWIERLEIN BT z. St.) oder als Dittographie zum Ende von proiciunt erklären und eliminieren. Umgekehrt ließe sich auch uenit aus uenientem (573) oder einer möglichen Glosse, die auf die bereits erfolgte Ankunft des rechtmäßigen Ehemanns hinwies, erklären und daher athetieren. So verfährt VOLLMER MGH, der tunc ipse uolans druckt, was WOLFF 1996 übernimmt. Der durch die Athetese des uenit entstehende Satz wäre sehr auffällig konstruiert: Fünf Verse Nebensatz und Partizipialkonstruktionen gingen voraus, bis mit ingemit das erste Prädikat des Hauptsatzes erschiene, der insgesamt nur einen Vers umfaßte. Das ganze Leid und Schicksal des Menelaos bündelte sich und fände seinen Höhepunkt in dem ingemit. Gewichtiger dürfte jedoch die parallele Anordnung von adueniunt collecta manus (568) und uenit ipse … maritus sein (ZWIERLEIN BT z. St.). Für übertragenes uolare vom Dahineilen s. OLD s. v. 2099, 3a. 572 sudanti praeuectus equo Das anstelle von praeuectus überlieferte peruectus, das zwar zuweilen auch mit einem Transportmittel begegnet, dann aber meist mit einer Zielangabe (wie peruenire s. ThLL X 1,1841,27ff.), scheint eher prosaisch zu sein. Da Dracontius gelegentlich prosaische Ausdrücke verwendet, kann dies nicht das einzige Argument für die Konjektur von GIARRATANO 1906, 14 sein. Es kommt hinzu, daß die einschlägigen Parallelstellen, sogar bei Dracontius selbst, praeuectus

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haben (Verg. Aen. 7,166 praeuectus equo, Claud. rapt. Pros. 2,122 roranti praeuectus equo, Romul. 10,471 puniceus praeuectus equo, aber 312 subuectus equo). Außerdem kann ein Fehler in der Vorsilbe leicht durch Verlesen der Abkürzung entstanden sein, ein Fehler, der an unserer Stelle durch das vorausgehende per rura 571 noch um einiges wahrscheinlicher ist. Für die Junktur sudans equus vgl. Mart. 9,101,18 und Claud. 20,441. nuntius horrens Gut belegt ist die weitergefaßte Bedeutung von horrere im Sinne von horribilem esse, horrorem facere, s. ThLL VI 3,2978,51ff. Für den Versschluß vgl. Catull. 84,10 nuntius horribilis, Stat. Theb. 9,862 nuntius horror. 573 fregerat In der Bedeutung von frangere an dieser Stelle spielt fast das ganze Bedeutungsspektrum des Wortes eine Rolle. Die schreckliche Nachricht vom Raub seiner Frau trifft Menelaos in seinem Inneren, so daß seine Psyche entkräftet wird. Zudem bringt ihn diese Nachricht von seinem eigentlichen Plan, ebenfalls zum Heiligtum zu kommen, ab. ad Cyprum uenientem sacra dicare Ad Cyprum auch 460 und 503. Dracontius verwendet oft die Präposition ad statt des regelmäßigen in, was die allgemeine Entwicklung des Spätlateins widerspiegelt, das zudem, wie auch hier, häufig überhaupt Präpositionen setzt, wo im klassischen Latein keine gesetzt würden (vgl. H-S 49f., MAILFAIT 1902, 118). Der finale Infinitiv nach einer Form von uenire wie 436f. Für den Versschluß sacra dicare vgl. Mar. Victor aleth. 3,338 tunc sacra dicabo, Heptateuchdichter iud. 107 sacra dicares. Der Adressat des Opfers, der bei dicare zumeist im Dativ hinzugesetzt wird, ist hier nicht ausgedrückt, so daß der Eintrag im ThLL irreführend wirkt (ThLL V 1,964,35. 78). 574 ut conspexit Für besonders bei Dichtern beliebtes conspicere mit dem AcI s. H-S 357, ThLL IV 496,76ff. amans VON DUHNs Konjektur für das überlieferte, metrisch fehlerhafte amens stellt nicht nur wegen der leichten Verschreibung oder Verlesung dieser beiden Worte (s. ThLL I 1881,15ff.) die beste Lösung dar.473 Es findet auch, im Gegensatz zu amens, im illustrierenden Gleichnis seine Entsprechung. Die Tigerin erhält ihren Handlungsantrieb aus der Liebe zu ihren Kindern (578). So sollte auch auf der Realebene ein Hinweis darauf nicht fehlen (vgl. auch KAUFMANN 2006 [a], 311f. für die Beobachtung, daß Dracontius seine Gleichnisse empfindsam auf die Situation abstimmt). sulcari puppibus undas Das Wasser zu durchpflügen ist ein typisches Bild der dichterischen Seefahrt (s. zu 219). Mit undae beispielsweise noch Ov. Pont. 2,10,33.

473 WOLFF 1996, z. St. vermutet hinter der fehlerhaften Prosodie des Wortes eine Verwechslung mit amans bei Dracontius. Gegen eine grundsätzliche Verwechslung spricht jedoch, daß er es Romul. 9,202 richtig mißt (BÜCHELERs Konjektur für überliefertes animis ist sicher richtig).

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575 thalamos gestare suos Akkusativobjekt sind weiterhin undae (die Junktur undam gestare aliquid scheint selten, findet sich noch Sil. 14,275f. nidosque natantes / immota gestat … unda. Vergleichbar ist aequor gestare z. B. Iuvenc. 3,119). Die übertragene Bedeutung von thalamus oszilliert zwischen ‘Ehe’ (wie beispielsweise Verg. Aen. 4,550 thalami expertem … uitam) und ‘Ehefrau’ (wie beispielsweise Lucan. 7,347 thalamos … quaerit, bei Dracontius noch Orest. 23): Wenn Menelaos sieht, wie seine Frau weggebracht wird, verschwindet gleichzeitig seine Ehe übers Wasser (für WOLFF 1996, z. St. ist die Bedeutung eindeutig ‘Ehefrau’). collisus harenis Collisus ist reflexiv gebraucht (WOLFF 1996, z. St.); harenis ist wohl ein Gräzismus, ein auf die aktuelle Situation übertragener Dativ bei Verben des Streitens und Kämpfens (wie Hor. epist. 1,2,7 Graecia barbariae lento collisa duello, vgl. K-S I 319 und MAYER 1994, 112f.) oder kann als Ablativ verstanden werden. Vgl. 432 collisa procellis. 576 ingemit Der Versanfang ingemit et ist seit Verg. Aen. 1,93 beliebt, Dracontius setzt das Wort stets nur am Versbeginn, fünfmal ingemit et (laud. dei 2,546, Romul. 8,73; 9,43; 10,310) und einmal ingemit ac (Orest. 858). flauos extorquet uertice crines Blond ist ein stehendes Epitheton für Menelaos seit Homer (z. B. Od. 1,285; 3,326; 4,30, Il. 3,284 als epische Formel). Auch Helena hat blonde Haare (520), so daß auf der Textebene allein über diese seltene und besonders schöne Haarfarbe eine Verbindung zwischen beiden hergestellt wird. Das Raufen der Haare ist ein typischer Trauergestus (s. SITTL 1890, 22; 26). Extorquere auch 543 (von Staub, der aufgewirbelt wird). Hier wie dort ist die Wendung singulär (ThLL V 2,2040,67f.), das Simplex begegnet hingegen häufiger (jedoch von Frisuren): z. B. Prop. 4,7,45 capillis … tortis, Ov. ars 2,304 torserit igne comam: torte capille, place, Mart. 8,33,19 tortos … capillos, Manil. 5,147 tortos … crines. Vertice ist als präpositionsloser separativer Ablativ zu verstehen (WOLFF 1996, z. St.). Der Versschluß ist seit Catull. 64,350 soluent a uertice crinem beliebt (eine Imitation Catulls durch Dracontius nimmt BARWINSKI 1888 [a], 311 an; er findet neben dem Versschluß bei Dracontius auch das flauos von dem catullischen canos inspiriert); vgl. besonders Verg. Aen. 4,698 flauum … uertice crinem (BRUGNOLI 1998, 208). 577 Hyrcanae … tigres Vgl. für die Bezeichnung Verg. Aen. 4,367 (Dido nennt Aeneas einen von den rauhen Tigerinnen des Kaukasus gesäugten Menschen), Sil. 5,280f., Claud. rapt. Pros. 3,263. Bei Dracontius noch laud. dei 1,310–312 tigris per mille colores / montibus Hyrcanis … / mittitur u. ö. (KELLER 1887, 130f.). sic solet Im Gleichnis noch 632 und Orest. 224. per deuia Substantiviertes deuia mit der Präposition per findet sich seit Val. Fl. 3,49 (ThLL V 1,867,71). Für unsere Verbindung mit rapi sei auch Val. Fl. 8,54f. rapido per deuia passu / tollitur erwähnt. Vorbildhaft, weil im Zusammenhang mit der Spurensuche und ebenfalls in einem Gleichnis, dürfte Sil. 10,79 sein, vgl. S. 487, Anm. 464.

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III Kommentar

578 affectu stimulante Der Versanfang auch beim etwa in die gleiche Zeit fallenden Paul. Petric. Mart. 5,318. Für affectus in der Bedeutung ‘Liebe’ s. ThLL I 1190,20ff. rapi Für die Bedeutung und den mediopassiven Gebrauch s. ThLL XI 2,105,32ff. Vgl. dabei besonders Sen. Med. 849–851 quonam … / (sc. Medea) praeceps amore / saeuo rapitur? (für die Liebe als Auslöser), Ov. fast. 4,457 (sc. Ceres filia amissa) mentis inops rapitur, quales audire solemus … maenadas ire (für die Reaktion auf den Verlust des Kindes). In diesem Gleichnis erfährt der Gebrauch des Wortes eine spielerische Pointe, wo doch Tiger normalerweise selbst Subjekt, nicht Objekt des rapere zu sein pflegen. pignora Pignus begegnet in der Bedeutung ‘Tierjunges’ sehr selten (vgl. ThLL X 1,2125,53. 56f.; 2126,4f., Mart. epigr. 14,1, Val. Max. 7,6 ext. 3, Sedul. carm. pasch. 2,113). 579 perdit Die Junktur pignora perdere scheint eine Erfindung des Dracontius zu sein. In Verbindung mit filius oder filia hingegen wird der Ausdruck schon seit Plautus verwendet (s. ThLL X 1,1269,47ff.). elusa … pietate Ablativus absolutus mit kausaler Funktion zu feritas. Pietas ist eigentlich eine typisch menschliche Eigenschaft, die aber gelegentlich auch auf Tiere übertragen werden kann (s. ThLL X 1,2092,10ff.). Eludere in der Bedeutung frustrari (ThLL V 2,431,28–30). feritas Begegnet seit Plin. nat. 8,66 metonymisch oft für wilde Tiere (s. für weitere Belegstellen ThLL VI 1,519,58ff.). Ähnlich auch 26 rabies für die Löwen. V. 361 und satisf. 274 erhält feritas das Attribut pius; an unserer Stelle steht es in enger Verbindung zu pietate. 579f. nocentis / raptoris Erinnert an 29f. nocentem … Alexandrum. 580 sectatur iter Eine Junktur der Spätantike, seit Auson. 14,19,1 GREEN. 580f. Die Stelle nimmt Bezug auf Stat. Theb. 4,316 praedatoris equi sequitur uestigia tigris (s. dazu oben die Einleitung zum Abschnitt). uestigia sollers / insequitur praedonis equi sessoris anheli Variatio von raptoris sectatur iter, das die Art und Weise der Verfolgung betont, nämlich das Spurenlesen. Wie ein Hund nimmt die Tigerin die Spuren des Pferdes auf (Plin. nat. 8,66). Von uestigia sind zwei Genitivattribute abhängig, praedonis equi und sessoris anheli, deren Epitheta in chiastischer Enallage zum jeweils anderen Substantiv gestellt sind. So paßt anhelus (auch wenn es sich grundsätzlich vom Menschen belegen läßt, ThLL II 67,75ff.) in dieser Situation viel besser auf equus (für diese Tiere ist es ohnehin fast ein stehendes Beiwort, s. ThLL II 68,7ff.). Der Räuber wiederum ist viel eher der Reiter selbst als das Pferd. Sessor ist eher prosaisch (in der Dichtung vor Paul. Nol. carm. 24,409 nur Catull. 37,8 und Hor. epist. 2,2,130, aber in anderer Bedeutung; s. auch WOLFF 1996, z. St.) in der Bedeutung ‘Reiter’ (FORCELLINI s.v.) und dichterisch spät. Bei Dracontius selbst noch satisf. 313f. sessorem, dum carpit iter, si cornea palpans / ungula concutiat quadrupedantis equi.

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Sollers in der Situation der Spurensuche führt geradewegs auf die Vorbildstelle Sil. 10,77–82 (s. auch oben), wo ein Hund, als sollers charakterisiert, die Fährte eines Ebers aufspürt (s. für die Stelle auch LITTLEWOOD 2017, 74). Wenn auch nicht in Abhängigkeit, so doch in nächster Nähe stehen uestigia und insequi auch 546. 582 ast ubi Gleicher Versanfang 357 und 400, geht ursprünglich auf Verg. Aen. 3,410 zurück, ist aber mit Sicherheit älter (HORSFALL 2000, 215). Gibt daher, als archaische Formel, dem Vers eine pathetisch-dramatische Stimmung. torua parens In dieser oxymoronartigen Formulierung steckt das Verhältnis der Tigerin zum Räuber ihrer Kinder (torua, verbreitetes Epitheton von Tieren, z. B. Verg. ecl. 2,63 torua leaena, vgl. FORCELLINI s. v.) und das Verhältnis zu ihren Welpen (parens). Für parens von Muttertieren s. ThLL X 1,362,44ff., von Tigern scheint es allerdings singulär zu sein. Gleicher Versanfang Stat. Theb. 4,249 (von Atalante, s. oben die Einleitung zum Abschnitt), Claud. rapt. Pros. 1,128 (von einer Mutterkuh). Für die Verbindung von toruus und tigris vgl. Sen. epist. 85,8 tigres leonesque numquam feritatem exuunt, aliquando summittunt, et cum minime expectaueris, exasperatur toruitas mitigata. transacto flumine Logisches Subjekt ist der Räuber mit den kleinen Tigerwelpen. VOLLMER MGH 420 glossiert den Ausdruck mit transitu fluminis. Diese Bedeutung von transigere läßt sich sonst nicht belegen (s. auch WOLFF 1996, z. St.). Betrachtet man den Fluß als eine Art Weg, der zurückgelegt werden muß, läßt sich satisf. 234 transactas … uias (sc. astrorum) hinzuziehen. Vielleicht darf aufgrund der relativen Ähnlichkeit von transigere und transire eine außergewöhnliche Gleichsetzung der Wortbedeutungen angenommen werden (nach VOLLMER MGH 420). Die Überlieferung hingegen (transactos lumine natos) läßt sich kaum halten, da transigere die geforderte Bedeutung ‘hinüberschleppen’ nicht im Ansatz bietet. Die entstandene Verschreibung ist leicht durch s/f-Verwechslung zu erklären. Durch die Konjektur flumine wird in Verbindung mit der Konjektur aquis (s. zu 582f.) das im Kontext des Tigerfangs geforderte Bild eines Flußübergangs wiederhergestellt. 582f. natos / secerni conspexit aquis Dracontius verwendet für die Einsicht, daß die Geliebten verloren sind, mit conspexit den gleichen Ausdruck bei Menelaos (574) wie bei der Tigerin. An beiden Stellen treten auch jeweils die Räuber in den Hintergrund, während die Wasserfluten in ihrer Funktion als undurchdringliche Barriere hervorgehoben werden (mit dieser Parallelisierung läßt sich die Konjektur VON DUHNs und BAEHRENS’ aquis für das überlieferte, aber unverständliche quis gut bestätigen; vgl. für die Trennung von Liebenden durch Wasser [Ov.] epist. 18,173, was ebenfalls für aquis spricht). Der Infinitiv secerni begegnet in der Dichtung nur noch bei Claud. 5,223. Conspicere mit AcI findet sich seit Catull. 64,389 (s. auch zu 574).

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III Kommentar

583 redit orba dolore Dolore ist ein Ablativus causae des inneren Beweggrundes (K-S 394f.). Orba drückt den äußeren Zustand aus, in dem sich die Tigerin momentan befindet, auch dies ist kausal zu redit. Früheste Belegstelle für diese Verwendung von orbus (prädikativ und ohne Bezeichnung, von wem verwaist) ist Acc. trag. 376 TRF (für weitere Stellen s. ThLL IX 2,926,50ff.). Vgl. auch laud. dei 1,312 orbata von der Tigerin. 584 gemit infrendens In dieser Formulierung finden sich wie in torua parens die verschiedenen Empfindungen der Tigermutter: Trauer um die Kinder und Zorn über den Räuber. Vgl. für die Parallelität mit der Handlungsebene 576 ingemit. Für transitives gemere s. ThLL VI 2,1761,18ff., bzw. mit AcI 1762,9ff. Das eher seltene infrendere (im Hexameter stets in der Form infrendens an der gleichen Versposition, abgesehen von zwei Silius-Stellen) ist so gut wie nie transitiv gebraucht (ThLL VII 1,1488,25. Nur Hier. vita Pauli 7 ist mit nescio quid infrendens ein adverbieller Akkusativ zu belegen), so daß der Akkusativ hier zu gemit zu ziehen und infrendens absolut gestellt ist. In Gemeinschaft begegnen die Worte Verg. Aen. 3,664 (sc. Polyphemus) dentibus infrendens gemitu (STOEHR-MONJOU 2014, 96, und Anm. 89). amissum nobile pignus Der Versschluß nobile pignus findet sich auch Rut. Nam. 1,599. Amissum pignus ist eine Variation von pignora … / perdit (578f.). 585 Der Abschlußvers des Gleichnisses, der mit der Ausleitung sic wieder auf die Handlungsebene zurückführt. maestus … de Die Konstruktion ist selten, spät und prosaisch (ThLL VIII 48,83ff., K-S I 396f.). de coniuge rapta Als Versschluß noch Ven. Fort. carm. 4,12,11; die Junktur seit Verg. georg. 4,456. 504 (jeweils von Orpheus), Ov. ars 2,5f. talis ab armiferis Priameius hospes Amyclis / candida cum rapta coniuge uela dedit (besonders wichtig, weil es sich hier auch um Helena handelt), epist. 8,18. S. H-S 393 für die Konstruktion (PPP statt Verbalsubstantiv mit Genitivattribut). HAUPTTEIL V: 586–647 ANKUNFT IN TROJA 586–596 Ankunft der Gesandtschaft in Troja Das Verhalten der Gesandten, die – durch Aeneas474, der genau das dem Telamon auch zugesagt hatte – zuerst von den Verhandlungen berichten und danach als Reaktion auf das Verhalten des Priamus auch vom Sturm und vom Verschwinden des Paris, dürfte sich aus der Professionalität der drei trojanischen Helden erklären. 474 In den ‘Kyprien’ hatte Aeneas den Paris auf seiner Reise auf Befehl der Aphrodite begleitet. Auf dem Rückweg sendet ihnen Hera einen Sturm und sie verbringen eine Zeit in Sidon. Laut WEST 2013, 91 ist es unwahrscheinlich, daß Aeneas dies alles hat miterleben müssen; er glaubt, daß Aeneas mit einem separaten Schiff schon nach Troja gereist sei und die Ereignisse berichtet habe. Wenn es sich tatsächlich in den ‘Kyprien’ so begeben hat, wäre diese Tradition ein direktes Vorbild für die Sonderstellung des Aeneas innerhalb der Gesandtschaft.

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Eingesetzt waren sie ursprünglich zur Zügelung des jungen Mannes – haben diese Aufgabe, indem sie das Reden übernommen haben, auch erfüllt – aber von Babysitting war keine Rede. So werden sie selbst ihre Rolle spätestens nach der Abreise aus Salamis als Gesandte verstanden haben. Daher besteht die vollständige Erfüllung ihrer Aufgabe in der Überbringung von Telamons Worten. Priamus erscheint an der Stelle wenig heroisch. Er sieht seinen Sohn nicht in der Gruppe ankommen und beginnt sofort zu klagen.475 Dies mag zunächst wie eine Überreaktion wirken, erscheint aber in Anbetracht der großen Wiedersehensfreude zwischen Eltern und Kind zu Beginn des Gedichts (109b–115) und im Anschluß (620–623) verständlich. Wie schon bei der Gesandtschaft selbst, sind auch hier die Reden aufgeteilt. Antenor berichtet im Anschluß – vielleicht aufgrund seines Alters – über den Seesturm in einer Art Seesturm im Kleinen. Er greift die bekannten Elemente auf und faßt sie kurz zusammen. Dabei steigert sich das Drama von ganz allgemeinen labores und pericula und procella und unda (alle auffällig ans Versende gestellt) zur pelagi rabies subuerso gurgite ponti (595). Die möglichst deutliche Dramatisierung des Seesturms und die Betonung der Unwissenheit entlasten die drei Gesandten gegenüber dem liebenden Vater, da sie bei einer solchen Naturgewalt machtlos waren. 586f. Zwei Signale zeigen den Szenen- und Ortswechsel an, interea (zum Ausdruck des anknüpfenden Übergangs, s. auch zu 116 und ThLL VII 21,2183,49f.) und das Plusquamperfekt uenerat. 586 interea Aeneas Zitiert Verg. Aen. 10,287 an. Dort wird ebenfalls ein Szenenwechsel eingeleitet, der Blick wendet sich von Turnus, der eben noch gesprochen hatte, zu Aeneas. Allein die Tatsache, daß Vergil mit diesem Versanfang den Blickwechsel von Turnus, dem Todfeind des Aeneas, zu dem Helden selbst wendet, ist für unsere Stelle bezeichnend. Das letzte Subjekt war zwar Menelaos in 585, doch hatte die Szene insgesamt Paris und Helena zum Thema. So kann man annehmen, daß Dracontius diesen Versanfang sehr bewußt gesetzt hat, um den Wechsel von den negativ konnotierten Figuren zu den positiv gehaltenen Gesandten herauszustellen. Aeneas rediens legatio Vor Dracontius (bei ihm noch laud. dei 3,419–421 legatio Punica missus / … / Regulus) findet sich nur eine Belegstelle für den Gebrauch des Wortes legatio im Sinne von legatus: Anon. Vales. 11,53 mittens legationem Theodericus Festum (ThLL VII 2,1103,5–7). Man wird aber tatsächlich fragen, warum Aeneas als einziger der zurückkehrenden Gesandten genannt sein sollte; spätestens 590 wird deutlich, daß auch die anderen dabei sein müssen. Insofern ist vielleicht die Verbindung Aeneas et legatio rediens gemeint, wie ZWIERLEIN BT z. St. anmerkt. Dagegen könnte sprechen, daß 181, wo Dracontius in diesem Gedicht ebenfalls zwei ohne Konjunktion verbundene Subjekte Helenus Laocon setzt, das 475 Das umgekehrte Motiv findet sich im ‘Orestes’ (124–132): Klytaemestra sieht zunächst nicht, daß ihr Gatte Agamemnon mit dem Schiff von Troja nach Mykene zurückgekehrt ist, und freut sich, weil sie glaubt, er sei bei einem Seesturm umgekommen.

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III Kommentar

Prädikat im Plural steht. Zudem dürfte Romul. 9,73 Tydidem Aeneas rediens in bella lacesset dafür sprechen, Aeneas rediens auch hier als Einheit zu verstehen. Die kleine Ungenauigkeit mag sich aus dem Fokus erklären, der ganz auf Aeneas gelegt ist: Er war derjenige, der in seiner Rede dem Telamon versprochen hatte, dem Priamus seine Antwort zu überbringen (372). Troiam ἀπὸ κοινοῦ zu rediens und uenerat. Der Versschluß ähnlich 259 legatio Troiae. 587 Priamo Telamonis dicta reportat Was Aeneas 378 (Priamo tua dicta loquemur) versprochen hatte, löst er hier ein. S. auch dort zur Relativierung, daß damit nicht zwingend sämtliche von Telamon geäußerten Worte mitgeteilt werden, sondern die finale Botschaft. Nach dicta referre (299) und dicta loqui (378) ist mit dicta reportare der Ausdruck ein drittes Mal variiert. Der Versschluß begegnet viermal vor Dracontius: Verg. Aen. 2,115 tristia dicta reportat, Stat. Theb. 2,427 uice dicta reporta, Claud. carm. min. 40,9 cum sit qui dicta reportet, rapt. Pros. 1,76 qui feruida dicta reportet. 588 sed Paridem genitor postquam non uidit amatum Der Bezeichnungswechsel von Priamus (587) zu genitor paßt gut zu Paridem amatum und unterstützt den Hinweis auf die Vaterliebe; so wird Paris denn auch aus der Perspektive des Vaters mit seinem Namen bezeichnet – für ihn ist er nicht der pastor oder raptor. Erinnert wird der Leser an die überschwengliche Begrüßung des Paris durch die Eltern, nachdem sie ihn erkannt haben 106ff. Genitor für Priamus verwendet Dracontius noch 83. 153. 234. Postquam erhält eine leicht kausale Färbung, die sich schon für Terenz belegen läßt (Ter. Ad. 1 postquam poeta sensit …, indicio de se ipse erit), sonst aber meist ein Phänomen der späten Prosa zu sein scheint (ThLL X 2,246,71ff.; 248,33ff.). Strukturelles Vorbild für die Stelle dürfte Ov. met. 11,680–687 sein:     postquam non inuenit usquam, percutit ora manu laniatque a pectore uestes pectoraque ipsa ferit; nec crines soluere curat: scindit et altrici, quae luctus causa, roganti ‘nulla est Alcyone, nulla est’ ait, ‘occidit una cum Ceyce suo. solantia tollite uerba! naufragus interiit. uidi agnouique manusque ad discedentem cupiens retinere tetendi …’

589 plangit Da absolutes plangere sonst nirgendwo belegt ist, läßt sich hier am ehesten Paridem aus dem voraufgehenden Vers als Akkusativobjekt hinzuziehen. albentes immundat puluere canos Das altersgemäße graue Haar des Priamus wird durch albentes cani tautologisch hervorgehoben. Eine Form des Verbs albere wird selten direkt auf das Haar bezogen, z. B. Ov. met. (3,516 albentia tempora canis) 13,534 (sc. Hecuba) albentes lacerata comas, Ambr. in psalm. 1,27,4 albenti … canitie, Ennod. carm. 1,4,63 (sc. uetustas) exerit albentes ieiuna et pallida canos.

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Die Junktur mit einzig hier belegtem (auch nicht bei NEUE / WAGENER verzeichnetem) immundare scheint eine Variation von Verg. Aen. 12,611 canitiem immundo perfusam puluere turpans und Ov. fast. 4,238 longaque in immundo puluere tracta coma est zu sein (ThLL VII 1,500,77–79). Vgl. außerdem für das Bild und die Formulierung Claud. rapt. Pros. 3,177f. puluere canos / sordida, Romul. 9,208 canos puluere foedans. 590 Antenor Daß Antenor ebenfalls wieder zurückgekommen sein muß von der Gesandtschaft, wird erst hier klar. Als Fortsetzung der Rede des Aeneas, der von den Erlebnissen bei Telamon berichtet, erzählt Antenor von den Erlebnissen auf dem Meer. pelagi narrare labores Pelagi labores ist ein vergilischer Ausdruck für die Anstrengungen, die auf einen Seefahrer zukommen: Verg. Aen. 5,617 pelagi perferre labores. Die Junktur auch Sen. Med. 611, Lucan. 9,1016, Sil. 3,58; 14,348, Claud. carm. min. 30,26 (s. auch ThLL VII 2,790,80ff.). Die labores erinnern auch an die prominenten labores aus dem Prooem der ‘Aeneis’ (1,10), die sich nicht ausschließlich auf den Seesturm beziehen, aber darin (durch die Übernahme aus der Odyssee) auch mitgehört werden können (VON ALBRECHT 1999, 85). Narrare labores findet sich noch (auch mit dem Zusatz, daß der Erzählende weint, wie 591) Ov. Pont. 1,4,53 et narrare meos flenti flens ipse labores. 591 fletu manante genis Die Junktur fletu manante ist lucanisch 6,776 (dort spricht eine Leiche, die von großer Trauer über das Berichtete gezeichnet ist, so daß – ohne weiteren inhaltlichen Bezug – die Stimmung einer vergleichbaren Situation eingefangen wird); inhaltlich ist sie auf Antenor zu beziehen, der Subjekt im Satz ist (WOLFF 2015 [a], 365). Ganz gewöhnlich ist die Verbindung von manare (sehr deutlich wird in dieser Verbindung die metonymische Funktion von fletus für lacrimae, s. auch ThLL VI 1,902,39) mit einer Form von fletus, z. B. Catull. 101,9 manantia fletu, Ov. met. 4,674 tepido manabant lumina fletu, Petron. 89,16 fletibus manant u. a. Die hier zusammengesetzte Junktur mit genis stand wohl unter dem Einfluß von Sil. 7,709 manauere genis lacrimae. Genis ist hier wie dort präpositionsloser lokaler Ablativ (WOLFF 1996, z. St.). Für das Weinen im Epos im Angesicht des Todes s. z. B. FÖLLINGER 2006, 184ff. et Verbindet labores und mille pericla. mille pericla Begegnet in der Antike nur bei Dracontius in dieser Form, noch Romul. 4,10. Später in der Vita Eduardi 1,258 und Iohannes de Garlandia, compendium grammatice 2,1013. Öfter begegnet, freilich nicht als Versschluß, mille pericula: Lucan. 1,299, Val. Fl. 7,271, Iuv. 2,8, laud. dei 1,727. Für mille als Ausdruck einer unbestimmten Vielzahl s. ThLL VIII 980, 69ff., bei Dracontius fast immer so verwendet (VOLLMER MGH 374). 592 coeperat Begegnet seit Verg. Aen. 12,941 sehr häufig am Hexameteranfang; bei Dracontius noch fünfmal, hier im Gedicht auch 513.

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III Kommentar

592–594 ignarus … refert Aus dem folgenden Satz hoc tantum nosse fatetur (594) geht hervor, daß es hier heißen muß, Antenor berichtet, er wisse nicht, was mit Paris geschehen sei (also nicht, er berichtet, was mit Paris passiert sei, obwohl er es nicht weiß). Aus diesem Grund ist davon auszugehen daß, wenn der Text heil ist, hier eine Konstruktionsmischung vorliegt, die durch Auslassung eines syntaktischen Schrittes entstanden sein dürfte. Vermischt sind AcIs ore refert se ignarum esse, quid … / se nescium esse, si … mit indirekten Fragesätzen ignarus est, quid … nescius est, si … Konstruktionsmischungen, besonders von Konjunktiv und AcI, lassen sich belegen (VOLLMER MGH 436), wie überhaupt der freiere Umgang mit abhängigen Konstruktionen (vgl. etwa zu 406). Leichter wäre es vielleicht, mit ZWIERLEIN BT einen NcI mit fehlendem Infinitiv anzunehmen. Für den NcI bei refert vgl. H-S 363f. ignarus quid Für ignarus mit einem indirekten Fragesatz s. ThLL VII 1,274,30ff. 592f. de pastore procella / fecerit Die Erzählung wird dramatisiert durch die Personifizierung des Sturms, während Paris als handlungsunfähiges Objekt erscheint. De mit Ablativ bei facere läßt sich als einer der möglichen Konkurrenzausdrücke zum bloßen Instrumentalis (wird gelegentlich auch als Ablativus limitationis bezeichnet) bei diesem Verb erklären (H-S 121f., zum freien Gebrauch von de im Spätlatein s. H-S 262ff.). De bei facere findet sich bei Dracontius noch laud. dei 2,129; 3,351. 593 aut Differenziert leicht zwischen dem allgemeineren quid procella fecerit und dem etwas konkreteren iuuenis classem si merserit unda. iuuenis classem Das Schiff des Paris wird auch 427 als classis bezeichnet. si Begegnet schon bei Plautus und Terenz als Einleitewort für indirekte Fragen anstelle von num und erfährt im Spätlatein in dieser Funktion eine große Verbreitung (K-S II 426, H-S 543, VOLLMER MGH 409). merserit unda Die parallele Struktur des Satzes legt es nahe, unda als Subjekt (wie procella 592) zu verstehen und iuuenis als Genitiv zu classem. Vgl. für die Formulierung Ov. met. 11,557 (sc. unda) mergit in ima ratem (an unserer Stelle dagegen ohne Angabe ‘wo’); für mergere bei Schiffen s. ThLL VIII 832,47ff. Ähnliche Versschlüsse gibt es häufiger im Hexameter: Cic. Arat. 381 mergitur unda, Ov. met. 10,697 mergeret unda, Pont. 3,7,27 mergitur unda. 594 nescius Parallel und variierend zu ignarus 592. ore refert Für die Junktur s. Verg. Aen. 4,329; 7,436, Ov. ars 3,700, Pont. 4,5,33, Ven. Fort. Mart. 2,150; bei Dracontius selbst Romul. 2,54 pudet ore referre. hoc tantum nosse fatetur Antenor betont die Wahrhaftigkeit seiner Aussage: Was er nicht weiß, erzählt er auch nicht. Fateri mit einer Infinitivkonstruktion findet sich seit Plautus (ThLL VI 1,338,80), bei Dracontius noch laud. dei 2,240 debere fatetur. Seit Lucr. 4,470 wird fatetur für Hexameterschlüsse genutzt. Nosse an dieser Versposition scheint besonders ovidisch zu sein. Die Verbindung hoc tantum läßt sich seit Plautus und Terenz belegen.

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595 quod Mit hoc tantum korrespondierendes quod läßt sich in der Dichtung gut belegen, z. B. Iuv. 6,657 hoc tantum refert, quod …, Prud. apoth. 554f. hoc tantum quod uerus homo est … / affirmant. pelagi rabies Die seltene Junktur verwendet zuerst Val. Fl. 6,355, dann auch Sil. 2,290; anzuführen wäre auch Carm. de Iona 91 caeli rabiem pelagique. Die Vorstellung selbst ist nicht untypisch, seit Verg. Aen. 5,801f. saepe furores / compressi et rabiem tantam caelique marisque läßt sich die Übertragung von rabies auf Naturphänomene beobachten und belegen (s. für weitere Stellen ThLL XI 2,11,13– 27). Vgl. auch in unserem Gedicht 405 rabidum pelagus, 431 puppis … rabidis collisa procellis und Romul. 5,73 pelagi rabidos fluctus. subuerso gurgite ponti Der Ablativus absolutus mag als Illustration zu pelagi rabies stehen: Das Toben des Meeres, das sich in der Umwälzung allen Wassers zeigt. Beinahe der ganze Vers ist von zwei Genitiven mit Meeresbedeutung gerahmt. Der Versschluß gurgite ponti ist geläufig und beliebt, zuerst bei Lucr. 5,386 und Cic. progn. frg. 6,7 SOUBIRAN. Für Seesturmschilderungen ist gurges in irgendeiner Form typisch (z. B. Verg. Aen. 3,564 tollimur in caelum curuato gurgite). Subuerso gurgite ist singulär, vielleicht beeinflußt von Wendungen wie Ov. fast. 3,591f. adsiliunt fluctus imoque a gurgite pontus / uertitur und Paul. Petric. Mart. 5,751 insistunt ualidi pontum subuertere uenti. Hier ist sicher an das Auftürmen der Wasserwellen gedacht, so daß subuertere ‘von unten nach oben kehren’ meinen dürfte. 596 sparserit Iliacas … carinas Der Konjunktiv sparserit erklärt sich aus der mit fatetur eingeleiteten oratio obliqua. Vgl. Lucan. 4,226 classis pelago sparsura carinas (ohne Seesturmbezug), 9,16 sparsas … in aequore classes (im Kriegszusammenhang), in unserem Gedicht 386 sparsit in aequore classem. Die Junktur Iliacas carinas ist vergilisch: Aen. 4,46 hunc cursum Iliacas uento tenuisse carinas. in tempestate In mit Ablativ bei einer uneigentlichen Zeitangabe. Vgl. Iuv. 12,61 accipe sumendas in tempestate secures, laud. dei 1,708 frenat rapidas in tempestate procellas. 597–614 Totenklage und Begräbnis Nach dem Bericht der Gesandten ist der nun folgende Abschnitt von der Totenklage und dem von Priamus veranlaßten Begräbnis bestimmt.476 Insgesamt erhält der Vater an der Stelle keine sonderlich positive Charakterisierung, obwohl er sich eigentlich pietätvoll verhält. Er reagiert etwas über, wo er doch gar nichts über den Verbleib des Paris weiß. Aber für ihn scheint es offensichtlich, daß sein Sohn die Expedition nicht überlebt hat. Daß gerade die Vorbereitungen für ein Begräbnis oder Kenotaph in seiner Situation als Vater ganz normal sind, dürfte der Dichter durch pater (610) und darauf folgendes genitor (612) deutlich machen wollen, so daß er 476 Zum Thema s. beispielsweise SITTL 1890, 65ff.; WILLIAM CAVANAGH / CHRISTOPHER MEE: Mourning before and after the Dark Age, in: CHRISTINE E. MORRIS (Hrsg): Essays in honour of J. N. Coldstream, London 1995, 45–61. HANS-JOACHIM DREXHAGE / JULIA SÜNSKES THOMPSON: Tod, Bestattung und Jenseits in der griechisch-römischen Antike, St. Katharinen 1994.

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III Kommentar

ihn ein Stück weit entlastet. Damit wird die Charakterisierung des Priamus so weitergeführt, wie sie vor der Abfahrt aus Troja nach Salamis begonnen wurde. Aus Rücksicht auf den Vater und den Stand des potentiell Toten klagt auch die übrige Stadt, teils nur zum Schein. Dieses Verhalten wird nicht getadelt, sondern nach den und aufgrund der bissig-negativen Versen über Paris (599–607) und mit der Erinnerung an die Worte des Helenus werden diese Personen als vernünftig und weitblickend bewertet. Die Darstellung der verschiedenen Blickrichtungen (aus der Sicht des Vaters und der der Bürger) auf das Fehlen des Paris macht den Abschnitt äußerst spannungsreich. 597 his dictis Vergilischer Versanfang nach einer Rede: Aen. 4,54; 6,382, weitere 14 Mal vor Dracontius, bei diesem selbst noch Romul. 2,140. gemit aula ducis sed luctibus atris Es gibt mehrere Möglichkeiten, diesen Vers zu verstehen und seinen Schwerpunkt zu lokalisieren. Nimmt man aula ducis enger zusammen, dann ächzt das Königshaus als Haus (gemere von Dingen s. ThLL VI 2,1762,45–77, wenn auch nichts genau vergleichbar erscheint) oder metonymisch für seine Bewohner (für die Hofbediensteten s. ThLL II 1458,14–42) unter dem Klagen aller. Man könnte ducis auch enger zu sed luctibus atris verstehen, womit impliziert würde, daß Priamus besonders heftig trauert (vgl. auch 609 dafür, daß sich die Trauer einiger übriger Menschen in Grenzen hält). Theoretisch läßt sich auch ein Stück weit Ironie mithören, wenn man versteht, daß die Menschen in der aula unter dem Klagen des Königs aufstöhnen, weil sie in Wahrheit froh sind, daß Paris weg ist (609). Für die Verbindung von ater und luctus vgl. Sen. Herc. f. 694 und Sil. 2,549; dort figuriert ater jeweils als Trauerfarbe, eine Funktion, die es auch hier zu einem Teil übernimmt (ANDRÉ 1949, 51f.). Zum anderen zeigt das Attribut ater aber deutlich, wie diese Trauer zu bewerten ist (in der Bedeutung malus, formidolosus, horrendus, perniciosus, luctuosus, ThLL II 1021,19ff.; so auch Romul. 10,1, wenn nicht PEIPERs Konjektur arte einzusetzen ist). Diese übertragene und mit Blick auf die folgenden Hinweise zum Verständnis dieser Trauer (599ff., BLÜMNER 1892, 52f.) hilfreiche Bedeutung erhält eine Betonung, wenn die Überlieferung (sed statt PEIPERs Konjektur sub) gehalten wird, was durchaus möglich ist. Denn bei gemere findet sich gelegentlich der bloße Ablativ zum Ausdruck der Trauerlaute (ThLL VI 2,1762,77ff., z. B. Claud. rapt. Pros. 2,8 terrificis gemuit mugitibus Aetna); und luctus läßt sich als solch eine Lautäußerung der Trauer verstehen (ThLL VII 2,1739,36ff.). Bleibt noch die Klärung des sed. Dieses korrigierend-einschränkende sed, das vielleicht auch nur hervorhebende Funktion besitzt, findet sich bei Dracontius einige Male, vgl. laud. dei 3,237, Romul. 10,526 (VOLLMER MGH 408). S. dazu auch H-S 487, vgl. Prop. 2,6,34f., Mart. 1,117,7, Sort. Sangall. 131,6 (KAUFMANN 2006 [a], 422). Sed wird daher an dieser Stelle PEIPERs vereinfachendem sub vorgezogen. 598 Vgl. Orest. 862 dum deflent omnes et tota plangitur aula für den Wechsel vom Plural zum passiven Singular in einem Vers.

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moenia iustitio foedant Foedare steht in übertragener Bedeutung (ThLL VI 1,998,30f.), die sich aus den Trauerhandlungen, wie der Beschmutzung der Haare o. ä. ergibt (WOLFF 1996, z. St.), und weist wieder auf die ungebührliche Trauer hin. Moenia steht metonymisch für die Stadt. Für moenia foedant vgl. Romul. 5,144. 293, vielleicht auch Rut. Nam. 1,286 moenia foeda. Iustitium bezeichnet die Unterbrechung jeglicher Rechtsprechung aufgrund von bestimmten Zwischenfällen, wie etwa des Todes einer wichtigen Person (ThLL VII 2,717,80ff.), als Terminus aus der Kaiserzeit genauer beim Tod eines Prinzen (VIDMAN 1971, LUIGI GAROFALO: In tema di „iustitium“, Index 37, 2009, 113–129, s. auch SANTINI 2006, 172 und Anm. 284). Iustitium begegnet in der Dichtung zuerst Lucan. 2,17f. ferale per urbem / iustitium, bei Dracontius noch laud. dei 3,382. Die Analysen zeigen, daß foedare an der Stelle durchaus einen guten Sinn ergibt, auch zusammen mit iustitium (das Subjekt kann aus aula 597 gezogen werden). Denn wir erhalten hier erneut einen Erzählerkommentar, der einen Hinweis zur Bewertung der Situation gibt (vgl. dagegen das Unverständnis RIBBECKs 1873, 468). plangitur urbe Vrbe ist ein lokaler Ablativ ohne Präposition. Plangitur wiederholt das einzelne plangit des Priamus 589, dort eher mit einem zu ergänzenden Akkusativobjekt. Vgl. auch die oben bereits zitierte Stelle Orest. 862 tota plangitur aula und ähnlich Stat. Theb. 11,417 ab omni plangitur arce. 599 sexus uterque gemit Der Versanfang (auch laud. dei 2,802, Auson. 25,7,2 GREEN) war 53f. sexus uterque / concidit ein Versende. Die Trauerzeichen können sich zwischen Männern und Frauen teilweise unterscheiden, so daß die Betonung beider Geschlechter durchaus gerechtfertigt ist (Frauen: Schlagen auf die Brust, Raufen der Haare, Zerreißen der Kleidung, Zerkratzen der Wangen. Männer: Trauerbart, Unordnung von Kleidung und Haaren, s. ROLF HURSCHMANN: Trauer, DNP 12/1, 765–767, CORBEILL 2004, 72ff., s. auch SITTL 1890, 65ff.). 599b–607 Ein ungewöhnlich langer Satz, verlängert noch durch eine Parenthese, der einzig zum Ziel hat, Paris auch nach seinem vermeintlichen Tod als lächerlich zu charakterisieren. Es werden in den verschiedenen Teilsätzen jeweils Gründe genannt, aus denen man einen Menschen, speziell einen kampfestüchtigen Mann beweinen könnte, die aber alle auf Paris nicht zutreffen. Was also bisher nur aus den Ereignissen der Geschichte und dem Handeln des Paris zu ersehen war, wird nun explizit ausgesprochen. 599 non pro uirtutis honore Kann als allgemeine Aussage und einziger Präpositionalausdruck der Reihe als Überschrift für die folgenden Beispiele stehen. Der Versschluß begegnet zuerst Ov. met. 8,387; vgl. auch 13,153, wo es sich aber nicht um einen Versschluß handelt; unsere Stelle nimmt Bezug auf Homer. 274, wo Hektor (Priameius heros) mitteilt, daß ihm eine Ehrenbezeugung für seine Tapferkeit wichtiger sei als eine Ehefrau und Luxus. Somit wird Hektor hier, wie auch einige Verse später explizit (605f.), als Gegenbild zu Paris entworfen. Pro in der Bedeutung ‘gemäß’ oder kausal ‘aufgrund’ wegen des folgenden Kausalsatzes.

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III Kommentar

600 quod Konstruktionswechsel vom Präpositionalausdruck zum Kausalsatz. talis erat, qui posset Mit Relativsatz in konsekutivem Sinn (K-S 297f.). 600f. bella subire / aut ingesta pati Aut verbindet die beiden fast synonymen (WOLFF 1996, z. St.) Infinitive, während ingesta als Attribut auf bella zu beziehen ist. Für die Junktur bella subire vgl. Ov. epist. 13,51 subiit miserabile bellum (in anderer Bedeutung), sonst selten und prosaisch (Liv. 42,54,3, Suet. Iul. 86), in der Form des Dracontius aufgenommen von Coripp. Ioh. 6,533. Ingerere bellum in der Dichtung sonst nur noch Coripp. Iust. 3,334f. iure pio uiuit: bellum non ingerit ultro, / suscipit inlatum. Sicher ist die Junktur eine Weiterentwicklung des gewöhnlichen bellum gerere mit der Betonung auf dem Angriff von außen (auch in der Prosa eher selten, s. ThLL VII 1,1553,6ff.). 601f. summis uiribus hostem / frangere Im Gegensatz zu den voraufgehenden Verbindungen, die eher eine defensive Haltung in den kriegerischen Auseinandersetzungen ausdrücken, folgt nun, ebenfalls mit zwei Infinitiven, der Angriff. Diese beiden Infinitive dürften zwei verschiedene Formen des Angriffs verdeutlichen: frangere steht eher für eine Eroberung durch Belagerung, für einen Durchbruch in die feindliche Stadt, acie iugulare für den offen geführten Kampf. Vgl. für die Verbindung auch Coripp. Ioh. 1,3 fractos uiribus hostes. Hier steht summis uiribus singulär direkt nebeneinander, sonst findet sich in der Dichtung oft ein Stützpartizip dazwischen, z. B. Verg. Aen. 5,226 summis adnixus uiribus. 602 ensiferas … cohortes Das Adjektiv ensifer wird von Ovid fast. 4,388 (dann erst wieder Lucan. 1,665) zuerst für Orion gebraucht. Seit Stat. Theb. 4,321 ensiferas … cateruas wird das seltene Wort als Attribut für kriegerische Gruppen verwendet (Claud. 5,393 ensiferae … coronae, laud. dei 3,484 ensiferas … cateruas, außerdem Romul. 10,579 ensiferis … aristis), s. auch ThLL V 2,608,5–12. Cohortes findet sich bis Dracontius 81 Mal am Hexameterende (s. auch 549). acie iugulare In diesem Vers wird die Vorstellung eines ‘richtigen’ Helden greifbar: Gegen ganze bewaffnete Scharen soll er sich mit seinem Schwert stellen und sie niedermetzeln. Vgl. für die Juxtaposition der beiden Worte Prud. ham. 152 gladii … aciem iugulandus adorat. Acies steht metonymisch für gladius, ensis o. ä. (s. ThLL I 400,22–26, z. B. Verg. Aen. 6,291 strictam … aciem … offert). Iugulare mit einem Schwert in der Bedeutung ‘niedermetzeln’ s. ThLL VII 2,634,83ff. 603–606 Parenthese, in der in Form eines Autorkommentars die Minderwertigkeit des Paris gegenüber den großen Helden herausgestellt wird, und zwar von einer umgekehrten Betrachtungsweise her als in den Versen zuvor. Ausgehend von der positiven Annahme, Paris könne an Kriegstüchtigkeit und an Herrscher-uirtus mit den Genannten mithalten, wird der Schluß gezogen, daß er selbst in diesem Falle dem Hektor nicht vorgezogen werde.

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603 quamuis … si Das quamuis dürfte als adversative Einleitung des Einschubs verstanden werden; es wird in tamen aufgegriffen: „jedoch, wenn … dennoch“. In dieser Funktion begegnet gewöhnlich eher quamquam. Vergleichbar für die grammatische Konstruktion ist vielleicht Verg. Aen. 11,415 quamquam o si solitae quicquam uirtutis adesset (wenn auch mit anderer Funktion des si), eher aber Stat. silv. 3,5,19–22 quamquam, etsi gelidas irem mansurus ad Arctos / uel super Hesperiae uada caligantia Thules, / aut septemgemini caput impenetrabile Nili, / hortarere uias. Dracontius mißt auch laud. dei 2,787 das ‘i’ kurz (WOLFF 1996, z. St.). Alexander Für Paris auch in 30. 97. 225. 366. S. zu 29f. uiribus Herculis Die Kraft des Herkules ist sprichwörtlich (Ov. Pont. 4,13,11f. uires, quas Hercule dignas / nouimus, OTTO 1890, 161f.). Mit Paris ist er verbunden, weil der Verlust der Hesione in Herkules seine Ursache findet, ohne den Paris gar nicht auf große Fahrt gegangen wäre und seine Unfähigkeit nicht hätte beweisen müssen. Dennoch steht hier weniger die Verbindung der beiden Personen im Vordergrund als vielmehr die Assoziation, die der Leser mit Herkules verbindet: Heldenhafte Aufgaben, die Mut, Tapferkeit und Kraft erfordern, zu Paris völlig gegensätzliche Eigenschaften. Vielleicht greift die Formulierung das griechische βία Ἡρακλεία (z. B. Il. 5,638, Hes. Theog. 289. 315. 332. 943. 982; vgl. BÖMER 1982, 177) lateinisch auf. Für die Junktur vgl. Ov. met. 12,554f. Herculeis … / uiribus, Stat. Theb. 6,480 uiribus Herculeis. 603f. Herculis … / … Meleagrum aut Thesea Die Geschichte Meleagers und der kaledonischen Jagd könnte Dracontius aus dem 9. Buch der Ilias bekannt sein, wo der Königssohn als Beschützer der Stadt genannt wird (und damit das Gegenteil zu Paris repräsentiert, der als Königssohn den Untergang seiner Stadt heraufbeschwört). Ganz sicher kannte der Dichter aber die Erzählung aus Ovids ‘Metamorphosen’ (8,515–546). Nach GROSSARDT 2001, 177 geht die gemeinsame Nennung der drei Helden auf die rhetorische Tradition zurück, die von Valerius Flaccus begonnen wurde, die Tat des Meleager mit der des Herkules und des Theseus zu vergleichen (weitergeführt von Martial, Ausonius, Rutilius Namatianus, GROSSARDT 2001, 175ff.). Gemeinsam begegnen die drei Plin. nat. 35,69 idem pinxit et Thesea, quae Romae in Capitolio fuit, et nauarchum thoracatum, et in una tabula, quae est Rhodi, Meleagrum, Herculem, Persea; haec ibi ter fulmine ambusta neque obliterata hoc ipso miraculum auget. 604 aemulus Bei Dracontius singulär; Konstruktion als Adjektiv mit Dativ uiribus. Für die Bedeutung, belegt seit Lucr. 1,296, aber im Spätlatein häufiger, s. ThLL I 980,54ff. 604f. aut certe Meleagrum aut Thesea fortes / aequaret uirtute potens Während bei Herkules die Kampfeskraft und -tüchtigkeit das tertium comparationis gewesen ist, stehen Meleager und Theseus zusätzlich in ihrer Eigenschaft als tapfere Herrscher (oder Söhne von Herrschern, wie Meleager), von uirtus ausgezeichnet, die Verantwortung für ihre Untertanen übernehmen und sie vor großer Gefahr bewahren, als zweites Vergleichsobjekt.

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Beide Helden werden mit fortis bezeichnet, was für Meleager ein singuläres Attribut ist; Theseus erhält Ov. met. 7,449 und 8,728 die Charakterisierung fortissimus. Meleager ist bekannt für seinen Sieg im Kampf gegen den kalydonischen Eber, durch den er die Bevölkerung aus einer lebensbedrohlichen Situation befreite (MARIE CHRISTINA VAN DER KOLF: Meleagros, RE 15, 446–478, hier 447ff.). Die Heldentat des Theseus besteht im Kampf gegen und im Sieg über den Minotaurus, wodurch der den Opfern von Athener Kindern ein Ende setzen und damit ein Retter für die Bürger werden konnte. Weil beide Helden in einer herausgehobenen Stellung sind, also keine Normalbürger, sollte unter potens ‘König, Herrscher, Mächtiger’ (so auch 346, s. dort) verstanden werden und uirtute (Ablativus limitationis zu aequare) als Eigenschaft eines Herrschers, der einerseits auf seine Untertanen achtet und für sie sorgt, was er andererseits nur aufgrund seiner Tapferkeit kann. Anders WOLFF 1996, z. St., der uirtute potens verbindet (auch laud. dei 2,70, dort gibt es aber auch keine andere Möglichkeit der Konstruktion). Certe seit Properz in der einschränkenden Bedeutung ‘wenigstens’ (ThLL III 938,81ff., bei Dracontius z. B. noch laud. dei 3,526, satisf. 134). aemulus … / aequaret Anaphernartig stehen Prädikatsnomen und zweites Prädikat am Versanfang. 605 tamen Korreliert mit dem quamuis – si -Satz. 605f. Hectore magno / sospite Magnus als Attribut zu Hektor findet sich seit Verg. Aen. 6,166; der Versschluß noch Sil. 13,800. Für sospes s. OLD s. v. 1796,1. Im Zusammenhang mit dem trojanischen Krieg Ov. epist. 1,24 uersast in cineres sospite Troia uiro (von Odysseus). 606 nemo Parin lugeret Ungewöhnlich ist der bloße Akkusativ der Person bei lugere, wo meist noch ein Grund der Trauer in Form eines Prädikativums angeführt wird (z. B. Catull. 64,400 extinctos … lugere parentes, Verg. Aen. 2,85 [sc. Palamedem] cassum lumine lugent, Ov. met. 1,585 [sc. Inachus] natam … luget ut amissam, ThLL VII 2,1801,33ff.), der hier aus dem Zusammenhang ausreichend klar wird. Zur Form des Akkusativs s. zu 443. corde dolenti Der Vers tum merore pari lugens et corde dolenti des Notker Balbulus (epist. 6,21) erinnert sehr an den des Dracontius. Vor Dracontius gibt es Verbindungen wie Verg. Aen. 6,383 corde dolor tristi (von der [kurzzeitig zurückgedrängten, pulsus] Trauer um den toten Palinurus), Ov. epist. 6,76 cor dolet (von Liebe). Intransitives dolere begegnet häufig bei Schmerz über einen Verstorbenen (ThLL V 1,1822,46ff.). Für die Form des Partizips auf -i, die auf die Verwendung des Partizips als Adjektiv hinweist s. ThLL V 1,1820,3–5, NEUE / WAGENER 2, 105. 607 sed regis quia natus erat Nun folgt die seit 599 mit Spannung erwartete, durch bissige Bemerkungen hinausgezögerte Begründung, warum die Bewohner Trojas um Paris weinen. Ebenso wie ab 600 die nichtzutreffenden Gründe mit einem Kausalsatz ausgedrückt wurden, wird auch dieser Grund in einem quia-Satz (mit Inversion des quia an dritter Stelle) angeführt. Es ergibt sich die überraschende

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Wendung, daß es sich um eine reine Pflichttrauer handelt, eine angeordnete Staatstrauer, aus der sich das iustitium 598 erklärt. Natus erat reimt mit talis erat (600) und wirkt ironisch vor den bis eben gelesenen großen Leistungen, die ein junger Mann tun könnte. Mit all dem kann Paris nicht aufwarten, sondern ausschließlich mit einer Sohnschaft. Die Junktur regis natus begegnet vereinzelt seit Ov. fast. 2,796. fit planctus in urbe Für planctus als Ausdruck der Todestrauer und ihrer Laute s. ThLL X 1,2307,22–54, auch SITTL 1890, 77. Die Vorstellung einer allgegenwärtigen Trauer findet sich z. B. Lucan. 3,756f. quis in urbe parentum / fletus erat! quanti matrum per litora planctus! (Dort jedoch explizit von der elterlichen Trauer um die Kinder, ein typisches Bild, vor allem in Kriegssituationen, s. HUNINK 1992, 264). Die Verbindung von fieri und planctus scheint eine Erfindung des Dracontius zu sein, nach Vorbildern von fieri mit einem Geräusch, wie beispielsweise Ov. met. 1,269 fit fragor. In der Folgezeit läßt sich die Junktur belegen (Ecbasis captivi 450, Semiramis 103). Seit Ov. met. 8,7 ist in urbe ein beliebter Hexameterschluß. 608 Metapoetische Anspielung auf den eigenen Text, die Helenus-Rede (120–133). Die erzählenden Passagen, die ohnehin oft eine kommentierende Funktion des Geschehens besitzen, erfahren an dieser Stelle eine Steigerung, weil nicht nur die Situation selbst, sondern der eigene Text, der ja die Rede des Helenus transportiert, kommentarähnlich in Erinnerung gerufen wird. nam Dieses nam wirkt auf den ersten Blick ein wenig unerwartet, würde man doch eher ein ‘aber’ erwarten (diese Bedeutung ließe sich bei Dracontius auch tatsächlich belegen: satisf. 10, Romul. 5,143; 9,75, Orest. 436. 511. 941). Aber bei genauerem Hinsehen transportiert die Konjunktion eine wichtige Verbindung zwischen Vordersatz und der folgenden Information. Denn im Grunde ist der Hinweis darauf, daß einige der Trojaner nicht mit dem Herzen bei der Trauer sind, nur eine Weiterführung des Satzes zuvor, der mitgeteilt hatte, Paris werde nicht um seiner selbst, sondern um seines Standes willen betrauert. quicunque memor Da memor bei Dracontius nie absolut steht, wird man Heleni hier ἀπὸ κοινοῦ zu memor und dicta verstehen dürfen. Der Versanfang nam quicumque findet sich seit Lucr. 6,1239 insgesamt siebenmal vor Dracontius im lateinischen Hexameter. Das relativische quicumque begegnet bei Dracontius recht häufig und üblicherweise mit dem Indikativ (VOLLMER MGH 399). Heleni mox dicta tenebat Mox477 ist zu dicta zu ziehen und steht, was sich sonst nur selten belegen läßt, mit Bezug auf die Vergangenheit in der Bedeutung modo ‘eben gerade’ (vgl. Colum. 3,20,4 de altero, quod mox proposueram, Iuvenc. 3,159f. tunc petit absolui Petrus, quid quaestio uellet, / ipse Pharisaeis quam mox scribisque dedisset, Amm. 14,10,16 mox dicta finierat, multitudo omnis … 477 ELLIS 1874, 260 hält mox hier und 529 für zu unverständlich und glaubt, daß es sich dabei um Korruptelen handelt, die aus Phrix bzw. Frix entstanden sind. Da Dracontius diese Form jedoch sonst nicht gebraucht (VOLLMER MGH 308), und sich außerdem stets eine Erklärung für mox findet, kann diese Überlegung ausgeschlossen werden.

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III Kommentar

consensit in pacem, FORCELLINI s. v.), VOLLMER MGH 376 weist auf ‘de tempore praeterito’ hin, was zu Recht auch Eingang in den ThLL (VIII 1553,77. 1554,7) mit paulo ante gefunden hat. Dagegen postuliert WOLFF 1996, z. St. die Bedeutung etiamnunc (ohne Beleg) und bezieht es auf tenebat, braucht aber dennoch ein „jadis“ zur Bezeichnung der dicta (er übersetzt „De fait tout ceux qui gardaient encore en mémoire les propos jadis tenus par Hélénus …“). Da ist es vielleicht leichter, das Temporaladverb gleich auf dicta zu beziehen, zumal das Imperfekt hier einmal bewußt den Verlauf andeuten kann. Mit dem Hinweis auf das eben erst Geschehene verweist Dracontius auf seinen eigene Erzählzeit im Text. Denn in der erzählten Zeit läßt sich der Abstand zwischen der Trauer um Paris und der Rede des Helenus kaum mit mox ausdrücken. Die Zeit, die der Leser braucht, um bis hier zu gelangen, ist natürlich viel kürzer, für ihn ist es ‘gerade’ erst geschehen. Der Versschluß auch 256 dicta tenebant vor der Rede des Antenor im Zuge der Salamisepisode (s. auch dort für die unterschiedliche Textgestaltung der Herausgeber). Auf den ersten Blick scheint die Junktur an beiden Stellen etwas anderes bedeuten zu müssen, weil die Worte der Gesandten ihre eigenen, noch unausgesprochenen sind, während die Worte, an die sich die Trojaner erinnern, nicht ihre eigenen, sondern die des Sehers Helenus sind, die dieser zudem bereits ausgesprochen hat. Vergleichbar ist trotzdem, daß beide dicta im Inneren bewahrt werden, einmal vor dem Ausgesprochenwerden, das andere Mal danach. Außerdem sind beide Stellen Erzählerkommentare und dadurch ebenfalls miteinander verbunden. 609 laetatur gaudens Überströmende Freude klingt aus dieser Tautologie. Seit Plaut. Poen. 1275 läßt sich die Verbindung der beiden Wörter und Wortfamilien in irgendeiner Form belegen (bei Dracontius laud. dei 1,518 taedia laetitiae uel gaudia luctibus indens, Romul. 5,50 laetantur mites, gaudebat turba reorum). Neu scheint allerdings die direkte Kombination von Partizip und Prädikat. tantum uoce dolebat Im Gegensatz zu corde dolenti (606), wo die Äußerung des Schmerzes und der Trauer in lugeret ausgedrückt wurde, steckt in diesem dolere sowohl die Schmerzensäußerung als auch die -empfindung. Vox und mens sind voneinander getrennt – die hörbare Äußerung muß nicht mit der inneren Empfindung übereinstimmen. Daher erhält uoce den interpretativen Zusatz tantum. Der Versschluß ist vielleicht lautlich inspiriert von Lucan. 3,357 uoce dolorem, 5,494 uoce doloris, 8,71 uoce dolores, den einzigen Beispielen dieser Art (vor dem viel späteren Claud. rapt. Pros. 2,276 uoce dolorem). 610 Die Praxis, ein Kenotaph (AUGUST HUG: Kenotaphion, RE 11, 1, 171f.; ENGELS 1998, 23f.) für nicht mehr vorhandene Leichen zu errichten, ist seit Od. 1,291 bekannt und üblich (vgl. in der griechischen Dichtung Od. 1,291; 4,584, Eur. Hel. 1057ff., unter den lateinischen Dichtern weisen Verg. Aen. 3,62–68 [für Polydorus]. 303–305 [für Hektor]; 6,505f. [für Deiphobus], Ov. met. 6,568, Stat. Theb, 12,124 auf die Sitte hin). Dahinter verbirgt sich bei Griechen und Römern die Vorstellung, daß die Seelen der Toten erst nach einer Bestattung ihre Ruhe finden

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können (Serv. Aen. 3,68; 4,386, Tert. anim. 56,1–8).478 Es war auch der Ort, an dem regelmäßig Totenopfer stattgefunden haben. Eine spezielle Bezeichnung für das griechische Wort hat das Lateinische nicht, Dracontius wird tumulus inanis aus Verg. Aen. 3,304; 6,505 übernommen haben (Ovid schreibt met. 6,568 inane sepulcrum). Vgl. auch Romul. 9,91 Andromache tumulum sibi formet inanem (während der Überlegung, was passiert, wenn Hektor nicht bestattet werden könnte). Ein Kenotaph, das für Paris errichtet wird, findet sich beispielsweise Hyg. fab. 273,12 im Zusammenhang mit den Leichenspielen für den vermeintlich Toten. tunc Leitet vom Erzählerkommentar wieder über in die Geschichte, die 599b unterbrochen wurde. absenti Die Bedeutung oszilliert zwischen mortuus (ThLL I 215,54ff.), also dem, was der Vater denkt, und der tatsächlichen Grundbedeutung ‘abwesend’, also dem, was der Leser schon weiß. tumulum … inanem Ersatz für das griechische Kenotaphion, s. o. den Eintrag zum Vers. formabat Tumulum formare scheint eine Erfindung des Dracontius zu sein (noch Romul. 9,91 Andromache tumulum sibi formet inanem; ähnlich nur und vielleicht inspiriert von Culex 396 aggere multo telluris tumulus formatum und 397 quem (sc. tumulum) circum lapidem leui de marmore formans). 611 ut … putes Der Konjunktiv Präsens an dieser Stelle gehorcht nicht den Regeln der Consecutio Temporum. Der Sinn dürfte der eines Potentialis der Vergangenheit sein („so daß man hätte glauben können“). Zu erklären ist er vielleicht aus dem recht oft unregelmäßigen Tempusgebrauch des Dichters (s. auch WOLFF 1996, z. St.). Aus dem vorhergehenden Tempus läßt es sich zumindest nicht erklären (wie beispielsweise Ov. met. 8,191, wo sich putes wohl aus einem vorhergehenden ponit ergibt). iacuisse … cadauer Für die Junktur vgl. Lucan. 6,550 quodcumque iacet nuda tellure cadauer, Iuvenc. 4,751 iacuere simul ceu fusa cadauera leto, Prud. cath. 10,41f. quae pigra cadauera pridem / tumulis putrefacta iacebant, 61 iacta cadauera. Der Infinitiv Perfekt für den Infinitiv Präsens (H-S 352). praesenti morte Spiel mit absens 610 und praesens 611. Gegen WOLFF 1996, z. St. ist die Junktur nicht synonym und redundant zu cadauer zu verstehen. Vielmehr unterstützt sie den Schein, der mit der Errichtung eines Kenotaphs erreicht werden soll und kann durchaus wörtlich verstanden werden. Mit einem tumulus wird sichtbar, daß jemand gestorben ist, daß der Tod also präsent ist. Und ein offensichtlicher Tod braucht notwendigerweise eine Leiche, die hier aber nur scheinbar unter dem Grabhügel liegt. Die Junktur findet sich in anderer Bedeutung Verg. Aen. 1,91, Ps. Ov. argum. Aen. 10,9, Carm. adv. Marc. 4,59, Paul. Nol. carm. 15,150, Heptateuchdichter exod. 582.

478 Für die Dichtungstradition unerheblich ist die Auseinandersetzung zwischen den Juristen, ob ein Kenotaph den gleichen Wert wie ein echtes Grab besitzen kann (Marcian. dig. 1,8,6,5 und Ulp. dig. 11,7,6,1).

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III Kommentar

612 inferias … mactare sepulchro Inferiae sind die Opfer für die Verstorbenen (s. VIDMAN 1971, vgl. auch ANDREAS HARTMANN: Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften, Berlin 2010, 378ff.; HANS-JOACHIM DREXHAGE / JULIA SÜNSKES THOMPSON: Tod, Bestattung und Jenseits in der griechisch-römischen Antike, St. Katharinen 1994). Die Verbindung mit mactare begegnet nur noch Sil. 4,232 inferias caesis mactat, aber weniger in religiösem Kontext als vielmehr in übertragener Bedeutung für Kampfhandlungen (ThLL VIII 22,31f.; RIEDLBERGER 2010, 394). Gelegentlich begegnet sepulchrum in der Bedeutung ‘Toter’, beispielsweise Ov. fast. 2,33 placatis … sepulchris (auch mit inhaltlicher Verbindung zu Totenopfern), hier ist jedoch die Grundbedeutung vorzuziehen, was sich spätestens in 613b deutlich zeigt. Denn es befindet sich keine Leiche im Grab, für die die Opfer abgehalten werden, so daß es allein für das Grab selbst zu geschehen scheint. Sepulchro ist seit Enn. ann. 139 V. = 126 Sk. ein beliebter Hexameterschluß. genitor Als Variatio zu pater 610; in der Mitte des Verses mit besonderem Fokus auf ihm als der einzigen in dieser Situation handelnden Person. 613 non ubi corpus erat Non steht betont am Versanfang. Schon seit Enn. scaen. 73 V. = 70 Jocelyn = 21 TrRF findet sich corpus für ‘Leiche’ (s. auch ThLL IV 1018,3ff.). Vgl. für das Wort im Zusammenhang mit einem Kenotaph Ov. met. 11,429 in tumulis sine corpore nomina legi. Für die Formulierung: Nach der Verwandlung des Narziß heißt es bei Ovid nusquam corpus erat (met. 3,509). uel Wenn auch die Bedeutung et überwiegt, so ist doch uel an dieser Stelle eine steigernde Funktion nicht abzusprechen. Denn mit nil satiare cruoris scheint wieder ein Erzählerkommentar auf. Daß Paris nicht da ist, und daß es keine Leiche gibt, ist schon lange deutlich und wissen alle Protagonisten. Aber daß Paris gar nicht tot ist, weiß weder die zurückgekehrte Gesandtschaft, noch Priamus noch die übrigen Einwohner Troias. Weil er aber noch lebt, gibt es nicht einmal Manen, die man mit Hilfe von Opfern besänftigen müßte. nil satiare cruore Parallel zu inferias mactare sepulchro; damit ist der Infinitiv ebenfalls von parat (612) abhängig („er schickt sich an, ein Nichts mit Blut zu sättigen“). Vor dem Hintergrund der pompös klingenden Angabe parat inferias … mactare sepulchro nimmt sich die Fortführung der Infinitivkonstruktion kritisch und leicht ironisch aus. Die Junktur findet sich zuerst [Sen.] Herc. O. 1192 utinam meo cruore satiasset suos (Sen. Oed. 564f. multo specum / saturat cruore), vgl. auch Iuvenc. 1,267f. saeua tyranni / infantum horribili feritas satiata cruore. Für Blutopfer s. z. B. GUNNEL EKROTH: Blood on the Altars? On the treatment of Blood at Greek Sacrifices and the Iconographical Evidence, Antike Kunst 48, 2005, 9–29. 614 Nach dem zwei Verse umfassenden dum-Satz mit der Beschreibung der Begräbnisriten kommt nun die Überraschung für alle Trojaner, im Hauptsatz ausgedrückt: Paris kehrt zurück. Neben dem langen Nebensatz wirkt auch die zuvor breit ausgeführte ehrliche oder unehrliche Trauer über den Tod des Paris steigernd für den Überraschungseffekt.

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per freta Beliebter Versanfang; bei Dracontius noch laud. dei 3,10, Romul. 10,39, Orest. 836. Möglicherweise ist per gemäß der im Spätlatein beobachtbaren Praxis statt des Lokativs oder in und ad verwendet (H-S 240). Aber da das Schiff während seines Herannahens gesehen wird, wird in per das Moment der Bewegung übers Meer ausgedrückt sein. conspiciunt notam de litore classem Subjekt müssen die Bewohner Trojas sein, die sich am Strand befinden und so die neuen Ereignisse beobachten können (ähnlicher Subjektswechsel 598). Die Flotte des Paris haben die Trojaner natürlich vor der Abfahrt gesehen, es kommt ihnen kein unbekanntes Schiff entgegen. Vgl. für die Wortverbindung Ov. am. 2,11,43 primus ego aspiciam notam de litore puppim (s. MCKEOWN 1998, 254f.). Die Reminiszenz an diese Stelle wirkt ironisch: Dort wünscht sich das lyrische Ich die Heimkehr der Corinna auf dem Schiff, für ihn bedeutet das nostros aduehit illa deos (44). Genau das Gegenteil bedeutet die Rückkehr des Paris aber für Troja, so daß das Attribut notus einen bedenklichen Beigeschmack bekommt, zumindest für diejenigen, die den Worten des Helenus Glauben schenkten. Vgl. für die Formulierung auch Romul. 10,36 ut Scytha conspexit Graiam de litore puppim. 615–619a Ankunft des Schiffs Wie schon zur Hochzeit geschmückt, kommt das Schiff des Paris mit den Zeichen der Venus an. Nicht wie das Schiff eines siegreichen Eroberers fährt es heran, wie es sich Paris zu Beginn eigentlich vorgestellt hatte. Dafür scheint die von Priamus eingebrachte Alternative, Paris könne auf seiner Reise eine Frau finden (229), erfüllt worden zu sein. Für die Ankunft des Schiffes könnte Orest. 233 zu vergleichen sein: regia puppis adest uariis ornata coronis. Es handelt sich hierbei um das Schiff des Agamemnon, der nach dem trojanischen Krieg zurück nach Mykene kehrt. Zum einen sind die Wortfelder sehr ähnlich (ratis und puppis, adest und apparet, ornata, regius und regalis, serta und corona), aber auch die Situation. Beide Schiffe gehören den „Anführern“ einer bestimmten Gruppe, die zu einem bestimmten Ziel ausgefahren war. Beide kehren erst nach den anderen zurück; ihre Schiffe sind jeweils als königliche zu erkennen. Agamemnon und Paris unterscheiden sich natürlich als Figuren völlig: der eine ist ein wirklicher Held, der gerade siegreich aus einer Schlacht kommt, der andere ist ein Feigling, dessen größter Erfolg es ist, eine Frau nach Hause zu bringen. 615 prima ratis Deutet hier auf das Flaggschiff hin, während die sonst (wenigen) vergleichbaren Stellen stets die Argo, als das erste Schiff überhaupt, bezeichnen (Ov. met. 6,721 prima … carina [Sen. Med. 363. 665 u. ö.], 8,302). iuuenis Kann als Genitiv sowohl zu ratis als auch zu regali signo gezogen und damit ἀπὸ κοινοῦ verstanden werden. Diese Bezeichnung für Paris durchzieht das Werk (111. 113. 220. 230. 366. 444. 485. 551. 593), wirkt oftmals abschätzig und steht auch hier despektierlich neben dem regale signum, eben weil nur dies königlich ist, nicht er.

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III Kommentar

regali praedita signo Praeditus mit dem Ablativus instrumentalis zu verbinden, ist gängige Praxis (H-S 128), jedoch begegnet es von Dingen seltener und später (ThLL X 2,575,10ff., besonders 20ff.). Bei Dracontius ist es die einzige Stelle, an der er dieses Wort verwendet. Der Versschluß begegnet auch Cic. Arat. frg. 26,1 uerum haec est magno atque illustri praedita signo, / contra Haedi exiguum iaciunt mortalibus ignem. Die Junktur regale signum gibt es Aug. c. Parm. 2,13,29 und nach Dracontius bei Coripp. Iust. 1,172; 2,5. 616–618 Die Beschreibung des Schiffsschmucks enthält einige Elemente, die deutlich an Venus erinnern und damit die Grundursache für diese Verbindung zwischen Helena und Paris anzitieren. Dazu gehören die Rosen rosetum, die Farbkombination weiß-rot und die Myrte (FERDINAND DÜMMLER: Aphrodite, RE 1, 2, 2729–2787, hier 2767). Auffällig sind die vielen kleinen Parallelen zu Romul. 10,156–160. Dort macht Venus gerade ihren Wagen für Cupido reisefertig, wobei sie Tauben mit einem Rosenband (roseis habenis, puniceis rosetis) in ein Rosenjoch spannt. Cupido erhält eine Peitsche aus Purpur und Seide (der Versschluß sericus ornat ist hier auch zu finden). Durch diese Hinweise bestätigt sich der Eindruck, daß auch das Schiff, auf dem sich nun Paris und Helena befinden, ein Gefährt der Venus ist oder zumindest auf sie zurückzuführen ist. 616 apparet An den fünf Stellen, an denen Dracontius diese Wortform verwendet, stellt er sie an den Versanfang (Romul. 5,267; 6,73; Orest. 640. 710). In dieser Position findet es sich seit Lucr. 3,18, jedoch behält nur Silius vor Dracontius die Versanfangsstellung konsequent an all seinen vier Stellen bei. quam serta ligant Relativsatz auf ratis bezogen. Die Kränze dürften eine Vorwegnahme der Rosen und Myrten im Folgenden sein. Die Junktur serta ligare begegnet vergleichsweise selten, zuerst bei Stat. silv. 2,1,192, dann Ps. Damas. carm. 86b,4, bei Dracontius noch Romul. 6,10. Da diese Ausdrucksweise für das Bekränzen von Schiffen sonst nicht belegt zu sein scheint, mag Dracontius die üblichere Variante mit einer Form von corona/re (z. B. Verg. georg. 1,304 puppibus et laeti nautae imposuere coronas, genauso Aen. 4,418, Prop. 2,24,15 ecce coronatae portum tetigere carinae, Ov. am. 3,11,29 puppis redimita corona, Orest. 233 regia puppis adest uariis ornata coronis; s. auch MYNORS 1990, 70) variiert haben. Die Bekränzung an sich jedenfalls ist als Zeichen des Sieges oder der Dankbarkeit für eine erfolgreiche Seefahrt nicht unüblich (PEASE 1935, 348). 616f. ornata rosetis / candida pepla uolant Pepla (für die neutrale Form s. ThLL X 1,1126,33ff., bei Dracontius eindeutig Neutrum auch Orest. 51 pepla coruscabant) begegnen hier erstmals in der Bedeutung uela; ThLL X 1,1127,40–42; vielleicht ist der Gebrauch des Wortes auch leicht ironisch zu deuten, weil peplus für gewöhnlich ein Kleidungsstück der Frauen bezeichnet und sich dadurch eine Kritik an Paris und seiner Effemination ergäbe. Passend dazu ist candidus gesetzt, das als häufiges Attribut auf uela erscheint, z. B. Catull. 64,235, Aetna 584, Prop. 1,17,26, Ov. ars 2,6 candida cum rapta coniuge uela dedit (sc. Paris), Ov. fast. 5,162. Die

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weißen Segel können auch wie bei Theseus auf den guten Ausgang der Reise verweisen (z. B. Aetna 583). Das Wort rosetum qualifiziert hier als instrumentaler Ablativ ornata. Letzteres bedarf keiner Verbesserung, auch wenn es in ornat 617 wiederholt wird. Aber an dieser Stelle wird der Schmuck des Schiffes beschrieben; das Aufblähen der Segel, das BÜCHELER 1872, 477 wohl in seiner Konjektur enata aufgreift, dürfte in uolant bereits zu finden sein. Rosetum, das hier eine überbordende Menge an Rosen meint (ROSSBERG 1887 [b], 842, WOLFF 1996, z. St.), läßt sich zum ersten Mal Verg. ecl. 5,17 belegen (allerdings in der Bedeutung ‘Rosengarten’), dann erst in späterer Zeit ab Reposianus, in der ‘Anthologia Latina’ relativ häufig. Bei Reposianus liest man 69 ne metuat Cypris, comptum decet ire rosetis, was auf eine Verbindung zu Venus hinweist. Die Rosen sind der Venus heilig, was sich seit Il. 23,186 findet, wo Aphrodite den toten Hektor mit Rosenöl salbt. Vgl auch den Hinweis bei Serv. auct. ecl. 10,18 (s. JOSEF F. MURR: Die Pflanzenwelt der griechischen Mythologie, Innsbruck 1890, 79f.). Die Farbkombination weiß-rot ist schon bei der Begegnung von Helena und Paris unter anderem als Zeichen der Liebe aufgefallen (z. B. 499). Sie setzt sich hier im Segel und den dekorativen Rosen fort. 617 carbasa sericus ornat Sericus ist Konjektur IANNELLIs für das überlieferte, unhaltbare seriens, das sich aus einer leicht erklärlichen Verlesung oder Verschreibung des ‘c’ und des ‘u’ ergeben haben dürfte. Durch diese Konjektur entsteht der gleiche Versschluß wie Romul. 10,160 (der damit auch die Konjektur stützt), wo die Peitsche des Cupido beschrieben wird, die er für den Taubenwagen verwendet: Romul. 10,159f. fert dextra flagellum / purpura quod mollis, tenuis quod sericus ornat. Vgl. auch Romul. 10,258. Bemerkenswert ist die Form von sericus, die sich nur bei Dracontius belegen läßt. Er verwendet laud. dei 3,59 auch die feminine Form serica (sc. uestis?), die sich möglicherweise aus dem für dieses Wort gewöhnlichen Neutrum Plural entwickelt hat (s. dazu MOUSSY 1988, 52, für die Erscheinung LÖFSTEDT 1959, 24–29, vgl. KAUFMANN 2006 [a], 220). Das insgesamt eher seltene Wort begegnet auch in einem der Verse, die Tristano Calco in seiner ‘Historia patriae’, Buch 3,55f., zitiert: sericus in uentos gemmato lumine serpens / tenditur, et rutilas uibrat per nubila cristas. Carbasus ist seit Ennius gängiges Wort für ‘Segel’ (ThLL III 428,84ff., bei Dracontius noch Romul. 8,222. 383. 397; 9,202, Orest. 43 candida … carbasa), das hier mit dem ungewöhnlichen pepla variiert ist. Dagegen nimmt WOLFF 1996, z. St. für carbasa die Bedeutung ‘Kleidungsstücke aus Leinen’ an. Dies läßt sich aber in dieser Umgebung, in der es sowohl davor, als auch danach ausschließlich um die Ausgestaltung des Schiffes geht, kaum halten. Der Schmuck der Segel mit Seide ist Zeichen luxuriöser Verschwendung und Prahlerei des Königssohnes (s. für diese Bedeutung des Stoffes HILDEBRANDT 2009, 203ff.). 618 Veneris … myrtus Nach all den kleinen Andeutungen, die auf Venus hinwiesen (s. oben zu 616–618), fällt nun ihr Name und die Provenienz des geschmückten Schiffes wird aufgeklärt; außerdem wird das Vorhaben des Paris, seine Hochzeit, angedeutet. Die Myrte läßt sich als Pflanze der Venus auch mit Romul. 6,6 myrto

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III Kommentar

cingite frontes (vor der Ankunft der Göttin; s. GALLI MILIĆ 2008, 132; im Lateinischen belegbar seit Plaut., ThLL VIII 1750,41–46; s. auch JOSEF F. MURR: Die Pflanzenwelt der griechischen Mythologie, Innsbruck 1890, 84ff.) belegen. Daß myrtus allein für einen Myrtenkranz steht, findet sich häufig (ThLL VIII 1751,36– 71, bei Dracontius noch Romul. 6,6; 7,8; für die große Bedeutung der Myrte als Kranzpflanze s. AUGUST STEIER: Myrtos, RE 16, 1, 1171–1183). celsa spectatur ab arbore Für arbor als Mastbaum (seit Vergil und Ovid belegbar) s. ThLL II 427,57–74. Die Junktur celsa arbor findet sich noch Phaedr. 1,13,4 celsa residens arbore, Orient. comm. 1,128 celsis … arboribus, jedoch jeweils von echten Bäumen. Das Wort ist sehr bewußt gewählt, weil zusammen mit dem drei Verse später genannten pastor (621) das Bild eines Hirten aufgerufen wird, der seine Weihegaben an Bäumen aufhängt (z. B. Tib. 2,5,29 pendebat … uagi pastoris in arbore uotum, s. für die Praxis MURGATROYD 2002, 186f.), und der in so völligem Gegensatz zu einem erfolg- und siegreichen Seefahrer steht, als der sich Paris stilisieren möchte. Die Konstruktion des ab arbore erscheint problematisch, weil gewöhnlich die Information, wo etwas zu sehen ist, nicht mit a ausgedrückt wird. So lassen sich zwei Lösungsmöglichkeiten finden. Entweder muß ein pendens o. ä. gedanklich ergänzt werden, wovon ab arbore abhängig gemacht werden kann (diese Variante wird hier bevorzugt). Alternativ kann auch die Präposition ab sehr abgeschwächt verwendet sein und eine Lokalangabe ersetzen (ein Beleg läßt sich jedoch schwerlich erbringen). 619 quam sponsus defixit ouans Als Zeichen für die baldige Hochzeit und als kultisches Zeichen (s. AUGUST STEIER: Myrtos, RE 16, 1, 1171–1183) für Venus hat gerade Paris den Kranz am Mastbaum befestigt (s. auch zu 618). Die Junktur sponsus ouans findet sich Sedul. carm. pasch. 2,51. Bei der Rückkehr aus einer siegreichen kriegerischen Unternehmung heißt es oft uictor ouans (seit Verg. Aen. 5,331; Dracontius hat es Romul. 2,95), was hier vielleicht in sponsus ouans anklingt. Es mag sein, daß Dracontius den Paris hier vor der Folie des gewöhnlichen Verhaltens eines Siegers, seine Beute in einem Tempel als Weihegabe aufzuhängen, gestaltet. Denn Paris hängt stattdessen Myrtenkränze an den Mast (s. zu 618), so daß er hinter dem zurücksteht, was die Trojaner von ihm erwartet hätten. 619b–637 Begrüßung und Reaktionen (darunter 632–637 Schattengleichnis) Ab 619b meint der Leser ein Déjà-vu zu haben, denn die erste Ankunft des Paris in Troja drängt sich als Vergleichsepisode auf.479 Auch dort sind die Eltern voller Freude über die Rückkehr ihres Sohnes, auch dort herzen und küssen sie ihn; auch dort geht die negative Bewertung dieses Handelns von den Geschwistern aus, und zwar besonders von Helenus und Kassandra, denen als Sehern die Zukunft schon vor Augen steht. Diese Rolle übernimmt nun (wenn auch still) Troilos, der die

479 So auch WASYL 2011, 37 und BISANTI 2017, 651f.

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Vorahnungen des Krieges im Herzen spüren muß.480 Das Verhalten der Eltern erhält hier keinen negativen Kommentar,481 auch wenn sie im Prinzip der Stadt Troja deutlichen Schaden zufügen. Dies kann allerdings insofern als schlüssig angesehen werden, als das Eltern-Kind-Verhältnis im Grunde ein gutes und gut geordnetes ist. So war auch das Verhalten des Priamus vor der Abreise des Paris zu deuten als das eines liebenden Vaters, der sich sorgt und das Beste sowohl für den Sohn als auch für die Familie und die Bürger der Stadt sucht.482 Eine Rolle als Seher erhält Troilos in der Tradition des Mythos für gewöhnlich nicht. Inspiration für die Verwendung seiner Person in dieser Richtung könnte seine Verbindung zu Apoll gewesen sein (s. zu 625). Dracontius mag ihn aber auch, ebenso wie Polites, abweichend von seinen Vorgängern für seine Zwecke gestaltet haben, um der Geschichte einen neuen Blickwinkel zu geben. Denn die Erweiterung seiner Person auf seherische Aspekte bezieht auch die „gewöhnlichen“ Menschen in die Befürchtungen ein. Es wird ausdrücklich nicht von einer göttlichen Inspiration des Troilos gesprochen, so daß also fast der gesunde Menschenverstand ausreicht, um die Probleme und Gefahren des Frauenraubs ermessen zu können. Bevor Paris für alle offensichtlich gehandelt hatte, mußten die göttlich inspirierten Seher die von ihm ausgehende Gefahr in Worte fassen. Doch an dieser Stelle hat jeder der Anwesenden die Möglichkeit, selbst zu erspüren, inwieweit die Seher zu Beginn des Gedichts Recht gehabt haben könnten. Das Bild, das hier vom Tod gezeichnet wird, eignet sich in seiner schrecklichen Dramatik besonders gut als seherische Vorahnung. Dazu gehört auch die Personifikation des Todes als blutrünstiges Tier, das durch die Reihen der Trojaner stürmt und jeden mit sich reißt. Die drei trojanischen Brüder, die hier gemeinsam auftreten, sind auch am Anfang des Gedichtes gemeinsam genannt. Bei der Prozession zum Götteropfer gehen die drei zusammen: ad dextram genitoris erat fortissimus Hector / Troilus ad laeuam pauido comitante Polite (83f.; s. auch den Kommentar z. St.). Sie begegnen in genau der Reihenfolge wie hier und zumindest die Eigenschaften des Hektor und des Polites sind einander vergleichbar: Es wird an beiden Stellen auf die Tapferkeit Hektors (fortissimus und fortior) und auf die Furchtsamkeit des Polites (pauidus und das Schattengleichnis) rekurriert. Daß Hektor ein tapferer Kriegsheld ist und eine bedeutende Rolle im trojanischen Krieg spielt, ist bekannt und läßt sich aus den Quellen zum trojanischen Krieg problemlos ableiten. Unklar bleibt dagegen, worauf sich die Zeichnung des Polites stützt (s. auch SIMONS 2005, 260), weil er in den bekannten Quellen in seiner Rolle als Späher durchaus tapfer und kriegstüchtig erscheint. MORELLIs 1912, 98 Idee, die Feigheit des Polites könnte sich aus einer fehlgeleiteten Interpretation von Verg. Aen. 2,526ff.483 ergeben haben, soll zumindest genannt werden, doch wird man diese Erklärung kaum als richtig ansehen 480 481 482 483

Zur ringkompositorischen Anlage s. auch GALLI MILLIĆ 2016, 203. So auch WASYL 2011, 37. S. o. die Einleitung des Abschnitts 220–229. Ecce autem elapsus Pyrrhi de caede Polites / … / porticibus longis fugit (526–528). Polites wird als letzter der Priamus-Söhne umgebracht, weil er bis zum Schluß seine Rettung in der Flucht gesucht hatte.

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III Kommentar

können – ein solches Mißverständnis eines seiner Grundlagentexte kann dem Dichter nicht angelastet werden, zumal er selbst in Romul. 5,156f. ante oculos Priami percussit morte Politen / belli iure furens auf diese Episode rekurriert, wo keine Spur einer Fehlinterpretation zu finden ist (s. auch schon zu 83f.). Eingelegt in die Reaktionen auf die Rückkehr des Paris ist ein Gleichnis, das die Unzertrennlichkeit von Polites und Troilos durch einen Vergleich mit den Charakteristika des Schattens illustriert.484 Dem voran geht eine Wortmeldung des Erzählers, der Troilos direkt anspricht und ihn auf Polites und dessen direktes Folgen aufmerksam macht. Die intensive Konzentration auf zwei, respektive drei Personen unter Einsatz eines Autor- oder Erzählerkommentars läßt an Nisus und Euryalus im neunten Buch der ‘Aeneis’ denken.485 Auch diese beiden erfahren eine gesonderte Würdigung durch den Dichter selbst, die er anderen nicht zukommen läßt. Die Tragik der Situation wird dadurch deutlich betont. Vielleicht stand dem Dracontius diese Szene vor Augen, als er selbst eine entsprechende, jedoch anders gelagerte, weil nur aus der Perspektive der Vorhersehung mögliche, dramatische Würdigung der zukünftigen Toten gab.486 Das Gleichnis wirkt auf den ersten Blick wie eine extrem umständliche Erklärung des Phänomens Schatten in allen seinen Einzelheiten.487 Auf den zweiten Blick aber ist es ein kunstvoll ausgestaltetes Gedichtchen im Gedicht, in dem der Dichter gekonnt mit den verschiedensten Stilmitteln die Charakteristika abbildet, die den Schatten ausmachen. Dracontius bedient sich in besonders auffälliger Weise der Derivatio und des Polyptotons, die in Sprache und Wortbild kunstvoll den Schatten nachahmen. So finden sich Formen von sequi (wie sequax 632, sequi 633 und sequitur 634), von mouere (mouet und mouerit 633, mouens 635, motibus 636), von cessare (cesset und cessabit 634), von sedere (sederit und sedebit 635)488. Geradezu bildlich gibt die Parallelität von si cesset homo, cessabit imago (634) durch den Ersatz von homo durch imago im Hauptsatz den Menschen und seinen Schatten wider. 484 Dies bildet einen Anschluß an 84 Troilus ad laeuam pauido comitante Polite, s. WOLFF 1996, 53, STOEHR-MONJOU 2014, 99. Der Schatten als Bild für das Folgen auf Schritt und Tritt ist keine Erfindung des Dracontius, es läßt sich schon Plaut. Cas. 91f. quia certum est mihi, / quasi umbra, quoquo tu ibis, te semper sequi fassen. Die Eigenschaften einer umbra beschreibt Lucr. 4,364f. umbra uidetur item nobis in sole moueri / et uestigia nostra sequi gestumque imitari. 485 446–449. Zur Episode s. z. B. G. E. DUCKWORTH: The Significance of Nisus and Euryalus for Aeneid IX–XII, AJPh 88, 1967, 129–150, G. J. FITZGERALD: Nisus and Euryalus: A Paradigm of Futile Behaviour and the Tragedy of Youth, in: J. R. C. MARTYN (Hrsg.): Cicero and Virgil. Studies in Honour of H. Hunt, Amsterdam 1972, 114–137, B. PAVLOCK: Epic and Tragedy in Vergil’s Nisus and Euryalus episode, TAPhA 115, 1985, 207–224. 486 Warum Dracontius dabei gerade auf diese Figuren zurückgreift, wird nicht zu klären sein. Zum Problem der Gruppe Hektor, Troilos, Polites s. auch zu 83f. 487 So wird zunächst das Folgen betont und danach die spiegelbildliche Nachahmung (STOEHRMONJOU 2014, 100). 488 S. dazu unten zu 635. Diese Formulierung ist zweifelsohne von Ov. ars 1,501 beeinflußt, wie WOLFF 1996, z. St. feststellt, aber daraus auch inhaltliche Schlüsse zu einem völlig anderen Thema zu ziehen, wie es STOEHR-MONJOU 2014, 100 tut, erscheint mir zu gewagt.

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Auch wenn das Lesen dieser kunstvoll geformten Verse an sich schon Vergnügen bereitet, soll auch eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Ganzen gesucht werden. Den überzeugendsten Ansatz hat jüngst STOEHR-MONJOU 2014, 100f. vorgebracht, und zwar ausgehend von der Prämisse, daß wir es mit einer Doppeldeutigkeit von umbra zu tun haben, auf der einen Seite dem wörtlichen Schatten, auf der anderen Seite dem Totengeist. Für diese Aufgliederung spricht das imitierende Verhalten des Polites einerseits (Schatten) und der Ausdruck larualis imago (632) andererseits. Polites folgt dem Troilos wie sein Schatten, ist aber gleichzeitig schon dem Tode geweiht, ebenso wie sein vorangehender Bruder. 489 STOEHR-MONJOU verweist zur Unterstützung auf eine Stelle bei Ausonius, in der sich Schiffer im Wasser der Mosel spiegeln und an den Bildern, die halb echt, halb unecht sind, ihre Freude haben, wie ein kleines Kind am Spiegel.490 Wichtig sind die Worte ambiguis fruitur ueri falsique figuris, die Dracontius in 636 motibus et falsis ueras imitata figuras aufgreift und damit, wie STOEHR-MONJOU zu Recht zeigt, auf die Ambivalenz seiner umbra aufmerksam macht.491 Das Gleichnis ersetzt eine weitere Äußerung des Polites über seine Gefühle angesichts der neuen Situation, da er durch Imitation des Troilos in dieselben gleichsam mit hineingenommen wird.492 Es bewirkt einen zusätzlichen Gegenpol zur Freude der Eltern über die Rückkehr des Sohnes und verleiht der Situation eine Dramatik des Todes, indem die Bestimmung sämtlicher Personen zum Tod deutlich gemacht wird: Troilos wird das erste Opfer auf trojanischer Seite sein.493 619bf. Hekabe und Priamus eilen herbei, wie schon bei der ersten Ankunft des Paris in Troja unterbricht dieser eine Opferhandlung, dieses Mal anläßlich seines eigenen Todes. occurrit ad undas Ad undas verwendet schon Ennius als Hexameterschluß (ann. 260 V. = 222 Sk.). Vgl. besonders Val. Fl. 2,637 primas procurrit ad undas (Landung eines Schiffs und Begrüßungsszene). Vnda kann hier gut das Meer meinen (für diese umfassende Bedeutung s. OLD s. v. 2090,1b), weil das Schiff gerade im Anfahren ist, und die begeisterte Menge (mindestens Priamus und Hekabe) vielleicht tatsächlich bis zum Wasser eilt, um Paris so schnell wie möglich zu begrüßen. 620 Hecuba cum Priamo Hier tritt zum ersten Mal wieder Hekabe auf, die bei dem Empfang der Gesandtschaft und sämtlicher Trauerhandlung nicht erwähnt worden

489 Vgl. auch BRIGHT 1987, 132f., der sich ins Totenreich versetzt fühlt, jedoch, wie im Anschluß an ihn auch WASYL 2011, 37. 84f., die Doppeldeutigkeit verkennt. Daß Dracontius hier Anleihen aus dem Pantomimus nimmt, wie WASYL zeigen will, weist schon STOEHR-MONJOU 2014, 101 Anm. 113 überzeugend zurück. Recht gegeben werden muß WASYL allerdings in dem Punkt, daß das Verhalten der imago dem eines Pantomimus ähnlich ist und 636 sogar eine Wendung aus einer Pantomimus-Beschreibung übernommen ist (s. auch dort). 490 Mos. 238f. Die ganze Stelle beginnt 222. 491 Zu dieser Ambiguität bei Ausonius s. GRUBER 2013, 191f. Vgl. auch GALLI MILIĆ 2016, 203. 492 STOEHR-MONJOU 2014, 100. 493 STOEHR-MONJOU 2014, 102; DIAZ DE BUSTAMANTE 1978, 213.

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III Kommentar

war, aber sicher selbstverständlich dabei war. Für cum mit Ablativ statt et und Nominativ zur Verbindung zweier Subjekte s. H-S 433f. populi comitante caterua Das Volk, das zuvor mit Priamus getrauert hatte, eilt nun mit ihm und Hekabe aus der Stadt zum Meer. Der Versschluß comitante caterua auch 449, s. dort für weitere Parallelstellen. 621 suscipiunt sponsam Die Junktur ist in dieser Form singulär, jedoch verwendet Dracontius das Wort suscipere auch in dessen gewöhnlicher Weise, z. B. um die Aufnahme eines Kindes zu bezeichnen (z. B. Romul. 10,332). Hier mag durch Übertragung auf die Schwiegertochter eine Variation dieses Bildes vorliegen, da die sponsa (als Bezeichnung für Helena, wie 619 sponsus für Paris) in diesem Moment in die Familie aufgenommen wird. Es scheint sich an dieser Stelle der Geschichte, wo der junge Mann mit einer Frau heimkommt, einer der Wünsche des Priamus zu erfüllen (228f. dum Dorica regna peragras / dat Venus uxorem, faciet te diua maritum). dat cunctis oscula pastor Schon seit Homer ist der Kuß als Begrüßung zwischen Familienmitgliedern, die einander nach langer Zeit wieder begegnen, typisch (z. B. Od. 17,38f., HENRIK ZILLIACUS: Grußformen, RAC 12, 1204–1232, hier 1211). 622 et patrem Priamum gaudens Die Konjektur BÜCHELERs 1872, 477 gradiens statt des überlieferten gaudens bei gleichzeitiger Änderung des überlieferten at in ad ergibt zweifellos einen glatten und ausgezeichnet verständlichen Text. Zu Recht erregt das einleitende at bei BÜCHELER Anstoß, da es einen Gegensatz anzeigt, der inhaltlich nicht gegeben ist. Gaudens hingegen fällt an sich weder grammatisch noch inhaltlich als problematisch auf: für die Konstruktion mit Akkusativ vgl. 561; inhaltlich läßt sich gaudere an das Gespräch zwischen Priamus und Paris vor der Abfahrt aus Troja anschließen, wo sich die beiden einvernehmlich getrennt hatten. Hinzu kommt, daß der Wunsch des Priamus, Venus möge dem Sohn eine Frau zuführen, erfüllt zu sein scheint – durchaus ein Grund, über die Wiederbegegnung mit dem Vater Freude zu empfinden. Dennoch, in Verbindung mit at ergibt gaudens keinen guten Sinn. Nimmt man BÜCHELERs Änderung eines Buchstabens ad jedoch hinzu, so ergibt sich eine ungewöhnliche, aber besonders im späten Latein belegbare Konstruktion von gaudere mit ad und Akkusativ (ThLL VI 2,1706,83ff.). Die Belegstellen stammen allerdings allesamt aus der christlichen Prosa der Spätantike (z. B. Hier. adv. Pelag. 1,22, vita Hilar. 15,7 (= 25 PL), Aug. serm. 13,9), für die Dichtung ist die Konstruktion nicht belegbar. Daher sollte es für Dracontius auch nicht vermutet werden. Eine Möglichkeit, gaudens zu halten, wäre et statt at zu schreiben. Et und -que würden dann im Sinne von et … et die beiden Partizipialkonstruktionen verbinden (vgl. H-S 516; ähnlich konstruiert Orest. 274); patrem und matrem könnten jeweils sowohl zu gaudens als auch zu salutans gedacht sein. Im Kontext von Begrüßungsszenen spielt gaudere eine nicht geringe Rolle, allerdings zumeist von demjenigen, der einen Ankömmling empfängt (ThLL VI 2,1704,33ff.). Im selben Vers und durch -que verbunden, treten gaudere und salutare Ov. met. 4,736 gaudent generumque salutant und Iuvenc. 1,246 auf.

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matremque salutans Die Wortverbindung findet sich bei Plaut. Merc. 659 patrem atque matrem ut meos salutem, Poen. 1144 matrem hic salutat suam, Ov. met. 9,378 matrem … salutet, fast. 4,539 matre salutata. 623 dulcia colla tenent Vgl. 106f. Paridis mox colla lacertis / alligat. Die Junktur dulcia colla noch Orest. 644. Colla tenere findet sich schon Plaut. Poen. 1266 quaeso, qui lubet tam diu tenere collum?, auch Ov. met. 2,100, Lucan. 5,793. uultibus oscula figunt Vgl. für Ausdruck und Formulierung Verg. Aen. 1,687 oscula dulcia figet; 2,490, Lucan. 6,565, Val. Fl. 7,254f., Homer. 848, Heptateuchdichter exod. 234. Mit einem Dativ wie an unserer Stelle z. B. noch Lucr. 4,1179, Ov. met. 3,24f., Ciris 253, Lucan. 2,114, Sil. 6,573; 11,331, Claud. 20,67f., Paul. Nol. carm. 18,249. Besonders zu vergleichen ist aber Ov. met. 4,141 in uultibus oscula figens (allerdings bei einem Sterbenden). 624 non inuitus adest Die Litotes non inuitus wirkt auf den ersten Blick inhaltlich kaum verständlich, da Hektor schon bei der ersten Ankunft des Paris nicht sonderlich begeistert auf dessen Anwesenheit reagiert hatte (212). Auch einer ironischen Schadenfreude wird schon durch das folgende nec gaudet und durch den Charakter des Hektor an sich der Boden entzogen. So versteht WOLFF 2015 (a), 365f. mit leichter Skepsis die Verbindung non inuitus (dazu nennt er auch die interessante Konjektur von GALLI MILIĆ inuisus) denn auch etwas anders: Es sei darin ein Ausdruck der Güte und Freundlichkeit von Hektor und Troilos zu sehen, die keine bösen Brüder sind und Paris daher kein Unglück wünschen, sich andererseits aber auch natürlicherweise nicht freuen über die zukünftigen Ereignisse. Dieses Verständnis wird durch das erste Auftreten Hektors im Gedicht unterstützt: Nach der Rede Apolls und dem Dank des Priamus an den Gott heißt es von ihm tacet optimus Hector (212). Der trojanische Held schweigt und fügt sich in das Schicksal. So freut er sich hier auch nicht über die Rückkehr des Paris, hegt aber auch, weil Paris sein Bruder ist, und weil alles so kommen muß, keinen Groll. Damit erhält er eine dem Troilos vergleichbare Charakterisierung, von dem es im folgenden Vers heißt non inuitus tamen aeger (625). Bei diesem dürfte durch seine düsteren Vorahnungen das aeger etwas schwerer wiegen, er wird also dem Paris negativer gegenüberstehen als Hektor. nec gaudet Ist wie der Anfang des Verses im Anschluß an die Aufnahme des Paris in Troja zu verstehen, die Hektor mit Schweigen bedacht hatte: tacet optimus Hector (212). So freut er sich auch jetzt nicht, wenn Paris wieder zurück ist. Der Versanfang auch [Tib.] 3,4,60 und Mart. 1,22,4 fortior Hector Der Versschluß schon 92 und 155. Der Komparativ steht im Sinne des Positivs (H-S 168) oder für den Superlativ im Sinne von fortior omnibus (H-S 169). 625 quem Troilus sequitur Troilos ist nicht gerade als Seher bekannt (s. unten zu seinen Vorahnungen), steht aber in einer Verbindung zu Apoll, an dessen Heiligtum er auch von Achill getötet werden wird. Bei Apollodor bibl. 3,151 wird zudem

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III Kommentar

Apoll als Vater des Troilos genannt (s. WOLFF 1996, z. St., MAXIMILIAN MAYER: Troilos, ROSCHER 5, 1215–1230, hier 1215). S. auch die Einleitung des Abschnitts. Hektor und Troilos traten schon zu Beginn des Gedichts gemeinsam in den Blick, als sie sowohl von Paris als auch von Helenus und Kassandra in ihren jeweiligen Reden direkt angesprochen bzw. genannt worden sind (92. 94. 128f. 155, s. auch SIMONS 2005, 259 Anm. 131). Außerdem bildeten sie bei der Prozession jeweils die rechte und linke Flanke des Priamus, so daß hier auch diese räumliche Nähe wieder aufgegriffen wird (83f.). non inuitus, tamen aeger Der überlieferte Text nec inuitus attamen ist nicht nur inhaltlich, sondern auch bereits metrisch ein Problem, da nec eine Kürze bildet, wo eine Länge gefordert wäre. Möglichkeiten zur Verbesserung gäbe es also entweder am nec oder am inuitus. Letzteres tut VON DUHN, der nec liuidus at tamen schreibt, was auch VOLLMER in seine MGH-Edition aufgenommen hat, so daß diese Konjektur wohl am wirkmächtigsten geworden ist. Dennoch sollte eher nicht bei der Wortwiederholung zu 624 inuitus eingegriffen werden; der Dichter scheint mit der „Iktenschaukel“ die gleichen Worte ganz besonders zu betonen. Daher ist die Änderung des nec in non, wie sie zuerst IANNELLI vorgenommen hatte, die beste Lösung. Auch für Troilos gilt die Haltung, die für Hektor (zu 624) postuliert wurde: Er verhält sich nicht grollend gegenüber Paris, dem Bruder. Doch dürften seine negativen Ahnungen das Verhältnis mehr belasten als das des Hektor. Das mit non korrelierende tamen (die Änderung des nec in non zieht aus metrischen Gründen auch die Änderung von attamen in tamen nach sich) leitet das gegenteilige bedenkliche Verhältnis zu Paris ein, dem Troilos seine düsteren Vorahnungen zu verdanken hat. 626 non membris sed mente grauis Die im ThLL für grauis an dieser Stelle gegebenen Synonyme, tardus und inhabilis (ThLL VI 2,2284,9), lassen ein sehr negatives Bild von Troilos zurück, das mit Sicherheit vom Autor nicht intendiert war. Gemeint sein dürfte eher ein (fast zeugmatisches) Verständnis im Sinne von ‘beschwert, belastet’. Diese Belastung hat nichts mit seinem Körper (non membris), sondern mit seinem Inneren zu tun. Vielleicht ist grauis aber auch mit Blick auf die im folgenden ersichtlichen seherischen Fähigkeiten des Troilos im Sinne von ‘bedeutend’ (nicht aufgrund seiner Körperglieder, sondern aufgrund seines Geistes) zu verstehen. Die Ablative hätten dann die Funktion der Kausalangabe. praesagia ‘Vorahnungen’ (hier absolut verwendet, ebenso Lucan. 8,43f. tristes praesagia curas / exagitant (sc. Corneliae), ThLL X 2,811,45ff.) rufen emotionale Regungen hervor. 626f. sensus / … animosque [in] uiri Die Verbindung von sensus und animus begegnet zuerst Verg. Aen. 4,22 sensus animumque, dann [Tib.] 3,14,4 animum sensusque, Ov. met. 14,178 und öfter. Vgl. auch Orest. 558f. sensus animum … / conturbat pietas. Die mens (626) scheint an dieser Stelle in diese beiden Elemente des menschlichen Seins aufgeteilt. Für den Plural animi (auch Romul. 9,141) s. WESTHOFF 1883, 5.

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Die Formel einer Form von animus mit angehängtem -que und folgendem uiri findet sich in der lateinischen Dichtung noch einmal Sil. 11,328 animusque uiri. Von IANNELLI athetiertes in dürfte durch Dittographie entstanden sein. 627 concutiunt Schon 404 (ebenfalls am Versanfang) für die innere Bewegung von Menschen verwendet. Singulär in Verbindung mit praesagium. 627f. Mors … / … discurrit Personifikation des Todes (ThLL VIII 1505,18ff., s. zu seiner Personifizierung auch ERNST MARBACH: Mors, RE 16, 1, 314–316), in Verbindung mit discurrere in der Bedeutung ‘sich schnell verbreiten’ schon Hier. in Is. 37, 33 p. 466 mors saeua discurrit, in gleicher Formulierung, aber mit anderer Bedeutung auch satisf. 217 discurrere mortes. Vgl. auch Lucan. 2,100 mors saeua cucurrit. 627 ore cruento Seit Verg. Aen. 1,296 beliebter Versschluß. Bei Dracontius noch satisf. 137 (vom Löwen) und Romul. 5,309. Vgl. für die Charakterisierung des trojanischen Krieges Romul. 9,103 bellum geritur cum Morte cruenta (der Versschluß auch satisf. 131). 628 inter Troianas … saeua cateruas Der hier abgedruckte Text ist die Konjektur VON DUHNs für das überlieferte inter Troianos … saeua caterua. Auch wenn theoretisch saeua caterua als eine Apposition zu Mors gehalten werden könnte, wie es zuletzt WOLFF 1996, z. St. getan hat, bleibt die Frage, wie mors als caterua in der Vorstellung auszusehen hat, offen. Die Konjektur VON DUHNs macht den Text durch winzige paläographische Veränderungen gut verständlich. Als deutlicher Vorteil kommt hinzu, daß die cateruae hier den gleichen Personenkreis umfassen wie die caterua wenige Verse zuvor (620, vgl. die Zuordnung von Personengruppen auch 553–555). Für Troianas cateruas sprechen auch die Stellen Homer. 357 Troum … cateruae, 631 Troum … cateruae, laud. dei 3,484 ensiferas saeuo sub Marte cateruas. Die neueste Konjektur zu dieser Stelle stammt von GRILLO 2014, der caterua zu et acerba ändern möchte. Dabei verweist er auf die Seherrede des Helenus, in der dieser dem Troilos einen verfrühten, grausamen Tod ankündigt, woran sich Troilos hier gezwungenermaßen erinnern und seine Ahnung auf sein Schicksal beziehen müsse. Doch ist dagegen anzumerken, daß der Blick des Troilos weniger auf sich selbst geht, als vielmehr auf das Wüten der Schlacht bei den Trojanern insgesamt, so daß der Blick weg von den Trojanern insgesamt auf eine einzige Person kaum gerechtfertigt ist. Zudem entspricht der entstehende Versschluß nicht dem Stil des Dracontius (so heißt es zwar z. B. 133 Pyrrhus et ingens, aber das Bezugswort steht direkt davor, nicht einen Vers entfernt, wie es sich hier ergäbe). 629f. Erinnert an das Prooem und die dortige Klage über die Toten (41–44. 53f.), sowie an die Prophezeiungen des Helenus und der Kassandra (120ff. und 135ff.); hier wie dort wird eine Unterscheidung zwischen Männern und Frauen vorgenommen.

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III Kommentar

Konstruiert werden müssen die futurischen Partizipia und parata in Abhängigkeit von Mors 627. heu quantos raptura uiros Der Ausruf heu am Versanfang, mit einer Form von quantus weitergeführt, ist ein typisch epischer Klageruf, belegbar seit Verg. Aen. 6,828. Rapere in der Bedeutung ‘dahinraffen’ begegnet seit Vergil (ThLL XI 2,113,22ff.), in der Verbindung mit mors ist es zu jeder Zeit gebräuchlich (ThLL XI 2,113,22ff.). quae fata datura Fatum hier in der Bedeutung ‘Verderben’ (ThLL VI 1,359,4). 630 Der Vers ist bis zur Hephthemimeres metrisch völlig parallel zu Vers 629 gebaut. aut quantas per bella nurus uiduare parata Das Schicksal der trojanischen Ehefrauen wird auch in der Helenus-Rede 124 thematisiert, allerdings nicht ihre Verwitwung, sondern ihre Neuverheiratung mit bzw. Versklavung durch die feindlichen Griechen. Vgl. auch Orest. 390 uiduare nurus und Sen. Ag. 704 ceteras uiduas nurus. Der Infinitiv uiduare ist von parata abhängig. Für per bella s. zu 317. Parata als einziges PPP weist auf das schon feststehende Ausbrechen des Krieges hin. Aut ist wie et gebraucht (H-S 500). 631 Troile … Polites Die beiden Brüder rahmen den Vers, Polites steht am Ende, so daß er auch im Versbild dem Troilos folgt. Direkt angesprochen wird Troilos mit Vokativ am Versanfang 94 von Paris, 129 von Helenus und 155 von Kassandra. Die Anrede an eine Person, die als Erzählerkommentar gestaltet ist, findet sich in diesem Gedicht nur hier und erhöht die Dramatik der Stelle (WOLFF 2011, 99). sectatur uestigia uestra Das zunächst überraschende uestra findet seine Erklärung in Bezug auf die übrigen Brüder, die nach Troilos, dem ersten gefallenen, und vor Polites, dem letzten gefallenen Priamussohn, umkommen (Verg. Aen. 2,526–532). In uestra mag alternativ auch Hektor mitgehört werden können, der den beiden Brüdern Troilos und Polites vorausgeht. Ähnliche Formulierung 546 gladio uestigia nostra sequaci, 580f. raptoris sectatur iter, uestigia sollers / insequitur. 632 sic Einleitungswort für ein Gleichnis auch 350. 557. 577. umbra sequax Vgl. sectatur 631 für die Variatio. 632f. larualis imago / muta Durch den Zusatz der singulären Junktur larualis imago (larualis ist zudem ein äußerst selten gebrauchtes Wort und eher für die Prosa belegbar; zuerst Sen. epist. 24,18 mit forma; dichterisch findet es sich in Priap. 32,12 macies larualis) zu umbra wird die Ambiguität vollständig deutlich (s. die Einleitung zum Abschnitt). Die Stummheit einer imago findet sich z. B. auch Ov. rem. 723 (von einem echten Bild), in der Prosa Tac. ann. 4,52,2. 633 membra mouet Seit Lucr. 4,455 eine geläufige Junktur. nisi mouerit Grammatisch zu ergänzen ist membra aus dem voraufgehenden Satzteil.

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634 si cesset homo, cessabit imago Parallelismus mit Wiederholung des Verbs und Reim der beiden Substantive. Nach den Ausführungen über das Nachahmen der Bewegungen erfolgt nun mit cessare der Hinweis auf die Unbewegtheit bei Unbewegtheit des Vorbilds (für die Bedeutung ‘nichts tun’ s. ThLL III 959,1). Imago hier in der Bedeutung ‘Schatten’ (für ‘Totenschatten’ s. ThLL VII 1,408,60ff., für ‘wörtlichen Schatten’ ThLL VII 1,408,74ff.). 635 quodcunque mouens si sederit, illa sedebit Zu vergleichen ist Ov. ars 1,503 cum surgit, surges; donec sedet illa, sedebis, wo geraten wird, sich den Bewegungen der Frau anzupassen (WOLFF 1996, z. St.). Für die Junktur quodcumque mouens vgl. Tib. 1,8,65, Lucan. 9,580. An unserer Stelle ist quodcumque als adverbieller Akkusativ wie aliquid zu verstehen (WOLFF 1996, z. St.). Illa variiert imago aus 634; Subjekte und Prädikate der beiden Hauptsätze sind chiastisch angeordnet. Im Vergleich zu 634 ist der si-Satz erweitert: Anstelle eines Nomens (homo) als Subjekt findet sich hier ein Partizip mit einem adverbiellen Akkusativ. 636 motibus et falsis ueras imitata figuras S. oben die Einleitung des Abschnitts zum Bezug zu Auson. Mos. 238f. Der Versanfang findet sich genauso Lux. Anth. 310 = Anth. 310 R = 305 Sh.-B.,6 von einer Pantomima, die Helena und Andromache darstellen will, allerdings von so kleinem Wuchs ist, daß der Versuch lächerlich wirkt. Für die Stelle s. HAPP II 1986, 210f. Der Versschluß findet sich Iuv. 6,341 (WOLFF 1996, z. St.). Die Funktion des et wird nicht recht klar. Vielleicht hat man sich zu imitata ein est zu ergänzen und es zu einem (vom Tempus her betrachtet unpassenden) zweiten Prädikat zu machen (s. auch WOLFF 1996, z. St.). ZWIERLEIN BT z. St. vermutet eine Wortstellung, die wie etiam illa sedebit zu verstehen ist. 637 nil faciens quasi cuncta facit Kunstvolle Antithese, die durch quasi abgeschwächt wird, das die Wahrheit nil faciens vom Schein cuncta facit trennt (STOEHR-MONJOU 2014, 100). sic quoque Polites Ausleitung aus dem Gleichnis mit sic auch 362. 585. Das ‘o’ von quoque ist lang gemessen statt der üblichen Kürze, so auch laud. dei 1,443; 2,245, Romul. 4,15; 10,439 (BLOMGREN 1966, 60). Polites rahmt das Gleichnis und bildet Einstieg und Schluß. 638–647494 Hochzeitszug Die letzte thematische Einheit des Gedichts läßt sich in zwei Teile gliedern, einen ersten, eher beschreibenden, 638–647, und einen zweiten, in dem sich der Erzähler selbst nochmals einschaltet und statt guter Wünsche dem Hochzeitspaar seine Schuld und den Schrecken des kommenden Krieges vor Augen stellt (hier als

494 Für die Abgrenzung vgl. WOLFF 2011, 100.

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III Kommentar

„Epilog in Epithalamiengestalt“495 bezeichnet). Strukturell korrespondiert dieser Epilog mit dem ebenfalls auktorialen Prooem und wird daher trotz der inhaltlich bruchlosen Fortführung als selbständige Einheit abgetrennt. Im Abschnitt über die Hochzeit von Helena und Paris erfährt der Leser recht wenig über die eigentliche Hochzeitszeremonie,496 weil der Fokus anders gesetzt wird. Es scheint nicht das Ziel zu sein, Hochzeitsfeierlichkeiten als Abschluß eines gelungenen Abenteuers zu beschreiben, sozusagen als Happy Ending, sondern einen mahnenden Ton zum Klingen zu bringen und so einen Bogen zurück zum Anfang des Gedichts zu schlagen und es auf eine kritische Weise zu Ende zu führen.497 So wird sehr kurz der Zug des Brautpaares in die Stadt und zum Königspalast in den Blick genommen. Die Musik, der bei einer Hochzeitszeremonie sowohl in der griechischen als auch der lateinischen Antike eine besonders große Rolle zukommt,498 wird auch hier herausgehoben und umgedeutet. Alle Instrumente, alle Klänge verweisen entweder auf Paris als Hirten (rustica fistula 642 ist die Syrinx, ein typisches Hirteninstrument, das in sämtlichen literarischen Quellen mit dem Hirtenleben assoziiert wird499) oder auf den zukünftigen Krieg (lituus 643, bucina 644 und tuba 645 gehören zu den spezifisch römischen Trompetenformen, die besonders im Krieg Verwendung finden500). Kein einziges der sonst typischen Hochzeitsinstrumente (wie Aulos oder Lyra501) wird hier erwähnt.502 Die Anregung, die Hochzeitsfeierlichkeiten mit Kriegstönen zu untermalen, könnte Dracontius von Claudian erhalten haben. Der läßt in seinem Epithalamium für Honorius und dessen Frau Maria die Göttin Venus auftreten und eine Rede halten, die sie mit der Aufforderung Gradiuum, nostri comites, arcete parumper (Claud. 10,190) beginnt. Schon während der Ankunft der Venus im Lager heißt es 495 Ein ähnliches Gestaltungsmittel eines Epithalamiums innerhalb eines epischen Textes läßt sich bei Claud. rapt. Pros. 2,317–372 greifen; s. dazu HORSTMANN 2004, 49ff. 496 Als Elemente einer antiken Hochzeitszeremonie lassen sich nennen (s. HERSCH 2010 zu diesem Thema): Die Kleidung (flammeum, 640), eine Art Hochzeitszug läßt sich wohl aus 639–641 entnehmen, Auspizien finden sich, ausdrücklich verneint wird das Vorhandensein der sonst üblichen fescennina (644). 497 Es kann die Frage aufgeworfen werden, ob im Hintergrund auch die allgemein verbreitete Praxis, bei einer zweiten Hochzeit nicht mehr solch großen Aufwand zu betreiben, wie bei der ersten, von Bedeutung sein könnte (MARIA-BARBARA STRITZKY: Hochzeit I, RAC 15, 911– 930, freilich gewöhnlich aus einem anderen Grund, weil man es nicht gern sah, wenn Witwen ein zweites Mal geheiratet haben; hier könnte vielleicht versucht werden, so schnell wie möglich Tatsachen zu schaffen, an denen niemand mehr etwas ändern kann). 498 S. dazu etwa ALIKI KAUFMANN-SAMARAS: Paroles et Musiques de Mariage en Grèce antique. Sources écrites et images peintes, in: ODILE CAVALIER (Hrsg.): Silence et fureur. La femme et le mariage en Grèce. Les antiquités grecques du Musée Calvet, Avignon 1996, 435–448. 499 ANTONIA ROUMPI / OURANIA ZACHARTZI: Musik III (Musikinstrumente) RAC 25, 294; SIMONS 2005, 277. 500 ANTONIA ROUMPI / OURANIA ZACHARTZI: Musik III (Musikinstrumente) RAC 25, 300f. 501 ANTONIA ROUMPI / OURANIA ZACHARTZI: Musik III (Musikinstrumente) RAC 25, 308f. 502 Vgl. für die Beobachtungen SIMONS 2005, 277, die auch auf Dracontius’ eigene Epithalamien und deren musikalische Gestaltung verweist (Romul. 6,69–71; 7,27–38). HORSTMANN 2004, 52 hält die Kriegstöne für eine „dramatische Verkürzung des Handlungsablaufs”, so daß sie den trojanischen Krieg in diesem Moment beginnen lassen.

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Mauortia signa rubescunt / floribus (187f.); dieses Motiv, der Tausch oder die Umwandlung von Kriegs- in Hochzeitselemente, durchzieht die ganze Rede. In die Reihe gehören auch die verschiedenen Instrumente, so daß es heißt: tibia pro lituis et pro clangore tubarum / molle lyrae gestumque canant (195f.). Bei Claudian stellen die Hochzeitsfeierlichkeiten, von Venus selbst vorbereitet und mitgestaltet, eine friedliche und freudige Abwechslung im Kriegsgeschäft dar, während die Hochzeit von Helena und Paris von vornherein eine gefahrenbringende und kriegverheißende Veranstaltung ist. Auf diese Weise erhält das von Claudian aufgerufene Motiv bei Dracontius eine Umdeutung. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf ein ähnliches Motiv in Romul. 10,270f. Dort findet ein Hochzeitszug von Medea und Iason statt, der von lauter positiv konnotierten Gottheiten begleitet wird (262–269). Doch ganz am Ende folgen Ingratia und Oblivio (ecce triumphantes Ingratia dura iugales / consequitur, gressus consors Obliuio iungit). Damit kündigt sich auch hier in der Situation des Festes die Katastrophe an.503 So läßt sich das Vorgehen, den Hochzeitszug von negativ besetzten Elementen begleiten zu lassen, in eine breite Tradition stellen, die sich zuerst in Verg. Aen. 7,318–322 greifen läßt, wo Iuno der Lavinia die Göttin Bellona als pronuba angibt. Die Nachfolgenden haben das Motiv aufgegriffen und variiert.504 An genau dieser Rede der Iuno orientiert sich auch der Gedanke, daß der Tod von Menschen als Mitgift gegeben wird (652).505 Das Gedicht endet mit einer für das Epos grundsätzlich unüblichen direkten Anrede an das Brautpaar (allocutio sponsalis506) und einem Erzählerkommentar.507 Anders als bei gewöhnlichen Hochzeitsfeiern, wo dem Brautpaar Glückwünsche mit auf den Weg gegeben werden, erhält es hier Vorwürfe für seine Schuld am Tod so vieler Menschen im Krieg. Zu Recht wurde dieses Vorgehen als „Parodieren“ bezeichnet,508 was auf bissigster Ironie, an der Schwelle zu ganz ernsten Tönen, beruht. Schließlich sei noch ein Wort zur Struktur gesagt: Der recht ausführliche Abschnitt über die drei Brüder und die fast direkt im Anschluß folgende Schilderung von schlechten Vorzeichen ist zum Anfang des Gedichts chiastisch komponiert. Dort begegnen die negativen omina, als sich Paris der Stadt Troja nähert (ziemlich direkt nach dem Prooem, 70ff.), wo er auf die Opferprozession und damit auch auf jene drei namentlich gemeinsam genannten Brüder trifft. Auf diese Weise wird ein Bogen von der zweiten Ankunft des Paris zurück zur ersten und damit zum Anfang des Gedichtes geschlagen, womit der Autor eine Art Ringkomposition erreicht. 503 KAUFMANN 2006 [a], 283f. GUALANDRI 1974, 885. 504 Vgl. z. B. Ov. epist. 2,117, Sen. Med. 16f., Octavia 23f., Stat. Theb. 2,260f.; 11,491f. u. ö. 505 Es heißt bei Vergil: sanguine Troiano et Rutulo dotabere (Aen. 7,318). Vgl. auch Romul. 9,62f. magnoque iacet dotata Lacaena / sanguine Troiugenum, Graium dotata cruore. 506 Vgl. für die Bezeichnung an der Stelle QUARTIROLI 1946, 186; BRIGHT 1987, 134. 507 HORSTMANN 2004, 51f., SIMONS 2005, 278. 508 HORSTMANN 2004, 52, SIMONS 2005, 277.

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III Kommentar

Hinzu kommt die Rückkopplung des Epilogs an das Prooem, das den Verlust auf Seiten der verschiedenen Völker thematisiert (45–47), wo die Unschuld der übrigen Beteiligten betont wird (40–48), wo die unrechtmäßige Gemeinschaft von Helena und Paris angekündigt wurde, die hier nun als miser amor charakterisiert wird.509 638 Der Vers läßt sich als Überschrift zum Rest des Gedichtes lesen. Zu vergleichen ist aus der Prophezeiung des Nereus an Paris Hor. carm. 1,15,5 mala ducis aui domum (WOLFF 1996, z. St.).510 duxerat uxorem pastor Plusquamperfekt zur Verdeutlichung des Szenenwechsels und zur Beschleunigung, s. auch zu 61. Gleichklang bei dux- und ux-. Ducere mit bloßem uxorem für ‘heiraten’ vom Manne aus begegnet besonders bei Plautus, z. B. Cas. 69, Mil. 680. Bei Sen. benef. 1,9,4 heißt es bezeichnenderweise nemo uxorem duxit nisi qui abduxit. Ducere findet sich 537 in der Bedeutung ‘heiraten’, dort allerdings ohne den Zusatz uxorem. Mit pastor wird Paris hier das letzte Mal im Gedicht explizit genannt. cum sorte sinistra Der Ausdruck ist singulär, wobei besonders cum mit dem Ablativ sorte ungewöhnlich ist (cum läßt sich wegen des Folgenden nicht als Einleitewort für einen Nebensatz verstehen – es müssen beides Hauptsätze sein). Es bleibt die Möglichkeit, den Präpositionalausdruck als eine seltene Form des Ablativus modi anzusehen (für diesen in Verbindung mit cum s. H-S 116). Inhaltlich bezieht sich der Hinweis vielleicht auf die Praxis, vor der Hochzeit auspicia einzuholen (s. dazu MARIA-BARBARA STRITZKY: Hochzeit I, RAC 15, 911–930, hier 920; auch wenn sors dafür freilich kein t.t. ist). Vgl. für sors bei einer glücklichen Hochzeit Romul. 6,82 Victoris suboles felici sorte iugantur. 639 iam … iam … iam Die schnell aufeinanderfolgende Anapher drückt die Hast aus, mit der die Wege zurückgelegt werden. iam muros, iam tecta petunt Die Ziele werden von außen nach innen aufgereiht, vom Großen zum Kleinen: Zuerst zu den Mauern, also zur Stadt, dann zu den Dächern, also zu den Häusern, dann zur konkretesten Einheit, dem Palast des Königs. Gemeinschaftliches Auftreten von murus und tectum (in typisch epischer Manier als Synekdochen für ‘Stadt’ [vgl. ThLL VIII 1686,22ff.] und ‘Häuser’ [OLD s. v. 1909, 2a]) schon Verg. Aen. 12,596 incessi muros, ignis ad tecta uolare, [Ov.] epist. 16,57 Dardaniae muros excelsaque tecta. Petere in dieser Bedeutung auch 89 templa petunt. 639f. regis ad aulam / intratur Das Ziel des Paares ist der Königspalast. Von dort ging die Reise des Paris los, dorthin soll sie nach erfolgreicher Mission auch zurückführen. Für die Konstruktion intrare mit ad s. ThLL VII 2,59,21–27 (vgl. auch

509 SIMONS 2005, 278. 510 Eine genauere Untersuchung des Verhältnisses zwischen Hor. carm. 1,15 und Drac. Romul. 8 wird an anderer Stelle vorgenommen werden.

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488 intrauit ad aras). Von der persönlichen Konstruktion in petunt wechselt der Dichter in die unpersönliche mit intratur. Der Versschluß auch 252. 640 sponsam … pulchram Auch 527 findet sich das Epitheton pulcher auf Helena. Die Junktur schon Paul. Nol. carm. 25,107 von Rebecca, der Braut des Isaak (wobei pulchra dort vielleicht direkt auf die genannte Rebecca zu beziehen ist). tegunt sua flammea Die Braut war mit einem blutroten Schleier angetan, um ihre sich mit roten Wangen andeutende Schamhaftigkeit zu verbergen, bevor sie ins Schlafgemach geführt wird, und gleichzeitig als Zeichen des neuen Status als verheiratete Frau (RUPPRECHT 1974, 620, HERSCH 2010, 95–105, s. auch ThLL VI 1,872,13ff., vgl. Catull. 61,8, Stat. Theb. 2,341f., Iuv. 6,225, Romul. 10,291 nec prospera flammea sumat). Bei Helena, die sich hier bereits in die zweite Ehe begibt, hat das Anlegen des Brautschleiers sicher rein zeremoniellen Charakter. Tegere scheint in dieser Verbindung singulär zu sein, gewöhnlich wird uelare verwendet. Für suus, wo eius zu erwarten wäre, eine Erscheinung, die sich zu allen Zeiten, jedoch unterschiedlich ausgeprägt findet, s. H-S 175. 641 iam thalamis ornata sedet Das Gemach mit dem Ehebett ist die letzte Station des Zuges und bildet das Finale des hier vielleicht angedeuteten Hochzeitszuges (vgl. auch Romul. 6,119 pergitur ad thalamos, LUCERI 2007, 179). Thalamis als lokaler Ablativ bei sedere (H-S 121). Ornatus für die hochzeitlich geschmückte (zu verstehen ist hier ihre Bekleidung mit dem flammeum, vielleicht auch mit dem üblichen, hier jedoch nicht erwähnten Blumenschmuck o. ä., s. MARIA-BARBARA STRITZKY: Hochzeit I, RAC 15, 911–930, hier 919) Braut auch Plaut. Cas. 540 (s. ThLL IX 2,1024,64ff.). saltatur in urbe Nach der Hephthemimeres in diesem Vers weitet sich der Blick vom Brautpaar hin zu den Feierlichkeiten allgemein. Tanz als Teil der Hochzeitsfeierlichkeiten scheint auch Romul. 6,120 agmina saltantum auf (s. z. St. LUCERI 2007, 179). Die Form saltatur findet sich ausschließlich in der Prosa (Quint. inst. 2,17,10, Arnob. nat. 4,35, Ambr. de virginibus 3,6, Aug. epist. 91,5, serm. 311,6). 642 tympana iam quatiunt Wechsel der unpersönlichen Konstruktion zur persönlichen, dennoch mit unbestimmtem Subjekt (s. auch WOLFF 1996, z. St.). Das Tympanon ist als Begleitung für einen ekstatischen Frauentanz bekannt (ANTONIA ROUMPI / OURANIA ZACHARTZI: Musik III (Musikinstrumente), RAC 25, 303f.), seine sonstige Verwendung bleibt im Dunkeln. Es scheint hier in direktem Zusammenhang, da sogleich angefügt, mit dem Tanz anläßlich der Hochzeitsfeierlichkeiten zu stehen. Die Junktur schon Ov. Ib. 456, Claud. rapt. Pros. 3,131 (beim Kybele-Kult). 642f. rustica fistula carmen / pastorale canit Das Hirtenlied rekurriert auf Paris, der als Hirte zu seiner Hochzeit auch ein Hirtenlied erwarten darf. Das Adjektiv pastoralis schlägt einen Bogen zum Anfang des Prooems, wo ein pastorale ausum (2) angekündigt wurde. Mit pastorale canit wird auf Verg. Aen. 7,513 pastorale canit signum verwiesen, den kriegsartigen Sammelruf der Allecto nach der Er-

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III Kommentar

mordung des Hirschs durch Ascanius, so daß schon hier Kampfhandlungen anzitiert werden. In der zweiten Vershälfte ist die Hexameterregel, daß Wortenden nicht mit Metrumende zusammenfallen sollen, aufgehoben. Der Rhythmus betont dadurch das Thema des Verses: Das Lied und die Musik. Das Spiel mit carmen und canere scheint beliebt: Cic. progn. frg. 4,4 SOUBIRAN pertriste canit de pectore carmen, Verg. ecl. 1,77 carmina nulla canam, 9,67, georg. 2,176, moret. 29, Ov. met. 14,430 u. ö. (bei Dracontius sonst eher mit cantare). Canere von einem Instrument selbst ist eher ungewöhnlich, zumal mit einem hinzugesetzten carmen (s. ThLL III 267,62ff.; z. B. Ps. Cato dist. 1,27 fistula dulce canit; Claud. 24,283). Die Junktur carmen pastorale findet sich Ter. Maur. 2123, Nemes. ecl. 4,15f. für ein bukolisches Lied. Vgl. für die Formulierung auch Copa 10 rustica pastoris fistula more sonat. 643 lituus nil dulce remugit Das Signalhorn ist kein Instrument für eine fröhliche Hochzeitsfeier mit romantisch-lieblichen Tönen und so stellt es mit seinen bedrohlichen Klängen (remugit am Versende auch 355, s. auch dort zu seiner bedrohlichen Bedeutung; von einem Instrument auch Prud. apoth. 386 tuba … remugit) gleich hinter der sanften Flöte einen heftigen Gegensatz her. Lituus und dulcis begegnen gemeinsam Stat. Theb. 9,724 dulces lituos (das überraschende Attribut findet seine Erklärung in der Situation des Parthenopaeus, s. DEWAR 1991, 194). Für die Verwendung von nil dulce bei Tönen vgl. auch Stat. silv. 5,3,14 nil dulce sonantes. 644 fescennina silent Die typischen Hochzeitsgesänge (s. GEORG WISSOWA: Fescennini versus, RE 6, 2222–2223; HORSTMANN 2004, 53ff.), gelegentlich mit zotigem Inhalt, denen auch Abwehrkräfte gegen das Böse nachgesagt werden (nach der wohl unhaltbaren, aber trotzdem verbreiteten etymologischen Ableitung von fascinum Fest. p. 76 LINDSAY) haben auf dieser verderblichen Hochzeit keinen Platz. Vgl. Catull. 61,126f. ne diu taceat procax / fescennina iocatio. Bei Dracontius noch Romul. 6,71; 10,288. bucina bella minatur Schon in Verg. Aen. 11,474f. bello dat signum rauca cruentum / bucina ist die Trompete ein dezidiertes Signalinstrument im Krieg. Die kleine ‘b’-Alliteration bildet die kräftigen Signaltöne lautlich ab. Für den Versschluß bella minatur s. 469. Hingewiesen sei auch auf Stat. Theb. 2,260f., wo ein Trompetensignal als ungutes Zeichen bei der Doppelhochzeit von Deipyle und Argia ertönt. 645f. Für die Wortwahl stand sicher Verg. Aen. 9,503f. at tuba terribilem sonitum procul aere canoro / increpuit Pate. Der Leser wird auf der Grundlage dieser Reminiszenz in den Ablauf eines Krieges und seiner Schrecken hineingenommen, und zwar eines Krieges, der vor eine Hochzeit, nämlich die zwischen Aeneas und Lavinia, gesetzt ist. In der ‘Aeneis’, zwar nicht mehr geschildert, aber klar aus dem Ende hervorgehend, ist diese Ehe als Happy Ending gedacht, und vor allem als Einleitung einer Friedenszeit, nachdem so lange Krieg, Unfrieden und Eifersucht geherrscht hatten. Dem steht die Hochzeit von Helena und Paris diametral entgegen und bewirkt zweierlei: Zum einen wird aus einem eigentlich per se fröhlichen

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Hochzeitsfest ein ungünstiges Vorzeichen mit lebensgefährlichem Ausgang. Statt Endpunkt eines Abenteuers zu sein, wird diese Hochzeit Anfangspunkt einer zehn Jahre währenden Kriegsphase. Zum anderen wird erneut ein Bogen zum Beginn des Gedichts geschlagen, indem Paris wiederholt mit Aeneas negativ parallelisiert wird (am Anfang Unterbrechung der Zeremonie wie Aeneas bei Euander, s. oben 89ff.). Paris beendet mit der Hochzeit die Friedenszeit, während Aeneas mit seiner Hochzeit der Kriegszeit ein Ende setzt. 645 nec molles tuba rauca sonos dedit Die tuba rauca, die in diesem Vers in herbem Gegensatz zu molles soni (singuläre Junktur, jedoch ist mollis von Klängen nicht ungewöhnlich, s. ThLL VIII 1377,29ff.; wie schon 643 nil dulce wird auch hier das Erwartbare verneint) gestellt ist, begegnet auch Romul. 7,79. Mit dieser Art Oxymoron spielt ebenfalls Claud. 10,195f. tibia pro lituis et pro clangore tubarum / molle lyrae festumque canant und 20,562f. iam signa tubaeque / mollescunt. Für dare in Verbindung mit verschiedenen Klängen s. ThLL V 1,1687,19ff. aere canoro Der Versschluß, ein instrumentaler Ablativ, außer Verg. Aen. 9,503 noch Ov. met. 3,704, Prud. ham. 480, Heptateuchdichter iud. 347. Aes für Musikinstrumente findet sich schon seit Enn. ann. 520 V. = 486 Sk. Canorus als Attribut zu Instrumenten ist seit Verg. Aen. 6,120 belegt (s. auch ThLL III 277,69ff.). Vgl. besonders Ov. fast. 3,849 tubas … canoras. 646 increpat Hier in der Bedeutung ‘ermuntern’, wie Verg. georg. 4,71 (ThLL VII 1,1056,23.34ff.); dagegen glossiert VOLLMER MGH 360 mit „insonat, sonando praedicere“, dem auch WOLFF 1996, z. St. folgt. Der folgende Satz classica Tydidis committere bella putares macht jedoch recht deutlich, daß es sich um die feindliche Kriegstrompete handelt, die ihre eigene Kriegspartei sammelt und zum gemeinsamen Angriff ruft; freilich, besonders durch die Hinzusetzung von aere canoro, mit dem Fokus auf dem Klang, der den ganzen Abschnitt durchzieht. arma Gewiß absichtsvoll direkt neben increpat gestellt, weil das Verb oft auch das Klirren der Waffen ausdrücken kann (z. B. Liv. 1,25,4, Romul. 10,186). mille carinas Der Versschluß auch 126 in der Rede des Helenus, s. dort für Parallelstellen. Hier wird erneut die Warnung des Sehers aufgerufen, an die 608 direkt mit namentlicher Nennung erinnert wurde. Die schrecklichen Ereignisse, die Helenus zu Beginn des Werkes vorausgesagt hatte, sind noch immer gültig und durch kein Verhalten irgendwie verhindert worden. 647 classica Tydides Der Tydide ist Diomedes, der häufig nur mit dem Patronymikon bezeichnet wird (z. B. Verg. Aen. 1,97). Unklar ist, auf welche Quelle sich Dracontius bezieht, wenn er von der Kriegstrompete des Diomedes spricht. Es findet sich keine Stelle, an der explizit auf Diomedes als Trompeter verwiesen wird. Man könnte also diese Junktur allgemein interpretieren und das Signal der Kriegstrompete auf der gegnerischen Seite dem Tydiden zugewiesen sehen, weil er ein bedeutender Kämpfer der Griechen war, und hier möglicherweise symbolisch für den tapferen, feindlichen Krieger stehen soll.

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III Kommentar

Eine versteckte Grundlage für diese Anspielung könnte man aber vielleicht doch feststellen und etwas genauer lokalisieren. Im ersten Buch der ‘Achilleis’ des Statius (689–885a) wird erzählt, wie Odysseus, Diomedes und der Trompeter Agyrtes sich auf den Weg zu Lycomedes und dessen Töchtern machen, bei denen sich Achill versteckt, um ihn als Kämpfer im trojanischen Krieg zu gewinnen und dorthin mitzunehmen. 819f. heißt es comitatus Agyrte / Tydides aderat und 875f. grande tuba sic iussus Agyrtes / insonuit, was einerseits zeigt, daß der Tydide, nicht Odysseus, in engerer Verbindung mit dem Trompeter steht, und dieser zum anderen nicht allein handelt, sondern auf Befehl. Wenn man also in Betracht zieht, daß Agyrtes nur die Trompete spielt, weil er es kann, nicht aber auf eigenen Antrieb, sondern auf Befehl der beiden anderen, kann man ihn vielleicht ausschließlich als Ausführenden ansehen, Diomedes jedoch als den Urheber des Spiels, was sich bei Dracontius in classica Tydidis niederschlägt. Zur Unterstützung dieser These kann herangezogen werden (zusätzlich zu der Tatsache, daß sich Dracontius häufig an der ‘Achilleis’ orientiert), daß es bei Statius weiter heißt commota … proelia credunt (877, klingt vielleicht in committere bella an), außerdem finden sich auch clipeus (879, hier in 646), ducem, arma (881, hier 646). All diese Worte und Junkturen ergeben sich aus dem Klang der Trompete, die bei den Umstehenden den Anschein erweckt, der Krieg finge sofort an (878ff.), obwohl man sich in einer völlig friedlichen Umgebung befindet. committere bella Die Junktur findet sich seit Varro ling. 7,58 (ThLL III 1909,56ff.), Dracontius wird jedoch vermutlich eher an Lucan. 7,472 commisit lancea bellum gedacht haben und die Metapher (ein Kriegsgegenstand beginnt den Krieg) unter Änderung des Subjekts übernommen haben. putares Potentialis der Vergangenheit (s. H-S 334). Diese Form in der Hexameterklausel schon bei Lucil. 535 zu belegen, danach seit Ov. am. 2,5,13 recht häufig. EPILOG 648–655 IN EPITHALAMIENGESTALT511 648 ite pares sponsi Ite ist als abschätzig konnotierter Imperativ zur Verabschiedung und Vertreibung (für diese Funktion von ite s. ThLL V 2,632,57ff., vgl. z. B. catal. 5,1 ite hinc inanes rhetorum ampullae, Iuv. 2,89 ite profanae), als Parodie eines Glückwunsches zum gemeinsamen Weg anzusehen. Dagegen will WOLFF 1996, z. St. ihn als Ausdruck der Ungeduld verstehen. Pares eher wie 545 ‘beide’ statt ‘Paar’ (so WOLFF 1996, z. St.), was bereits in sponsi ausgedrückt ist. Der Versanfang ite pares auch Ov. fast. 6,99, Orest. 547 und Anth. 742 R.,79. 648f. somnia taetra probastis / matris Der Traum der Mutter Hekabe ist bereits in der Helenus-Rede 120f. angeklungen. Die Verbindung somnia taetra ist singulär, vergleichbar ist vielleicht, weil der Traum die Funktion eines Omens erfüllt, Liv. 22,9,7 taetra prodigia. Für probare als ‘zeigen, beweisen’ s. ThLL X 2,1470,3ff.

511 Für eine Einleitung s. zu 638–647. Vgl. auch besonders BISANTI 2017, 651f.

Epilog 648–655 in Epithalamiengestalt

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649f. ornati misero flammastis amore / ostensam sub nocte facem Bildet eine Variation und Konkretisierung zu somnia taetra probastis / matris. Das bekannte Bild ‘von Liebe entflammt sein’ nutzt Dracontius und deutet es um. Die Liebe selbst ist bei ihm das verderbliche Brennmittel (ähnlich schon Verg. Aen. 4,54, wo das Bild allerdings mit animum als Objekt eher bei einem gewöhnlichen Ausdruck bleibt; flammare in der Bedeutung ‘entzünden’, als Synonym zu accendere, ThLL VI 1,837,74ff., s. auch WOLFF 1996, z. St.), mit der die todbringende Fackel (650) entzündet wird. Dies bedeutet, daß Paris erst durch die Liebe zu Helena überhaupt zu der Fackel werden konnte, die er im Traum der Hekabe war (mit fax schon 122). Der Ablativ misero amore ist sowohl zu ornati (in leicht bissig-ironischer Konnotation, wie sie seit Plautus, allerdings als Schadenfreude bei Unglücksfällen, bekannt ist, ThLL IX 2,1027,26ff.) als auch zu flammastis zu ziehen. Die Junktur miser amor findet sich z. B. Catull. 99,15, Verg. Aen. 5,655, Tib. 1,2,91; 1,9,1, doch dürfte an unserer Stelle im Gegensatz zu den anderen die moralische Komponente in miser am deutlichsten hervortreten (ThLL VIII 1105, 55ff.). Seit Verg. ecl. 9,44 ist sub nocte ein beliebter Ausdruck für ‘in der Nacht’. Ostendere ist hier passend als Terminus aus dem Divinationswesen gesetzt, der zusammen mit sub nocte den Traum der Hekabe meint (ThLL IX 2,1126,56ff.). 650 qua Troia cremetur Gleicher Versschluß schon in der Rede der Kassandra 144, s. auch dort. Anders als oben spielt Dracontius hier mit der Fackel Paris, die für Trojas Brand und Untergang verantwortlich ist. Paris als Fackel begegnete schon in der Rede des Helenus (122–124; s. auch KAUFMANN 2017, 297f.). Der Konjunktiv im Relativsatz ist konsekutiv zu deuten (H-S 558f.); so wird ausgedrückt, daß Helena und Paris die Schuld haben. Sie entzünden erst die Fackel, die im Traum erschienen ist, so daß Troja zerstört werden kann. Qua bezieht sich auf fax im Hauptsatz. Anders versteht PAOLUCCI 2016, 44 die Stelle, indem sie qua von nocte abhängig macht und die Nacht der Zerstörung Trojas ansetzt. Doch wird dann der Divinationsterminus ostendere, der wegen des Traumes mit sub nocte zusammengehen muß, überflüssig. 651 qua Phryges incurrant obitum Wie im Spätlatein häufig ist hier incurrere transitiv verwendet (vgl. ThLL VII 1,1087,38ff., WOLFF 1996, z. St.). Obitus begegnet allenthalben in der Bedeutung ‘Tod, Verderben, Untergang’ (s. ThLL IX 2,68,74ff.). Ab 98 tritt immer wieder die Bezeichnung Phryger für die Trojaner auf (s. auch dort). sine crimine mortis Im Gegensatz zu Paris haben die übrigen Trojaner kein todeswürdiges Vergehen begangen (WOLFF 1996, z. St.). Die Bemerkung schließt an das Prooem an, wo betont wurde, wieviele Unschuldige und Unbeteiligte ebenfalls in den Tod gerissen werden (41ff.). Vgl. für den Versschluß Ov. rem. 37 his lacrimis contentus eris sine crimine mortis. Auch Carm. adv. Marc. 5,65 sub crimine mortis. 652 sanguine Troiano dabitur dos Dos in der gleichen ironischen Verwendung wie schon 469 (vgl. auch ThLL V 1,2044,16ff.). Beeinflußt ist die Wendung von Verg. Aen. 7,318 sanguine Troiano … dotabere, uirgo (WOLFF 1996, z. St.). Nicht

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III Kommentar

nur dem Wortlaut nach klingt die Vergilstelle an, auch inhaltlich läßt sie sich in Beziehung setzen mit 652f. Innerhalb der enttäuschten Rede der Iuno, in der diese ihr unglückliches Schicksal beklagt, schließlich aber doch davon überzeugt ist, daß sich das bisher recht glückliche Schicksal der Trojaner noch wenden kann, apostrophiert sie das Streitobjekt Lavinia, deren Mitgift Krieg und Tod sein wird (318). In direktem Anschluß daran wird das Motiv der Fackel aufgegriffen: Nicht nur Paris sei das zerstörerische Feuer für Troja gewesen, auch der Nachkomme der Venus werde diese Funktion für das neuentstehende Troja übernehmen. Vielleicht nutzt Dracontius das von Vergil in dieser Rede geprägte Bild, kehrt aber die Reihenfolge um, denn hier steht die Hochzeit zuerst und dann der Krieg. S. auch zu 645f. Der Gedanke auch Romul. 9,62f. magno … iacet dotata Lacaena / sanguine Troiugenum, Graium dotata cruore. Für die Wendung dotem dare, die seit Plaut. Trin. 612 zu belegen ist, s. ThLL V 1,2049,71ff. Der Ablativ sanguine ist wohl am ehesten als Instrumentalis im Sinne eines Zahlungsmittels zu verstehen. 652f. clade Pelasgum / ditetur Pelasgum 15 Mal (am ehesten zu vergleichen mit Verg. Aen. 6,503 caede Pelasgum) vor Dracontius im Versschluß, bei ihm selbst noch Romul. 8,294. 366; 9,144; 10,141, Orest. 137. 436. 749. Ditare in der Bedeutung ‘beschenken’ findet sich seit Stat. Theb. 6,920 (ThLL V 1,1556,27ff.), vgl. auch, weil die Situation ähnlich ist, Claud. rapt. Pros. 2,293 fuluis semper ditabere pomis (Pluto an Proserpina). Die Form ditetur ist in der Dichtung völlig ungebräuchlich, in der Prosa erst sehr spät belegbar. Mit dem Wechsel in den Konjunktiv (hier mit futurischem Aspekt) wird der Gebrauch des Wortes an dieser Versposition möglich. Für die Pelasger als Bezeichnung der Griechen s. zu V. 17 und 294. Die clades Pelasgum dürfte das Blutbad, das die Griechen bei den Trojanern anrichten, ausdrücken (für diese Bedeutung von clades s. ThLL III 1241,53ff.). Damit variiert clade Pelasgum / ditetur Ledaea … propago den vorherigen Teilsatz sanguine Troiano dabitur. 653 Ledaea … propago Helena wird als Tochter der Leda hier mit Ledaea propago bezeichnet (vgl. Verg. Aen. 7,364 Ledaeam … Helenam). Singulär scheint die Verwendung von propago (stets am Hexameterende) für nur eine Person in Zusammenhang mit einem Attribut, das ein Elternteil bezeichnet, zu sein; vgl. am ehesten Ov. am. 3,6,65 ne me sperne, precor, tantum, Troiana propago, Sil. 2,8 Publicola, ingentis Volesi Spartana propago. fugax per castra Fugax in der Bedeutung ‘vor dem Ehepartner flüchtig’ (ThLL VI 1,1474,11f.; sonst nur noch Romul. 10,346f. mente fugaci / infaustum quodcumque cupis [sc. Iason]) schlägt einen Bogen zur Flucht von Helena und Paris vor Menelaos. WOLFF 1996, z. St. ist die Stelle unklar, er glaubt aber, daß ein Ereignis in der Nacht der Zerstörung Trojas gemeint sein muß, eine Idee, auf die man wegen der Stellung neben per castra leicht verfallen kann. Dieser Ausdruck jedoch erschließt sich leicht, wenn man an die Flucht der beiden zurückdenkt, wo es hieß: remis castra mouentur (567). Diese metaphernhafte Verwendung von castrum für

Epilog 648–655 in Epithalamiengestalt

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ein Schiff, das in näherer Zukunft Kriegsauslöser sein wird, wird hier aufgegriffen, wobei per mit dem Akkusativ als Ersatz für den instrumentalen Ablativ gesetzt ist, wie es sich in spätlateinischer Literatur häufig findet (H-S 127). HAYS 1997 hingegen will per castra zusammen mit clade Pelasgum verstehen, was aber beides problemlos als doppeldeutig nebeneinander stehen kann. Denn auch wenn castra wie üblich ‘Lager’ bedeutet, steht es bei den Griechen im trojanischen Krieg, deren Lager ein Schiffslager ist, in einem Schiffskontext. 654 orbentur superi Es mag an Thetis gedacht sein, die ihren Sohn Achill verliert, an Eos bzw. Aurora, deren Sohn Memnon stirbt, sowie an Zeus, dessen Sohn Sarpedon umkommt (SIMONS 2005, 278), ergänzt werden kann Poseidon, dessen Sohn Kyknos für die Trojaner kämpft und von Achill getötet wird (Hyg. fab. 157, Pind. O. 2,28). S. auch zum folgenden Eintrag. caelum gemat et mare plangat Zweierlei kann hier verstanden werden. Zum einen scheinen Himmel und Meer personifiziert selbst über den Krieg und die Toten zu klagen. So könnten ganz konkret die Götter gemeint sein, die ihre Söhne verloren haben, namentlich Aurora (für den Himmel) und Thetis oder Poseidon (für das Meer), von deren Trauer die Bereiche erfüllt sind. Zum anderen können sie aber auch nur vom Klagen der Betroffenen widerhallen, wie beispielsweise Romul. 9,38f. Andromache uiduata gemit uel ad ubera paruum / Astyanacta tenet, sic caelum questibus implet. Das Meer tost ganz natürlicherweise schon (ThLL X 1,2310,45ff.), aber in übertragener Weise kann auch die weiterentwickelte Bedeutung ‘trauern’ mitgehört werden (ThLL X 1,2311,29ff.). Vgl. 356 flumina tunc resonant, montes et lustra resultant, Proba cento 630 dat tellus gemitum et caelum tonat omne fragore. 655 Die Anfangsbuchstaben der Worte dieses letzten Verses ergeben zusammen das Adjektiv CATUS. Ob man dies als einen Hinweis des Dracontius selbst auf die Interpretation seines Werkes verstehen darf? crimen adulterii Der Versanfang findet sich genauso Carm. adv. Marc. 5,79 und Iuvenc. 3,478. Dracontius selbst hat ihn noch Orest. 439. 901. Die Wendung findet sich jedoch auch Val. Max. 6,5 ext. 3 adulteri crimine damnatus, Quint. decl. 249,15 u. ö., woraus geschlossen werden kann, daß es kein Vorwurf eines Christen ist, sondern in paganer Gedankenwelt Ehebruch ebenso als Unrecht angesehen wurde. Wenn man auch durch das Wort adulterium an 11 adulter erinnert wird (es entsteht eine Art Ringkomposition; so auch KAUFMANN 2017, 298), so ist doch nicht nur Paris in diesem Wort eingeschlossen. Der Ehebruch ging mindestens ebenso von Helena aus, wie der Lauf der Ereignisse gezeigt hatte. So ist die Anmerkung SANTINIs 2006, 37, der den juristischen Ausdruck crimen adulterii (grammatisch ein Genitivus definitivus) nach seinem sonstigen Gebrauch als Ausdruck, den ein Mann seiner Frau im Falle eines Ehebruchs sagt, bewertet, oder als das Verbrechen des Ehebruchs ganz allgemein, nicht recht verständlich. Denn er legt zwar völlig zu Recht letztere Bedeutung an unserer Stelle an, spricht aber dennoch von einer Umdeutung der Junktur durch Dracontius, indem der Dichter das crimen

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III Kommentar

allein dem Paris zuschreibt. Für solch ein Verständnis liegt hier aber kein Anlaß vor. talis uindicta sequatur Vindicta steht in der Bedeutung ‘Strafe’ und faßt den trojanischen Krieg mit all den schrecklichen Facetten eines Krieges zusammen, wobei talis sich auf die Verse zuvor bezieht, in denen die grausamen Elemente aufgeführt sind. Dieser Schluß führt ringkompositorisch zu 56 errantes talis uindicta coercet? und scheint diese Frage zu beantworten. Die errantes, Helena und Paris (s. zu 56 und dem Telestichon ERRAT), die das adulterium begangen haben, erhalten solch eine Strafe, eine Strafe, die weiter ausgreift als nur auf die Schuldigen, was diese wiederum noch tiefer in die Schuld drückt. Sequi wird hier als Terminus der Rechtssprache verwendet, wie auch laud. dei 2,479 poena secuta est (SANTINI 2006, 144). SANTINI 2006, 38 vermutet eine Variatio des gewöhnlicheren condemnatio sequitur. Der Versschluß auch Iuvenc. 1,549 laedentem semper similis uindicta sequatur.

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V INDICES 1. INDEX LOCORUM DRACONTIUS Romul. 1 47 1,12 166 1,13f. 71 1,17 290 1,18 326 2,1 247 2,1f. 149 2,7 444 2,8–70 430 2,12 290 2,14 468 2,15 208 2,18f. 446 2,20–22 479 2,30 352 2,49 220 2,54 498 2,66 444, 460 2,75 447 2,77 407 2,83 430 2,95 209, 340, 512 2,97f. 484 2,104 222, 468 2,107 338 2,108 444 2,109 447 2,112 448 2,112–116 445 2,112ff. 445 2,115f. 451 2,116 449 2,118 249 2,119 193 2,133 212 2,140 500 2,150 446 2,159f. 216 3,2 322 3,15–17 160 3,19 160

3,19f. 163 4,3 227, 286 4,3f. 286 4,9 223 4,10 497 4,12 340 4,16 369 4,17f. 478 4,18 422 4,34 369 4,35 395 4,43 489 5,8 343 5,18 327 5,22 253 5,29 327 5,31 251 5,35 438 5,38 250 5,40 465 5,50 506 5,64 327 5,68 327 5,73 499 5,90 258 5,91 56 5,104 56 5,115f. 325 5,119f. 186 5,138–151 234 5,141 222 5,143 395, 505 5,144 501 5,147 218 5,156 206 5,156f. 514 5,162 327, 342 5,191 161 5,212 384 5,218 338 5,221 469

550 5,222 272 5,254 318 5,265 335 5,267 510 5,293 501 5,306–311 346 5,308 349, 353 5,309 519 5,311 166, 353 5,322f. 161 6,6 511f. 6,8 448 6,10 510 6,37–40 16 6,48f. 221 6,65 291 6,69–71 522 6,71 526 6,73 510 6,75 416 6,76 159 6,79 447 6,80 401 6,82 379, 524 6,91 423 6,92 460 6,104 293, 464 6,119 354, 525 6,120 525 7,8 512 7,25f. 16 7,27–38 522 7,46 448 7,56 464 7,59 218 7,76 185, 337 7,79 527 7,91 350 7,98 291 7,113 256, 258 7,123 12 7,149 475 7,150 382 7,159 212 9,4 311 9,32 335 9,33 470 9,38 244 9,38f. 531 9,40 461 9,42 461 9,43 491

Indices 9,44 239 9,53 180 9,56 406 9,59 158 9,61 181 9,62f. 523, 530 9,63 289 9,64 361 9,71 335 9,73 320, 496 9,75 401, 505 9,76 228, 239 9,78 239 9,80 438 9,81 326 9,91 507 9,92 220 9,103 519 9,109 329 9,129 213 9,140 239 9,141 518 9,141f. 327 9,142 337 9,144 530 9,148 308 9,170 213 9,172 409 9,178 221 9,189 446 9,200 465 9,202 490, 511 9,208 213, 497 9,215 239 9,216 239f. 9,219 239, 327 9,221 307 9,222 241 9,223 180, 379 9,224 205 9,226 326 9,227 338 9,229 466 10,1 158f., 500 10,6 285 10,20 352 10,36 509 10,38f. 364 10,39 373, 395, 509 10,43f. 410 10,49 401 10,51 485

551

Indices 10,56 348 10,61f. 445 10,70 221, 477 10,72 425, 447 10,77 194, 446 10,80 255 10,83 477 10,84 401 10,91f. 358 10,100 291 10,112 446 10,113f. 446f. 10,122 391 10,126 355 10,127 196, 447 10,129 153 10,135 290 10,141 530 10,145 446f. 10,150–155 445 10,156–160 510 10,156f. 416 10,157 444 10,159f. 511 10,160 511 10,163 291 10,164 416, 423 10,165 291, 447 10,169 416 10,178 408 10,178–181 234 10,182f. 447 10,183 210 10,184 348 10,186 527 10,195 257f. 10,197 308 10,200 322 10,209 395 10,216 391 10,219 257 10,222ff. 445 10,228 473 10,229 448 10,247 255 10,253–255 454, 463 10,257–260 437 10,258 437, 511 10,259 440 10,260 440 10,261 220 10,270f. 523

10,279 293 10,288 526 10,291 525 10,294 452 10,297 244 10,301 176 10,310 491 10,314–316 242 10,315f. 479 10,317ff. 317 10,319 475 10,327 348 10,328 348, 388 10,332 516 10,334f. 298, 407 10,335 306, 408 10,340 357 10,341 322 10,346f. 530 10,358 291, 469 10,360–366 27 10,367 446 10,372 457 10,375 196 10,376 409 10,380 276 10,380f. 251 10,384 395 10,406 349 10,412 464 10,416f. 481 10,422 293 10,447f. 298 10,457 215 10,471 490 10,473 269 10,475 357 10,475f. 358 10,492f. 312 10,495 269 10,509 456, 481 10,515 438 10,516 174 10,526 500 10,535 255 10,557 350 10,568 358 10,573 270 10,574 475 10,575–586 179 10,579 502 10,580f. 245

552

Indices

10,590f. 328 10,593f. 216

Orest. 2 322 15 158 23 491 27 327 31 482 38 153, 255 42 393 43 285, 363, 511 45 486 48 464 51 510 54 217 59 256, 258 66 249 69 217 91 243 97 388 102 316 108 198 109 222 109f. 406 110 342 111 295 119 218 121 291, 408 124 485 124–132 495 126f. 219 133 226, 237 136 237 137 355, 530 139 192 141 192 144 196 153 246 162–204 231 163 456 164 473 169 270 173 335 188 475 191 324 224 491 227 340 233 509f. 235 197 243 482 249 211

250 335 253 440 271 177 274 516 277 241, 243 305 437 307 336 328 196 341 361 343 180 346 180 355 380 361 395 377 184 380 451 388 342 390 520 418 409 427 223 431 244, 249 436 355, 505, 530 439 531 457 356 468 146 468–470 30 471 161 480 181, 328 484 246 511 505 513 237 524 460 528 444 537–551 235 538 249 545 336 547 528 550 216 558f. 518 583 348 598 180 616 317 618 351 622 328 633 198 640 510 660 185 671 220 676 475

553

Indices 683 359 694 198, 208 695 478 710 510 716f. 321 719 249 735 249 742 318 746 422 749 337, 530 750 292 753 313 753f. 298 762 340 766 249 783 369

792 460 803f. 358 827 468 836 509 845 336 858 491 862 500f. 879 488 887 298 892 374, 420 901 531 921 178 941 505 946 178 951f. 177 952 30, 178

mens. 5 425

22 308

laud. dei 1,11 208 1,17 255 1,62 475 1,76 351 1,98 257 1,103 185 1,118 179 1,122 291 1,143 370 1,151 394 1,162 200 1,168 300 1,190 269 1,194 322 1,228 291 1,257 435 1,273 388 1,274 386 1,292 291 1,310–312 487, 491 1,312 494 1,348 291 1,354 269 1,364 287 1,380 287 1,479 340 1,488 468 1,504 384 1,515 475 1,518 506 1,527 386

1,545 178 1,558 468 1,577 298, 371 1,583 340 1,640 322 1,657 425 1,661f. 470 1,708 499 1,727 497 2,24 270 2,70 504 2,78f. 152 2,82 291 2,101 284 2,102 281 2,121 338 2,159 395 2,161 393 2,163f. 382 2,176f. 367 2,189 152 2,211 422 2,232f. 252 2,240 498 2,244 179 2,255f. 464 2,289 340 2,289–297 377 2,323 225 2,389 179 2,397 308

554

Indices

2,479 532 2,482 185 2,496 53, 353 2,546 491 2,554 411 2,557 381 2,560 206 2,619 208 2,691f. 152 2,696 341 2,752 208 2,787 435, 503 2,799 379 2,802 501 2,812 178 3,10 509 3,59 483, 511 3,61 438 3,72 437 3,81 395 3,83 470 3,110f. 389 3,118–124 234 3,126 251 3,144 258 3,160 258 3,161 269 3,161–168 268 3,164 268 3,166 269 3,172f. 348

3,184 438 3,195 349 3,217–221 234 3,226 421 3,237 500 3,294 438 3,324 395 3,328f. 150 3,367 360 3,368 243 3,370 342 3,382 501 3,387 173 3,419–421 495 3,433 289 3,478 311 3,483 335 3,484 502, 519 3,491 340 3,494 261 3,496 244 3,502 438 3,526 504 3,581 220 3,591 392 3,630f. 12 3,685 361 3,703 444 3,718 438 3,751 326 3,754 276

satisf. 10 505 31 438 91–96 333 93f. 12 121 53, 354 125 361 131 519 133 327 134 504 137 348, 354, 519 139 349 141 349 143 346, 353

144 353 147 346, 354 175 184 200 335 217 519 234 493 239 381 269 166 274 353, 492 286 392 307 255 313 198 313f. 492

WEITERE LATEINISCHE LITERATUR Anth. 166 R. = 155 Sh.-B. 170

232 R. = 224 Sh.-B.,3 201

555

Indices 310 R. = 305 Sh.-B. 74 390 R. = 386 Sh.-B.,19 164f. 623 R.,1 482

649 R.,27 323 719d R.,12 469 934 R.,2 162

Apul. met. 10,33,1 177

10,34,1 176

Arator act. 1,777 357

Auson. Auson. 3,35 GREEN 213 Auson. 5,9f. GREEN 166

Auson. 12,1,3f. GREEN 227 Auson. 13,74,1 GREEN 221

Mos. 238f. 515, 521

Calp. ecl. 2,70 385 5,6 382f.

5,29f. 382

catal. 5,1 528

Cassiod. var. 12,5,6 172

Catull. 55,21 159 61,126f. 526 63,83 350 64,161 463

64,274 363 99,15 529 100,8 211

Cic. carm. frg. 6,49f. 202

20,13 430

de orat. 2,305 174

div. 1,74 202 1,85 237

2,80 417

Tusc. 1,73 416

1,98 335

556

Indices

Claud. 1,25f. 353 3,225 218 3,314 488 5,437 261 8,548 350 10,187f. 523 10,190 522 10,195f. 523, 527 10,291 350

15,484f. 162 18,160f. 249 18,371 218 20,441 490 20,562f. 527 21,162–164 342 24,57 363 27,23 212

carm. min. 22,27–31 345

rapt. Pros. 1,1 147, 433 2,8 500 2,293 530 2,317–372 522

3,131 525 3,263–265 487 3,387 471

Claud. Don. Aen. 2,235 p. 179,21 243

Claud. Mam. epist. 2, p. 204, 10 211

Colum. 7,6,1 382

7,8,7 386

Comm. instr. 1,11,7 266

Copa 10 526

Coripp. Ioh. 1,179 239

Culex 58–99 376

306f. 201

Damas. carm. 8,7 489

Dares 4 309 5 304, 319 8 305

10 471 12 459, 461

557

Indices

Dict. 1,3 471 1,5 471

3,26 191, 226 5,4 355

Diom. gramm. I 335,2 166

Enn. ann. 2 V. 161 6 V. 260

180f. V. 327

frg. 19 V. 166

scaen. 35f. V 226 37f. V. 276

82 V. 241 92 V. 325

Ennod. carm. 1,6,16 298

1,7,48 298

Hier. epist. 9,3 165

Hil. in psalm. 118 koph 1 211

Homer. 191 274 357 486 502 529 631

361 501 519 206 350 211 519

659f. 419 820 206 846 273 888 382f. 1018 273 1019 181 1050 489

Hor. carm. 1,3,25–31 376 1,15,1f. 455 1,15,5 524 1,15,7 227, 323

1,37,30 368 3,3 68 3,3,18–24 178 3,3,26 325

epist. 1,8,3 354

2,1,156 340

558

Indices

epod. 1,1 368

7,10 180

sat. 1,1,99f. 467 2,3,9 354

2,7,49f. 350

Hyg. fab. 91,1 226 157 531

249 226

Iuv. 6,90 380 6,96 395 7,201 338

10,68 215 10,246 215

Iuvenc. 1,66 151 1,549 532

4,711 218

Lact. epit. 7,2 320

Lucan. 1,205–212 347 1,209 350 1,211 349 1,587f. 435 1,595 256 1,636 434 2,100 519 2,481 471 3,526f. 392 3,563f. 392 4,226 368 4,284 348 4,470–472 371 4,642 352 4,752 350 5,559 394 5,577–677 365 5,653b–671 374

5,672f. 391 5,676f. 396 6,350f. 55, 328 6,516–518 461 6,529 462 7,127f. 228 7,472 528 7,726 218 8,3 484 8,43f. 518 9,16 368 9,204 218 9,607 299 9,998f. 331 9,999 331 10,407 218 10,485 267

Lucr. 2,83 417

Lux. Anth. 310 461, 521

4,364f. 514

559

Indices

Lydia 16f. 381

Mar. Victor aleth. 3,375 218

3,668 478

Mart. 8,1,3 190 9,39,5 469 9,101,18 490

12,31,1–3 381 13,98,1 382 14,77 459

Mythogr. 2,225 191, 198, 216, 226

Nemes. cyn. 63f. 148

ecl. 2,6 240

4,15f. 526

Octavia 766f. 482

Ov. am. 1,10,9 389 2,11,43 509 3,3,5 460 3,3,5f. 455

3,3,6 448 3,6,65 530 3,10,1–4 458 3,12,34 483

ars 1,247 194 1,334 475 1,503 521 1,607–610 454 1,613ff. 454 2,5f. 494 2,6 510 2,147 425

2,198 463 2,348 463 2,357f. 453 2,359–372 453 2,709 206 3,3f. 430 3,759f. 473

epist. 1,3 309 4,83 349 5,35 175 5,36 194

12,189f. 355 12,197 459 13,97 373 14,131f. 484

560

Indices

fast. 3,591f. 499 3,849 527 4,238 497

5,17f. 357 5,420 357 6,44 177

Ib. 456 525

medic. 25 463

met. 1,190f. 252 1,352 468 1,473 447 1,498ff. 274 1,512–514 274 2,607 460 2,773 175 3,18 276 3,230 213 3,509 508 3,577 443 4,79 361 6,104 480 6,721 509 7,449 504 7,651 361 8,295 300 8,686 220 8,728 504 9,166 273

10,270f. 399 10,481 485 10,713 349 11,205f. 261, 320 11,215 320 11,230 370 11,429 508 11,474–572 365f. 11,482f. 374 11,490f. 365f. 11,508f. 366 11,525ff. 366 11,680–687 496 12,554f. 503 13,386 183 13,421 275 13,485 338 13,505 309, 320 13,576–599 181 13,844f. 444

Pont. 1,4,53 497 1,8,51 382 2,1,39 352

2,3,35 260 3,5,23f. 171 4,13,11f. 503

rem. 37 529 59 311

179 382

trist. 1,2,19f. 369 3,5,32 340

3,5,33f. 345 3,6,25 147

[Ov.] epist. 16,37–40 62 16,37f. 441

16,38 406 16,57 524

561

Indices 16,89f. 216 16,98 193 16,99f. 190 16,133–136 457 16,137f. 194

16,150 473 16,271–274 451 16,324 469 17,15f. 194 17,116 194

Paul. Nol. carm. 6,35 151 6,218 435

16,54 147 31,465–468 437

Paul. Petric. Mart. 1,299 468 5,23 252

5,751 499 5,767 218

Phaedr. 4,23,1 354

Plaut. Bacch. 955 201

987f. 201

Cas. 91f. 514

Poen. 265 412

Plin. nat. 8,42 350 8,48 345 8,49 349

8,66 486, 492 11,250 462

paneg. 56,2 322

64,1f. 172

Proba cento 20 160

Prop. 1,4,27 463 1,9,3f. 463 1,13,30 447 2,2,13f. 194 2,9,7 409

2,15,33 201 2,33,1–4 458 3,13,38 194 3,19,27 171 4,11,19 335

562

Indices

Prud. apoth. 386 526

c. Symm. 2,236 430

cath. 6,44 435

6,63f. 425

Quint. decl. 338,13 214

inst. 8,6,11 359

10,1,86 156

Repos. 23 250

117 194

Rhet. Her. 3,13,23 456

Sen. Ag. 213f. 201 532f. 183 704 520

747f. 229 872 246

clem. 1,5,5 345

dial. 3,1,6 348

Herc. f. 731 171

1059 422

Oed. 150 348

1046 186

Tro. 55f. 241 124f. 211

[Sen.] Herc. O.

126 361

563

Indices 339 324

1192 508

Serv. Aen. 1,526 467 1,619 308 2,13 201 2,241 201

5,370 216 6,190 422 10,91 277, 308 10,564 403

Sidon. carm. 2,307 433

11,108 416

Sil. 2,8 530 4,101–142 413 4,127 430 10,77–82 487, 493 10,79 491 11,328 519

13,72f. 201 13,73 201 13,800 504 15,78f. 360 15,205 273 16,442f. 350

Stat. Ach. 1,1 267 1,20f. 173, 395 1,34 242 1,57 305 1,61–70 30 1,80 296 1,152–154 329 1,155 329 1,175ff. 329 1,266f. 329

1,309f. 448 1,467ff. 316 1,469 329 1,474f. 268 1,501 330 1,689–885a 528 1,819f. 528 1,875f. 528 2,72–75 480

silv. 2,1,192 510 3,4,78f. 444 3,4,79 444

3,5,19–22 503 5,1,71–74 149 5,3,14 526

Theb. 2,260f. 526 3,451–454 421 3,646 230, 243 4,118 354 4,315f. 487 4,316 492 4,321 502 5,247 475 6,480 503 7,514 249

7,529–532 345 8,21f. 381 8,124–126 345 8,675 446 9,334 481 9,338 482 11,98 218 11,104f. 476 12,388 222 12,546ff. 332

564

Indices

12,587 332

12,687 348

Suet. Aug. 31,3 226

Nero 13,2 338

Tib. 1,2,17f. 430 1,2,91 529

1,4,12 273 1,9,1 529

Val. Fl. 1,549 222 1,574–692 376 3,237 348

3,584–586 465 6,494 419 7,456f. 358

Ven. Fort. Mart. 1,329 243

praef. 11ff. 369

Verg. Aen. 1,1 205 1,1–3 185 1,11 185 1,27 233 1,35 362 1,41 328 1,82f. 368 1,85f. 367 1,91 370 1,92f. 372 1,93 427 1,94b–101 374 1,94ff. 378 1,100f. 201 1,105 370 1,106 369 1,113ff. 394 1,128 368 1,128f. 373 1,169 298 1,170f. 393f. 1,171f. 396 1,180ff. 393f. 1,249 360 1,257f. 186, 270 1,260 268

1,279 270 1,283 268 1,313 349 1,484 239 1,620 297 1,626 222 1,717 450 2,1 220 2,10 53 2,22 325 2,41 236 2,54 196 2,173f. 202 2,234 162, 243 2,237f. 162 2,246f. 246 2,256 227 2,258 162 2,259 162 2,270f. 260 2,317 327 2,370 365 2,403 266 2,405f. 427 2,406 55, 429 2,455 325

565

Indices 2,526–532 520 2,526–558 154, 206 2,526ff. 513 2,542f. 240 2,550ff. 242 2,555 226 2,585 248 2,662f. 243 2,687f. 427 2,691 427, 430 2,721f. 273 3,19 459 3,50 205 3,121 222 3,176f. 427 3,192 393 3,234f. 477 3,263f. 428 3,300 299 3,304 507 3,331f. 243 3,351 201 3,361 435 3,433 225, 230 3,519 486 3,532 362 3,564 368 3,642 275, 385 3,657 227 3,664 494 3,712 225 4,46 499 4,76 451 4,131 349 4,191f. 406 4,305 398 4,329 355 4,343f. 325 4,366 398 4,421 398 4,530 373 4,542 320 4,686 355 4,696 180 4,698 491 5,8 393 5,32 471 5,177 362 5,228 392 5,373 466 5,407 359 5,637 195

5,655 529 5,673 217 5,801 466 5,811 195 5,844 390 6,120 527 6,133f. 53 6,376 186 6,503 530 6,505 507 6,623 240 7,45 149 7,259 290 7,318 523, 529 7,318–322 523 7,319 242 7,321 68 7,322 325 7,337f. 429 7,362 146 7,363f. 68, 147 7,364 530 7,392 222 7,513 525 8,102 204 8,102–104 203 8,110f. 210 8,114 197, 450 8,116 300 8,157f. 277, 297 8,301 405 8,398 230 8,554 222 8,653 205 9,474 406 9,503 527 9,503f. 526 9,610 220 9,709 489 10,58 325 10,68 237 10,256f. 358 10,287 495 10,329f. 489 10,491 321 10,611 457 10,779 319 10,822 359 10,844f. 427 11,14 389 11,96f. 423 11,474f. 526

566

Indices

11,496f. 350 11,497 221, 350 11,841f. 321 12,64f. 449 12,67–69 449 12,75f. 321 12,114f. 357 12,274 439

12,596 524 12,611 497 12,654 355 12,671 472 12,722 352 12,819 325 12,928f. 351

ecl. 1,34 1,69 1,74 1,76 1,81 1,82 1,83 2,64

385 380 382 382 386 275, 385 385 382

3,20 274 3,99 385 4,31–39 376 6,85 274 9,44 529 9,45 300 10,42f. 381

georg. 1,15 383 1,502 320 2,490 378 3,2 266 3,8f. 148

Vulg. Exod. 14,22 371

Luc. 15,22 274

Num. 25 253f.

GRIECHISCHE LITERATUR Aischyl. Ag. 45 228

Aspis 258–260 272

Eur. Alex. fr. 25 Sn. 356

3,310 385 3,400f. 385 4,71 527 4,466 385

567

Indices

Hekabe 1259ff. 241

Hes. op. 684–686 364

Theog. 22–35 143 289 503

399 430 905 272

Hom. Il. 2,478 482 2,528 183 2,768 183 3,56f. 235 3,121 460 3,158 455 5,638 503 6,291f. 390 11,20 410 13,533ff. 207 15,339f. 207

15,381f. 392 20,170f. 349 22,172 205 24,229–236 239 24,250 207 24,253–264 207 24,384 277 24,485ff. 238 24,699–706 239 24,734f. 241

Od. 1,291 506 5,291ff. 363, 391 12,403–425 363

15,123 459 17,38f. 516

Isocr. Hel. 43 466

Lycophron Alex. 269ff. 240

Pind. N. 6,50–52 181

O. Pind. O. 2,28 531

Pindar O. 2,82f. 181

568

Indices

2. INDEX NOMINUM ET RERUM Abundanz 211, 350 Abydos 295f. Achill 55, 179, 181f., 228f., 236, 245, 264, 266–268, 316, 327f., 329, 531 Actaeon 213 Admet 262, 266, 275 Aeacus 335f., 361 Aegisth 30, 235 Aeneas 203, 248, 288–290, 292f., 299, 307, 347, 355f., 374, 378, 395, 397, 406, 494f., 526f. Aeneis-Prooem 142, 145, 185 Agamemnon 204, 235, 397, 495, 509 Ajax 179, 181f., 315f., 326f., 330, 341, 347, 355, 357, 360 Akrosticha 57, 407 Alexander 167, 284, 285, 503 Alkestis 262, 275 Alliteration 216, 244, 291, 327f., 349, 389, 450 Amme 190f., 196 Amor 428, 510 Amputation 250f. Amyclae 400, 402–404 Anachronismus 170, 173, 228 Anagnorisis 61, 197, 203, 356 Anapher 228, 461, 488, 524 Anastrophe 418 Anchises 427f. Andromache 244 Anker 298f., 362 Antenor 26, 288f., 292, 299, 301–305, 310f., 313f., 333, 337, 339, 344, 497f. Antiheld 34 Antilochus 330 Antithese 159, 286, 300, 337, 419, 521 ἅπαξ λεγόμενον 54 ἀπὸ κοινοῦ 212, 218, 260, 383, 443, 496, 505, 509 Apoll 37f., 41, 74, 187, 232f., 259–262, 263f., 518 Ascanius 355f., 427, 526 Assonanz 215 Astyanax 184, 236, 241, 356 Asyndeton 56, 192, 290, 316, 350 Augur 413, 420f., 426, 431, 434f. Aurora 531 Autorkommentar 27, 175f., 296, 502, 505 Bart 443f.

Beinahe-Episoden 29, 42, 259, 366 Bescheidenheitstopos 143f., 146, 154f., 163– 165 Bildermischung 156, 159 Blond 460f., 491 Bobiensis 84, 86, 90 Bukolik 50, 169, 189, 192, 266, 274f., 374– 377, 382, 395 Caesar 396 Charybdis 380 Chiasmus 146, 152, 165f., 209, 225, 244, 284, 290, 319, 382, 385, 389, 430f., 457, 464, 489, 492, 521, 523 compositum pro simplici 54, 200, 371 congeries 56, 191 constructio ad sensum 319, 488 Controversie 90, 266 Cythera 400, 402, 404 Deklamation 30, 213, 233, 377 deus ex machina 259 Dichterweihe 143, 154, 160 Dido 222, 355, 397f., 406, 409, 452 Diomedes 527 Dione 293 Dis 424 Ehe 44, 150f., 242, 277, 287, 314f., 323, 341, 455, 488, 491, 526 Ehebrecher, Ehebruch 30, 35, 148, 150, 185, 453, 531 Ekphrasis 141, 169, 171, 376, 398, 436, 440 Elegie 33, 50, 387, 430, 452, 454, 458–460, 463, 467, 484 Elision 52, 167, 202, 207, 422 Enallage 159, 245, 348, 358, 383, 433, 487, 492 Enjambement 55, 153, 200, 212, 242, 246, 281, 296, 328, 394, 408, 437, 485 Ennius 58f., 66f., 144, 154, 171, 234, 511, 515 Epilog 34, 522, 524, 528 Epiphanie 188, 259–261 Epithalamium 14, 522 Epos 21 Epyllion 13f., 47f. Erzählerkommentar 501, 507f., 514, 520, 523, s. auch Autorkommentar Euander 203, 205, 210, 289, 299, 307, 527 Europa 479f., 483 Fackel 27, 223, 225, 232, 238, 529f.

Indices fatum 35, 38, 40, 42, 185, 195, 233, 263– 265, 269f., 466, 470 Felicianus 12f., 19, 47 figura etymologica 321, 324, 423 Florentinus 19 Frieden 45, 279, 283–285, 296, 300, 303, 308, 310, 356 Fulgentius von Ruspe 20 Ganymed 426, 431, 433f. Gastrecht 26, 300, 452, 455, 475 Gattungsmischung 50 Gesandter, Gesandtschaft 279, 286, 288, 294, 300f., 306, 321, 494 Gesetz der wachsenden Glieder 179, 243, 302 Gleichnis 21, 32, 37, 141, 155, 164, 207, 234, 236, 242, 251, 331, 334, 340, 343, 345, 347f., 354, 419, 478f., 481, 486f., 512, 514f., 520f. Glosse 84, 180, 413, 489 Götter 21, 37 Griechischkenntnisse 20 Gunthamund 11–13, 334, 346 Habicht 413, 418, 423, 425 Hades 424, 426, 433 Handschrift 15, 46, 57, 75 Hekabe 225, 515 Hektor 209, 211, 228, 231, 236, 238f., 244f., 262, 276, 292, 501f., 504, 513, 517f. Held 21 Helenus 41f., 74, 189, 204, 223, 230, 235, 237, 256f., 266, 432, 500, 505 Hellespont 295 Hendiadyoin 394 Herkules 14, 205, 304, 314, 319, 352f., 503 Hesiod 364, 375 Hesione 36, 182f., 205, 247, 277–280, 283, 286, 302, 309, 314, 317, 331, 337f., 340, 347, 355 Hiat 168 Hirte 30, 32, 147, 191, 209, 218, 262, 273, 280, 382, 396, 512, 522, 525 Hochzeit 522, 526, 530 Homer 20f., 37, 49, 141–145, 154, 156, 158, 161, 163f., 166, 174, 259, 304, 343, 364, 375, 390, 454, 516 Hylas 13, 460, 484 Hymnus 336, 426, 429 Idalion 400, 402, 423 Iliupersis 141, 240f.

569 Imitation 55, 187, 197, 244, 305, 356, 369, 423, 429f., 456, 461, 463, 475, 515 Indikativ beim indirekten Fragesatz 167, 184, 285, 295, 306 Inkonzinnität 317, 474, 484 Innovation 74, 198, 278, 391, 397, 405, 486 Interfiguralität 58 Interpretatio Romana 263, 282 Iphigenie 217, 235, 247 Ironie 31, 33f., 200, 211, 320, 324, 326, 378, 382, 388, 481, 500, 505, 510, 523, 529 Isokrates 41 Iuno 175f., 178, 287, 445, 530 Jäger 334, 344, 346, 352f. Jupiter 466, 479 Karthago 11, 19f., 47, 175 Käse 386 Kassandra 41f., 74, 188f., 204, 231f., 235– 238, 244f., 250f., 254, 265f., 432, 454 – Schändung 240 Katalog 189, 315, 400, 445 Kenotaph 499, 506f. Kleidung 273f., 436, 438–440, 460, 522 Klimax 150, 273, 316 Klytaemestra 467, 476, 495 Knie 461 Kolluthos 64 Komik 32, 47, 170, 387, 406, 473, 479, 485f. Kontrastimitation 365, 373, 396, 461 Krieg 278, 284f., 296, 301–303, 307, 310, 319, 334, 366, 376, 389, 419, 423, 522, 526, 530f. Laokoon 42, 188, 236f., 256f. Laomedon 178, 183, 205, 233, 259–261, 314f., 320, 326, 466 laudatio 375, 379 Lesererwartung 29, 33, 35, 200, 279, 378, 391, 394, 473 Litotes 463, 517 locus amoenus 169, 189, 191, 375, 381f. Löwe 164–166, 334, 343f., 346, 348f., 351, 353 Luxorius 19f. Makarismos 374, 377f. Malea 295–297 Mars 233, 425f., 432 Martianus Capella 19f., 47, 59 Medizin 234, 236, 250–252, 254 Meineid 320 Melampide 399, 414, 419, 422, 432

570 Meleager 503 Menelaos 152, 405, 411, 420, 425, 452f., 457f., 465, 470, 472, 486–489, 491 Menschenopfer 72, 234, 247 Metapher 159, 251, 283, 285, 287, 317, 324, 334, 345, 359, 361, 363, 365, 372, 381, 457, 528, 530 Metonymie 166, 181f., 199, 212, 245, 248, 256, 281f., 292, 338, 353, 362, 389, 393, 425, 435, 470, 473, 492, 497, 500–502 Milan 417f., 424 Minerva 175f., 178, 204, 206, 233 Mitgift 315, 326, 334, 337, 523, 530 Musaios 397, 400f. Musenanruf 143, 145, 154, 156, 160 Musik 522 Mutter 141, 150–152, 238 Myrte 511f. Mythos 35f. Nestor 330 Odysseus 181, 330, 352, 395, 398, 480, 528 Ölzweig 296, 300, 305 Oxymoron 161, 183, 187, 219, 225, 244, 255, 322, 327, 419, 448, 452, 455, 493, 527 Palamedes 330 Panegyrik 333, 339, 342, 357, 359 Paphos 400, 402, 404, 416 Paradoxon 252, 384, 473 Parallelismus 205, 251, 270, 310, 342, 353, 382, 384, 439, 469, 488, 514, 521 Parisurteil 36, 54, 68, 74, 146, 169–171, 173, 175, 177, 185, 190, 195, 215, 250, 281, 287, 429, 454 Parodie 31, 34, 36f., 50, 347, 528 pars pro toto 241, 435, 461 Parzen 262, 271f. Peleus 36, 182, 319, 328, 480 Personifikation 227f., 250, 299, 389, 405, 498, 513, 519 Pferd, trojanisches 141, 154, 162, 175, 181, 187f., 200f., 237, 243, 304 φαρμακός 247, 250 Phoebus 357f., 425 Pinhas 253f., 256 Pleonasmus 273, 392, 451, 465 Poetologie 36, 148, 164 Polites 206f., 513, 515, 520f. Polles 426, 431, 434 Polydamas 279, 288, 292, 299, 307, 331– 337, 338f. Polyptoton 209, 252, 270, 402, 514

Indices Poseidon 531 Prädikation 154, 158 Prädikation, Partizipialstil 426, 430 – Relativstil 154, 161, 336, 379, 426, 430 Praefatio 13 Präposition 53 Priamus 26, 28, 44f., 62, 70, 163, 183, 203– 205, 209, 211, 217, 225, 241, 243, 265, 276f., 279, 282f., 287, 292, 294, 303, 306, 309–313, 325, 355, 494f., 499, 516 Priester 204, 223, 236, 254–258 Priestertum 253f., 256 Prodigium 21, 39, 42, 199, 397, 399, 413– 415 Prooem 34f., 140, 524, 529 Propemptikon 287 Purpur 273, 438, 440, 510 Pyrrhus 141, 163, 224, 230f., 236, 241, 242f. Quantitäten 164, 219, 275 Rechtfertigung 333, 466 Rechtsterminologie 141f., 149f., 169, 171, 173, 178, 182, 185, 195, 217, 308, 317, 326, 448, 457, 532 Reim 56, 176, 200, 223, 227, 243, 245, 263, 267, 294, 327, 421, 425, 446, 460f., 486, 505, 521 Reposianus 14, 19, 59, 511 retardierendes Moment 29, 279, 399 Rhetorik 141, 155, 210f., 262, 302, 315, 334, 345, 357, 359, 456 Richter 35, 169–171, 173f., 177, 270 Ringkomposition 367, 378, 513, 522f., 525, 527, 531f. Roman 60, 397f., 436, 454 Salamis 26, 277, 285f., 294, 365 Satisfactio 333, 345 Schatten 514 Schlüsselszene 31f., 35 Schönheitsbeschreibung 454 Schuld 170, 179, 231, 453, 465, 467, 521, 529, 532 Schwan 405, 414–417, 419, 433 Schweigen 277, 402, 451, 466, 517 Seesturm 21, 28, 33, 61, 74, 363–368, 377, 450, 495 Seher 66, 188, 223, 230, 235f., 256, 419, 421, 513 Sentenz 176, 271, 291, 300 servitium amoris 387, 454, 463 Sestos 295f. simplex pro composito 192, 310, 380

Indices Skylla 380 Sonnenaufgang 356, 358f. Sonnenuntergang 358 Spannungswelle 28f., 50, 279 Sparta 68, 167f., 173, 400, 404, 411 Spiel, s. auch Sprachspiel 41f., 241, 379 Sprache, epische 21, 55f., 156–158, 166, 192, 222, 280, 421, 437 Sprachspiel 56f., 150, 181, 218, 266, 299, 353, 361f., 392, 526 Stier 32, 386f., 482f. Suasorie 231, 233, 266 sublimitas 359 Subscriptio 12 Supin 474 Synaloephe 52 Synekdoche 166, 246, 433, 524 Synizese 464 Taube 413, 416–419, 423, 431, 433 Tautologie 328, 371, 408, 411, 496, 506 Telamon 286, 299–302, 309, 313, 323, 332, 343, 346 Telestichon 189 Tempusgebrauch 52, 198, 214, 287, 293, 299, 360, 448, 470, 507 Tenedos 295f. Teucer 183, 222, 277, 330 Theseus 503 Thetis 36, 182, 242, 329, 480, 531

571 Tiger 486f., 490, 493 Tragik 46 Traum 195, 225, 232, 238, 247, 276, 528f., Troilos 206, 209, 224, 229, 236, 245, 512, 515, 517–520 Tyros 273, 437 Vandalen 17, 19 Variatio 53f., 165, 167, 184f., 197, 200, 219, 256, 311f., 326, 357, 366, 368, 373, 385, 389f., 408, 422f., 425, 430, 438, 451, 455, 462, 465, 467, 470f., 474, 477, 479, 482, 492, 494, 497, 508, 510, 516, 520, 529 Venus 175f., 190, 194, 233, 263, 287, 391, 401, 411, 414, 416, 424, 426, 428, 430, 432, 446, 454, 509–511, 523 Vergil 21, 42, 49, 58, 141, 144–146, 149, 154f., 161, 163, 166, 188, 344, 364 Wasserzeichen 76f., 89 ὕστερον πρότερον 53, 239, 242, 295, 298, 444 Zerdehnung 145, 232, 454, 487 Zeugma 427, 484, 518 Zorn 184f., 249, 313, 331, 334, 336, 344, 347–349, 351, 489, 494 Zufall 36, 42, 60, 74, 278, 391, 398, 400, 422, 436, 458, 470 Zypern 44, 365, 390f., 394, 397–401, 404, 409f., 416, 489

pa l i ng e n e s i a Schriftenreihe für Klassische Altertumswissenschaft

Begründet von Rudolf Stark, herausgegeben von Christoph Schubert.

Franz Steiner Verlag

ISSN 0552–9638

32. Wolfram Ax (Hg.) Memoria Rerum Veterum Neue Beiträge zur antiken Historiographie und zur Alten Geschichte. Festschrift für Carl Joachim Classen zum 60. Geburtstag 1990. 216 S., kt. ISBN 978-3-515-05598-7 33. Ingolf Wernicke Die Kelten in Italien Die Einwanderung und die frühen Handelsbeziehungen zu den Etruskern 1991. XI, 178 S. mit 16 Ktn., 8 Abb. und 9 Tab., kt. ISBN 978-3-515-05706-6 34. Frank Bubel Euripides, Andromeda 1991. VII, 193 S., kt. ISBN 978-3-515-05813-1 35. Ludwig C. H. Chen Acquiring Knowledge of the Ideas A Study of the Plato’s Methods in the Phaedo, the Symposium and the Central Books of the Republic 1992. X, 248 S., kt. ISBN 978-3-515-05862-9 36. Carl Werner Müller / Kurt Sier / Jürgen Werner (Hg.) Zum Umgang mit fremden Sprachen in der griechisch-römischen Antike Kolloquium der Fachrichtungen Klassische Philologie der Universitäten Leipzig und Saarbrücken vom 21.–22. November 1989 in Saarbrücken 1992. VIII, 252 S., kt. ISBN 978-3-515-05852-0 37. Ivor Ludlam Hippias Major: An Interpretation 1991. 189 S., kt. ISBN 978-3-515-05802-5 38. Claudia Bergemann Politik und Religion im spätrepublikanischen Rom 1992. VIII, 166 S., kt. ISBN 978-3-515-06105-6 39. Peter Cordes Iatros

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Das Bild des Arztes in der griechischen Literatur von Homer bis Aristoteles 1993. 209 S., kt. ISBN 978-3-515-06189-9 Ricarda Müller Ein Frauenbuch des frühen Humanismus Untersuchungen zu Boccaccios De mulieribus claris 1992. 190 S. und 1 Taf., kt. ISBN 978-3-515-06028-8 Cornelia M. Hintermeier Die Briefpaare in Ovids Heroides Tradition und Innovation 1992. XIII, 218 S. mit 7 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06224-4 Philipp Stefan Freber Das Illyricum und der hellenistische Osten 1993. IX, 226 S., kt. ISBN 978-3-515-06255-8 Paul Dräger Argo Pasimelousa Der Argonautenmythos in der griechischen und römischen Literatur. Teil I: Theos Aitios 1993. X, 400 S., kt. ISBN 978-3-515-05974-9 Archibald Allen The Fragments of Mimnermus Text and Commentary 1993. VII, 168 S., kt. ISBN 978-3-515-06289-3 Karsten Thiel Erzählung und Beschreibung in den Argonautika des Apollonios Rhodios Ein Beitrag zur Poetik des hellenistischen Epos 1993. XIII, 263 S., kt. ISBN 978-3-515-06306-7 Günter Eckert Orator Christianus Untersuchungen zur Argumentationskunst in Tertullians Apologeticum 1993. 278 S., kt. ISBN 978-3-515-06392-0

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Carmen Cardelle de Hartmann Philologische Studien zur Chronik des Hydatius von Chaves 1994. XIV, 220 S., kt. ISBN 978-3-515-06385-2 Reinhold Scholl Historische Beiträge zu den julianischen Reden des Libanios 1994. VII, 207 S. mit 31 Abb., kt. ISBN 978-3-515-06537-5 Bernhard Kytzler / Kurt Rudolph / Jörg Rüpke (Hg.) Eduard Norden (1868–1941) Ein deutscher Gelehrter jüdischer Herkunft 1994. 240 S. und 8 Taf., kt. ISBN 978-3-515-06588-7 Michael Mause Die Darstellung des Kaisers in der lateinischen Panegyrik 1994. X, 317 S., kt. ISBN 978-3-515-06629-7 Monika Bernett Causarum Cognitio Ciceros Analysen zur politischen Krise der späten römischen Republik 1995. X, 278 S., kt. ISBN 978-3-515-06639-6 Paul Dräger Stilistische Untersuchungen zu Pherekydes von Athen Ein Beitrag zur ältesten ionischen Prosa 1995. VII, 98 S., kt. ISBN 978-3-515-06676-1 Georg Wöhrle Hypnos, der Allbezwinger Eine Studie zum literarischen Bild des Schlafes in der griechischen Antike 1995. 123 S., kt ISBN 978-3-515-06738-6 Poulheria Kyriakou Homeric hapax legomena in the Argonautica of Apollonius Rhodius A Literary Study 1995. X, 276 S., kt. ISBN 978-3-515-06596-2 Michaela Kostial Kriegerisches Rom? Zur Frage von Unvermeidbarkeit und Normalität militärischer Konflikte in der römischen Politik 1995. 192 S., kt. ISBN 978-3-515-06775-1 Friedhelm L. Müller Eutropii Breviarium ab urbe condita / Eutropius, Kurze

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Geschichte Roms seit Gründung (753 v. Chr. – 364 n. Chr.) Einleitung, Text und Übersetzung, Anmerkungen, Index nominum 1995. IX, 336 S., kt. ISBN 978-3-515-06828-4 Rigobert W. Fortuin Der Sport im augusteischen Rom 1996. VIII, 440 S., kt. ISBN 978-3-515-06850-5 Theokritos Kouremenos Aristotle on Mathematical Infinity 1995. 131 S., kt. ISBN 978-3-515-06851-2 Bruno Vancamp Platon Hippias Maior – Hippias Minor 1996. 131 S., kt. ISBN 978-3-515-06877-2 Karsten Thiel Aietes der Krieger – Jason der Sieger Zum Heldenbild im hellenistischen Epos 1996. XI, 100 S., kt. ISBN 978-3-515-06955-7 Paul Dräger Untersuchungen zu den Frauenkatalogen Hesiods 1997. VII, 171 S., kt. ISBN 978-3-515-07028-7 Karin Luck-Huyse Der Traum vom Fliegen in der Antike 1997. VIII, 264 S., kt. ISBN 978-3-515-06965-6 Friedhelm L. Müller Das Problem der Urkunden bei Thukydides Die Frage der Überlieferungsabsicht durch den Autor 1997. 213 S., kt. ISBN 978-3-515-07087-4 Anika Strobach Plutarch und die Sprachen Ein Beitrag zur Fremdsprachenproblematik in der Antike 1997. VIII, 258 S., kt. ISBN 978-3-515-07007-2 Farouk Grewing (Hg.) Toto notus in orbe Perspektiven der Martial-Interpretation 1998. 366 S., kt. ISBN 978-3-515-07381-3 Friedhelm L. Müller Die beiden Satiren des Kaisers

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Julianus Apostata (Symposion oder Caesares und Misopogon oder Antiochikos) Griechisch und deutsch. Mit Einleitung, Anmerkungen und Index 1998. 248 S., kt. ISBN 978-3-515-07394-3 Reinhard Markner / Giuseppe Veltri (Hg.) Friedrich August Wolf Studien, Dokumente, Bibliographie 1999. 144 S., kt. ISBN 978-3-515-07637-1 Peter Steinmetz Kleine Schriften Aus Anlaß seines 75. Geburtstages herausgegeben von Severin Koster 2000. X, 506 S., geb. ISBN 978-3-515-07629-6 Karin Sion-Jenkis Von der Republik zum Prinzipat Ursachen für den Verfassungswechsel in Rom im historischen Denken der Antike 2000. 250 S., kt. ISBN 978-3-515-07666-1 Georgios Tsomis Zusammenschau der frühgriechischen monodischen Melik (Alkaios, Sappho, Anakreon) 2001. 306 S., geb. ISBN 978-3-515-07668-5 Alessandro Cristofori / Carla Salvaterra / Ulrich Schmitzer (Hg.) La rete di Arachne – Arachnes Netz Beiträge zu Antike, EDV und Internet im Rahmen des Projekts „Telemachos“ 2000. 281 S., geb. ISBN 978-3-515-07821-4 Hans Bernsdorff Hirten in der nicht-bukolischen Dichtung des Hellenismus 2001. 222 S., geb. ISBN 978-3-515-07822-1 Sibylle Ihm Ps.-Maximus Confessor Erste kritische Edition einer Redaktion des sacro-profanen Florilegiums Loci communes, nebst einer vollständigen Kollation einer zweiten Redaktion und weiterem Material 2001. 12*, CVIII, 1153 S., geb. ISBN 978-3-515-07758-3 Roderich Kirchner Sentenzen im Werk des Tacitus 2001. 206 S. mit 4 Tab., geb. ISBN 978-3-515-07802-3

75. Medard Haffner Das Florilegium des Orion Mit einer Einleitung herausgegeben, übersetzt und kommentiert 2001. VII, 267 S., geb. ISBN 978-3-515-07949-5 76. Theokritos Kouremenos The proportions in Aristotle’s Phys. 7.5 2002. 132 S., geb. ISBN 978-3-515-08178-8 77. Christian Schöffel Martial, Buch 8 Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar 2002. 723 S., geb. ISBN 978-3-515-08213-6 78. Argyri G. Karanasiou Die Rezeption der lyrischen Partien der attischen Tragödie in der griechischen Literatur Von der ausgehenden klassischen Periode bis zur Spätantike 2002. 354 S., geb. ISBN 978-3-515-08227-3 79. Wolfgang Christian Schneider Die elegischen Verse von Maximian Eine letzte Widerrede gegen die neue christliche Zeit. Mit den Gedichten der Appendix Maximiana und der0 Imitatio Maximiani. Interpretation, Text und Übersetzung 2003. 255 S., geb. ISBN 978-3-515-07926-6 80. Marietta Horster / Christiane Reitz (Hg.) Antike Fachschriftsteller Literarischer Diskurs und sozialer Kontext 2003. 208 S., geb. ISBN 978-3-515-08243-3 81. Konstantin Boshnakov Die Thraker südlich vom Balkan in den Geographika Strabos Quellenkritische Untersuchungen 2003. XIV, 399 S., geb. ISBN 978-3-515-07914-3 82. Konstantin Boshnakov Pseudo-Skymnos (Semos von Delos?) Ta; ajristera; tou` Povntou Zeugnisse griechischer Schriftsteller über den westlichen Pontosraum 2004. X, 268 S., geb. ISBN 978-3-515-08393-5 83. Mirena Slavova Phonology of the Greek inscriptions in Bulgaria 2004. 149 S., geb.

ISBN 978-3-515-08598-4 84. Annette Kledt Die Entführung Kores Studien zur athenisch-eleusinischen Demeterreligion 2004. 204 S., geb. ISBN 978-3-515-08615-8 85. Marietta Horster / Christiane Reitz (Hg.) Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt 2005. 348 S., geb. ISBN 978-3-515-08698-1 86. Robert Gorman The Socratic Method in the Dialogues of Cicero 2005. 205 S., geb. ISBN 978-3-515-08749-0 87. Burkhard Scherer Mythos, Katalog und Prophezeiung Studien zu den Argonautika des Apollonios Rhodios 2006. VI, 232 S., geb. ISBN 978-3-515-08808-4 88. Mechthild Baar dolor und ingenium Untersuchungen zur römischen Liebeselegie 2006. 267 S., geb. ISBN 978-3-515-08813-8 89. Evanthia Tsitsibakou-Vasalos Ancient Poetic Etymology The Pelopids: Fathers and Sons 2007. 257 S., geb. ISBN 978-3-515-08939-5 90. Bernhard Koch Philosophie als Medizin für die Seele Untersuchungen zu Ciceros Tusculanae Disputationes 2007. 218 S., geb. ISBN 978-3-515-08951-7 91. Antonina Kalinina Der Horazkommentar des Pomponius Porphyrio Untersuchungen zu seiner Terminologie und Textgeschichte 2007. 154 S., geb. ISBN 978-3-515-09102-2 92. Efstratios Sarischoulis Schicksal, Götter und Handlungsfreiheit in den Epen Homers 2008. 312 S., geb. ISBN 978-3-515-09168-8 93. Ugo Martorelli Redeat verum

Studi sulla tecnica poetica dell’Alethia di Mario Claudio Vittorio 2008. 240 S., geb. ISBN 978-3-515-09197-8 94. Adam Drozdek In the beginning was the apeiron Infinity in Greek philosophy 2008. 176 S. mit 11 Abb., geb. ISBN 978-3-515-09258-6 95. Eckart Schütrumpf Praxis und Lexis Ausgewählte Schriften zur Philosophie von Handeln und Reden in der klassischen Antike 2009. 368 S., geb. ISBN 978-3-515-09147-3 96. Theokritos Kouremenos Heavenly Stuff The constitution of the celestial objects and the theory of homocentric spheres in Aristotle’s cosmology 2010. 150 S., geb. ISBN 978-3-515-09733-8 97. Bruno Vancamp Untersuchungen zur handschriftlichen Überlieferung von Platons „Menon“ 2010. 115 S., geb. ISBN 978-3-515-09811-3 98. Marietta Horster / Christiane Reitz (Hg.) Condensing texts – condensed texts 2010. 776 S., geb. ISBN 978-3-515-09395-8 99. Severin Koster Ciceros Rosciana Amerina Im Prosarhythmus rekonstruiert 2011. 178 S., geb. ISBN 978-3-515-09868-7 100. Theokritos Kouremenos Aristotle’s de Caelo Γ Introduction, Translation and Commentary 2013. 121 S., geb. ISBN 978-3-515-10336-7 101. Hendrik Obsieger Plutarch: De E apud Delphos / Über das Epsilon am Apolltempel in Delphi Einführung, Ausgabe und Kommentar 2013. 417 S., geb. ISBN 978-3-515-10606-1 102. Theokritos Kouremenos The Unity of Mathematics in Plato’s Republic 2015. 141 S. mit 8 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11076-1

103. Stefan Freund / Meike Rühl / Christoph Schubert (Hg.) Von Zeitenwenden und Zeitenenden Reflexion und Konstruktion von Endzeiten und Epochenwenden im Spannungsfeld von Antike und Christentum 2015. 219 S., geb. ISBN 978-3-515-11174-4 104. Sonja Nadolny Die severischen Kaiserfrauen 2016. 257 S. mit 10 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11311-3 105. Michael Müller Tod und Auferstehung Jesu Christi bei Iuvencus (IV 570–812) Untersuchungen zu Dichtkunst, Theologie und Zweck der Evangeliorum Libri Quattuor 2016. 413 S., geb. ISBN 978-3-515-11340-3 106. Hedwig Schmalzgruber Studien zum Bibelepos des sogenannten Cyprianus Gallus Mit einem Kommentar zu gen. 1–362 2016. 601 S. mit 1 Abb. und 8 Tab., geb. ISBN 978-3-515-11596-4 107. Stefan Weise (Hg.) HELLENISTI! Altgriechisch als Literatursprache im neuzeitlichen Europa 2017. 389 S. mit 5 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11622-0 108. Armin Eich / Stefan Freund / Meike Rühl / Christoph Schubert (Hg.) Das dritte Jahrhundert

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Kontinuitäten, Brüche, Übergänge 2017. 286 S. mit 30 Abb., geb. ISBN 978-3-515-11841-5 Antje Junghanß Zur Bedeutung von Wohltaten für das Gedeihen von Gemeinschaft Cicero, Seneca und Laktanz über beneficia 2017. 277 S., geb. ISBN 978-3-515-11857-6 Georgios P. Tsomis Quintus Smyrnaeus Kommentar zum siebten Buch der Posthomerica 2018. 456 S., geb. ISBN 978-3-515-11882-8 Silvio Bär Herakles im griechischen Epos Studien zur Narrativität und Poetizität eines Helden 2018. 184 S., geb. ISBN 978-3-515-12206-1 Christian Rivoletti / Stefan Seeber (Hg.) Heliodorus redivivus Vernetzung und interkultureller Kontext in der europäischen Aithiopika-Rezeption 2018. 229 S., geb. ISBN 978-3-515-12222-1 Friedrich Meins Paradigmatische Geschichte Wahrheit, Theorie und Methode in den Antiquitates Romanae des Dionysios von Halikarnassos 2019. 169 S., geb. ISBN 978-3-515-12250-4

An der Schwelle vom 5. zum 6. Jahrhundert prägte der Anwalt und Dichter Dracontius die literarische Landschaft im vandalischen Nordafrika. Er verfasste sowohl christliche als auch kleinere profane Gedichte verschiedenster Gattungen, teils mythologischen Inhalts. Dieses Nebeneinander von christlichem und traditionell paganem Dichten macht Dracontius zu einem besonders interessanten Forschungsgegenstand. Herausragende Stücke sind seine Epyllia – eine dichterische Form, die im vandalischen Afrika wohl einen besonderen Höhepunkt erreichte, heute jedoch beinahe ausschließ-

lich durch Dracontius’ Dichtungen repräsentiert wird. Der Raptus Helenae ist das wahrscheinlich am deutlichsten in der Tradition des Epos stehende Werk des Dichters. Katharina Pohl legt mit diesem Band einen Kommentar dieses letzten bisher unkommentiert gebliebenen Epyllions vor. Neben der detaillierten philologischen Erschließung des 655 Verse umfassenden Gedichts bietet der Band zudem erstmals eine deutsche Übersetzung, eine Edition auf der Grundlage des codex unicus N sowie eine Gesamtinterpretation.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12216-0

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